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Автор книги: Наталья Евгеньева


Жанр: Учебная литература, Детские книги


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Н. А. Евгеньева
Literarische Texte als Sprechanlässe im Deutschunterricht

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser!

Die vorliegende Studieneinheit wendet sich an Sie, die gerne lernen möchten, wie man literarische Texte lesen kann, so dass sie sich in ihrer Eigenheit und ihrem fremden Zauber entfalten können.

Der anhand der Materialien dieser Studieneinheit organisierte Unterricht wird auf der einen Seite von dem Text und seiner Struktur gesteuert, auf der anderen Seite von den Leserinnen und Lesern, die ihr Interesse, ihr Hintergrundwissen, ihre „Informationen aus eigenem Besitz“ an einen Text herantragen. Die Textsammlung möchte jede Leserin und jeden Leser dazu ermutigen, sich selbst mit eigenen Erfahrungen und Neigungen einzubringen.

Die textgebundenen Aufgaben fordern Sie dazu auf, sinnvolle Zusammenhänge zu bilden, kritisch zu reflektieren und sich Ihre eigenen Gedanken zu machen. Dabei soll betont werden: es gibt nicht eine Wahrheit, nicht eine Sichtweise und nicht eine Deutung.

Was hier vorliegt, ist also ein Angebot von Mitteln und Wegen, die fremdsprachliche Literatur und ihre Inhalte zu erschließen, Vorstellungen von und Einstellungen zur fremden Kultur (im Dialog mit der eigenen Kultur) emotional zu erkennen und Selbsterfahrungen zu machen.

1 Eltern-Kind-Beziehungen

Andere Zeiten – andere Sitten.

Die Alten zum Rat, die Jungen zur Tat.

Der Alten Rat, der Jungen Tat macht Krummes grad.

Jugend hat keine Tugend.

Junges Blut hat Mut.

Jugend will sich austoben.

Jugend wild, Alter mild.

Andere Jahre, andere Haare.

ung getollt, alt gezollt.

Alter schützt vor Torheit nicht.

Wer die Jugend hat, hat die Zukunft. (F. Schiller)

Aus Kindern werden Leute.

Art lässt nicht von Art.

Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen.

Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen.

Kleine Kinder treten der Mutter auf die Schürze, große aufs Herz.

Wie man die Kinder gewöhnt, so hat man sie.

Erziehst du dir ’nen Raben, wird er dir die Augen ausgraben.

1.1 Generationen: Kontakte, Konflikte
Aufgabenblatt 1
„O tempora, o mores!“
„Unsere Jugend liebt den Luxus, sie hat schlechteManieren, missachtet Autorität und hat keinen Respekt vor dem Alter. Die heutigen Kinder sind Tyrannen, sie stehen nicht mehr auf, wenn ein älterer Mensch das Zimmer betritt, sie widersprechen ihren Eltern, schwätzen beim Essen und tyrannisieren ihre Lehrer.“
L. Rathenow
Szenenwechsel
Lesehilfen

die Lichtung – eine Stelle im Wald, an der keine Bäume sind

abschalten – nicht mehr an seine Sorgen denken, sich entspannen

etw. langt – etw. reicht aus, genügt

etw. verpesten – die Luft mit einem unangenehmen Geruch oder mit schädlichen Stoffen füllen

sich in etw. verfangen – in etw. hängen bleiben

schlendern – gemütlich, mit Zeit und Ruhe spazieren gehen

gammeln – faulenzen

das Gestrüpp – viele wild wachsende Sträucher, die sehr dicht beieinander stehen

der Senker – der Teil einer Pflanze, den man abschneidet und in Wasser oder in Erde steckt, damit er Wurzeln bildet und zu einer neuen Pflanze heranwächst

überspielen – einen Spielfilm, Musik o. Ä. von einem Band o. Ä. auf ein anderes bringen

LP – long-playing record (engl.) – Langspielplatte

Aufgaben

1 Fassen Sie die Informationen über die handelnden Personen zusammen.

2 Interpretieren Sie die zusammengefassten Informationen.

3 Wie geht die Geschichte weiter? Stellen Sie Hypothesen auf.

L. Rathenow
Szenenwechsel

Die Lichtung unweit der Stadt. Vögel.

Das Laub.

Mischwald. Stille.

Die Sonne.

