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|  Ludwig Bechstein
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|  Die schönsten Märchen
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   Ludwig Bechstein
   DIE SCHÖNSTEN MÄRCHEN


   Schneeweißchen

   Es war einmal eine Königin, die hatte keine Kinder und wünschte sich eins, weil sie so ganz einsam war. Da sie nun eines Tages an einer Stickerei saß und den Rahmen von schwarzem Ebenholz betrachtete, während es schneite, war sie in so tiefen Gedanken, daß sie sich heftig in die Finger stach, so daß drei Blutstropfen auf den weißen Schnee fielen; und da mußte sie wieder daran denken, daß sie kein Kind hatte. »Ach!« seufzte die Königin, »hätte ich doch ein Kind, so rot wie Blut, so weiß wie Schnee, so schwarz wie Ebenholz!«
   Und nach einer Zeit bekam diese Königin ein Kind, ein Mägdlein. Das war so weiß wie Schnee an seinem Leibe, und seine Wangen blüheten wie blutrote Röselein, und seine Haare waren so schwarz wie Ebenholz. Die Königin freute sich, nannte das Kind Schneeweißchen, und bald darauf starb sie. Da der König nun ein Witwer geworden war und kein Witwer bleiben wollte, so nahm er sich eine andre Gemahlin, das war ein stattliches Weib voll hoher Schönheit, aber auch voll unsäglichen Stolzes, und auch so eitel, daß sie sich für die schönste Frau in der ganzen Welt hielt. Dazu war sie zumal durch einen Zauberspiegel verleitet, der sagte ihr immer, wenn sie hineinsah und fragte:

     »Spieglein, Spieglein an der Wand,
     Wer ist die Schönste im ganzen Land?«
     »Ihr, Frau Königin, seid die Schönst im Land.«

   Und der Spiegel schmeichelte doch nicht, sondern sagte die Wahrheit wie jeder Spiegel.
   Das kleine Schneeweißchen, der Königin Stieftochter, wuchs heran und wurde die schönste Prinzessin, die es nur geben konnte, und wurde noch viel schöner als die schöne Königin.
   Diese fragte, als das Schneeweißchen sieben Jahre alt war, einmal wieder ihren treuen Spiegel:

     »Spieglein, Spieglein an der Wand,
     Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

   Aber da antwortete der Spiegel nicht wie sonst, sondern er antwortete:

     »Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
     Aber Schneeweißchen ist tausendmal schöner als Ihr.«

   Darüber erschrak die Königin zu Tode, und es war ihr, als kehre sich ihr ein Messer im Busen um, und da kehrte sich auch ihr Herz um gegen das unschuldige Schneeweißchen, das nichts zu seiner übergroßen Schönheit konnte.
   Und weil sie weder Tag noch Nacht Ruhe hatte vor ihrem bösen neidischen Herzen, so berief sie ihren Jäger zu sich und sprach: »Dieses Kind, das Schneeweißchen, sollst du in den dichten Wald führen und es töten. Bringe mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen, daß du mein Gebot vollzogen!«
   Und da mußte das arme Schneeweißchen dem Jäger in den wilden Wald folgen, und im tiefsten Dickicht zog er seine Wehr und wollte das Kind durchstoßen. Das Schneeweißchen weinte jämmerlich und flehte, es doch leben zu lassen, es habe ja nichts verbrochen, und die Tränen und der Jammer des unschuldigen Kindes rührten den Jäger auf das innigste, so daß er bei sich dachte: Warum soll ich mein Gewissen beladen und dies schöne unschuldige Kind ermorden? Nein, ich will es lieber laufen lassen! Fressen es die wilden Tiere, wie sie wohl tun werden, so mag das die Frau Königin vor Gott verantworten.
   Und da ließ er Schneeweißchen laufen, wohin es wollte, fing ein junges Wild, stach es ab, weidete es aus und brachte Lunge und Leber der bösen Königin. Die nahm beides und briet es in Salz und Schmalz und verzehrte es und war froh, daß sie, wie sie vermeinte, nun wieder allein die Schönste sei im ganzen Lande. Schneeweißchen im Walde wurde bald angst und bange, wie es so mutterseelenallein durch das Dickicht schritt, und wie es zum ersten Male die harten spitzen Steine fühlte, wie die Dornen ihm das Kleid zerrissen, und vollends, als es zum ersten Male wilde Tiere sah. Aber die wilden Tiere taten ihm gar nichts zuleide; sie sahen Schneeweißchen an und fuhren in die Büsche. Und das Mägdlein ging den ganzen Tag und ging über sieben Berge.
   Des Abends kam Schneeweißchen an ein kleines Häuschen mitten im Walde, da ging es hinein, sich auszuruhen, denn es war sehr müde, war auch sehr hungrig und sehr durstig. Darinnen in dem kleinen, kleinen Häuschen war alles gar zu niedlich und zierlich und dabei sehr sauber. Es stand ein kleines Tischlein in der Stube, das war schneeweiß gedeckt und darauf standen und lagen sieben Tellerchen, auf jedem ein wenig Gemüse und Brot, sieben Löffelchen, sieben Paar Messerchen und Gäbelchen, sieben Becherchen. Und an der Wand standen sieben Bettchen, alle blütenweiß überzogen. Da aß nun das hungrige Schneeweißchen von den sieben Tellerchen, nur ein Kleinwenig von jedem, und trank aus jedem Becherchen ein Tröpflein Wein. Dann legte es sich in eins der sieben Bettchen, um zu ruhen, aber das Bettchen war zu klein, und sie mußte es in einem andern probieren, doch wollte keins recht passen, bis zuletzt das siebente, das paßte, da hinein schlüpfte Schneeweißchen, deckte sich zu, betete zu Gott und schlief ein, tief und fest, wie fromme Kinder, die gebetet haben, schlafen.
   Derweil wurde es Nacht, und da kamen die Häuschensherren, sieben kleine Bergmännerchen, jedes mit einem brennenden Grubenlichtchen vorn am Gürtel, und da sahen sie gleich, daß eins dagewesen war. Der erste fing an zu fragen: »Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?«
   Der zweite fragte: »Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?«
   Der dritte fragte: »Wer hat von meinem Brötchen gebrochen?«
   Der vierte: »Wer hat von meinem Gemüslein geleckt?«
   Der fünfte: »Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?«
   Der sechste: »Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?«
   Und der siebente fragte: »Wer hat aus meinem Becherchen getrunken?«
   Wie die Zwerglein also gefragt hatten, sahen sie sich nach ihren Bettchen um und fragten: »Wer hat in unsern Bettchen gelegen?« bis auf den siebenten, der fragte nicht so, sondern: »Wer liegt in meinem Bettchen?« denn da lag das Schneeweißchen darin.
   Da leuchteten die Bergmännerchen mit ihren Lämpchen alle hin und sahen mit Staunen das schöne Kind, und sie störten es nicht, sondern sie ließen den siebenten in ihren Bettchen liegen, in jedem ein Stündchen, bis die Nacht herum war. Da nun der Morgen mit seinen frühen Strahlen in das kleine, kleine Häuschen der Zwerglein schien, wachte Schneeweißchen auf und fürchtete sich vor den Zwergen. Die waren aber ganz gut und freundlich und sagten, es solle sich nicht fürchten, und fragten, wie es heiße. Da sagte und erzählte nun Schneeweißchen alles, wie es ihm ergangen sei. Darauf sagten die Zwergmännchen: »Du kannst bei uns in unserem Häuschen bleiben, Schneeweißchen, und kannst uns unsern Haushalt führen, kannst uns unser Essen kochen, unsre Wäsche waschen und alles hübsch rein und sauber halten, auch unsre Bettchen machen.« Das war Schneeweißchen recht, und es hielt den Zwergen haus. Die taten am Tage ihre Arbeit in den Bergen, tief unter der Erde, wo sie Gold und Edelsteine suchten, und abends kamen sie und aßen und legten sich in ihre sieben Bettchen.
   Unterdessen war die böse Königin froh geworden in ihrem argen Herzen, daß sie nun wieder die Schönste war, wie sie meinte, und versuchte den Spiegel wieder und fragte ihn:

     »Spieglein, Spieglein an der Wand,
     Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

   Da antwortete ihr der Spiegel:

     »Frau Königin! Ihr seid die Schönste hier,
     Aber Schneeweißchen über den sieben Bergen,
     Bei den sieben guten Zwergen,
     Das ist noch tausendmal schöner als Ihr!«

   Das war wiederum ein Dolchstich in das eitle Herz der Frau Königin, und sie sann nun Tag und Nacht darauf, wie sie dem Schneeweißchen ans Leben käme, und endlich fiel ihr ein, sich verkleidet selbst zu Schneeweißchen aufzumachen, und sie verstellte ihr Gesicht und zog geringe Kleider an, nahm auch einen Allerhandkram und ging über die sieben Berge, bis sie an das kleine, kleine Häuschen der Zwerge kam. Da klopfte sie an die Türe und rief: »Holla! Holla! Kauft schöne Waren!« Die Zwerge hatten aber dem Schneeweißchen gesagt, es solle sich vor fremden Leuten in acht nehmen, vornehmlich vor der bösen Königin. Deshalb sah das Mägdlein vorsichtig heraus, da sah sie den schönen Tand, den die Frau zu Markte trug, die schönen Halsketten und Schnüre und allerlei Putz. Da dachte Schneeweißchen nichts Arges und ließ die Krämerin herein und kaufte ihr eine Halsschnur ab, und die Frau wollte ihr zeigen, wie diese Schnur umgetan würde, und schnürte ihm von hinten den Hals so zu, daß Schneeweißchen gleich der Odem ausging und es tot hinsank. »Da hast du den Lohn für deine übergroße Schönheit!« sprach die böse Königin und hob sich von dannen.
   Bald darauf kamen die sieben Zwerglein nach Hause, und da fanden sie ihr schönes liebes Schneeweißchen tot und sahen, daß es mit der Schnur erdrosselt war. Geschwinde schnitten sie die Schnur entzwei und träufelten einige Tropfen von der Goldtinktur auf Schneeweißchens blasse Lippen, da begann es leise zu atmen und wurde allmählich wieder lebendig. Als es nun erzählen konnte, erzählte es, wie die alte Krämersfrau ihr den Hals böslich zugeschnürt, und die Zwerge riefen: »Das war kein anderes Weib als die falsche Königin! Hüte dich und lasse gar keine Seele in das kleine Häuschen, wenn wir nicht da sind.«
   Die Königin trat, als sie von ihrem schlimmen Gange wieder nach Hause kam, gleich vor ihren Spiegel und fragte ihn:

     »Spieglein, Spieglein an der Wand,
     Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

   Und der Spiegel antwortete:

     »Frau Königin! Ihr seid die Schönst allhier,
     Aber Schneeweißchen über den sieben Bergen,
     Bei den sieben guten Zwergen,
     Das ist noch tausendmal schöner als Ihr.«

   Da schwoll der Königin das Herz vor Zorn, wie einer Kröte der Bauch, und sie sann wieder Tag und Nacht auf Schneeweißchens Verderben. Bald nahm sie wieder die falsche Gestalt einer andern Frau an, durch Verstellung ihres Gesichts und fremdländische Kleidung, machte einen vergifteten Kamm, den tat sie zu anderm Kram und ging über die sieben Berge, an das kleine, kleine Zwergenhäuslein. Dort klopfte sie wieder an die Türe, rief: »Holla! Holla! Kauft schöne Waren! Holla!«
   Schneeweißchen sah zum Fenster heraus und sagte: »Ich darf niemand hereinlassen!«
   Das Kramweib aber rief: »Schade um die schönen Kämme!« Und dabei zeigte sie den giftigen, der ganz golden blitzte. Da wünschte sich Schneeweißchen von Herzen einen goldenen Kamm, dachte nichts Arges, öffnete die Türe und ließ die Krämerin herein und kaufte den Kamm.
   »Nun will ich dir auch zeigen, mein allerschönstes Kind, wie der Kamm durch die Haare gezogen und wie er gesteckt wird«, sprach die falsche Krämerin und strich dem Schneeweißchen damit durchs Haar; da wirkte gleich das Gift, daß das arme Kind umfiel und tot war. »So, nun wirst du wohl das Wiederaufstehen vergessen«, sprach die böse Königin und entfloh aus dem Häuschen.
   Bald darauf – und das war ein Glück – wurde es Abend, und da kamen die sieben Zwerge wieder nach Hause, hielten das arme Schneeweißchen für tot und fanden in seinem schönen Haar den giftigen Kamm. Diesen zogen sie geschwind aus dem Haar, und da kam es wieder zu sich. Und die Zwerglein warnten es aufs neue gar sehr, doch ja niemand ins Häuschen zu lassen.
   Daheim trat die böse Königin wieder vor ihren Spiegel und fragte ihn:

     »Spieglein, Spieglein an der Wand,
     Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

   Und der Spiegel antwortete:

     »Frau Königin! Ihr seid die Schönst allhier,
     Aber über den sieben Bergen,
     Bei den sieben guten Zwergen
     Ist Schneeweißchen – tausendmal schöner als Ihr.«

   Da wußte sich die Königin vor giftiger Wut darüber, daß alle ihre bösen Ränke gegen Schneeweißchen nichts fruchteten, gar nicht zu lassen und zu fassen und tat einen schweren Fluch, Schneeweißchen müsse sterben, und solle es ihr, der Königin, selbst das Leben kosten. Und darauf machte sie heimlich einen schönen Apfel giftig, aber nur auf einer Seite, wo er am schönsten war, nahm dazu noch einen Korb voll gewöhnlicher Äpfel, verstellte ihr Gesicht, kleidete sich wie eine Bäuerin, ging abermals über die sieben Berge und klopfte am Zwergenhäuslein an, indem sie rief: »Holla! Schöne Äpfel kauft! Kauft!«
   Schneeweißchen sah zum Fenster heraus und sagte zu ihr: »Geht fort, Frau! Ich darf nicht öffnen und auch nichts kaufen!«
   »Auch gut, liebes Kind!« sprach die falsche Bäuerin. »Ich werde auch ohne dich meine schönen Äpfel noch alle los! Da hast du einen umsonst!«
   »Nein, ich danke schön, ich darf nichts annehmen!« rief Schneeweißchen.
   »Denkst wohl gar, der Apfel wäre vergiftet? Siehst du, da beiße ich selber hinein! Das schmeckt einmal gut! So hast du in deinem ganzen Leben keinen Apfel gegessen.« Dabei biß das trügerische Weib in die Seite des Apfels, die nicht vergiftet war, und da wurde Schneeweißchen lüstern und griff nach dem Apfel hinaus, und die Bäuerin reichte ihn hin und blieb stehen. Kaum hatte Schneeweißchen den Apfel auf der andern Seite angebissen, wo er ein schönes rotes Bäckchen hatte, so wurden Schneeweißchens rote Bäckchen ganz blaß, und es fiel um und war tot.
   »Nun bist du aufgehoben, Ding!« sprach die Königin und ging fort, und zu Hause trat sie wieder vor den Spiegel und fragte wieder:

     »Spieglein, Spieglein an der Wand,
     Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

   Und der Spiegel antwortete dieses Mal:

     »Ihr, Frau Königin, seid allein die Schönst im Land!«

   Nun war das Herz der bösen Königin zufrieden, soweit ein Herz voll Bosheit und Tücke und Mordschuld zufrieden sein kann.
   Aber wie sehr erschraken die sieben guten Zwerge, als sie abends nach Hause kamen und ihr Schneeweißchen ganz tot fanden.
   Vergebens suchten sie nach einer Ursache, und vergebens versuchten sie die Wunderkraft ihrer Goldtinktur, Schneeweißchen war und blieb jetzt tot.
   Da legten die betrübten Zwerglein das liebe Kind auf eine Bahre und setzten sich darum herum und weinten drei Tage lang, hernach wollten sie es begraben. Aber da Schneeweißchen noch nicht wie tot aussah, sondern noch frisch wie ein Mägdlein, das schläft, so wollten sie es nicht allein in die Erde senken, sondern sie machten einen schönen Sarg von Glas, da hinein legten sie es und schrieben darauf: Schneeweißchen, eine Königstochter – und setzten dann den Sarg auf einen von den sieben Bergen und hielt immer einer von ihnen Wache bei dem Sarge. Da kamen auch die Tiere aus dem Walde und weinten über Schneeweißchen, die Eule, der Rabe und das Täubelein.
   Und so lag Schneeweißchen lange Jahre in dem Sarge, ohne daß es verweste, vielmehr sah es noch so frisch und so weiß aus wie frischgefallener Schnee, und es hatte wieder rote Wängelein wie frische Blutröschen und die schwarzen ebenholzfarbenen Haare. Da kam ein junger schöner Königssohn zu dem kleinen Zwergenhäuslein, der sich verirrt hatte in den sieben Bergen, und sah den gläsernen Sarg stehen und las die Schrift darauf: Schneeweißchen, eine Königstochter – und bat die Zwerge, ihm doch den Sarg mit Schneeweißchen zu überlassen, er wolle denselben ihnen abkaufen.
   Die Zwerge aber sprachen: »Wir haben Goldes die Fülle und brauchen deines nicht! Und um alles Gold in der Welt geben wir den Sarg nicht her.«
   »So schenkt ihn mir!« bat der Königssohn. »Ich kann nicht sein ohne Schneeweißchen, ich will es aufs höchste ehren und heilig halten, und es soll in meinem schönsten Zimmer stehen; ich bitte euch darum!«
   Da wurden die Zwerglein von Mitleid bewegt und schenkten ihm Schneeweißchen im gläsernen Sarge. Den gab er seinen Dienern, daß sie ihn vorsichtig forttrügen, und er folgte sinnend nach. Da stolperte der eine Diener über eine Baumwurzel, daß der Sarg schütterte, und sie hätten ihn beinahe fallen lassen, und durch das Schüttern fuhr das giftige Stückchen Apfel, das Schneeweißchen noch im Munde hatte (weil es umgefallen war, ehe es den Bissen verschluckt), heraus, und da war es mit einem Male wieder lebendig.
   Geschwind ließ es der Königssohn niedersetzen, öffnete den Sarg und hob es mit seinen Armen heraus und erzählte ihm alles und gewann es nun erst recht lieb und nahm es zu seiner Gemahlin, führte es auch gleich in seines Vaters Schloß, und es wurde zur Hochzeit zugerüstet mit großer Pracht, auch viele hohe Gäste wurden geladen, darunter auch die böse Königin. Die putzte sich auf das allerschönste, trat vor ihren Spiegel und fragte wieder:

     »Spieglein, Spieglein an der Wand,
     Wer ist die Schönst im ganzen Land?«

   Darauf antwortete der Spiegel:

     »Frau Königin, Ihr seid die Schönst allhier,
     Aber die junge Königin
     ist noch tausendmal schöner als Ihr!«

   Da wußte die Königin nicht, was sie vor Neid und Scheelsucht sagen und anfangen sollte, und es wurde ihr ganz bange ums Herz, und sie wollte erst gar nicht auf die Hochzeit gehen; dann wollte sie aber doch die sehen, die schöner sei als sie, und fuhr hin. Und wie sie in den Saal kam, trat ihr Schneeweißchen als die allerschönste Königsbraut entgegen, die es jemals gegeben, und da mochte sie vor Schrecken in die Erde sinken.
   Schneeweißchen aber war nicht allein die Allerschönste, sondern sie hatte auch ein großes edles Herz, das die Untaten, die die falsche Frau an ihr verübt, nicht selbst rächte. Es kam aber ein giftiger Wurm, der fraß der bösen Königin das Herz ab, und dieser Wurm war der Neid.


   Das Dornröschen

   Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder, wünschten sich aber tagtäglich ein Kind. Zu einer Zeit geschah es, daß die Königin badete und seufzete, als sie so allein war: »Ach, hätte ich doch ein Kind!«
   Da hüpfte ein Frosch aus dem Wasser und sprach: »Was du wünschest, soll dir werden!« Und darauf hat die Königin ein Töchterlein bekommen, das war schön über alle Maßen, und der König hatte darüber die größte Freude, daß sein liebster Wunsch erfüllt war, und stellte ein großes Fest an, zu dem er alle seine Freunde einlud. Nun lebten in dem Lande auch weise Frauen, die waren begabt mit Zauber– und Wundermacht und genossen große Ehrfurcht vor allem Volke; die lud der König auch ein, und sie sollten auf goldnen Tellern essen. Damals hatten aber die Könige nicht so viele Schüsseln und Teller wie jetzt, und dieser König hatte nur ein Dutzend, das sind zwölf, und der weisen Frauen waren dreizehn, da konnte er auch nur zwölf einladen, und die dreizehnte blieb uneingeladen.
   Die weisen Frauen begabten das Königskind mit gar köstlichen Gütern, nicht mit Schönheit, denn die besaß es schon, sondern mit Liebenswürdigkeit, Heiterkeit, Anmut, Sanftmut, Bescheidenheit, Frömmigkeit, Sittsamkeit, Tugend, Aufrichtigkeit, Verstand und Reichtum, und eben wollte die zwölfte weise Frau auch noch ihren Wunsch aussprechen, als die dreizehnte in das Zimmer trat, die nicht eingeladen worden war, und zornig ausrief: »In fünfzehn Jahren soll die Königstochter sich in eine Spindel stechen und tot hinfallen!« Mit diesen Worten war die böse Alrune wieder verschwunden, und die andern standen starr vor Schrecken, denn die weisen Frauen machten keine vergeblichen Worte.
   Ein Glück, daß die zwölfte weise Frau ihren Wunsch noch nicht ausgesprochen hatte. Sie konnte zwar das, was einmal eine weise Frau gedroht hatte, nicht abändern, aber ihm doch eine mildernde Wendung geben, und rief: »Die Königstochter soll nur in einen tiefen Schlaf fallen, der soll hundert Jahre dauern und nicht länger.« Der König ließ sogleich ein Regierungsmandat im ganzen Lande ergehen, kraft dessen alle Spindeln überall abgeschafft und dafür die Spinnräder eingeführt wurden; indes erwuchs die schöne Königtochter zu einem Fräulein, das an Schönheit, Holdseligkeit, Freundlichkeit, Milde, Demut, Züchtigkeit, Herzensgüte, Tugend und Verstand seinesgleichen suchte, und so kam es zu seinem fünfzehnten Jahre, von allen, die es kannten, geliebt, ja angebetet. Und da bekam die Prinzessin gerade Lust, sich im Schloß ein bißchen umzusehen, ging durch mehrere Gemächer und kam an eine Treppe, die zu einem alten Turm führte; diese stieg es hinan und kam an ein niedrig Kammertürlein, da steckte ein alter verrosteter Schlüssel daran, und neugierig, wie die ganz jungen Mädchen sind, drehte die Prinzessin an dem Schlüssel, und die Türe ging gleich auf. Da saß ein uraltes Spinneweiblein und spann emsig mit einer Spindel; es mochte wohl des Königs Gesetz nicht gehört oder gelesen oder es längst vergessen haben. Die umhertanzende, auf und nieder wirbelnde Spindel machte der jungen Königstochter viel Freude, sie haschte nach der Spindel, wollte auch spinnen und stach sich damit, denn es war gerade der Tag, an welchem die Prophezeiung der erzürnten weisen Frau in Erfüllung gehen sollte.
   Und die Königstochter fiel nieder in einen Schlaf. Und da überkam derselbe Schlaf auch den König und die Königin und das ganze Schloß. Da mag es schön langweilig gewesen sein! Der ganze Hofstaat schlief ein, vom Hofmarschall bis zum Küchenjungen, den der Koch wegen eines Versehens gerade an den Haaren zauste und ihm eine Ohrfeige geben wollte, und Koch und Kellner, Kammerfrau und Kammerjungfer, Kind und Kegel, Hund und Katze, ja die Tauben und Sperlinge auf dem Dache, die Pfauen und Papageien und selbst die Fliegen an der Wand, die schliefen alle. Und das Feuer auf dem Herd legte sich und schlief ein, und der Wind legte sich auch, und wurde alles piepstill, daß man kein Mäuschen im ganzen Schloß mehr knuspern hörte, dieweil die Mäuslein auch schliefen. Und da kam kein Mensch mehr in das verzauberte Schlummerschloß, um welches rund herum eine mächtige Dornenhecke emporwuchs, jedes Jahr einige Schuh höher, bis sie den höchsten Turm überwachsen hatte, daß man nicht einmal die Fahne und den Wetterhahn mehr sah, und so dicht, daß kein menschliches Wesen eindringen konnte.
   Und da wurde das Schloß allmählich ganz vergessen, und es ging nur die Sage, hinter den Dornen stehe ein Schloß, darin schlafe das Dornröschen, die verzauberte Prinzessin, wie lange schon und wie lange noch, wisse niemand. Zwar kamen von Zeit zu Zeit Königssöhne, die wollten hindurchdringen durch die Hecke, allein dieselbe war allzu dicht, und konnten es nicht erlangen, blieben wohl gar in den Dornen verstrickt und kamen elendiglich darin um.
   Und so waren nun hundert Jahre vergangen, und die Zeit war da, daß das Dornröschen wieder erwachen sollte, es wußte dies aber niemand genau, und da kam auch ein Königssohn, der hörte die Mär von dem schlafenden Dornröschen aus dem Mund eines Alten, der sie ihm gewiß versicherte, denn sein Vater und Urgroßvater hätten ihm oft davon erzählt, und der Alte mußte den Königssohn hin an die verrufene Dornhecke führen. Und das geschah just am hundertsten Jahrestag, seit das Dornröschen in seinen Zauberschlaf gefallen war. Und die Dornhecke stand über und über voll Rosenblumen, das war seit Menschengedenken nicht der Fall gewesen, auch konnte der Königssohn frei durch die Dornhecke gehen, kein Dorn berührte sein Gewand, aber gleich hinter ihm schloß sich die Hecke wieder. Und da fand er alles unversehrt; kein Wind hatte geweht und kein Regen genäßt, das Jahrhundert war über den Häuptern der Schlummernden so leise hinweggeflogen wie ein Schwan über einen stillen See voll träumender Wasserlilien. Da schliefen noch alle Fliegen und alle Mäuschen, da schliefen Huhn und Hahn, Katz und Hund, Magd und Zofe, Kammerherr und Kammerknecht und auch König und Königin.
   Das alles sah der Königssohn mit großer Verwunderung, ging nun hinauf in den Turm und kam in die Kammer, wo das süße Dornröschen lag und so sanft schlief, hehr umflossen vom Heiligenschein seiner Unschuld und vom Glanze seiner Schönheit. Da beugte der Prinz sich nieder und küßte das Dornröschen, und alsbald schlug es die Augen auf. Der Königssohn sagte ihm, wie alles sich zugetragen, und führte es herab in das Schloß. Da erwachte alles, König und Königin, Zwerg und Zofe, Hunde und Pferde, Feuer und Wasser, Wind und Wetterhahn, und der Koch gab dem Küchenjungen die Ohrfeige, die er ihm vor hundert Jahren schuldig geblieben war, und alles ging wieder seinen Gang, und es wurde eine stattliche Hochzeit ausgerichtet, nämlich des Dornröschens mit dem Königssohn, der es aus dem Schlummer erlöst, und sie lebten glücklich und zufrieden miteinander, bis an ihr Ende.


   Goldener

   Vor langen Jahren hat einmal in einem dichten Wald ein armer Hirte gelebt, der hatte sich ein bretternes Häuschen mitten im Wald erbaut, darin wohnte er mit seiner Frau und sechs Kindern, die waren alle Knaben. An dem Hause war ein Ziehbrunnen und ein Gärtlein, und wenn der Vater das Vieh fütterte, so gingen die Kinder hinaus und brachten ihm zu Mittag oder zu Abend einen kühlen Trunk aus dem Brunnen oder ein Gericht aus dem Gärtlein.
   Den jüngsten Knaben riefen die Eltern nur: »Goldener«, denn seine Haare waren wie Gold, und obgleich der jüngste, so war er doch der stärkste von allen und auch der größte. So oft die Kinder hinaus in die Flur gingen, so ging Goldener mit einem Baumzweige voran, anders wollte keins gehen, denn jedes fürchtete sich, zuerst auf ein Abenteuer zu stoßen; ging aber Goldener voran, so folgten sie freudig eines hinter dem andern nach, durch das dunkelste Dickicht, und wenn auch schon der Mond über dem Gebirge stand.
   Eines Abends ergötzten sich die Knaben auf dem Rückwege vom Vater mit Spielen im Walde, und Goldener hatte sich vor allen so sehr im Spiele ereifert, daß er so hell aussah wie das Abendrot. »Laßt uns zurückgehen!« sprach der Älteste, »es scheint dunkel zu werden.«
   »Seht da, der Mond!« sprach der Zweite. Da kam es auf einmal licht zwischen den dunklen Tannen hervor, und eine Frauengestalt, leuchtend wie der Mond, setzte sich auf einen der moosigen Steine, spann mit einer kristallenen Spindel einen lichten Faden in die Nacht hinaus, nickte mit dem Haupte gegen Goldener und sang:

     »Der weiße Fink, die goldne Ros,
     Die Königin im Meeresschoß!«

   Sie hätte wohl noch weiter gesungen, da brach ihr der Faden, und sie erlosch wie ein Licht. Nun war es ganz Nacht, die Kinder faßte ein Grausen, sie sprangen mit kläglichem Geschrei, das eine dahin, das andere dorthin, über Felsen und Klüfte, und verlor eins das andere.
   Wohl viele Tage und Nächte irrte auch Goldener in dem dicken Wald umher, fand aber weder einen seiner Brüder, noch die Hütte seines Vaters, noch sonst die Spur eines Menschen, denn es war der Wald gar dicht verwachsen, ein Berg über den andern gestellt und eine Kluft unter die andere.
   Die Brombeeren, welche überall herumrankten, stillten seinen Hunger und Durst, sonst wär er gar jämmerlich gestorben. Endlich am dritten Tage – andere sagen gar erst am sechsten oder siebenten Tage – wurde der Wald hell und immer heller, und da kam Goldener zuletzt hinaus auf eine schöne grüne Wiese.
   Da war es ihm so leicht um das Herz, und er atmete mit vollen Zügen die freie Luft ein.
   Auf derselben Wiese waren Garne ausgelegt, denn da wohnte ein Vogelsteller, der fing Vögel, die aus dem Wald flogen, und trug sie in die Stadt zum Kaufe.
   »Solch ein Bursche ist mir gerade vonnöten«, dachte der Vogelsteller, als er Goldener erblickte, der auf der grünen Wiese nah an den Garnen stand und in den weiten blauen Himmel hineinsah und sich nicht satt sehen konnte.
   Der Vogelsteller wollte sich einen Spaß machen, er zog seine Garne und husch! war Goldener gefangen und lag unter dem Garne ganz erstaunt, denn er wußte nicht, wie das geschehen war. »So fängt man die Vögel, die aus dem Walde kommen«, sprach der Vogelsteller laut lachend, »deine roten Federn sind mir eben recht. Du bist wohl ein verschlagener Fuchs? Bleibe bei mir, ich lehre dich auch die Vögel fangen!«
   Goldener war gleich dabei, ihm deuchte unter den Vögeln ein gar lustig Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden.
   »Laß erproben, was du gelernt hast«, sprach der Vogelsteller nach einigen Tagen zu ihm. Goldener zog die Garne, und bei dem ersten Zuge fing er einen schneeweißen Finken.
   »Packe dich mit diesem weißen Finken!« schrie der Vogelsteller, »du hast es mit dem Bösen zu tun!« und so stieß er ihn gar unsanft von der Wiese, indem er den weißen Finken, den ihm Goldener gereicht hatte, unter vielen Verwünschungen mit den Füßen zertrat.
   Goldener konnte die Worte des Vogelstellers nicht begreifen, er ging traurig, doch getrost wieder in den Wald zurück und nahm sich noch einmal vor, die Hütte seines Vaters zu suchen. Tag und Nacht lief er über Felsensteine und alte gefallene Baumstämme, fiel auch gar oft über die schwarzen Wurzeln, die aus dem Boden überall hervorragten.
   Am dritten Tage aber wurde der Wald endlich wieder heller, und da kam er hinaus in einen schönen lichten Garten, der war voll der lieblichsten Blumen, und weil Goldener dergleichen noch keine erblickt, blieb er voll Bewunderung stehen. Der Gärtner im Garten erblickte ihn nicht so bald – denn Goldener stand unter den Sonnenblumen, und seine Haare glänzten im Sonnenschein nicht anders als so eine Blume – , als er sprach: »Ha! Solch einen Burschen hab ich gerade vonnöten!« und das Tor des Gartens schloß. Goldener ließ es sich gefallen, denn ihm deuchte unter den Blumen ein gar buntes Leben, zumal da er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, die Hütte seines Vaters wiederzufinden.
   »Fort in den Wald!« sprach der Gärtner eines Morgens zu Goldener, »hol mir einen wilden Rosenstock, damit ich zahme Rosen darauf pflanze!« Goldener ging und kam mit einem Stock der schönsten goldfarbenen Rosen zurück, die waren auch nicht anders, als hätte sie der geschickteste Goldschmied für die Tafel eines Königs geschmiedet.
   »Packe dich mit diesen goldnen Rosen!« schrie der Gärtner, »du hast es mit dem Bösen zu tun«, und so stieß er ihn gar unsanft aus dem Garten, indem er die goldenen Rosen unter vielen Verwünschungen in die Erde trat.
   Goldener konnte die Worte des Gärtners nicht begreifen, doch ging er getrost wieder in den Wald zurück und nahm sich nochmals vor, die Hütte seines Vaters zu suchen.
   Er lief Tag und Nacht, von Baum zu Baum, von Fels zu Fels. Am dritten Tage endlich wurde der Wald hell und immer heller, und da kam Goldener hinaus an das blaue Meer; das lag in einer unermeßlichen Weite vor ihm, die Sonne spiegelte sich eben in der kristallhellen Fläche, da war es wie fließendes Gold, darauf schwammen schön geschmückte Schiffe mit langen fliegenden Wimpeln. Einige Fischer hielten in einer zierlichen Barke am Ufer, in die trat Goldener und sah mit Erstaunen in die Helle hinaus.
   »Ein solcher Bursch ist uns gerade vonnöten«, sprachen die Fischer, und husch stießen sie vom Lande. Goldener ließ es sich gefallen, denn ihm deuchte bei den Wellen ein goldenes Leben, zumal er ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, seines Vaters Hütte wiederzufinden. Die Fischer warfen ihre Netze aus und fingen nichts. »Laß sehen, ob du glücklicher bist!« sprach ein alter Fischer mit silbernen Haaren zu Goldener. Mit ungeschickten Händen senkte Goldener das Netz in die Tiefe, zog und fischte – eine Krone von hellem Golde.
   »Triumph!« rief der alte Fischer und fiel Goldener zu Füßen, »ich begrüße dich als unsern König! Vor hundert Jahren versenkte der alte König, welcher keine Erben hatte, sterbend seine Krone in das Meer, und so lange, bis irgendeinem Glücklichen das Schicksal bestimmt hätte, die Krone wieder aus der Tiefe zu ziehen, sollte der Thron ohne Nachfolger in Trauer gehüllt bleiben.«
   »Heil unserm König!« riefen die Fischer und setzten Goldenern die Krone auf. Die Kunde von Goldener und der wiedergefundenen Königskrone erscholl bald von Schiff zu Schiff und über das Meer weit in das Land hinein. Da war die goldene Fläche bald mit bunten Nachen besetzt und mit Schiffen, die mit Blumen und Laubwerk geziert waren; diese begrüßten mit lautem Jubel alle das Schiff, auf dem König Goldener stand. Er stand, die helle Krone auf dem Haupte, am Vorderteile des Schiffs und sah ruhig der Sonne zu, wie sie im Meer erlosch. Im Abendwinde wehten seine goldnen Locken.


   Des kleinen Hirten Glückstraum

   Es war einmal ein sehr armer Bauersmann, der war in einem Dörflein Hirte, und das schon seit vielen Jahren. Seine Familie war klein, er hatte eine Frau und nur ein einziges Kind, einen Knaben. Doch diesen hatte er sehr frühzeitig mit hinaus auf die Weide genommen und ihm die Pflichten eines treuen Hirten eingeprägt, und so konnte er, als nur einigermaßen der Knabe herangewachsen war, sich ganz auf denselben verlassen, konnte ihm die Herde allein anvertrauen und konnte unterdessen daheim noch einige Dreier mit Körbeflechten verdienen. Der kleine Hirte trieb seine Herde munter hinaus auf die Triften und Raine; er pfiff oder sang manch helles Liedlein und ließ dazwischen gar laut seine Hirtenpeitsche knallen; dabei wurde ihm keine Zeit lang. Des Mittags lagerte er sich gemächlich neben seine Herde, aß sein Brot und trank aus der Quelle dazu, und dann schlief er auch wohl ein Weilchen, bis es Zeit war weiterzutreiben. Eines Tages hatte sich der kleine Hirte unter einen schattigen Baum zur Mittagsruhe gelagert, schlief ein und träumte einen gar wunderlichen Traum: Er reise fort, gar unendlich weit fort – ein lautes Klingen, wie wenn unaufhörlich eine Masse Münzen zu Boden fielen – ein Donnern, wie wenn unaufhörlich Schüsse knallten – eine endlose Schar Soldaten, mit Waffen und in blitzenden Rüstungen – das alles umkreisete, umschwirrte, umtosete ihn. Dabei wanderte er immerzu und stieg immer bergan, bis er endlich oben auf der Höhe war, wo ein Thron aufgebaut war, darauf er sich setzte, und neben ihm war noch ein Platz, auf dem eine schöne Frau, die plötzlich erschien, sich niederließ. Nun richtete sich im Traum der kleine Hirte empor und sprach ganz ernst und feierlich: »Ich bin König von Spanien.« Aber in demselben Augenblick wachte er auf. Nachdenklich über seinen sonderbaren Traum trieb der Kleine seine Herde weiter, und des Abends erzählte er daheim seinen Eltern, die vor der Türe saßen und Weiden schnitzten, wobei er ihnen auch half, seinen wunderlichen Traum und sprach zum Schluß: »Wahrlich, wenn ich noch einmal träume, so gehe ich fort nach Spanien und will doch einmal sehen, ob ich nicht König werde!«
   »Dummer Junge«, murmelte der alte Vater, »dich macht man zum König, laß dich nicht auslachen!«
   Und seine Mutter kicherte weidlich und klatschte in die Hände und wiederholte ganz verwundert: »König von Spanien, König von Spanien!«
   Am andern Tag zu Mittag lag der kleine Hirte zeitig unter jenem Baume, und o Wunder! derselbe Traum umfing wieder seine Sinne. Kaum hielt es ihn bis zum Abend auf der Hut, er wäre gern nach Hause gelaufen und wäre aufgebrochen zur Reise nach Spanien. Als er endlich heimtrieb, verkündete er seinen abermaligen Traum und sprach: »Wenn mich aber noch einmal so träumt, so gehe ich auf der Stelle fort, gleich auf der Stelle.«
   Am dritten Tage lagerte er sich denn wieder unter jenen Baum, und ganz derselbe Traum kam zum dritten Male wieder. Der Knabe richtete sich im Traume empor und sprach: »Ich bin König von Spanien«, und darüber erwachte er wieder, raffte aber auch sogleich Hut und Peitsche und Brotsäcklein von dem Lager auf, trieb die Herde zusammen und geraden Wegs nach dem Dorfe zu. Da fingen die Leute an mit ihm zu zanken, daß er so bald und so lange vor der Vesperzeit eintreibe, aber der Knabe war so begeistert, daß er nicht auf das Schelten der Nachbarn und der eignen Eltern hörte, sondern seine wenigen Kleidungsstücke, die er des Sonntags trug, in ein Bündel schnürte, dasselbe an ein Nußholzstöcklein hing, über die Achsel nahm und so mir nichts, dir nichts fortwanderte. Gar flüchtig war der Knabe auf den Beinen; er lief so rasch, als sollte er noch vor nachts in Spanien eintreffen. Doch erreichte er nur an diesem Tage einen Wald, nirgends war ein Dorf oder ein einzelnes Haus; und er beschloß, in diesem Wald in einem dichten Busch sein Nachtlager zu suchen. Kaum hatte er aber zur Ruhe sich niedergelegt und war entschlummert, als ein Geräusch ihn wieder erweckte: Es zog eine Schar Männer in lautem Gespräch an dem Busch vorüber, in welchen er sich gebettet. Leise machte der Knabe sich hervor und ging den Männern in einer kleinen Entfernung nach und dachte, vielleicht findest du doch noch eine Herberge; wo diese Männer heute schlafen, kannst du gewiß auch schlafen.
   Gar nicht lange waren sie weitergewandert, als ein ziemlich ansehnliches Haus vor ihnen stand, aber so recht mitten im dunklen Wald. Die Männer klopften an, es wurde aufgetan, und neben den Männern schlüpfte auch der Hirtenknabe mit hinein in das Haus. Drinnen öffnete sich wieder eine Türe, und alle traten in ein großes, sehr spärlich erhelltes Zimmer, wo auf dem Fußboden umher viele Strohbunde, Betten und Deckbetten lagen, die zum Nachtlager der Männer bereitgehalten schienen. Der kleine Hirtenbub verkroch sich schnell unter einem Strohhaufen, der nahe an der Türe aufgeschichtet war, und lauschte nun auf alles, was er nur aus seinem Versteck hören und wahrnehmen konnte. Bald kam er dahinter, denn er war ohnehin klug und aufgeweckt, daß diese Männerschar eine Räuberbande sei, deren Hauptmann der Herr dieses Hauses war. Dieser bestieg, als die neu angelangten Mitglieder der Bande sich hingelagert hatten, einen etwas erhöhten Sitz und sprach mit tiefer Baßstimme: »Meine braven Genossen, tut mir Bericht von eurem heutigen Tagewerk, wo ihr eingebrochen seid und was ihr erbeutet habt!«
   Da richtete sich zuerst ein langer Mann mit kohlschwarzem Bart empor und antwortete: »Mein lieber Hauptmann, ich habe heute früh einen reichen Edelmann seiner ledernen Hose beraubt, diese hat zwei Taschen, und so oft man das Oberste zuunterst kehrt und tüchtig schüttelt, so oft fällt ein Häuflein Dukaten heraus auf den Boden.«
   »Das klingt sehr gut!« sprach der Hauptmann.
   Ein anderer der Männer trat auf und berichtete: »Ich habe heute einem General seinen dreieckigen Hut gestohlen; dieser Hut hat die Eigenschaft, wenn man ihn auf dem Kopf dreht, daß unaufhörlich aus den drei Ecken Schüsse knallen.«
   »Das läßt sich hören!« sprach der Hauptmann wieder.
   Und ein dritter richtete sich auf und sprach: »Ich habe einen Ritter seines Schwertes beraubt; so man dasselbe mit der Spitze in die Erde stößt, ersteht augenblicklich ein Regiment Soldaten.«
   »Eine tapfere Tat!« belobte der Hauptmann. Ein vierter Räuber erhob sich nun und begann: »Ich habe einem schlafenden Reisenden seine Stiefel abgezogen, und wenn man diese anzieht, legt man mit jedem Schritt sieben Meilen zurück.«
   »Rasche Tat lobe ich!« sprach der Hauptmann zufrieden, »hänget eure Beute an die Wand und dann esset und trinket und schlafet wohl.« Somit verließ er das Schlafzimmer der Räuber; diese zechten noch weidlich und fielen dann in festen Schlaf.
   Als alles stille und ruhig war und die Männer allesamt schliefen, machte sich der kleine Hirte hervor, zog die ledernen Hosen an, setzte den Hut auf, gürtete das Schwert um, fuhr in die Stiefel und schlich dann leise aus dem Haus. Draußen aber zeigten die Stiefel zur Freude des Kleinen schon ihre Wunderkraft, und es währte gar nicht lange, so schritt das Bürschchen zur großen Residenzstadt Spaniens hinein; sie heißt Madrid.
   Hier fragte er den ersten besten, der ihm aufstieß, nach dem größesten Gasthof, aber er erhielt zur Antwort: »Kleiner Wicht, geh du hin, wo deinesgleichen einkehrt, und nicht wo reiche Herren speisen.« Doch ein blankes Goldstück machte jenen gleich höflicher, so daß er nun gerne der Führer des kleinen Hirten wurde und ihm den besten Gasthof zeigte.
   Dort angelangt, mietete der Jüngling sogleich die schönsten Zimmer und fragte freundlich seinen Wirt: »Nun, wie steht es in eurer Stadt? Was gibt es hier Neues?«
   Der Wirt zog ein langes Gesicht und antwortete: »Herrlein, Ihr seid hier zu Land wohl fremd? Wie es scheint, habt Ihr noch nicht gehört, daß unser König, Majestät, sich rüstet mit einem Heer von zwanzigtausend Mann? Seht, wir haben Feinde; oh, es ist gar eine schlimme Zeit! Herrlein, wollt Ihr auch etwa unters Militär gehen?«
   »Freilich, freilich«, sprach der zarte Jüngling, und sein Gesicht glänzte vor Freude.
   Als der Wirt sich entfernt hatte, zog er flugs seine ledernen Hosen aus, schüttelte sich ein Häuflein Goldstücke und kaufte sich kostbare Kleider und Waffen und Schmuck, tat alles an und ließ beim König um eine Audienz bitten. Und wie er in das Schloß kam und von zwei Kammerherren durch einen großen herrlichen Saal geführt wurde, begegnete ihnen eine wunderliebliche junge Dame, die sich anmutig vor dem schönen Jüngling, der in der Mitte der Herren ging und sie zierlich grüßte, verneigte, und die Herren flüsterten: »Das ist die Prinzessin, die Tochter des Königs.«
   Der junge Mann war nicht wenig von der Schönheit der Königstochter entzückt, und seine Entzückung und Begeisterung ließen ihn keck und mutvoll vor dem Könige reden. Er sprach: »Königliche Majestät! Ich biete hiermit untertänigst meine Dienste als Krieger an. Mein Heer, das ich Euch zuführe, soll Euch den Sieg erfechten, mein Heer soll alles erobern, was mein König zu erobern befiehlt. Aber eine Belohnung bitte ich mir aus, daß ich, wofern ich den Sieg davontrage, Eure holde Tochter als Gemahlin heimführen dürfe. Wollt Ihr das, mein gnädigster König?«
   Und der König erstaunte ob der kühnen Rede des Jünglings und sprach: »Wohl, ich gehe in deine Forderung ein; kehrst du heim als Sieger, so will ich dich als meinen Nachfolger einsetzen und dir meine Tochter zur Gemahlin geben.«
   Jetzt begab sich der ehemalige Hirte ganz allein hinaus auf das freie Feld und begann, sein Schwert drauf und drein in die Erde zu stoßen, und in wenigen Minuten standen viele Tausende kampfgerüsteter Streiter auf dem Platz, und der Jüngling saß als Feldherr kostbar bewaffnet und geschmückt auf einem herrlichen Roß, welches mit goldgewirkten Decken behangen war; der Zaum blitzte von Edelsteinen, und der junge Feldherr zog aus und dem Feind entgegen, da gab es eine große blutige Schlacht; aus dem Hut des Feldherrn donnerten unaufhörlich tödliche Schüsse, und das Schwert desselben rief ein Regiment nach dem andern aus der Erde hervor, so daß in wenigen Stunden der Feind geschlagen und zerstreut war und die Siegesfahnen wehten. Der Sieger aber folgte nach und nahm dem Feinde auch noch den besten Teil seines Landes hinweg. Siegreich und glorreich kehrte er dann zurück nach Spanien, wo ihn das holdeste Glück noch erwartete. Die schöne Königstochter war nicht minder entzückt von dem schmucken Jüngling gewesen, wie sie ihm im Saale begegnet war, als er von ihr; und der gnädigste König wußte die sehr großen Verdienste des tapfern Jünglings auch gebührend zu schätzen, hielt sein Wort, gab ihm seine Tochter zur Gemahlin und machte ihn zu seinem Nachfolger und Thronerben.
   Die Hochzeit wurde prunkvoll und glänzend vollzogen, und der ehemalige Hirte saß ganz im Glück. Bald nach der Hochzeit legte der alte König Krone und Szepter in die Hände seines Schwiegersohns, der saß stolz auf dem Thron und neben ihm seine holde Gemahlin, und es wurde ihm, als dem neuen König, von seinem Volke Huldigung gebracht. Da gedachte er seines so schön erfüllten Traumes und gedachte seiner armen Eltern und sprach, als er wieder allein bei seiner Gemahlin war: »Meine Liebe, sieh, ich habe noch Eltern, aber sie sind sehr arm, mein Vater ist Dorfhirte weit von hier, und ich selbst habe als Knabe das Vieh gehütet, bis mir durch einen wunderbaren Traum offenbart wurde, daß ich noch König von Spanien werde. Und das Glück war mir hold, sieh, ich bin nun König, aber meine Eltern möcht ich auch gern noch glücklich sehen, daher ich mit deiner gütigen Zustimmung nach Hause reisen und die Eltern holen will.« Die Königin war‘s zufrieden und ließ ihren Gemahl ziehen, der sehr schnell zog, weil er die Siebenmeilenstiefel anhatte. Unterwegs stellte der junge König die Wunderdinge, die er den Räubern abgenommen, ihren rechtmäßigen Eigentümern wieder zu, bis auf die Stiefel, holte seine armen Eltern, die vor Freude ganz außer sich waren, und dem Eigentümer der Stiefel gab er für dieselben ein Herzogtum. Dann lebte er glücklich und würdiglich als König von Spanien bis an sein Ende.


   Des Königs Münster

   Es war einmal ein König, der erbaute ein prachtvolles Münster zur Ehre und zum Lobe Gottes, und es durfte niemand zu diesem Bau einen Heller beisteuern, nach des Königs ausdrücklichem Gebot, sondern er wollte es ganz aus dem eignen Schatz erbauen. Und so geschah es auch, und das Münster war vollendet, schön und würdig, mit aller Pracht und aller Zier. Und da ließ der König eine große marmorne Tafel zurichten, in diese ließ er mit goldnen Buchstaben eine Schrift graben, daß er, der König, allein den Dom erbaut habe und niemand habe dazu beigesteuert. Aber als die Tafel einen Tag und eine Nacht lang aufgerichtet war, so war in der Nacht die Schrift verändert, und statt des Königs Namen stand ein anderer Name darauf, und zwar der Name einer armen Frau, so daß es nun lautete, als habe sie das ganze prächtige Münster erbaut. Das verdroß den König mächtig; er ließ den Namen austilgen und den seinigen wieder einschreiben. Aber über Nacht stand wieder der Name jener armen Frau auf der Tafel, und jedermann las, daß sie des Münsters Stifterin sei. Und zum dritten Male ward des Königs Name auf die Tafel geschrieben, und zum dritten Male verschwand er, und jener kam zum Vorschein. Da merkte der König, daß hier Gottes Finger schreibe, demütigte sich und ließ nach der Frau forschen und sie vor seinen Thron heischen. Voll Angst und erschrocken trat sie vor den König, der sprach zu ihr: »Frau, es geben sich wunderliche Dinge, sage mir bei Gott und deinem Leben die Wahrheit! Hast du mein Gebot nicht vernommen, daß niemand zu dem Münster geben solle? Oder hast du doch dazu gegeben?«
   Da fiel das Weib dem Könige zu Füßen und sprach: »Gnade, mein Herr und König! Ich will alles auf deine Gnade bekennen!
   Ich bin ein ganz armes Weib; ich muß mich kümmerlich mit Spinnen ernähren, daß mich der Hunger nicht ertötet, und da hatte ich doch ein Hellerlein erübrigt, das mocht ich gar zu gerne darbringen zu deinem Tempelbau und Gott zu Ehren, aber ich fürchtete, o Herr, deinen Bann und deine harte Bedräuung, und da kaufte ich um das Hellerlein ein Bündelein Heu, das streute ich auf die Straße den Ochsen hin, welche die Steine zu deinem Münster zogen, und sie fraßen es. So tat ich nach meinem Willen und ohne dein Gebot zu verletzen.« Da ward der König mächtiglich bewegt von der Frauen Rede und sah, wie Gott der Herr, ihren reinen Sinn gewürdigt und ihn als höheres Opfer angenommen als des Königs reichen Schatz. Und der König beschenkte die arme Frau reichlich und nahm sich die Strafe seiner Eitelkeit wohl zu Herzen.


   Die Hexe und die Königskinder

   Mitten in einem Walde wohnte eine alte schlimme Hexe ganz allein mit ihrer Tochter, die ein gutes, mildes Kind war und bei der das Sprichwort, der Apfel fällt nicht weit vom Stamme, nicht zutraf. Der Stamm nämlich war über alle Maßen knorrig, stachlig und häßlich; wer die Alte sah, ging ihr aus dem Wege und dachte: Weit davon ist gut vorm Schuß. Die Alte trug beständig eine grüne Brille und über ihrem Zottelhaar, das ungekämmt ihr vom Kopfe weit herunterhing, einen roten Tuchlappen, sie ging gern in kurzen Ärmeln, daß ihre dürren wettergebräunten Arme weit aus dem sie umschlotternden Gewand hervorragten. Auf dem Rücken trug sie für gewöhnlich einen Sack mit Zauberkräutern, die sie im Walde sammelte, und in der Hand einen großen Topf, darin sie dieselben kochte und damit Ungewitter, Hagel und Schloßen, Reif und Frost zu Wege brachte, so oft es ihr beliebte.
   Am Finger trug sie einen Hexenreif von Golde mit einem glühroten Karfunkelstein, mit dem sie Menschen und Tiere bezaubern konnte. Dieser Ring machte die Alte riesenstark und lebenskräftig und machte sie, wenn sie wollte, auch ganz und gar unsichtbar; da konnte sie hingehen, wohin sie wollte, und nehmen, was sie wollte – und das tat sie auch, und im Walde suchte sie die Hirschkühe auf, und wenn die Tiere den Ring sahen und sahen den Stein funkeln, da mußten sie an eine Stelle gebannt stehen bleiben, und dann ging die Alte zu den Hirschkühen und molk deren Milch in ihren Topf und trank sie mit ihrer Tochter. Diese Tochter hieß Käthchen und hatte es nicht gut bei ihrer bösen Mutter, doch trug sie geduldig alles Leid. Am schmerzlichsten war ihr, daß ihre Mutter manchesmal Kinder mitbrachte, mit denen Käthchen gern gespielt hätte, allein die Alte nahm immer den Kindern ihre Kleider, sperrte die Kinder ein und fütterte sie mit Hirschmilch, daß sie fett wurden, und was sie dann mit ihnen vornahm, ist gruselig zu erzählen; sie verwandelte sie nämlich in Hirschkälbchen und verkaufte diese an Jäger. Die Jäger aber schossen die armen verwandelten und verkauften Hirschkälbchen tot und lieferten sie in die Stadt, wo die Leute das junge Wildbret gar gern essen. So schlimm und böse war die häßliche Alte, und da sie den ganzen Tag nichts tat, als zaubern und böse Ränke ersinnen, und dabei oft und viel laut vor sich hin murmelte, so lernte ihre Tochter Käthchen ihr unvermerkt einige Zauberstücklein ab, die sie ganz im stillen für sich behielt.
   Da brachte eines Abends die Alte wieder zwei wunderschöne Kinder geführt, einen Knaben und ein Mädchen, denen sah man an, daß es Geschwister waren und reicher Leute Kinder; beide hatten sich im Walde verirrt, waren von der Alten gefunden und nach ihrem Hause mitgenommen worden, und sie hatte ihnen gesagt, sie wolle sie zurück zu den Eltern bringen. Die Kinder sahen sich schrecklich getäuscht, als die Alte ihnen ihre schönen Kleider auszog, ihnen dafür Lumpen anlegte und sie in ein dunkles Kämmerchen einsperrte. Doch bekamen sie einen ganzen Topf voll Hirschmilch zu essen, welche gut schmeckte, und ein Stück schwarzes Brot dazu, welches weniger gut schmeckte, aber endlich doch auch verzehrt wurde.
   Am andern Morgen humpelte die Alte schon frühzeitig in den Wald und winkte den Hirschkühen. Da war eine Hirschfamilie, welche die Alte besonders gut kannte und schätzte, bestehend aus dem Herrn Hirsch, der Frau Hirschin und zwei jungen Kälbchen, die hielten sich immer treulich im Walde zusammen, waren aber doch in steter Furcht vor der bösen Alten, welche machen konnte, daß sie alle still stehen mußten, und mußten sich von der bösen Hexe die Muttermilch nehmen lassen, so daß die Kälbchen sich nicht satt trinken und nicht fett werden konnten. Könnt ich dir nur einmal mein Geweih durch den dürren Leib rennen! dachte oft der Hirsch, und die Hirschin hatte auch keine guten Wünsche für die Alte – es half aber ihr Wünschen allen beiden nichts. Während die Alte im Walde war, schlich Käthchen zu dem Kämmerlein und sah durch eine Ritze in der Tür die armen gefangenen Kinder, welche seufzten und weinten, in großem Herzeleid. Da fragte Käthchen: »Wer seid ihr denn, ihr armen Kinder?«
   »Wir sind eines Königs Kinder! O mache uns frei, mein Vater wird es dir lohnen!« sprach der Königsprinz.
   »Und meine Mutter auch«, sagte die kleine Prinzessin, indem sie hinzufügte: »Du sollst auch unsre gute Schwester sein und sollst bei mir im seidnen Bettchen schlafen, und ich will dir gar schöne goldne Kleider geben, hilf uns, hilf uns nur!«
   Da sagte Käthchen: »Seid nur geduldig, liebe Königskinder; ich will schon zusehen und darauf sinnen, daß ich euch befreie.«
   Am andern Morgen in aller Frühe machte das gute Käthchen ein Zauberstück. Sie verließ eilig ihr Lager, hauchte hinein und sagte leise:

     »Liebes Bettchen, sprich für mich,
     Bin ich weg, sei du mein Ich!«

   So auch hauchte sie auf ihre Lade, auf die Treppe und auf den Herd in der Küche und sprach das nämliche Sprüchlein. Darauf ging sie an das wohlverwahrte Kämmerlein der Königskinder, hielt eine Springwurzel, welche die Alte auf dem Kannrück liegen hatte, an das Schloß und sagte:

     »Riegel, Riegel, Riegelein,
     Öffne dich, laß aus und ein!«

   Da sprangen gleich Schloß und Riegel auf, und Käthchen führte alsbald die Königskinder hinweg und in den Wald hinein.
   Als die Alte aufwachte, rief sie: »Käthchen, stehe auf und schüre Feuer an!« – Da rief es aus dem Bettchen:

     »Ich bin schon auf und munter!
     Ich komme gleich in die Küche hinunter!«

   Die Alte blieb nun noch liegen, doch da sie nach einer Weile nichts hörte, rief sie wieder: »Käthchen! Wo bleibt denn das faule Ding?«
   »Gleich!« rief es von der Lade:

     »Ich sitze auf der Lade
     Und binde das Strumpfband über die Wade!«

   Da nun wieder eine Weile verging und sich im Hause nichts rührte noch regte, so ward die Alte böse und schrie: »Käthchen! Balg! Wo bleibst du denn?« Da scholl eine Stimme von der Treppe:

     »Ich komme schon, ich fliege!
     Ich bin ja schon leibhaftig auf der Stiege!«

   Die Alte beruhigte sich noch einmal – aber nicht gar lange, denn da wieder alles still blieb, so fuhr sie auf und schalt und fluchte. Da rief es vom Herde her:

     »Wozu die bösen Flüche?
     Ich bin ja schon am Herd und in der Küche!«

   Gleichwohl blieb es in der Küche und im ganzen Hause totenstill. Jetzt riß der Alten völlig der Geduldsfaden, sie sprang aus ihrem Bett, fuhr in die Kleider und nahm einen Besenstiel, willens, Käthchen unbarmherzig durchzuprügeln. Aber wie sie hinauskam, war kein Käthchen da, nicht zu sehen, nicht zu hören, und was das Schönste, für die Alte aber das Schlimmste war, auch die Königskinder waren fort. Jetzt hättet ihr sollen die Hexensprünge sehen, welche die zornige böse alte Frau machte. Ihr Ring zeigte ihr sogleich die Richtung an, nach welcher Käthchen mit den Kindern geflohen war, und sie raste nun wild hinter ihnen her. Die Kinder aber, als sie in den Wald gekommen waren, hatten dort den Herrn von Edelhirsch nebst Gemahlin, Sohn und Tochter angetroffen und dieser Familie in aller Eile ihr Unglück und ihre Flucht erzählt und ihre edlen Herzen mächtig gerührt, so daß sie sich bereit zeigten, ihnen alle mögliche Hilfe angedeihen zu lassen. Die gute Dame Hirsch bot den Kindern ihren Rücken dar, sie alle drei nach dem Königsschlosse zu tragen, das jenseit des Waldes lag, und der Gemahl befahl seinen Kindern, sich in das Dickicht zurückzuziehen, er selbst stellte sich hinter dichtes Laubgebüsch nahe am Weg, willens, die Alte, wenn sie vorbeirenne und er ihren Ring nicht sehe, über den Haufen zu stoßen.
   Es währte auch gar nicht lange, so kam die Alte in großen Sprüngen gesetzt; in ihrem Zorn und Eifer vergaß sie ganz, unsichtbar sein zu wollen, hielt auch den Finger mit dem Ring nicht empor, und so geschah es, daß plötzlich ein großes und stattliches Hirschgeweih mit ihr in eine sehr verwickelte Berührung kam, bei welcher eines der Enden des Geweihes mit Gewalt den Finger der Alten so streifte, daß der Zauberring vom Finger herabging und sich auf dem Ende feststeckte, und ehe sich‘s einer versah, so hatte der Hirsch die alte Hexe aufgegabelt, die nun durch des Ringes Kraft selbst starr und steif wurde, und trug sie in gestrecktem Lauf der Fährte nach, welche die gute Hinde, seine Gemahlin, im tauigen Grase zurückgelassen. Diese war indes mit den drei Kindern bereits im Königsschloß angekommen, und von dem König und der Königin waren die verlorenen Kinder und das gute Käthchen, das sie gerettet, mit großer Freude empfangen worden – als sie plötzlich alle mit großer Verwunderung die Alte, auf dem Geweih des stattlichen Edelhirsches sitzend und getragen, daher schweben sahen. Der Hirsch aber sprang ohne Säumen in den Schloßteich und tauchte mit dem Kopfe unter. Als er wieder auftauchte, war sein Geweih frei von der Last. Aber auch der Zauberring blieb im Grunde. Hirsch und Hirschin kehrten zu ihrem Walde und zu ihren Kindern zurück und waren sehr froh, daß ihnen nun niemand mehr ihre Milch nahm; Käthchen aber blieb bei den Königskindern und schlief in einem seidnen Bettchen und trug goldne Kleidchen und wurde selbst gehalten wie ein Königskind.


   Der Mönch und das Vögelein

   Es war in einem Kloster ein junger Mönch, des Namens Urbanus, gar fromm und fleißig, dem war der Schlüssel zur Bücherei des Klosters anvertraut, und er hütete sorglich diesen Schatz, schrieb selbst manches schöne Buch und studierte viel in den andern Büchern und in der heiligen Schrift. Da fand er auch einen Spruch des Apostels Petrus, der lautet: Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag und wie eine Nachtwache. Das dünkte dem jungen Mönch schier unmöglich, mocht und konnte es nicht glauben und quälte sich darob mit schweren Zweifeln.
   Da geschah es eines Morgens, daß der Mönch herunterging aus dem dumpfen Bücherzimmer in den hellen schönen Klostergarten, da saß ein kleines buntes Waldvögelein im Garten, das suchte Körnlein, flog auf einen Ast und sang schön wie eine Nachtigall. Es war auch dieses Vögelein gar nicht scheu, sondern ließ den Mönch nahe an sich herankommen, und er hätte es gern gehascht, doch entfloh es, von einem Ast zum andern, und der Mönch folgte ihm eine gute Weile nach, dann sang es wieder mit lauter und heller Stimme, aber es ließ sich nicht fangen, obschon der junge Mönch das Vögelein aus dem Klostergarten heraus in den Wald noch eine gute Weile verfolgte. Endlich ließ er ab und kehrte zurück nach dem Kloster, aber ein anderes dünkte ihm alles, was er sah. Alles war weiter, größer und schöner geworden, die Gebäude, der Garten, und statt des niedern alten Klosterkirchleins stand jetzt ein stolzes Münster da mit drei Türmen. Das dünkte dem Mönch sehr seltsam, ja zauberhaft. Und als er an das Klostertor kam und mit Zagen die Schelle zog, da trat ihm ein gänzlich unbekannter Pförtner entgegen, der wich bestürzt zurück vor ihm. Nun wandelte der Mönch über den Klosterkirchhof, auf dem waren so viele, viele Denksteine, die er gesehen zu haben sich nicht erinnern konnte. Und als er nun zu den Brüdern trat, wichen sie alle vor ihm aus, ganz entsetzt. Nur der Abt, aber nicht sein Abt, sondern ein andrer, junger, hielt ihm stand, streckte ihm aber auch gleich ein Kruzifix entgegen und rief: »Im Namen des Gekreuzigten, Gespenst, wer bist du? Und was suchst du, der den Höhlen der Toten entflohen, bei uns, den Lebenden?«
   Da schauerte der Mönch zusammen und wankte, wie ein Greis wankt, und senkte den Blick zur Erden. Siehe, da hatte er einen langen silberweißen Bart bis über den Gürtel herab, an dem noch der Schlüsselbund hing zu den vergitterten Bücherschreinen. Den Mönchen dünkte der Mann ein wunderbarer Fremdling, und sie leiteten ihn mit scheuer Ehrfurcht zum Sessel des Abtes. Dort gab er einem jungen Mönch die Schlüssel zu dem Büchersaal, der schloß auf und brachte ein Chronikbuch getragen, darin stand zu lesen, daß vor dreihundert Jahren der Mönch Urban spurlos verschwunden, niemand wisse, ob entflohen oder verunglückt.
   »O Waldvögelein, war das dein Lied?« fragte der Fremdling mit einem Seufzer. »Kaum drei Minuten lang folgte ich dir und horchte deinem Gesang, und drei Jahrhunderte vergingen seitdem! Du hast mir das Lied von der Ewigkeit gesungen, die ich nicht fassen konnte! Nun fasse ich sie und bete Gott an im Staube, selbst ein Staub!« Sprach‘s und neigte sein Haupt, und sein Leib zerfiel in ein Häuflein Asche.


   Zwergenmützchen

   Es war einmal ein Müller, der hatte drei Söhne und eine Tochter. Die Tochter liebte er sehr, aber die Söhne konnte er gar nicht leiden, war stets unzufrieden mit ihnen und machte ihnen das Leben sauer, denn sie konnten ihm nie etwas recht machen. Darüber waren die Brüder sehr bekümmert und wünschten sich weit weg von ihrem Vaterhause und saßen oft beisammen, klagend und seufzend, und wußten nicht, was sie anfangen sollten.
   Eines Tages, als die drei Brüder auch so betrübt beisammen saßen, seufzte der eine von ihnen: »Ach, hätten wir nur ein Zwergenmützchen, da wäre uns allen geholfen!«
   »Was ist‘s damit?« fragte der eine von den beiden anderen Brüdern. »Die Zwerge, die in den grünen Bergen wohnen«, erläuterte der Bruder, »haben Mützchen, die man auch Nebelkäpplein nennt, und damit kann man sich unsichtbar machen, wenn man sie selbst aufsetzt. Das ist gar eine schöne Sache, liebe Brüder; da kann man den Leuten aus dem Wege gehen, die nichts von einem wissen wollen und von denen man nie ein gutes Wort empfängt. Man kann hingehen, wohin man will, nehmen, was man will, niemand sieht einen, solange man mit dem Zwergenmützchen bedeckt ist.«
   »Aber wie gewinnt man solch ein rares Mützchen?« fragte der dritte und jüngste der Brüder.
   »Die Zwerge«, antwortete der Älteste, »sind ein kleines, drolliges Völklein, das gern spielt. Da macht es ihnen große Freude, bisweilen ihre Mützchen in die Höhe zu werfen. Wupps! sind sie sichtbar, wupps! fangen sie das Mützchen wieder, setzen es auf und sind wieder unsichtbar. Nun braucht man nichts zu tun, als aufzupassen, wenn ein Zwerg sein Mützchen in die Höhe wirft, und muß dann rasch den Zwerg packen und das Mützchen geschwind selbst fangen. Da muß der Zwerg sichtbar bleiben, und man wird Herr der ganzen Zwergensippschaft. Nun kann man entweder das Mützchen behalten und sich damit unsichtbar machen, oder von den Zwergen so viel dafür fordern, daß man für sein Leben lang genug hat, denn die Zwerge haben Macht über alles Metall in der Erde, kennen alle Geheimnisse und Wunderkräfte der Natur; sie können auch durch ihre Lehren aus einem Dummen einen Klugen machen und aus dem faulsten Studenten einen hochgelehrten Professor, aus einem Barbuzius einen Doktor und aus einem Advokatenschreiber einen Minister.«
   »Ei, das wäre!« rief einer der Brüder. »So gehe doch hin und verschaffe dir und uns solche Mützchen, oder mindestens dir eins, und hilf dann auch uns, daß wir von hier fortkommen!«
   »Ich will es tun«, sagte der älteste der Brüder, und bald war er auf dem Wege nach den grünen Bergen. Es war ein etwas weiter Weg, und erst gegen Abend kam der gute Junge bei den Zwergenbergen an. Dort legte er sich in das grüne Gras an eine Stelle, wo im Grase die Kringelspuren von den Tänzen der Zwerge im Mondenscheine sich zeigten, und nach einer Weile sah er schon einige Zwerge ganz nahe bei sich übereinander purzeln, Mützchen werfen und spaßige Kurzweil treiben. Bald fiel ein solches Mützchen neben ihm nieder, schon haschte er danach – aber der Zwerg, dem das Mützchen gehörte, war ungleich behender als er, erhaschte sein Mützchen selbst und schrie: »Diebio! Diebio!« Auf diesen Ruf warf sich das ganze Heer der Zwerge auf den armen Knaben, und es war, als wenn ein Haufen Ameisen um einen Käfer krabbelt, er konnte sich der Menge nicht erwehren und mußte es geschehen lassen, daß die Zwerge ihn gefangennahmen und mit ihm tief hinab in ihre unterirdischen Wohnungen fuhren, davon sie auch selbst »Unterirdische« heißen und genannt werden.
   Wie nun der älteste Bruder nicht wiederkam, so bekümmerte und betrübte das die beiden jüngeren Brüder gar sehr, und auch der Tochter war es leid, denn sie war sanft und gut, und es betrübte sie oft, daß der Vater gegen ihre Brüder so hart und unfreundlich war und sie allein bevorzugte. Der alte Müller aber murrte: »Mag der Galgenstrick von einem Jungen beim Kuckuck sein, was kümmert‘s mich? Ist ein unnützer Kostgänger und Freßsack weniger im Hause. Wird schon wiederkommen, ist ans Brot gewöhnt! Unkraut verdirbt nicht.«
   Aber Tag um Tag verging, und der Knabe kam nicht wieder, und der Vater wurde gegen die beiden zurückgebliebenen immer mürrischer und härter. Da klagten die zwei Brüder oft gemeinsam, und der mittlere sprach: »Weißt du was, Bruder? Ich werde jetzt selbst mich aufmachen und nach den grünen Bergen gehen, vielleicht erlange ich ein Zwergenmützchen. Ich denke mir die Sache gar nicht anders als so: Unser Bruder hat solch ein Mützchen erlangt und ist damit in die weite Welt gegangen, erst sein Glück zu machen, und darüber hat er uns vergessen. Ich komme gewiß wieder, wenn ich glücklich bin; komme ich aber nicht wieder, so bin ich nicht glücklich gewesen, und für diesen Fall lebe du wohl auf immer.«
   Traurig trennten sich die Brüder, und der mittlere wanderte fort nach den grünen Bergen. Dort erging es ihm in allen Stücken genauso, wie es seinem Bruder ergangen war. Er sah die Zwerge, haschte nach einem Mützchen, aber der Zwerg war flinker als er, schrie »Diebio! Diebio!« und der helle Haufen der Unterirdischen stürzte sich auf und über den Knaben, umstrickte ihn, daß er kein Glied regen konnte, und führte ihn tief hinab in die unterirdische Wohnung.
   Mit der sehnsüchtigsten Ungeduld harrte der jüngste Bruder daheim in der Mühle auf des Bruders Wiederkehr, aber vergebens, und wurde dann sehr traurig, denn er wußte ja nun, daß sein mittlerer Bruder nicht glücklich gewesen war, und die Schwester wurde auch traurig, der Vater aber blieb gleichgültig und sagte nur: »Hin ist hin. Wem es daheim nicht gefällt, der wandere. Die Welt ist groß und weit. In meinem Hause hat der Zimmermann ein Loch gelassen. Wenn dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis, tanzt und bricht ein Bein. Laßt den Gigk in die Welt nur laufen, was grämt ihr euch um den Schlucker? Ich bin froh, daß er mir aus den Augen ist. Aus den Augen, aus dem Sinn!«
   Der jüngste Bruder hatte im Ertragen gemeinsamen Leides bisher den Trost gefunden, den solches Ertragen gewährt, als aber nun seine beiden Brüder fort waren, fand er seine Lage ganz unerträglich und sagte zu seiner Schwester: »Liebe Schwester, ich gehe nun auch fort, und schwerlich werde ich wiederkommen, wenn es mir ergeht wie unsern Brüdern. Der Vater liebt mich einmal nicht, und ich kann nichts dafür. Die Scheltworte, die früher auf uns drei niederfielen, fallen jetzt auf mich allein, das ist mir denn doch eine zu schwere Last. Lebe du wohl, und lasse dir es wohl ergehen!«
   Die Schwester wollte ihren jüngsten Bruder erst nicht fortlassen, denn sie hatte ihn am allermeisten lieb, allein er ging dennoch heimlich von dannen und überlegte sich unterwegs recht genau, wie er es anfangen wollte, sich ein Zwergenmützchen zu verschaffen. Als er auf die grünen Berge kam, erkannte er bald an den grünen Kringeln im Grase den Ort der nächtlichen Zwergentänze und ihren Spiel– und Tummelplatz und legte sich in der Dämmerung hin und wartete ab, bis die Zwerglein kamen, spielten, tanzten und Mützchen warfen.
   Eins derselben kam ihm ganz nahe, warf sein Mützchen, aber der kluge Knabe griff gar nicht danach. Er dachte, ich habe ja Zeit. Ich muß die Männlein erst recht sicher und kirre machen. Der Zwerg nahm sein Mützchen, das ganz nahe bei dem Knaben niedergefallen war, wieder. Es dauerte gar nicht lange, so fiel ein zweites Mützchen neben ihn – ei, dachte der Knabe, da regnet‘s Mützchen – griff aber nicht danach, bis endlich ein drittes ihm gar auf die Hand fiel; wupps dich, hielt er‘s fest und sprang rasch empor. »Diebio! Diebio! Diebio!« schrie laut der Zwerg, dem das Mützchen gehörte, mit feiner, gellender Stimme, die durch Mark und Bein drang, und da wimmelte das Zwergenvolk herbei und wurde ihm der Knabe unsichtbar, weil er das Mützchen hatte, und konnte ihm gar nichts anhaben. Und allesamt erhoben sie ein klägliches Jammern und ein Gewinsel um das Mützchen, er solle es doch um alles in der Welt wieder hergeben.
   »Um alles in der Welt?« fragte der kluge Knabe die Zwerge. »Das wäre mir schon recht! Aus dem Handel könnte etwas werden. Will aber erst sehen und hören, worin euer ›Alles‹ besteht. Vorerst frage ich: Wo sind meine beiden Brüder?«
   »Die sind drunten im Schoß des grünen Berges!« antwortete der Zwerg, dem das Mützchen gehört hatte.
   »Und was tun sie da?«
   »Sie dienen!«
   »So? Sie dienen – und ihr dient nun mir. Auf! Hinab zu meinen Brüdern! Ihr Dienst ist aus, und eurer fängt an!«
   Da mußten die Unterirdischen dem irdischen Menschen gehorsam sein, weil er Macht über sie erlangt hatte durch das Mützchen. Welche Macht in und unter manchen Mützen und Mützchen steckt, ist ganz unbeschreiblich.
   Die bestürzten und bekümmerten Zwerglein führten nun ihren Gebieter an eine Stelle, wo sich eine Öffnung in den grünen Berg fand, die tat sich klingend auf, und es ging rasch hinein und hinunter. Drunten waren herrliche und unermeßlich weite Räume, große Hallen und kleine Zimmer und Kämmerchen, je nach des Zwergenvolkes Bedarf, und nun verlangte der Knabe gleich, ehe er sich nach etwas anderem umsah, nach seinen Brüdern. Die wurden herbei gebracht, und der jüngste sah, daß sie in Dienertracht gekleidet waren, und sie riefen ihm wehmütig zu: »Ach, kommst auch du, lieber guter Bruder, unser jüngster! So sind wir drei nun doch wieder beisammen, aber in der Gewalt dieser Unterirdischen, und sehen nimmermehr wieder das himmlische Licht, den grünen Wald und die goldenen Felder!«
   »Liebe Brüder«, erwiderte der jüngste. »Harret nur, ich vermeine, das Blättlein soll sich wohl wenden.«
   »Herrenkleider und Prunkgewande für meine Brüder und mich!« herrschte er den Zwergen zu, hielt aber wohlweislich das werte Mützchen in der Hand fest, als seinem Befehle augenblicklich gehorsamet wurde und das Umkleiden vor sich ging. Nun befahl der Zwergengebieter eine Tafel mit auserlesenen Speisen und trefflichen Weinen, dann Gesang und Saitenspiel nebst Ballett und Pantomime, in welchen Künsten die Zwerge das Ausgezeichnetste leisten, was einer nur sehen kann, dann kostbare Betten zum Ausruhen, dann Illumination des ganzen unterirdischen Reiches, dann eine gläserne Kutsche mit prächtigen Pferden bespannt, um in den grünen Bergen überall herumzufahren und alles Sehenswerte in Augenschein zu nehmen. Da fuhren die drei Brüder durch alle Edelsteingrotten und sahen die herrlichsten Wasserkünste, sahen die Metalle als Blumen blühen, silberne Lilien, goldene Sonnenblumen, kupferne Rosen, und alles strahlte von Glanz und Pracht und Herrlichkeit.
   Dann begann der Gebieter Unterhandlung mit den Zwergen über die Zurückgabe des Mützchens und legte ihnen schwere Bedingungen auf. Erstens einen Trank aus den köstlichsten Heilkräutern, die mit allen ihren Kräften den Zwergen nur zu wohl bekannt sind, für seines Vaters krankes Herz, daß es sich umkehre und Liebe zu den drei Söhnen gewinne. Zweitens einen Brautschatz, so reich wie für eine Königstochter, für die liebe Schwester. Drittens einen Wagen voller Edelsteine und Kunstgeräte, wie sie nur die Zwerge zu verfertigen verstehen, einen Wagen voller gemünztem Geld, weil das Sprichwort sage: Bares Geld lacht, und die Brüder gern auch lachen wollten, und endlich noch einen Wagen für die drei Brüder, höchst bequem eingerichtet, mit Glasfenstern, und zu diesen drei Wagen alles Nötige, Kutscher, Pferde, Geschirre und Riemenzeug.
   Die Zwerge wanden sich und krümmten sich bei diesen Forderungen und taten so erbärmlich, daß es einen Stein erbarmt haben würde, wenn ein Stein ein Menschenherz hätte; es half ihnen aber all ihr Gewinsel nichts.
   »Wenn ihr nicht wollt«, sagte der Gebieter, »so ist es mir auch recht, so bleiben wir da; es ist ja recht schön bei euch; ich nehme euch allesamt, wie ihr seid, eure Mützchen; dann seht, was aus euch wird, wenn man euch sieht – tot werdet ihr geschlagen, wo sich nur einer von euch blicken läßt. Noch mehr! Ich fahre hinauf auf die Oberwelt und sammle Kröten, die geb ich euch dann, jedem eine, vorm Schlafengehen, mit ins Bette.«
   Wie der Gebieter das Wort Kröten aussprach, stürzten alle Zwerge auf ihre Knie nieder und riefen: »Gnade! Gnade! Nur das nicht! Um alles in der Welt! Nur das nicht!« denn die Kröten sind der Zwerge Abscheu und Tod.
   »Ihr Toren!« schalt der Gebieter. »Ich verlange gar nicht ›alles in der Welt‹, ich habe euch die allerbescheidenste Forderung gestellt, ich könnte ja unendlich mehr verlangen, allein ich bin ein grundguter Knabe. Ich könnte ja alles nehmen, und das Mützchen und die Herrschaft über euch fort und fort behalten, denn so lange ich das Mützchen hätte, würde ich ja, das wißt ihr wohl, nicht sterben. Also, ihr wollt meine drei kleinen Bedingungen gewähren? Nicht?«
   »Ja, ja, hoher Herr und Gebieter!« seufzeten die Zwerglein und gingen ans Werk, alles Begehrte herbeizuschaffen und alle Gebote zu vollziehen.
   In der Mühle des alten greulichen Müllers droben war nicht gut sein. Als der jüngste Bruder auch davongegangen war, griesgrämelte der Müller: »Nun – der ist auch fort – bleibt auch aus, wie das Röhrenwasser – so geht es – das hat man davon, wenn man Kinder großzieht – sie wenden einem den Rücken zu. Nun ist nur noch das Mädchen da, mein Augapfel, mein Liebling.«
   Der Liebling aber saß dort und begann zu weinen.
   »Weinst schon wieder!« murrte der Alte, »denkst, ich soll denken, du weinst um deine Brüder? Um den Gauch weinst du – um den Liebhaber, der dich freien will. Ist so leer und ausgebeutelt wie ein Mehlsack – er hat nichts, du hast nichts, ich habe nichts, haben wir alle dreie nichts. Hörst du was klappern? Ich höre nichts. Die Mühle steht, schlechter kann es nicht stehen um eine Mühle, als wenn sie steht. Ich kann nicht mahlen, du kannst nicht heiraten, oder wir halten Bettelmanns Hochzeit. Wie?« Solcherlei Reden hatte die Tochter täglich anzuhören und verging fast im stillen Leid.
   Da kamen eines schönen Morgens Wagen gefahren, einer, zwei, drei, und hielten vor der Mühle, kleine Kutscher fuhren, kleine Lakaien sprangen vom Tritt und öffneten den Schlag des ersten Wagens, drei junge hübsche Herrchen stiegen aus, fein gekleidet, wie Prinzen.
   Dienerschaft wimmelte um die andern Wagen, lud ab, packte ab, schnallte ab, Kisten, Kasten, Kassetten, Toiletten, schwere Truhen, trugen alles in die Mühle. Stumm standen und staunend der Müller und seine Tochter.
   »Guten Morgen, Vater! Guten Morgen, Schwester! Da wären wir wieder!« riefen die drei Brüder. Jene starrten sie verwundert an.
   »Trink uns den Willkommen zu, lieber Vater!« rief der Älteste, nahm aus eines Dieners Hand eine Flasche, schenkte einen überaus künstlich gearbeiteten Goldpokal voll edlen Trankes und hieß den Vater trinken. Dieser trank und gab den Pokal weiter, und alle tranken. Dem Alten strömte Wärme in das kalte Herz, und die Wärme wurde zum Feuer, zum Feuer der Liebe. Er weinte und fiel seinen Söhnen in die Arme und küßte sie und segnete sie. Und da kam der Geliebte der Tochter und durfte auch mittrinken und auch küssen.
   Darüber fingen vor Freude die Mühlräder, die so lange still gestanden, an, sich rasch zu drehen, um und um, um und um.


   Des Hundes Not

   Es war ein Hund, der lag hungrig und kummervoll auf dem Felde, da sang über ihm eine Lerche ihr wonnigliches Liedlein mit süßem Ton. Als der Hund das hörte, da sprach er: »O du glückliches Vögelein, wie froh du bist, wie süß du singest, wie hoch du dich aufschwingst! Aber ich – wie soll ich mich freuen? Mich hat mein Herr verstoßen, seine Türe hinter mir gesperrt, ich bin lahm, bin krank, kann kein Essen erjagen und muß hier Hungers sterben!«
   Wie die Lerche den hungrigen Hund also klagen hörte, flog sie nahe zu ihm und sprach: »O du armer Hund! Mich bewegt dein Leiden, wirst du mir es auch Dank wissen, wenn ich dir helfe, daß du satt wirst?«
   »Womit, Frau Lerche?« fragte der Hund mit matter Stimme, und die Lerche antwortete: »Sieh, dort kommt ein Kind gegangen, das trägt Speise zu jenem Ackersmann; ich will machen, daß es die Speise niederlegt und mir nachläuft, indes gehst du hinzu und issest den Käse und das Brot und stillest deinen Hunger!«
   Der Hund bedankte sich für dieses freundliche Anerbieten, und die Lerche flog nun dem Kind entgegen und begann es zu äffen. Bald lief sie vor ihm, bald flatterte sie auf dieser, bald auf jener Seite, bis das Kind dachte: Die Lerche muß ich fangen, und zumal stellte die Lerche sich flügellahm und ließ einen ihrer kleinen Fittiche hangen wie gebrochen. Das Kind griff oft nach ihr, aber es haschte vergebens mit der einen Hand, und da legte es sein Tüchlein nieder, darin es das Essen trug, und lief der Lerche nach, die immer voran in einen Grund flog; indessen erhob sich der Hund, hinkte nach dem Tuche und schnüffelte hinein, da lagen ein Stück Brot, ein Quarkkäse und vier gute Eier, die fraß er ungesotten und ungeschält, und den Käse untranchiert, und das Brot nahm er mit von dannen, als er fortkroch und sich in dem Korn versteckte.
   Die Lerche, als sie merkte, daß der Hund sein Teil hatte, flog in die Lüfte und sang lustig; das geäffte Kind aber verwünschte sie, und noch viel mehr, als es sein Tüchlein leer fand. Weinend ging es zurück zu seiner Mutter, und ob es Schläge bekommen hat, weiß ich nicht; es wird aber wohl etwas dergleichen abgefallen sein.
   Die Lerche flog zum Hunde hin und fragte ihn, wie er sich jetzt befinde. Er sagte ihr schönen Dank, und nie sei ihm wohler gewesen. »Nur eine Bitte, herzliebe Frau Lerche, habe ich noch auf dem Herzen«, sprach er, »wer satt ist, der ist gern froh. O bitte, erzählet mir noch etwas, davon ich ein wenig lachen und lustig werden mag.«
   »Wohlan!« sprach die Lerche, »folge mir.« Und da flog die Lerche voran, und der Hund folgte ihr zu einer Scheuer, auf deren Dachboden man von der Erde leicht gelangen konnte; da hinauf hieß die Lerche den Hund steigen und hinunter sehen, denn der Boden war schadhaft und durchgebrochen. Unten auf der Tenne standen zwei Kahlköpfe, die droschen; da setzte sich flugs die Lerche dem einen auf die Glatze, und flugs klappste der andre mit der Hand drauf, vermeinend die Lerche zu fangen; das kluge Vöglein war aber schneller als er und flog zur Seite.
   »Nun, Geselle, was soll das? Was schlägst du mich?« fragte der erste Kahlkopf den andern. Der entschuldigte sich, daß ein Vöglein sich jenem auf den Kopf gesetzt, dieses habe er erhaschen wollen; habe der Klapps weh getan, sei es ihm leid. Indem setzte sich die Lerche auf die Glatze dessen, der eben sprach, und da schlug gleich der andre hin mit einem so harten Hieb, daß der Kopf gewiß zersprungen, wenn er von Glas gewesen wäre, wenigstens brummte er dem Geschlagenen tüchtig, und nun ging gleich das Schelten los, und beide Drescher warfen ihre Flegel hin und wollten einander in die Haare. Weil sie nun keine Haare hatten, so konnte keiner dem andern welche ausraufen, und so kratzten sie einander auf die Glatzen, statt des Raufens, daß das Blut danach lief, und stießen sich hart; da ging es Glatz wider Glatz und Kratz wider Kratz, auch zerrten sie sich an den Ohren, und darüber mußte der Hund so unbändig lachen, daß ihm ganz weh ward und er weder liegen noch stehen konnte, und da purzelte er vor Lachen von dem Boden hoch herunter, den Dreschern gerade auf die Kahlköpfe, daß sie stutzten, denn der Hund war schwer, und diese Art, Haare auf den Kopf zu bekommen, kam ihnen spanisch vor. Sie wandten ihren Zorn gleich vereint gegen den Hund, und da sie Drescher waren, so droschen sie ihn so lange, bis er mit Ach und Krach durch ein Loch in der Scheuerwand und durch den Zaun fuhr, wobei ihm nicht nur das Lachen, sondern schier Hören und Sehen verging. Ganz mürb und marode legte er sich in das Gras hinter dem Zaun, und da kam die Lerche geflogen und fragte: »Edler Herr, wie befinden Sie sich?«
   »Ei, Frau Lerche«, ächzte der Hund, »ich habe vollauf genug. Ich bin ein ganz geschlagener Mann! Ich glaube meiner Treu, ich habe gar keinen Rücken mehr, die Drescher haben mir das Fell bei lebendigem Leibe abgeschunden und gegerbt. Ach, soll ich länger leben, so muß ich einen Wundarzt haben!«
   »Wohl und getrost! Ich hole dir auch den, so es irgend möglich ist«, sprach die Lerche und flog von dannen. Bald fand sie einen Wolf, den redete sie an: »Herr Wolf? Ihr habt wohl gar keinen Appetit?«
   »Ach, Frau Lerche«, ward ihr zur Antwort, »was das betrifft, so kann ich mit Wolfshunger dienen.«
   »Nun, wenn Ihr mir es danken wollt«, sprach die Lerche weiter, »so wollte ich Euch wohl weisen, wo ein feister Hund liegt, der Euch kaum entrinnen wird!«
   »O meine edle Königin, wie gnädig Ihr seid!« schmeichelte und schmunzelte der Wolf und leckte sich die Zähne. Die Lerche flog vor ihm her, und er folgte ihr, und wie sie zu dem Hund kam, redete sie ihn an: »Nun Geselle? Schläfst du? Willst du nicht den Arzt sehen? Richte dich auf, dort kommt der Doktor.«
   »Wo? Frau Lerche, wo?« fragte der Hund ganz müde; aber als er den Wolf sah, da schrie er: »Nein, Frau Lerche, nein, diesen Doktor nicht! Haltet ihn zurück! Ich bin gesund!« Und mit einem Satze war der Hund auf den Beinen und fort, als flöge er davon, daß ihm kein Zaun zu hoch und kein Graben zu breit war.


   Die drei Hunde

   Ein Schäfer hinterließ seinen beiden Kindern, einem Sohn und einer Tochter, nichts als drei Schafe und ein Häuschen und sprach auf seinem Totenbette: »Teilt euch geschwisterlich darein, daß nicht Hader und Zank zwischen euch entstehe.«
   Als der Schäfer nun gestorben war, fragte der Bruder die Schwester, welches sie lieber wolle, die Schafe oder das Häuschen. Und als sie das Häuschen wählte, sagte er: »So nehm ich die Schafe und gehe in die weite Welt: Es hat schon mancher sein Glück gefunden, und ich bin ein Sonntagskind.«
   Er ging darauf mit seinem Erbteil fort; das Glück wollte ihm jedoch lange nicht begegnen. Einst saß er recht verdrießlich an einem Kreuzweg, ungewiß, wohin er sich wenden wollte; auf einmal sah er einen Mann neben sich, der hatte drei schwarze Hunde, von denen der eine immer größer als der andre war. »Ei, junger Gesell«, sagte der Mann, »Ihr habt da drei schöne Schafe. Wißt Ihr was, gebt mir die Schafe, ich will Euch meine Hunde dafür geben.«
   Trotz seiner Traurigkeit mußte jener lachen. »Was soll ich mit Euren Hunden tun?« fragte er; »meine Schafe ernähren sich selbst, die Hunde aber wollen gefüttert sein.«
   »Meine Hunde sind von absonderlicher Art«, antwortete der Fremde, »sie ernähren Euch, statt Ihr sie und werden Euer Glück machen. Der Kleinere da heißt: ›Bring Speisen‹, der zweite ›Zerreiß‘n‹, und der große Starke ›Brich Stahl und Eisen‹.«
   Der Schäfer ließ sich endlich beschwatzen und gab seine Schafe hin. Um die Eigenschaft seiner Hunde zu prüfen, sprach er: »Bring Speisen!« Und alsbald lief der eine Hund fort und kam zurück mit einem großen Korb voll der herrlichsten Speisen. Den Schäfer gereuete nun der Tausch nicht; er ließ sich‘s wohl sein und zog lange im Lande umher.
   Einst begegnete ihm ein Wagen mit zwei Pferden bespannt und ganz mit schwarzen Decken bekleidet, und auch der Kutscher war schwarz angetan. In dem Wagen saß ein wunderschönes Mädchen in einem schwarzen Gewande, das weinte bitterlich. Die Pferde trabten traurig und langsam und ließen die Köpfe hängen. »Kutscher, was bedeutet das?« fragte der Schäfer. Der Kutscher antwortete unwirsch, jener aber ließ nicht nach zu fragen, bis der Kutscher erzählte, es hause ein großer Drache in der Gegend, dem habe man, um sich vor seinen Verwüstungen zu sichern, eine Jungfrau als jährlichen Tribut versprechen müssen, die er mit Haut und Haar verschlinge. Das Los entscheide allemal unter den vierzehnjährigen Jungfrauen, und diesmal habe es die Königstochter betroffen. Darüber seien der König und das ganze Land in tiefster Betrübnis, und doch müsse der Drache sein Opfer erhalten. Der Schäfer fühlte Mitleid mit dem schönen jungen Mädchen und folgte dem Wagen. Dieser hielt endlich an einem hohen Berge. Die Jungfrau stieg aus und schritt langsam ihrem schrecklichen Schicksal entgegen. Der Kutscher sah nun, daß der fremde Mann ihr folgen wollte, und warnte ihn, der Schäfer ließ sich jedoch nicht abwendig machen. Als sie die Hälfte des Berges erstiegen hatten, kam vom Gipfel herab ein schreckliches Untier mit einem Schuppenleib, Flügeln und ungeheuren Krallen an den Füßen; aus seinem Rachen loderte ein glühender Schwefelstrom, und schon wollte es sich auf seine Beute stürzen, da rief der Schäfer: »Zerreiß‘n!« und der zweite seiner Hunde stürzte sich auf den Drachen, biß sich in der Weiche desselben fest und setzte ihm so zu, daß das Ungeheuer endlich niedersank und sein giftiges Leben aushauchte, der Hund aber fraß ihn völlig auf, daß nichts übrig blieb als ein Paar Zähne, die steckte der Schäfer zu sich. Die Königstochter war ganz ohnmächtig vor Schreck und vor Freude, der Schäfer erweckte sie wieder zum Leben, und nun sank sie ihrem Retter zu Füßen und bat ihn flehentlich, mit zu ihrem Vater zu kommen, der ihn reich belohnen werde. Der Jüngling antwortete, er wolle sich erst in der Welt umsehen, nach drei Jahren aber wiederkommen. Und bei diesem Entschluß blieb er. Die Jungfrau setzte sich wieder in den Wagen, und der Schäfer ging eines andern Weges fort.
   Der Kutscher aber war auf böse Gedanken gekommen. Als sie über eine Brücke fuhren, unter der ein großer Strom floß, hielt er still, wandte sich zur Königstochter und sprach: »Euer Retter ist fort und begehrt Eures Dankes nicht. Es wäre schön von Euch, wenn Ihr einen armen Menschen glücklich machtet. Saget deshalb Eurem Vater, daß ich den Drachen umgebracht habe; wollt Ihr aber das nicht, so werf ich Euch hier in den Strom, und niemand wird nach Euch fragen, denn es heißt, der Drache habe Euch verschlungen.« Die Jungfrau wehklagte und flehte, aber vergeblich; sie mußte endlich schwören, den Kutscher für ihren Retter auszugeben und keiner Seele das Geheimnis zu verraten.
   So fuhren sie in die Stadt zurück, wo alles außer sich vor Entzücken war; die schwarzen Fahnen wurden von den Türmen genommen und bunte darauf gesteckt, und der König umarmte mit Freudentränen seine Tochter und ihren vermeintlichen Retter. »Du hast nicht nur mein Kind, sondern das ganze Land von einer großen Plage errettet«, sprach er. »Darum ist es auch billig, daß ich dich belohne. Meine Tochter soll deine Gemahlin werden; da sie aber noch allzu jung ist, so soll die Hochzeit erst in einem Jahre sein.« Der Kutscher dankte, ward prächtig gekleidet, zum Edelmanne gemacht und in allen feinen Sitten, die sein nunmehriger Stand erforderte, unterwiesen. Die Königstochter aber erschrak heftig und weinte bitterlich, als sie dies vernahm, und wagte doch nicht, ihren Schwur zu brechen. Als das Jahr um war, konnte sie nichts erreichen als die Frist noch eines Jahres. Auch dies ging zu Ende, und sie warf sich dem Vater zu Füßen und bat um noch ein Jahr, denn sie dachte an das Versprechen ihres wirklichen Erretters. Der König konnte ihrem Flehen nicht widerstehen und gewährte ihr die Bitte, mit dem Zusatz jedoch, daß dies die letzte Frist sei, die er ihr gestatte. Wie schnell verrann die Zeit! Der Trauungstag war nun festgesetzt, auf den Türmen wehten rote Fahnen, und das ganze Volk war im Jubel.
   An demselben geschah es, daß ein Fremder mit drei Hunden in die Stadt kam. Der fragte nach der Ursache der allgemeinen Freude und erfuhr, daß die Königstochter eben mit dem Manne vermählt werde, der den schrecklichen Drachen erschlagen. Der Fremde schalt diesen Mann einen Betrüger, der sich mit fremden Federn schmücke. Aber er wurde von der Wache ergriffen und in ein enges Gefängnis mit eisernen Türen geworfen. Als er nun so auf seinem Strohbündel lag und sein trauriges Geschick überdachte, glaubte er plötzlich draußen das Winseln seiner Hunde zu hören; da dämmerte ein lichter Gedanke in ihm auf. »Brich Stahl und Eisen!« rief er so laut er konnte, und alsbald sah er die Tatzen seines größten Hundes an dem Gitterfenster, durch welches das Tageslicht spärlich in seine Zelle fiel. Das Gitter brach, und der Hund sprang in die Zelle und zerbiß die Ketten, mit denen sein Herr gefesselt war; darauf sprang er wieder hinaus, und sein Herr folgte ihm. Nun war er zwar frei, aber der Gedanke schmerzte ihn sehr, daß ein anderer seinen Lohn ernten solle. Es hungerte ihn auch, und er rief seinen Hund an: »Bring Speisen!« Bald darauf kam der Hund mit einer Serviette voll köstlicher Speisen zurück; in die Serviette war eine Königskrone gestickt.
   Der König hatte eben mit seinem ganzen Hofstaat an der Tafel gesessen, als der Hund erschienen war und der bräutlichen Jungfrau bittend die Hand geleckt hatte. Mit freudigem Schreck hatte sie den Hund erkannt und ihm die eigne Serviette umgebunden. Sie sah dies als einen Wink des Himmels an, bat den Vater um einige Worte und vertraute ihm das ganze Geheimnis. Der König sandte einen Boten dem Hunde nach, der bald darauf den Fremden in des Königs Kabinett brachte. Der König führte ihn an der Hand in den Saal; der ehemalige Kutscher erblaßte bei seinem Anblick und bat kniend um Gnade. Die Königstochter erkannte den Fremdling als ihren Retter, der sich noch überdies durch die Drachenzähne, die er noch bei sich trug, auswies. Der Kutscher ward in einen tiefen Kerker geworfen, und der Schäfer nahm seine Stelle an der Seite der Königstochter ein. Diesmal bat sie nicht um Aufschub der Trauung.
   Das junge Ehepaar lebte schon eine geraume Zeit in wonniglichem Glück, da gedachte der ehemalige Schäfer seiner armen Schwester und sprach den Wunsch aus, ihr von seinem Glück mitzuteilen. Er sandte auch einen Wagen fort, sie zu holen, und es dauerte nicht lange, so lag sie an der Brust ihres Bruders. Da begann einer der Hunde zu sprechen und sagte: »Unsere Zeit ist nun um; du bedarfst unser nicht mehr. Wir blieben nur so lange bei dir, um zu sehen, ob du auch im Glück deine Schwester nicht vergessen würdest.« Darauf verwandelten sich die Hunde in drei Vögel und verschwanden in den Lüften.


   Die drei Wünsche

   Zu den alten Zeiten, als der liebe Gott bisweilen noch sichtbarlich auf Erden wandelte, um die Menschen zu prüfen, und niemand weiß, ob er dies nicht noch heute tut, kam derselbe einmal in Gestalt eines armen, alten und gebrechlichen Mannes in ein Dorf und vor das Haus eines Reichen und bat um ein wenig Trank und Speise und um ein Nachtlager, denn der Abend war da und die Nacht nicht fern, und das Wetter war wild und stürmisch.
   Da trat der Reiche spottend aus seinem stattlichen Hause und sprach zum lieben Gott: »Dumm bist du nicht, Alter! Hast etwa auf einer hohen Schule studiert? Meinst, hier sei ein Wirtshaus oder ich ein Garkoch, oder meinst, hier sei ein Spittel? Denkst etwa, hier sei eine Bettelmannsherberge? Nein, ich sage dir, hier ist Bettelmannsumkehr. Allons, marsch! Gleich packe dich vom Hofe, oder ich pfeife dem Hunde, du alter Tagedieb, du Strolch und Stromer, und untersteh dich nicht, noch einmal in meinen Hof hereinzutreten!«
   Mit einem Seufzer wendete sich der Arme vom Hofe des reichen, geizigen und hartherzigen Mannes hinweg und wankte weiter. Da rief ihn von drüben aus einem kleinen Häuslein die Stimme eines Mannes an. »Na Alterchen, wo willst denn du hin?« fragte der Häusler, voll Mitleid im Tone.
   Und der Arme antwortete: »Ach, nach Nirgendheim! Nirgends hab ich ein Heim! Aber Hunger hab ich und Durst hab ich, und müde bin ich auf den Tod!«
   »So komme doch herüber, Alter, zu mir!« rief wieder der Häusler. »An dem, was dir mein Nachbar da drüben gegeben hat, wirst du doch nicht zu schwer zu tragen haben. Ich bin freilich selbst ein armer Hach, aber ein Stück Brot hab ich noch, und einen Schluck Schnaps kannst du auch haben und einen Sack voll Waldmoos zum Nachtlager, wenn du damit zufrieden bist!«
   »Ihr seid sehr gütig! Ich nehm es an, und Gott segnet‘s Euch!« sagte der liebe Gott, schlich hinüber zu dem Häusler, aß mit ihm, trank mit ihm und ruhete sich aus, und weil es noch nicht Schlafenszeit war, so setzten sich die beiden Männer vor das Haus, denn der liebe Gott hatte das wilde Wetter schnell vergehen lassen und hatte eine klare milde Mondnacht geschaffen und ließ das Firmament leuchten und seine Sternenheere, die ihn ewig preisen, voll Pracht über der dunklen Erde wandeln.
   Und da saßen die beiden Männer, der alte und der junge, der liebe reiche Gott und der arme Häusler, beieinander auf der steinernen Bank vor dem Häuslein und sprachen miteinander.
   Drüben aber, im Schatten, sah der reiche Mann zum Fenster heraus, plätzte aus einer großmächtigen Tabakspfeife und murmelte und grämelte: »Da hat der Lump, mein Nachbar da drüben, richtig den alten Strolch aufgenommen und gibt ihm Quartier und hat doch selbst nichts zu beißen und zu brechen. So was Dummes lebt nicht! Aber ich sage es ja immer: Gleich und gleich gesellt sich gern; gleiche Lumpen, gleiche Lappen. Eigentlich gehört sich‘s gar nicht, so einen hergelaufenen Landstreicher aufzunehmen, denn man weiß nicht, was hinter ihm steckt und ob nicht so ein Stromer das Dorf mit Feuer anstößt, daß dann seine Bande aus dem Walde bricht und plündert. Wie sie schwätzen, die beiden Taugenichtse! Ich will doch ein wenig zuhören.«
   »Du bist so gut und so fromm«, sprach der liebe Gott zu seinem Wirte. »Du wärest wert, daß dir geschähe, wie vor Zeiten manchem frommen Manne, daß du drei Wünsche tun dürftest zu deinem Heile und zum Heile deiner Seele. Aber du müßtest das letztere ja nicht vergessen, damit es dir nicht ergehe wie dem Schmied von Jüterbogk.«
   »Und wie erging es diesem?« fragte der Häusler.
   »Kennst du das Märchen nicht?« fragte der liebe Gott zurück. »Zu diesem Schmiede kam der heilige Apostel Petrus geritten und bat ihn, seinen Esel mit neuen Hufeisen zu beschlagen, dafür solle er drei Wünsche tun dürfen. Da wünschte sich der Schmied, daß seine Schnapsbulle niemals leer werden solle, ferner, daß, wer auf seinem Birnbäume sitze, darauf so lange sitzen müsse, bis der Schmied ihm abzusteigen erlaube, und daß endlich niemand ohne Erlaubnis in seine Stube kommen dürfe, außer etwa durchs Schlüsselloch. Damit gewann der Schmied zwar dem Tode ein langes Leben ab, weil er diesen überlistet, sich auf seinen Birnbaum zu setzen, und tat dem Teufel eine Drangsal an, weil dieser durch das Schlüsselloch in des Schmiedes Stube gewischt war, aber den besten Wunsch, die ewige Seligkeit, hatte der Schmied nicht getan, und nun starb er nicht, und Sankt Petrus ließ ihn nicht in den Himmel, und der Teufel fürchtete sich vor ihm und schnappte vor ihm das Höllentor zu und verriegelte es von innen – und nun muß der Schmied ewiglich unselig umherwandeln.«
   »Ach, du lieber Gott!« rief der Häusler, ohne zu wissen, wer neben ihm saß. »Das ist schlimm – das war gefehlt – da wollt ich schon gescheiter wünschen – wenn zu mir so ein heiliger Nothelfer oder Apostel käme! Selbiges wird aber nicht sein!«
   »Man kann das nicht wissen«, erwiderte der Gast. »Nur muß der Mensch nicht töricht wünschen, wie jenes Ehepaar, zu dem der Engel Gottes kam und ihm drei Wünsche bescherte.«
   »Was geschah da?« fragte der Häusler.
   »Ein Mann und eine Frau«, erzählte der Gast, »lebten in großer Armut und baten Gott Tag und Nacht, ihre Armut zu bessern und ihnen zu helfen. Weil sie nun fromm und redlich waren, so wollte Gott ihr Flehen erhören und sandte ihnen seinen Engel. Der Engel sprach: ›Drei Wünsche dürft ihr tun zu eurem Heile, aber es darf nicht der Wunsch nach Geld und Gut dabei sein, denn wenn euch solches beschieden und nütze und zuträglich wäre, so besäßet ihr dessen längst, so aber ist es euch nach Gottes weisem Ratschlusse versagt.‹ Der Mann aber sprach: ›Was sollen mir drei Wünsche helfen, wenn ich nicht wünschen dürfen soll, was mir zu meinem Glücke dienlich scheint? Was ist der Mensch ohne Geld? Da spricht man von ihm just wie von einem falschen Groschen: Er gilt nichts.‹ Darauf sprach der Engel: ›Nun, so wünsche denn in Gottes Namen, doch trage selbst die Schuld, so du dir selber Unheil wünschest.‹ Nun sprach der Mann mit seiner Frau, wie sie beiderseits die Wünsche wohl erwägen wollten. ›Was wünschen wir?‹ fragte er die Frau. ›Was brauchen wir zunächst? Ich dächte, einen ganzen Berg von Gold und eine dicke Mauer rund herum, daß kein Vieh darauf grast und kein Dieb danach gräbt – oder aber lieber ein Trühelein Immervoll, daraus man stetig Geldes nehmen mag, so viel man just bedarf.‹ – ›Ich dächte‹, nahm die Frau das Wort, ›du wärest vor allen Dingen so gütig und schenktest oder überließest einen der drei Wünsche mir, denn ich habe genug danach geseufzt und mich wund geknieet, dann kannst du dir noch immer wünschen, was du willst.‹ – ›Nun wohl‹, antwortete der Mann, ›Frauen sind oft klüger als die Männer, so wünsche denn.‹
   ›Ich wünsche‹, sprach die Frau, ›für mich das allerschönste Kleid, wie nie eine Frau der Welt eins getragen, schöner als das Kleid der größten Kaiserin!‹ Kaum hatte die Frau den Wunsch ausgesprochen, so war sie angetan mit dem herrlichsten Kleide, das war überreich besetzt mit Diamanten, Perlen, Gold und Silber, daß es nur so davon starrte.
   ›Ist das nicht ein dummer, unüberlegter Wunsch!‹ rief voll Unwillen der Mann. ›Du konntest damit allen Frauen Gewande wünschen, da wäre tausendfacher Segen auf dein Haupt vom Himmel von den Dürftigen herabgefleht worden, so hast du nur einen Wunsch des hoffärtigen und übermütigen Eigennutzes getan!‹
   ›Ei daß dich!‹ schrie die Frau. ›Pfui dich an, Mann, daß du mich also schiltst! Gefalle ich dir nicht in diesem schönen Kleide, so wette ich traun, daß ich andern desto besser gefallen werde. Lauf hin, du Hans Narr!‹
   ›Gauklerin!‹ schrie voller Zorn der Mann. ›Daß dir doch gleich das Kleid in deinen hoffärtigen Leib fahre!‹
   ›Wehe mir!‹ schrie die Frau – denn im Augenblicke verschwand das Kleid, das sie bedeckt hatte, und zog in ihren Leib und schmerzte sie, daß sie laut aufheulte und durchs Dorf lief und allen Bauern ihr Leid klagte, wie sie durch ihres Mannes Schuld so schrecklich leiden müsse. Darauf liefen die Bauern in hellen Haufen zu dem Manne und riefen ihm drohend zu, er solle seine Frau von ihrem Weh helfen, oder sie wollten ihn gleich erwürgen. Und da zückten sie schon ihre Messer und Schwerter gegen ihn.
   Wie der Mann solchen großen und grimmigen Bauernzorn sah und sahe, wie seine Frau litt, da sprach er: ›Ich wünsche in Gottes Namen, daß sie ihrer Schmerzen wieder ledig werde.‹
   Darob wurde die Frau heilfroh, und all ihr Schmerz war hinweg, denn der dritte Wunsch war nun getan, aber das Kleid kam nicht wieder zum Vorschein, und nun hatte der Mann keine gute Stunde mehr auf Erden und war der Spott aller Welt und starb bald genug vor Gram und Kummer. Darum merket wohl, mein werter Gastfreund, wenn Ihr Wünsche tut, daß Ihr nicht auf den Wegen der Toren wandelt.«
   »Und welche Wege meinst du?« fragte wieder der Häusler.
   »Der Toren Sitte«, sprach des Häuslers Gast, »ist Unrechtes begehren, Unrechtes trachten und nach dem Verluste Unrechtes klagen. Die Toren sind dreierlei Schlages: Toren, die nichts wissen und nichts können; Toren, die nichts wissen wollen, die Wissen und Können verachten, und Toren, die wissen und können und dennoch nicht das tun, was das Rechte ist, das sie doch einsehen sollten, und ihre Seele bewahren.«
   »Nun denn, dürfte ich wünschen«, sagte der Häusler, »so wünschte ich mir vorerst vor allen andern Schätzen die ewige Seligkeit; hernach Gesundheit und Zufriedenheit bis zu meinem Tode, und dann – wenn es nicht gegen Gottes Willen wäre, möchte ich wünschen, daß mein den Einsturz drohendes Häuslein wieder in guten Stand gesetzt wäre.«
   »Diese Eure Wünsche sind Gott genehm«, sagte der Gast, »und ich will Euch den Hauptwunsch dazu tun, daß sie alle drei in Erfüllung gehen!«
   Nach diesem guten Gespräche verließen die beiden Männer, der arme Alte und der arme Häusler, ihren Steinsitz und gingen in die Hütte, sprachen ihr Nachtgebet und legten sich zur Ruhe nieder.
   Der Reiche drüben hatte jedes Wort gehört, das jene sprachen, und machte seine Glossen darüber. »Man sollte nicht meinen«, brummelte er vor sich hin, »daß so ein alter Mann noch so kindisches Zeug auf die Bahn bringen könnte, so läppischen Märchen-Schnickschnack – aber freilich, das Alter macht kindisch, und Alter schützt nicht vor Torheit. O ihr Wünschelnarren!«
   Soeben wollte der Reiche sich nun auch zur Ruhe begeben, als er wahrnahm, daß ein eigentümlicher Lichtschimmer das Häuschen des Armen umfloß, während alle andern Häuser dunkel dalagen, und doch war es kein Feuerschein, auch nicht Wirkung des Mondlichtes, sondern ein reines Ätherlicht – dann schienen auch lichte Gestalten um das Häuschen zu schweben, und deren wurden mehr und mehr, die bewegten sich wundersam, ab und auf, als ob sie auf unsichtbaren Leitern schwebten; sie glitten um das Dach und um die Wände, und dabei war alles feierlich und tief still.
   Dem Reichen gruselte es – er meinte, es seien Gespenster, schlug sein Kreuz und suchte sein Lager, aber er konnte fast die ganze Nacht nicht schlafen, und am frühen Morgen, als kaum der Tag graute, war er, von einer innern Unruhe getrieben, schon wieder am Fenster – da sah er just den armen Alten an seinem Hause vorübergehen, der sich mithin früh aufgemacht hatte.
   »Hm!« murmelte der Reiche, »der ist bald auf den Beinen, das hat sicher einen Haken. Und er trägt einen Sack – gestern trug er keinen. Der hat gewiß da drüben etwas mitgehen heißen und ist durchgebrannt, derweil der Nachbar noch schläft. Geschieht dem Nachbar schon recht! Was geht es mich an?«
   Unter dieser Betrachtung wurde es draußen heller, des Reichen Frau war auch aufgestanden und sah aus dem Fenster nach dem Wetter, der Nebel verzog sich, und beide trauten ihren Augen nicht, als sie gegenüber ein ganz stattliches neues Bauernhaus stehen sahen, das zwar noch die Gestalt des alten hatte, aber in allen Teilen größer und schöner war.
   »Träum ich denn oder wach ich?« fragte der Reiche. »Ist denn wirklich der Wunsch in Erfüllung gegangen – wer war denn der Alte? Hilf Himmel! Sicherlich Sankt Petrus oder gar der liebe Gott selbst. Dummkopf, der ich war, ihn gestern so schnöde abzuweisen.«
   »Jawohl, Dummkopf!« rief die Frau. »Spute dich, reite nach, bitte ihm ab, gib ihm gute Worte. O Himmel, wie ist doch unsereins übel daran, wenn man so einen dummen Mann hat!«
   »Holla! Knecht! Pferd satteln! Ausreiten!« rief der Reiche stürmisch, steckte Geld zu sich und Eßwaren und galoppierte durchs Dorf, die Straße entlang – und bald genug holte er den Alten ein, tat aber nicht, als habe er ihn gestern gesehen.
   Gar freundlich rief er vom Pferde herunter: »Grüß Gott, Alter! Wie geht‘s? Ist das Leben noch frisch? Wo hinaus denn so früh? Was trägst du denn da im Sack?«
   »Dank dem Gruß! Nach Gottwalte!« antwortete der Wanderer.
   »Bist wohl ein recht armer Schlucker! Da hast du ein Geld!«
   »Danke! Danke!«
   »Aber was du im Sacke trägst, möcht ich wissen!«
   »Ach«, schien der Alte zu scherzen. »Es ist ein Sorgenbürdlein, lieber Herr, hab‘s einem armen Schlucker abgenommen.«
   »So, so!« lachte der Reiter. »Ich will nicht wissen, was darin ist – ich wünschte bloß —«
   »Aha! Ihr seid auch ein Wunschfreund«, unterbrach der arme Alte. »Das trifft sich gut – ich trage in diesem Sacke just drei Wünsche, die sich dem erfüllen, der sie tut. Er muß aber den Sack dazu nehmen.«
   »Gib her! Gib her!« rief habgierig der reiche Mann und langte nach dem Sacke. »Da – hast du auch ein Stück Brot und eine ganze Wurst! Du siehst, daß ich nicht geizig bin, wie mich meine Feinde und Neider ausschreien. Ich bin ein rechtlicher Mann, der auf Ordnung sieht und das Seinige zu Rate hält, aber ich gebe gern den Armen, die der Gaben würdig sind. Allen kann man freilich nicht helfen.«
   »Allen? – Nein, das ist bei Gott unmöglich!« sagte der Alte.
   »Ich habe doch immer sagen hören«, widersprach der Reiche, der den Sack bereits in der Hand hatte, »bei Gott sei kein Ding unmöglich, und sein Wille sei es, daß allen geholfen werde.«
   »O mein lieber Herr«, erwiderte der Arme, »das ist geistlich zu verstehen, nicht weltlich!«
   Der Reiche wendete sein Roß und sprengte wieder heimwärts. Der Kopf war ihm voller Wünschegedanken, es ging ihm darin herum wie Windmühlenflügel. Was sollte er nur alles wünschen? Geld brauchte er eigentlich nicht, das hatte er vollauf, folglich gutes Leben die Fülle, gesund war er ebenfalls und zufrieden – ach Zufriedenheit sich wünschen, deuchte ihm nicht der Mühe wert, denn der Mensch ist doch nie zufrieden – dachte er, und ritt immer hastig darauf los und spornte das Pferd, das schon keuchte, und jetzt stolperte es, daß es beinahe seinen Reiter abgeworfen hätte.
   »Ei, so wollt ich, daß du den Hals brächst! Aas vermaledeites!« rief zornig der reiche Mann – und o weh, da knickte das Roß zusammen, stürzte und brach den Hals. Ein Wunsch war dahin, und der Reiche war wütend. Er schnallte von dem toten Tiere Sattel und Zeug los und trug das eine Strecke, aber gar nicht weit, da ward es ihm zu schwer, und wurde ihm furchtbar heiß, und da wünschte er wieder: Wenn nur das verdammte Gepäck daheim war und meine Frau, die mir diesen Ritt geraten, auf dem Sattel säße!
   Zwei Wünsche waren dahin, der Sattel und Zaum nebst Gebiß und Steigbügel und Schabracke – alles war fort – und der Geizige atmete freier; ein Glück, daß er nicht noch einmal wünschte und daß seine Frau kein Wünschelweiblein war, denn daheim saß sein Weib fest im Sattel und hatte die Reitpeitsche in der Hand, wußte nicht, wie ihr geschah, und wünschte ihren Mann, seinen Gaul und sein Sattelzeug alles zum bösen Voland.
   Wollte der Reiche wohl oder übel, so mußte er seine Frau wieder frei und ledig wünschen, da war auch der dritte Wunsch dahin.
   Des Nachbars nagelneues Haus drüben stand hell glänzend im Sonnenschein und war das schönste des Dorfes.
   Neugierig öffnete der Reiche den Sack – hätte er nur das nicht getan. Im Sacke stak – des Nachbars Armut, die kam jetzt über ihn wie ein gewappneter Mann.