Der Weg durch diese Lichtung.

Auf dem geht Bert Franke.

Abschalten, einmal ausspannen, vergessen die Stadt, den Lärm, die Fabrik. Sich erholen, sich richtig gehenlassen.

Ein schöner Tag, denkt er.

Herbert Koch läuft denselben Weg entlang. Nur von der anderen Seite.

Gut, dass kein Ausflugslokal in der Nähe, die Spaziergänger sonst, vielleicht noch mit Autos; langt, wenn sie die Stadt verpesten. Und die Unfälle. Hoffentlich kommt die Sonne richtig durch, denkt er.

Beide laufen langsam aufeinander zu.

Einmal allein sein, ohne Bekannte und das Gerede. Viel öfter müsste man einfach so, überlegt Bert Franke, loslaufen ohne Ziel.

Pilze könnten hier stehen, dort hinten stehen sicher Pilze, überlegt Herbert Koch, Pfifferlinge vielleicht nicht, aber Maronen, Edelreizker. Etwas feuchter müsste es werden. Bert Franke spielt mit seinem Haar, dreht den Kopf schnell nach rechts, schnell nach links, so dass es ins Gesicht schlägt, sich im Bart verfängt.

Herbert Koch will nicht mehr an Pilze denken. Er pfeift ein Lied und, ohne es zu beenden, wechselt er zu einer anderen Melodie, steckt das zu kurze Hemd in die Hose, aus der es immer herausrutscht.

Dahinschlendern.

Die fast geschlossene Decke aus Laub zertreten.

Spazierengehen. Gammeln.

Noch recht kräftig die Sonne, ein schöner Herbst, wer hätte das gedacht, nach diesem Sommer.

Die Jacke hätte ich nicht mitzunehmen brauchen, nur eine unnötige Last, die Jacke hätte ich zu Hause lassen können. Aber im Schatten ist es schon kühl, denkt Bert, im Schatten friert man fast.

Doch man weiß vorher nie, denkt Herbert, schließlich regnet es oft unerwartet.

Beide kommen sich näher.

Bert beobachtet die Wolken am Himmel.

Herbert einen Igel im Gestrüpp.

Ein Eichhörnchen, das sich von Ast zu Ast bewegt.

Das Netz zitternder Zweige.

Dieser Geruch.

Herbert Koch sieht einen jungen Mann.

Bert Franke bemerkt einen älteren Mann.

Vielleicht siebzehn, denkt Herbert. Vielleicht sechzig, überlegt Bert.

Bei dem Beet am Zaun mache ich die zwei alten Reihen noch diese Woche weg. Die tragen nichts mehr, neue Senker müssen rein, sonst wächst keine ordentliche Beere. Wo die Enkel Erdbeeren so gern essen. Friedrich mal fragen, Friedrich hat bestimmt Senker übrig.

Bei Martin anschließend vorbeisehen, auf dem Rückweg. Oder ich hole zuvor das Tonband, die „Pinkfloyd“ könnte ich dann überspielen, die Stones gleich mit. Martin müsste da sein, zu spät darf ich nicht hingehen. Hoffentlich hat er die LPs noch.

Bert und Herbert treffen sich bald.

Jeder mustert sein Gegenüber.

Drei Schritte noch oder vier.

Aufgabenblatt 3

Nehmen Sie an der Diskussion über die Generationenkonflikte teil. Es werden 3 Kleingruppen gebildet: eine Gruppe „Väter“, eine Gruppe „Söhne“, eine Gruppe „Schiedsrichter“. Die Gruppen „Väter“ und „Söhne“ äußern sich zum Problem des Generationenkonflikts. Sie geben die Ansprüche bekannt, die Sie an die andere Generation stellen. Die Gruppe „Schiedsrichter“ muss die beiden Generationen versöhnen und eine Brücke zwischen ihnen schlagen.

Wortschatzhilfen

1) den klassischen Generationenkonflikt durchleben;

2) die Entfremdung der Generationen;

3) Gehen die Generationen auseinander oder gehen sie aufeinander zu?

4) Wie sehen die Lebensentwürfe der Jugendlichen aus?