   Die Kuhhirten

   Einst ging ein Wanderer über eine Wiese. Da hörte er von weitem im Geröhrig einen seltsamen dumpfen Ruf, der oft hintereinander ausgestoßen wurde, als ob ein Rind brülle, und konnte sich gar nicht erklären, von wem das Getöne herrühre und was es zu bedeuten habe. Nach einer Weile kam der Wanderer zu zwei alten Kuhhirten, die hüteten nachbarlich ihre Herden auf der weiten Wiese. Diese fragte der Wanderer, was das Tönen bedeute.
   Da antwortete der eine alte Kuhhirt: »Ich will es Euch sagen. Was dort im Schilfe so schreit, das ist der Rohrtumb, auch Rohrtrummel genannt.«
   »Oh, er hat gar viele Namen«, setzte der andere alte Kuhhirte hinzu. »Er heißt auch Ur-Rind, Moor-Rind und Mooskuh. Vor Zeiten ist selber Brüller ein Hirtenknecht gewesen, aber ein schrecklich fauler, deshalb ist er in einen Vogel verwandelt worden, und das ärgert ihn so sehr, daß er immerfort brüllt, absonderlich des Nachts, da stößt er seinen Schnabel in das Wasser und brüllt wie ein Stier, daß man es eine Stunde weit hören kann, damit zeigt er Regen an.«
   »Selt ist richtig«, nahm wieder der erste Kuhhirte das Wort, »aber mit dem Knecht wird es anders erzählt. Es waren der Kuhhirten zwei, wie unserer auch zwei sind, sie waren aber nicht alle zwei beide zusammen. Der eine hütete seine Kühe auf den grünen fetten Wiesen im Tale, der andere aber auf einem hohen und dürren Berge. Daher wurden die Kühe des ersteren auf den blumigen Wiesen sehr munter und mutig und gaben viel Milch – die Kühe des Hirten auf dem Berge aber, wo der Herr zwar Gras wachsen läßt, das aber auch danach ist – wie jener Schulmeister in der Kollekte sang —, und wo der Wind mehr mit dem Sande als mit Blumen spielt, die wurden sehr matt und sehr mager und gaben wenig und nur himmelblaue Milch, wie sie mehr blauen Himmel als grünes Gras sahen.
   Eines Abends, als beide Kuhhirten nach Hause treiben wollten, da hatten die muntern und mutigen Kühe auf der fetten Wiese keine Lust nach Hause, und war unter ihnen eine bunte Kuh, die lief in entgegengesetzter Richtung davon, und die andern Kühe alle folgten ihr, da schrie der Kuhhirte, so laut er schreien konnte: ›Bunte h‘rum! Bunte h‘rum!‹ aber es half ihm all sein Schreien nichts. Die magern Kühe des Hirten droben auf dem Berge hingegen, die hatten sich vor Hunger und Ermattung hingelegt und mochten nicht aufstehen oder vermochten‘s zuletzt auch nicht, da schrie der Kuhhirte aus Leibeskräften: ›Up! up! up! up!‹ meinte damit, sie sollten aufstehen, standen aber doch nicht auf, dieweil sie nicht konnten, und nun schrien die Hirten drunten und droben um die Wette, der eine ›Bunte h‘rum, Bunte h‘rum‹ – der andere ›up! up! up!‹ – und Nacht und Tag und Tag und Nacht, bis ihnen der Odem ausging und die Seele aus dem Halse fuhr, und da sind sie beide zu Vögeln geworden, der Wiesenhirte zum Rohrtumb und der Berghirte zum Wiedehopf, und schreien nun noch immer so fort.«
   So erzählte der Kuhhirte dem Wanderer, und der wußte nun, was das Gebuller im Geröhrig zu bedeuten habe, und wenn er von einem Berge herab den Ruf up! up! up! vernahm, da wußte er auch, was das für ein Vogel war, der also schrie, nämlich der ohnehin verrufene Kuckuckslakai und Kuckucksküster, der Vogel Wiedehopf.


   Das Unentbehrlichste

   Vor Zeiten hat einmal ein König gelebt, der hatte drei gute und schöne Töchter, die er sehr liebte und von denen er auch herzlich wiedergeliebt wurde. Prinzen hatte er nicht, aber es war in seinem Reiche herkömmlich, daß die Thronfolge auch auf Frauen und Töchter überging, und da des Königs Gemahlin nicht mehr am Leben war, so stand dem Könige frei, eine seiner drei Prinzessinnen zu seiner Nachfolgerin auf dem Throne zu bestimmen, und es brauchte gerade nicht die älteste zu sein. Da aber nun derselbe König seine Töchter alle drei gleich liebte, so fiel ihm die Entscheidung schwer, und er ging mit sich zu Rate, diejenige zu wählen, die den meisten Scharfsinn offenbare. Diesen Entschluß teilte er seinen drei Töchtern mit und bestimmte seinen nahe bevorstehenden Geburtstag zur Entscheidung. Die sollte Königin werden, welche ihm »das Unentbehrlichste« bringen werde.
   Jede der Prinzessinnen sann nun darüber nach, was wohl das Unentbehrlichste sei, und als der Geburtstag da war, nahete zuerst die älteste, brachte ein feines purpurnes Gewand getragen und sprach: »Gott der Herr läßt den Menschen nackend in die Welt treten, aber er hat ihm das Paradies verschlossen, darum ist ihm Gewand und Kleidung unentbehrlich.«
   Die zweite Tochter brachte, auf einem goldenen gefüllten Becher liegend, ein frisches Brot, das sie selbst gebacken, und sprach: »Das Unentbehrlichste ist dem staubgeborenen Menschen Trank und Speise, denn ohne diese vermag er nicht zu leben, darum schuf Gott Früchte des Feldes, Obst und Beeren und Weintrauben und lehrte die Menschen Brot und Wein zu bereiten, die heiligen Symbole seiner Liebe.«
   Die jüngste Tochter brachte auf einem hölzernen Tellerchen ein Häufchen Salz dar und sprach: »Als das Unentbehrlichste, mein Vater, erachte ich das Salz und das Holz. Darum haben schon alte Völker den Bäumen göttliche Ehre erwiesen und das Salz heilig gehalten.«
   Der König war über diese Gaben sehr erstaunt und nachdenklich, und dann sprach er: »Am unentbehrlichsten ist dem Könige der Purpur, denn hat er den, so hat er alles übrige, geht er seiner verlustig, so ist er König gewesen und ist gemein, gleich andern Menschenkindern. Darum, daß du das erkannt, meine älteste geliebte Tochter, soll dich nach mir der königliche Purpur schmücken; komm an mein Herz, empfange meinen Dank und meinen Segen!«
   Als der König nun seine älteste Tochter geküßt und gesegnet, sprach er zu der zweitältesten: »Essen und trinken ist nicht allerwege notwendig, mein gutes Kind, und es zieht uns allzusehr in das Gemeine herab. Es zeigt gleichsam die mittelmäßige Menge an, den großen Haufen. Gefällst du dir darin, so kann ich es nicht hindern, wie ich dir auch nicht danken kann für deine übel gewählte Gabe, doch für den guten Willen sollst du gesegnet sein.« Und der König segnete seine Tochter, aber er küßte sie nicht.
   Dann wandte er sich der dritten Prinzessin zu, die bleich und zitternd stand und ahnete, nach dem, was sie gesehen und gehört, was kommen werde.
   »Du hast wohl Salz auf deinem hölzernen Teller, meine Tochter«, sprach der König, »aber im Gehirn hast du keins, lebst aber doch, und folglich ist das Salz nicht unentbehrlich. Salz braucht man nicht. Du zeigst mir Bauernsinn mit deinem Salze an, nicht Königssinn, und am steifen hölzernen Wesen habe ich kein Wohlgefallen. Darum kann ich dir nicht danken und dich nicht segnen. Gehe von mir, so weit dich deine Füße tragen, gehe zu den dummen und rohen Völkern, welche, anstatt den lebendigen Gott, alte Holzklötze und Baumstöcke anbeten und das verächtliche Salz für heilig halten!«
   Da wandte sich die jüngste Königstochter weinend von dem harten Vater ab und ging hinweg vom Hofe und aus der Königsstadt, weit, weit hinweg, so weit sie ihre Füße trugen.
   Und kam an ein Gasthaus und bot sich der Wirtin an, ihr zu dienen, und die Wirtin ward gerührt von ihrer Demut, Unschuld, Jugend und Schönheit und nahm sie als eine Magd in das Haus. Und als die Königstochter sich sehr anstellig erwies in allen häuslichen Geschäften, so sagte die Wirtin: »Es ist schade um das Mädchen, wenn es nichts Ordentliches lernt, ich will sie das Kochen lehren.« Und da lernte die Königstochter das Kochen und begriff es sehr leicht und kochte bald manches Gericht noch besser und noch schmackhafter als ihre Lehrmeisterin selbst. Darob bekam das Wirtshaus vielen Zuschlag, bloß weil darin so vortrefflich gekocht wurde, und der Ruf der guten Köchin, die noch dazu so jung und so schön sei, ging durch das ganze Land.
   Nun trug sich‘s zu, daß die älteste Prinzessin, Tochter des Vaters dieser Köchin, sich vermählte und eine königliche Hochzeit ausgerichtet werden sollte, da wurde man Rates, die weit gerühmte Köchin an den Hof zu berufen, daß sie mit ihrer Kunst dem Feste die Krone aufsetze, denn die Herren am königlichen Hofe, Marschälle, Erbschenken, Erbtruchsesse, Zeremonienmeister, Kammerherren und sonstige Exzellenzen, teilten sämtlich nicht jene Ansicht, die einst ihr allergnädigster Herr, der König, ausgesprochen hatte, daß essen und trinken nicht allerweg notwendig sei, und daß es in das Gemeine herabziehe, vielmehr lobten sie alle gute Schmause neben feinen Weinen und huldigten, im stillen mindestens, dem alten wahren Sprichworte: Essen und trinken hält Leib und Seele zusammen.
   Das Hochzeitsmahl war köstlich bereitet, auch fehlte dabei nicht das Lieblingsgericht des Königes, welches der Erbtruchseß ganz besonders bestellt hatte, und als das Mahl gehalten ward, kam eine Speise nach der andern auf den Tisch und wurde hoch belobt.
   Endlich kam auch die Leibspeise des Königes und ward ihm zuerst dargeboten. Aber als er sie kostete, fand er sie völlig unschmackhaft, seine heiteren Mienen verfinsterten sich, und er sprach zum hinter seinem goldenen Armstuhle stehenden ersten Kämmerlinge: »Dieses Gericht ist ganz verdorben! Das ist sehr – fatal, lasse die Schüssel nicht weitergeben und rufe mir die Köchin herein!«
   Die Köchin trat in den prachtvollen Saal, und der König redete sie unwillig an: »Du hast mir mein Lieblingsgericht verdorben, meine Freude hast du mir versalzen, weil du meine Leibspeise ganz und gar nicht gesalzen hast!«
   Da fiel die Köchin dem König zu Füßen und sprach demütig: »Übet Gnade, Majestät, mein königlicher Herr, und verzeihet mir! Wie hätt ich wagen dürfen, Euch Salz unter die Speise zu mischen? Hab ich doch vordessen aus eines hohen Königes höchsteigenem Munde die Worte vernommen: Salz braucht man nicht, Salz ist nicht unentbehrlich! Salz zeigt nur Bauernsinn an, nicht Königssinn!«
   In diesen Worten erkannte der König beschämt seine eigenen und in der Köchin seine Tochter, und er hob sie vom Boden auf, darauf sie kniete, und zog sie an sein Herz. Allen Hochzeitsgästen erzählte er die Mär und ließ die jüngste Tochter wieder an seiner Seite sitzen. Und die Hochzeit wurde nun erst recht fröhlich begangen, und der König war wieder ganz glücklich in seiner Töchter Liebe.
   Das Salz ist heilig.


   Schwan, kleb an

   Es waren einmal drei Brüder, von denen hieß der älteste Jacob, der zweite Friedrich und der dritte und jüngste Gottfried. Dieser jüngste war das Stichblatt aller Neckerein seiner Brüder und der gewöhnliche Ablenker ihres Unmuts. Wenn ihnen etwas quer über den Weg lief, so mußte Gottfried es entgelten, und er mußte sich das alles gefallen lassen, weil er von schwächlichem Körperbau war und sich gegen seine stärkeren Brüder nicht wehren konnte. Dadurch wurde ihm das Leben sauer gemacht, und er sann Tag und Nacht darauf, sein Schicksal erträglicher zu machen. Als er einst im Walde war, um Holz zu sammeln, und bitterlich weinte, trat ein altes Weiblein zu ihm, das fragte ihn um seine Not, und er vertraute ihr all seinen Kummer. »Ei, mein Junge«, sagte das Weiblein darauf, »ist die Welt nicht groß? Warum versuchst du nicht anderswo dein Glück?«
   Das nahm sich Gottfried zu Herzen und verließ eines Morgens frühe das väterliche Haus und machte sich auf den Weg in die weite Welt, um, wie das Weiblein gesagt hatte, sein Glück zu suchen. Aber der Abschied von dem Ort, wo er geboren worden war und wenigstens eine glückliche Kindheit verlebt hatte, ging ihm doch nahe, und er setzte sich auf einen Hügel nieder, um noch einmal recht das heimatliche Dorf zu betrachten. Siehe, da stand das Weiblein hinter ihm, schlug ihm auf die Schulter und sprach: »Das hast du einmal gut gemacht, mein Junge! Aber was willst du nun anfangen?« Gottfried dachte jetzt erst daran, was er beginnen solle. Er hatte bis jetzt geglaubt, das Glück müsse ihm wie eine gebratne Taube in den Mund fliegen.
   Das Weiblein mochte seine Gedanken erraten, lächelte grinsend und sagte: »Ich will dir sagen, was du anfangen sollst. Warum? Weil ich dich lieb habe, und weil ich glaube, daß du auch mich nicht vergessen wirst, wenn du dem Glücke im Schoß sitzest.« Gottfried versprach dies mit Hand und Mund; die Alte fuhr fort: »Heute abend, wenn die Sonne untergeht, gehe an den großen Birnbaum, der dort am Kreuzweg steht. Darunter wird ein Mann liegen und schlafen, an den Baum aber wird ein großer schöner Schwan angebunden sein; den Mann hütest du dich aufzuwecken, und du mußt deswegen gerade mit Sonnenuntergang kommen, den Schwan aber knüpfst du los und führst ihn mit dir fort. Die Leute werden in seine schönen Federn vernarrt sein, und du magst ihnen erlauben, davon eine auszurupfen. Wenn aber der Schwan berührt wird, so wird er schreien, und wenn du dann sagst: Schwan, kleb an! so wird dem, der ihn berührt, die Hand fest ankleben und nicht eher wieder loswerden, bis du sie mit diesem Stöcklein antippst, das ich dir hiermit zum Geschenk mache. Wenn du nun so einen weidlichen Zug Menschenvögel gefangen hast, so führe sie nur immer gradaus. Da wirst du an eine große Stadt kommen, da wohnt eine Königstochter, die noch nie gelacht hat. Bringst du sie zum Lachen, so ist dein Glück gemacht; aber dann vergiß auch mich nicht, mein Junge!«
   Gottfried gab nochmals das Versprechen und war mit Sonnenuntergang richtig an dem bezeichneten Baum. Der Mann lag da und schlief, und ein großer schöner Schwan war mit einem Bande an den Baum gebunden. Gottfried knüpfte den Vogel beherzt los und führte ihn davon, ohne daß der Mann erwachte.
   Nun traf es sich, daß Gottfried mit seinem Schwan an einer Baustätte vorüberkam, wo einige Männer mit aufgestreiften Beinkleidern Lehm kneteten; die bewunderten die schönen Federn des Vogels, und ein vorwitziger Junge, der über und über voll Lehm war, sagte laut: »Ach wenn ich doch nur eine solche Feder hätte.«
   »Zieh dir eine aus!« sprach Gottfried freundlich; der Junge griff nach dem Schweife des Vogels, der Schwan schrie; »Schwan, kleb an!« sprach Gottfried, und der Junge konnte nicht wieder loskommen, er mochte anfangen, was er wollte. Die andern lachten, je mehr der Junge schrie, bis vom nahen Bache eine Magd herzugelaufen kam, die mit hochaufgeschürztem Rocke dort gewaschen hatte. Die fühlte Mitleid mit dem Jungen und reichte ihm die Hand, um ihn loszumachen. Der Schwan schrie; »Schwan, kleb an!« sprach Gottfried, und die Magd war ebenfalls gefangen. Als Gottfried mit seiner Beute eine Strecke gegangen war, begegnete ihm ein Schornsteinfeger, der lachte über das sonderbare Gespann und fragte die Magd, was sie denn da triebe.
   »Ach herzliebster Hans«, antwortete die Magd kläglich, »gib mir doch deine Hand und mach mich von dem verteufelten Jungen los.«
   »Wenn‘s weiter nichts ist!« lachte der Schornsteinfeger und gab der Magd die Hand, der Vogel schrie; »Schwan, kleb an!« sprach Gottfried, und der schwarze Mensch war ebenfalls behext. Sie kamen nun in ein Dorf, wo eben Kirchweih war; eine Seiltänzergesellschaft gab dort Vorstellungen, und der Bajazzo machte eben seine Narreteidinge. Der riß Mund und Nase auf, als er das seltsame Kleeblatt sah, das an dem Schweife des Schwans festhing. »Bist du ein Narr geworden, Schwarzer?« lachte er.
   »Da ist gar nichts zu lachen!« antwortete der Schornsteinfeger. »Das Weibsbild hält mich so fest, daß meine Hand wie angenagelt ist. Mach mich los, Bajazzo; ich tu dir einmal einen andern Liebesdienst.«
   Der Bajazzo faßte die ausgestreckte Hand des Schwarzen, der Vogel schrie; »Schwan, kleb an!« sprach Gottfried, und der Bajazzo war der Vierte im Bunde. Nun stand in der vordersten Reihe der Zuschauer der stattlich wohlbeleibte Amtmann des Dorfes, der machte ein gar ernsthaftes Gesicht dazu, und er ärgerte sich gar höchlich über das Blendwerk, das nicht mit rechten Dingen zugehen könne. Sein Eifer ging so weit, daß er den Bajazzo an der ledigen Hand faßte und ihn losreißen wollte, um ihn dem Büttel zu übergeben; da schrie der Vogel, und »Schwan, kleb an!« sprach Gottfried, und der Amtmann teilte das Schicksal der Vorgänger. Die Frau Amtmännin, eine lange dürre Spindel, entsetzte sich über das Mißgeschick ihres Eheherrn und riß mit Leibeskräften an dem freien Arm desselben, der Vogel schrie; »Schwan, kleb an!« sprach Gottfried, und die arme Frau Amtmännin mußte trotz ihres Geschreis folgen. Hinfort hatte niemand mehr Lust, die Gesellschaft zu vergrößern.
   Gottfried sah schon die Türme der Hauptstadt vor sich; da kam ihm eine wunderschöne Equipage entgegen, in der eine schöne junge, doch ernste Dame saß. Als diese den bunten Zug erblickte, brach sie jedoch in lautes Gelächter aus, und ihre Dienerschaft lachte mit. »Die Königstochter hat gelacht!« rief alles voller Freude. Sie stieg aus, betrachtete sich die Sache noch genauer und lachte immer mehr bei den Kapriolen, welche die Festgebannten machten. Der Wagen mußte umwenden und fuhr langsam neben Gottfried nach der Stadt zurück.
   Als der König die Kunde vernahm, daß seine Tochter gelacht habe, war er voll Entzücken und nahm selbst Gottfried, seinen Schwan und dessen wunderliches Gefolge in Augenschein, wobei er selbst lachen mußte, daß ihm Tränen in den Augen standen. »Du närrischer Gesell«, sprach er zu Gottfried, »weißt du, was ich dem versprochen habe, der meine Tochter zum Lachen bringt?«
   »Nein«, sagte Gottfried.
   »So will ich dir‘s sagen«, antwortete der König. »Tausend Goldgulden oder ein schönes Gut. Wähle zwischen den beiden.«
   Gottfried entschied sich für das Gut. Dann berührte er den Buben, die Magd, den Schornsteinfeger, den Bajazzo, den Amtmann und die Amtmännin mit seinem Stäbchen, und alle fühlten sich frei und liefen davon, als brenne die Hölle hinter ihnen her, was neues unauslöschliches Gelächter verursachte. Da wurde die Königstochter bewegt, den schönen Schwan zu streicheln und sein Gefieder zu bewundern. Der Vogel schrie; »Schwan, kleb an!« sprach Gottfried, und so gewann er die Königstochter. Der Schwan aber erhob sich in die Lüfte und verschwand in den blauen Horizont. Gottfried erhielt nun ein Herzogtum zum Geschenk; er erinnerte sich aber auch des alten Weibleins, das schuld an seinem Glücke war, und berief sie als seine und seiner auserwählten Braut Haushofmeisterin in sein stattliches Residenzschloß.


   Die sieben Schwanen

   In einem Lande war ein junger Rittersmann, der war reich und schön und hatte eine prächtige Burg. Zu einer Zeit ritt er mit seinen Hunden in den Wald, um zu jagen, da sah er eine Hindin (Hirschkuh), die war weißer als der Schnee und floh vor ihm auf und davon in das Gebirge zwischen die wilden hohen Gesträuche. Der Rittersmann aber folgte ihr gar eilig nach und kam zuletzt in ein wildes, finstres Tal, da verlor er durch die Hunde die Hindin aus dem Gesicht, ritt hin und her und rief die Hunde wieder zusammen. Darüber kam er an einen Fluß, an dem sah er eine schöne Jungfrau stehen, die wusch sich und trug in der Hand eine goldene Kette. Und da ihm diese Jungfrau sehr wohl gefiel, so stieg er sacht vom Roß, schlich sich ihr unversehens nah und nahm ihr die goldne Kette aus der Hand. In dieser Kette aber war sonderliche Kraft und Planetenzauber, und die Jungfrau war ein Wünschelweiblein und so schön, daß er ob ihrer Schönheit die Hindin samt seinen Hunden vergaß und gedachte, die Jungfrau heimzuführen als seine Gemahlin. Und also tat er auch und führte sie heim auf seine Burg. Nun hatte der junge Rittersmann noch eine Mutter, der kam die Schwiegertochter ungelegen, denn sie hatte bisher das Regiment ganz allein geführt und besorgte sich nun, daß sie Gewalt und Ansehen auf dem Schloß verlieren werde. Und sie wurde der Schwiegertochter gram und haßte sie und ermahnte oft ihren Sohn, jene nicht allzu lieb zu haben, und hätte gar zu gern Unfrieden und Zwietracht zwischen beiden angestiftet. Aber sie konnte das nicht zuwege bringen, denn ihr Sohn wollte ihre Worte nicht hören und war dann jedesmal ungehalten auf sie. Als sie nun das wahrnahm, da stellte sie sich in allem willfährig und dienstgefällig gegen ihren Sohn und die junge Frau, aber es kam bei ihr alles aus einem falschen Herzen, darin sie zumal eine grausame Bosheit erdacht hatte gegen die junge Frau, obschon sie sie äußerlich gar sehr zu ehren schien. Darüber kam die Zeit, daß die junge Frau in das Kindbett kam und genas von sechs Söhnen und einer Tochter, die trugen alle goldne Ringe um ihre Hälse. Sofort kam die alte böse Frau, die Mutter des jungen Herrn, und nahm die sieben Kinderchen, während die Mutter schlief, trug sie hinweg und legte sieben junge Hündlein, die in derselben Nacht geworfen worden, an deren Stelle. Nun hatte diese falsche und ungetreue Frau einen vertrauten Knecht, dem überantwortete sie die sieben Kinder und verpflichtete ihn bei Treuen und Eide, daß er sie in den wilden Wald tragen, sie töten und begraben sollte in der Erde oder im Wasser ertränken. Das gelobte der Knecht zu tun, trug die Kindlein in den Wald, legte sie unter einen Baum und bereitete sich, sie zu erwürgen. Da kam ihn aber ein Grauen an vor dem Mord, und er schauderte zurück vor solch ungetreuer Tat und ließ die Kindlein leben, ging und sagte der Frau, daß er ihr Gebot vollbracht habe.
   Aber der Schöpfer aller Wesen, der alle Dinge zum Besten lenkt, erbarmte sich der Kindlein und sandte ihnen einen Nährvater, das war ein alter weiser Meister, der in dem Walde wohnte, Weisheit zu pflegen, der nahm die Kindlein in seine Klause und nährte sie mit der Milch der Hirschkühe, die zu ihm zu kommen gewohnt waren, sieben Jahre lang.
   Als jene böse Frau die Kinder weggebracht hatte von der Mutter, führte sie ihren Sohn zu der jungen Frau, zeigte ihm die Hündlein und sprach: »Siehe Sohn, die Kinder, die deine Frau dir geboren, es sind junge Hunde.« Das tat sie ihrem Sohn aus Rache an, weil er die junge Frau so lieb hatte. Als er das sah, glaubte er seiner Mutter und warf einen Haß auf die junge Frau, die er vorher so lieb gehabt, wollte auch kein Wort einer Entschuldigung hören, sondern er ließ sie auf dem Hofe vor dem Palast seiner Burg in die Erde eingraben bis an die Brust und über ihr Haupt ein Waschbecken mit Wasser setzen und gebot allem seinem Gesinde, sich über ihrem Haupt zu waschen und ihre Hände an ihrem schönen Haar zu trocknen. Auch sollte sie keine andere Nahrung bekommen als die Hunde.
   Und so mußte die arme Frau stehen bleiben in der Grube in Nöten und Ängsten sieben ganze Jahre, und es durfte sich ihrer keine Seele erbarmen. Darüber verzehrte sich ihr schöner Leib, ihre Kleider vermoderten, und es blieb nur die Haut über ihren Gebeinen.
   Indessen lernten die jungen Kinder im Walde Wild und Vögel schießen und sich von deren Fleisch nähren, und da geschah es, daß der Ritter, ihr Vater, wieder einmal jagen ging in dem Walde. Da ward er der Kinder gewahr, die in dem Holze spielend hin und her liefen und hatten alle goldne Kettlein am Halse. Und sein Herz ward von Neigung zu den Kindern bewegt; hätte gern eins oder das andere ergriffen, aber sie ließen sich nicht fangen, sondern verschwanden im Walde. Daheim erzählte er seiner Mutter und anderen Herren und Freunden, daß er im Walde kleine Kinder gesehen mit Goldkettchen an den Hälsen. Darüber erschrak seine Mutter innerlich, nahm den Knecht vor und fragte ihn: »Hast du damals die Kinder getötet, oder hast du sie leben lassen?« Da bekannte der Knecht, daß er sie nicht mit eigner Hand zu töten vermocht habe, doch habe er sie unter einen Baum gelegt, und da wären sie gewiß bald gestorben. Hierauf gebot sie dem Knecht, schleunigst in den Wald zu reiten, die Kinder zu suchen, die mitnichten gestorben seien, und ihnen die goldnen Ketten zu nehmen, sonst würden sie beide zuschanden werden. Der Knecht gehorchte voll Angst, suchte drei Tage die Kinder im Walde und fand sie nicht; erst am vierten Tage fand er sie, sie hatten die Kettchen abgelegt und waren nun in Schwäne verwandelt und spielten auf dem Wasser. Aber das Mädchen hatte noch seine menschliche Gestalt und sah den Schwänen zu, wie sie auf dem Wasser spielten. Da ging der Knecht heimlich hinzu und nahm die sechs goldnen Kettchen weg; aber das Mädchen entlief ihm, daß er es nicht erreichen konnte.
   Wie der Knecht die Ketten der Alten darbrachte, sandte sie zu einem Goldschmied und hieß ihn von denselben einen Becher machen. Als der Goldschmied nun von den Ketten einen Becher gießen wollte, befand er, daß das Gold also edel und rein war, daß es weder mit dem Hammer verarbeitet noch im Feuer fließend gemacht werden konnte, bis auf ein Kettchen, das zerschlug er und machte einen Ring davon; die andern wog er auf seiner Waage, legte sie beiseit und gab dafür an Gewicht so viel anderes Gold und machte einen Becher davon, den gab er der Frau und auch den Ring, die schloß beides fest in ihren Kasten.
   Jene Schwäne aber, die nun ihre menschliche Gestalt nicht wiedererlangen konnten, wurden betrübt und sangen mit süßer kläglicher Stimme wehmutvollen Gesang, der klang wie Weinen kleiner Kinder. Zuletzt erhoben sie sich auf ihrem Gefieder hoch empor, zu sehen, wo sie sich hinwenden möchten. Da gewahrten sie einen großen spiegelklaren See, auf dem ließen sie sich nieder. Der See aber umschloß einen hohen Berg, an dem hing ein großer Felsen und auf diesem lag eine schöne Burg. Der Felsen war also steil, und das Wasser stand so dicht am Berge, daß außer einem ganz schmalen Steig keinerlei Zugang zur Burg war. Und das war gerade die Burg des jungen Ritters, welcher der Vater jener Kinder war, und die Fenster des Speisesaales der Burg standen nach dem Wasser gekehrt, so daß der Herr bald der Schwanen gewahr ward, und er wunderte sich, denn er hatte so schöne Vögel noch niemals gesehen. Darum warf er ihnen Brot und andere Speisen hinunter und gebot allem seinen Gesinde, daß sie niemand solle verjagen oder vertreiben, sondern sie sollten allzeit Brot hinunter werfen, so lange, bis die Schwäne sich dort beständig heimisch hielten. Diesem Gebot ward fleißig nachgelebt, und die Schwäne gewöhnten sich daran und wurden so zahm, daß sie stets zur Essenszeit kamen und ihr Futter empfingen.
   Das arme verlassene Mädchen aber, ihre Schwester, hatte nun zwar ihre menschliche Gestalt behalten, war aber hilflos und ging betteln hinauf auf die Burg ihres Vaters. Da gab man ihr den Abfall vom Tische, und sie teilte diesen mit der armen Frau in der Grube, denn so oft sie diese sah, mußte sie bitterlich weinen. Doch kannte eins das andere nicht. Auch brachte das Mägdlein noch einige übrig gebliebene Brosamen herunter unter die Burg an das Wasser und gab die den Schwanen, ihren Brüdern. Allezeit, wann sie nahete, so kamen die Schwanen herbei, fliegend und flatternd und kitternd und aßen ihre Speise aus der Schürze des Mägdleins. Das kosete sie freundlich und nahm sie oft in ihre Arme und ging dann stets gegen Abend wieder auf die Burg und schlief alle Nacht vor der Frau, die in der Erde stand, ohne daß sie wußte, daß diese ihre Mutter war.
   Alle Bewohner der Burg sahen das alles mit großer Verwunderung, und daß sie immer weinte, wenn sie bei der Frau stand, und auch, daß sie dieser sehr ähnlich sah. Und da ward auch des Ritters Herz bewegt, daß er das Mägdlein näher betrachtete, und sah die Ähnlichkeit mit seiner Frau und sah auch an ihrem Hals das goldne Kettlein. Und ließ das Dirnlein vor sich treten und fragte es: »Mein liebes Kind, sage mir, von wannen bist du und von wannen kömmst du her? Wer sind deine Eltern und wie hast du die Schwanen so gezähmt, daß sie aus deinem Schoße essen?«
   Da seufzte das arme Kind aus tiefstem Herzensgrund und sprach: »Lieber Herr! Die Eltern, die ich hatte, habe ich nie gekannt. Ich weiß auch nicht, ob ich sie gesehen habe. Wenn du aber nach den Schwanen fragst, das sind meine Brüder, die mit mir ernährt wurden von der Milch der Hindinnen im Walde. Zu einer Zeit geschah es, daß meine Brüder ihre goldenen Ketten ablegten, weil sie baden wollten, da wurden sie in Schwäne verwandelt; und weil die Ketten geraubt wurden, konnten sie die Menschengestalt nicht wiedererlangen und mußten Schwäne bleiben.«
   Diese Rede vernahmen die falsche untreue Frau und der Knecht, ihr Helfershelfer, und erschraken heftiglich und wurden beide bleich im Bewußtsein ihrer Schuld. Der Ritter nahm das wahr und dachte darüber nach, indem er von der Burg herab spazierenging. Die Alte aber hetzte den Knecht auf, er sollte das Mägdlein töten. Und er nahm ein blankes Schwert und folgte dem Mägdlein, als es nach seiner Gewohnheit herabging zu den Schwanen. Allein der Herr gewahrte seiner, trat herzu, und wie der Knecht die Missetat begehen wollte, schlug er ihm das Schwert aus der Hand. Da fiel der Knecht auf seine Knie nieder und bekannte alles. Darauf trat der Ritter zu seiner Mutter und zwang sie mit Drohungen zum Geständnis; da schloß sie ihren Kasten auf und gab dem Sohn jenen Becher, der von den Kettchen gefertigt sein sollte. Sogleich sandte der Ritter nach dem Goldschmied und fragte ihn ernstlich wegen des Bechers. Da sich dieser nun auch der Strafe besorgte, so bekannte er die Wahrheit, daß er die Ketten noch ganz habe, bis auf eine, aus der er einen Ring gefertigt. Der Ritter hieß ihn die Ketten bringen und gab sie der Jungfrau; die legte sie den Schwanen, jeglichem eine, um den Hals. Da erhielten sie alle die menschliche Gestalt wieder, bis auf einen – der mußte ein Schwan bleiben. Von diesem Schwan findet man in manchem Buche viel sonderliche Abenteuer beschrieben. Nun ließ der Ritter gar eilig die arme Frau aus der Erde nehmen, ließ sie mit edler Spezerei und kostbaren Würzen wieder erquicken, daß sie wieder eine schöne Frau wurde. Seine falsche Mutter ließ er in das nämliche Loch setzen, darin seine unschuldige Frau sieben lange Jahre geschmachtet und gelitten hatte durch jener Bosheit. So geschah ihr nach dem Prophetenspruch: In die Grube fällt, wer andern sie gegraben.


   Der Fischkönig

   Alle Kinder kennen das Märchen, wie die Vögel sich einen aus ihrer Mitte zum Könige wählen wollten, wie der König sein sollte, der am höchsten fliegen könne, und wie darauf der Reiher am höchsten flog, aber der kleine Schalk, der Zaunschlüpfer, sich dem Reiher auf den Rücken gesetzt hatte, und als derselbe, der am höchsten flog, nicht höher fliegen konnte, sich das Zaunschlüpferlein erst auf eigenen Flügeln aufschwang und sich selbst zum Könige ausrief: »König bin ich! König bin ich!«
   Auch wie das die großen Vögel alle sehr verdrossen hat und wollten ihn wieder herunter haben und sagten, der solle König sein, welcher am tiefsten falle, der Zaunschlüpfer nun herab und in ein Mauseloch fiel und heraus piepte: »König bin ich! König bin ich!« – und die Vögel ihn hernach nur spottweise Zaunkönig riefen.
   Auch die kluge Königswahl der Frösche ist allbekannt, ebenso, daß der Löwe der König der vierfüßigen Tiere ist und daß Bienen und Ameisen Königinnen haben.
   Aber daß die Fische auch einmal auf die Gedanken einer Königswahl gekommen sind, das ist weniger bekannt, und das kommt hauptsächlich daher, daß die Fische, mindestens für das Menschenohr, stumm sind und keinen Lärm vollführen und kein unnützes Geschwätze auf die Bahn bringen, wenn sie Kaiser oder Könige wählen.
   Die Fische waren alle versammelt und riefen in ihrer Sprache: »Wenn wir uns in der belebten Welt umsehen, so erblicken wir rechts und links, daß alles seinen König hat und regiert wird, Tiere und Vögel, Insekten und Amphibien. Nur wir haben noch keinen Regenten! Lasset uns daher einen wählen, der Recht bei uns spricht und dem Schwachen hilft gegen die Starken, und lasset uns den wählen, welcher der schnellste und gewandteste Schwimmer ist.
   Wer allen andern voran ist, der hat das natürliche Recht, unser König nicht nur zu heißen, sondern auch zu sein.«
   Dieser Vorschlag gefiel den meisten Fischen, fast alle stimmten ihm bei, wer am schnellsten schwimme, solle König der Fische heißen und sein. Das Ziel wurde bestimmt, und das Volk bildete eine lange Gasse, um die Wettschwimmer an sich vorüber zu lassen, wobei die Schwert– und Sägefische eilig auf– und abschwammen und Ordnung hielten; wer sich zu weit vordrängte, bekam mit der flachen Klinge eins auf das Maul.
   Die fliegenden Fische schnellten sich in die Luft empor, um dem Königsrennen aus der Vogelperspektive zuzusehen, plumpsten aber immer wieder in das Wasser. Die geharnischten Messerfische stellten sich in Parade auf, um dem Sieger ein Vivat auszubringen und ihm zu huldigen, wozu ein starker Chor Knurrhähne oder gepanzerte Gropfische Tusch knurren wollte. Die Sternseher, auch eine Fischart, prophezeiheten, daß aus der Königswahl, wie bei so mancher in der Menschenwelt, nichts Gescheites herauskommen werde; die Rüsselfische und Murmelbrassen hielten sich abseits und waren der Meinung, ein König sei ganz unnötig und sie müßten von vornherein seine Regierungsweise äußerst mißbilligen, er möge regieren, wie er wolle. Die kleinen Stichlinge endlich machten schlechte Witze über alle Parteien und parodierten unter sich die Schnellschwimmerei mit großem Humor.
   Jetzt gab ein alter Zitterrochen durch einen Schlag seines elektrischen Schwanzes das allen zugleich fühlbar werdende Zeichen des Rennens, und da schossen nun die Fische hin, Hecht und Schleie, Barsch und Karpfen, Lachs und Steinbutt, Scholle und Neunauge, alles durcheinander – die Scholle blieb zuerst hinter den andern zurück und sagte: »Was plag ich mich? Langsam kommt man auch weit.«
   Allen voran war der Hecht, der schoß zu wie ein Pfeil, plötzlich rief neben ihm eine spöttische Stimme: »Eile mit Weile, guter Hecht!« und wie der Blitz fuhr ein kleiner Fisch an ihm vorüber – und kam als der erste an das Königsziel.
   Jetzt schrie alles: »Der Hering ist vor! Der Hering ist vor! Vivat hoch, der Hering soll leben! Vivat!«
   Da präsentierten die Messerfische das Gewehr, und die Knurrhähne pullerten einen Parademarsch.
   Das war eine Freude unter dem Fischvolke, aber die Scholle, die ganz langsam hinter dem Zuge drein schwamm, hörte nicht ganz deutlich, wen man so weit vorn als Sieger und König ausrief, und fragte eine Flunder, die ihr im Langsamschwimmen Gesellschaft leistete: »Was schreien sie? Wer ist vor?«
   »›Der Hering ist vor‹, schreien sie!« rief die Hellbütte oder die Flunder der Scholle etwas laut ins Ohr, worauf diese erwiderte, indem sie aus lauter Ärger und Mißgunst ein schiefes Maul zog: »Na, schreie man nicht so, ich höre ja! Der nackte Hering also? Der Lump, der nackte Hering!« Von dieser Zeit an steht der Scholle das Maul immer schief.
   Aber die Sternseher hatten recht gehabt: Dem neuen König wurde das Regiment sehr schwer gemacht; und er vermochte sich nicht so recht zu behaupten; es gibt gar zu viele Königsfresser.


   Die goldene Schäferei

   Es war einmal eine schöne Jungfrau, Ilsa geheißen, eines rauhen Ritters einzige Tochter, die liebte den Wald mit seinem Vogelsang, seinen Blumendüften und Quellenrieseln und lustwandelte nur zu gerne mit ihrer alten Amme, der einzigen Pflegerin ihrer Jugend, da Ilsas Mutter früh gestorben war, oder auch allein, denn es drohte ihr keine Gefahr, und sie fürchtete keine, weil sie nicht wußte, was Gefahr ist. Eines Tages erging sich Ilsa nun auch ganz allein im grünen Haine, der um ihres Vaters Burg sich zog und in welchem uralte Bäume, malerische Felsen, geschmückt mit hohen Fahrenkrautstengeln und seltenen Pflanzen, und Blumen gar anmutig wechselten; da gelangte die jugendliche Maid an eine Felsengrotte, welche ihr neu war, indem sie sich nicht erinnern konnte, dieselbe schon früher einmal gesehen zu haben oder ihr nahe gekommen zu sein. Aus dem Innern dieser Grotte klang ein melodisches Summen wie von Windharfen, und dieses lockte Ilsa, immer weiter nach hinten in den trockenen Höhlengang hinein zu schreiten, der freilich immer enger und enger wurde und folglich auch immer dunkler. Doch just da, wo der Grottengang am engsten und düstersten war, zeigte sich durch eine Spalte hindurch eine sanfte Helle und manches funkelnde Licht, und Ilsa widerstand nicht dem Drange, diesem Schimmer nachzugehen – sie zwängte sich durch die Felsenspalte hindurch und sah sich mit Staunen plötzlich in einer ganz andern Welt. Die Töne schwollen und rauschten mächtiger an ihr Ohr, der Schimmer wurde klarer, Blumenglanz leuchtete auf, aber alle Blumen waren von funkelnden Edelsteinen, und von andern grünen Steinen in mannigfaltiger Schattierung waren die Blätter. Kleine, höchstens zwei Fuß hohe Wesen wimmelten auf einer Wiese, ein zahlloses Völklein, und bald sah sich Ilsa von einer Schar derselben umringt und willkommen geheißen, denn zutraulich, vielleicht zudringlich sogar naheten ihr die kleinen Geschöpfe.
   »Wer seid ihr?« fragte Ilsa voller Verwunderung. »Nie sah ich, nie hörte ich von euch!«
   »Wir sind das Bergvolk, die Heimchen!« antwortete eines der niedlichen Wesen mit feinem schrillenden Stimmchen, das in der Tat dem Laute einer Grille glich. »Daß du uns nicht kennst, laß dich nicht wundern. Nicht jeden Tag sind unsere Grotten aufgetan, nicht einmal zu jeder Stunde des Tages, an welchem ein Menschenauge sie zu erblicken vermag.«
   »Nie hörte ich von einem Bergvolke, nie von Heimchen«, sprach Ilsa, die wie von einem Traume befangen stand.
   »Lerne uns kennen, und du wirst uns lieben!« versetzte der Sprecher dieser Unterirdischen. »Und liebst du uns, so wirst du eine der unsern werden, vielleicht unsere Königin!«
   »Königin!« Wie dies Wort durch Ilsas junges Mädchenherz zuckte. Von Königinnen hatte Ilsa wohl gehört auf der Burg ihres Vaters, daß sie sehr reich und meist auch sehr schön seien, daß ihnen alles diene und gehorche, ja davon hatte ihr die Amme viel erzählt. Warum hätte Ilsa nicht auch eine Königin werden sollen oder können? Daher ließ sie sich willig leiten von ihren niedlichen, neckischen neuen Bekannten und durchwandelte mit ihnen das unterirdische Reich, das mit allem Zauber sie umgab, mit aller Prachtfülle sie blendete, durch melodische Töne ihre Seele mit Entzücken füllte. Dazu das leise Gemurmel rollender Bäche, das ferne Rauschen von Wasserfällen, deren Flut nach dem Lichte der Oberwelt hindrängte, die milde Dämmerung, heller als Mondlicht und doch nicht so hell wie Sonnenlicht, alles befing Ilsas Sinne, die ja noch halb ein Kind war, und die Freundlichkeit der Heimchen, mit denen sich so allerliebst spielen ließ, wie Ilsa glaubte, alles erregte ihr den Wunsch, immerdar in diesem unterirdischen Reiche zu bleiben, denn nach oben zog sie keine Liebe. Ihr Vater war ein rauher und finsterer Ritter, der sich niemals sonderlich um sie gekümmert hatte, und ihre Amme war alt und konnte sterben, dann hätte Ilsa ihre Tage ganz allein und freudenlos auf der einsamen, von den Menschen gemiedenen Burg ihres Vaters vertrauern müssen.
   Und zu diesen Gedanken gesellte sich noch der Heimchen verlockendes Wispern und Flüstern: »Bleibe bei uns, so alterst du nimmer! Immerdar blühst du im Jugendschimmer. Jeder Tag wird dir zum neuen Feste! Was du dir wünschest – dein wird das beste!«
   So bestrickt und hingerissen, erblickte Ilsa jetzt eine Herde Schafe, die freilich nicht größer als Lämmer waren, aber jedes derselben trug ein goldenes Vlies, und auch der kleine muntere Hund, der diese Herde umsprang, hatte Goldhaar. Einen Schäfer erblickte Ilsa nicht, wohl aber lag ein goldener Schäferstab am Boden.
   Und da regte sich in Ilsa der Wunsch, diese Herde zu hüten, und sie dachte, da kannst du ja die Heimchen sogleich auf eine Probe stellen, und sprach: »Wenn ich nun bei euch bliebe, ihr guten Heimchen, und wünschte, daß diese goldene Herde mein sei und ich selbst sie hüten dürfte – würdet ihr das mir wohl gewähren und erfüllen?«
   Da scholl es: »Ja, ja!« von vielen hundert zarten Stimmchen, und nur das bedingten die Heimchen, daß Ilsa mit keinem Schritte wieder die Oberwelt betrete und der goldenen Schäferei mit Sorgfalt vorstehe, auf daß keines der unschätzbaren Schäflein verlorengehe. Dann übergaben sie ihr den goldenen Hirtenstab, schmückten ihn mit silbernen Bändern und hießen sie mit lautem Jubel als nunmehr die ihrige willkommen.
   Ilsa nahm nun in dem Reiche ihrer unterirdischen Unschuldwelt nichts mehr wahr von den vorübergleitenden Tagen, Monden und Jahren auf der Oberwelt, von der Jahreszeiten Wechsel und der Geschicke mächtiger Wandlung, welche die Herzen der Menschen bewegen. Droben war sie vermißt, verloren geglaubt, betrauert und dann vergessen worden – ihre Amme war gestorben, ihr Vater war in einer Fehde gefallen, seine Feinde hatten seine Burg verheert und zerstört; diese letztere starrte nur noch als einsame Trümmer empor auf dem Bergesscheitel, den der Hain umgrünte, aber längst nicht mehr der alte Hain; dessen Bäume waren alle abgeschlagen worden, und jetzt grünte ein neuer Wald, und doch auch schon mit ziemlich starken Stämmen. Ilsa hütete immer noch ihre goldene Herde, spielte mit den kindlichen Heimchen, lernte von ihnen viel Heimliches aus der Natur und dem unterirdischen Reiche, und die Erinnerung an eine andere Welt, in der sie früher gelebt, war ihr wie ein Traum. Dennoch entschlief nicht diese Erinnerung, vielmehr begann sie mächtiger zu erwachen – zur Sehnsucht zu werden. Ilsa hatte allmählich wahrgenommen, daß dieses und jenes Heimchen auf der Oberwelt sich zu tun gemacht, während man ihr den Verkehr mit jener streng untersagt hatte – und allmählich gelangte sie dahin, Betrachtungen anzustellen, die ihr das bisher genossene harmlose Glück zerstörten.
   Was nützt mir meine Herde? dachte Ilsa. Ich hüte sie, aber sie ist doch nicht mein; ich kann nichts mit ihr beginnen. Eine Königin des Heimchenvolkes sollte ich werden, so wurde mir vorgespiegelt, und das schroffe Gegenteil einer solchen bin ich geworden, eine arme Hirtin. Alles drängt nach oben, zum schönen herrlichen Sonnenlicht! Die Wurzeln sammeln nur Kraft im Erdenschoße, um diese hinaufzudrängen und zu treiben bis in der Bäume höchste Wipfelkronen. Die Quellen, die unterirdischen Wasser, nach außen hin drängen sie alle, brechen sie sich Bahn mit Ungestüm. Wo ist der blaue Himmel hin, den einst ich sah? Wo ist das Fächeln der Frühlingsluft? Wo ist der Kirchenglocken feierlicher Klang? Die Heimchen haben keinen Gott, keine Kirche und keinen Himmel. Ich aber will den Himmel wiedersehen – ich will, ich will!
   Und nun offenbarte Ilsa den Heimchen ihre Wünsche. Diese ließen ihre Köpfchen traurig hängen, sie ahneten alles, was und wie es kommen werde.
   »Du versprachest uns, immer bei uns bleiben zu wollen!« wandten die Heimchen ein.
   »Ihr versprachet mir Erfüllung aller meiner Wünsche«, entgegnete Ilsa.
   »Wir machten aber zur ersten Bedingung, daß du nicht zur Oberwelt zurückkehrest«, erinnerten die Heimchen.
   »Ich will auch nicht auf sie zurückkehren!« sprach Ilsa. »Ich will sie nur wiedersehen, sie und den blauen Himmel, und ihre wundersamen Frühlingsdüfte atmen.«
   »Dann bist du keine der unsern mehr«, warfen die Heimchen ein. »Berührt dich nur der Lufthauch der Oberwelt, so verfällst du auch dem Lose der sterblichen Menschen, welche dahinfahren wie der Wind; du verblühst, wirst alt und stirbst. Nur in unserem Reiche blüht ewige Jugend.«
   Ilsa schwieg – aber sie trauerte – ihre Sehnsucht wurde immer stärker – sie achtete ihrer goldenen Schäferei nicht mehr, nichts war mehr, was sie erfreute, sie sprach mit keinem Heimchen mehr, und die Heimchen klagten: »Sie ist für uns verloren so oder so – laßt uns daher ihre Wünsche erfüllen.«
   Ilsa trat in die hochgelegene Grotte, durch welche sie eingegangen war in das Reich der Unterirdischen, an das sonnige Licht des schönen Erdentages. Ach, wie mächtig war dessen Strahl! Weithin flogen entzückt ihre Blicke über einen Teil des Gaues, in dem sich ihre väterliche Burg erhob – doch ward es ihr bald seltsam zu Sinne. Der Sonnenstrahl zitterte goldgrün durch die Baumwipfel, der Himmel lachte saphirblau durch sie herab; die alten Felsen waren noch die alten, aber die Bäume waren die alten nicht mehr – der gebahnte Weg, der Ilsa einst nach der Grotte geführt, war nicht mehr; auf dem Waldboden des Haines war alles eine Rasendecke voll hohen Grases.
   Ilsa blickte zur Höhe, auf der sie das stattlich erbaute Vaterhaus mit Zinnen, Türmchen und Erkern stehen wußte, empor und erschrak, denn da war nichts, gar nichts mehr zu erblicken als ein Rest der Umfassungsmauer, überragt von einer hohen grauen Warte, um deren zerbröckelte Zinnen Mauerfalken schwebten und kreischten.
   »Was ist das?« fragte sich Ilsa. »Dünkt mein Verweilen drunten mich doch nur eine ganz kurze Zeit, und so viele Zeit ist darüber vergangen! Wie alt bin ich wohl dann?«
   Ilsa blickte weiter; sie sah neu entstandene Ortschaften, neue Burgen in der Ferne, und andere, deren Lage sie sich genau erinnerte, waren nicht mehr.
   Ilsa wagte nicht, ihren Fuß weiter zu setzen. Sie blieb in der Grotte, denn das hatte sie dem Volke der Heimchen gelobt, als ihr endlich mit Widerstreben erlaubt wurde, die Oberwelt wiederzusehen, und weilte manchen Tag ernst und sinnend in derselben. Auch die kleine goldene Herde herauszuführen und sie auf der Matte vor der Grotte weiden zu lassen, wurde ihr gestattet, doch nur zu gewissen Tagen und Stunden, am ersten Tage des Maimondes, am Himmelfahrtstage, am Pfingstsonntage, am goldenen Sonntage und am Johannistage, zur Mittagszeit, wenn am höchsten die Sonne stand, oder in den Mitternachtsstunden der Vorabende dieser geweihten Festtage. An diesen Tagen wandelte gern ein Teil der Bewohner jener Gegend auf die Berghöhen, wie es Sitte war schon aus alten heidnischen Zeiten her, und suchte Heilkräuter und grub zauberkräftige Wurzeln. Da geschah es bisweilen, daß Ilsa von den Menschen erblickt wurde, sie, die den Menschen fremd geworden war, eine bleiche, ruhige und ernste Erscheinung, im schneeweißen, nimmer alternden Kleide, und manche sahen auch ihre goldene Herde, vermochten aber nie, wie gern sie es getan, ein Stück derselben zu erhaschen, denn der Hund hütete die Schafe mit den goldenen Vliesen gar wachsam, und so wie er den leisesten Laut gab, hob Ilsa ihren goldenen Hirtenstab, worauf augenblicklich Hund und Herde unsichtbar wurden.
   Wenn gute und reine Menschen Ilsa erblickten und ihr furchtlos nahe traten, gab sie ihnen wohl auch auf Fragen, die an sie gerichtet wurden, Antwort, doch nur auf ernste und die Ernstes bezweckten, bisweilen auch doppelsinnig lauteten, oder warnend und abmahnend, oder prophetisch; da erinnerte sich das Volk, daß vor grauen Zeiten schon in altheiligen Götterhainen weissagende Priesterinnen gewohnt, und nannte Ilsa nach jener Gesamtnamen eine Allrune. Solche Allrunen waren alle die weißen Jungfrauen, welche nach alten Sagen um verfallene Schlösser und in den Hainen der Burgberge wandeln und auf ihre Erlösung hoffen. Auch Ilsa hoffte auf ihre Erlösung aus dem Bann und Zauber der unterirdischen Welt und der unheimlichen Heimchen, in den sie selbst sich gegeben, sie wußte aber nicht, daß ihre Erlösung aus dem Heimchenbanne an schier Undenkbares geknüpft war.
   Einst, als Ilsa wieder im Dämmerlicht ihrer Felsengrotte saß und ihre Herde vor derselben weiden ließ, trat ein irdisches Weib auf die Matte, das war eine Bilbze oder böse Hexe, ein Weib, welches durch heimliche Zaubermittel Schaden tat an Menschen und Vieh. Die rief Ilsa an und sprach: »Was weilest du ewig einsam in deiner Höhle hier oben, hohe Allrune? Geselle dich doch wieder dem Geschlechte der Menschen zu! Fühle menschlich und teile mit ihnen Lust und Leid! Liebe und werde geliebt!«
   Trauervoll antwortete Ilsa: »Mich bindet ein Wort – sonst zog ich gerne durch den Gau mit meiner Herde!«
   »Du darfst nur wollen! Die Macht ist dein!« rief die Bilbze. »Schlage mit deinem Hirtenstabe gegen den Höhlenspalt in der Tiefe deiner Grotte nur ein Kreuz, so schließt er sich alsbald für immer zu. Keines der Heimchen kann dir folgen, und du bist völlig frei.«
   Noch zögerte Ilsa, ihres Wortes eingedenk, den Zauber zu üben, als ein Jüngling von großer Schönheit sich zeigte und sie ansprach: »Vertraue dich mir an, schöne Jungfrau! Droben sollst du thronen, in deiner Väter Burg, die ich neu erbaue. An meiner Seite sollst du herrschen über diesen ganzen blühenden Gau. Diese Frau, welche zu dir sprach, ist meine Mutter, und groß ist unsere Macht.« Ilsa schlug mit dem Stabe das Kreuz gegen den Höhlenspalt. Drinnen erscholl nicht mehr das sanfte Tönen, sondern ein klagendes Gewimmer des um seine goldene Herde betrogenen Heimchenvolkes. Die Bilbze stieß ein widrig gellendes Jubelgeschrei aus, und ihr Sohn stürzte sich mit Heftigkeit auf Ilsa zu und wollte sie in seine Arme schließen. Solches Tun war Ilsa fremd – ernst hielt sie dem Bilbzensohne ihren Stab entgegen und schlug mit ihm auch gegen den Jüngling ein Kreuz – das brach allen Zauber, und jener brach zusammen und zeigte häßliche, abscheuliche Gesichtszüge, er, der so schön geschienen. Und auch die Bilbze stürzte nieder, wand sich in Zuckungen und erschien ganz als ein häßliches, gräßliches Hexenweib.
   »Harre nur deines Lohnes, du Verruchte! Harre nur!« schrie die Bilbze, indem sie sich wütend vom Boden aufraffte, rannte dann an Ilsa vorüber nach dem Grottengrunde und hielt die Springwurz an die Felsenspalte. Alsbald öffnete sich wieder das Reich der Unterirdischen, und die Bilbze schrie: »Heraus, ihr Heimchen! Holt eure Herde wieder, straft diese Wortbrüchige und Treulose! Straft sie mit ewiger Sehnsucht und ewiger Täuschung.«
   Schon umwimmelten die Heimchen Ilsa in Scharen und drängten sich zahllos zwischen sie und die Bilbze samt deren Sohn.
   »Du bist und bleibst die unsere!« sprach der Älteste des Heimchenvolkes. »Wann dereinst keine Glocke mehr klingt, keine Kirche mehr steht und böse Menschen wie diese Bilbze nicht mehr sind, dann schlägt dir die Stunde der Erlösung; früher nicht! So lange harre und hüte. Den Erdentag schaust du bis dahin nicht wieder, außer einmal je nach sieben Jahren! Da darfst du außerhalb unseres Berges dich samt deiner Herde zeigen.«
   Und so geschah‘s; noch immer wird, alle sieben Jahre zur Mittagsstunde, auch diese so hart verwünschte Jungfrau samt ihrer Herde erblickt, einsam, bleich und traurig, im schneeweißen Kleide. Böse Menschen leben noch, und die guten rufen noch die Kirchenglocken in die Tempel Gottes.


   Schab den Rüssel

   In einer großen deutschen Stadt war einmal eine fürstliche Hochzeit, die herrlich ausgerichtet wurde, da gab es Aufzüge und Festlustbarkeit aller Art, Gaukler und Springer und Bettelleute über alle Maßen viel. Unter letzteren befand sich auch ein Bettler, der sein Almosenheischen als förmliches Gewerbe trieb, gleichwohl hatte er an diesem Festtage kein absonderliches Glück, denn jeder hatte mit sich zu tun; man lief, man rannte, man stieß und wurde gestoßen, drängte und wurde gedrängt, gaffte und schaute und hatte keine Zeit, den Säckel zu ziehen, war auch selbiges gar nicht angeraten, denn wenn eine freche Hand den Säckel wegriß, so war er da gewesen. Das wurmte aber den Bettler über die Maßen, daß er an dem Tage, an welchem er sich just eine große Ausbeute an reichlich fallenden Almosen versprochen hatte, so gar nichts erhielt, und er murrte unwillig vor sich hin: »Ist denn die ganze Stadt ein Dürrhof geworden? Da muß der Donner hineinfahren und der Teufel drinsitzen! Ei, so wollt ich doch lieber den Teufel um ein Almosen angehen als euch Geizrachen und Hungerleider! Wie viele Gebete habe ich nicht schon heute gesprochen, wie viele Litaneien heruntergehaspelt und nicht einmal Gelegenheit gehabt, zu sagen: »Küß die Hand Euer Gnaden, vergelt‘s Gott!« Während der Bettler so murrte, ging ein kleines hinkendes Männlein in einem grünen Samtröcklein an ihm vorüber, das trug einen schwarzen spanischen Hut und darauf eine rote Feder und schaute sich halb um nach dem Bettler, wobei ein scharfblitzendes Auge und eine sehr stattliche, stark gebogene Adlernase sichtbar wurden. Der Bettler vergaß auf der Stelle seinen Vorsatz, niemanden an diesem Tage ferner anzusprechen, schritt vielmehr dem kleinen Grünrock nach, drängte sich an ihn, hielt ihm seinen Schlapphut vor und begann seinen Bettlersermon in Form eines Stoßgebetes. Der Grünrock zog ein grimmiges Gesicht und rief mit heiserer Stimme dem Bettler zu: »Halte gleich dein Maul, du Lump! Mit solcherlei Redensarten gewinnst du mir nichts ab. Du weißt nicht, wen du um ein Almosen angehst, und hast‘s doch vorhin gelobt!«
   Mit diesen Worten schritt der Grünrock in einen Straßenwinkel, in welchem man freier stehen konnte, weil das Volksgewimmel in der Straße rastlos vorüberwogte, und der Bettler folgte ihm, weil er sah, daß der Grüne in die Tasche griff, auf alle Fälle, um aus derselben eine Gabe für ihn hervorzuholen. Dieses tat letzterer denn auch, er zog eine kleine eiserne Raspel mit kurzem Holzstiel hervor und sagte: »Dies kleine Werkzeug kann und wird all deiner Not ein Ende machen, wenn du meinem Rate folgen willst. Du brauchst damit nur einmal über die Lippen zu streichen und zu sagen: ›Schab den Rüssel‹, so fällt dir ein Goldstück vom Maule. Da aber umsonst nur der Tod nach dem Sprichwort ist, und das Sprichwort zumal ein Lug, denn der Tod kostet das Leben, so wirst du es billig finden, daß ich auch von dir einiges begehre.«
   »Was Eure Gnaden nur befehlen! Ich stehe zu Dienst!« rief vor Freude zitternd der Bettler und blickte unverwandt nach der neuen eisernen Raspel.
   »Du darfst erstens keine Reimgebetlein mehr sprechen, überhaupt hinfüro weder beten noch betteln, darfst in keine Kirche gehen, darfst nicht heiraten, und nach sieben Jahren muß deine Seele mein sein. Wenn dich jemand mit Schimpfreden antastet, wenn ein Richter einen dir ungünstigen Spruch fällt, wenn einer dir was nachredet, das dir übel gefällt, dann ziehe nur diese Raspel aus der Tasche und sprich, ohne sie an deine Lippen zu bringen: ›Schab den Rüssel‹, so wird sie jenem dir Übelwollenden dermaßen über das Maul fahren wie ein stets rechthabender Amtmann dem armen Bäuerlein, und sie werden selbiges dann ganz sicherlich halten.«
   Obwohl der Bettler nun merkte, wer dieser gewisse Grünrock war, und ihn eine Gänsehaut bei dieser Wahrnehmung überlief, so erschien ihm das Anerbieten doch so übel nicht, denn Geld war ihm das Höchste, und um seine Seele hatte er sich nie sonderlich bekümmert. Gebet und Kirchengehen zu meiden, fiel ihm auch nicht schwer, denn bei seinen Gebeten, die er beim Betteln mechanisch herleierte, hatte er sich niemals etwas gedacht, und sein Kirchenstand war immer außen, vor den Kirchentüren gewesen. Er sagte also zu, und der Grünrock sagte, er wolle am andern Morgen zu ihm kommen und die Verschreibung mitbringen, zur Unterschrift – um Lebens und Sterbens willen, denn etwas rot auf weiß müsse er haben, und wenn der Bettler den Pakt nicht gewissenhaft halte, so verfalle die Seele dem Grünen dann alsbald. »Das Kunststück mit dem Schab den Rüssel, um Geld zu erzielen«, setzte der Grüne noch hinzu, »kann des Tages nur einmal, und zwar bloß früh nüchtern ausgeübt werden.«
   Der Grünrock hinkte hinweg und verlor sich bald unter dem Volksgewimmel, der Bettler aber hielt beständig die Hand auf seiner linken Hosentasche, in welche ihm jener die Raspel gesteckt hatte, daß nicht etwa ein Taschendieb sie ihm stibitze, ging gegen seine Gewohnheit diesen Abend in kein Wirtshaus und konnte vor Erwartung die ganze Nacht nicht schlafen. Er hatte die Raspel in ein Tüchlein gebunden und sich um den Hals, um ja nicht darum zu kommen.
   Mit dem Morgengrauen war er schon auf, holte eine Schüssel, zog die Raspel hervor, strich sie über sein breites Maul und sprach: »Schab den Rüssel!« Plautz, plumpste ein funkelnagelneuer Kremnitzer klingend in die Schüssel – indes fuhr zugleich etwas Haut von der Lippe. Aber der Strolch achtete nicht den Schmerz; er arbeitete wie ein Schlosser mit der Feile auf seinem Maule herum. »Schab den Rüssel, schab den Rüssel, schab den Rüssel!« – Das ging ganz flott, und es fiel förmlich ein goldener Regen, wie in der heidnischen Götterfabel, als Zeus der Danae seine Aufwartung machte, nur wissen die Gelehrten leider nicht so recht eigentlich zu sagen, ob es jenesmals auch Kremnitzer regnete oder ob es vielleicht Regenbogenschüsselchen gewesen sind. Jetzt blutete dem Raspelkünstler das Maul ziemlich arg, und da kam der Grünrock und hatte ein Pergament und eine frisch, aber verkehrt geschnittene Feder, die tunkte er auf seines Mannes blutende Lippen wie in ein rotes Tintenfaß, und jener mußte seinen Namen unter den Vertrag setzen – worauf alsbald der Grüne wieder verschwand und den Pakt mit sich hinweg nahm, zuvor aber ließ er ein Büchschen mit Lippenpomade zurück, die mehr nach Schwefel als nach Rosenöl roch, um die kleinen Wunden zuzuheilen, und fügte noch die Warnung hinzu, nicht gar zu häufigen Gebrauch von der Raspel zu machen, sonst werde der Raspler stetig ein böses Maul haben, und mit nichts mehr, als mit einem solchen, mache man sich der Polizei verdächtig und werde gar nicht gut angeschrieben.
   Andern Tages hatte der Kremnitzer Goldmund einen greulichen Grind auf seinen Lippen, aber er hatte, seiner Meinung nach, noch lange nicht genug Kremnitzer, fing daher aufs neue an, seinen Rüssel zu schaben, daß es nur so in die Schüssel prasselte; er litt freilich dabei abscheuliche Schmerzen, und die Lippen schwollen ihm auf wie zwei braune teilweise beim Braten zerplatzte Bratwürste, aber er gewann doch vieles Gold. Er konnte nur mit verbundenem Munde ausgehen, ging indessen doch abends in ein Zechhaus und ließ einige seiner Goldvögelein fliegen, schlemmte und war fröhlich mit seinen vormaligen Bettelbrüdern, gleichwohl spotteten diese ihn aus über sein Schwartenmaul; er müsse des Teufels Großmutter geküßt haben! sagten sie, und als ihn das ärgerte, so zog er die Raspel hervor, sprach heimlich und leise »Schab den Rüssel«, und plötzlich tanzte unsichtbar die Raspel dem Zechgesellen, der den Witz gerissen, auf den Lippen herum, ohne daß aber Gold herunterfiel, daß derselbe vor Schmerz laut aufschrie – worauf sich jener zurückzog und sich selbst das Wort gab, fortan solche gemeine Gesellschaft zu meiden. Er ließ nun die Raspel, so viel er‘s irgend aushalten konnte, auf seinem Maule fleißig arbeiten und begann den Aufbau eines neuen Hauses, den er eifrig betrieb. Über die Türe ließ er schreiben »Zum Schab den Rüssel« und nahm den vornehmen Namen Chrysostomus an, welcher zu deutsch Goldmund lautet.
   Herr Chrysostomus zum Schab den Rüssel wurde immer reicher und reicher, und es war nur schade, daß er stets mit verbundenem Munde ging, weshalb sich die Mär im Volke verbreitete, sein Mund sei kein Mund, sondern ein kleiner Saurüssel, aber von Golde, davon schabe er immerfort ab, und daher rühre sein Reichtum. Weil er nun keinem Armen etwas gab, so kam die Redensart auf, die sich hernachmals im ganzen deutschen Reiche verbreitete, die jeden geizigen Reichen einen schäbigen Mann nennt.
   Herr Chrysostomus zum Schab den Rüssel lebte herrlich und in Freuden; wer ihm was zuwider tat oder sagte, den ließ er tüchtig von der Raspel bearbeiten, so daß alle auf der Stelle das Maul hielten, und selbst die Polizei, als sie ihm ob seines eigenen bösen Maules zum ersten Male zu Leibe wollte, wurde derartig geraspelt, daß sie sich nimmer wieder an Herrn von Chrysostomus zum Schab den Rüssel zu vergreifen wagte.
   So gingen die sieben Jahre herum, und da kam der Grünrock wieder, willens, nun die verfallene Seele in Empfang zu nehmen. Der Türsteher des Herrn Grafen Chrysostomus von und zum Schab den Rüssel wollte den Grünen nicht zu seinem Herrn lassen, weil er ihn für einen vagabundierenden Jäger hielt, der kleine Grünrock aber stellte dem großen Türsteher ein Bein, daß er hinplumpste wie ein Nußsack.
   Seine Erlaucht, der Herr Graf, lagen auf dem Sofa, lasen die Zeitung, hatten neben sich etwelche Fläschchen Ungarwein stehen und rauchten türkischen Tabak, als der Grünrock in das herrlich ausgeschmückte Spiegelzimmer trat.
   »Was gibt‘s? Was soll es?« fragten der Herr Graf in übler Laune, daß jemand sich unterfing, unangemeldet einzutreten. »Man wende sich an den Kammerdiener!«
   »Habe mit dir selbst zu sprechen, mein Wertester!« entgegnete der Grünrock. »Deine Zeit ist um! Hier ist der Pakt. Auf, zum Abmarsch! Jetzt heißt es nicht mehr Schab den Rüssel, sondern Schab ab!«
   Seine Erlaucht, der Herr Graf von und zum Schab den Rüssel, fitzten ein viereckiges Lorgnettenglas, das an einer Schnur hing, vor das rechte Auge und blinzten damit nach dem Grünrocke hin, indem Hochdieselben einmal gähnten und dann sprachen: »Was? Zeit? Pakt? Abmarsch? Schab den Rüssel! – Dummheit!«
   Sowie des Herrn Grafen Erlaucht das Wort Schab den Rüssel aussprachen, fuhr die Raspel dem Grünrock über das Maul und raspelte dieses, daß ihm Hören und Sehen verging. Der dumme Teufel, kein anderer war der Grünrock, hatte vergessen, die Eigenschaft des Rüsselschabers diesem nicht als eine allgemeine zu verleihen – der Herr Graf trommelten mit den Fingern der linken Hand auf dem Tisch einen Schottischen im Zweivierteltakt und brummten dazu:
   »Schab den Rüssel, schab den Rüssel, schab den Rüssel!
   Hopsasa!
   Schab den Rüssel, schab den Rüssel, schab den Rüssel!
   Trallalla!«
   Dem Teufel wurde übel und weh bei diesem Tanze, er schrie, daß das ganze Haus zum Schab den Rüssel erbebte, und endlich fiel er auf die Knie und bat des Herrn Grafen erlauchte Gnaden fußfällig um Gnade und Einhalt.
   Des Herrn Grafen Erlaucht bliesen dem Teufel eine Wolke von türkischem Tabakdampf in das Gesicht und streckten, ohne ihre liegende Stellung zu verändern, ihre Hand aus, indem sie nur die zwei Worte sagten: »Meinen Pakt!« worauf der Teufel den Pakt hinreichte. Der Herr Graf überzeugten sich, daß es der rechte sei und nicht etwa ein untergeschobener, dann zerrissen Hochdieselben ganz gemächlich das Pergament mit ihrer roten Namensunterschrift und sprachen: »So mag es gut sein! Sei so gut, wische dir das Maul und triff das Loch. Die Raspel aber läßt du mir zum Andenken, ich will sie bei löblicher Polizei —«
   »Halte dein Maul, alberner Narr!« unterbrach ihn der Teufel, »das hättest du eher sagen müssen. Der Pakt ist zerrissen, und die Raspel ist wieder mein. Für solch ein unschätzbares Werkzeug wie sie bekomme ich ganz andere Seelen als die deine ist, du Lump! O daß ich an dich könnte! Aber harre nur und wehe dir, wenn du einst doch zu mir kommst – da will ich auch sagen, an dem Orte, wo Heulen und Zähneklappern ist: ›Schab den Rüssel.‹«


   Der fromme Ritter

   Es war einmal ein tapfrer Rittersmann, er war gar ehrbar und fromm, mannlich im Streite, gottesfürchtig daheim. Wenn er von seiner Burg ausritt oder zu ihr hinritt, führte ihn der Weg jedesmal über einen großen Leichenacker, auf welchem schon in uralten Heidenzeiten die Toten aus dem ganzen Gau verbrannt worden waren, deren Asche man dann in hohen Hügeln beisetzte; später war dort eine Schlacht geschlagen worden, und man hatte die in derselben Gefallenen ebenfalls an Ort und Stelle beerdigt; in der christlichen Zeit war eine Gottesackerkirche dorthin gebaut worden, und eine Anzahl nahe liegender Dorfgemeinden begrub nahe derselben, wo auch der Weg nach des Ritters Burg vorüberführte, ihre Verstorbenen. So oft nun der fromme Ritter zum Kampfe ritt oder wenn er heimkehrte, sprach er jedesmal, wenn er an der Totenkirche vorüberkam, ein Gebet für die Ruhe der Toten.
   So ritt er furchtlos und gottgetrost zu jeder Tages– oder Nachtzeit über den stillen Leichenacker, im Dunkel der Nacht oder im klaren Mondscheine, der die weißen Grabsteine hell beleuchtete und mit seinem Silberschimmer die seitwärts gelegenen, uralten grünen Hünenhügel überspann.
   Eines Tages war der fromme Ritter auch ausgezogen und hatte seine Geschäfte verrichtet, als ihm gegen Abend eine feindliche Schar auf seinem Heimwege in einem Hinterhalte auflauerte und ihn plötzlich mit Macht angriff. Zwar fürchtete er sich keineswegs, zog vielmehr seine gute Wehre und verteidigte sich tapfer gegen seine Widersacher, allein er war nur ein Mann, und jener waren viele, daher blieb ihm nichts übrig als Flucht, zu der er rasch sein treues Roß wendete. Aber alsbald war die ganze Schar seiner Verfolger hinter ihm her, mit wildem Geschrei und Toben, und der fliehende Ritter mußte auf Tod und Leben reiten; es war eine wilde Jagd. Da erreichte der Fliehende das Totenfeld, darüber reitend er so oft gebetet hatte: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir!« die Worte des einhunderteinunddreißigsten Psalms, den man für die Ruhe und den Frieden der Toten betet und zur Vergebung der Sünden. Dieses Mal aber vermochte der Ritter nicht, den ganzen Psalm zu sprechen, er sprach nur in seiner Angst: »Aus der Tiefe – aus der Tiefe – «
   Und siehe, da stieg es aus der Tiefe – aus den Männergräbern, scharenweis, die bleichen Gerippe, die hohen Hünen, die entschlafenen Mannen, und sie hoben bewehrte Arme und standen zwischen dem fliehenden Ritter und seinen Feinden und Verfolgern, eine beinerne Mauer, und jenen ergrausete die Seele, und die Rosse scheuten und sprangen, sich bäumend, zurück.
   Sicher kam der fromme Ritter zurück nach seiner festen Burg, und nie wieder wagten seine Feinde, ihm aufzulauern. Die Toten, für die er gebetet, hatten ihn dankbar und treu geschirmt.


   Das Mäuslein Sambar oder Die treue Freundschaft der Tiere

   In einem weiten Walde war des Wildes viel und stand darin ein großer Baum mit vielen Ästen, auf dem hatte ein Rabe sein Nest. Da sah er zu einer Zeit den Vogelsteller kommen und ein Garn unter den Baum spannen, erschrak und bedachte sich und dachte: Spannt dieser Weidmann sein Jagdzeug deinetwegen oder wegen andrer Tiere? Das wollen wir doch sehen! Indem so streute der Vogelsteller Samen auf die Erde, richtete sein Garn und stellte sich auf die Lauer. Bald darauf kam eine Taube mit einer ganzen Schar andrer Tauben, deren Führerin sie war und da sie den Samen sahen und des Garns nicht acht hatten, so fielen sie darauf und das Netz schlug zusammen und bedeckte sie alle. Des freute sich der Vogler und die Tauben flatterten unruhig hin und her. Da sprach die Taube, welche die Führerin war, zu den andern Tauben: »Verlasse sich keine auf sich allein und habe keine sich selbst lieber als die andern, sondern lasset uns alle zugleich aufschwingen, vielleicht, daß wir das Garn mit in die Höhe nehmen, so erledigt eine jegliche sich selbst und die andern mit ihr.« Diesem Rate folgten die Tauben, flogen zugleich auf und hoben das Garn mit in die Lüfte. Der Vogelsteller hatte das Nachsehen und das Nachlaufen, um zu gewahren, wo sein Netz wieder herab zur Erde fallen werde; der Rabe aber dachte bei sich: Du willst doch auch nachfolgen und sehen, was aus diesem Wunder werden will.
   Als die kluge Führerin der Tauben sah, dass der Jäger ihrem Fluge nachlief, sprach sie zu ihren Gefährtinnen: »Sehet, der Weidmann folgt uns nach; beharren wir auf der Richtung über dem Wege, so bleiben wir ihm im Gesicht und werden ihm nicht entgehen, fliegen wir aber über Berge und Täler, so vermag er uns nicht im Auge zu behalten und muß von seiner Verfolgung abstehen, da er daran verzweifeln wird, uns wiederzufinden. Nicht weit von hier ist eine Schlucht, da wohnt eine Maus, meine Freundin, ich weiß, daß, wenn wir zu ihr kommen, sie uns das Netz zernagt und uns erlöst.«
   Die Tauben folgten dem Rat ihrer Führerin und kamen dem Vogler aus dem Gesicht. Der Rabe aber flog langsam hinter ihnen her, um zu sehen, was aus dieser Geschichte werden würde und auf welche Weise sich wohl die Tauben von dem Netz erledigen würden, und ob er nicht lernen werde, in eigener Gefahr ihr Rettungsmittel zu gebrauchen.
   Indessen erreichten die Tauben jene Schlucht, wo das Mäuschen wohnte, ließen sich nieder und sahen, daß die Maus wohl hundert Löcher und Aus– und Eingänge zu ihrer unterirdischen Wohnung hatte, um an vielen Enden bei drohender Gefahr sich verbergen zu können. Die Maus hieß Sambar, und die kluge Taube rief nun der Freundin: »Sambar, komm heraus!«
   Da rief das Mäuslein inwendig: »Wer bist du?«
   Und da rief die Taube: »Ich bin es, die Taube, deine Freundin!«
   Und da kam das Mäuslein, guckte aus einem der Löcher vorsichtig und fragte: »O liebe Gesellin, wer hat dich so überstrickt?«
   Da sprach die Taube: »O liebe Freundin! Weißt du nicht, daß keiner lebt, dem Gott nicht ein widerwärtiges Verhängnis schickt? Und der Betrügerinnen arglistigste ist die Zeit! Sie streute mir süße Weizenkörner und verbarg meinen Augen das trugvolle Netz, so daß ich mit meinen Freundinnen hineinfiel. Niemand verwahret sich der Schickung, die von oben kommt, ja Mond und Sonne leiden auch Verfinsterung, und aus des Sees grundloser Tiefe lockt der Menschen Trug den Fisch, wie er den Vogel aus der Lüfte Meer herab in seine falschen Schlingen zieht.«
   Als die Taube dies mit vieler Beredsamkeit gesprochen, begann die Maus das Netz zu zernagen, und zwar an dem Ende, wo ihre Gespielin, die Taube, lag, diese aber sprach: »Fange an bei den andern, meinen Schwestern, und wenn du sie alle erledigt hast, dann erledige auch mich.«
   Aber die Maus folgte ihr nicht, ob sie gleich wiederholt bat, und wie sie noch einmal die Maus darum ansprach, so fragte diese: »Was sagst du mir dies so oft, als ob du nicht auch wünschtest, frei zu sein?«
   Darauf antwortete die Taube: »Laß meine Bitte dir nicht mißfallen; diese meine Schwestern haben mir vertraut als ihrer Führerin; sie folgten willig mir und voll Vertrauen, und durch meine Unvorsichtigkeit gerieten sie unter das Netz, darum ist es billig, daß ich auf ihre Erlösung eher denke als auf die meinige, zumal es nur durch ihre gemeinsame Hilfe gelang, auch mich zu erheben samt des Voglers Garn. Auch möchtest du ermüden bei den andern, weißt du aber mich, deine liebste Freundin, noch im Netz, so wirst du mich nicht verlassen.«
   Darauf sprach das Mäuslein: »O liebe gute Taube, Taubenherz; viele Ehre macht dir diese Gesinnung und muß die Liebe stärken zwischen dir und deinen Gesellinnen.« Und sie zernagte das Netz allenthalben, und die Tauben flogen frei und fröhlich ihren Weg, die Maus aber schlüpfte wieder in ihr Löchlein.
   Das alles hatte der Rabe, der in der Nähe sich auf einem Baum niedergelassen hatte, gesehen und mitangehört, und er hielt hierauf ein Selbstgespräch: »Wer weiß«, sprach er, »ob ich nicht auch in gleiche Lage und Gefahr komme wie diese Tauben. Dann ist es doch gar herrlich, edle Freunde zu haben, die uns aus der Not helfen. Mit dieser Maus möchte mir Freundschaft allewege frommen!«
   Und da flog er von seinem Baum und hüpfte zu der Schlucht und rief: »Sambar, komm heraus!«
   Und drinnen rief das Mäuselein: »Wer bist du?«
   Da sprach er: »Ich bin der Rabe und habe gesehen, was deiner lieben Freundin, der Taube, begegnet ist und wie Gott sie erledigt hat durch deine Treue, deshalb komme ich, auch deine Freundschaft zu suchen.«
   Da sprach Sambar, das kluge Mäuslein, ohne daß es hervorkam: »Es kann nicht Freundschaft sein zwischen dir und mir; ein Weiser strebt nur zu erlangen das, was möglich ist, und für unweise gilt, der das Unmögliche erringen will. So führe einer Schiffe übers Land und Karren übers Meer. Wie könnte zwischen uns Gesellschaft sein, da ich dein Fraß bin und der Fresser du?«
   Da sprach der Rabe: »Mäuselein, versteh mich wohl und sinn meiner Rede nach. Was frommte mir, fräße ich dich auf, dein Tod! Dein Leben soll mir hilfreich sein und deine Freundschaft so beständig wie Ambra, das lieblich duftet, ob man auch verhüllt ihn trägt.«
   Darauf sprach die Maus: »Wisse, Rabe, der Haß der Begierde ist der größte Haß. Löwe und Elefant hassen einander ihrer Stärke halber, das ist ein edler und gleicher Haß des Mutes und des Streites; aber der eingefleischte Haß des Starken gegen den Schwachen, das ist ein unedler und ungleicher Haß; so haßt der Habicht das Rebhuhn, die Katze die Ratte, der Hund den Hasen, und du – mich. Erhitze Wasser am Feuer, daß es gleich dem Feuer dich brennt, es wird darum doch kein Feuer sein, auch nie des Feuers Freund, sondern es wird, in das Feuer geschüttet, dieses dennoch dämpfen. Die Weisen sagen: Wer seinem Feind anhängt, gleicht dem, der eine giftige Schlange in seine Hand nimmt; er weiß nicht, wann sie ihn beißen wird. Der Kluge traut seinem Feinde niemals, sondern er hält sich fern von ihm, sonst geschieht ihm, wie einst dem Manne mit der Schlange geschah.«
   Der Rabe fragte: »Wie geschah dem?« Und da erzählte ihm die Maus folgendes Märchen:


   Der Mann und die Schlange

   Es war einmal ein Mann, in dessen Hause wohnte eine Schlange, die wurde von der Frau dieses Mannes wohl gehalten und bekam täglich ihre Nahrung. Sie hatte ihre Wohnung ganz nahe bei dem Herde, wo es immer hübsch warm war, in einem Mauerloch. Der Mann und die Frau bildeten sich ein, nach dem herrschenden Aberglauben, daß es Glück bringe, wenn eine Schlange im Hause sei!
   Nun geschah es an einem Sonntag, daß dem Hausherrn das Haupt schmerzte, deshalb blieb er früh in seinem Bette liegen und hieß die Frau und das Gesinde in die Kirche gehen. Da gingen sie alle aus, und es war nun ganz still im Hause, und jetzt schlüpfte die Schlange leise aus ihrem Loch und sahe sich allenthalben sehr um. Das sahe der Mann, dessen Kammer offen stand, und wunderte sich im stillen, daß sich die Schlange gegen ihre sonstige Gewohnheit so sehr umsah. Sie durchkroch alle Winkel und kam auch in die Kammer und guckte hinein, sah aber niemand, denn der Hausherr hatte sich verborgen. Und nun kroch sie auf den Herd, wo ein Topf mit der Suppe am Feuer stand, hing ihren Kopf darüber und spie ihr Gift in den Topf, darauf verbarg sie sich wieder in ihrer Höhle. Der Hausherr stieg alsbald auf, nahm den Topf und grub ihn mit Speise und Gift in die Erde.
   Wie nun die Zeit da war, daß man essen wollte, wo auch die Schlange gewöhnlich hervorzukommen pflegte, stellte sich der Mann mit einer Axt vor das Loch, willens, sobald sie herausschlüpfen werde, ihr den Kopf vom Rumpfe zu hauen. Aber die Schlange steckte ganz vorsichtig ihren Kopf erst nur ein klein wenig aus dem Loch, und wie der Mann zuschlug, fuhr sie blitzschnell zurück und zeigte, daß sie kein gutes Gewissen hatte. Nach einigen Tagen redete die Frau ihrem Manne zu, er solle mit der Schlange Frieden schließen, sie würde wohl nicht wieder so Böses tun; der Hauswirt war gutwillig und rief einen Nachbarn, der sollte Zeuge sein des Friedensbundes mit der Schlange und einen Vertrag mit ihr aufrichten, daß eins sicher sein sollte vor dem andern. Hierauf riefen sie die Schlange und machten ihr den Antrag; die Schlange aber sagte: »Nein! Unsre Gesellschaft kann fürder in Treue nicht mehr bestehen, denn, wenn du daran denkst, was ich dir in deinen Topf getan, und wenn ich bedenke, wie du mir mit scharfer Axt nach meinem Kopf gehauen hast, so möchte wohl keiner von uns dem andern trauen. Darum gehören wir nicht zusammen; gib du mir frei Geleit und laß mich meine Straße ziehen, je weiter von dir, desto besser, und du bleibe ruhig in deinem Hause.« Und also geschähe es.
   Der Rabe, als er diese Erzählung aus dem Mund des Mäusleins Sambar vernommen hatte, nahm wieder das Wort und sprach: »Ich fasse wohl die Lehre, die dein Märlein in sich hält, allein bedenke deine Natur und meine Aufrichtigkeit, sei minder streng und weigere mir nicht deine Genossenschaft. Es ist ein Unterschied zwischen edel und unedel; der Becher aus Gold währet länger als der aus Glas, und wenn der Glaspokal zerbricht, so ist er hin, leidet aber der Goldpokal, so ist der Wert noch nicht verloren. Die Freundschaft der bösen und unedlen Gemüter ist gar keine Freundschaft, du aber hast ein edles Gemüt, das hab ich wohl erkannt, und so sehnt sich mein Herz nach deiner Freundschaft und bedarf ihrer, und ich werde nicht weichen vom Eingang deiner Wohnung und nicht eher essen noch trinken, bis du meiner Bitte Gehör gegeben!«
   Darauf sprach das kluge Mäuslein Sambar: »Ich nehme jetzt deine Gesellschaft an, denn ich habe noch nie eine billige Bitte ungewährt gelassen. Du magst aber wohl erwägen, daß ich mich nicht zu dir gedrängt, auch daß ich in meiner Wohnung sicher vor dir bin, aber ich begehre nützlich zu sein allen, die meiner Hilfe begehren, darum rühme dich nicht etwa: Haha, ich habe eine unvorsichtige und unvernünftige Maus gefunden! – damit es dir nicht gehe, wie dem Hahn mit dem Fuchs.«
   »Wie war das?« fragte der Rabe, und da erzählte das Mäuslein ein Gleichnis:


   Der Hahn und der Fuchs

   In einer kalten Winternacht kroch ein hungriger Fuchs aus seinem Bau und ging dem Fange nach. Da hörte er auf einem Meierhofe einen Hahn fort und fort krähen, der saß auf einem Kirschbaum und hatte schon die ganze Nacht gekräht. Jetzt strich der Fuchs hin nach dem Baum und fragte: »Herr Hahn, was singst du in dieser kalten und finstern Nacht?«
   Der Hahn sprach: »Ich verkünde den Tag, dessen Kommen meine Natur mich erkennen lehrt.«
   Darauf versetzte der Fuchs: »O Hahn, so hast du etwas Göttliches in dir, daß du zukünftig kommende Dinge weißt!« und alsbald begann der Fuchs zu tanzen.
   Jetzt fragte der Hahn: »Herr Fuchs, warum tanzest du?«
   Ihm antwortete der Fuchs: »So du singest, o weiser Meister, so ist billig, daß ich tanze, denn es ziemet, sich zu freuen mit den Fröhlichen. O Hahn, du edler Fürst aller Vögel, du bist nicht allein begabt zu fliegen in den Lüften, nein, auch hohe Prophetengaben lieh dir die Natur! O wie bevorzugte sie dich vor allen andern Tieren! Wie glücklich wär ich, gönntest du mir deine Gunst! Wie gerne küßt ich dein weisheitdurchdrungenes verehrtes Haupt! O wie beneidenswert, wenn ich dann künden könnte meinen Freunden: Ich war der Glückliche, dem ein Prophet sein Haupt zum Kusse hingeneigt!«
   Der alberne Hahn glaubte dem Schmeichelwort des Fuchses, flog vom Baum und hielt ihm seinen Kopf zum Küssen hin. Mit einem Schnapper war er abgebissen, und lachend sprach der Fuchs: »Ich habe den Propheten ohne alle Vernunft befunden.«
   Als das Mäuslein diese Fabel geendigt hatte, sprach es zum Raben: »Ich habe dir dies nicht gesagt, weil ich glaube, daß ich der Hahn sei und du der Fuchs, ich die Speise und du der Fresser, vielmehr will ich glauben, daß deine Worte nicht mit zweigespaltener Schlangenzunge gesprochen sind.« Und darauf ging die Maus in die Öffnung ihres Türloches.
   Der Rabe fragte: »Warum stellst du dich unter die Türe? Hegst du immer noch Furcht vor mir?«
   Darauf antwortete das Mäuslein: »Ich habe meinen Glauben und mein Vertrauen auf dich gesetzt, denn du gefällst mir, und nicht Furcht vor Unredlichkeit hält mich ab, hervorzukommen. Aber du hast viele Gesellen deiner Art, doch vielleicht nicht deines Gemütes, und deren Freundschaft ist nicht mit mir wie deine. Sieht mich einer, so muß ich fürchten, daß er mich frißt.«
   Dagegen sprach der Rabe: »Zu treuer Genossenschaft gehört doch vor allem, daß einer sei seines Genossen treuer Freund und Feind seines Feindes; sei gewiß, o Freundin Sambar, daß mir kein Freund lebt, der nicht ebenso treuer Freund dir sein soll wie ich selbst. Auch habe ich Macht und Kraft genug, dich zu schützen und zu schirmen.« Nun endlich ging das Mäuslein Sambar hervor aus seinem Löchlein und verschwur sich mit dem Raben zu einem unverbrüchlichen Freundschaftsbündnis, und als das geschehen war, wohnten sie bei– und nebeneinander friedsam und freundlich und erzählten einander alle Tage schöne Märchen.
   Endlich aber zu einer Zeit sprach der Rabe zur Maus: »Höre, meine liebe Freundin Sambar, deine Wohnung ist doch gar lautbar und zu nahe am Weg; ich besorge, es kommt einmal einer, der dich oder mich schießt oder schädigt, auch fällt es mir schwer, hier meine Nahrung zu finden. Aber ich weiß einen lustigen und nützlicheren Aufenthalt, da gibt es Wasser und Wiesen, Früchte und Futter, und dort in dem Wasser wohnt auch noch eine alte Freundin von mir, gar eine treue Genossin; ich wünschte, du zögest mit mir an jenen Ort.«
   »Das will ich dir gern zu Liebe tun«, sprach die Maus, »denn ich bin hier selbst scheu und halte mich nicht recht sicher, deshalb siehst du auch die vielen Ein– und Ausgänge meiner Wohnung. Glaube nur, lieber Freund, mir sind schon gar mancherlei Fährlichkeiten begegnet, davon ich dir erzählen will, wenn wir an den neuen Aufenthalt kommen.«
   Darauf nahmen beide Abschied von ihrem alten Wohnort, und der Rabe faßte die Maus am Schwänzlein in seinen Schnabel und flog mit ihr dahin an den Ort, den er meinte. Da guckte ein Tier mit dem Kopf aus dem Wasser, das erschrak vor der Maus, denn es erkannte sie nicht, wie der Rabe sie aus dem Schnabel ließ, und tauchte schnell unter. Der Rabe flog auf einen Baum und rief: »Korax, Korax!« Da kam das Tier aus dem Wasser hervor, das war seine Freundin, eine Schildkröte, die freute sich, den Raben wiederzusehen, und fragte ihn, was ihn zu seinem langen Außenbleiben bewogen. Da erzählte ihr der Rabe die Geschichte von der Taube und der Maus und stellte seine Freundinnen einander vor, und die Schildkröte verwunderte sich über die hohe Vernunft der Maus, kroch zu ihr, gab ihr die Hand und freute sich sehr, ihre Bekanntschaft zu machen. Hernach bat der Rabe die Maus, ihm und seiner Freundin doch ihre Lebensgeschichte zu erzählen, und sie ließ sich dazu gern bereit und willig finden und erzählte wie folgt:


   Die Lebensgeschichte der Maus Sambar

   Ich bin geboren in dem Hause eines frommen Einsiedels; es waren unsrer viele Geschwister, und außer meinen lieben verstorbenen Eltern lebten auch deren Geschwister, Vettern und Muhmen und deren Kinder allzumal in diesem Hause. Es fehlte uns niemals an Nahrungsmitteln aller Art, denn die guttätigen Leute in der Nachbarschaft trugen dem Einsiedel alle Tage Brot, Mehl, Käse, Eier, Butter, Früchte und Gemüse zu, viel mehr, als er brauchte, darum, daß er für sie beten solle. Ob er für sie gebetet und ob das ihnen etwas geholfen hat, weiß ich nicht. Nun gönnte der Einsiedel mir und meinen Verwandten doch nicht alles und hing deshalb einen Korb mitten in seine Küche, wo wir nicht dazu konnten. Da ich mich aber schon als junges Mäuslein durch Mut, gepaart mit List und Vorsicht, vorteilhaft auszeichnete, so sprang ich von der nahen Wand dennoch in den Korb, aß, so viel mir nur schmeckte, und warf das übrige meinen Verwandten herunter, die an jenem Tag einen wahren Festtag feierten.
   Als der Einsiedel hereinkam und sah, was geschehen war, traf er Anstalt, den Korb noch höher zu hängen. Da besuchte ihn ein Wallbruder, den bewirtete er nach seinem Vermögen, und als sie miteinander gegessen und getrunken hatten, tat der Einsiedel die Speisereste in den Korb und hing ihn an den neuen Ort und gedachte, acht zu haben, ob das Mäuslein auch da hineinkommen möchte. Indes begann der Gast zu reden und zu erzählen von seinen Fahrten zu Land und zu Meer und seinen Abenteuern, die er erlebt und bestanden, aber er nahm wahr, daß der Gastfreund immer nur mit halbem Ohr auf ihn hörte und immer dem Korbe mit Leib und Blicken halb zugewendet blieb. Da ward der Waller unwillig und sprach: »Ich erzähle dir die schönsten Abenteuer, und du achtest nicht darauf und scheinst keine Lust daran zu haben.«
   »Mitnichten«, erwiderte der Einsiedel, »ich höre gar gern deine Reden, aber ich muß acht haben, ob die Mäuse wieder in den Speisekorb kommen, denn dieses Ungeziefer frißt mir alles weg, daß kaum etwas für mich übrig bleibt, und besonders ist eine, die springt in den Korb für alle andern.« Damit meinte er mich, die kleine Sambar.
   Darauf sagte der Wallbruder: »Bei deiner Rede machst du mich der Fabel eingedenk von einer Frau, die zu ihrer Freundin sprach: ›Diese Frau gibt nicht ohne Ursache den ausgeschwungenen Weizen für den unausgeschwungenen.‹«
   »Wieso? Wie war das?« fragte der Einsiedel.
   Und der Waller sagte: »Laß dir erzählen. Einstmals auf meiner Wanderschaft herbergte ich bei einem ehrenwerten Manne, den hörte ich des Nachts, da ich nebenan schlief, zu seiner Frau sprechen: ›Frau, morgen will ich etliche Freunde zu Gaste laden.‹ Dem antwortete die Frau: ›Du vermagst nicht alle Tage Gäste zu haben und Wirtschaft zu machen; damit vertust du, was wir haben, und zuletzt bleibt uns im Haus und Hof gar nichts mehr.‹ Da sprach der Mann: ›Hausfrau, laß dir das nicht mißfallen, was mein Wille ist, besonders in solchen Sachen! Ich sage dir, wer allewege karg ist und immer einnehmen und zusammenscharren, aber niemals wieder ausgeben will, und dessen, was er hat, nicht recht froh wird, der nimmt ein Ende wie der Wolf.‹
   ›Wie war denn das Ende von dem Wolf?‹ fragte die Frau, und ihr Mann erzählte: ›Es war einmal, so sagt man, ein Jäger, der ging nach dem Walde mit seinem Schießzeug, Pfeil und Armbrust, da begegnete ihm ein Rehbock, den schoß er und lud sich denselben auf, ihn heimzutragen. Darauf aber begegnete ihm ein Bär, der eilte auf ihn zu, und der Jäger, sich seiner zu erwehren, spannte in Eile die Armbrust, legte den Pfeilbogen darauf, aber er vermochte nicht anzulegen, weil ihn der Rehbock hinderte, und legte geschwind die Armbrust nieder, zückte sein Weidmesser und begann den Kampf mit dem Bären, und er rannte ihm das Messer durch den Leib in dem Augenblick, wo der Bär ihn umfaßte und ihn totdrückte. Wie der Bär die schwere Wunde fühlte, brüllte er und riß sie aus Wut noch weiter auf, so daß er sich bald verblutete. Abends ging ein Wolf des Wegs, der fand nun einen toten Rehbock, einen toten Bären und einen toten Jäger. Darüber ward er herzlich froh und sprach in seinem Herzen: Das alles, was ich hier finde, das soll alles mein bleiben, davon kann ich mich lange nähren. Meine Brüder sollen nichts davon bekommen. Vorrat ist Herr, sagt das Sprichwort. Heute will ich sparen und nichts davon anrühren, daß der Schatz lange dauert, obschon mich sehr hungert. Da liegt aber eine Armbrust, deren Sehne könnte ich abnagen. Und da machte sich der Wolf mit der gespannten Armbrust zu schaffen, die schnappte los, und der aufgelegte Stahl oder Bogenpfeil fuhr ihm mitten durchs Herz! – Siehe, Frau‹, so fuhr der Mann fort, dem ich zuhörte«, sprach der Wallbruder zu dem Einsiedel, von welchem das Mäuslein Sambar ihren Freunden, dem Raben und der Schildkröte erzählte. »›Siehe, Frau, da hast du ein Beispiel, daß es nicht immer gut sei, zu sammeln und das Gesammelte treue Freunde nicht mit genießen lassen zu wollen.‹ Darauf sprach die Frau: ›Du magst recht haben.‹
   Als nun der Morgen kam, stand sie auf, nahm ausgehülsten Weizen, wusch ihn, breitete den aus, daß er trockne, und setzte ihr Kind dazu, ihn zu hüten, und dann ging sie weiter zur Besorgung ihrer übrigen Geschäfte. Aber das Kind tat, wie Kinder tun, es spielte und hatte nicht acht auf den Weizen, und da kam die Sau, fraß davon und verunreinigte den übrigen Weizen, den sie nicht fraß. Als die Frau hernach kam und das sah, ekelte ihr vor dem übrigen Weizen, nahm ihn und ging auf den Markt und bot ihn feil gegen ungehülsten zu gleichem Maß. Da hörte ich eine Nachbarsfrau jener, die gesehen hatte, was vorgegangen war, spöttisch zu einer dritten sagen: ›Schau, wie gibt die Frau so wohlfeil gehülsten Weizen gegen den ungehülsten! Es hat alles seine Ursache‹ – So ist‘s auch mit der Maus, von der du sagst, sie springe in den Korb für die andern Mäuse alle zusammen, und das muß wohl seine Ursache haben. Gib mir eine Haue, so will ich dem Mausloch nachgraben, und die Ursache wohl finden.‹
   Diese Rede hörte ich, so erzählte Sambar weiter, im Löchlein einer meiner Gespielinnen; in meiner Höhle aber lagen tausend Goldgulden verborgen, ohne daß ich noch der Einsiedel wußten, wer sie hineingelegt, mit denen spielte ich täglich und hatte damit meine Kurzweil. Der Waller grub und fand bald das Gold, nahm es und sprach: »Siehe, die Kraft des Goldes hat der Maus solche Stärke verliehen, so kecklich in den hohen Korb zu springen. Sie wird es nun nicht mehr vermögen.«
   Diese Worte vernahm ich mit Bekümmernis, und leider befand ich sie bald wahr. Als es Morgen wurde, kamen die andern Mäuse alle zu mir, daß ich sie, wie gewohnt, wieder füttere, und waren hungriger als je; ich aber vermochte nicht, wie ich sonst gekonnt und getan, in den Korb zu springen, denn die Kraft war von mir gewichen, und alsbald sah ich mich von den Mäusen, meinen nächsten Freunden und Verwandten, ganz schnöd behandelt; ja sie besorgten sich, am Ende mir etwas geben und mich ernähren zu müssen, deshalb ging eine jede ihres Wegs, und keine sah mich mehr an, als ob ich sie auf das bitterste beleidigt hätte.
   Da sprach ich zu mir traurig in meinem Gemüte diese Worte: Gute Freunde in der Not gehn fünfundzwanzig auf ein Lot; soll es aber ein harter Stand sein, so gehen fünf auf ein Quentlein.
   Wer keine Habe hat, hat auch keine Brüder; wer keine Brüder hat, hat keine Verwandtschaft; wer keine Verwandtschaft hat, hat auch keine Freundschaft, und wer keine Freundschaft hat, der wird vergessen. Armut ist ein harter Stand; Armut macht das Leben krank. Keine Wunde brennt so heftig als Armut. Viel Lob wird dem Reichen, wenn aber der Reiche arm wird, dann wird ihm doppelter und dreifacher Tadel; war er mild und gastfrei, so ist er ein Verschwender gewesen; war er edel und freisinnig, so heißt er nun stolz und streitsüchtig; ist er still und verschlossen, so heißt er tiefsinnig; ist er gesprächig, so heißt er ein Schwätzer. Tod ist minder hart als Armut. Dem armen Mann ist eher geholfen, wenn er seine Hand in den offenen Rachen einer giftigen Schlange steckt, als wenn er Hilfe begehrt von einem Geizhals.
   Weiter sah ich nun, daß der Waller und der Einsiedel die gefundenen Goldgulden zu gleichen Hälften unter sich teilten und fröhlich voneinander schieden; und der Einsiedel legte sein Geld unter das Kopfkissen, darauf er schlief. Ich aber gedachte, mir etwas davon anzueignen, um meine verlorne Kraft wieder zu ersetzen, aber der Einsiedel erwachte von meinem leisen Geräusch und gab mir einen Schlag, daß ich nicht wußte, wo mir der Kopf stand und wie ich in mein Loch kam. Dennoch hatte ich keine Ruhe vor meiner Gier nach dem Gold und machte einen zweiten Versuch; da traf mich der Einsiedel abermals so hart, daß ich blutete und todwund in meine Höhle entrann. Da hatte ich genug und dachte nur mit Schrecken an Gold und Geld und sagte mir vier Sprüche vor in meinen Schmerzen und in meiner Traurigkeit: Keine Vernunft ist besser als die, seine eignen Sachen wohl betrachten und nicht nach Fremden streben. Niemand ist edel ohne gute Sitten. Kein besserer Reichtum als Genügsamkeit. Weise ist der, welcher nicht nach dem strebt, was ihm unerreichbar ist.
   So beschloß ich, in Armut und edlem Sinn zu beharren, verließ des Einsiedels Haus und wanderte in die Einöde. Dort richtete ich mir ein wohnlich Wesen ein und lernte die friedliche Taube kennen, die ihre Hilfe bei mir suchte, dadurch auch du, Freund Rabe, dich zu mir gesellt hast, der mir von seiner Freundschaft zu dir, Schildkröte Korax, viel erzählte, so daß ich gern Verlangen trug, dich kennenzulernen, denn es ist auf der Welt nichts Schöneres als Gesellschaft treuer Freunde, und kein größeres Betrübnis gibt‘s, als einsam und freundlos sein.
   Damit endete das kluge Mäuslein Sambar seine Lebensgeschichte, und die Schildkröte nahm das Wort und sprach gar freundlich: »Ich sage dir besten Dank für deine so lehrreiche Geschichte; viel hast du erfahren, und dein Schatz ist Weisheit geworden, die mehr ist als Gold. Nun vergiß hier bei uns dein Leiden und deinen Verlust und denke, daß das edle Gemüt man ehrt, auch wenn am irdischen Besitz es Mangel hat. Der Löwe, ob er schlafe, ob er wache, bleibt gefürchtet, und seine Stärke geht mit ihm, wohin er geht. Der Weise aber wechselt gern den Aufenthalt, auf daß er kennenlerne fremde Landesart, und zur Begleiterin erwählt er Gold nicht, nein – Vernunft.«
   Wie der Rabe diese Worte hörte, freute er sich herzinnig über die Einigung seiner Freundinnen und sprach zu ihnen freundliche Worte; indem so kam ein Hirsch gelaufen, und als die treuen Tiere ihn hörten, so flohen sie, die Schildkröte in das Wasser, die Maus in ein Löchlein, der Rabe auf einen Baum. Und wie der Hirsch an das Wasser kam, erhob sich der Rabe in die Luft, zu sehen, ob vielleicht ein Jäger den Hirsch verfolge, da er aber niemand sah, so rief er seinen Freundinnen, und da kamen sie wieder hervor. Die Schildkröte sah den Hirsch am Wasser stehen mit ausgestrecktem Hals, als scheue er sich zu trinken, und rief ihm zu: »Edler Herr, wenn dich dürstet, so trinke; du hast hier niemand zu fürchten!« Da neigte der Hirsch sein Haupt und grüßte die Schildkröte und näherte sich ihr, und sie fragte, von wannen er käme.
   Er antwortete: »Ich bin lange im wilden Walde gewesen, da habe ich gesehen, daß die Schlangen von einem Ende an das andere wandelten, und habe Furcht gefaßt, es möchten Jäger den Wald einkreisen, und bin hierher gewichen.«
   Die Schildkröte sprach: »Hierher kam noch nie ein Jäger, darum fürchte dich nicht. Und willst du hier wohnen, so kannst du von unsrer Gesellschaft sein; es ist hier rings gute Weide.« Das hörte der Hirsch gern und blieb auch da, und die Tiere erkoren einen Platz unter den Ästen eines schattenreichen Baumes, da kamen sie alle zusammen und erzählten einander von dem Laufe der Welt und auch schöne Märchen.
   So kamen eines Tages die treu befreundeten Tiere auch zusammen, der Rabe, die Maus und die Schildkröte, aber der Hirsch blieb aus und fehlte. Da besorgten sie sich seiner, ob ihn etwa von einem Jäger etwas begegnet wäre, und der Rabe ward ausgesandt, nach ihm zu spähen und Botschaft zu bringen. Da sah er ihn nach einer Weile im Walde, nicht allzufern von ihrem Aufenthalt, in einem Netz gefangen liegen, kam wieder und sagte das seinen lieben Gesellen an. Sobald die Maus das vernahm, bat sie den Raben, sie zum Hirsch zu tragen, und dort sprach sie zu ihm: »Bruder, wer doch hat dich also überwältigt? Man rühmet doch als der verständigsten Tiere eines dich!«
   Darauf seufzte der Hirsch und sprach: »O liebe Schwester! Verstand schirmt nicht gegen den Urteilsspruch, der uns von oben kommt. Des Läufers Schnelle und des Starken Kraft zerreißt das Netz nicht, das Verhängnis heißt.«
   Wie diese zwei noch redeten, kam die Schildkröte daher, sie war gekrochen, so schnell sie konnte; da wandte der Hirsch sich zu ihr und sprach: »O liebe Schwester, warum kommst du zu uns her? Und welchen Nutzen bringt uns deine Gegenwart? Die Maus allein vermag mich zu erledigen, und naht der Jäger, so entfliehe ich gar leicht, der Rabe fliegt von dannen, und die Maus entschlüpft. Dir aber, die Natur gemachsam schuf, nicht schnellen Schritts, auch fluchtgewandt nicht, dir droht schmähliche Gefangenschaft.«
   Darauf antwortete die Schildkröte: »Ein treuer Freund, der auch Vernunft hat, wird sich nicht wert des Lebens dünken, wenn er um seine Freunde kam. Und wenn ihm nicht vergönnt ist, daß er helfe, so mag er trösten doch nach seinen Kräften. Das Herz aus seinem Busen zieht ein treuer Freund und reicht es seinem treuen Freunde dar.«
   Als die Schildkröte noch sprach, während die Maus bereits das Netz eifrig zernagt hatte, hörten die Tiere den Jäger nahen, da entrann der Hirsch, der Rabe entflog, die Maus entschlüpfte. Der Jäger fand sein Netz zernagt, erschrak, sah sich um und fand niemand als die Schildkröte. Die nahm er, daß es Rabe und Maus mit Bedauern sahen, und band sie fest in einen Fetzen von dem Netz. Die Maus rief dem Raben zu: »O wehe! Weh! Wenn einem Glück kommt, harret er des folgenden, und kommt ein Unglück, überfällt auch gleich ein zweites ihn. Trug ich nicht Leids genug an meines Goldes Verlust, und nun bin ich der liebgewordenen Schwester bar, sie, die mein Herz vor allem lieb gewonnen hat. Weh mir, weh meinem Leib, der aus einem Trübsalsnetz ins andre rennt und dem nichts anderes beschert ist als nur Widerwärtigkeit.«
   Da sprachen Rabe und Hirsch zur Maus: »O kluge Freundin, klage nicht so sehr, denn Klagen ist nicht, was der Freundin frommt, und deine und unsre Trauer macht sie nicht von Banden frei. Ersinne Listen, wie wir sie befreien!«
   Da sann das kluge Mäuslein Sambar eine Weile, dann sprach‘s: »Ich hab‘s. Du, Hirsch, gewinne schnell die Straße des Jägers und falle nahe dabei hin, wie halbtot, und du, Rabe, steh auf ihm, als ob du von ihm äßest. Wenn das der Jäger sieht, so wird er, was er trägt, aus den Händen legen, dann schleppst du, Freund Hirsch, dich gemachsam etwas tiefer in den Wald, damit er dich verfolgt, indes zernage ich das Netz und mache unsre liebe Schwester frei.«
   Dieser Ratschlag ward schnell ausgeführt. Der Hirsch und der Rabe eilten auf einem Umweg dem Jäger voraus und taten, wie die Maus geraten. Der Jäger war gierig, den Hirsch zu erreichen, und warf alles, was er trug, von sich, der Hirsch kroch ins Dickicht, der Rabe flog nach, und der Jäger lief nach, und die Maus zernagte das Netz der Schildkröte und ging mit ihr nach Hause, dort fanden sie schon den Raben und den Hirsch, die schnell dem Jäger aus den Augen gekommen waren. Wie dieser nun zurückkehrte an den Ort, wo er seine Sachen hingeworfen hatte, die er noch dazu eine gute Länge suchen mußte, so fand er das Netz zernagt und konnte sich nicht genug wundern. »Das muß der böse Teufel getan haben und kein guter Geist!« fluchte er und dachte, daß böse Geister und Zauberer diese Gegend innehaben müßten, welche die Jäger in Tiergestalten äfften, ging furchtsam nach Hause und jagte nie mehr in diesem Walde.
   Und da wohnten nun die befreundeten Tiere miteinander in Ruhe, Eintracht und Glückseligkeit, und von Zeit zu Zeit kam auch die Taube in diese schöne Einsamkeit und besuchte die kluge Maus Sambar, ihre liebe Freundin, und brachte Neuigkeiten aus der Welt und allerlei schöne Geschichten, daran alle ihre Freude hatten.