5) die Selbstverwirklichung;

6) die Selbstbestätigung;

7) seine Rolle selbst bestimmen;

8) die Zukunft erobern;

9) Abschied von der Kindheit nehmen;

10) das Leben verändern;

11) die Jahre zwischen Fisch und Fleisch – Jahre zwischen Kind– und Erwachsensein;

12) die Schwierigkeiten mit sich selbst haben;

13) Es entstehen zahlreiche Konflikte mit der Umwelt.

14) des eigenen Ich bewusst werden;

15) sich in das Leben der Erwachsenen eingliedern;

16) die Unabhängigkeit von Vater und Mutter;

17) die Eltern entthronen;

18) je-n bevormunden – je-n nicht selbständig handeln lassen;

19) sich gegen Bevormundung stellen;

20) gegen etw. protestieren;

21) Es kommt häufig zur Protesthaltung.

22) sich gut / schlecht miteinander verstehen (vertragen);

23) mit je-m gut / schlecht auskommen;

24) verständnisvolle Eltern;

25) das Verständnis für etw. haben;

26) je-m gegenüber tolerant sein;

27) die Toleranz, die Geduld, die Engelsgeduld haben, zeigen;

28) Rücksicht auf etw. nehmen;

29) je-s Argumente ernst nehmen;

30) (keinen) Zwang auf je-n ausüben;

31) den Kindern alles vorschreiben – je-m sagen oder befehlen, was er tun muss;

32) keinen Blick für die Probleme anderer haben;

33) keinen Kontakt zu, mit je-m haben

1.2 Andere Zeiten – andere Sitten

1 Kennen Sie die altdeutsche Sage von dem Rattenfänger zu Hameln? Können Sie die Fabel dieser Geschichte wiedergeben?

2 Machen Sie sich mit einer modernen Variation der altdeutschen Sage bekannt und bestimmen Sie, worin sich dieser Text von dem Präzedenztext im Sujet und Ideengehalt unterscheidet.

H. Wader
Der Rattenfänger (1974)
Lesehilfen

die Leier – ein Musikinstrument mit Saiten

der Riegel – ein Stab aus Metall oder Holz, den man vor etw. schiebt, um es so zu sichern

die Brut – hier: das Gesindel, das Pack

der Kadaver – der Körper eines toten Tieres

das Wams – eine Art Leibrock

betroffen – durch etw. Schlimmes oder Trauriges emotional sehr bewegt

lahm – (Körperteile) so beschädigt, dass man sie nicht mehr (wie normal) bewegen kann

der Knebel – ein Stück Stoff, das mst einem Gefesselten fest in den Mund gesteckt wird, damit er nicht schreien kann

etw. in Kauf nehmen – sich mit etw. abfinden

je-n gegen etw. aufhetzen – je-n dazu bringen, über je-n / etw. wütend oder verärgert zu sein

 
Fast jeder weiß, was in Hameln geschah,
vor tausend und einem Jahr.
Wie die Ratten dort hausten, die alles fraßen,
was nicht aus Eisen war.
Zu dieser Zeit kam ich nach langer Fahrt
als Spielmann in diese Stadt,
Und ich hörte als erstes den Herold schrein,
als ich den Markt betrat.
Wer mit Gottes Hilfe oder allein
die Stadt von den Ratten befreit,
für den lägen ab nun beim Magistrat
hundert Taler in Gold bereit.
 
 
Ich packte mein Bündel, die Flöte und Leier
und klopfte ans Rathaustor.
Kaum sah man mich, schlug man die Tür wieder zu,
und legte den Riegel vor.
Und ich hörte, wie man den Herren sagte,
es stünde ein Mann vor dem Tor,
zerrissen und stinkend, in bunten Lumpen
mit einem Ring im Ohr.
Dieser Mann nun ließe den Herren sagen,
er kam von weit, weit her,
und er böte der Stadt seine Hilfe, weil
er ein Rattenfänger wär.
 
 
Ich wartete lange, dann rief eine Stimme
durch die geschlossene Tür:
Vernichte die Ratten, und Du bekommst
die versprochenen Taler dafür.
Und ich ging und blies in der Nacht die Flöte,
immer nur einen einzigen Ton,
der so hoch war, dass nur die Ratten ihn hörten,
und keine kam davon.
Bis hinein in die Weser folgte mir bald die ganze
quiekende Brut,
und am Morgen trieben an hunderttausend
Kadaver in der Flut.
 