   Zitterinchen

   Es war einmal ein armer Taglöhner, der hatte zwei Kinder, einen Sohn mit Namen Abraham und eine Tochter, die hieß Christinchen. Beide Kinder waren noch sehr jung, als der Vater starb, und gute Menschen mußten sich ihrer annehmen, sonst wären sie umgekommen, so arm waren sie. Das Mädchen wurde eine herrlich aufblühende Schönheit, die nicht ihresgleichen hatte weit und breit. Abraham ward ein kräftiger Jüngling und kam durch Vermittelung eines Gönners als Bediener zu einem reichen Grafen. Ehe er aber von seiner Schwester schied, ließ er sich von einem guten Freunde ihr Portrait malen und nahm es mit sich, denn er hatte sie sehr lieb. Der Graf war mit Abraham sehr wohl zufrieden, bemerkte jedoch öfters, daß er ein Portrait aus dem Busen zog und küßte; er verwunderte sich darüber, da Abraham still und sittsam war und kaum aus dem Hause kam; er fragte ihn deshalb, ob das Portrait seine Geliebte vorstelle, und betrachtete sich‘s genauer, als Abraham sagte, es sei seine Schwester. »Ist deine Schwester so schön«, sagte der Graf, »so wäre sie wohl wert, eines Edelmanns Weib zu sein!«
   »Sie ist noch weit schöner!« entgegnete Abraham. Der Graf war entzückt und sandte heimlich seine Amme nach dem Orte, wo sich Christinchen befand, um sie nach seinem Schlosse zu holen.
   Die Amme fuhr mit einem vierspännigen Wagen vor das Haus von Christinchens Pflegeeltern, grüßte sie von ihrem Bruder und sagte, sie solle mit ihr nach dem gräflichen Schloß fahren. Christinchen sehnte sich sehr, ihren Bruder wiederzusehen, und war bereit zu folgen; sie besaß aber ein Hündchen, das sie einst aus dem Wasser gerettet hatte, das hieß Zitterinchen und hegte große Anhänglichkeit an sie. Das Hündchen sprang mit Christinchen in den Wagen. Die Amme hatte jedoch einen schlimmen Plan gefaßt. Als sie am steilen Ufer eines großen Flusses hinfuhren, machte sie Christinchen auf die Goldfische aufmerksam, die in den blauen Wellen spielten, und da Christinchen unbefangen aus dem Kutschenschlag hinaus sah, stürzte sie sie in den Fluß, während der Wagen weiterfuhr.
   Die Amme hatte eine Base, die schon eine alte Jungfer war; mit dieser hatte sie bereits verabredet, an einem gewissen Ort zu warten, und als der Kutscher seine Pferde tränkte, stieg sie heimlich in den Wagen. Sie trug einen dichten Schleier, und die Amme unterwies sie, dem Grafen zu sagen, sie habe ein Gelübde getan, ihren Schleier innerhalb eines halben Jahres nicht zu lüften.
   Die verhüllte Dame ward vor den Grafen geführt, der sie inständig bat, den Schleier zurückzuschlagen, sie verweigerte es jedoch standhaft, und der Graf ward um so begieriger. Er vertraute der Redlichkeit seines Abraham, der die Schwester ihm noch viel schöner geschildert hatte, als das Portrait war. Er erbot sich daher, sie zu seiner Gemahlin zu erheben. Der Priester ward gerufen und die Trauung vollzogen. Nach dieser Feierlichkeit weigerte sich die Dame nicht länger, den Schleier zu lüften, doch wie erschrak der Graf, als er statt eines jugendlich frischen ein abgeblühtes Gesicht sah! Er geriet in den höchsten Zorn und ließ Abraham in ein Gefängnis werfen, trotz seiner Beteuerungen, daß diese Dame seine Schwester nicht sei; das betrügerische Bildnis ließ er in den Rauchfang hängen.
   Eines Tages hatte der Bediente, der in des Grafen Vorzimmer schlief, eine seltsame Erscheinung. Eine weiße Gestalt stand vor seinem Bette und rasselte mit Ketten und sprach in leisem, wehklagendem Ton: »Zitterinchen, Zitterinchen!«
   Darauf kroch das Hündchen, das bisher im Schlosse geduldet worden war, unter dem Bette hervor, wo es geschlafen, und antwortete: »Mein allerliebstes Christinchen!«
   »Wo ist mein Bruder Abraham?« fragte die Gestalt weiter.
   »Er liegt gar hart gefangen in Ketten und Banden!« versetzte das Hündchen.
   »Wo ist mein Bild?«
   »Es hängt im Rauch.«
   »Wo ist die alte Kammerfrau?«
   »Sie liegt in des Grafen Arm.«
   »Daß‘s Gott erbarm! Nun komm ich zweimal noch, und werd ich nicht erlöst, so bin ich verloren für dieses Leben.«
   Die Gestalt zerfloß darauf wie ein Nebel. Der Bediente glaubte geträumt zu haben und sagte seinem Herrn nichts von der Erscheinung. Aber in der folgenden Nacht ward dieselbe Szene vor seinem Bett aufgeführt, doch rasselte die Gestalt mit ihren Ketten mehr als das vorige Mal und sagte, sie werde nun noch einmal kommen. Diesmal war der Bediente seiner Sache gewiß; er entdeckte den Vorgang seinem Herrn; dieser ward nachdenklich und entschloß sich, die Erscheinung zu belauschen. Er stand um die zwölfte Stunde hinter der angelehnten Türe des Schlafzimmers und lauschte. Endlich sah er die weiße Gestalt plötzlich in dem Dunkel des Vorzimmers auftauchen, hörte sie mit ihren Ketten rasseln und sprechen: »Zitterinchen, Zitterinchen!«
   Und das Hündchen antwortete: »Mein allerliebstes Christinchen!«
   »Wo ist mein Bruder Abraham?«
   »Er ist gar hart gefangen und liegt in Ketten und Banden.«
   »Wo ist mein Bild?«
   »Es hängt im Rauch.«
   »Wo ist die alte Kammerfrau?«
   »Sie liegt in des Grafen Armen.«
   »Daß‘s Gott erbarm!«
   Da öffnete der Graf rasch die Türe, griff nach der Erscheinung und hielt eine schwere Kette in der Hand, die in dem Augenblick sich von der Gestalt abstreifte. Die gespenstische Erscheinung war zu einem holden Frauenbild geworden, das ihn anlächelte und das wohl Ähnlichkeit mit jenem Bilde hatte, aber es an Schönheit noch weit übertraf. Der Graf war entzückt und bat um Enträtselung des Geheimnisses. Nun erzählte Christinchen, wie die alte Amme sie arglistig ins Wasser gestürzt, die Nixen aber hatten sie mit ihren grünen Schleiern aufgefangen und sie in ihren unterirdischen Palast geführt. Sie habe eine der ihrigen werden sollen, habe sich jedoch geweigert, und die Nixen hätten ihr endlich erlaubt, in drei Nächten in des Grafen Vorgemach zu erscheinen. Würden zu diesen dreien Malen ihre Ketten nicht gelöst, so sei sie unwiderruflich verbunden, eine Nixe zu werden.
   Der Graf war über diesen Bericht so erfreut als erstaunt. Abraham wurde seiner Haft entlassen und in die Gunst des Grafen erhoben, in denselben Kerker aber ward die böse Amme geworfen und ihre Base aus dem Schlosse gepeitscht; Christinchens Bild wurde aus dem Rauchfang genommen, und der Graf trug es auf seinem Herzen, Christinchen selbst aber ward seine Gemahlin. Zitterinchen leckte schmeichelnd die Hand der Herrin, als sie ihm aber liebkosend versprach, daß es nun gute Tage bei ihr haben sollte, verwandelte sich‘s in eine schöne Prinzessin, die dem verwunderten Christinchen ihr Schicksal erzählte. Sie war von einer bösen Zauberfrau verwünscht gewesen und war durch Christinchens Erlösung selbst erlöst worden.


   Die drei Gaben

   Es war einmal ein armer Leinweber, zu dem kamen drei reiche Studenten, und da sie sahen, daß der Mann sehr arm war, so schenkten sie ihm in seine Wirtschaft hundert Taler. Der Leinweber freute sich sehr über diese Gabe, gedachte sie gut anzuwenden, wollte aber noch eine Zeitlang seine Augen an den blanken Talern weiden, sagte daher seiner Frau, die nicht zu Hause gewesen war, nichts von seinem Glück und versteckte das Geld dahin, wo niemand Geld sucht, nämlich in die Lumpen.
   Als er einmal auswärts war, kam ein Lumpensammler, und verkaufte die Frau ihm den ganzen Vorrat für einige Kreuzer. Da war groß Herzeleid, wie der Leinweber heimkam und seine Frau ihm erfreut das für die Lumpen gelöste wenige Geld zeigte.
   Über ein Jahr so kamen die drei Studenten wieder, hofften den Leinweber nun in guten Umständen zu treffen, fanden ihn aber noch ärmer als zuvor, da er ihnen sein Mißgeschick klagte. Mit der Ermahnung, vorsichtiger zu sein, schenkten ihm die Studenten abermals hundert Taler; nun wollte er‘s recht klug machen, sagte seiner Frau wieder nichts und steckte das Geld in den Aschentopf. Und da ging‘s gerade wieder so wie das vorige Mal; die Frau vertauschte die Asche an einen Aschensammler gegen ein paar Stückchen Seife, als gerade ihr Mann wieder abwesend war, irgendeinem Kunden bestellte Leinwand abzuliefern. Als er wiederkam und den Aschenhandel erfuhr, wurde er so böse, daß er seine Frau mit ungebrannter Asche laugte.
   Über ein Jahr kamen die Studenten zum dritten Male, fanden den Leinweber fast als Lumpen und sagten ihm, indem sie ihm ein Stück Blei vor die Füße warfen: »Was nutzt der Kuh Muskate? Dir Tropf Geld zu schenken wäre dümmer, als du selbst bist. Zu dir kommen wir auch nicht wieder.« Damit gingen sie ganz ärgerlich fort, und der Leinweber hob das Stück Blei vom Boden auf und legte es aufs Fensterbrett.
   Bald darauf kam sein Nachbar herein, der war ein Fischer, bot guten Tag und sprach: »Lieber Nachbar, habt Ihr nicht etwa ein Stückchen Blei oder sonst was Schweres, das ich an mein Netz brauchen könnte? Ich habe nichts mehr von dergleichen.« Da gab ihm der Leinweber das Stückchen Blei, und der Nachbar bedankte sich gar schön und sagte: »Den ersten großen Fisch, den ich fange, den sollt Ihr zum Lohne haben!«
   »Schon gut, es ist nicht darum«, sprach der zufriedene Leinweber.
   Bald darauf brachte der Nachbar wirklich einen hübschen Fisch von ein Pfunder vier bis fünfe, und der Leinweber mußte ihn annehmen. Dieser schlachtete alsbald den Fisch, da hatte derselbe einen großen Stein im Magen. Den Stein legte der Leinweber auch auf das Fensterbrett. Abends, als es dunkel wurde, fing der Stein an zu glänzen, und je dunkler es wurde, je heller leuchtete der Stein, wie ein Licht. »Das ist eine wohlfeile Lampe«, sagte der Leinweber zu seiner Frau. »Willst du sie nicht vermöbelieren, wie du die zweihundert Taler vermöbeliert hast?« Und legte den Stein so, daß er die ganze Stube erhellte.
   Am folgenden Abend ritt ein Herr am Hause vorbei, erblickte den Glanzstein, stieg ab und trat in die Stube, besah den Stein und bot zehn Taler dafür. Der Weber sagte: »Dieser Stein ist mir nicht feil!«
   »Auch nicht für zwanzig Taler?« fragte der Herr.
   »Auch nicht«, antwortete der Leinweber. Jener aber fuhr fort zu bieten und zu bieten, bis er tausend Taler bot, denn der Stein war ein kostbarer Diamant und noch viel mehr wert. Jetzt schlug der Weber ein und war der reichste Mann im Dorfe.
   Nun hatte die Frau das letzte Wort und sagte: »Siehst du, Mann! Wenn ich das Geld nicht zweimal mit fortgegeben hätte! Das hast du doch nur mir zu danken!«


   Gott Überall

   Es waren ein Paar Geschwister, hießen Görgel und Lieschen, seelengute Kinder, die blieben einmal ganz allein zu Hause; ihre Eltern waren über Feld gegangen und trugen Körbe, die sie von Weiden geflochten hatten, zum Verkauf in die Stadt. Zwar hatten die guten Eltern ihren Kindern, Görgeln und Lieschen, jedem ein ziemliches Stück Brot gegeben, davon sie sich diesen Tag über nähren sollten, allein bald hatte Görgel seines aufgezehrt und verspürte noch Eßlust, hatte aber nichts mehr zu brocken und nichts mehr zu beißen. Lieschen gab ihm noch ein wenig von ihrem Brot, doch auch dieses sättigte den Jungen nicht ganz, und er fing an mit schelmischen Schmeichelworten zu seinem jüngern Schwesterchen zu reden: »Komm, lieb Lieschen, wir wollen ein wenig von dem süßen Rübensaft naschen, den die Mutter draußen im Schrank aufbewahrt, sie merkt es gewiß nicht daran, und es sieht ja auch gar niemand.«
   Aber Lieschen sprach: »Ei, du bist sehr böse, Görgel, wenn du das tust; siehst du nicht die Sonnenstrahlen dort am Schrank? Die läßt der liebe Gott hinanscheinen, und der sieht‘s auch, wenn wir naschen.«
   Da sprach Görgel: »So wollen wir auf den Dachboden gehen, wo die Mutter schöne Birnen liegen hat, davon wollen wir essen, dort ist kein Fenster, kann die Sonne nicht hinein scheinen, und dort sieht uns also der liebe Gott auch nicht.«
   Lieschen weigerte sich anfangs, endlich gingen die Kinder doch nach dem Dachboden; aber hier fielen die gebrochenen Sonnenstrahlen reichlich durch die Lücken der Dachziegel und flimmerten ganz eigentümlich über den Birnen, als wenn sie darauf tanzten, und Lieschen sprach wieder: »O Görgel, auch hier sieht uns der liebe Gott, hier dürfen wir nicht naschen.«
   Sie gingen wieder herunter, und auf der Treppe fiel dem Görgel etwas bei, was er gleich aussprach: »Ei, im Keller hat die Mutter ein Töpfchen voll Rahm (Sahne) stehen, und drunten ist‘s ganz dunkel, da kann unmöglich der liebe Gott hinsehen; komm, laß uns hinuntergehen, Lieschen, komm geschwind, geschwind!« Görgel faßte sein zögerndes Schwesterchen fest an der Hand und zog es schnell mit sich fort, hinunter in den Keller, wo er sorgfältig die Türe von innen zumachte, daß kein Tag hineinscheine und es der liebe Gott nicht sähe, wenn sie von dem Rahm naschten. Aber nach einigen Minuten wurde es ein wenig licht im Keller, Lieschen sah, daß durch eine Mauerspalte die liebe Sonne hereinschien und gerade auf das Rahmtöpfchen, da erschrak das gute Lieschen und ging eilig wieder hinauf in die Stube. Görgel aber blieb, verstopfte ärgerlich die Spalte mit Moos und fing an, von dem Rahm zu essen. Doch wie er im besten Lecken und Schlecken war, rollte ein mächtiger Donner über ihn, und der Blitz zuckte durch die Mauerspalte, daß es ganz hell und feurig im Keller war, und ein schwarzer Mann stieg aus einer Ecke des Kellers, schritt auf Görgel zu und setzte sich ihm gerade gegenüber; er hatte zwei feurige Augen, mit denen er fort und fort nach dem Rahmtöpfchen hinfunkelte, so daß der Görgel vor Angst keinen Finger regen konnte und daß er ganz still sitzen bleiben mußte.
   Indessen war zum Lieschen droben in der Stube ein gar holdes Engelein gekommen, hatte ihm, nebst vielen schönen Spielsachen und Kleidern, auch Zuckerküchlein und süße Milch gebracht und hatte so lange mit Lieschen gespielt, bis dessen Eltern zurückkamen, die mit großer Freude die schönen Sachen betrachteten. Als dieselben nach dem Görgel fragten, erschrak Lieschen, denn sie hatte über den schönen Geschenken von dem Engelskindlein ganz vergessen, daß ihr Bruder im Keller geblieben war, und rief nun: »Ach, du lieber Gott, der ist ja noch im Keller, wir wollen ihn geschwinde holen, vielleicht kann er die Türe nicht wieder aufbringen.« Alle gingen schnell hinunter, machten die Kellertüre auf, und siehe, da saß Görgel noch ganz starr und hielt den Rahmtopf in der Hand.
   Und wie er das Geräusch hörte und seine Mutter sahe, erschrak er heftig und fuhr zusammen und weinte. Und die Mutter nahm ihm den halbgeleerten Rahmtopf aus den Händen, führte ihn heraus aus dem Keller und gab ihm seinen wohlverdienten Plätzer.
   Der Görgel hat aber in seinem ganzen Leben nicht wieder genascht, und wenn später manchmal andre ihn zu etwas Bösem verleiten wollten und zu Taten, die das Licht scheuten, so sagte er immer: »Ich tu‘s nicht, ich gehe nicht mit, der Gott Überall sieht‘s, Gott behüte mich!« Und ist ein durchaus redlicher und braver Mann geworden.


   Die Knaben mit den goldnen Sternlein

   Es war einmal ein junger Graf, der kannte, so schön er auch war, die Liebe noch nicht und hatte daher den Vorstellungen seiner Mutter und seiner Freunde, sich zu verehelichen, noch nicht Raum gegeben. Er fand aber Vergnügen daran, bei Nacht im Dorfe herumzuschleichen und die jungen Burschen und Mädchen zu belauschen, was sie in ihren Spinnstuben trieben, sangen und sagten. Einst nun hörte er ein Gespräch, von dem er selbst der Gegenstand war. »O wenn sich unser guter Graf eine Frau nähme«, sagte das eine Mädchen, »so wollte ich, wenn ich‘s würde, ihm die leckersten Speisen kochen.«
   »Und ich«, fiel eine zweite ein, »wollte ihm seine Kinder recht gut warten und pflegen.«
   »Ich aber«, sprach die dritte, »wollte ihm zwei Knäblein bringen, wenn er mich zur Frau nähme, die sollten goldne Sternlein auf der Brust tragen.« Die andern lachten, der Graf aber hatte allerlei Gedanken und ging auf sein Schloß.
   Am andern Tage ließ er die drei Mädchen rufen, und sie mußten ihm alles noch einmal sagen, was sie gestern miteinander über ihn gesprochen, wenn er eine Frau nähme. Die letzte weigerte sich lange, denn sie schämte sich; als sie aber endlich ihren kühnen Wunsch bekannt, nahm sie der Graf freundlich bei der Hand und sprach: »Du sollst meine Frau sein, wenn du mir zwei Knäblein gebierst, so wie du gesagt hast; wo aber nicht, so will ich dich mit Schmach aus meinem Schlosse jagen.« Das Mädchen willigte ein, denn sie war freudigen Mutes und trug eine verborgene Liebe zu dem Grafen in ihrem Herzen. Die Hochzeit ward demnach begangen, obgleich die alte Gräfin sehr sauer dazu sah. Als nun einige Monde vergangen waren und die junge Gräfin sich guter Hoffnung fühlte, begab sich‘s, daß der Graf in ferne Lande ziehen mußte, und er bat seine Mutter, die gegen ihre Schwiegertochter alle Freundlichkeit erheuchelte, ihm alsbald zu schreiben, wenn seine Gemahlin geboren haben würde.
   Die schwere Zeit rückte heran, und die junge Frau genas zweier holder Knäblein, die trugen goldne Sternlein auf der Brust, sie war aber so erschöpft, daß sie lange in Ohnmacht lag; als sie nun erwachte und nach den Kindlein fragte, sagte man ihr, sie habe zwei ungestalte Katzen geboren, die man ersäuft habe. Darüber jammerte sie sehr, mehr als über das Unglück, das nun folgte. Schmachvoll ward sie aus dem Hause gewiesen, wie eine Bettlerin, und niemand erbarmte sich ihrer als ein Diener; der vertraute ihr heimlich, daß sie zwei schöne Knäblein mit goldnen Sternlein auf der Brust geboren habe; sie seien ihm in einem Korb mit dem Befehl übergeben worden, sie ins Wasser zu werfen, da es Katzen seien; er habe aber den Korb geöffnet, und da ihn die unschuldigen Würmlein gedauert, habe er sie einer Muhme zur Erziehung übergeben. Darüber freute sich die Verstoßene in ihrem Schmerze sehr, dankte dem mitleidigen Menschen vieltausendmal, eilte zu ihren Kindern und lebte mehrere Jahre in verborgener Einsamkeit mit ihnen.
   Die Knäblein wuchsen heran und wurden immer schöner, die arme Frau dachte wieder an ihren Gemahl, wenn er die Knäblein sähe, würde er alles gutmachen, was seine böse Mutter an ihr verschuldet. Da träumte ihr, sie solle unter einen großen Lindenbaum am Kreuzweg gehen, dort werde sie einen Haufen Leinknoten finden, mit denen solle sie sich die Taschen füllen, aber ja nicht mehr nehmen und dann nach Portugal gehen, wo ihr Gemahl in den Liebesnetzen einer Zauberin oder Fee verstrickt sei. Die Frau ging an den Baum, fand die Leinknoten und füllte sich die Taschen damit an. In einem Walde wurde sie von Räubern überfallen und ganz ausgeplündert, so daß sie keinen Pfennig behielt; sie mußte sich durch Betteln weiterhelfen, ihre Füße waren blutig gerissen, und noch war ihres Wegs kein Ende. Da tröstete sie abermals ein Traum in ihrem Elend und verhieß ihr endliches Gelingen. Einst bettelte sie an der Pforte eines schönen Schlosses; die Edelfrau sah ihre Knaben und war von ihrer Schönheit aufs höchste überrascht. Sie bat die arme Frau um einen ihrer Knaben und versprach ihr dafür, jede Bitte zu erfüllen. Der Armen ging es schwer an, eines ihrer Kinder zu missen, aber sie willigte endlich doch ein und bat dagegen um das goldne Spinnrädchen, das die Edelfrau eben vor sich stehen hatte. Diese wunderte sich über das Verlangen, gab jedoch das Rädchen hin, und einer der beiden Knaben blieb bei ihr zurück. Die arme Frau war weiter und weiter gegangen und mußte sich endlich auch noch von ihrem zweiten Knaben trennen, für den sie ein goldnes Weiflein erhielt. Diese beiden Kleinodien verwahrte sie sehr sorgfältig und setzte ihre beschwerliche Wanderschaft fort.
   Nach unendlichen Mühseligkeiten kam sie denn doch in Portugal an und kam an das Schloß, wo ihr Gemahl wohnte. Die Diener erzählten ihr, ihr Herr sei verheiratet, aber noch niemand habe das Antlitz seiner Gemahlin gesehen, da sie nur des Nachts im Schlosse sei, und des Tags wisse niemand, wohin sie gekommen. Als nun die Sonne untergegangen war, schlich sie sich in den Schloßgarten, setzte sich unter das Fenster der Gräfin und drehte ihr Spinnrädlein, daß es wie ein Stern durch die Nacht leuchtete. Dies sah aber die Zauberin, welche die Gemahlin des Grafen war, und trat zu der Frau und fragte sie nach dem seltsamen Spielzeug. Die Frau bot es ihr zum Geschenk an, wenn sie ihr dafür eine Bitte gewähre, sie bitte nämlich, eine Nacht bei ihrem Gemahl bleiben zu dürfen. Die Frau wunderte sich darüber sehr, willigte jedoch ein; heimlich aber gab sie dem Grafen einen Schlaftrunk, so daß er die ganze Nacht nicht erwachte und die verzweifelte Frau an seiner Seite den Morgen heranbrechen sah, wo die Zauberin sie abholte. Den nächsten Abend aber saß sie wieder vor dem Schloß und drehte ihr goldnes Weiflein; die Zauberin kam wieder und mußte ihr dieselbe Bitte gewähren. Diesmal hatte sie‘s versehen und ihrem Manne den Schlaftrunk nicht stark genug gemischt; ehe der Morgen anbrach, erwachte er daher, wunderte sich, die abgemagerte, verkümmerte Frau neben sich zu finden, die nun vor ihm ihr ganzes Herz ausschüttete. Da ergriff den Grafen eine namenlose Sehnsucht nach seinen Kindern, und er versprach ihr, sie wieder als seine Gattin anzuerkennen. Dann stellte er sich schlafend, als die Fee kam und die Frau von dannen führte. Der Fee aber erzählte er, er habe einen sonderbaren Traum gehabt. Ein Mann habe irrtümlich seine Gattin verstoßen und eine andere gefreit; die erste aber habe ihn aufgesucht mit Aufopferung ihres Leibes und ihrer Schönheit. Was der Gatte nun tun solle, wenn sie ihn gefunden? »Dann muß er sich von der zweiten scheiden und zu der Treuen zurückkehren!« sprach die Fee.
   »Du hast dein Urteil gesprochen«, antwortete der Graf und erzählte ihr alles, was geschehen war. Da trennte die Fee sich schmerzlich von ihm. Der Graf aber kehrte mit der treuen Gattin in die Heimat zurück, nachdem er seine Knäblein ausgelöst. Die böse Mutter durfte ihm nicht wieder vors Antlitz kommen; die Gattin dagegen hielt er lieb und wert; den mitleidigen Bedienten belohnte er reich. Die Knaben mit den goldnen Sternlein wuchsen heran zu der Eltern Freude und wurden später wackere Kriegshelden, die viele Schlachten schlugen und gewannen.


   Der wandernde Stab

   In ein Wirtshaus auf einsamer Heide im Norden trat eines Tages ein Mann von ernstem Aussehen. Sein Gesicht war fahl und grau wie Asche, und sein Gewand war braun wie frische Graberde. In der Hand trug er einen Stab von festem dunklen Holze. Diesen Stab stellte er in eine Ecke der Wirtsstube. Im Wirtshause wohnte nur eine alte Frau mit einem Knaben von etwa vierzehn Jahren, nebst einem Knechte und einer Magd. Diese beiden Leute waren draußen beschäftigt; in der Wirtsstube war niemand als die Wirtin und ihr junger Sohn.
   Der düstere Wanderer heischte einen kleinen Imbiß, und die Wirtin ging, diesen herbeizuholen. Der Wanderer blieb allein mit dem Knaben, aber er beachtete den letzteren nicht, sondern trat an ein Fenster, das gen Morgen gerichtet war, und seufzte und stand lange daran und starrte hinaus, über die öde Fläche des Heidelandes.
   Der Knabe betrachtete unterdes mit Neugier den Stab des Fremden. Am Handgriffe dieses Stabes war mit Silberstiften die Figur eines Kreuzes also eingeschlagen:
   Diese Stifte glänzten gar hell, wie neu, und dieser Stock reizte den Knaben; seine Neugier wandelte sich in Habgier um. Scheu blickte er nach dem Fremden, der unbeweglich an dem Fenster stand – scheu streckte Jacob, so hieß der Wirtin junger Sohn, die Hand nach dem Stabe aus. Gleich daneben stand eine alte, hohe Wanduhr mit braunem, geschnitztem Gehäuse. Leise drehte Jacob am Türgriffe des Uhrgehäuses, leise öffnete er dessen Türe, leise faßte er den Stab, und es zitterte seine Hand, als er ihn berührte, aber er nahm ihn und stellte ihn in das Uhrgehäuse und schloß die Türe wieder. Der Stab war weg.
   Jetzt trat die Wirtin, Jacobs Mutter, ein und brachte, was der Fremde begehrt hatte. Hinter ihr schlüpfte Jacob aus der Stube.
   »So, hier wäre es!« sagte die Wirtin zu ihrem einzigen Gaste. »Gesegne es Euch Gott! Setzt Euch doch!« Der Fremde neigte sein Haupt zum Zeichen des Dankes, er nahm das Glas, netzte seine bleichen Lippen, aber er setzte sich nicht. Der alten Frau kam ein Grauen an vor dem Manne; draußen begann schon die Abenddämmerung.
   Die Wirtin wünschte nicht, daß der Fremdling unter ihrem Dache weile, gleichwohl fragte sie: »Wollt Ihr hier übernachten? Schier ist‘s Abend! Seid Ihr nicht müde, da Ihr Euch nicht setzt?«
   »Kann nicht bleiben, muß weiter, muß wandern – wer fragt, ob ich müde bin? Oh!« war die dumpfe Antwort.
   Der Wirtin grausete noch mehr. Der Fremde legte ein Stück Geld auf den Tisch – die Wirtin griff nicht danach. Jetzt ging jener nach der Türe zu, griff in die Ecke und fragte: »Wo ist mein Wanderstab?«
   »Hattet Ihr einen Stab?« fragte die Wirtin.
   »Ich hatte einen Stab und stellte ihn in diese Ecke!« antwortete der hohe, dunkle Mann mit hohler Stimme.
   »Mein Gott! Wo könnte er denn hin sein?« rief die erschrockene Frau. »Sucht ihn – vielleicht irret Ihr Euch? Stelltet den Stock anderswo hin?«
   »Er ist hinweg. Er bringt der Hand dessen, der ihn nahm, kein Glück!« sprach darauf jener dumpf und gepreßt.
   »Genommen?« rief die Wirtin heftig. »Wer sollte ihn genommen haben? Es war ja niemand hier als Ihr und ich – und —«, da stockte sie.
   »Und Euer Sohn!« ergänzte der Fremde.
   »Gott im Himmel!« schrie die Frau auf – und lief alsbald aus der Stube und rief, daß es durch das Haus gellte: »Jacob! Jacob!«
   Jacob antwortete nicht – er hatte sich versteckt und wußte, weshalb ihn die Mutter rief, und fürchtete sich.
   Atemlos kam diese zurück und sprach: »Ich höre und sehe nichts von dem Jungen – ich weiß nicht, tat er‘s oder tat er‘s nicht. Doch harret nur noch einen Augenblick!«
   Die Wirtin ging in die Kammer und kam gleich darauf mit einem zwar alten, aber schönen Stabe zurück, den sie dem Fremden reichte. »Da – nehmt einstweilen den Gehstock meines seligen Mannes – Ihr sprecht doch wohl einmal wieder hier ein! Findet sich der Eure, so gebt Ihr mir diesen dagegen zurück.« »Ich dank Euch, Wirtin!« sprach der fremde Mann und ging. Es war schon sehr düster, Nebel schwebten über den Heidestrecken – in sie hinein schritt der bleiche Wanderer.
   Der Wirtin ward leichter um das Herz, als dieser unheimliche Gast ihr Haus verlassen hatte. Sie nahm das von ihm zurückgelassene Geld – es war eine uralte kleine Silbermünze; die Frau kannte weder Schrift noch Gepräge; sie konnte nicht wissen, daß die Münze unter der Regierung des Römerkaisers Tiberius geprägt worden war, desselben Kaisers, welcher Jerusalem zerstörte.
   Leise ging jetzt die Türe auf – schüchtern drehte Jacob sich in die Stube herein. »Unglückssohn!« kreischte ihm die Mutter entgegen. »Sprich, nahmst du des Fremden Stock?«
   Jacob schwieg – halb aus Trotz und halb aus Angst vor seiner Mutter Zorn und ihrer strengen Strafe.
   »Du schweigst – also nahmst du ihn, du gottvergessener Bube!« schalt die Wirtin. »Wo ist der Stock? Wohin schlepptest du ihn? Gleich nimm ihn und springe damit dem Fremden nach und laß dir von ihm deines seligen Vaters Sonntagsstock wiedergeben, mit dem er in die Kirche ging und den ich dem Fremden lieh, damit er nicht sage, daß er in meinem Hause bestohlen worden sei, durch mein Kind bestohlen!«
   Jacob war ein verstockter Knabe – er blieb stumm, er regte kein Glied, er sagte kein Wort, seine Mutter mochte schelten, wie sie wollte, bis sie in Zorn geriet, ihn heftig schlug und ohne Abendbrot ihn zu Bette gehen ließ.
   Am andern Tage, als die Wirtin in der Küche beschäftigt war, drehte Jacob am Riegelgriff des Uhrgehäuses und öffnete die Türe und langte hinein und zog den Stab heraus. Mit Wohlgefallen betrachtete er ihn und doch auch mit Scheu, denn die sieben Silberstifte funkelten gar so sonderbar, und der Stab war so eiskalt wie eine starre Schlange, und gleichwohl war es, als lebe der Stab. Unwillkürlich zog es Jacob, an diesem Stabe zu gehen, und er ging mit ihm – und ging – und ging – weit, weit von hinnen – über die Heiden hin – längst sah er nicht mehr sein Vaterhaus. Rastlos regte sich der Stab in Jacobs Hand – gegen seinen Willen – und Schauer des Todes durchrieselten den Knaben. Wohin, wohin führte, wohin zwang ihn der Stab? Gehen, gehen mußte er fort und fort, nicht ruhen noch rasten konnte er, an keiner Stelle, an keiner Quelle.
   Endlich, als der Tag sich neigte, als die Nebel wieder über den öden menschenleeren Heiden schwebten, da stand im grauen Nebeldämmer schier gespenstisch vor Jacobs Blick ein düsteres Gehöft, auf das er zuschritt, und endlich ganz verwundert gewahrte, daß er zu Hause sei.
   Übel und mißgelaunt empfing ihn seine Mutter; sie hatte geglaubt, er sei davongelaufen, hatte sich sehr geängstigt, hatte Knecht und Magd ausgesendet, ihn zu suchen, und fast alle Arbeit eines Tages war versäumt worden. Dergleichen sieht niemand gern in einem fleißigen Haushalte. Jacob aber war so müde, o so müde; er wankte auf sein Bette zu und fiel halbohnmächtig darauf nieder; der Stab entsank seiner Hand, ohne daß Jacob es wahrnahm, die Mutter hob den Stab nicht auf, ihr graute vor demselben.
   Eine Woche verging; der Stab stand still im Gehäuse der alten Wanduhr. Jacob entsann sich nicht, ihn wiederum dort hinein verborgen zu haben, und hütete sich wohl, ihn wieder anzurühren, doch sah er ihn von Zeit zu Zeit an, und Schauer überrieselten ihn bei dem Anblick. Im Dunkel des braunen Uhrgehäuses leuchteten hell wie Diamanten die sieben ein Kreuz bildenden Punkte.
   Ein Freitag war‘s, gleich jenem Tage, an welchem Jacob des fremden Wandermannes Stab heimlich genommen und versteckt hatte, und siehe da, mit einem Male war der Stab in Jacobs Hand, ohne daß letzterer sie nach ersterem ausgestreckt, und Jacob mußte wieder wandern, wandern wie das vorige Mal, rastlos, ruhelos, bis am Himmel die Sternlein zu leuchten begannen. Und dann kam Jacob schlagerdenmüde wieder nach Hause, matt und zitternd, bleich im Gesichte, und redete nicht. Und wenn er redete, so war es schaurig zu hören. Durch Dörfer sei er gekommen und habe allen Leuten, die ihm in denselben begegnet, gleich ansehen können, ob sie noch selben Jahres sterben würden oder nicht; den Häusern habe er es angesehen, daß nächstens Feuersbrünste sie verzehren, Fluren, daß der Hagel sie treffen werde.
   Jeden Freitag mußte Jacob wandern – der Stab zwang ihn, mußte sehen alles kommende Weh und Leid aller Orten, wohin der Stab ihn führte, und dann kündete er es daheim der Mutter, der Magd und dem Knechte, und diese kündeten es den einkehrenden Gästen.
   Jacob und seine Mutter verwünschten tausend und abertausendmal den wandernden Stab. Die Mutter sann auf Rat, wie der Sohn des Stabes sich entledigen solle, und Jacob befolgte den Rat. Auf einer der nächsten Wanderungen trat Jacob in ein Gasthaus, stellte den Stab in eine Ecke, verzehrte etwas, zahlte und ging hinweg – ohne den Stab mitzunehmen. Er war aber noch nicht dreißig Schritte gegangen, so kam ihm der Wirt nachgelaufen, schrie überlaut: »Ho! ho! Halt!« – und als er näher kam, rief er: »Ihr habt Euern Stecken vergessen!« und warf Jacob den Stab nach, der sich alsbald von selbst in dessen Hand verfügte.
   Jacob stand am rauschenden Bach! Ha, jetzt hab ich‘s dachte Jacob erfreut – und da flog vom Steg der Stab in die rollende Flut. Es war, als winde sich in dieser der Stab wie eine braune Schlange.
   »Der läuft mir nun nicht wieder nach!« rief Jacob, und erleichterten Herzens kehrte er heim.
   Nicht lange war Jacob das Herz leicht; nicht länger, bis er im Dunkel des Uhrgehäuses das Siebengestirn des Kreuzes unheimlich blinken und funkeln sah.
   Jetzt gab – denn mehr und mehr wurde Jacobs Unglück besprochen – die Magd auch einen Rat. » Vernagelt den Rumpelkasten!« riet sie, »so ist der Gais gestreut. Ob die Uhr geht oder nicht, ist all eins.« —
   Das war ein recht guter Rat, schade nur, daß er vergeblich war. Als der nächste Freitag kam, war der Stab in Jacobs Hand, dieser wußte gar nicht wie, aber er mußte wandern – wandern – wandern – vom Morgen bis zum Abend – und kam nach Hause, müder und elender denn je zuvor.
   »Wenn mir solches Hexenunglück zustieße«, sprach Velten, der kluge Knecht, »ich wüßte lange, was ich täte. Ich hieb den Stecken in Stücke, Punktum!«
   Auch dieser Rat wurde versucht, ob er sich vielleicht erprobe. Leider tat er das nicht – in Stücke zersprang allerdings etwas, aber nicht der Stab, sondern nur die Axt, mit welcher Jacob Hiebe auf ersteren führte, und wie gelähmt sank seine Hand, die den Stiel der Axt machtlos zu Boden fallen ließ.
   Wandern, wandern! Jeden und jeden Freitag, den Gott werden ließ – körperschwach, seelenkrank, der Verzweiflung nahe. Wandern und voraussehen alles Übermaß des menschlichen Elends, das sonst wohltätig dem Auge der Sterblichen eine allweise Gottheit verbirgt. Kriegerscharen, welche die Ortschaften verheerten, Ströme, die sie überfluteten, Herden, mit deren Leichnamen die Pest die Fluren düngte, alles Grauenvolle, was die nächste Zukunft bringen solle, sah Jacob voraus.
   Einst kam er in ein Dorf, darin ein Brand lohete. Haus um Haus ergriff die Flamme, von einem Dache sprang sie zum andern Dache. Wieder durchblitzte ein Gedanke Jacobs Seele. In die Flammenlohe den Stab! Und da flog der Stab – blieb hängen an einem brennenden Dachsparren und wurde rotglühend, dann weiß, und die Silberstifte des Kreuzes flammten bläulich. Jacob ging ohne Stab nach Hause.
   Da schnarrte die Wanduhr, da ging ihre Türe von selbst auf, spottend der Nägel, mit denen sie zugeschlagen war – da stand der Stab – unversehrt. Ohnmächtig sank Jacob in die Arme seiner Mutter – er war vernichtet, und sie sank mit der teuren Last, die sie nicht aufrecht zu halten vermochte, auf ihre Knie nieder und betete heiß und innig und schrie jammernd zum Himmel auf.
   Jacob wanderte, mußte wandern, weit aber konnte er nicht mehr wandern – seine Kraft war erschöpft, der matte Quell seines Lebens begann zu versiegen.
   Zweiundfünfzig Male hatte Jacob wandern müssen, müssen, ob er stand oder lag, es riß der Stab ihn von dannen, ob er die ganze Woche über todesmatt kein Glied zu rühren vermochte – am Freitag erfolgte die Wanderschaft. Doch war der Stab barmherzig, er führte auf kurzem und immer kürzern Wegen ihn um das Vaterhaus; zuletzt war Jacob so sterbensmatt, daß er zu einem Gange von einer Stunde einen vollen Tag brauchte, denn rascher sich fortzuschleppen, war ihm unmöglich, er glich einem zitternden Greise von neunzig Jahren, und die Farbe seines Angesichts glich der Asche.
   Jacob glaubte, daß er endlich sterben werde, und seine Mutter und alle, die ihn sahen, glaubten das nämliche, Jacob hoffte es.
   Da kam am Tage vor dem dreiundfünfzigsten Freitag ein Traum über Jacob. Er sah ganz lebhaft, als ob es wirklich geschähe, die Türe der alten Wanduhr aufgehen, den Stab heraus an das Bette treten, darin Jacob lag.
   Und da hub der Stab an zu sprechen.
   »Jacob«, sprach er, »ich bin ein sehr alter Stab. Mit mir in seiner Hand ging der Erzvater, nach dessen Namen du genannt bist, über den Jordan. Ich ruhete in Moses‘ Hand, da Moses mit Gott sprach, und ward zur Schlange und wiederum zum Stabe.
   Ich ruhete in Aarons Hand und ward wieder zur Schlange und verschlang die Schlangenstäbe der Zauberer Pharaonis. Und wieder ward ich aufgehoben von Moses‘ Hand, und das rote Meer teilte sich unter mir. Zweimal schlug Moses mit mir an den dürren Fels, und es sprang Wasser aus dem Felsen der Wüste und tränkte die Verdürstenden, beide, Menschen und Tiere. Wessen Stab ich nun bin, das kannst du, Knabe, nicht fassen. Du hast große Sünde getan, daß du dem armen Wanderer seinen Stab und seine Stütze heimlich entwendet hast, dafür hast du wandern müssen im finstern Tale und hast kosten müssen des Lebens Bitterkeit. Aber fortan wird der Herr deine Seele erquicken und dich führen auf rechter Straße, um seines Namens willen. Des Herrn Stecken und Stab wird dich trösten.«
   Als der Stab also gesprochen hatte, war es, als umweheten Jacob Flügel der Engel mit Himmelsruhe. Er fühlte keine Ermüdung mehr, er schlummerte ein, er erwachte wie neugeboren.
   Da brach der Freitagmorgen an – es war ein Karfreitag. Jacob glaubte jeden Augenblick, er werde die Wanderung wieder beginnen müssen, aber der Stab kam nicht in seine Hand.
   Gegen Abend sprach Jacob sanft und fromm mit seiner Mutter, von erhabenen und göttlichen Dingen, die Kinder noch nicht verstehen. Da ging die Türe auf, und ein hoher dunkler Wanderer trat ein und grüßte: »Friede sei mit euch!«
   Schauer durchbebten Mutter und Sohn, beide kannten den Wanderer.
   Und da tat sich die Türe des Wanduhrschrankes auf, und der Stab schwebte heraus und in des Fremdlings Hand. Hell durch die abendliche Düsternis leuchtete das Kreuz am Stabe. Der Fremdling aber sprach noch einmal: »Friede sei mit euch!« und wandte sich und ging. In die Seelen von Mutter und Sohn zog heiliger Friede. Der Stab Wehe war wieder von ihnen genommen.


   Die Wünschdinger

   Es war einmal am Nordlandsmeere ein Seekönig, der gebot über vieles Land und viele Schiffe und hatte drei Söhne, die zu ihren Jünglingsjahren gekommen waren, die sollten nun hinaus in die See, tapfere Taten tun, Mut erproben und Gut erwerben. Da ließ der König drei neue, große, stattliche Schiffe bauen und wohl bemannen und ausrüsten, schenkte jedem seiner Söhne eines dieser Schiffe und fragte nun den ältesten Sohn: »Was gedenkst du zu beginnen mit dem Schiffe, das ich dir schenkte?«
   »Damit, mein Herr Vater«, antwortete der älteste Seekönigssohn, »gedenke ich weit übers Meer nach Osten zu fahren und Schätze zu gewinnen von fernen Küsten und Inseln.«
   »Wohl getan!« sprach der König. »Fahre hin und fahre wohl!«
   Hierauf fragte er seinen zweiten Sohn: »Was gedenkest du mit dem Schiffe zu tun, das ich dir schenkte?«
   »Damit, mein Herr Vater«, antwortete der mittelste Seekönigssohn, »gedenke ich weit übers Meer gen Westen zu fahren, neue Lande und Inseln zu entdecken und von ihren Schätzen ein gutes Teil heimzuführen.«
   »Wohl getan!« sprach auch zu diesem Sohne der König. »Fahre auch du hin und fahre wohl!«
   Nun wandte sich der König zu seinem dritten Sohne und fragte: »Was gedenkst du mit dem Schiffe zu tun, das ich dir geschenkt habe?«
   »Ich gedenke, mein gnädiger König, Herr und Vater«, antwortete der jüngste Seekönigssohn, »damit auf Abenteuer auszuziehen und mich Eures hohen Namens und Eurer Liebe würdig zu zeigen, wohin mich auch mein Fahrzeug trage.« Diese Antwort überraschte den König, weil er sie nicht so erwartet hatte, doch ließ sich nichts dagegen sagen, er sprach daher: »Soll mich freuen! Fahre hin und fahre wohl!«
   Nun wurde ein Abschiedsbankett gehalten, und darauf gingen die drei Königssöhne zur See. Eine Zeitlang fuhren sie mit ihren drei Schiffen gemeinschaftlich zusammen, als sie aber in die hohe See kamen, da trennten sie sich – nach Osten, Westen und Süden. Der nach Osten fuhr, kam in das Silberland, allwo es Rubel schneite, und füllte sein Schiff mit Silber, so viel es zu tragen vermochte. Der zweite, der nach Westen gesegelt war, hatte eine ungleich längere Fahrt, kam aber in das Goldland, das man Eldorado nannte, und es gelang ihm, sein ganzes Schiff mit Golde zu befrachten, so viel es immer tragen konnte. Beide Brüder fuhren, der eine mit seinem Silberschiffe, der andere mit seinem Goldschiffe, wieder heimwärts nach ihres Vaters Schlosse, allwo sie wohlbehalten wieder anlangten und freudig empfangen wurden.
   Der dritte Bruder, der nach Süden zu gesteuert war, fand weder ein Silberland noch ein Goldland, überhaupt schier gar kein Land, und schon gingen auf seinem Schiffe die Nahrungsmittel aus. Endlich gewahrte er von fern einen kleinen dunklen Punkt, auf den er lossteuerte, und hoffte mit Zuversicht, dort mindestens ein Brotland zu finden, aber als er näher kam, sah er, daß es eine wüste Insel war, von Korallenriffen umgeben, voll steiler schroffer Klippen und unwirtbarer Felsen; es war das Hungerleiderland, mindestens, wenn es auch nicht so hieß, denn es schien von gar niemand bewohnt zu sein, stand auch auf keiner Land– oder Seekarte, nannte der Königssohn diese unwirtbare Insel so, nachdem er drei Tage auf derselben herumgeirrt war, für sich und seine Mannschaften Nahrung zu entdecken, und nichts gefunden hatte. Vor Hunger fiel er am dritten Tage um und lag in Ohnmacht. Aus dieser erwachend, sah er eine holde Jungfrau vor sich stehen, die ihn mit Anteil betrachtete und ihn fragte: »Wer bist denn du, und wo kommst denn du hierher?«
   »Ach!« ächzte der Königssohn, »wäre ich doch lieber nicht hierher gekommen. Ich bin ein Prinz, der nichts zu essen hat, und komme um vor Hunger!«
   »Ei, wenn dir sonst nichts fehlt, dafür kann ich schon tun! Folge mir, mein Prinz!« sprach das Mädchen, und dem Königssohne klangen dessen Worte wie Musik.
   Seine junge Führerin brachte ihn zu einem Häuschen, in welches beide eintraten, da saß ein altes Spinnfrauchen und war fleißig am Rocken, und das Mägdlein sprach zu der Alten: »Liebes Mütterlein, hier ist ein junger Prinz, der Hunger hat; wollen ihn essen und trinken lassen!«
   »Mitnichten, denke nicht daran!« entgegnete die Alte. »Wünschtüchlein ist wohl im Schreine verschlossen. Geb‘s nicht heraus, nicht heraus!«
   Aber da fing die Tochter der Alten an zu weinen und sich kläglich zu gebärden und rief: »Ich hab‘s ihm doch versprochen! Ich muß ihm Wort halten! Bitte, bitte, bitte schön, gib das Wünschtüchlein heraus!« Darauf schloß die Alte einen Schrein auf und brachte ein leinen Tüchlein hervor, das war wundersam künstlich ausgenäht nach uralter Art und hatte gesteppte Fransen. Das breitete die Alte auf den Tisch und murmelte die Worte:

     »Decke dich, mein Wünschtüchlein
     Für einen Mann mit Speis und Wein.«

   Kaum hatte sie das gesagt, so stand und lag auf dem Wünschtüchlein Brot und Salz, Beizbraten und anderer Braten, gekochter Blaukohl und anderer Kohl, eine Flasche Wein nebst Glas und Messer und Gabel. So gut, wie es ihm diesesmal schmeckte, hatte es dem Königssohne selbst in seines Vaters Schlosse noch nie geschmeckt. Als er satt war, trank er unter Worten des Dankes die Gesundheit seiner beiden Wohltäterinnen und ging nach seinem Schiffe zu, um ehebaldigst weiterzufahren.
   Da kam ihm das junge Mädchen nach und rief: »Nimm mich mit – ich sterbe ohne dich!«
   Er aber antwortete: »Liebes, gutes Kind – mitnehmen kann ich dich nicht, ich würde dich nur ins Verderben führen, geht es mir aber wieder gut, so komme ich und hole dich ab.«
   »Nun, so halte dein Wort!« sprach das Mädchen, »und nimm zum Andenken das Wünschtüchlein und brauche es so, wie du es meine Mutter hast brauchen sehen! Verwahre es gut und vergiß nicht!«
   Der Königssohn nahm hocherfreut das werte Wünschding in Empfang und ging auf sein Schiff, wo die Mannschaft klägliche Gesichter schnitt vor eitel Hunger und schon davon murmelte, das Los zu werfen und einen aus ihrer Mitte in Braten und Kochwildbret zu verwandeln. Der Königssohn aber lachte, ließ eine große Tafel auf das Verdeck schaffen, breitete das Tüchlein darauf und sprach:

     »Decke dich, mein Wünschtüchlein
     Für alle die Meinen mit Speis und Wein.«

   Da machte die Mannschaft einmal Augen, wie die Tafel sich füllte mit Schweinebraten und anderem Braten, Gartensalat und Gurkensalat, Kuhkäse und anderem Käse, Portwein und anderem Wein. Das war ein wahres Festessen, und fröhlich stach man wieder in See. Gegen Abend wurde an einer anderen Insel angelandet, welche der Königssohn ebenfalls untersuchte. Er fand sie gleichfalls unbewohnt und unwirtbar, wurde vom Umherwandern hungrig und müde, setzte sich daher an einen passenden Ort auf den Rasen, breitete sein Wünschtüchlein aus und nahm eine Mahlzeit ein. Da kam auf einmal ein Mann gegangen, der blieb verwundert stehen und sprach: »Wie? Ihr speiset hier vollauf, und ich, der ich vom Sturm an diese Hungerinsel verschlagen bin, falle vor Hunger fast um!«
   »Seid mein Gast!« sprach freundlich der Königssohn und ließ sich das Tüchlein von frischem decken, erzählt‘ auch dem Manne, wie er zu demselben gekommen sei.
   »Ach ja«, sagte der Fremde, »es gibt solche Wünschdinger, nicht alle helfen einem aber etwas. Sehet hier meinen Stab, das ist auch ein Wünschding. Drehe ich den Knopf ab und sage: Hundert – oder tausend – oder hunderttausend Mann, zu Fuß oder zu Pferde, so sind sie da und tun, was ich will, und drehe ich den Knopf wieder auf, so sind sie hinweg. Was hab ich aber davon? Was nützen mir Kriegsmannschaften, wenn ich sie nicht ernähren kann? Soldaten wollen auch leben – und wenn man selbst nichts hat, wie dann? Da lob ich mir so ein braves Wünschtüchlein, um das gäb ich gleich den Wünschelstab.«
   »Nun, da könnten wir ja tauschen, wenn es Euch recht wäre!« sprach der Königssohn.
   »Ihr kommt in der Tat meinem heimlichen Wunsche zuvor, edler Freund!« rief erfreut der Fremde, und der Tausch erfolgte auf der Stelle, worauf die beiden sich trennten. Aber nach einer kleinen Weile drehte der Königssohn den Stockknopf ab und rief: »Hundert Mann zu Pferde!« Da rasselten die Reiter heran. »Holt mir schnell mein Wünschtüchlein!« gebot der König, und wie der Wind vollzog die Mannschaft seinen Befehl, wie der Wind war sie zurück und schwenkte das Tüchlein als Standarte. Da breitete der Prinz das Kleinod aus und rief:

     »Decke dich, mein Wünschtüchlein
     Für hundert Mann mit Speis und Wein.«

   Und er ließ die Mannschaft sich satt essen und satt trinken, wofür sie ihn hoch und abermals hoch und noch einmal hoch leben ließ. Hierauf bedankte sich der Prinz recht schön und schraubte seinen Stockknopf wieder auf, und alsbald verschwand die Mannschaft.
   Hierauf begab sich der glückliche Besitzer der zwei Wünschdinger wieder auf sein Schiff, fuhr weiter und landete am nächsten Tage an einer dritten Insel, auf welcher er wieder umherging, Abenteuer zu suchen. Auf dieser Insel begegnete ihm ein altes Frauchen, das war in einen bunten Mantel, von lauter einzelnen Lappen zusammengesteppt, gehüllt und sah sehr elend aus und ächzte: »Ach, ich falle bald um vor Hunger und Durst, ich habe seit zwei Tagen nichts genossen. Habt Ihr nicht etwas Brot bei Euch?«
   »Nein, altes Mütterlein«, antwortete der Prinz. »Mit Brot trage ich mich nicht. Möchtet Ihr nicht sonst etwas haben von Nahrung? Ich kann Euch geben, was Ihr wünscht!«
   »Ei, du meine Güte!« rief das Frauchen. »Wenn ich doch nur ein Schälchen Kaffee hätte! Es ist mir gar zu hohl im Leibe!«
   Da zog der Königssohn sein Kleinod hervor, breitete es aus und sprach:

     »Decke dich, mein Wünschtüchlein
     Für uns zwei mit Kaffee, Frühstück und Wein.«