 
Als die Hamelner Bürger hörten, was alles
geschehen war in der Nacht,
tanzten sie auf den Straßen, nur
an mich hatte keiner gedacht.
Und als ich dann wieder vorm Rathaus stand
und forderte meinen Lohn,
schlug man auch diesmal die Tür vor mir zu
und erklärte mir voller Hohn,
nur der Teufel könne bei meiner Arbeit
im Spiel gewesen sein,
deshalb sei es gerecht, ich triebe bei ihm
meine hundert Taler ein.
 
 
Doch ich blieb und wartete Stunde um Stunde
bis zum Abend vor jenem Haus,
aber die Ratsherren, die drinnen saßen,
trauten sich nicht heraus.
Als es Nacht war, kamen bewaffnete Kerle,
ein Dutzend oder mehr,
die schlugen mir ihre Spieße ins Kreuz
und stießen mich vor sich her.
Vor der Stadt hetzten sie ihre Hunde auf mich,
und die Bestien schonten mich nicht.
Sie rissen mich um und pissten mir noch
ins blutende Gesicht.
 
 
Als der Mond schien, flickte ich meine Lumpen,
wusch meine Wunden im Fluss
und weinte dabei vor Schwäche und Wut,
bis der Schlaf mir die Augen schloss.
Doch noch einmal ging ich zurück in die Stadt
und hatte dabei einen Plan,
denn es war Sonntag, die Bürger traten
eben zum Kirchgang an.
Nur die Kinder und die Alten
blieben an diesem Morgen allein,
und ich hoffte die Kinder würden gerechter
als ihre Väter sein.
 
 
Ich hatte vorher mein zerfleischtes Gesicht
mit bunter Farbe bedeckt
und mein Wams, damit man die Löcher nicht sah,
mit Hahnenfedern besteckt.
Und ich spielte und sang, bald kamen die Kinder
zu mir von überall her,
hörten, was ich sang mit Empörung
und vergaßen es nie mehr.
Und die Kinder beschlossen, mir zu helfen
und nicht mehr zuzusehn,
wo Unrecht geschieht, sondern immer gemeinsam
dagegen anzugehn.
 
 
Und die Hamelner Kinder hielten ihr Wort
und bildeten ein Gericht,
zerrten die Bosheit und die Lügen
ihrer Väter ans Licht.
Und sie weckten damit in ihren Eltern
Betroffenheit und Scham,
und weil er sich schämte, schlug manch ein Vater
sein Kind fast krumm und lahm.
Doch mit jeder Misshandlung wuchs der Mut
der Kinder dieser Stadt,
und die hilflosen Bürger brachten die Sache
vor den hohen Rat.
 
 
Es geschah, was heute noch immer geschieht,
wo Ruhe mehr gilt als Recht,
denn wo die Herrschenden Ruhe woll’n,
geht’s den Beherrschten schlecht.
So beschloss man die Vertreibung
einer ganzen Generation.
In der Nacht desselben Tages begann
die schmutzige Aktion.
Gefesselt und geknebelt,
von den eigenen Vätern bewacht,
hat man die Kinder von Hameln ganz heimlich
aus der Stadt gebracht.
 
 
Nun war wieder Ruhe in der Stadt Hameln,
fast wie in einem Grab.
Doch die Niedertracht blühte, die Ratsherren fassten
eilig ein Schreiben ab.
Das wurde der Stadtchronik beigefügt
mit dem Stempel des Landesherrn
und besagt, dass die Kinder vom Rattenfänger
ermordet worden wär’n.
Doch die Hamelner Kinder sind nicht tot,
zerstreut in alle Welt,
haben auch sie wieder Kinder gezeugt,
ihnen diese Geschichte erzählt.
 
 
Denn auch heute noch setzen sich Menschen
für die Rechte Schwächerer ein,
diese Menschen könnten wohl die Erben
der Hamelner Kinder sein.
Doch noch immer herrscht die Lüge
über die Wahrheit in der Welt,
und solange die Gewalt und
die Angst die Macht in Händen hält,
solange kann ich nicht sterben,
nicht ausruhn und nicht fliehn,
sondern muss als Spielmann und Rattenfänger immer
weiterziehn.
Denn noch nehmen Menschen Unrecht
als Naturgewalt in Kauf,
und ich hetze noch heute die Kinder dagegen
immer wieder auf.
 