   Da deckte sich das Tüchlein mit Tassen und Tellern, mit Kaffeekännchen, Sahnekännchen und Milchkännchen, alles warm, mit Semmeln und Kuchen, Brottorte und Bisquittorte, mit Rohrzucker und Kandiszucker, mit Butter und Honig, mit westfälischem Schinken und pommerscher Gänsebrust, mit Malagawein und Cyperwein. Da lachte das alte Frauchen im ganzen Gesicht und schleckte, was das Zeug hielt, und wurde ganz lustig und warf ihren Mantel in die Höhe; da flogen alle Läppchen einzeln auseinander und fielen rings umher auf die Insel, und wo ein gelbes oder rotes Läppchen hinfiel, da stand ein stattliches Schloß oder eine Villa, wo ein grünes lag, wurde ein Park, wo ein blaues, ein schöner See, da war auf einmal die öde Insel in ein Paradies verwandelt. Das gefiel dem Königssohn über die Maßen wohl, und er sprach zu dem Frauchen: »Um dieses Kleinod, wie Euer Mantel ist, könnte ich Euch fürwahr beneiden.«
   »Ja, ja – er ist recht hübsch«, erwiderte die Alte, »was hilft mir aber der schönste See, wenn nichts weiter darin ist als Wasser, was der größeste Park, wenn das Wild darin nicht gebraten ist, und was das herrlichste Schloß, wenn man in selbigem keinen Kaffee und nichts zu schnabulieren bekommt? Euer Wünschtüchlein wäre mir traun fast lieber.«
   »So laßt uns die Wünschdinger tauschen!« schlug der Prinz vor, und das war die Alte gleich zufrieden, klatschte in die Hände, da wurden die Schlösser, die Parks, die Seen alle wieder bunte Läppchen und setzten sich als Mantel zusammen, den gab das Frauchen in des Prinzen Hand und nahm erfreut aus der seinen das Wünschtüchlein.
   Sie war noch nicht weit, so schraubte jener wieder den Knopf von seinem Wünschelstabe ab, befahl hundert Mann und sein Tüchlein wieder, und auf der Stelle wurde sein Befehl vollzogen. Hierauf begab sich der Königssohn wieder auf sein Schiff und segelte weiter. Am nächstfolgenden Tage wurde abermals eine südliche Insel entdeckt, auf welcher der Königssohn umherstrich. Er fand keine Schätze darauf, ging sich jedoch müde und schlummerte an einer schönen Stelle in einem Wäldchen ein.
   Da weckten ihn wundersamschöne Violinsaitenklänge, er erhob sich und sähe über sich auf einem Felsen einen Geigenspieler sitzen, den er grüßte und ihm seinen höchsten Beifall bezeugte. Der Violinist nahm die Anerkennung des Königssohnes als eine wohlverdiente Huldigung sehr artig auf. Er sagte: »Ich freue mich, daß Ihr ein so richtiges Urteil und einen so guten Geschmack habt. Die Geige ist die Königin aller Instrumente; wer nicht geigen kann, ist ein Tropf, und ich bin hinwiederum der König aller Geigenspieler; alle Violinisten der ganzen Welt sind nur Stümper gegen mich; wenn ich auf einer einzigen Saite nur streiche, man nennt sie die G-Saite, so werden die Menschen verrückt und verzückt, schließen die Augen, fallen vor Wonne um und werden hin. Wenn ich aber die A-Saite streiche, so kommen sie wieder zu sich und schreien alle ah! Ah! und werden wütend vor Entzücken und Narrheit und gebärden sich, als ob die Erde und die gesamte Menschheit nichts Edleres, Besseres und Erhabeneres hervorbringen könne als solch ein bißchen Ohren– und Sinnenkitzel, weshalb ich auch die Narren alle tief verachte und mich mit meiner Geige, nachdem ich mit Gold und Schätzen von dem dummen Volke überhäuft worden bin, in diese Einöde zurückgezogen habe, wo ich nur mir selbst lebe, mich selbst höre und mich anbete, denn eigentlich bin ich ein Gott, mindestens ist mir das, als ich mich früher vor den Völkern hören ließ, häufig zugeschrien worden, absonderlich von verzückten Frauen, die nicht wußten, daß meine Geige eine Wünschelgeige ist, auf welcher sich alles, was ich im Sinne habe, das Erhabenste, Kühnste, Zarteste, Phantastischste und Tollste, von selbst abspielt, sobald ich es nur wünsche.«
   »Das läßt sich in jeder Beziehung hören« sprach der Prinz. »Fürwahr, ich verehre Euch und Eure Geige, doch würdet Ihr mich sehr zu Danke verpflichten, wenn Ihr mir einen Imbiß reichen wolltet; ich bin hungrig und durstig und fand auf dieser Insel nicht das mindeste Genießbare.«
   »O Mann des Erdentumes!« rief der Geiger. »Also meine Töne zu hören, war Euch kein Genuß? Nach Irdischem nur steht Euer Sinnen und Begehren? Wahrhaftig, Ihr tut mir leid. Zu essen und zu trinken gibt es hier kaum hinreichend so viel, als mein schwacher irdischer Leib selbst bedarf. Gar zu gern möchte ich einmal wieder ein Glas Champagner trinken, der sonst an meiner Künstlertafel in Strömen floß, wenn die, welche mich bewirtet, mich vergötterten – davon ist hier keine Rede.«
   »Hm, hm«, machte bedenklich der Königssohn. »So ist es doch gut, daß es außer der Euren auch noch andere schöne Künste gibt, dieweil zwar die Virtuosen, aber nicht die Menschheit von Tönen zur Genüge satt werden. Ich zum Beispiel bin ein Eßkünstler, ein Koch, und da es Euch hier an guten Sachen gebricht und Ihr mich so schön erquickt habt, so will ich Euch nun auch meine Kunst sehen lassen und lade Euch bei mir zu Gaste.«
   »Wo denn?« fragte der Geiger.
   »Gleich hier zur Stelle!« antwortete der Prinz, zog sein Kleinod, breitete es aus und sprach:
   »Decke dich mein Wünschtüchlein
   Für zwei Künstler mit Frühstück und bestem Wein.«
   Da entwickelte das Tüchlein eine Tugend wie noch nie; da kamen Lachs und Kaviar, Sardinen und Anchovis, Bremer Bricken und frische Matjes-Heringe, Hummer und Austern auf den Tisch, und Silleri-Champagner, feinster Burgunder, Jerez und Syrakuser kamen zum Vorschein, und die beiden ließen sich‘s über die Maßen schmecken, und der Geiger wurde ganz fidel, schenkte sein Glas voll Champagner, daß es stark überschäumte, stieß mit dem Prinzen an und jauchzte: »Sollst leben, Koch! Sollst mein Bruder sein! – Bruder! – Du bist auch ein Gott!«
   »Das kann ich alle Tage haben«, lachte der Königssohn.
   »Alle Tage?« lallte der Virtuose. »Höre – Bruder – laß uns tau – tauschen, gib mir das Wünschtüchlein – gebe dir meine Geige dafür – schlag ein, Bruderherz! Alle Tage! Juhu! Alle Tage – ein Gott! – Ein Götterleben!«
   Der Königssohn ging den Tausch ein, nahm die Geige, gab das Tüchlein und ging. Der Geiger nahm das Tüchlein, verwechselte es in seiner Götterseligkeit mit einem Nastuch, schneuzte sich hinein, stolperte, fiel und entschlief, und es war an einem einzigen Manne genug, den der Königssohn sandte, das Tüchlein wieder von ihm zu holen.
   Jetzt beschloß nun der Prinz, die Heimreise anzutreten. Dieselbe ging ganz glücklich vonstatten, und nach langer Fahrt wurde die Küste, die zum Lande des Seekönigs gehörte, erreicht, und der Prinz gelangte in die Nähe des Schlosses seines Vaters. Da es aber bereits Nacht geworden war, so wollte er keine Störung veranlassen, sondern suchte sich im Wildparke nahe dem Schlosse ein schönes Plätzchen, allwo er sich niederlegte und schlief.
   Am nächsten Morgen hatte der König eine Jagd im Wildparke anberaumt, um für seine Tafel einen Hirsch, einiges Damwild und einige Fasanen, die sich überflüssig vermehrten, zu schießen. Da witterten die Jagdhunde im Parke einen Fremden und stürmten kliffend und klaffend nach dem Baume, unter dem der Schläfer lag, da sie aber nahe kamen, rochen sie ihm gleich an, daß er der Königssohn war, ein Kunststück, das nur Hundenasen möglich ist, und schweifwedelten, schlugen Purzelbäume vor Freude, wälzten sich im Grase und trieben ein tolles Wesen. Der König hörte den Hundelärm und kam nun selbst zum Baume und fand, daß sich alldort sein jüngster Prinz vom Schlummer erhob, von den Hunden auf das Freudigste bewillkommnet. Aber der König war keineswegs erfreut über das Aussehen seines jüngsten Prinzen, vielmehr sagte er: »Ei siehe, da bist du ja wieder und schaust aus wie einer, dem die Hunde das Brot genommen. Ich vermeine nicht, daß du Schätze erworben und mitgebracht, und lebte doch seither der frohen Hoffnung, daß du, indem dein ältester Bruder in das Silberland, der zweite in das Goldland gekommen, in das Diamantenland gelangt seiest und von dort mit reicher Fracht zurückkommen würdest, was mir Freude gemacht und dem Lande zum Nutzen gedient hätte, denn ich bin in einen schändlichen Krieg verwickelt mit dem Nachbarn meines Reiches, der mich hart bedrängt und mir bereits viele Orte und Schlösser zerstört hat. Alles Silber und alles Gold, welches deine älteren Brüder mit zur Heimat gebracht, ist aufgegangen für Rüstung und Erhaltung meines Kriegsheeres, und dieses Kriegsheer ist in mehreren Schlachten schon geschlagen worden, so daß die nächste Aussicht die ist, daß unser Feind mein Reich ganz erobert und uns vom Thron und Lande jagt.«
   »Solches wird nicht sein, mein gnädigster König, Vater und Herr!« erwiderte der jüngste Prinz. »Wir werden diesen Dingen eine neue Wendung geben, lasset uns nur gleich aufbrechen nach dem Lager des Feindes, ohne alle Mannschaft!«
   »So?« sagten der König und seine älteren Söhne. »Wir sollen uns selbst dem Leuen in den Rachen liefern? Du bist wohl unter die Mittagslinie gefahren, und die Äquatorsonne hat dir dein Hirn verbrannt? Etwas verrückt bist du jedenfalls geworden.«
   »Selbiges wird sich zeigen«, sprach der jüngste Königssohn. Indem so kamen Eilboten mit der Nachricht, daß der Feind mit starker Heeresmacht von drei Seiten zugleich eingefallen sei und im raschen Anmarsch begriffen, und da meinten der König und seine beiden älteren Prinzen, es bliebe somit nur die vierte Seite zur Flucht übrig. Davon wollte aber der jüngste Prinz nichts hören, vielmehr bat er jene, sie möchten nicht so sehr eilen, schraubte den Stockknopf ab und gebot: »Hunderttausend Mann zu Roß und zu Fuß! Treibt den Feind zu Paaren und reibt ihn auf wie Schnupftabak.« Da wurde die ganze Gegend von streitbarer Mannschaft überwimmelt, daß der König sich nicht genug wundern konnte, und nach einer Stunde war nicht nur kein Feind mehr im Lande, sondern auch das Land des feindlichen Nachbarn völlig erobert. Hierauf breitete der Königssohn sein Wünschtüchlein aus und sprach:

     »Nun feiern wir das Siegesmahl!
     Decke dich, mein Wünschtüchlein
     Für hunderttausend Mann mit Speis und Wein.«

   Da wurde abermals gehörig eingehauen, und das Traubenblut floß in Strömen. »Zur Festfreude gehört nun auch Musik!« rief der Prinz, »man veranstalte ein großes Konzert, ich werde mich populär machen und mich selbst hören lassen, und zwar zum Besten der Armen!« Solches geschah, der Prinz gab ein Violin-Solo zum besten, erst spielte er etwas Allgemeines, wodurch er allgemeinen Beifall errang, dann etwas Besonderes, das ihm ganz besonderen Beifall erregte, dann auf der G-Saite, davon alles hin wurde, dann auf der A-Saite, dadurch alles ah! und bravo! schrie. Der König, seine älteren Prinzen und sein ganzer Hofstaat kamen vor Erstaunen und vor Verwunderung gar nicht zu sich selbst. Desto mehr blieb der jüngste Prinz bei sich, er sagte: »Lasset uns, was der Feind zerstört hat im Lande, schöner wieder herstellen, lasset uns unser tapferes Heer in guter Kriegsbereitschaft erhalten, lasset uns auf Landesverschönerung denken, dadurch heben wir des Landes Flor!« Und zog den Wünschmantel hervor und warf ihn in die Luft, da wurde das ganze Land voll neuer Schlösser und Villen und Parks und Seen, und dann wurden aus einigen Schlössern schöne Kasernen gemacht, da kamen die Soldaten hinein und in die Villen die Obersten und Hauptleute, und hernach gab sich alles übrige von selbst. Mit dem Wünschtüchlein schaffte der Prinz dem Lande Nahrung und Wohlstand, mit dem Wünschelstabe, den er Generalstab nannte, schaffte er ihm eine selbstbewußte Macht und zugleich Respekt von Seiten der Nachbarn, mit dem Wünschelmantel hob er das Land zur Blüte, beförderte den Luxus und dadurch Handel und Gewerbe und dadurch nun ein wohlhabendes Bürgertum, und mit der Geige förderte er die schönen Künste und hob den Geschmack, indem er zugleich den einseitigen und einsaitigen Ungeschmack steuerte.
   Zugleich fuhr er hinweg, holte jenes Mägdlein von der einsamen Insel, die ihm zuerst sich so gut und hilfreich erzeigte, und erhob sie zu seiner Gemahlin, indem er sagte: »Sie hielt mir Wort, und mir ziemet, auch ihr Wort zu halten.« Ach, wenn doch alle Prinzen solche Wünschdinge hätten und, für diesen Fall, so guten Gebrauch von ihnen machten, wie dieses Muster vom Sohne eines Seekönigs! Schade, daß selbiger nicht ein Landkönigssohn war!


   Das blaue Flämmchen

   Einst lebte ein einzelner alter Herr in einem uralten Hause, bei dem blieb selten ein Gesinde lange, und alle die Dienstboten, die er gehabt, erzählten, es sei nicht recht geheuer in dem Hause; man höre Gespenster rumoren, sehe Flämmchen an dunklen Orten und werde auch auf sonstige Weise von Spukdingern geschreckt. Nun geschah es, daß bei diesem Herrn abermals eine neue Magd einzog, welche Anna hieß, und nach der ersten Nacht fragte der Herr die Dienerin, wie sie geschlafen habe, denn er besorgte sich, schon wieder Klage über Geisterspuk im Hause zu vernehmen. Die muntere Magd aber antwortete ihm, sie habe ganz gut geschlafen. Eine gleiche Antwort auf die gleiche Frage erfolgte auch am zweiten Morgen. Am dritten Morgen aber verschlief sich die Magd, war denn verlegen und sagte: »Mir war die ganze Nacht, als tanze um mein Bette herum ein bläuliches Lichtlein, und das flüsterte fort und fort: ›Geh, Ann, geh, Ann!‹ so daß ich nicht eher einschlafen konnte als gegen Morgen beim ersten Hahnschrei.«
   Wie nun einige Nächte hintereinander diese Beunruhigung fortdauerte, so zeigte das Mädchen Neigung, den neuangetretenen Dienst wieder zu verlassen; das war dem Herrn leid, und er sagte zu der Anna: »Weißt du was, Anna, sprich doch einmal mit dem Herrn Pfarrer darüber, vielleicht kann dieser dir einen guten Rat erteilen!«
   Der Geistliche sagte nun zur Anna, als diese ihn fragte: »Wenn das blaue Licht ein Geist ist und dich ruft, so ziehe dich schnell an und folge ihm, sei aber dabei sorglich auf deiner Hut, daß du nichts von ihm annimmst, nichts ergreifst, was er dir bietet, nichts tust, was er dir heißt, und daß er dir stets voran gehe. Tust du nach diesem Rate, so kann es dein Glück sein.« Abends war die Magd kaum ins Bette, so tanzte das blaue Flämmchen wieder um dasselbe herum und flüsterte wieder: »Geh, Ann, geh, Ann!«
   »Wenn es denn sein muß«, sagte Anna, indem sie aus dem Bette und rasch in die Kleider fuhr, »so gehen wir.«
   »Geh, Ann!« flüsterte das Flämmchen.
   »Geh du voran!« sprach Anna, und da flackerte das Flämmchen vor ihr her, über einen Gang, die Treppe hinunter, bis vor die Kellertüre.
   Dort flüsterte das Flämmchen wieder: »Schließ auf, Ann!«
   »Schließ du auf!« sagte Anna, »ich habe keinen Schlüssel.«
   Da schien das Flämmchen die Gestalt eines kleinen weißen Weibleins zu gewinnen, das hauchte gegen das Schlüsselloch, und da ging die Kellertüre auf. Jetzt schwebte die bläulich schimmernde Gestalt die Kellertreppe hinunter vor Anna her, nach des Kellers hinterster Ecke. Dort lehnte eine Hacke an der Mauer, und das Weibchen, dessen bläulicher Lichtschimmer den Keller leidlich hell machte, deutete auf das Werkzeug und flüsterte: »Hacke hier ein Loch, Ann!«
   »Hacke du ein Loch!« sprach Anna, »ich brauche keins.«
   Und da ergriff das Weiblein wirklich die Hacke und arbeitete tüchtig darauf los; nach kurzer Weile kam ein Kesselchen zum Vorschein, darinnen lagen allerhand schöne Sachen, alte Goldmünzen und Schmuck von guten Perlen und Edelsteinen. »Heb, Ann! Heb heraus, Ann!« flüsterte der Geist.
   Aber Anna sprach ganz ruhig: »Hebe du heraus, ich könnte mir Schaden tun.« Da hob auch das Weiblein das Kesselchen aus dem Boden und setzte es vor Anna hin, daß es klang und klirrte, das viele Gold und Silber, welches darinnen lag.
   »Trag‘s h‘nauf, Ann, in deine Kammer!« flüsterte das Frauchen.
   Doch Anna sagte: »Trag‘s selber h‘nauf. Mir ist‘s zu schwer.«
   Da hob das Weiblein das Kesselchen und flüsterte wieder: »Geh, Ann, geh, Ann!«
   Und Anna erwiderte: »Geht nicht an! Der Leuchter geht voran!« So ging denn auch das Weiblein wieder aufwärts voran, aber langsam, denn es trug schwer an dem Kesselchen und ächzte und stöhnte alle die Treppen hinauf bis in Annas Bettkammer. Da setzte es das Kesselchen hin, und Anna legte sich wieder in ihr Bette, und um das Bette tanzte wieder das bläuliche Licht. Da schlug Anna ein Kreuz und sprach: »Hast du mir geholfen, so helfe dir Gott Vater, Gott Sohn, Gott heiliger Geist in das ewige Himmelreich, Amen!«
   Da stand noch einmal das weiße Weiblein in klarer Gestalt vor Anna, und sein Gesicht leuchtete im Schimmer reinster Freude – dann verschwand es plötzlich. Anna schlief ruhig ein, und als sie am Morgen erwachte, glaubte sie, es habe sie das alles nur geträumt. Aber siehe da – das Kesselchen war noch vorhanden, und ein ansehnlicher Schatz war ihr beschert. Nie spukte wieder ein Geist im Hause des alten Herrn.


   Undank ist der Welt Lohn

   Es war einmal ein armer Bäckergeselle, der kam mit seinem Herrn in Streit, weil der Geselle immer die Semmeln und Fastenbrezeln dem Herrn zu groß machte und der Herr dieselben stets unchristlich klein haben wollte. Der Geselle war der bravste und ehrlichste Bursche von der Welt und hatte durch seine Heiterkeit und durch Fleiß seinem Meister vielen Zuschlag verschafft, allein das half ihm alles nichts, und der Meister sprach: »Ich bin der Meister, und vor der Tür ist dein.«
   Da seufzte der Bursche:

     »Jawohl, Meister!
     Die Semmeln bleiben klein,
     Und vor der Tür ist mein.«

   Er schnürte darauf sein Bündel und zog von dannen.
   Da der Bäckergeselle eine Weile gewandert war, sah er einen Wanderer schwerfälligen Schrittes und gebeugten Ganges sich entgegenkommen, grüßte ihn und fragte ihn, was er sei und wohin er gedenke. Der Wanderer hatte so vielen Freimut, das offen zu bekennen, was so mancher Mann um keinen Preis der Welt von sich sagen würde, indem er sprach:
   »Ach Freund! Ich bin ein armer alter Esel. Lange Zeit habe ich meinem Herrn, einem Müller, treu gedient, die schweren Säcke fort und fort geschleppt, Korn in die Mühle, Mehl aus der Mühle, habe viele Schläge bekommen hin und viele Schläge her, bin darüber alt und kraftlos geworden, und darum hat mich der Müller fortgejagt, denn: Undank ist der Welt Lohn.«
   »Ging mir‘s doch kaum besser als dir, armes Langohr!« sagte der Bäckergeselle. »Komm, laß uns zusammen wandern, Müllerlöwe. Bäcker und Müller gehören zusammen.« Die beiden Reisegefährten waren noch nicht weit miteinander fortgegangen, als ihnen ein Hund aufstieß, der ganz erbärmlich winselte, denn ihn fror und hungerte zu gleicher Zeit. Er lag am Wege, konnte kaum fort und blickte aus matten, doch treuherzigen Augen die beiden Wanderer an.
   »Dir scheint es auch nicht zum besten zu gehen, alter Sultan, oder wie du sonst heißen magst, scheinst fürwahr ein kranker Mann zu sein; siehst aus, als wäre dir schon dein letztes Brot gebacken!« sprach der Bäcker zum Hunde.
   »Ach, wenn du doch wahr sprächst!« seufzte der Hund, »wenn doch nur ein Stückchen Brot für mich gebacken wäre, möcht es immerhin mein letztes sein, daß ich nur nicht Hungers sterben müßte! Lange Jahre bewachte ich meines Herrn Haus und Hof, rettete ihm mit Gefahr meines eigenen Lebens das seine vor der Hand eines Raubmörders, aber nun, da meine Stimme schwach und heiser geworden ist vom vielen Bellen, meine Zähne stumpf sind und meine Morgenstunde nicht mehr Gold im Munde hat, sondern Schlaf, so hat mich mein Herr mit Prügeln von seinem Hause und Hofe hinweggejagt, denn: Undank ist der Welt Lohn!«
   »Du armer Hund, du armer Schlucker!« bedauerte der Bäckergeselle, indem er ihm ein Stück Brot reichte, den Hund. »Komm, geselle dich zu uns, denn gleich und gleich gesellt sich gern.«
   Mit neubelebter Kraft durch das Brot schloß sich der Hund den beiden Wanderern an.
   Wie nun alle drei weiter schritten, erblickten sie auf einem Seitenwege, der von einem andern Orte her nach der Hauptstraße zog und in diese ausmündete, ein seltsames Pärchen daher geschritten kommen, und blieben vor Verwunderung alle drei stehen. Es waren eine alte Katze und ein alter Gockelhahn, der fast nur noch eine Feder in seinem Schweife hatte. Beide Wanderer waren sehr ermattet und vermochten nicht rasch zu gehen.
   Als die drei Wanderer mit den zweien, die ihnen jetzt aufstießen, die Grüße der Höflichkeit gewechselt hatten, klagte die Katze, welche sehr dürr aussah und nicht bloß so aussah, sondern auch wirklich äußerst dürr war, daß sie mit der größten Tätigkeit und voller Fleiß und Eifer die Mäuse im Hause einer Frau weggefangen habe, aber nun, da die Mäuse alle seien und sie, die Katze, alt geworden sei, habe die Frau sich eingebildet, eine Katze lebe stets nur von Mäusen, und habe ihr nicht das mindeste zu essen gegeben. Da nun sie, die Katze, vollends aus Hunger und schrecklichem Durst den Versuch gewagt habe, etwas weniges aus einem Milchtopf zu naschen, worüber, da die Frau sie bei sotanem Versuch ertappt habe, durch ihren Schrecken und ganz ohne Vorsatz der Milchtopf umgefallen, so sei die Frau wie eine Furie auf sie, die arme unschuldige Katze, losgefahren und habe auf sie losgeschlagen, erst mit dem Besen, hernach mit der Ofengabel und mit der eisernen Feuerzange, so daß Frau Mienz nur dadurch ihr Leben habe retten können, daß sie durch eine Fensterscheibe hindurchgebrochen, wobei sie sich Nase, Ohren und Füße an dem Glase jämmerlich zerschunden habe. »Ach!« so schloß die Katze mit einem tiefen Seufzer, »Undank ist der Welt Lohn!«
   Als nun die Katze mit der Erzählung ihres letzten traurigen Schicksals zu Ende war, begann der Hahn zu sprechen und berichtete, wie er allezeit munter und wachsam, auch tapfer, furchtlos und treu auf seinem Hofe gewesen, weil aber das Hühnervolk aus Faulheit und Auflehnungssucht und ganz ohne sein, des Gockels, Verschulden nicht mehr recht Eier legen wollen, und das faule Gesinde, wenn es sich verschlafen gehabt, die Schuld auf ihn geschoben und gesagt, er wecke sie nicht mehr durch sein Krähen, er schlafe selbst zu lange, so sei ein junger Hahn voll Kraft und Mut und Feuer angeschafft worden, der habe ihn alsbald vom Hofe und von den Hennen weggebissen, und die Köchin habe gesagt: »Den alten Gockel kann man nun schlachten; sein Fleisch wird zwar nicht zwischen die Zähne taugen, vielmehr zu zäh sein, aber eine gute Hühnersuppe gibt es doch noch.« – »Als ich das hörte«, schloß der Hahn betrübt seine Erzählung, »beschloß ich auszuwandern und stieß unfern des Dorfes, wo ich wohnte, auf meine Gefährtin, die Katze. Wir klagten uns unser gemeinsames Leiden und seufzten oft: Undank ist der Welt Lohn!«
   Den guten Bäckergesellen rührte gar sehr das traurige Schicksal dieser Tiere, das mit dem seinigen einige Ähnlichkeit hatte, und er beschloß, ihre Gesellschaft beizubehalten und zu sehen, ob ihm vielleicht Gelegenheit würde, zu prüfen, ob die Tiere nicht dankbarer seien als die Menschen, denn er hatte einmal ein Märchen gelesen, betitelt: »Die dankbaren Tiere«, dessen er sich noch gar wohl erinnerte und worin die Dankbarkeit mehrerer Tiere gegenüber der des Menschen geschildert war.
   Da nun die kleineren Tiere sehr schlecht auf den Beinen waren, der Hahn als bespornter Ritter große Märsche nie gemacht hatte, der Katze die zerschundenen Pfoten, in denen noch einige Glassplitterchen steckten, heftig schmerzten, und dem Hunde alle Knochen im Leibe wehtaten, so redete der Bäcker dem Esel lieblich zu, er möge doch den Hund auf sich reiten lassen, und der Esel sagte: »Ja – meinetwegen. Der Hund ist noch lange nicht so schwer als drei Säcke Korn, auch nicht so schwer als einer, auch rühmte mein Müllermeister stets, wenn er frühmorgens, nachdem er abends vorher zu viel getrunken, den Katzenjammer hatte, man müsse Hundshaare auflegen, Hundshaare seien sehr heilsam.«
   Also sprach der Esel, der Hund kletterte auf seinen Rücken, setzte sich fest und lachte seit langer Zeit zum ersten Male wieder und sprach:
   »Daheim schlief ich immer bei dem Pferde, jetzt trifft an mir das Sprichwort zu: Er ist vom Pferde auf den Esel gekommen.«
   »Nun aber wirst du die Katze tragen«, sagte der Bäckergeselle zum Hunde; dies war dem nicht ganz lieb; er schabte sich mit seiner rechten Vorderpfote hinter dem linken Ohre und antwortete:
   »Fürchtest du nicht, daß wir uns miteinander vertragen werden wie Hund und Katze?«
   »Nein«, meinte der Bäckergeselle, »ihr müßt euch gut und anständig betragen, denn das Sprichwort sagt: Die Katz kommt über den Hund.«
   Darauf tat die Katze zwei Sätze, einen auf den Esel und den zweiten auf den Hund, lachte und rief: »Das Sprichwort sagt: Kommt man über den Hund, so kommt man auch über den Schwanz!«
   Nun wollte der Hahn auch aufsitzen, und zwar auf die Katze, die machte aber einen garstigen Katzenbuckel und sagte: »Es steht nirgends davon geschrieben, und es ist auch kein Sprichwort darüber vorhanden, das den Hahn mit der Katze in Verbindung bringt.«
   »Tue es nur, und wär es mir zuliebe!« redete der Bäcker zu.
   »Gut, ich will es tun, aber unter folgenden drei Friedensbedingungen: Erstens muß er sich ganz anständig aufführen, da ich ein Tier bin, welches die Reinlichkeit über alles liebt; zweitens darf er mich nicht krallen, sonst kralle ich ihn wieder, denn es steht geschrieben: Wie du mir, so ich dir. Drittens darf er sich nicht einfallen lassen zu krähen, denn sein Gesang beleidigt mein Zartgefühl und verletzt meine Nerven. Ein ganz anderes wäre es, wenn er, der Hahn, so wonnevoll und wunderschön zu singen verstände wie ich, zumal in März– und Maimondnächten, in denen vor meinem melodischen Gesänge selbst die hochgepriesenen Nachtigallen verstummen und mir bewundernd zuhören, was eine allbekannte Sache ist.«
   »Iah!« schrie der Esel! »Dieses hat seine Richtigkeit. »Anch‘io sono – auch ich bin ein Gesangvirtuose, aber die Nachtigall ist ein neidischer Vogel, das hat schon ein berühmter deutscher Dichter, des Namens Bürger, ausgesprochen, denn dieser schrieb:

     Es gibt viel Esel, welche wollen,
     Daß Nachtigallen tragen sollen
     Des Esels Säcke hin und her;
     Ob nun mit Recht, fällt mir zu sagen schwer.
     Dies weiß ich: Nachtigallen wollen
     Nicht, daß die Esel singen sollen.
     Und so werden sie es ohne Zweifel mit den Katzen auch halten.«

   Nach diesen Wechselreden kam der Friedensvertrag zustande, nach dem Sprichworte: Eintracht macht stark, daß der Esel den Hund, der Hund die Katze, die Katze den Hahn tragen solle, doch nur auf ihrem Buckel, nicht auf dem Kopfe, und es war lustig anzusehen, wie sich die Viere nun so einträchtig betrugen.
   Mittlerweile stellte sich die Nacht ein; Hunger und Durst hatten sich indessen schon früher bei den vier Wandergefährten eingestellt, aber weit und breit zeigte sich kein wirtliches Dach zur Einkehr und Labung; der Weg führte durch einen unwirtbaren Wald. Endlich spitzte die Katze die Ohren und rief: »Ich höre von ferne einen Lärm, der fast wie der Jubel eines Gelages klingt.«
   Da schnupperte der Hund mit seiner Nase in die Luft und sprach: »Ich rieche schon den Braten!«
   Und der Esel stimmte bei: »Ich schmecke schon im voraus die gute Abendmahlzeit und die Süßigkeit der Nachtruhe!«
   »Freunde!« rief der Bäckergesell, »das ist alles recht schön und gut, ich fühle ganz eure angenehmen Empfindungen, allein der Katze Hören, des Hundes Riechen, des Esels ahnungsvolles Schmecken und mein Fühlen hilft uns nichts, wenn wir nicht sehen, wohin wir uns wenden sollen.«
   Als der Hahn diese Rede vernahm, flog er vom Rücken der Katze hinweg auf einen Baum und krähte fröhlich: »Kikeriki! Ich sehe ein Haus, darin alle Fenster lichthell sind, und darin sicherlich ein Schmaus gehalten wird! Kikeriki!«
   »Wohlan!« rief der Bäckergeselle, »dorthin wollen wir uns wenden!« Und rasch nahm der Hahn die bisher behauptete hohe Stellung auf dem Rücken des Katzenbuckels, wie ein Affe auf dem Kamel, wieder ein, und Meister Baldewein, der Esel, trabte sachte mit seiner tierischen Pyramide nach jenem Hause, das der Hahn gesehen hatte, welches mitten in einer tiefen und trostlosen Einöde lag, von rauhem Wald und steilen Felsen umgeben, und allwo es grausig und unheimlich war. Dieses Haus war ein einsames Waldwirtshaus, nur von einem Wirte bewohnt, und man wußte darin, was man bisweilen nicht weiß, sehr genau, nämlich wer Koch oder Kellner sei, weil der Wirt beide Würden in seiner eigenen Person vereinigte.
   Wenn aber jemand ernstlich Hunger hat, so fragt er weder nach Heimlichkeit noch nach Unheimlichkeit eines Hauses, sondern geht geradezu. Nun wurde in diesem Hause wirklich ein Fest gefeiert: Die Füchse hielten allda eine Hochzeit, und auf dieser ging es hoch her; es fehlte nicht an allerhand Braten und sonstigen guten Sachen und auch nicht an allgemeiner Heiterkeit. Welch ein Schreck entstand aber, als die Wandergesellschaft plötzlich in die Festhalle trat und mitten unter die Generalversammlung der Beisassen des Hochzeitsmahles! Durch Fenster und Türen gab alles Fersengeld, selbst der Wirt entfloh, denn derselbe dachte, der Teufel käme leibhaftig in Gestalt eines grotesken Monstrums oder Wundergeschöpfes, und den Bäckergesellen hielten die Füchse für einen wilden Jäger.
   Hinter dem Hause war eine recht schaudervolle Stelle, an welcher die Füchse insgemein einander gute Nacht sagten, dies taten sie denn nun auch heute ganz besonders betrübt und zerstreuten sich in die Büsche; der Wirt aber wußte gar nicht, was er außerhalb seines Hauses beginnen sollte – um so besser aber wußten seine fünf ungebetenen Gäste, was sie innerhalb desselben beginnen sollten, nämlich sich‘s sattsam gut schmecken und vergnüglich wohl sein zu lassen, und als sie zur Genüge getrunken und gegessen hatten, suchte jeder Gast die für ihn geeignete Schlafstätte. Der Bäckergeselle legte sich in das Bette des Wirtes, die Katze wählte die Ofenbank, der Hund die Türschwelle vor der Kammer, in welcher sein Schutzherr schlief, der Hahn klomm die Stiege des Hühnerhauses hinan, und der Esel trabte bedächtig dem offenen Stalle zu; alle befanden sich, jedes an seinem Orte, völlig wohl.
   Nun aber kam der Wirt geschlichen, der wollte doch sehen, wie es um sein Hauswesen stehe, ob es überhaupt noch stehe und ob sich mit dem bösen Feinde, der darin Besitz genommen, nicht ein Abkommen und Übereinkommen treffen lasse. So wie der Wirt aber in seinen Hof trat, krähte der Hahn; davon erwachte der Hund, und als der Wirt in den Flur des Hauses trat, biß ihn der erstere tüchtig in das Bein; der Wirt flüchtete in die Stube, da fuhr die Katze fauchend auf ihn ein und kratzte ihn – eiligst entfloh der Wirt und suchte im Stalle Schutz, da stand der Esel und feuerte hinten hinaus und schlug den Wirt, daß ihm gar wehe ward, er wieder von dannen rannte und den letzten Füchsen in des Häuschens Nähe sein Leid klagte.
   Als es nun Tag geworden war, so erwachte der Bäcker, und die Tiere erzählten ihm, was es in der Nacht noch zwischen dem Wirt und ihnen für ein Spektakel gegeben habe und wie schlimm jenem von ihnen mitgespielt worden sei. Der Bäcker tadelte dieses feindselige Benehmen gegen den rechtmäßigen Besitzer des Waldhäuschens und entsandte den Hund, den Wirt zu suchen und herbeizubringen. Da nun der Wirt mit Zittern und Beben wieder erschien, so entschuldigte der Bäckergeselle sich höflich für das Vorgefallene und sagte, er sei mit seinen Tieren gar nicht in feindseliger Absicht gekommen, es hätte niemand davonzulaufen gebraucht. Der Wirt sollte die Wirtschaft in dem stillen Waldhäuschen nur auf Rechnung des Bäckers fortführen, aber, des Hahnes wegen, den Füchsen das Haus fernerhin verbieten, denn der Hahn müsse gänzlich in Ruhe bleiben, krähen oder nicht krähen dürfen, wie es ihm als wohlbestallten Emeritus gefalle. Der Esel solle im Stalle Gnadenheu und Gnadenhafer erhalten, und gutes Stroh zur Streu, falls er sich wälzen wolle, oder auch zum Spaziergang eine grüne Wiese. Die Katze solle durch ihre würdige Haltung Mäuse und Ratten in gehöriger respektvoller Entfernung vom Hause halten und alle Tage Weck und Milch speisen. Der Hund aber solle und dürfe, so lange es ihm beliebe, in der Sonne liegen und mit dem Monde sprechen. Der Bäcker aber wolle für alle arbeiten, das Brot backen, dem Wirte beim Bierbrauen und Biertrinken helfen, auch den Küchengarten bestellen und mit gekochtem Essen umgehen. Das waren alle Beteiligten wohl zufrieden. Zum Andenken ihrer Wanderung und des neugeschlossenen Bündnisses pflanzte der Bäckergeselle in den Haus– und Küchengarten Schmackedusen– und Löffelkraut, Hahnenkamm, Katzenpfötchen, Hundszunge und Eselsgurken, und alle lebten fortan vergnüglich beisammen und vergaßen den schnöden Lohn der Welt, den schnöden Undank.


   Der Wacholderbaum

   Es ist nun schon lange her – wohl zweitausend Jahre —, da war einmal ein reicher Mann, der hatte eine schöne, fromme Frau, und die hatten sich beide recht lieb; aber sie hatten keine Kinder, sie wünschten sich aber gar sehr welche, und die Frau betete oft darum Tag und Nacht, aber sie kriegten keine und kriegten keine. Vor ihrem Hause war ein Hof, auf dem stand ein Wacholderbaum; unter diesem stand eines Tages im Winter die Frau und schälte sich einen Apfel, und als sie sich den Apfel so schälte, schnitt sie sich in den Finger, und das Blut floß in den Schnee. »Ach«, sagte die Frau und seufzte so recht dabei auf, sah das Blut vor sich an und war tief wehmütig, »hätte ich doch ein Kind, so rot als Blut und so weiß wie Schnee.« Und als sie das sagte, so wurde ihr wieder fröhlich zumute, es war ihr, als sollte das wahr werden. Da ging sie wieder ins Haus, und als ein Monat vorbei war, da war der Schnee vergangen, und zwei Monate, da war es grün, und drei Monate, da kamen die Blumen aus der Erde, und vier Monate, da drängten sich alle Bäume in dem Holze und die grünen Zweige waren alle ineinander gewachsen. Dort sangen die Vöglein, daß das ganze Holz erschallte, und die Blüten fielen von den Bäumen. Da war der fünfte Monat vorbei, und die Frau stand wieder unter dem Wacholderbaum, dort sprang ihr das Herz vor Freude, und sie fiel auf die Knie und wußte sich gar nicht zu lassen. Und als der sechste Monat vorbei war, da wurden die Früchte dick und stark, und sie wurde ganz still, und im siebenten Monat, da griff sie nach den Beeren und aß sich recht satt; da wurde sie traurig und krank. Der achte Monat ging hin, und sie rief ihren Mann und weinte und sagte: »Wenn ich sterbe, so begrabet mich unter dem Wacholderbaume.« Da war sie ganz getrost und freute sich, bis der neunte Monat vorbei war; da kriegte sie ein Kind, so weiß wie Schnee und so rot wie Blut, und als sie das sah, da freute sie sich so, daß sie starb.
   Da begrub ihr Mann sie unter dem Wacholderbaum, und er fing an, gar sehr zu weinen. Eine Zeitlang, und das ließ nach, und da er noch ein wenig geweint hatte, da wurde er wieder heitrer, und noch eine Zeit, da nahm er wieder eine Frau. Mit der zweiten Frau kriegte er eine Tochter, das Kind aber von der ersten Frau war ein kleiner Junge; der war so rot wie Blut und so weiß wie Schnee. Wenn die Frau ihre Tochter ansah, so hatte sie sie gar sehr lieb, aber wenn sie dann den kleinen Jungen ansah, da ging es ihr immer durchs Herz, und es deuchte ihr, als stünde er ihr überall im Wege, und sie dachte dann immer, wie sie ihrer Tochter all das Vermögen zuwenden wollte. Das aber hatte ihr der Böse eingegeben. Sie wurde nun dem kleinen Jungen ganz gram, stieß ihn herum von einer Ecke in die andere, puffte ihn hier und knuffte ihn dort, so daß das arme Kind immer in Angst war. Wenn es aus der Schule kam, hatte es nichts, wo es ruhig sitzen konnte.
   Einmal war die Frau in die Kammer gegangen, da kam das kleine Töchterchen auch herauf und sagte: »Mutter, gib mir einen Apfel.«
   »Ja, mein Kind«, sagte die Frau und gab ihr einen schönen Apfel aus der Kiste; die Kiste aber hatte einen großen, schweren Deckel mit einem großen, scharfen, eisernen Schlosse.
   »Mutter«, sagte das Töchterchen, »soll Brüderchen nicht auch einen haben?«
   Das verdroß die Frau, doch ließ sie‘s nicht merken und sagte: »Ja, wenn er aus der Schule kommt.« Und als sie ihn durch das Fenster gewahr wurde, so war ihr doch gerade so, als wenn der Böse über sie käme. Schnell nahm sie ihrer Tochter den Apfel weg und sagte: »Du sollst nicht eher einen haben als Bruder.« Darauf warf sie den Apfel in die Kiste und machte sie zu. Als nun der kleine Junge in die Türe trat, da sagte sie ganz freundlich zu ihm: »Mein Sohn, willst du einen Apfel haben?« und sah ihn dabei ganz böse an.
   »Mutter«, sagte er kleine Junge, »was siehst du mich so gräsig an! Ja, gib mir einen Apfel.«
   »Komm mit mir«, sagte sie und machte den Deckel auf. »Hol dir einen Apfel heraus.« Und als sich der kleine Junge hinein bückt – da rät ihr der Böse. – Bratsch! schlug sie den Deckel zu, daß der Kopf des kleinen Jungen abflog und unter die roten Äpfel fiel. Da überfiel es sie, und sie dachte in großer Angst: Wie kann ich das wohl von mir abbringen! Da ging sie hinunter in die Stube und holte aus der untersten Schublade der Kommode ein weißes Tuch; nun setzte sie den Kopf auf den Leib und band das Halstuch so um, daß man nichts sehen konnte, dann setzte sie ihn vor die Türe auf einen Stuhl und gab ihm den Apfel in die Hand.
   Bald darauf kam Marlenchen zu ihrer Mutter in die Küche; die stand beim Feuer und rührte in einem Topfe. »Mutter«, sagte Marlenchen, »Bruder sitzt vor der Tür und sieht ganz weiß aus; er hat einen Apfel in der Hand; ich habe ihn gebeten, er soll mir den Apfel geben, aber er antwortet nicht, und da wurde mir ganz graulich.«
   »Geh noch einmal hin«, sagte die Mutter, »und wenn er wieder nicht antworten will, so gib ihm eins hinter die Ohren.«
   Da ging Marlenchen hin und sagte: »Bruder, gib mir den Apfel.« Aber er schwieg still, da gab sie ihm eins an die Ohren, und da fiel der Kopf herunter; darüber nun erschrak sie sich und fing an, gar sehr zu weinen; sie lief zur Mutter und sagte: »Ach Mutter, ich hab meinem Bruder den Kopf abgeschlagen«, und weinte und weinte und wollte sich nicht zufrieden geben.
   »Marlenchen«, sagte die Mutter, »was hast du getan! Aber sei nur still, daß es kein Mensch merkt, das ist nun doch einmal nicht zu ändern; wir wollen ihn in Essig kochen.« Da nahm die Mutter den kleinen Jungen, hackte ihn in Stücke, tat sie in einen Topf und kochte ihn in Essig. Marlenchen aber stand dabei und weinte und weinte, und die Tränen fielen alle in den Topf, so daß sie gar kein Salz brauchten.
   Da kam der Vater nach Haus, setzte sich zu Tisch und sagte:
   »Wo ist denn mein Sohn?« Da trug die Mutter eine große, große Schüssel auf mit Schwarzsauer, und Marlenchen weinte und konnte sich gar nicht halten. Da sagte der Vater wieder: »Wo ist denn mein Sohn?«
   »Ach«, sagte die Mutter, »er ist über Land gegangen zum Großohm, er will dort eine Zeitlang bleiben.«
   »Was tut er denn dort? Er hat nicht einmal Adieu zu mir gesagt.«
   »Er wollte gern hin und fragte mich, ob er wohl sechs Wochen bleiben könnte; er ist ja dort gut aufgehoben.«
   »Ach!« sagte der Mann, »ich bin recht traurig, und es ist doch nicht recht, er hätte mir doch Adieu sagen sollen.« Damit fing er an zu essen und sagte: »Marlenchen, was weinst du? Bruder wird wohl wiederkommen.«
   »Ach, Frau«, sagte er dann, »was schmeckt mir das Essen gut, gib mir mehr!« Und je mehr er aß, je mehr wollte er haben, und er sagte immer: »Gebt mir mehr, ihr sollt nichts davon haben, das ist, als wenn das alles mein wäre.«Und er aß und aß, und die Knochen warf er alle unter den Tisch, bis alles alle war.
   Marlenchen aber ging hin zu ihrer Kommode und nahm aus der untersten Schublade ihr bestes seidenes Tuch; holte alle die Knochen unter dem Tische hervor, band sie in das seidene Tuch und trug sie vor die Tür und weinte ihre blutigen Tränen. Dort legte sie sie unter den Wacholderbaum in das grüne Gras, und als sie sie dort hingelegt hatte, da war ihr mit einem Male so recht leicht, und sie weinte nicht mehr. Da fing der Wacholderbaum an sich zu bewegen, und die Zweige taten sich immer voneinander und dann wieder zusammen, so als wenn sich einer recht freut und mit den Händen so tut. Damit ging durch den Baum ein Nebel, und durch den Nebel brannte ein Feuer, und aus dem Feuer flog ein schöner Vogel heraus, der sang so herrlich und flog hoch in die Luft, und als er weg war, da war der Wacholderbaum, wie er vorher gewesen war, aber das Tuch mit den Knochen war weg. Marlenchen aber war recht vergnügt, als ob der Bruder noch lebte. Da ging sie wieder ganz lustig in das Haus, setzte sich zu Tisch und aß.
   Der Vogel aber flog weg, setzte sich auf eines Goldschmieds Haus und fing nun an zu singen:

     »Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘,
     Mein Vater, der mich aß,
     Meine Schwester, das Marlenichen,
     Sucht alle meine Beenichen,
     Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
     Legt‘s unter den Wacholderbaum.
     Kiwit, Kiwit,
     Was für ein schöner Vogel bin ich.«

   Der Goldschmied saß in seiner Werkstatt und machte gerade eine goldene Kette, da hörte er den Vogel, der auf seinem Dache saß und sang, und das deuchte ihm gar zu schön. Da stand er auf, und als er über den Flur ging, da verlor er einen Pantoffel. Er ging aber so recht mitten in die Straße hin und hatte nur einen Pantoffel und einen Socken an. Er hatte sein Schurzfell vor und in der einen Hand die goldene Kette und in der andern Hand die Zange; die Sonne schien so hell auf die Straße. Da stellte er sich so, daß er den Vogel gut sehen konnte. »Vogel«, sagte er, »wie schön kannst du singen! Sing mir das Stück nochmal.«
   »Nein«, sagte der Vogel, »zweimal singe ich nicht umsonst. Gib mir die goldene Kette, so will ich es nochmals singen.«
   »Da«, sagte der Goldschmied, »hast du die goldene Kette, nun singe es mir nochmal.«
   Da kam der Vogel, nahm die goldene Kette ins rechte Pfötchen, setzte sich vor den Goldschmied hin und sang:

     »Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘,
     Mein Vater, der mich aß,
     Meine Schwester, das Marlenichen,
     Sucht alle meine Beenichen,
     Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
     Legt‘s unter den Wacholderbaum.
     Kiwit, Kiwit,
     Was für ein schöner Vogel bin ich.«

   Da flog der Vogel weg und setzte sich auf das Dach eines Schusters und sang:

     »Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘,
     Mein Vater, der mich aß,
     Meine Schwester, das Marlenichen,
     Sucht alle meine Beenichen,
     Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
     Legt‘s unter den Wacholderbaum.
     Kiwit, Kiwit,
     Was für ein schöner Vogel bin ich.«

   Als der Schuster das hörte, lief er in Hemdsärmeln vor seine Türe, sah nach seinem Dache und mußte die Hand vor die Augen halten, damit ihn die Sonne nicht blende. »Vogel«, sagte er, »was kannst du schön singen!« Da rief er in seine Türe hinein: »Frau, komm mal heraus, da ist ein Vogel, der kann mal schön singen.« Dann rief er auch seine Tochter, seine Kinder und Gesellen, die Lehrjungen und die Magd, und sie kamen alle auf die Straße und sahen den Vogel an, und wie schön er war; er hatte so schöne rote und grüne Federn, und um den Hals war es wie lauter Gold, und die Augen blinkten ihm im Kopfe wie Sterne. »Vogel«, sagte der Schuster, »nun sing mir das Stück nochmal.«
   »Nein«, sagte der Vogel, »zweimal singe ich nicht umsonst, du mußt mir was schenken.«
   »Frau«, sagte der Mann, »gehe in den Laden, auf dem obersten Brett, da stehen ein Paar rote Schuh, die bring heraus.« Da ging die Frau hin und holte die Schuh. »Da, Vogel«, sagte der Mann, »nun sing mir das Stück nochmal.«
   Da kam der Vogel, nahm die Schuhe mit dem linken Pfötchen, flog wieder auf das Dach und sang:

     »Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘,
     Mein Vater, der mich aß,
     Meine Schwester, das Marlenichen,
     Sucht alle meine Beenichen,
     Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
     Legt‘s unter den Wacholderbaum.
     Kiwit, Kiwit,
     Was für ein schöner Vogel bin ich.«

   Als er ausgesungen hatte, flog er fort. Die Kette hatte er in dem rechten und die Schuhe in dem linken Pfötchen, und er flog weit weg nach einer Mühle, und die Mühle ging klip klap, klip klap, klip klap. In der Mühle saßen zwanzig Knappen, die behauten einen Stein und hackten hick hack, hick hack, hick hack, und die Mühle ging klip klap, klip klap, klip klap. Da setzte sich der Vogel auf einen Lindenbaum, der vor der Mühle stand, und sang:

     »Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘«
     Da hörte ein Knappe auf.
     »Mein Vater, der mich aß«
     Da hörten noch zwei auf und hörten zu.
     »Meine Schwester, das Marlenichen«
     Da hörten wieder viere auf.
     »Sucht alle meine Beenichen«
     Nun hauten nur noch dreizehn.
     »Bind‘ sie in ein seiden Tuch«
     Jetzt nur noch sieben.
     »Legt‘s unter«
     Jetzt nur fünf.
     »den Wacholderbaum.«
     Nur noch einer,
     »Kiwit, Kiwit,
     Was für ein schöner Vogel bin ich.«

   Da hielt der letzte auch inne und hatte das letzte noch gehört. »Vogel«, sagte er, »was singst du schön! Laß mich das auch hören, singe das nochmal.«
   »Nein«, sagte der Vogel, »zweimal singe ich nicht umsonst; gib mir den Mühlstein, so will ich es nochmal singen.« »Ja«, sagte er, »wenn er mir allein gehörte, so solltest du ihn haben.«
   Da sagten die andern: »Wenn er nochmal singt, so soll er ihn haben.«
   Da kam der Vogel herunter, und alle zwanzig Knappen faßten an und hoben mit Hebebäumen den Stein auf. Da steckte der Vogel den Hals durch das Loch und nahm ihn um, als ob es ein Kragen wäre, flog wieder auf den Baum und sang:

     »Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘,
     Mein Vater, der mich aß,
     Meine Schwester, das Marlenichen,
     Sucht alle meine Beenichen,
     Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
     Legt‘s unter den Wacholderbaum.
     Kiwit, Kiwit,
     Was für ein schöner Vogel bin ich.«

   Als er ausgesungen hatte, da tat er die Flügel auseinander und hatte in dem rechten Pfötchen die Kette, in dem linken die Schuh und um den Hals den Mühlstein und flog fort damit nach seines Vaters Hause. In der Stube saßen der Vater, die Mutter und Marlenchen bei Tisch, und der Vater sagte: »Ach, wie wird mir so leicht und wohl zumute.«
   »Ach nein«, sagte die Mutter, »mir ist es angst, als wenn ein schweres Gewitter käme.«
   Marlenchen aber saß und weinte und weinte, da kam der Vogel angeflogen, und als er sich auf das Dach setzte, sagte der Vater: »Mir ist so recht freudig ums Herz, und die Sonne scheint draußen so schön, mir ist gerade, als sollte ich einen alten Bekannten wiedersehen.«
   »Ach nein«, sagte die Frau, »mir ist so angst, die Zähne klappern mir, mir ist, als hätte ich Feuer in den Adern.« Aber Marlenchen saß in der Ecke und weinte das Tuch ganz naß.
   Da setzte sich der Vogel auf den Wacholderbaum und sang:
   »Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘«
   Da hielt sich die Mutter die Ohren zu und kniff die Augen zusammen, denn sie wollte nicht sehen noch hören; aber es brauste ihr in den Ohren wie der stärkste Sturm, und die Augen brannten und zuckten ihr wie Blitze.
   »Mein Vater, der mich aß«
   »Ach Mutter«, sagte der Mann, »das ist ein schöner Vogel, der singt so herrlich, die Sonne scheint so warm, und das riecht wie lauter Maiblumen.«
   »Meine Schwester, das Marlenichen«
   Da legte Marlenchen den Kopf auf die Knie und weinte immerfort, der Mann aber sagte: »Ich gehe hinaus, ich muß den Vogel in der Nähe sehen.«
   »Ach, geh nicht«, sagte die Frau, »mir ist, als bebte das ganze Haus und stände in Flammen.« Aber der Mann ging hinaus und sah den Vogel an.

     »Sucht alle meine Beenichen,
     Bind‘ sie in ein seiden Tuch,
     Legt‘s unter den Wacholderbaum.
     Kiwit, Kiwit,
     Was für ein schöner Vogel bin ich.«

   Dabei ließ der Vogel die goldene Kette fallen, und sie fiel dem Manne just um den Hals, gerade so, daß sie ihm so recht schön paßte. Da ging er hinein und sagte: »Sieh, was ist das für ein guter Vogel; er hat mir diese schöne Kette geschenkt, und er sieht so prächtig aus.« Der Frau aber wurde so angst, daß sie niederstürzte, wobei ihr die Mütze vom Kopfe fiel. Da sang der Vogel wieder:
   »Meine Mutter, die mich g‘schlacht‘«
   »Ach, daß ich tausend Klafter unter der Erde wäre, damit ich das nicht hören müßte.«
   »Mein Vater, der mich aß«
   Da fiel die Frau für tot nieder.
   »Meine Schwester, das Marlenichen«
   »Ach«, sagte Marlenchen, »ich will auch hinausgehen und sehen, ob mir der Vogel was schenkt.« Und da ging sie hinaus.

     »Sucht alle meine Beenichen,
     Bind‘ sie in ein seiden Tuch«
     Da warf er ihr die Schuhe herunter.
     »Legt‘s unter den Wacholderbaum.
     Kiwit, Kiwit,
     Was für ein schöner Vogel bin ich.«

   Da wurde sie ganz vergnügt und fröhlich; sie zog die neuen roten Schuhe an, tanzte und sprang hinein. »Ach«, sagte sie, »ich war so traurig, als ich hinausging, und nun bin ich lustig; das ist mal ein herrlicher Vogel; hat mir ein Paar Schuhe geschenkt.«
   »Nein«, sagte die Frau und sprang auf, und die Haare standen ihr zu Berge wie Feuerflammen, »mir ist, als sollte die Welt untergehen! Ich will auch hinaus, vielleicht wird es mir auch leichter.«
   Und als sie aus der Türe kam, bratsch! warf ihr der Vogel den Mühlstein auf den Kopf, daß sie ganz zerquetscht wurde.
   Als der Vater und Marlenchen das hörten, gingen sie hinaus, da sahen sie Dampf, Flammen und Feuer auf der Stelle, und als das verloschen war, da stand der kleine Bruder da, der nahm den Vater und Marlenchen bei der Hand. Alle drei waren nun recht vergnügt und gingen in das Haus, setzten sich zu Tische und aßen.


   Der weiße Wolf

   Ein König ritt jagen in einem großen Walde, darinnen er sich verirrte, und er mußte manchen Tag wandern und manche Nacht, fand immer nicht den rechten Weg und mußte Hunger und Durst leiden. Endlich begegnete ihm ein kleines schwarzes Männlein, das fragte der König nach dem rechten Weg. »Ich will dich wohl führen und geleiten«, sagte das Männlein, »aber du mußt mir auch etwas dafür geben, du mußt mir das geben, was dir aus deinem Hause zuerst entgegen kommt.«
   Der König war froh und sprach unterwegs: »Du bist recht brav, Männchen, wahrlich, und wenn mein bester Hund mir entgegenlief, so wollt ich dir ihn doch gern zum Lohne geben.«
   Das Männlein aber erwiderte: »Deinen besten Hund, den mag ich nicht, mir ist was andres lieb.«
   Wie sie nun beim Schlosse ankamen, so sah des Königs jüngste Tochter durchs Fenster ihren Vater geritten kommen und sprang ihm fröhlich entgegen. Da sie ihn aber in ihre Arme schloß, sprach er: »Ei, wollt ich doch, daß lieber mein bester Hund mir entgegen gekommen wäre!«
   Über diese Rede erschrak die Königstochter gar sehr und weinte und rief: »Wie das, mein Vater? Ist dir dein Hund lieber denn ich, und sollte er dich froher willkommen heißen?«
   Aber der König tröstete sie und sagte: »O liebe Tochter, so war es ja nicht gemeint!« und erzählte ihr alles.
   Sie aber blieb ganz standhaft und sagte: »Es ist besser so, als daß mein lieber Vater umgekommen wäre im wilden Walde.«
   Und das Männchen sagte: »Nach acht Tagen hole ich dich.«
   Und nach acht Tagen richtig, da kam ein weißer Wolf in das Königsschloß, und die Königstochter mußte sich auf seinen Rücken setzen, und heissa, da ging‘s durch dick und dünn, bergauf und ab, und die Königstochter konnte das Reiten auf dem Wolf nicht aushalten und fragte: »Ist‘s noch weit?«
   »Schweig! Weit, weit ist‘s noch zum gläsernen Berge schweigst du nicht, so werf ich dich herunter!« Nun ging es wieder so fort, bis die arme Königstochter wieder zagte und klagte und fragte, ob es noch weit sei. Und da sagte ihr der Wolf die nämlichen drohenden Worte und rannte immer fort, immer weiter, bis sie zum dritten Male die Frage wagte, da warf er sie auf der Stelle von seinem Rücken herunter und rannte davon.
   Nun war die arme Prinzessin ganz allein in dem finstern Walde und ging und dachte, endlich werde ich doch einmal zu Leuten kommen. Und endlich kam sie an eine Hütte, da brannte ein Feuerchen, und da saß ein altes Waldmütterchen, das hatte ein Töpfchen am Feuer. Und da fragte die Königstochter: »Mütterchen, hast du den weißen Wolf nicht gesehen?«
   »Nein, da mußt du den Wind fragen, der fragt überall herum, aber bleibe erst noch ein wenig hier und iß mit mir. Ich koche hier ein Hühnersüppchen.« Das tat die Prinzessin, und als sie gegessen hatten, sagte die Alte: »Nimm die Hühnerknöchelchen mit dir, du wirst sie gut gebrauchen können.« Dann zeigte ihr die Alte den rechten Weg nach dem Winde.
   Als die Königstochter bei dem Winde ankam, fand sie ihn auch am Feuer sitzen und sich eine Hühnersuppe kochen, aber auf ihre Frage nach dem weißen Wolf antwortete er ihr: »Liebes Kind, ich habe ihn nicht gesehen, ich bin heute einmal nicht gegangen und wollte mich einmal hübsch ausruhen. Frage die Sonne, die geht alle Tage auf und unter, aber erst mache es wie ich, ruhe dich aus und iß mit mir, kannst hernach auch alle die Hühnerknöchlein mit dir nehmen, wirst sie wohl gut brauchen können.«
   Als dies geschehen war, ging die Kleine nach der Sonne zu, und es ging da gerade wieder wie beim Winde, die Sonne kochte sich gerade eine Hühnersuppe an sich selbst, daher es damit sehr geschwind ging, hatte auch den weißen Wolf nicht gesehen und lud die Prinzessin zum Mitessen ein. »Du mußt den Mond fragen, denn wahrscheinlich läuft der weiße Wolf nur des Nachts, und da sieht der Mond alles.«
   Als nun die Königstochter mit der Sonne gegessen und die Knöchlein aufgesammelt hatte, ging sie weiter und fragte den Mond. Auch er kochte Hühnersuppe und sagte: »Es ist fatal, ich habe letzte Nacht nicht geschienen oder bin zu spät aufgegangen, ich weiß gar nichts von dem weißen Wolf.«
   Da weinte das Mädchen und rief: »O Himmel, wen soll ich nun fragen?«
   »Nun, nur Geduld, mein Kind«, sagte der Mond. »Vor Essen wird kein Tanz, setze dich und iß erst die Hühnersuppe mit mir und nimm auch die Knöchelchen mit, du wirst sie wohl brauchen. Etwas Neues weiß ich doch; im gläsernen Berge das schwarze Männchen – das hält heute Hochzeit, der Mann im Mond ist auch dazu eingeladen.«
   »Ach, der gläserne Berg, der gläserne Berg! Dahin wollte ich ja eben, dahin hat mich ja der weiße Wolf tragen sollen!« rief die Königstochter.
   »Nun, bis dorthin kann ich dir schon leuchten und den Weg zeigen«, sagte der Mond, »sonst könntest du dich leichtlich irren, denn ich zum Beispiel bestehe ganz und gar aus lauter gläsernen Bergen. Nimm immer deine Knöchlein hübsch alle mit.« Das tat die Prinzessin, aber in der Eile vergaß sie doch ein Knöchlein.
   Bald stand sie an dem gläsernen Berge, aber der war ganz glatt und glitschig, da war nicht hinauf zu kommen, aber da nahm die Königstochter alle Hühnerknöchlein von der alten Waldmutter, von dem Wind, von der Sonne und von dem Monde und machte sich daraus eine Leiter, die wurde sehr lang, aber o weh, zuletzt fehlte noch eine einzige Sprosse, noch ein Glied. Da schnitt sich die Prinzessin das oberste Gelenk von ihrem kleinen Finger ab, und so tat es gut, und sie konnte nun rasch zum Gipfel des gläsernen Berges klimmen. Oben war eine große Öffnung, da führte eine schöne Treppe hinunter, und es war alles voll Glanz und Pracht, und da waren ein Saal voll Hochzeitsgästen und viele Musikanten und reichbesetzte Tafeln.
   Und da saß das schwarze Männlein, und an seiner Seite saß eine Dame, die war seine Braut, das schwarze Männlein aber schien traurig. Und der Königstochter tat es auch so weh, so weh, daß sie nun zu spät kam und daß das schwarze Männlein so traurig war, und sie dachte bei sich, ich will ein Lied vom weißen Wolf singen, vielleicht kennt er mich dann – denn er hatte sie noch gar nicht angesehen, folglich auch nicht wiedererkannt. Und da stand eine Harfe an der Wand, welche die Prinzessin gut spielte, die nahm sie nun und sang:

     »Deinen besten Hund, den mag ich nicht,
     Mir ist was andres lieb!
     Die jüngste Königstochter.
     Der weiße Wolf, der lief davon,
     Sie weiß nicht, wo er blieb;
     Die jüngste Königstochter.«

   Da horchte das schwarze Männlein hoch auf, aber die Prinzessin fuhr fort zu spielen und zu singen.