3 Die vorliegende Ballade wurde von dem Liedermacher Hannes Wader 1974 verfasst und stellt eine deutliche Reminiszenz an die Ereignisse des Jahres 1968 in Osteuropa dar. Der Kampf der Demokratie gegen Totalitarismus wird metaphorisch durch den Generationenkonflikt gestaltet. Nehmen Sie Stellung zu dem im Text aufgegriffenen Problem.

Wortschatzhilfen

1) „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“;

2) „Prager Frühling“;

3) die Reformen durchführen, die für die Bürger größere Freiheiten bedeuten;

4) die Zensur der Presse lockern;

5) das Recht auf freie Meinungsäußerung wieder herstellen;

6) die Reisebeschränkungen aufheben;

7) die Mitsprachemöglichkeiten haben;

8) Es kommt zu Protesten.

9) Die Proteste weiten sich aus.

10) Es kommt zu Massendemonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern.

11) mit Gewalt (Repressionen) reagieren;

12) Veränderungen herbeiführen;

13) Unnachgiebigkeit und jugendlicher Maximalismus im Kampf um die menschliche Würde – „vernunftmäßige“ Neigung zur Ruhe und Kompromissbereitschaft


Gegenseitige Beschuldigungen von Ost und West im Kalten Krieg

1.3 Dialog der Generationen (nach Erich Kästner)

1 Erich Kästner (1899 – 1974) war ein vielseitiger Schriftsteller: Kinderbuchautor, Lyriker, Romanautor, Journalist, Kabarettist … – aber auch ein kritischer Zeitzeuge, Mahner, Erzieher und Moralist. Sein Leben ist von den entscheidendsten Ereignissen des 20. Jahrhunderts nicht zu trennen. Spritzig sprach er vom Kulturbetrieb, glossierte die Kinoszene, merkte Politisches an, kritisierte immer wieder Militarismus, Chauvinismus und den ewigen Spießer im Deutschen.

Die Vielseitigkeit von Kästners Begabung liegt darin, dass er seiner Kindheit treu geblieben ist: „Die Kindheit ist das stille, reine Licht, das aus der eigenen Vergangenheit tröstlich in die Gegenwart und Zukunft hinüberleuchtet. Sich der Kindheit wahrhaft erinnern, das heißt: plötzlich und ohne langes Überlegen wieder wissen, was echt und falsch, was gut und böse ist. Die meisten vergessen ihre Kindheit wie einen Schirm und lassen sie irgendwo in der Vergangenheit stehen. Und doch können nicht vierzig, nicht fünfzig Jahre des Lernens und Erfahrens den seelischen Feingehalt des ersten Jahrzehnts aufwiegen. Die Kindheit ist unser Leuchtturm.“

2 Folgender Text spricht für das Verhältnis Kästners zu Kindern.

E. Kästner
Ansprache zum Schulbeginn
Lesehilfen

etw. auffädeln – etw. auf eine Schnur oder auf einen Faden reihen

das Spalierobst – Pflanzen, die an einem Gitter mst aus Holz, bes an einer Hauswand nach oben wachsen

sich (gegen etw.) sträuben – etw. nicht wollen, sich dagegen wehren

die Büchse – ein Gefäß aus Metall, in dem Lebensmittel konserviert werden; die Dose

j-m etw. zugute halten – etw. als Entschuldigung (für etw. Negatives) berücksichtigen

die Kanzel – der Teil der Kirche, von dem aus der Pfarrer seine Predigt hält

auf j-n Rücksicht nehmen – ein Bestreben haben, auch die Gefühle, Bedürfnisse, Wünsche usw eines anderen Menschen zu beachten

j-m ist flau – j-d fühlt sich nicht wohl, ihm ist ein wenig übel oder schwindlig

der Wasserkopf – eine krankhafte Ansammlung von Flüssigkeit im Hirn (die zu einer Vergrößerung des Kopfes führen kann)

der Krüppel – ein Mensch, dessen Körper nicht wie üblich gewachsen ist, der Missbildungen o. Ä. hat

etw. leuchtet j-m ein – etw. erscheint j-m logisch und verständlich

sich hüten – etw. aus einem bestimmten Grund, mst aus Vorsicht, nicht tun

die Plempe – kurzer, breiter Degen

der Kürass – der Brustpanzer (eines Ritters)

Gravelotte und Mars-la-Tour – nach den Orten ihrer Austragung benannte Schlachten im August 1870 im deutsch-französischen Krieg 1870/71

in einem fort – veraltend; ununterbrochen, ständig

wacker – tüchtig, tapfer

Liebe Kinder,

da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe sortiert, zum ersten Mal auf diesen harten Bänken und hoffentlich liegt es nur an der Jahreszeit, wenn ihr mich an braune und blonde, zum Dörren aufgefädelte Steinpilze erinnert. Statt an Glückspilze, wie sich’s gehörte. Manche von euch rutschen unruhig hin und her, als säßen sie auf Herdplatten. Andre hocken wie angeleimt auf ihren Plätzen. Einige kichern blöde, und der Rotkopf in der dritten Reihe starrt, Gänsehaut im Blick, auf die schwarze Wandtafel, als sähe er in eine sehr düstere Zukunft.

Euch ist bänglich zumute und man kann nicht sagen, dass euer Instinkt tröge. Eure Stunde X hat geschlagen. Die Familie gibt euch zögernd her und weiht euch dem Staate. Das Leben nach der Uhr beginnt und es wird erst mit dem Leben selber aufhören. Das aus Ziffern und Paragraphen, Rangordnung und Stundenplan eng und enger sich spinnende Netz umgarnt nun auch euch. Seit ihr hier sitzt, gehört ihr zu einer bestimmten Klasse. Noch dazu zur untersten. Der Klassenkampf und die Jahre der Prüfungen stehen bevor. Früchtchen seid ihr und Spalierobst müsst ihr werden! Aufgeweckt wart ihr bis heute und einwecken wird man euch ab morgen! So, wie man’s mit uns getan hat. Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation, – das ist der Weg, der vor euch liegt. Kein Wunder, dass eure Verlegenheit größer ist als eure Neugierde.

Hat es den geringsten Sinn, euch auf einen solchen Weg Ratschläge mitzugeben? Ratschläge noch dazu von einem Manne, der, da half kein Sträuben, genau so „nach Büchse“ schmeckt wie andere Leute auch? Lasst es ihn immerhin versuchen und haltet ihm zugute, dass er nie vergessen hat, noch je vergessen wird, wie eigen ihm zumute war, als er selber zum ersten Mal in der Schule saß. In jenem grauen, viel zu groß geratenen Ankersteinbaukasten. Und wie es ihm damals das Herz abdrückte. Damit wären wir schon beim wichtigsten Rat angelangt, den ihr euch einprägen und einhämmern solltet wie den Spruch einer uralten Gedenktafel:

Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr. Man nötigt euch in der Schule eifrig von der Unter– über die Mittelzur Oberstufe. Wenn ihr schließlich droben steht und balanciert, sägt man die „überflüssig“ gewordenen Stufen hinter euch ab und nun könnt ihr nicht mehr zurück! Aber müsste man nicht in seinem Leben wie in einem Hause treppauf und treppab gehen können? Was soll die schönste erste Etage ohne den Keller mit den duftenden Obstborten und ohne das Erdgeschoss mit der knarrenden Haustür und der scheppernden Klingel? Nun – die meisten leben so! Sie stehen auf der obersten Stufe, ohne Treppe und ohne Haus, und machen sich wichtig. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch! Wer weiß, ob ihr mich verstanden habt. Die einfachen Dinge sind so schwer begreiflich zu machen! Also gut, nehmen wir etwas Schwierigeres, womöglich begreift es sich leichter. Zum Beispiel:

Haltet das Katheder weder für einen Thron noch für eine Kanzel! Der Lehrer sitzt nicht etwa deshalb höher, damit ihr ihn anbetet, sondern damit ihr einander besser sehen könnt. Der Lehrer ist kein Schulwebel und kein lieber Gott. Er weiß nicht alles und er kann nicht alles wissen. Wenn er trotzdem allwissend tut, so seht es ihm nach, aber glaubt es ihm nicht! Gibt er hingegen zu, dass er nicht alles weiß, dann liebt ihn! Denn dann verdient er eure Liebe. Und da er im Übrigen nicht eben viel verdient, wird er sich über eure Zuneigung von Herzen freuen. Und noch eins: Der Lehrer ist kein Zauberkünstler, sondern ein Gärtner. Er kann und wird euch hegen und pflegen. Wachsen müsst ihr selber!