     Sie ist dem Wolfe nachgereist,
     Schnitt ab ihr Fingerglied,
     Die jüngste Königstochter.
     Nun ist sie da – du kennst sie nicht,
     Traurig singt dir dies Lied
     Die jüngste Königstochter.«

   Da sprang das schwarze Männlein von seinem Sitze auf und war plötzlich ein ganz schöner junger Prinz und eilte auf sie zu und schloß sie in seine Arme.
   Alles war Zauber gewesen. Der Prinz war in das alte Männlein und in den weißen Wolf und in den gläsernen Berg hinein verzaubert so lange, bis eine Prinzessin, um zu ihm zu gelangen, sich‘s ein Glied von ihrem kleinen Finger kosten lassen würde, wenn das aber bis zu einer gewissen Zeit nicht geschähe, so müsse er eine andre freien und ein schwarzes Männlein bleiben all sein Leben lang. Nun war der Zauber gelöst, die andre Braut verschwand, der entzauberte Prinz heiratete die Königstochter, reiste darauf mit ihr zu ihrem Vater, der sich herzlich freute, sie wiederzusehen, und lebten alle glücklich miteinander bis an ihr Ende. Sollte dieses aber nicht erfolgt sein, so ist es einigermaßen wahrscheinlich, daß sie noch heute leben.


   Bruder Sparer und Bruder Vertuer

   Es war einmal ein Bauer, der hatte zwei Söhne, die ließ er Handwerke lernen, »denn«, sprach er, »Handwerk hat einen goldnen Boden.« Der eine Sohn wurde ein Schuhmacher, der andere ein Schneider, und wie ihre Lehrzeit beendigt war, gingen sie auf die Wanderschaft.
   Sie waren beide ein Paar lustige Brüder, aber der Schuhmacher vertat all sein Geld in Rauchtabak, Schnupftabak und Schnaps, der Schneider aber rauchte nicht, schnupfte und schnapste nicht. Bisweilen riet er seinem Bruder, doch haushälterisch mit dem Gelde umzugehen, aber der Schuster lachte ihn aus und sagte: »Wozu soll ich denn sparen? Du sparst ja! Sparer muß einen Vertuer haben – sagt das Sprichwort.«
   So wanderten die guten Gesellen ein ganzes Jahr lang miteinander. Der Schneider hielt sich einen besonderen Geldbeutel, da hinein legte er jedesmal, wenn sein Bruder Geld für unnütze Dinge ausgab, ebensoviel aus der gemeinschaftlichen Kasse, die niemals reich war, zu einem Notpfennig, und so tat er das ganze Jahr hindurch und hatte seine Freude daran, wie das Bäuchlein des Beutelchens immer stärker wurde.
   Nun kamen sie einmal miteinander in Wortwechsel, wieder über Sparen und Vertuen; der Schneider rühmte sich des ersparten Schatzes, wo der Schuster sagte: »Es wird ein rechter Bettel sein, was du erspart hast.« Darüber gelangten sie auf eine Brücke, die hatte schöne, breite und glatte Steine auf ihrer Einfassungsmauer, und da wollte der Schneider seinen Bruder überzeugen, daß Sparen ein gut Ding sei, denn das Sprichwort sagt: Spare in der Zeit, so hast du in der Not, und: Junges Blut, spar dein Gut! Darben im Alter wehetut. Sie legten ihre Ränzel ab, und der Schneider zog sein Beutelchen und zählte die schönen Silbergroschen und Sechser, die vom langen Tragen ganz rötlich geworden waren, auf einem Brückenstein; es war ein hübsches Sümmchen, und er freute sich königlich darüber. Der Schuhmacher sah es ganz gleichgültig, stopfte sich eine Pfeife und schlug eben Feuer, als plötzlich ein heftiger Windstoß daher kam, daß das Schneiderlein gleich in den Fluß geweht worden wäre, wenn die Brücke keine Einfassung gehabt hätte, aber das Geld, das wehte der Wind alles hinunter ins Wasser. Der Schneider stand starr vor Schrecken, der Schuhmacher aber legte den brennenden Schwamm auf die Pfeife und fragte mit dem ruhigsten Gesicht von der Welt: »Na, Bruder Sparer, wieviel hast du nun?«
   Da heulte der Schneider, daß ihn der Bock stieß: »So viel wie Duhuhuhuhu! So viel wie Duhuhuhuhu!«


   Goldhähnchen

   Es lebte einmal ein alter Mann in einem Waldhäuschen, der besaß außer mehreren Kindern auch ein Goldhähnchen, das ist der kleinste unter den europäischen Vögeln und gehört in das Geschlecht der Zaunkönige. Dieses allerliebste Vögelchen hatte der Alte sehr lieb, und die Kinder hatten es nicht minder lieb, und wie der Alte starb, so sagte er zu den Kindern: »Verkauft nur ja das Goldhähnchen nicht, denn das ist ein Glücksvögelchen.«
   Aber wie der Alte gestorben war, kehrten Not und Mangel in das Häuschen der Kinder ein. Nun legte Goldhähnchen jede Woche ein Ei, so groß wie eine Erbse und von erbsengelber Farbe. Diese Eier hatte der Vater immer fortgetragen und war mit Geld und Lebensmitteln zurückgekehrt. Da nun die Lebensmittel ausgegangen waren, entschloß sich der älteste Sohn, die indes gelegten Eier zu nehmen und sie feilzubieten. Wo er die Goldhähncheneier aber anbot, wurde er ausgelacht, und endlich gab ihm ein Mann, den der arme hungernde Knabe dauerte, aus Mitleid ein paar Pfennige dafür. Als diese verzehrt waren und der Hunger stärker als zuvor war, so machte sich der Knabe wieder auf den Weg, diesmal nur mit einem einzigen Ei, und da war er glücklicher. Er fand den Mann, dem der Vater immer die Eier verkauft hatte und der ihren Wert wohl kannte, denn sie waren von purem Gold. Wie der Mann aber merkte, daß der Junge nichts von dem Geheimnis wußte, so sagte er: »Was soll ich mit dem Ei? Verkaufe mir den Vogel, ich will dir ihn sehr gut bezahlten.« Und ging auch gleich mit in das Waldhäuschen.
   Die andern Kinder weinten und klagten, als ihr ältester Bruder das Goldhähnchen an den Mann verkaufte, der einige blanke Taler dafür auf den Tisch legte. Das Vögelchen flatterte unruhig im Käfig hin und her, und den Kindern war es, als wenn es schrie: »Verkauf mich nicht, verkauf mich nicht!« Aber es wurde doch verkauft.
   Und wie das Vöglein fort war, da war es vollends aus mit dem Glück in dem Waldhäuschen; die Kinder konnten dasselbe nicht erhalten und mußten betteln gehen und kamen weit voneinander.
   Um diese Zeit geschah es, daß der König des Landes starb, und seine junge schöne Witwe ließ nach der Trauerzeit bekanntmachen, sie werde demjenigen ihre Hand reichen und den Thron mit ihm teilen, der mit verbundenen Augen die aufgehängte Krone mit einer Lanze herabstechen werde. Das Goldhähnchen sang damals immerfort: »Wer mich ißt, wird König! Wer mich ißt, wird König!« Das gefiel dem Mann, der es gekauft hatte, und obgleich er nun auf die goldnen Eier verzichten mußte, wenn er es verspeiste, so tötete er es doch, ließ es rupfen und mit bunter Seide bezeichnen, um es, gebraten, wiederzuerkennen, und gab der Köchin strengen Befehl, ja recht darauf acht zu haben. Er hatte viele Freunde zu einem festlichen Mahle geladen, damit ihm gleich gehuldigt werde, wenn er den Vogel gegessen und plötzlich König werde.
   Während nun zu dem Festmahl alle möglichen Zurüstungen geschahen, kam der junge Mensch, der das Goldhähnchen verkauft hatte, als ein armer müßiger Bettler vor das Haus und sprach die Köchin um ein Almosen oder ein Stück Brot an, und diese sagte: »Haben sollst du etwas, mußt aber auch etwas tun!« Und dazu war jener gern bereit. Er holte Wasser, spaltete Holz zum Herdfeuer, drehte den Bratenwender und hatte acht auf die Vögel, die in der Pfanne brieten und darunter das Goldhähnchen auch war. Von ungefähr stieß er mit einem Stück Holz an die Pfanne, und da fiel das Goldhähnchen heraus in die glühenden Kohlen.
   Schad um das Vögelein! dachte der Jüngling, obschon er sehr erschrocken war, und schob es in den Mund und verspeiste es, obschon er sich tüchtig verbrannte. Er wußte es aber nicht, daß es sein ehemaliges Goldhähnchen gewesen. Als die Köchin in die Küche kam, zählte sie die Vögel, sah, daß eins fehlte, und jagte den neuen ungetreuen Küchenbuben mit Schimpfen und Schelten von dannen, zeichnete aber geschwind einen andern kleinen Vogel und trug das Gericht ihrem Herrn auf. Dieser aß das gezeichnete Vöglein und sitzt heute noch und wartet, bis er König wird, und ärgert sich, daß er seine Freunde traktiert hat.
   Der Fortgejagte schlich trübselig durch die Straßen und bettelte vor der Türe eines Müllers. Dieser brauchte just einen Eseltreiber und verlieh diese Stelle dem armen Burschen; er durfte bei den Eseln im Stalle schlafen. Und siehe, am andern Morgen fand der Müller, als er anderes Stroh streute und das alte wegräumte, goldne Eier in dem Stroh, darauf sein Eseltreiber geschlafen hatte. Das gefiel ihm, und er dachte: den Burschen mußt du lange behalten, das ist ein Goldfink, während der vorige ein Mistfink war.
   Jetzt kam der Tag des Kronenstechens, und da meinte der Eseltreiber, wenn jedermann stechen und sein Glück versuchen dürfte, möcht er‘s auch wagen, bat den Müller um einen Speer und um ein Pferd. Der Müller lachte aus vollem Halse, doch dachte er, das gibt einen Hauptspaß, gab ihm eine alte lahme und spindeldürre Mähre und einen alten Speer und sandte ihn hin zum Stechen um die Königskrone.
   Alles lachte, wie der wunderliche Ritter von der traurigen Gestalt daher getrabt kam, und die Königin schaute unwillig drein, daß so ein armseliger Bursche sich zu dem Kronenstechen drängte, zu welchem sich so viele vornehme Ritter und Herren eingefunden; allein da sie das Kronenstechen einmal gänzlich freigegeben hatte, so durfte sie dasselbe nun nicht ausschließlich machen.
   Das Kampfspiel begann damit, daß ein Graf und ein Ritter nach dem andern nach der Krone mit verbundenen Augen stach und keiner dieselbe erlangte; und es endete damit, daß der Eseltreiber so glücklich war, die Krone zu treffen und herabzustechen. Der Königin war das gar unlieb, allein sie mußte des Eseltreibers Gemahlin werden, weil sie das einmal beschworen hatte, und so wurde derselbe König, und jener Müller, sein Herr, fand fürder keine Goldeier mehr im Stroh seines Stalles, sondern nur solche, wie sie die Esel legen.
   Da die Königin ihren Gemahl nicht liebte wegen seiner geringen Herkunft, so sann sie Tag und Nacht darauf, sich seiner zu entledigen. Sie nahm deshalb ihre nächste Zuflucht zu einer alten mächtigen Zauberin, und die gab ihr ein Kraut, das die Kraft hatte, die menschliche Gestalt in eine tierische zu verwandeln. Dieses Kraut mischte die böse Königin ihrem Gemahl und Herrn unter die Speise, und siehe, als der König die Speise genossen hatte, so begann er sich zu verwandeln, und es wurde ein leibhaftiger Esel aus ihm, der vorher ein sehr schöner junger Mensch gewesen war. Dieserhalb wurde er mit Schimpf und Schande aus dem Hofe gejagt, und nun wurde ein andrer zum König gewählt, dessen Wahl man klugerweise nicht wieder dem Glück und dem blinden Zufall überließ, weil man fürchtete, abermals einen Esel zur höchsten Stelle gelangen zu sehen.
   Der arme gewesene Eseltreiber, jetzt selbst Esel, hatte alle Mühseligkeit seines neuen Standes zu empfinden. Er hatte seinen Weg nach der Mühle genommen, wo er einst zufrieden die Esel getrieben und auf Stroh geschlafen hatte. Der Müller, als er ihn kommen sah, vermochte nicht, ihn von den andern Eseln zu unterscheiden, obgleich in seinen Augen etwas Menschliches war. Und da wurde er in der Mühle zu den andern Eseln gestellt, mußte Säcke mit Getreide und Mehl tragen, jahraus, jahrein, und hatte es um kein Haar besser oder schlimmer als die übrigen Esel auch.
   Nun hatte dieser arme Esel, als er weiland noch ein Mensch gewesen war, eine Schwester gehabt, die war auch damals von ihm gekommen und hatte gebettelt, und da hatte sie auch in einem Kloster Brot geheischt, und man hatte sie als junges kräftiges Ding zu Mägdediensten angenommen. Sie war treu und fleißig, wurde endlich selbst eine Nonne, und man vertraute ihr das Amt der Pförtnerin. Dieses Kloster ließ nun just in derselben Mühle mahlen, in welcher der gewisse Esel sich befand, und wie er zum ersten Male mit seinen Säcken an die Klosterpforte kam, erkannte er gleich in der Pförtnerin seine Schwester, denn er hatte noch menschliche Gedanken und menschliche Erinnerungen. Da iahte er hellauf und gab seine Freude zu erkennen, und auch im Busen der Pförtnerin erwachte eine gewisse Sympathie für diesen Esel; das war die Stimme der Natur. Nun war die Pförtnerin kundig aller Kräuter und baute die besten und kräftigsten in dem Klostergarten selbst. Da ging sie hin, pflückte ein Zauberkraut, das die Kraft besaß, die tierische Gestalt, wenn sie durch Zauberei verliehen war, wieder in menschliche zu verwandeln, und gab es dem Esel zu fressen. Da wurde er wieder Mensch, wie zuvor, und bedankte sich bei seiner guten Schwester mit vielen Küssen und Tränen. Er hatte aber sieben Jahre Säcke und Prügel genug getragen und verlangte nicht wieder zu den Menschen. In der Nähe des Klosters, wo er seine gute fromme Schwester wieder gefunden, erbaute er sich eine Hütte von Baumzweigen und wurde ein frommer Einsiedel und Waldbruder. Da lebte er von Wurzeln und Kräutern und hatte seine Lust an dem lieblichen Gesang der Waldvögel und fütterte und pflegte sie, mit Ausnahme der Goldhähnchen, die konnte er nicht leiden und verwünschte sie, weil das eine ihm nur Unglück gebracht hatte, und fing sie und tötete sie, wo er nur eines habhaft werden konnte.


   Das Märchen vom Ritter Blaubart

   Es war einmal ein gewaltiger Rittersmann, der hatte viel Geld und Gut und lebte auf seinem Schlosse herrlich und in Freuden. Er hatte einen blauen Bart, davon man ihn nur Ritter Blaubart nannte, obschon er eigentlich anders hieß, aber sein wahrer Name ist verloren gegangen. Dieser Ritter hatte sich schon mehr als einmal verheiratet, allein man hatte gehört, daß alle seine Frauen schnell nacheinander gestorben seien, ohne daß man eigentlich ihre Krankheit erfahren hatte. Nun ging Ritter Blaubart abermals auf Freiersfüßen, und da war eine Edeldame in seiner Nachbarschaft, die hatte zwei schöne Töchter und einige ritterliche Söhne, und diese Geschwister liebten einander sehr zärtlich. Als nun Ritter Blaubart die eine dieser Töchter heiraten wollte, hatte keine von beiden rechte Lust, denn sie fürchteten sich vor des Ritters blauem Bart und mochten sich auch nicht gern voneinander trennen. Aber der Ritter lud die Mutter, die Töchter und die Brüder samt und sonders auf sein großes schönes Schloß zu Gaste und verschaffte ihnen dort so viel angenehmen Zeitvertreib und so viel Vergnügen durch Jagden, Tafeln, Tänze, Spiele und sonstige Freudenfeste, daß sich endlich die jüngste der Schwestern ein Herz faßte und sich entschloß, Ritter Blaubarts Frau zu werden. Bald darauf wurde auch die Hochzeit mit vieler Pracht gefeiert.
   Nach einer Zeit sagte der Ritter Blaubart zu seiner jungen Frau: »Ich muß verreisen und übergebe dir die Obhut über das ganze Schloß, Haus und Hof, mit allem, was dazu gehört. Hier sind auch die Schlüssel zu allen Zimmern und Gemächern, in alle diese kannst du zu jeder Zeit eintreten. Aber dieser kleine goldne Schlüssel schließt das hinterste Kabinett am Ende der großen Zimmerreihe. In dieses, meine Teure, muß ich dir verbieten zu gehen, so lieb dir meine Liebe und dein Leben sind. Würdest du dieses Kabinett öffnen, so erwartet dich die schrecklichste Strafe der Neugier. Ich müßte dir dann mit eigner Hand das Haupt vom Rumpfe trennen!« Die Frau wollte auf diese Rede den kleinen goldnen Schlüssel nicht annehmen, indes mußte sie dies tun, um ihn sicher aufzubewahren, und so schied sie von ihrem Mann mit dem Versprechen, daß es ihr nie einfallen werde, jenes Kabinett aufzuschließen und es zu betreten.
   Als der Ritter fort war, erhielt die junge Frau Besuch von ihrer Schwester und ihren Brüdern, die gerne auf die Jagd gingen; und nun wurden mit Lust alle Tage die Herrlichkeiten in den vielen, vielen Zimmern des Schlosses durchmustert, und so kamen die Schwestern auch endlich an das Kabinett. Die Frau wollte, obschon sie selbst große Neugierde trug, durchaus nicht öffnen, aber die Schwester lachte ob ihrer Bedenklichkeit und meinte, daß Ritter Blaubart darin doch nur aus Eigensinn das Kostbarste und Wertvollste von seinen Schätzen verborgen halte. Und so wurde der Schlüssel mit einigem Zagen in das Schloß gesteckt, und da flog auch gleich mit dumpfem Geräusch die Türe auf, und in dem sparsam erhellten Zimmer zeigten sich – ein entsetzlicher Anblick! – die blutigen Häupter aller früheren Frauen Ritter Blaubarts, die ebensowenig wie die jetzige dem Drang der Neugier hatten widerstehen können und die der böse Mann alle mit eigner Hand enthauptet hatte. Vom Tod geschüttelt, wichen jetzt die Frau und ihre Schwester zurück; vor Schreck war der Frau der Schlüssel entfallen, und als sie ihn aufhob, waren Blutflecke daran, die sich nicht abreiben ließen, und ebensowenig gelang es, die Türe wieder zuzumachen, denn das Schloß war bezaubert, und indem verkündeten Hörner die Ankunft Berittner vor dem Tore der Burg. Die Frau atmete auf und glaubte, es seien ihre Brüder, die sie von der Jagd zurück erwartete, aber es war Ritter Blaubart selbst, der nichts Eiligeres zu tun hatte, als nach seiner Frau zu fragen, und als diese ihm bleich, zitternd und bestürzt entgegentrat, so fragte er nach dem Schlüssel; sie wollte den Schlüssel holen, und er folgte ihr auf dem Fuße, und als er die Flecken am Schlüssel sah, so verwandelten sich alle seine Gebärden, und er schrie: »Weib, du mußt nun von meinen Händen sterben! Alle Gewalt habe ich dir gelassen! Alles war dein! Reich und schön war dein Leben! Und so gering war deine Liebe zu mir, du schlechte Magd, daß du meine einzige geringe Bitte, meinen ernsten Befehl nicht beachtet hast? Bereite dich zum Tode! Es ist aus mit dir!«
   Voll Entsetzen und Todesangst eilte die Frau zu ihrer Schwester und bat sie, geschwind auf die Turmzinne zu steigen und nach ihren Brüdern zu spähen und diesen, sobald sie sie erblicke, ein Notzeichen zu geben, während sie sich auf den Boden warf und zu Gott um ihr Leben flehte. Und dazwischen rief sie: »Schwester! Siehst du noch niemand?«
   »Niemand!« klang die trostlose Antwort.
   »Weib, komm herunter!« schrie Ritter Blaubart, »deine Frist ist aus!«
   »Schwester! Siehst du niemand?« schrie die Zitternde.
   »Eine Staubwolke – aber ach, es sind Schafe!« antwortete die Schwester.
   »Weib, komm herunter, oder ich hole dich!« schrie Ritter Blaubart.
   »Erbarmen! Ich komme ja sogleich! Schwester! Siehst du niemand?«
   »Zwei Ritter kommen zu Roß daher, sie sahen mein Zeichen, sie reiten wie der Wind.«-
   »Weib! Jetzt hole ich dich!« donnerte Blaubarts Stimme, und da kam er die Treppe herauf. Aber die Frau gewann Mut, warf ihre Zimmertüre ins Schloß und hielt sie fest, und dabei schrie sie samt ihrer Schwester so laut um Hilfe, wie sie beide nur konnten. Indessen eilten die Brüder wie der Blitz herbei, stürmten die Treppe hinauf und kamen eben dazu, wie Ritter Blaubart die Türe sprengte und mit gezücktem Schwert in das Zimmer drang. Ein kurzes Gefecht, und Ritter Blaubart lag tot am Boden. Die Frau war erlöst, konnte aber die Folgen ihrer Neugier lange nicht verwinden.


   Die drei dummen Teufel

   In der Hölle war einmal ein großes Wunder, daß nur lauter Männer und keine Weiber in die Hölle kämen, und von Herzen hätten sie doch auch gerne Weiber darinnen gehabt. Da warf sich ein ganz junger Teufel auf und sprach: »Was gilt‘s, ich schaffe eine her!« Die andern Teufel freuen sich zwar, aber sie glauben dem, was jener sprach, doch nicht recht. Der Teufel fährt sofort ab, und die andern wünschen ihm großes Glück. Er kömmt also auf die Erde und trifft eine junge Dirne; zu dieser spricht er: »He, Jungfer, hat sie nicht Lust zu heiraten?«
   »Warum nicht«, sagte sie. »Meinetwegen kann morgen die Hochzeit sein.«
   »Mir schon recht«, sagt der Teufel. Wie‘s also morgen war, geht er zum Pfarrer und läßt sich die Dirne zur Frau geben. Eh aber der Küßmond vorüber, verlangt die junge Frau Geld und Kleider, und der Teufel kann kaum das Brot verdienen, muß oft über seinem Maul sparen und es seiner Frau lassen, und dadurch wird er dürr und mager und ist lange nicht mehr so guten Mutes als zuvor. Die Frau hatte sich mehr von diesem Galan versprochen. Sie fängt daher an und wird kalt gegen ihren Teufel. Er gibt gute Worte; er brummt. Sie zankt aber arg und drohet ihm mit Schlägen. Das lächert dem Teufel, und er denkt: ich werde dich doch zwingen können. Zankt er aber ein Wort, so zankt sie zehne, und das geht ein und alle Tage so fort. Was geschieht? Der Teufel bekommt zuletzt derbe Schläge. Da denkt der Teufel: ei, was sollst du dich mit der Frau plagen? Gehe doch hübsch heim, und – da ging er heim.
   Wie er in die Hölle kömmt und bringt kein Weib mit, da lachen ihn die Teufel tüchtig aus, und überall rufen sie: »Dummer Teufel! Dummer Teufel!«
   Er aber antwortet: »Ich will keine wieder, und wenn ich die ganze Hölle geschenkt kriegte. Seid froh, daß ich sie nicht mitgebracht habe, die hätte uns allen die Hölle erst recht heiß gemacht!«
   Da spricht ein andrer, etwas älterer Teufel: »Nun will ich fort, ich will schon eine herschaffen!« Er reiset ebenfalls ab, kömmt auf einen Erbsenacker, dort trifft er eine alte Jungfer. Da denkt er: warte, diese ist nicht so ein junger Lecker, die willst du nehmen. Er spricht also zu ihr: »He da, Jungfer, hat sie nicht Lust zu heiraten?«
   »O ja, wenn er Geld und Brot für mich hat!«
   »O ja!« spricht der Teufel. Als nun die beiden Hochzeit gemacht hatten, da merkte es die Frau, daß der Teufel gelogen hatte, denn er war ein armer, blutarmer Teufel und hatte nichts und konnte nichts. Das kam ihm heim, denn er war an einen Geizdrachen geraten, der sparte das Salz an den Kartoffeln und tat sonntags einen Knopf in den Klingelbeutel statt des Hellers. Die gibt dem Teufel zu tun genug und zu beißen wenig, aber Schelte konnte er haben, so viel er wollte, und Streiche waren auch nicht rar. Und wenn ihm vor Hunger gleich der Bauch grimmt und ihm die Zunge ellenlang zum Halse heraus hängt, so erbarmt sie sich seiner doch nicht. Will der Teufel etwas essen, so muß er fort und muß Kartoffeln stopfeln. Kömmt er abends und hat kein großes Säckchen voll, so kriegt er auch noch Schläge, und das geht so einen und alle Tage. Endlich wird das der arme Teufel doch müde und er spricht zu sich: »Ei, was sollst du dich mit der Frau plagen? Ich gehe fort, das ist ja ein bitterböses Tier!« Er geht und kömmt in die Hölle zurück. Hier wird er gleich gefragt, wo er seine Frau habe. »Ja, Frau! Hat sich was! Ich will keine! Ich will in meinem Leben an die, die ich droben hatte, gedenken! Die nimmt man auch noch mit in die Hölle! Bin ich froh, daß ich sie wieder los bin.«
   Da hieß es nun überall: »Dummer Teufel! Dummer Teufel!« —
   Nun spricht aber ein ganz alter Teufel: »Jetzt will ich fort; ich will‘s den Weibern wohl anstreichen!« Der alte Teufel reiset ab und kömmt auf die Erde; da geht er durch einen jungen Birkenwald und sieht von weitem ein Frauenzimmer. Das war eine Witwe, die noch ganz stattlich aussah. Er sieht sie sich an, und sie sieht ihn an, und mit höflichen Reden und artigen Widerreden werden sie handelseinig, und der Pfarrer nagelt und nietet sie zusammen, so fest wie das Herz nur begehrt. Aber nach der Hochzeit, da sah der Teufel wohl, daß man die Katz nicht im Sack kaufen muß und die Witwen nicht freien auf der Landstraße. Die kannte schon den Rummel, da der heilige Ehestand ihr nicht neu war, schmale Kost und Brunnenwasser waren das wenigste, da war offner Laden für jedermann, und der Mann mußte nur so zusehen, und ward‘s ihm zu arg, wie denn solches Zusehen kein Teufel vertragen kann, so hängte sie ihn an die Wand und ging mit ihren Liebsten zu Biere. Als sie dann zurückkam, nimmt sie ihn herunter, und da soll er Mausen lernen, daß man die Katz sparen kann. Aber da wird‘s dem Teufel zu arg, er läuft fort in den Wald – denn in die Hölle zu gehen schämt er sich – und will sich Beeren suchen, die sind immer noch besser als Mäuse.
   Wie er nun so in den Beeren ist, begegnet er einem Köhler, diesem klagte er seine Not und bat um etwas zu essen. Da sprach der Köhler: »Ja, lieber Alter, ich habe selbsten sieben Kinder und oft keinen Bissen Brot.«
   »Du, Köhler, schwarzer Kerl, gib mir einen Rat, wie ich das böse Weib bändige. Ich bitte dich um alles in der Welt, hilf mir!«
   Der Köhler antwortete darauf:

     »Ein böses Weib, eine herbe Buß‘
     Und weh dem, der ein‘ haben muß.«

   Der Teufel denkt: Ach, wenn das Ding so klingt, so gehst du lieber wieder heim. Wäre ich doch vom Anfang an zu Hause geblieben! Er sinnt auf Rache gegen die Weiber und spricht: »He! Bruder, du bist auch arm, ich will dich reich machen, du mußt mir aber folgen.«
   Der Köhler spricht: »O ja, reich wäre ich gerne, und ich will tun, was du nur haben willst.«
   Da spricht der Teufel: »Höre, Bruder Köhler, ich weiß einen König, der hat drei Prinzessinnen, da will ich in die eine fahren, und du sollst der Doktor sein. Wenn ich in die Prinzessin gefahren bin, so wird der König einen Aufruf ergehen lassen nach einem Doktor, der Knall auf Fall austreiben kann. Da gehst du nun hin zu diesem König und sprichst: ›Herr König, ich will der Prinzessin helfen, aber ich muß mit ihr in einer Stube ganz allein sein, versteht sich in allen Ehren.‹ Wenn du dann bei der Prinzessin eingelassen wirst, so sprichst du zu mir: ›Donner und Teufel, fahr aus!‹ – öffnest ein Fenster, und ich hebe mich von dannen. Das darfst du aber nur zweimal tun, wenn du es dreimal tust, muß ich dir den Hals brechen!«
   Der Köhler fragte: »Auch wenn ich dir eine schöne gute Frau zeige?«
   Darauf erwiderte der Teufel: »Wir wollen sehen.« Er dachte aber, das kann ich ihm gern versprechen, damit hat es keine Not. Wir Teufel kennen die Frauen.
   An einem Abende kam der Köhler aus dem Walde, da sagte ihm seine Frau: »Du Mann, der reiche König hat ausgeschrieben, daß seine Prinzessin todsterbenskrank ist, ja sehr krank; wer ihr hilft, der soll das halbe Königreich von ihm bekommen oder so viel Gold, als wie der Doktor und der König beide schwer sind. Wenn du nur, Alter, ein gutes Hausmittel wüßtest und könntest der Prinzessin helfen, daß wir auch einmal aus unserer Armut kämen!«
   Hierauf sagte der Köhler zu seiner Frau: »Ich will einmal eine Probe machen, vielleicht bin ich glücklich«, und reisete ab.
   Als er zum König kam, so fragte dieser: »Alter, getrauest du dir, meine Prinzessin gesund zu machen?«
   »O ja, Herr König!« antwortete der Köhler. »Ich muß erst etliche Species aus der Apotheke haben, und die muß ich selber holen, und dann muß ich ganz allein bei der Prinzessin sein.«
   Darauf sprach der König: »Alter! Wie du es verlangst, so soll es geschehen. Machst du meine Prinzessin gesund, so bekommst du mein halbes Königreich oder so viel Gold, als ich und du schwer sind.«
   Der Köhler tat nun, wie ihm der Teufel anbefohlen hatte, und die schöne Prinzessin war auf der Stelle gesund. Der König stellte dem Köhler die Wahl frei: Gold oder Land, und der Köhler nahm das Gold.
   Binnen kurzem wurde nun die andere Prinzessin von dem Teufel besessen. Der König läßt den Köhler wieder kommen und spricht zu ihm: »Alter, du hast meine erste kranke Tochter gesund gemacht, hilf auch dieser!«
   Der Köhler sagte: »Ich will‘s versuchen, Herr König!« Und siehe, er half der zweiten Prinzessin auch wieder, und der König gab dem Köhler wieder ebensoviel Gold.
   Der Köhler war nun sehr reich, grämte sich aber dennoch, weil er den Teufel nun nicht wieder austreiben durfte, der sich vorgenommen hatte, die Frauenzimmer recht zu plagen, und gewiß davon noch nicht abließ. Die zwei ersten Male war es ausgemacht, das dritte Mal mußte er den Teufel in der Prinzessin lassen, sonst wollte ihm der Teufel den Hals brechen; und konnte er den Teufel nicht das dritte Mal austreiben, so mußte er es wagen, daß ihn der König ums Leben bringen ließ; er sann nach, ob nicht beim dritten Mal es ihm gelingen werde, den Teufel anzuführen.
   Nun wurde auch die dritte Prinzessin krank, weil der Teufel in sie gefahren war. Wiederum ließ der König den alten Köhler kommen und sprach zu ihm: »Du, Alter, hilfst du meiner Prinzessin nicht, so laß ich dich aufhängen!«
   Darauf antwortete der Köhler: »Mein allergnädigster Herr König, ich will eine Probe machen, aber dazu ist nötig, daß alle guten, schönen Mädchen in der ganzen Stadt morgen früh in weißen Kleidern, mit roten Schärpen und in Haarlocken, auch alle eure Geistlichen sich versammeln, vor dem Schlosse stehen und unter Gesang der Jungfrauen und Geistlichen ich neben der Prinzessin den Berg hinauf geleitet werde. Da darf aber beileibe keine darunter sein von den landläufigen Dirnen oder von den alten Jungfern, die noch zu freien lüstert, oder den Witwen, die ihren Ehrenstuhl verrücken möchten; und das müßt ihr euren Priestern streng befehlen. Wenn wir dann auf der höchsten Höhe sind, dann will ich eine Probe machen.«
   Der König ließ schleunigst alle Anstalten treffen, daß diese Bedingung erfüllt werde. Den kommenden Morgen war die große Versammlung vor dem Schloß. Der Zug bewegte sich bergan, und auf der höchsten Höhe sprach der Köhler:
   »Donner und Teufel, fahr aus!«
   Da fuhr der Teufel zwar aus, rief aber den Köhler zu: »Spitzbube, hältst du so dein Wort! Warte, nun breche ich dir den Hals!«
   Der Köhler aber verantwortete sich und sagte: »Halt! Unser Pakt hat einen Vorbehalt; du darfst mir nichts tun, wenn ich dir eine schöne, gute Frau zeige. Da, sieh dich nur um, sieh dir diese an.«
   Da sah sich der Teufel um und sah eine nach der andern an und erkannte wohl, daß er über diese keine Macht habe. Und da schämte er sich, auf der Erde zu bleiben, und fürchtete sich auch vor seinem Drachen, und so machte er ein Geprassel und einen Gestank und zog ab, wie er gekommen war.
   Und da ist der Teufel wieder heim in die Hölle gegangen, und wie er kam, fragten ihn alle seine Kameraden, ob er kein Weib mitbrächte. Und wie er sagte: er bringe keine mit, da hieß es wieder: »Dummer Teufel, dummer Teufel!« Und da war ein Höllenspaß und Spektakel und Teufelsgelächter, daß es krachte und prasselte und die ganze Hölle wie eine alte Wand wackelte und platzte. Und sind noch immer keine Weiber in der Hölle drin, ausgenommen des Teufels alte Großmutter – darum, weil die Weiber so gar gut sind.


   Die dankbaren Tiere

   Es reiste einst ein Pilger über Land, der kam auf seinem Wege durch den Wald an eine Wolfsgrube und nahm wahr, daß etwas Lebendiges darin sei. Und wie er hinunter blickte, so sah er darin einen Menschen, der war ein Goldschmied, und bei ihm waren ein Affe, eine Schlange und eine Ringelnatter; die waren alle drei unversehens in die Grube gefallen. Da gedachte der Pilger bei sich: Übe Barmherzigkeit mit den Elenden und hilf den Menschen von seinen Feinden. Da warf er ein Seil in die Grube und hielt das eine Ende fest in der Hand, willens, den Goldschmied heraufzuziehen, schnell sprang aber der Affe zu, kletterte herauf und sprang aus der Grube. Zum andern Mal warf der Waller das Seil hinab, da ringelte sich die Natter daran empor. Und beim dritten Mal erfaßte die Schlange das Seil und kam auch zu Tage. Diese drei Tiere dankten dem Waller für seine Güte und sprachen zu ihm: »Was du uns Gutes getan, das wollen wir dir wieder zu vergelten suchen, und wann dich dein Weg in unsre Nähe trägt, so magst du auf uns rechnen, daß wir nach Kräften dir zu Diensten sind; sei aber treulich gewarnt vor dem Menschen da drunten, denn nichts, was da lebt, ist so undankbar wie er. Dieses haben wir erfahren und sagen es dir an, daß du wissest, dich zu verhalten.«
   Damit schieden die drei Tiere von dem Pilger, dieser aber gedachte an seine Pflicht, daß dem Menschen zieme, dem Menschen zu helfen, und warf das Seil wiederum in die Grube und zog den Goldschmied heraus. Dieser bedankte sich mit vielen Worten für die Gnade und Barmherzigkeit, die der Pilger an ihm getan, und bat, ihn ja in der Königsresidenz, wo er wohne, zu besuchen, und verließ ihn.
   Auf seinem Weiterwege kam der Waller in die Nähe der Residenz und an den Ort, wo der Affe, die Natter und die Schlange wohnten. Die freuten sich, und der Affe brachte dem Waller, der sehr ermattet war, Obst und süße Feigen, die Natter zeigte ihm eine kühle, angenehme Grotte, wo er ruhen und rasten konnte, und legte sich davor und bewachte seinen Schlaf, denn niemand wagte sich dorthin, wo die große Natter lag. Die Schlange aber schlüpfte in die Königsburg und stahl dort einige goldne Kleinode, die gab sie dem Waller zur Verehrung, sagte ihm aber nicht, woher sie dieselben hatte. Als dieser von den Tieren aufbrach, ging er in die Königsstadt und suchte den Goldschmied auf; dem zeigte er die Kleinode und bot sie ihm zum Kaufe an. Der Goldschmied sah, daß sie des Königs Eigentum waren, schwieg still, ging zum König und zeigte an, daß er den Dieb dieser Kleinode in seinem Hause gefangen habe. Dafür empfing er eine stattliche Belohnung, und der König sandte seine Häscher, die fingen den Waller, schlugen ihn, führten ihn durch die Straßen und hinaus zum Galgen, um ihn zu henken. Da gedachte der alte Mann auf dem Wege an die Warnung der Tiere und seufzte laut: »O hätte ich euren Rat befolgt, ihr getreuen Tiere, so wäre diese Trübsal mir nicht beschieden worden!«
   Nun hatte die Schlange just ihre Wohnung an dem Weg, der zum Hochgericht führte, und hörte die Klagerede des unschuldigen Mannes, an dessen Unglück sie mit schuld war, und betrübte sich und dachte darauf, wie sie ihm helfe. Da nun der Königssohn, ein junger Knabe, auch des Weges geführt ward, damit er des Diebes Strafe zusehe, kroch sie hin und biß ihn in das Bein, daß es bald aufschwoll. Da blieb alles Volk erschrocken stehen, und man sandte eiligst nach Ärzten und nach Astrologen, wo möglich zu helfen. Die Ärzte brachten Theriak herbei, eine Arznei, die gepriesen war gegen den Schlangenbiß, er half jedoch nichts. Die Astrologen aber lasen in den Sternen, daß der zum Tode geführte Waller unschuldig war, und der Königsknabe rief selbst mit heller Stimme: »Bringt mir den Pilger her, daß dieser seine Hand auf meine Wunde und meine Geschwulst lege, so werde ich heil sein!«
   Da wurde der Pilger vor den König geführt, der fragte nach seinen Schicksalen, und der Pilger erzählte dem König alles treulich, von den guten dankbaren Tieren und des Goldschmieds, den er vom Tod errettet, schändlichem Undank. Und dann hob er Hände und Augen zum Himmel und flehte: »O allmächtiger Gott, so wahr es ist, daß ich unschuldig bin an dem Diebstahl, so wahr wird meine Hand diesen Menschen heilen!« Und da wurde von Stund an der Königssohn gesund. Als das der König sah, ward sein Herz froh und freudevoll, und er ehrte den Pilger mit köstlichen Gaben, ließ ihm auch alle Kleinode, um derentwillen der Pilger Todesangst ausgestanden hatte, und ließ zur Stelle den Goldschmied henken, zur Strafe seines großen und schwarzen Undanks.


   Die vier klugen Gesellen

   Es waren einmal vier Reisegesellen, die wanderten miteinander und hatten sich ganz zufällig auf dem Wege getroffen. Der eine von ihnen war ein Königssohn, der zweite ein Edelmann, der dritte ein Kaufmann, der vierte ein Handarbeiter. Allen vieren war die Barschaft ausgegangen, wie das bisweilen Reichen und Armen auf Reisen zu gehen pflegt, und sie hatten nichts als die Kleider, die sie auf dem Leibe trugen; ihre Säckel waren leer. Wie sie sich nun einer großen königlichen Residenz näherten und mächtigen Hunger verspürten, so warfen sie die Frage auf, woher sie Geld und Nahrung bekommen würden. Und da sprach der Königssohn: »Wir mögen ratschlagen, wie wir wollen, so geht es doch allein den Weg, den Gott geordnet hat, und wer an Gott hangt mit getreuer Hoffnung, der wird nicht verlassen.«
   Da sprach der Kaufmann: »Vorsichtigkeit mit Vernunft gepaart geht über alles.«
   Und der Edelmann: »Eine kräftige wohlgestalte Jugend ist noch mehr wert.«
   Darauf bemerkte der Wandergesell, der ein Handarbeiter war: »Nach meinem geringen Verstand halte ich dafür: Sorgsamkeit mit Übung sei das Beste.«
   Wie unter solchen Gesprächen die vier Reisegefährten gegen Abend in die Nähe jener Stadt gekommen waren, ruheten sie vor dem Tore aus, und da sprachen die drei andern zu dem vierten, dem Wandergesellen: »Du rühmst vor allen Sorgsamkeit, ei, so gehe du hin und trage Sorge, daß wir alle diese Nacht unsre Speisen bestreiten!«
   »Das will ich tun«, antwortete der Arbeiter, »wenn ein jeder hernach auch tun will nach seiner Lehre, daß es uns allen frommt.« Das verhießen ihm die Gefährten, und so ging jener in die Stadt hinein und befragte sich, was wohl ein Mann tun müsse, um so viel zu verdienen, daß vier Männer sich einen Tag lang sättigen könnten. Da beschied man ihn, nichts sei einträglicher, als Holz zu tragen, denn Holz sei teuer, der Wald weit und die Stadtleute seien bequem. Da ging der Mann eilend in den Wald, band sich eine tüchtige schwere Bürde Holz zusammen, trug es in die Stadt, empfing dafür zwei Silberpfennige, wofür er für sich und seine Gesellen Speise und Trank bestreiten konnte, und schrieb überaus freudig mit Kreide an das Tor der Herberge, worin sie übernachteten: Die Sorgsamkeit des Redlichen hat durch Übung seiner Kraft an einem Tage zwei Silberpfennige gewonnen.
   Am andern Morgen sprachen die drei Gesellen zum vierten, dem Edelmann: »Nun schaue und siehe zu, daß du uns heute mit Speise versorgst, und nimm deine Schönheit und Jugendkraft, und was du sonst weißt, dabei zu Hilfe.« Der ging auf die Stadt zu und dachte bei sich: Arbeiten kannst und magst du nicht und weißt auch sonst nichts anzufangen. Und doch wäre es dir eine Schande, mit leerer Hand zu deinen Gefährten zurückzukehren. Und stellte sich in trüben Gedanken an die Säule eines Hauses, willens, sich mit Kummer von seinen Wandergesellen zu scheiden. Da ging eine junge, schöne und reiche Witwe vorüber, sah die jugendliche Wohlgestalt des Edelmanns und wünschte zu erfahren, von wannen er sein möge. Sie sandte ihre Dienerin, ließ ihn zu Gaste bitten, erfuhr seine Umstände und befreundete sich so mit ihm, daß sie ihm, als er von ihr schied, hundert Goldpfennige verehrte. Da kehrte er mit reicher Zehrung zu den Kameraden in die geringe Herberge vor dem Tore zurück und schrieb an die Pforte: Mit frischer Jugend gewann einer eines Tages einhundert goldner Pfennige.
   Nun am dritten Tage sprachen die drei zu dem Kaufmann: »Heute ziehe du hin und gewinne mit deiner Vorsichtigkeit, die mit Vernunft gepaart ist, uns auch einen guten Tag und erwünschte Zehrung.«
   Da ging der Kaufmann fort und durch die Stadt, welche am Meere lag, hinab nach dem Hafen; da legte sich eben ein Kauffahrer im Hafen vor Anker, und die Kaufleute begrüßten den Patron des Schiffes, fragten nach seinen Waren und wollten mit ihm handeln, aber dieser forderte ihnen allen zu viel, und sie konnten sich nicht mit ihm einigen. Da sprachen sie untereinander: »Wir wollen ihm jetzt nichts weiter bieten; in kurzer Frist gereut ihn seine hohe Forderung, und wenn auch seine Waren so viel wert sind, so ist doch außer uns keiner, der Belieben trägt, sie zu kaufen.« Und da gingen jene Kaufleute von dem Patron weg. Der arme Kaufmann aber, welcher der Sohn eines reichen Kaufmanns war, ging zu dem Patron hin, entdeckte sich ihm, nannte ihm den Namen seines Vaters und kaufte ihm die ganze Schiffsladung um fünfzigtausend Gulden ab. Bald kehrten die Kaufleute noch einmal zurück, und weil sie die Waren brauchten, so bezahlten sie dem Käufer fünftausend Gulden Gewinn und bezahlten die Kaufsumme für die Waren. Da ging der junge Kaufmann fröhlich zu seinen Gesellen und schrieb an das Tor, wo die Schrift der Gefährten schon stand: Durch Vorsicht und Vernunft hat ein Mann eines Tages fünftausend Gulden gewonnen. Und hielt nun mit seinen Gesellen ein stattliches Freudenmahl.
   Am folgenden Morgen sprachen nun die drei zu dem Königssohn, dessen Herkunft sie nicht kannten: »Gesell, es ist an dir, daß du hingehest und uns mit Speise und Trank versorgst. Siehe zu, was Gott dir und deiner getreuen Hoffnung beschert, und möge es reichlich ausfallen!«
   Da machte sich der Königssohn auf den Weg in die Stadt und dachte: Was sollst du tun und beginnen? Du hast keine Arbeit gelernt, hast keine Jugend-Schönheit, hast keinen reichen Kaufmann zum Vater und bist nicht klug und nicht vorsichtig. Du hast nur dein Vertrauen auf Gott, und Gott wird dir helfen. Da setzte sich der Königssohn an die Straße auf einen Stein und versank in tieftrübe Gedanken.
   Es war aber in dieser Königsstadt der König abermals gestorben, und man führte an diesem Tage seine Leiche aus der Stadt in ein nahes Kloster, und alles Volk folgte dem Zuge. Der Königssohn aber saß so vertieft in Nachdenken über das widerwärtige Schicksal, welches er erfahren hatte, daß ihn nichts kümmerte, was außer ihm vorging, und so versäumte er aufzustehen, als der Zug mit der königlichen Bahre vorüberging. Da trat ein Gewaltiger hinzu, der ergrimmte über diese Unschicklichkeit, gab dem Königssohn einen Backenstreich und sprach, indem er ihn von dem Stein stieß, auf dem er saß: »Du verwünschter Bösewicht! Trägst du keine Trauer im Herzen über des Königs Tod, den alle beweinen? Hinweg mit dir!«
   Der Königssohn ließ schweigend den Zug vorübergehen, und als dieser zurückkam, da saß er wieder auf dem Stein, traurig und in gedankenvollem Sinnen. Da trat jener Gewaltige ihm wieder zornig nahe und fuhr ihn mit harter Rede an: »Sagte ich dir nicht vorhin, du solltest dich hier nicht mehr finden lassen?« Und er winkte den Schergen und ließ ihn in einen Kerker führen. Dort saß er, doch mit voller Hoffnung zu Gott, daß dieser ihn erlösen werde. Und als darauf das Volk zusammentrat, einen neuen König zu wählen, weil der vorige ohne Erben verstorben war, so sprach jener Gewaltige, daß er einen Mann im Kerker habe, der ein Verräter scheine, und man solle ihn öffentlich verhören und Recht über ihn sprechen. So wurde der Gefangene über alles Volk gestellt und gefragt, wie und warum er in dieses Land gekommen sei. Und er sprach: »Wisset, daß ich eines Königs Sohn bin« (und nannte den Namen seines Vaters), »und da mein Vater starb, so fiel an mich das Reich; aber mein jüngerer Bruder hatte mehr Anhang, darum drängte er mich vom Throne, und weil ich besorgen mußte, daß er mich töte, so bin ich entwichen aus meinem Erbe und in dieses Land gekommen.«
   Unter dem Volke, welches dies hörte, waren viele Männer, die hatten des Königssohn Vater gekannt und hatten auch in jenem Reiche gewandelt. Die sagten aus, daß jener König ein gerechter und frommer Mann gewesen und daß sein älterer Sohn auch fromm und tüchtig sei, und einige schrien: »Vivat! Es lebe der König!« Und da schrien die andern auch so: »Vivat! Es lebe der König!« und wählten den Königssohn zu ihrem Herrn. Da wurde er erhoben und im Triumph durch die Stadt geführt, nach des Landes Brauch und Sitte, und auch um die Stadt, und da kam er mit der Menge an die nahe Herberge, wo er mit seinen Wandergesellen gehaust und an deren Pforte die drei Denksprüche seiner Gefährten standen, und sah sie an und befahl, dazu zu schreiben: Fleißige Sorge, kräftige Jugend, vorsichtige Vernunft und was dem Menschen Gutes und Böses begegnet, das kommt alles von Gott, wie es die Menschen verdienen.
   Da wunderten sich alle über den Sinn des neuen Königs, freuten sich ihrer Wahl und erkannten, daß Gott ihnen diesen Herrscher gesendet habe. Als nun der König in den Thronsaal geführt ward und auf dem Stuhle des Königtums saß, da sandte er nach seinen Wandergesellen und sammelte um sich alle Edlen des Reichs, alle Weisen und alles Volk, so viel der Saal fassen konnte, und sprach: »Gepriesen sei Gott, der König der Könige, und Dank seinem heiligen Namen! Meine lieben Gefährten glaubten nicht, daß Gott unsre Schritte lenkt, nun müssen sie aber das an mir erkennen, denn weder die Kraft des Leibes, verbunden mit tätiger Sorgfalt, noch die Jugendkraft und Wohlgestalt, noch Handelswitz und Weisheit haben mir zum Throne verholten. Nie hoffte ich von dem Tage an, als ich durch meinen Bruder aus dem Reich verstoßen wurde, solcher Ehren und Würde wieder teilhaft zu werden; arm und im Pilgerkleid kam ich hierher, aber Gottes Hand war es, die mich führte, Gott war es, der mich erhöhte, an dem mein Herz mit treuer Hoffnung gehangen!«
   Auf diese Rede erhob sich ein Mann aus dem Volke und sprach: »Nun hören wir erst, wie würdig du, o König, dieses Reiches bist, da Gott dir so viel Weisheit und Vernunft verliehen hat. Wir werden mit dir, als einem weisen König, wohl beraten sein, denn seine Treue führte dich nicht ohne Ursache zu jener Gesellschaft. Ihm sei Lob und Dank!«
   Da stimmte das Volk freudig bei, und der König nahm wieder das Wort und redete: »Als ich vertrieben war, diente ich unerkannt eine Zeitlang einem Edelmann, allein ich fand mich bewogen, den Dienst zu verlassen, und als ich meinen Lohn empfing, so blieben mir nach dem, was ich für meine Kleider zu bestreiten hatte, nur zwei Pfennige. Da dachte ich in meinem Sinn: Einen Pfennig willst du Gott opfern und einen zu deiner Notdurft verwenden. Da begegnete ich einem Vogelhändler, der trug ein Turteltauben-Paar zu Markt, und ich dachte: Nicht besser kann der Mensch Gott dienen, als wenn er ein Geschöpf vom Tod erlöst, und da feilschte ich um die beiden Tauben, und da der Vogler mir beide nicht um einen Pfennig geben wollte, so dachte ich bei mir selbst: Läßt du die eine gefangen, so sind sie voneinander getrennt, und das ist ihnen der schlimmste Dienst. Da gab ich meine beiden Pfennige hin um die zwei Tauben, trug sie auf einen weiten Acker und ließ sie hinfliegen. Da flogen sie auf den Ast eines wilden Birnbaumes, unter dem ich stand, und wie ich wieder von dannen gehen wollte, so hörte ich, daß die eine Taube zu ihrer Freundin sprach: ›Dieser Mann hat uns vom Tod erlöst und uns unser Leben um all sein Gut, so viel er hatte, erkauft. Wir sind ihm Dank und Wiedervergeltung schuldig.‹ Und da riefen mir die Tauben und sagten: ›Du hast an uns große Barmherzigkeit geübt, und es ist unsere Pflicht, daß wir dir wieder vergelten. Unter dieses Baumes Wurzeln liegt ein großer Schatz, grabe nach, so wirst du ihn finden.‹ Ich grub und fand den Schatz und bewahrte ihn, lobte Gott und bat ihn, die guten Tauben in seinen Schutz zu nehmen und sie vor allem Übel zu bewahren, dann aber sprach ich zu ihnen: ›Wenn doch eure Vernunft und Weisheit so groß sind, und da ihr sogar zu fliegen vermögt, wie kam es denn, daß ihr in die Haft des Mannes geraten seid, aus dessen Händen ich euch kaufte?‹ Darauf antworteten die beiden Turteltauben: ›O du weiser Frager! Weißt du nicht, daß der Flug der Vögel, die Schnelle der Rehe, die Stärke der Stiere nichts vermag gegen das Verhängnis oder die göttliche Anordnung? Dagegen vermag sich keine Kreatur zu schützen, und so wenig wie ein Geschöpf unsrer Art, so wenig kann auch der Mensch auf Erden göttlicher Schickung entrinnen.‹«
   Als der König den Edlen und dem Volke ausgelegt hatte, wie er zu einem ruhevollen Gottvertrauen gelangt sei, wurde er aufs neue gepriesen, und er bestellte, daß seine Wandergesellen in der Nähe blieben. Den Edelmann machte er zu einem Herrn am Hofe, den Kaufmann setzte er über die Einkünfte des Reiches, und den Handarbeiter machte er zum Oberaufseher der Gewerbe, und so war durch Verstand, Vernunft, Klugheit und Gottvertrauen ihrer aller Glück begründet.