Nehmt auf diejenigen Rücksicht, die auf euch Rücksicht nehmen! Das klingt selbstverständlicher, als es ist. Und zuweilen ist es furchtbar schwer. In meine Klasse ging ein Junge, dessen Vater ein Fischgeschäft hatte. Der arme Kerl, Breuer hieß er, stank so sehr nach Fisch, dass uns anderen schon übel wurde, wenn er um die Ecke bog. Der Fischgeruch hing in seinen Haaren und Kleidern, da half kein Waschen und Bürsten. Alles rückte von ihm weg. Es war nicht seine Schuld. Aber er saß, gehänselt und gemieden, ganz für sich allein, als habe er die Beulenpest. Er schämte sich in Grund und Boden, doch auch das half nichts. Noch heute, fünfundvierzig Jahre danach, wird mir flau, wenn ich den Namen Breuer höre. So schwer ist es manchmal, Rücksicht zu nehmen. Und es gelingt nicht immer. Doch man muss es stets von neuem versuchen.

Seid nicht zu fleißig! Bei diesem Ratschlag müssen die Faulen weghören. Er gilt nur für die Fleißigen, aber für sie ist er sehr wichtig. Das Leben besteht nicht nur aus Schularbeiten. Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln. Ich spreche aus Erfahrung. Ich war als kleiner Junge auf dem besten Wege, ein Ochse zu werden. Dass ich’s, trotz aller Bemühung, nicht geworden bin, wundert mich heute noch. Der Kopf ist nicht der einzige Körperteil. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. Und wer die Lüge glaubt, wird, nachdem er alle Prüfungen mit Hochglanz bestanden hat, nicht sehr schön aussehen. Man muss nämlich auch springen, turnen, tanzen und singen können, sonst ist man, mit seinem Wasserkopf voller Wissen, ein Krüppel und nichts weiter.

Lacht die Dummen nicht aus! Sie sind nicht aus freien Stücken dumm und auch nicht zu eurem Vergnügen.

Und prügelt keinen, der kleiner und schwächer ist als ihr! Wem das ohne nähere Erklärung nicht einleuchtet, mit dem möchte ich nichts zu tun haben. Nur ein wenig warnen will ich ihn. Niemand ist so gescheit oder so stark, dass es nicht noch Gescheitere und Stärkere als ihn gäbe. Er mag sich hüten. Auch er ist, vergleichsweise, schwach und ein rechter Dummkopf.

Misstraut gelegentlich euren Schulbüchern! Sie sind nicht auf dem Berge Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind. Man nennt das Tradition. Aber es ist ganz etwas anderes. Der Krieg zum Beispiel findet heutzutage nicht mehr wie in Lesebuchgeschichten statt, nicht mehr mit geschwungener Plempe und auch nicht mehr mit blitzendem Kürass und wehendem Federbusch wie bei Gravelotte und Mars-la-Tour. In manchen Lesebüchern hat sich das noch nicht herumgesprochen. Glaubt auch den Geschichten nicht, worin der Mensch in einem fort gut ist und der wackre Held vierundzwanzig Stunden am Tage tapfer! Glaubt und lernt das, bitte, nicht, sonst werdet ihr euch, wenn ihr später ins Leben hineintretet, außerordentlich wundern! […]

Da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe geordnet, und wollt nach Hause gehen. Geht heim, liebe Kinder! Wenn ihr etwas nicht verstanden haben solltet, fragt eure Eltern! Und, liebe Eltern, wenn Sie etwas nicht verstanden haben sollten, fragen Sie Ihre Kinder!

Aus: „Die kleine Freiheit“, Chansons und Prosa 1949-1952

3 Versuchen Sie sich in die Zeit Ihrer Kindheit zurück zu versetzen. Würden Sie Kästners Ratschläge befolgen?

4 Sind Kästners Ratschläge, Beispiele und Begründungen aus den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts auch heute noch aktuell? Würden Sie vielleicht etwas ändern bzw. anders formulieren?

5 Erich Kästner nennt die Kindheit „unseren Leuchtturm“. Was kann Ihrer Meinung nach ein erwachsener Mensch von den Kindern lernen?

6 Schreiben Sie eine parallele Ansprache zum Studienbeginn aus der Perspektive eines Studenten des 5. Studienjahres.


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