   Rupert, der Bärenhäuter

   Es war einmal ein Bursch von stämmigem Bau, der schaute trutziglich in die Welt und hatte Mut, mit aller Welt anzubinden, ging dieserhalb unter die Soldaten und schlug sich wacker und tapfer mit dem Feind herum, bis man Frieden machte und den Soldaten ihren Abschied gab, daß sie hingehen konnten, woher sie gekommen waren, oder wohin sie sonst wollten. Da dachte Rupert: Ich will zu meinen Brüdern gehen – denn Eltern hatte er nicht mehr – und wollte bei ihnen bleiben, bis wieder Krieg wäre. Die Brüder aber sagten: »So einer fehlte uns eben, der auf den Krieg wartet – ei, warte du! Wir wollen nichts wissen von Krieg und von Kriegern, wir wollen Ruhe haben! Hast du dich im Kriege durchgeschlagen, so schlage dich auch im Frieden durch; vor der Türe ist dein, daß du es weißt!«
   Da gab der Soldat Rupert seinen Brüdern kein einziges gutes Wort, nahm seinen Schießprügel und ging wieder fort in die Welt – und kam in einen großen Wald und sprach zu sich: Es ist schändlich, einen tapfern Burschen und Kriegsmann so fortzuschicken mitten in den Frieden hinein, mit dem unsereiner doch auf der Gotteswelt nichts anzufangen weiß. Ich muß Krieg haben! Wenn nur einer käme, mit dem ich anbinden könnte, und wann‘s der Teufel selber war! – Und wie Rupert das dachte, lud er sein Gewehr und tat einen starken Schuß hinein mit doppelter Ladung und auch zwei Kugeln. Da kam ein großer Mann durch den Wald auf Rupert zu, hatte einen schwarzen Schlapphut auf, mit roter Hahnenfeder darauf, eine krumme Habichtsnase, einen fuchsfeuerroten Bart und einen grünen Jägerrock an und fragte: »Wo hinaus, Gesell?«
   »Was habt Ihr danach zu fragen?« fragte Rupert grob zurück, weil er gern anbinden wollte mit dem ersten besten.
   »Hoho! Nur nicht so patzig!« rief der Grüne mit dem Schlapphut und der roten Hahnenfeder. »Fehlt dir was, so kann ich helfen!«
   »Mir fehlt es bloß am besten, am Geld!« antwortete Rupert.
   »Solltest Geld die Fülle haben, wenn du Mut hättest!«
   »Mut? Sappernunditjö! Herr, wer sagt Ihm, daß ich keinen Mut habe? Ich, ein Soldat, und keinen Mut? Mut wie der Teufel!«
   »Schau um dich!« sprach der Grüne.
   Und da schaute Rupert um, da stand ein Bär hinter ihm, schier so groß wie ein Nashorn und sperrte den Rachen auf und brüllte und kam, auf den Hinterbeinen gehend, auf Rupert zu – der aber nahm sein Gewehr, legte an und sagte:
   »Willst du eine Prise Schnupftabak? Da hast du eine Prise!« – und schoß dem Bär die doppelte Ladung in seine Nase hinein, in jedes Loch eine Kugel, die bis ins Hirn drang – und da tat der Bär einen mächtigen Satz und einen lauten Brüll, fiel um und war hin.
   »Schau, schau, Mut hast du, wie ich merke!« sagte der Grüne im Schlapphut mit der roten Hahnenfeder, »und so sollst du auch Geld von mir haben, so viel du nur willst, doch unter einer Bedingung!«
   »Die möcht ich hören!« sprach Rupert, der längst gemerkt hatte, mit wem er‘s zu tun, denn zu dem einen Stiefel hatte der Schuster, wie es schien, ein absonderliches Maß genommen, gerade als wenn er einem Pferd einen Stiefel gemacht. »Soll‘s etwa die Seligkeit sein – so dank ich schönstens!« fuhr Rupert fort.
   »Dummer Kerl!« entgegnete der Waldjäger, »was habe ich von deiner Seligkeit? Die kannst du für dich behalten, an der liegt mir gar nichts. Nein, das ist meine Bedingung, daß du in den nächsten sieben Jahren dich nicht wäschst, nicht kämmst, dir nicht den Bart scherst, die Nägel nicht schneidest, in keinem Bette schläfst und kein Vaterunser betest, was ohnehin nicht deines Kriegshandwerks Sache ist. Dafür gebe ich dir Rock und Mantel, die du aber auch einzig und allein in diesen sieben Jahren tragen mußt. Stirbst du innerhalb dieser Zeit, so bist du mein; bleibst du am Leben, so habe ich kein Teil an dir, du aber hast Geld nach wie vor und kannst damit anfangen, was du willst, und ich putze dich wieder sauber, und sollt es mit meiner Zunge sein.«
   »So – und das alles nennst du eine Bedingung?« fragte Rupert. »Mich dünkt, es wären ihrer schier ein Dutzend, doch es sei darum, ich will es probieren, probiert geht über studiert!«
   »Topp!« sagte der Teufel und zog den grünen Rock aus und zog auch sehr geschwind dem toten Bären das Fell ab und fuhr fort: »Hier ist dein Rock, hier sind dein Mantel und deine Bettdecke. In die Rocktasche brauchst du nur zu greifen, so findest du Geld, und die Bärenhaut, mit der deckst du dich, du Bärenhäuter du; das ist der schönste Faulpelz, den einer sich nur wünschen kann, der die Taschen voll Geld hat und daher nicht nötig, etwas zu tun.«
   Als Rupert den grünen Rock angezogen hatte, griff er vor allen Dingen in die Tasche, um zu sehen, ob es auch wahr sei mit dem Gelde, denn er traute dem Teufel nicht, dieweil dieser ein Vater der Lügen genannt wird. Da aber die Tasche sich als ein nimmerleerer Fortunatussäckel erwies, so hing Rupert seine Bärenhaut um und ging ohne Adieu vom Teufel hinweg, denn dieser war indes verschwunden.
   Rupert lebte nun in den Tag hinein, ließ den lieben Gott einen guten Mann sein und den Teufel auch einen guten Mann, ließ seinen Bart stattlich wachsen, daß er ganz wahlfähig in irgendeinem deutschen oder polnischen Reichstag erschien, denn die Kraft steckt im Haar, das lehrt bereits die Geschichte Simsons, und brachte es dahin, daß er schon im zweiten Jahre aussah wie ein Schubut und Waldschratt, zumal auch seine Fingernägel außerordentlich aristokratisch-vornehm noch über das chinesische Maß hinaus gewachsen waren. Die Leute wichen ihm aus, wenn sie ihn von weitem sahen oder rochen, denn obwohl er keinen Tabak rauchte, so roch er doch schon von weitem viel ärger als ein Wiedehopf, der überhaupt mit Unrecht als Stinkhahn verschrien ist, denn der Wiedehopf selbst stinkt gar nicht, nur seine Unreinlichkeit und das, womit er umgeht, bringen ihn in so schlimmen Ruf.
   Nun gab aber der Bärenhäuter den Armen immer viel Geld, damit sie beten sollten, daß er die sieben Jahre überdaure, und die Armen nahmen gern das Geld und versprachen, recht fleißig zu beten. Ob sie‘s getan haben, weiß ich nicht, und die Wirte nahmen ihn auch gern auf, da er viel aufgehen ließ, und überhaupt steht baumfest, daß, wenn einer nur Geld hat und es aufgehen läßt, da darf er ungescheut der ärgste Bärenhäuter sein, er findet stets Anhang und Anklang und Anerkennung, aber Geld gehört ein für allemal dazu.
   Nun ging die Bärenhäuterei schon in das vierte Jahr, und der Bärenhäuter hatte sie satt, denn er gefiel sich selbst nicht mehr, geschweige andern; im Gesicht schleppte er einen sehr belebten Urwald von Haarmoos herum, an den Fingern waren ihm Mistgabeln gewachsen, und sonderlichen Spaß hatte er auch nicht, trotz allen Geldes. In den Wirtshäusern gab man ihm stets die hintersten und höchsten Zimmer, drei, vier, fünf Treppen hoch und immer nahe bei den Retiraden. Einst saß er nun so ganz verdrießlich in seinem Zimmerchen, sann über sein Schicksal nach und wünschte sehnlichst seine Zeit herum, wo er einen neuen Menschen an– und den Schweinigelsbart samt den Galgennägeln an den Fingern ablegen wollte, da hörte er nebenan jemand ächzen und krächzen zum Steinerbarmen.
   Gleich ging er hinüber, dem Nachbarn beizustehen, denn der Bärenhäuter hatte von Natur ein mildes und gutes Herz. Da saß ein wehklagender und jammernder alter Mann, der dachte, als der Bärenhäuter kam, der Böse sei es und wollte ihn holen, denn der Bärenhäuter sah dem Teufel viel ähnlicher als sonst einem Geschöpf Gottes, doch ließ er sich endlich besänftigen und bewegen, seine Not zu klagen. Diese Not war nun gerade dieselbe, die des Bärenhäuters Not auch gewesen war, nämlich die bekannte Geldnot. Der gute Alte hatte drei Töchter und viele Schulden und sollte eben ein sehr eingezogenes Leben führen, weil er den Wirt, der ihn ausgezogen hatte, nicht bezahlen konnte. Der Bärenhäuter lachte darüber; der freilich hatte gut lachen, wie jeder, dem ein Goldborn in der Tasche quillt. Er bezahlte des alten Mannes Schulden bei Heller und Pfennig, und dieser lud ihn ein, mit ihm zu gehen und seine Töchter zu sehen, die nicht wenig schön seien, und eine davon solle ihn aus Dankbarkeit heiraten.
   Das war dem Bärenhäuter recht, denn er hatte viele Zeit übrig, und ward ihm die Zeit oft lang auf seiner Bärenhaut und ging auf Eroberungen aus, wie ein tapfrer Soldat immer tun soll, nur war es schade, daß er sich nicht nett und niedlich machen durfte, kein Stutz– und Spitzbärtchen, schwarz gewichst, und keine frisierten Löckchen und schlanke Flanken und glatte Nägel und kein Kölnisches Wasser und keine Havannazigarre erster Sorte. Das alles durfte er nicht, sondern mußte ganz Bärenhäuter bleiben und hingehen und Sturm laufen, wie er leibte und lebte, war, stand, ging und roch. Die beiden ältesten Töchter des geretteten Mannes entsetzten sich vor dem Ungetüm, das die Perücke mit unterschiedlichen Zöpfen übers Gesicht trug, statt auf dem Hinterkopf, das Patschhändchen gab wie der Vogel Greif, und das seine Wäsche bereits vier Jahre trug, davon selbige ganz isabellfarbig geworden war und roch wie ein altes leeres Essigfaß im Kellergewölbe, nichts weniger als appetitlich. Nur die jüngste Tochter, und zugleich die schönste, hielt Stand, indem sie nicht davonlief. Sie behielt im Auge, daß dieser Bärenhäuter ihren Vater gerettet und dadurch sie selbst mit von Schimpf und Schande; sie besaß die schöne Tugend der Dankbarkeit, die so viele nicht besitzen. Da nun der Bärenhäuter wahrnahm, daß dieses schöne Kind nicht vor seiner häßlichen und abschreckenden Gestalt zurückbebte, ja, daß es des Vaters Wort bei ihm erfüllen wollte – so bot er ihr einen schönen Ring, doch nur zur Hälfte – als Wahrzeichen, daß er sich mit ihr verlobe, und bat sie, recht fleißig für ihn zu beten, daß er noch drei Jahre und womöglich auch etwas darüber am Leben bliebe, und nahm auf drei Jahre Abschied, um sich in dieser Zeit zu entbärenhäutern und nach deren Ablauf als ein wohlgelecktes Herrchen wiederzukommen. Dies Kunststück kann auch nicht jeder machen; mancher geht als leidlich guter und zahmer Junge vom Elternhaus fort und kommt waldteufelähnlich zurück als der größte Bärenhäuter, den es nur geben kann. Die junge Schönste und schönste Junge, die sich dem Bärenhäuter verlobt hatte, kleidete sich schwarz und hatte von ihren Schwestern ob ihres zotteligen Bräutigams gar viel auszustehen. Diese spöttelten, bald die eine, bald die andre: »Gib acht, wenn du ihm die Hand reichst, daß er sie dir nicht abbeißt, denn er hat dich freßlieb!«
   »Nimm dich in acht, mein süßes Kind, daß er dich nicht aufleckt, Bären lieben den Honig!«
   »Tue ihm ja allen Willen, sonst brummt er, dein zukünftiger Zottelbär!«
   »Ei, was wird das für eine lustige Hochzeit werden, wenn erst der Bärentanz losgeht!«
   Doch die junge Braut schwieg zu allem still und ließ ihre älteren Schwestern spötteln und witzeln, so viel sie wollten, unterdessen setzte ihr Verlobter sein Leben fort, doch ohne des Guten und Schlimmen zu viel zu tun, lebte sich glücklich durch das letzte der sieben Jahre hindurch und suchte am letzten Tage das Plätzchen wieder auf, wo ihm vor sieben Jahren der Teufel erschienen war. Dieser erschien auch richtig wieder, doch mit einiger Verstimmung, denn er merkte, daß der Bärenhäuter der Bärenhäuterei längst überdrüssig war und mit ihm brechen wollte, wollte daher das Geschäft klug machen und die Röcke wieder umtauschen, aber der Bärenhäuter sagte: »So geschwind geht es nicht, erst leckst du mich und putzest mich rein, wie du zugesagt, damit ich wieder einem hübschen Menschen gleich sehe und nicht einem Waldschratt oder dir, du unsaubrer Geist!«
   Da mußte der Teufel den Bärenhäuter hübsch renovieren, ihm die Haare kämmen mit seinen Fingern, und mit seiner Zunge, die wie ein Reibeisen kratzte, ihm die Haut rein ablecken, ihm auch die Nägel schneiden und mußte ihn waschen und wieder ganz schön machen. Das kam ihm sauer an und war ein schwer Stück Arbeit, denn man hat gesehen in der Welt, was das mit einjährigen Bärenhäutern schon für eine Hauptmühe kostet, geschweige nun, wenn einer sieben Jahre in der Bärenhäuterei verharrte. Dann bekam der Teufel von dem weiland Bärenhäuter, nunmehrigen Herrn Rupert, einen rechten Tritt zum Valet, und der letztere kleidete sich sehr schön und reiste mit Extrapost und Dampf nach dem Wohnort seiner Verlobten, wo ihn aber niemand kannte.
   Er gebärdete sich als ein reicher Freier und ließ verlauten, daß er eine der drei Schönen heiraten wolle, davon eine bereits seine Verlobte war. Diese eine hatte gar keine acht auf ihn, aber ihre Schwestern, die hätten ihn gar zu gern gemocht und putzten sich wie die Pfauen und zankten sich, welche ihn nehmen sollte. Rupert aber erbat von seiner Braut einen Becher Weines, trank und bat sie, ihm Bescheid zu tun; wie sie das tat, erblickte sie die Hälfte ihres Verlobungsringes in dem Becher und war ganz hin vor Erstaunen und süßer Freude. Er aber umfing sie und küßte sie; da kamen ihre Schwestern aufgeputzt und furchtbar aufgedonnert dazu und wurden grün und gelb im Gesicht aus Neid und Ärger über ihrer Schwester Glück – und rannten davon. Eine stürzte sich voll Groll und Grimm in den Ziehbrunnen, die andre hing sich voll Gift und Galle auf dem Boden auf, und da war auch gleich der Teufel bei der Hand, fing beider Seelen auf und sagte: »Eine Seele mußt ich haben – und nun habe ich zwei. Wünsche Glück zur Hochzeit!« Damit fuhr er ab, und Rupert heiratete nach der Austrauer seine liebholde schönste Jüngste und ist niemals mehr wieder ein Bärenhäuter geworden.


   Vogel Holgott und Vogel Mosam

   In einen See strömten lustige Bäche, und er war voll Fische und war gelegen in einsamer Gegend, dahin weder Menschen kamen noch Fischreiher und andere fischefressende Vögel vom Meere her. Diesen See entdeckte ein bejahrter Vogel, der hieß Holgott und war vom Geschlecht der Fischadler, und es gefielen ihm die angenehme Lage, die friedsame Stille rings um den See und die Reichlichkeit der Nahrung. Da gedachte er bei sich selbst: Hierher willst du ziehen mit deinem Weib und allen den Deinen, denn hier finden wir genug an allem, was wir bedürfen, hier ist niemand mir widerwärtig und entgegen, und meine Kinder mögen dies Gebiet, wenn wir tot sind, als ein schönes Erbe innehaben. Nun hatte Vogel Holgott ein Weib, die saß daheim im Nest auf ihren Eiern, die nahe daran waren, ausgebrütet zu sein, und dieses Weibchen hatte einen lieben Freund, auch einen Vogel, der hieß Mosam. Dieser Freund war ihr so lieb, daß ihr nicht Trank und nicht Speise schmeckte, wenn er nicht um sie war, und ohne ihn hatte sie kein Vergnügen.
   Als nun ihr Mann seinen Ratschlag und Beschluß entdeckte, in jene schöne Gegend zu ziehen, aber ihr hart verbot, dem Freund Mosam davon zu sagen, so war das ihr außerordentlich leid, und sie sann auf Fünde und Ränke, wie sie diesem ihres Mannes Vorhaben heimlich stecken könne, ohne daß dieser es merke. Und da sagte sie zu ihrem Manne: »Siehe, mein teurer Holgott, nun werden unsre Jungen bald ausschlüpfen, und da ist mir eine Arznei verraten worden, sie für die Jungen zu brauchen, wenn sie auskriechen, daß ihnen ihr Gefieder stark und fest wächst; auch behütet diese Arznei sie lebenslänglich vor bösen Zufällen. Diese Arznei nun möchte ich gern holen, so du mir das gestattest und es dir gefällig wäre!«
   »Was ist das für ein Arcanum?« fragte Vogel Holgott.
   Und die Frau erwiderte: »Das ist ein Fisch in einem See, der um eine Insel fließt, den niemand weiß als ich und der, welcher es mir verraten. Darum rate und bitte ich dich, setze dich an meiner Statt auf die Eier und brüte, so will ich indes den Fisch holen oder zwei, und wir wollen sie dann mitnehmen in den neuen Aufenthalt, den du uns erwählt hast.«
   Darauf entgegnete der Mann: »Nicht ziemt es den Vernünftigen, alles zu versuchen, was der erste beste Arzt ihm rät; denn manche raten Dinge uns an, die zu erlangen unmöglich sind. Was frommt das Unschlitt des Löwen wohl dem Kranken oder der Nattern Gift? Soll einer darum den Löwen bestehen und die Nattern in ihrer Höhle besuchen und in die Gefahr selbsteigenen Todes sich wagen, auf eines Arztes Rat? Laß ab, o Frau, von deinem törichten Vorhaben und laß uns an jenen Ort ziehen, während unsre Jungen hier bleiben; dort findest du Fische mancherlei Art, vielleicht auch jene heilsamen, und die weiß niemand dann, außer uns. Wer an besorglicher gefahrvoller Stätte sein Heilkraut sucht, dem möcht es ergehen, wie es dem alten Affen erging.«
   »Wie erging es diesem?« fragte das Vogelweibchen, und Vogel Holgott erzählte:


   Von zwei Affen

   »Ein alter Affe lebte an einem fruchtbaren Ort, wo Bäume und Früchte, Wasser und Weiden im Überfluß vorhanden waren. Da er nur immer im Wohlleben war, so bekam er in seinem Alter die Raute und war damit sehr geplagt, wurde mager und kraftlos, so daß er seine Speise nicht mehr erlangen konnte. Da kam ein andrer Affe zu ihm und fragte ihn verwundert: ›Ei, wie kommt es, daß ich dich so krank und abgezehrt sehen muß?‹ ›Ach!‹ seufzt der alte Affe, ›ich weiß keine andere Ursache als den Willen Gottes, dem niemand zu entfliehen vermag.‹
   Darauf sprach jener: ›Ich kannte einen Freund, der trug dasselbe Siechtum, und es half ihm nichts als das Haupt einer schwarzen Natter. Als er das aß, so genas er, das solltest du auch tun!‹
   Ihm entgegnete der alte Affe: ›Wer gibt mir ein solches Natterhaupt, da ich so schwach bin, kaum eine Frucht von dem Baume zu erlangen?‹
   Darauf versetzte jener: ›Vor zwei Tagen sah ich vor einer Höhle in einem Felsen einen Mann stehen, der lauerte auf die schwarze Natter, die in der Höhle lag, und wollte ihr die Zunge ausziehen, weil er einer solchen bedürftig war; da will ich dich hinbringen. Hat der Mann die Natter getötet, so nimmst du das Haupt und ißt es.‹
   Der alte Affe sprach: ›Ich bin siech und krank, werde ich gesund und stark, so will ich dir gern deinen Dienst vergelten.‹ Da führte jener Affe den alten in die Felsenhöhle, darin er einen Drachen wohnen wußte. Vor der Höhle waren große Fußtritte, wie die eines Menschen, der alte Affe dachte, die habe der Mann zurückgelassen, der die Natter getötet, kroch hinein und suchte das Haupt. Da zuckte der Drache hervor und erwürgte ihn und fraß ihn. Der junge aber freute sich, daß er seinen Gesellen verlockt und betrogen hatte und nun im alleinigen Besitz der schönen Fruchtbäume war.«
   Als Vogel Holgott seinem Weibchen dies erzählt hatte, fügte er noch hinzu: »Dies sage ich der Lehre halber, die darinnen liegt: Es soll kein Vernünftiger sein Leben wagen auf einen törichten und betrüglichen Rat hin.« Aber das Weibchen sprach: »Ich habe dich recht wohl verstanden, allein hier ist es doch ein ganz andrer Fall, denn die Fische, die ich meine, sind ohne Gefahr zu holen und werden unsern Jungen sehr dienlich sein.«
   Als Vogel Holgott sah, daß verständige Überredung bei seiner Frau nicht anschlage, so gab er nach: »Kannst du es nicht lassen, so hole die Fische; bewahre dich aber, daß du niemandem weder das eine noch das andere Geheimnis vertrauest, denn also lehren die Weisen: Löblich ist jeder Vernunft Übung, aber die größte Vernunft beweist der, der sein Geheimnis begräbt, also daß es keiner zu finden vermag.«
   Darauf flog das Weibchen fort und auf der Stelle zu seinem lieben Freund Mosam und teilte ihm alles mit, was der Mann im Sinn hatte, und daß er an einen lustigen Ort ziehen wolle, wo weder von Tieren noch von Menschen etwas zu fürchten sei. Und sprach: »Möchtest du, o Freund, einen Fund finden, daß auch du dorthin kommen könntest, doch mit Wissen und Willen meines Mannes, denn soll mir etwas Gutes widerfahren, so hab ich keine Freude ohne dich.«
   Darauf erwiderte der Vogel Mosam: »Warum sollte ich gezwungen sein, nur mit Bewilligung deines Mannes dort zu weilen? Wer gibt ihm solche Gewalt an die Hand über mich und andre? Wer verbietet mir, auch dorthin zu ziehen? Zur Stunde will ich hinfliegen und dort mein Nest bauen, da es so eine genügliche Stätte ist. Und wird dein Mann kommen und mich vertreiben wollen, so werde ich ihm das wohl zu wehren wissen und ihm sagen, daß weder er noch seine Vorfahren dort seßhaft waren und er also nicht mehr Recht an jener Gegend hat als ich und andere.«
   Da erwiderte das Weibchen: »Du hast nicht unrecht, aber ich wünschte doch deine Gegenwart dort in der Voraussetzung, daß allewege Friede und Eintracht unter uns seien. Gehst du gegen meines Mannes Willen dorthin, so haben wir üble Nachrede zu gewärtigen, und unsre Freundschaft wird sich in Trauer verkehren. Mein Rat ist dieser: Du gehst zu meinem Manne, läßt ihn nicht wissen, daß wir uns gesprochen, und sagst zu ihm (ehe ich zurück bin), du habest jene sehr schöne Gegend gefunden und dir vorgenommen, dorthin zu ziehen, so wird er dir erwidern, daß er auch zuvor schon diese Stätte entdeckt habe und entschlossen sei, hinzuziehen; dann sprichst du: ›O Freund Holgott, so bist du der erste und jener Stätte würdiger denn ich, aber ich bitte dich, laß mich bei dir wohnen, so will ich dir dort ein treuer Freund und Gefährte sein.‹«
   Diesen Rat befolgte Vogel Mosam und flog eiligst zu Vogel Holgott hin, während das Weibchen an den ersten besten Teich flog und zwei Fische fing und heim trug, als seien es die heilsamen Wunderfische, und Vogel Holgott erwiderte auf den Antrag, daß ihm Mosams Gesellschaft wohlgefällig sei. Das Weibchen aber stellte sich, als wäre ihr ihres Mannes Nachgiebigkeit gegen ihren Freund nicht lieb, damit er ihre Verräterei nicht merke, und sagte: »Wir haben doch jene Stätte für uns allein erwählt, und ich besorge, wird Vogel Mosam mit uns ziehen, so folgen seine vielen Freunde auch nach, und zuletzt müssen wir weichen vor ihrer Überzahl.«
   Darauf entgegnete ihr Mann: »Du hast recht; aber ich vertraue Mosam und hoffe, mit seinem Beistand werden wir uns der Zudringlichkeit erwehren, darum ist es vielleicht gut, daß dieser Freund bei uns wohne. Niemand vertraue allzuviel der eigenen Kraft und der eigenen Macht. Wir sind zwar mit die stärksten unter den Vögeln, aber Hilfe dienet dem Schwachen, zu überwinden den Starken, wie die Katzen den Wolf überwanden.«
   »Wie war das?« fragte Holgotts Weibchen, und dieser erzählte ihr:


   Von dem Wolf und den Maushunden

   »Am Meeresgestade war eine Schar Wölfe, darunter war einer besonders blutdürstig, der wollte zu einer Zeit sich einen besondern Ruhm unter seinen Gesellen erwerben und ging in ein Gebirge, wo viele und mancherlei Tiere sich aufhielten, da zu jagen. Aber dieses Gebirge war umfriedet, und die Tiere waren da sicher vor andern Tieren und wohnten in Eintracht beieinander; darunter war auch eine Schar Maushunde oder Katzen, die hatten einen König. Nun war der Wolf mit List durch das Gehege gekommen, verbarg sich, fing sich jeden Tag eine Katze und fraß sie. Das war den Katzen sehr leid, und sie sammelten sich zur Beratung unter ihrem König; und da waren insonderheit drei weise, einsichtsvolle Kater, die berief der König in seinen Rat und fragte den ersten um sein Votum gegen den schädlichen Wolf. Der erste Kater sprach: ›Ich weiß keinen Rat gegen dieses große Ungeheuer, als uns in Gottes Gnade zu befehlen, denn wie möchten wir dem Wolf Widerstand tun? Der König fragte den zweiten Kater, und dieser sprach: ›Ich rate, daß wir gemeinschaftlich diesen Ort verlassen und uns eine andere ruhigere Stätte suchen, da wir hier in großer Trübsal, Leibes– und Lebensgefahr verweilen müssen.‹ Der dritte Kater aber sprach: ›Mein Rat ist, hier zu bleiben und des Wolfs halber nicht auszuwandern. Auch wüßte ich einen Rat, ihn zu überwinden.‹
   ›Sag ihn‹, gebot der König.
   Und der Kater sprach weiter: ›Wir müssen acht darauf haben, wenn der Wolf sich neuer Beute bemächtigt hat, wohin er sie trägt und verzehrt, dann müssen du, o König, ich und unsre Stärksten, ihm nahen, als wollten wir das essen, was er übrig läßt, so wird er sich für ganz sicher halten und von uns sich nichts befürchten. Dann will ich auf ihn springen und ihm die Augen auskratzen, und dann müssen alle anderen über ihn herfallen, so daß er sich unsrer nicht mehr erwehren kann, und es darf uns dabei nicht irren, daß einer oder der andre von uns das Leben einbüßt oder Wunden davon trägt; denn wir erlösen dadurch uns und unsre Kinder von dem Feind, und ein Weiser scheidet nicht feig und furchtsam von seinem Vatererbe; nein, er verteidigt es mit Leibes– und Lebensgefahr.‹
   Diesen Rat hieß der König gut. Darauf geschah es, daß der Wolf einen guten Fang getan hatte, den er auf einen Felsen schleppte, und da führten die Katzen ihre Tat aus, die der tapfere weise Kater angeraten; und der Wolf mußte schämlich unter ihren Krallen und zahllosen Bissen sein Leben enden.«
   »Dieses Beispiel«, fuhr Vogel Holgott fort, »sage ich dir, liebes Weib, damit du begreifst, daß treue Freundschaft hilfreich ist, und darum nehme ich gern Vogel Mosam als meinen Freund und Gefährten mit.«
   Als dieses das Weibchen hörte, jubilierte sie innerlich, daß ihr Anschlag so unverdächtig und nach ihres Herzens Wunsch ausging. Und da erhoben sich die drei Vögel nach jener lustigen Stätte; ließen im alten Nest die indes ausgebrüteten Jungen zurück, bauten dort Nester und wohnten dort friedsam und freundlich bei reichlicher Nahrung eine Zeit miteinander. Und Vogel Holgott, der alt und schwach wurde, und sein Weib hatten den Vogel Mosam viel lieber in ihren Herzen als er sie, wie sich gleich zeigen wird.
   Es kam eine dürre heiße Zeit, daß alles verdorrte, der See austrocknete und die Fische starben; da sprach Vogel Mosam zu sich selbst: Es ist ein schönes Ding um treue Kameradschaft, und es ist löblich, wenn Freunde zusammenhalten. Aber ein jeder ist doch sich selbst der Nächste. Wer sich selbst nichts nütze ist, wie soll der andern nützlich sein? Wer künftigen Schaden nicht voraussieht und ihn meidet, der wird ihm nicht entgehen, wenn er da ist. Nun sehe ich voraus, wie mir die Gesellschaft dieser Vögel Schaden und Abbruch tun wird, da von Tag zu Tag die Nahrung sich mindert; und zuletzt werden sie mich verjagen. Mir aber gefällt es hier wohl, und ich könnte auch allein, ohne jener Gesellschaft, hier wohnen; da wäre es wohl gut, wenn ich ihnen zuvorkäme und mich ihrer entledigte, und zwar zuerst des Mannes, denn das Weib vertraut mir ganz, die zwinge ich dann ungleich leichter. Sie kann sogar den Mann töten helfen.
   Mit solchen argen und schändlichen Gedanken flog Vogel Mosam zu dem Weibchen und nahte ihr ganz traurig und niedergeschlagen. Die fragte ihn: »Warum sehe ich dich so traurig, mein Freund?«
   Und er antwortete: »Ich traure über die schwere Zeit und sehe schreckvoll daher schreiten des Hungers Gespenst. Und zumeist deinetwegen trauert mein Herz. Eines nur wüßt ich, das dir frommte, wenn mein Rat nicht unweise dir dünkt.«
   »Welcher ist das?« fragte das Weibchen.
   Und Mosam sprach: »Bande der Freundschaft sind mehr wert als Bande der Blutsverwandtschaft, denn diese ist oft schädlicher als Gift. Ein Sprichwort sagt: Wer eines Bruders mangelt, der hat einen Feind weniger, und wer keine Verwandten hat, der hat keine Neider. Ich will dir etwas ansinnen, das dir nützlich sein wird, liebe Freundin, obschon es dir hart ankommen wird, es zu vollbringen, und du wirst es mir als ein Unrecht auslegen, daß ich es dir offenbare, wenn auch es in meinen Augen geringfügig erscheint.«
   Da sprach das Weibchen: »Deine Rede erschreckt mich, ich kann mir nicht denken, was du meinst, und glaube nicht, daß du mir Übles raten wirst. Doch wäre mir ein leichtes, den Tod zu erleiden um deinetwillen; darum so sprich! Denn wer nicht sein Leben einsetzt für einen treuen Freund, der ist sehr töricht, denn ein Freund ist immer nützlicher als ein Bruder oder als Kinder.«
   Jetzt sprach Mosam mit Arglist: »Mein Rat ist, daß du suchtest, deines alten schwachen Mannes los und ledig zu werden, für den du so mühevoll sorgen mußt; da wird dir Glück und Heil zureifen und mir mit dir! Und frage nicht nach der Ursache dieses Rates, bis du ihn vollzogen hast, denn hätte ich nicht guten Grund dazu, so glaube mir, würde ich dir solches nicht anraten. Ich schaffe dir schon einen bessern und jüngern Mann, der dich immer lieben und beschützen wird. Und tust du nicht nach meinem Rat, so wird es dir gehen wie jener Maus, die auch guten Rat verachtete.«
   Da fragte das Vogelweib: »Wie war das mit jener Maus?«
   Und Mosam erzählte:


   Die Katze und die Maus

   »Es war einmal ein Mann, dem taten die Mäuse in seiner Speisekammer vielen Schaden, da nahm er eine Katze an, damit sie die Mäuse vertreibe und vertilge. Nun war unter den Mäusen eine recht große, die war auch stärker als die andern, und wie sie wahrnahm, was geschehen war, da suchte sie eine Gelegenheit, wo sie von einem sichern Ort aus mit der Katze sprechen konnte, und sagte zu dieser: ›Ich weiß, daß dein Herr dich bestellt hat, mich und meine Freunde zu vertreiben und zu töten. Nun freut es mich, deine Bekanntschaft zu machen, und ich möchte mich deiner Gunst empfehlen und guten Frieden mit dir halten.‹
   Sprach die Katze: ›Es freut mich ausnehmend, dich kennenzulernen, und es wird mir äußerst schätzbar sein, wenn du mich mit deiner Freundschaft beehren willst. Auch wäre dein Umgang mir der erwünschteste, allein ich darf dir nichts versprechen, was ich dir nicht zu halten vermag. Siehe, verehrteste Maus, mein Herr hat mich zum Bewahrer seines Hauses gesetzt, daß du und deine Sippschaft ihm nicht länger Schaden zufügst, schonte ich nun deiner, so würde es heißen: Das ist eine schlechte Katze! Darum meide entweder, meinem Herrn zu schaden, oder meide das Haus und suche dir einen andern dir genehmen Aufenthalt.‹
   Die Maus sprach: ›Ich habe dich höflich gebeten, und so bitte ich nur noch, verzeihe mir meine Freiheit und schenke mir deine Freundschaft.‹
   ›Ja‹, sprach die Katze, ›du bist mir lieb und wert, wie soll ich aber die Freundschaft zu dir vereinigen mit meiner Pflicht bei dem Schaden, den deine Gesellen meinem Herrn zufügen? Lasse ich euch leben, so tötet er mich, das ist billig. Darum, so gewähre ich dir drei Tage Frist, in welcher Zeit du dich nach einer andern Wohnung umtun magst.‹
   Die Maus erwiderte: ›Sehr schwer und ungern trenne ich mich von dieser Wohnung; ich werde mich hüten, dir zu nahe zu kommen, und hierbleiben, so lange es mir gefällt.‹ Die Katze schonte die Maus, ihrem Wort getreu, drei Tage lang, da wurde diese ganz sicher und tat nun gar nicht mehr, als sei eine Katze im Hause vorhanden; als die drei Tage herum waren und die Maus wieder ganz unbesorgt aus ihrem Löchlein lief, da lag die Katze im Winkel der Speisekammer und lauerte, sprang zu und fing und fraß die Maus mit Haut und Haaren.«
   »Das ist ein Gleichnis«, fuhr Vogel Mosam fort, »an dem du sehen kannst, daß nicht ziemt dem Verständigen, zu verachten der treuen Freunde Rat. Und das Sprichwort sagt, daß der Freunde Rat oft gleiche bittrer Arznei, die doch heilsam ist und das Siechtum bannt.«
   Das Vogelweib bedachte sich lange und schwankte, was sie tun solle, und wie es zu vollbringen sei, daß auch kein Schein böser Tat auf sie fiele. Da riet der falsche Freund, sie solle einen Fisch nehmen, durch den die Fischer zur Lockung großer Fische eine spitze Angel gesteckt, und den dem Mann unter die andern Fische, die er speise, legen, so werde er daran erwürgen. Das tat das Weib, und weil Vogel Holgott alt war und nicht selbst mehr Fische fing und sein Weib ihn bisweilen Hunger leiden ließ, so schluckte er gierig den Fisch mit dem Angelhaken in sich hinein und erwürgte daran, und wie das geschah, so verfluchte er die, die ihn so schmählich dem Tod geweiht. Als das geschehen war, lebte der Vogel Mosam noch eine kurze Zeit mit dem ungetreuen Weibe, aber weil die Nahrung immer seltener wurde, so begann er ihrer sehr überdrüssig zu werden und stürzte sich auf sie, sie zu töten. Da flogen gerade ihre Söhne daher, die kamen, um ihre lieben Eltern zu besuchen, und fielen herab auf den Vogel Mosam, als schon ihre Mutter im Sterben lag, die ihnen alles bekannte und verschied. Da hackten sie mit ihren spitzigen Schnäbeln dem Vogel Mosam die Augen aus, ließen ihn elendiglich verhungern und rächten so den Doppelfrevel, der von ihm an ihren Eltern begangen worden war.


   Das Rebhuhn

   Es war ein reicher Jude, der reiste durch ein Königreich und trug mit sich einen großen Schatz an Geld und Gut. Da ihn nun sein Weg durch einen großen Wald führen sollte, fürchtete er sich, daß er um seines Geldes willen darin etwa sein Leben lassen müsse, und ging daher zu dem Könige des Landes, reichte ihm ein Geschenk dar und bat, daß der König ihm einen sichern Mann mitgebe zum Geleite durch den Wald und durch sein ganzes Reich.
   Da gebot der König seinem Schenken, dem Juden das Geleit zu geben, und dieser tat, was ihm geboten war, und geleitete den Juden.
   Als nun diese beiden in den Wald gekommen waren, da gelüstete dem Schenken nach dem Schatz des Juden, und er stand still auf dem Weg und sprach zu ihm: »Gehe voran!« Der Jude erschrak, ahnte des Schenken böse Absicht und wollte nicht vorangehen. Der Schenke zog alsbald sein Schwert aus der Scheide und rief: »Jud, so mußt du hier von meiner Hand sterben!«
   »O lieber Schenke, tut das nicht!« rief der Jude, »solche Mordtat an mir würde nicht verborgen bleiben! Und ob heimlicher Mord von allen Menschen ungesehen vollzogen wird, so werden ihn die Vögel offenbaren, die unter dem Himmel fliegen!«
   Wie der Jude das noch sprach, flog eben ein Rebhuhn im Walde auf und über ihnen beiden hin. Da hohnlachte der Schenke und sprach spöttisch: »Hab acht, Jud, das Rebhuhn wird‘s dem Könige sicherlich ansagen, daß ich dich hier ermordet.«
   Und so ermordete der Schenke den Juden im Walde, nahm ihm all sein Geld und seinen Schatz, den er bei sich trug, begrub ihn heimlich und ging wieder zu Hofe.
   Und es verging ein ganzes Jahr nach des Schenken ungetreuer Tat, da geschah es, daß dem Könige Rebhühner geschenkt wurden, die gab der Schenke dem Koch, ließ sie wohl bereiten und brachte sie zur Tafel. Und wie er die Rebhühner vor den König hin auf den Tisch stellte, dachte er an den Juden, den er ermordet hatte, und an dessen letzte Rede von den Vögeln und mußte lachen. Der König sah es und fragte, worüber er lache. Der Schenk aber gab dem Könige eine falsche Ursache seines Lachens an.
   Nachher über vier Wochen geschah es, daß der König seinen Amtleuten und Dienern ein Gastmahl gab, dabei war auch der Schenke, und der König selbst war sehr fröhlich und heiter, scherzhaft und lustig und ließ so viel Wein und edle Getränke auftragen, daß etliche seiner Diener trunken wurden.
   Und da alle so lustig waren, sprach der König zum Schenken: »Lieber Schenk, jetzt sage mir die freie Wahrheit, worüber hast du gelacht unlängst, da du mir die Rebhühner auftrugst, denn du hast mir damals nicht mit wahren Worten berichtet!«
   Der Schenk war trunkenen Mutes, denn wenn der Wein eingeht, geht die Weisheit aus, und sprach: »Ei, mein Herr König, als der Jude schrie, die Vögel würden seine heimliche Ermordung offenbaren, die unter dem Himmel fliegen, da flog eben ein Rebhuhn in die Höhe, dessen mußte ich gedenken und darüber lachen.«
   Der König schwieg auf diese Rede still, ließ sich nichts merken und tat, als sei er nicht in seiner Fröhlichkeit gestört. Aber des andern Tages ging er zu Rate mit seinen heimlichen Räten und sprach also zu ihnen: »Was hat der verschuldet, der von des Königs wegen einen durch das Reich sicher geleiten sollte und hat denselben selbst ermordet und beraubet?«
   Darauf antworteten die Räte einstimmig: »Der hat den Galgen verdient!« Darauf saß der König öffentlich zu Gericht, bestellte einen Kläger, der den Schenken anklagte, und da er seine Tat vor Zeugen im Rausche erzählt, so mußte er sie auch vor Gericht bekennen und wurde zum Galgen verurteilt. So ward der heimliche Mord durch die Rebhühner kund und offenbar.


   Der fette Lollus und der magere Lollus

   Es starb ein reicher Mann, welcher zwei Söhne hinterließ und ein hübsches Vermögen und Erbe. Der eine der Söhne erwählte den geistlichen, und zwar den Mönchs-Stand, der zweite einen sehr weltlichen, er wurde ein Gastgeber, das heißt, er gab seinen Gästen so wenig als möglich und nahm dafür von ihnen so viel als möglich.
   Er heiratete nach Geld und strebte fort und fort nach Geld. Seinem Bruder borgte er dessen Erbanteil ab, da dieser als Mönch kein Geld bedurfte, und wucherte damit, aber nicht zu des Bruders, sondern zu seinem eigenen Nutzen. Seine Biergefäße waren falsch, und seine Weinflaschen ließ er auf der Glashütte so klein blasen, daß man beim Anblick einer ganzen Flasche sehr in Zweifel geriet, ob es nicht eine halbe sei, und seine halben Flaschen schienen alle nach der schlanken Körperbildung eines Bleistifts hinzustreben, daher hießen sie auch bei den Gästen dieses Wirtes nie anders als Stifte. Wenn der Stallknecht dem Pferde eines Reisenden Hafer vorgeschüttet hatte, so trat der Wirt, wenn er sich unbemerkt glaubte, an die Krippe, kripste ganze Hände voll Hafer wieder dem armen Tier vor dem Maule weg und schob ihn in seine Tasche. Er sagte sich, deshalb heiße die Krippe so, weil man aus ihr kripsen könne. Es war ein durchtriebener Schalk, dieser Wirt, und an ihm lag es nicht, daß er nicht reich wurde, denn Anlagen dazu hatte er, aber das Bibelwort sagt nicht vergebens: Die da reich werden wollen, fallen in Versuchung und Stricke. Des Wirtes Tun segnete nicht.
   Was half es ihm, wenn er fremden Pferden von deren Futter ein paar Hände voll Hafer stahl – und eins seiner eigenen Pferde krepierte? Wenn er durch sein zu knappes Gemäß nach und nach einen Anker Wein langsam gewann – und durch Nachlässigkeit seiner Leute, die er ohne Aufsicht ließ, ihm ein ganzes Ohm in den Keller lief? Er kam nicht vorwärts, dieser betriebsame Wirt, sondern er kam zurück in allen Dingen, nur nicht von seiner Prellerei und Habsucht, diese trieb er immer ärger und ärger, bis die Gäste wegblieben und das Weinstüblein leer stand, die Karten und Würfel ruhten, der Bratofen kalt blieb und der Schornstein sich das Rauchen abgewöhnte.
   Als es so weit schon mit dem Krebsgange dieses Wirtes gediehen war, schlug ihm ein neuer Schrecken in die Glieder; sein Bruder, der fromme Mönch, kam und sprach zu ihm: »Lieber Bruder, gib mir das dir geliehene Kapital heraus, ich habe meinem heiligen Schutzpatrone in unserer Klosterkirche einen kostbaren Altar mit herrlicher Malerei, Schnitzwerk und Vergoldung gelobt, den will ich davon herstellen, und was übrigbleibt, wenn etwas übrigbleibt, davon will ich Seelenmessen für unsere lieben Eltern, für dich und mich auf ewige Zeiten stiften.«
   »Großer Gott!« schrie der Wirt. »Bruder, wie kannst du so unsinnig handeln! Ich kann dir dein Geld jetzt nicht herausgeben, denn ich habe es nicht – ich bin zugrunde gerichtet; und wenn du auf der Zahlung bestehst, so wird mir Haus und Hof über dem Kopfe angeschlagen, ich muß mit Frau und Kindern betteln gehen, und du bekommst erst recht nichts, und dein heiliger Schutzpatron bekommt auch keinen neuen Altar. Höre mich an und sei vernünftig, mein lieber gottseliger Bruder! Lasse mir noch das Geld, gönne mir Zeit, mich zu erholen! Du weißt, wir haben eine schlimme Zeit durchgemacht, in welcher niemand auf einen grünen Zweig hat kommen können, außer den Bauern, die haben ihr Schäfchen geschoren und lachen uns jetzt aus. Dein Heiliger ist gewiß ein edeldenkender Menschenfreund gewesen, und hat er einige Jahrhunderte in deiner Klosterkirche keinen Pracht-Altar gehabt, so wird es ihm darauf, einige Jahre früher oder später einen solchen zu erhalten, auch nicht ankommen. Gott der Herr weiß, daß ich mir es gehörig sauer werden lasse – ich plage mich über alle Maßen, Geld zu erschwingen – aber es geht nicht – ich komme zu nichts.«
   »Das höre ich sehr ungern von dir, lieber Bruder«, sprach mit Teilnahme der Mönch. »Du hast den schlechtesten Gast in dein Gasthaus aufgenommen, den es geben kann.«
   »Wer wäre das?« fragte der Wirt.
   »Das ist der fette Lollus!« entgegnete der Mönch.
   »Der fette Lollus?« fragte verwundert der Wirt. »Du scherzest entweder, Bruder, oder du faselst. In meinem Fremdenbuche steht kein Gast solchen Namens, und nie hörte ich diesen Namen nennen, wahrlich, in meinem ganzen Leben nicht!«
   »Das ist wohl möglich«, sagte der Mönch, »dennoch ist dieser schlimme Gast vorhanden und die alleinige Ursache deines Vermögensverfalles und deines Zurückkommens.«
   »Den möcht ich sehen! Ich wollt ihn —«, fuhr der Wirt auf.
   »Du wirst ihm nicht gleich etwas anhaben, lieber Bruder«, sprach lächelnd der Mönch, »allzulange hast du ihn treulich gehegt und gepflegt – doch sehen sollst du ihn, den fetten Lollus. Er befindet sich in deinem Keller, gehe mit mir hinunter.«
   Verwundert nahm der Wirt den Kellerschlüssel und eine Lampe und dachte: Aha, mein Bruder meint den Wein – er will andeuten, ich sei mein bester Gast selbst, doch da irrt er sich sehr.
   Im Keller hieß der Mönch seinen Bruder die Lampe auf ein Faß setzen, daß ihr Strahl in eine leere Ecke fiel, hieß den Wirt hinter sich treten, zog ein kleines schwarzes Buch hervor und murmelte daraus, gegen die Ecke gekehrt, eine Beschwörungsformel. Da wallete der Boden, da hob sich etwas Dickes heraus, da glühten ein Paar feurige Augen, und dem Wirte gerann das Blut in den Adern vor Furcht und Grauen. »Lölle, gehe ganz herzu!« rief der Mönch, da hob sich dem dickgeschwollenen Kopfe ein unförmlich dicker Leib nach, und kurze, plumpe Füße patschten auf dem Boden des Kellers, und ein unförmliches, scheußliches Tier, dessen Haut so fett und speckig glänzte wie die einer Robbe, hockte in der Ecke.
   »Schaust du deinen werten Gast, mein Bruder?« fragte der Mönch zu diesem gewendet sehr ernst. »Ich vermeine, er habe sich in deiner Herberge nicht übel gemästet! Siehst du, Bruder – alle und jede Frucht deines Truges hat nicht dir angeschlagen, sondern diesem Lollus. Was du den Fremden und deren Vieh abgezwackt, der hat sich davon genährt, den durch zu kleines Gemäß und durch zu kleine Flaschen trüglich gewonnenen Wein oder sonstiges Getränke – alles hat der Lollus geschluckt. Unrechtes Gut gedeihet nicht, und Untreue schlägt ihren eigenen Herrn. Soll sich‘s mit dir und deinem Wesen bessern, so übervorteile niemand mehr, betrüge niemand, übernimm niemand. Fordere, was recht ist, denn was recht ist, lobt Gott. Halte ehrliches, gerechtes Maß und Gewicht, siehe selbst zu deinen Sachen, täglich, stündlich, vom Keller bis zum Kornboden. Bediene, so viel du es kannst, selbst deine Gäste, verlasse dich nicht allzuviel auf Oberkellner und Unterkellner, auf Hausknecht und Stallknecht, auf Koch und Büttner. Je mehr du Gesinde hältst, je fetter füttert sich der Lollus.«
   Nach dieser Vermahnung wurde der Wirt sehr nachdenklich und sagte: »Ich danke dir, mein Bruder; ich will tun nach deinen Worten, die du mir gesagt hast.«
   Da beschwor der Mönch den Lollus wieder und sagte: »Lölle, kreuch ein«, und schwerfällig kroch der Lollus hinterwärts wieder in die Erde zurück, und die Kellerecke war wieder leer und glatt wie zuvor.
   »Mein Geld will ich dir noch vier Jahre lassen«, sagte der Mönch, »dann aber muß meinem Heiligen Wort gehalten werden.« Darauf schied er von seinem Bruder hinweg.
   Der Wirt befolgte mit Eifer seines Bruders treuen Rat, änderte seine Wirtschaft ganz und gar, richtete alles besser ein, sparte am rechten Orte, veruntreuete aber nichts mehr. Seine Frau mußte in der Küche selbst nach dem Rechten sehen, was sie früher nicht getan – richtiges Gemäß wurde hergestellt, auf der Glashütte wurden gerechte und vollkommene Weinflaschen geblasen, und die kleinen liliputanischen verschwanden. Dafür stellten sich die verschwundenen Gäste wieder ein, der Bratofen wurde nicht mehr kalt, und der Schornstein rauchte wieder, trotz eines deutschen Professors, schier Tag und Nacht.
   Des Wirtes ganzes Wesen besserte sich in jeder Weise; sein Wohlstand nahm mit seiner Rechtlichkeit sichtbarlich zu; sein guter Ruf und der seines Hauses breiteten sich weit aus, und die Gastwirte in den Nachbarstädten begannen, ihn zu beneiden, denn die Reisenden fuhren lieber noch ein paar Stunden in die Nacht hinein, um nur in das gute Gasthaus zu gelangen, und nicht selten war dieses so von Gästen überfüllt, daß der fröhliche Wirt dennoch eine traurige Miene annehmen und die überzähligen Gäste abweisen mußte.
   Als nach dem Ablaufe von vier Jahren der Mönch, des Wirtes Bruder, wiederkam, seinen Erbanteil zu begehren, empfing ihn der Wirt auf das freundlichste, setzte ihm ein herrliches Weinchen von der schönsten Farbe vor und allerlei schmackhaftes Konfekt, Nonnen-Plätzchen und dergleichen, und legte ihm starke Geldrollen auf den Tisch, indem er sagte: »Hier, mein lieber Bruder, ist mit meinem besten Dank dein Kapital samt allen Zinsen, redlich berechnet, bei Heller und Pfennig.«
   Der Mönch aber sagte: »Lieber Bruder, die Zinsen nehme ich nicht, solches ziemet mir nicht, nicht nur als einem Priester, sondern es stehet auch geschrieben: Du sollst nicht Wucher nehmen von deinem Bruder. Aber ich freue mich, daß du des fetten Lollus ledig bist und hast nur noch den magern.«
   »So?« sagte der Wirt. »Wohnt der auch im Keller? Den möcht ich auch sehen.«
   »Den sollst du sehen!« antwortete der Mönch, hieß den Wirt voran in den Keller gehn und hob drunten seine Beschwörung wieder an. Da bewegte sich ganz langsam hinten in der Ecke die Erde und allmählich lugte ein schmales Köpfchen heraus, mit ganz matten Augen.
   »Lölle, gehe ganz herzu!« sprach der Mönch. Da wand sich der Lollus matt und mühsam aus dem Boden und erschien äußerst abgemagert; seine Haut glänzte nicht mehr wie Speckschwarte, sondern war verrumpfelt und verschrumpfelt wie eine Baumrinde und sah äußerst hinfällig aus. »Nun ist‘s gut, das freut mich!« sprach der Mönch. »Lölle, kreuch ein!« Da kroch der Lollus wieder hinterwärts, aber ganz langsam, in den Kellerboden zurück, und in der Ecke war nichts zu sehen.
   »Hab acht, Bruder!« sagte der Mönch, »wenn du bleibst, wie du jetzt bist, so hält es der Lollus kein Vierteljahr mehr bei dir aus, entweder er verkommt, oder er geht ein Haus weiter und sucht sich einen Herrn, der ihn besser nährt als du.« Dieses Trostes war der Wirt über alle Maßen froh und segnete seines weisen Bruders Rat tausendfach.


   Die Adler und die Raben

   Auf einem großen Gebirge lagen zwei weite Wälder nachbarlich einander gegenüber, fern den Gegenden, welche Menschen bewohnten, und in einem dieser Wälder horsteten eitel Adler, im andern aber nisteten bloß Raben, und jedes dieser Vogelgeschlechter stand unter einem Könige von demselben Stamme, welche über ihr Volk als Alleinherrscher regierten.
   Da geschah es, daß alter Haß aufs neue rege ward unter den Adlern gegen die Raben und in einer Nacht der Adlerkönig sich mit einer Schar der Seinen erhob, hinüber flog nach dem Rabenwalde, dort die schlafenden und keines feindseligen Angriffes sich versehenden Raben überfiel und ihrer eine große Anzahl tötete, ohne daß der Rabenkönig nur etwas von diesem Überfall erfuhr, bis am Morgen, als er erwachte und sich von seinem Neste erhob. Da vernahm er den Schaden und großen Verlust der Seinen mit ernster Betrübnis und versammelte all seine Räte und gedachte mit ihnen zu beratschlagen, wie man am besten diese untreue Tat der Adler rächen könne und solle. Da die Raben, wie die Naturgeschichte lehrt, merklich gute Redner sind, so fehlte es auch dem Rabenkönige nicht an der rechten Redegabe, und er sprach zu seinem versammelten Rate also:
   »Meine lieben Getreuen! Euch ist kund geworden, wie ohne vorherige Absagung und Kriegserklärung, zuwider allem Völkerrechte die Adler, unsere Nachbarn, uns heimlich des Nachts überzogen und viele der Unsern gemordet haben, ohne daß wir zur Zeit noch erfahren können, warum sie solches getan haben. Werden wir das dulden und es ohne Wiedervergeltung geschehen sein lassen, so wird es mehrmals geschehen, darum laßt uns ratschlagen, auf welchen Wegen wir das tun, was für uns und unseren Staat das Beste ist. Übereilt euch nicht mit eurem Rate, sondern überleget ihn wohl, denn unser aller Wohl oder Wehe hängt davon ab, ob wir weisen oder unweisen Rat schöpfen. Sinne ein jeder eine gute Weile nach über den unerhörten Fall, der unsers Reiches bisherige Wohlfahrt stört, ja sie mit Vernichtung bedroht, wenn wir nicht Mittel finden, dem feindseligen Tun der Adler zu steuern.«
   Auf diese Rede des Königs erfolgte eine geheime Sitzung bei verschlossenen Türen, welcher nur die fünf Geheimräte des Königs beiwohnten, den König an ihrer Spitze. Diese Raben waren mehrenteils von Alter ganz grau, einige waren sogar weiß befiedert, mancher hatte einen völlig kahlen Kopf, und fast alle gingen gebeugt einher, unter der Last ihrer Jahre, die, wenn man sie zusammenzählte, sich auf eine hohe Summe beliefen. Der König war weit jünger als sie alle. Als der letztere nun das geheime Conseil eröffnete, so nahm der erste, der Vorsitzende im Geheimen Staatsrat, als Ministerpräsident das Wort und sprach: »Großmächtigster König und Herr! Die alten Weisen haben schon ausgesprochen, was ich zu raten mir gestatte: Wenn ein Feind dir an Macht überlegen ist und du nicht vermagst, ihm zu widerstehen, so weiche ihm und vermiß dich nicht mit einem eitlen und stolzen Herzen, mit ihm zu kämpfen, sonst wirst du des Schadens noch mehr von ihm erleiden denn zuvor.«
   Der König faßte den Sinn dieser Rede vollkommen wohl, äußerte seine Meinung aber nicht, sondern wendete sich an seinen zweiten Geheimrat und fragte: »Was sagest du?«
   »Allergnädigster König und Herr!« antwortete der Gefragte, »meiner ohnmaßgeblichen Meinung nach kann ich die Absicht meines geehrten Freundes, der vor mir gesprochen, nicht teilen. Sollte es wohlgetan sein, so ohne weiteres uns als besiegt zu erklären und unsere Heimat ohne den mindesten Versuch einer Verteidigung aufzugeben? Nein, lasset uns in Eintracht bereit sein zu mannhaftem Widerstande, wehrhaft gerüstet und allewege wachsam. Hüter und Späher lasset uns aussenden, die uns alles künden, was sie vom Beginnen der Adler gewahren, und kommen sie wieder, uns feindlich anzufallen, so laßt uns ihnen tapfer entgegen ziehen mit aller Macht. Vielleicht entweichen sie, wenn sie wahrnehmen, daß wir mit gleicher Münze ihnen zu zahlen bereit sind, wie sie uns. Schimpflich wäre uns Flucht mit Weibern und Kindern und das Verlassen dieses unseres durch unsere Väter geheiligten Waldes und Wohnsitzes. Den laßt uns behaupten und verteidigen auf Tod und Leben; zu schimpflicher Flucht bleibt immer noch Zeit, wenn im Kampfe wir unterliegen.«
   Schweigend hörte der König auch diesen Rat und gab dem dritten seiner Geheimräte das Wort. Dieser erhob mit Würde sein ernst gesenktes Haupt und öffnete seinen Schnabel bedachtsam. »Allergnädigster König und Herr! Die verehrten Vorredner haben gewiß nach ihrer beiderseitigen, wenn auch entgegenstehenden Überzeugung gesprochen. Mir scheint es schwierig zu sein, gegen die Adler mit Hoffnung auf Sieg zu streiten, denn offenbar sind sie stärker, streitbarer und mächtiger, aber auch ich rate nicht schimpfliche Flucht und freiwilliges Exil an. Sende, o König, einen weisen, redekundigen Mann deines Vertrauens zu den Adlern hinüber, der ihren König als dein Gesandter in deinem Namen frage, ob er Kenntnis von dem Überfalle gehabt, was dessen Grund sei und womit wir denselben verschuldet. Vielleicht läßt sich das Geschehene als ein Mißverständnis sühnen und auf dem Wege der Verhandlung gütlich beilegen. Vielleicht läßt sich auch von unserer Seite der Friede mit den Adler erkaufen, damit wir ruhig im Schoße unserer Heimat verbleiben, denn das ist das Wort der alten Weisen: Besser ist Friede denn Krieg, und nicht schimpflich ist es, Tribut zu entrichten dem unbesiegbaren Feinde!«
   Der Sprecher schwieg, und schweigend gab der König dem vierten Rate das Wort. Dieser, minder hochbetagt wie seine Vorredner, hob sein Haupt mit kühner Bewegung und sprach mit männlicher Kraft: »Keiner der verehrten Ratgeber hat ausgesprochen, was uns in Wahrheit frommen mag! Ich stimme gegen das gänzliche Aufgeben und Verlassen unseres heimatlichen Wohnsitzes, ich stimme gegen den ungleichen Kampf, der nur mit unserer schmählichen Niederlage und Knechtung enden würde, ich stimme gegen Verhandlung mit jenen nichtswürdigen Adlern, und vor allem stimme ich gegen einen Tribut, der uns ihnen gleichsam unterordnet. Mein unmaßgeblicher Rat ist, eine Zeitlang zu weichen, uns draußen Bundesgenossen zu werben und dann unversehens mit Heeresmacht zurückzukehren, den Adlern zu tun, wie sie uns getan, um unsern Wohnsitz uns wieder zu gewinnen. Die alten Weisen sagten: Wer sich seinem Feinde unterwürfig macht, der hilft ihm wider sich selbst.«
   Der König wiegte bedächtig sein Haupt hin und her; er faßte und wog den Sinn aller vernommenen Worte in seinen Gedanken und winkte dem fünften seiner Räte zu sprechen. Dieser begann: »Meinem Bedünken nach frommt uns keiner von allen den bisher gegebenen Ratschlägen vollkommen. Ich kann zwar ebenfalls nicht dafür stimmen, gegen einen uns überlegenen Feind zu streiten. Ich fürchte die Aaren. Niemand soll seinen Feind allzu gering achten! Ich kann aber auch nicht zu schimpflicher Flucht raten, ebenso wenig zu schimpflichem Tribut, und noch minder möchte ich den Adlern die Ehre einer Gesandtschaft unsererseits angetan sehen, denn einer solchen würden sie sicherlich spotten. Die alten Weisen geben den Rat: Niemand nahe sich seinem Feinde, so er nicht eigenen Vorteil gewahrt. Mein Rat und Vorschlag ist der, abzuwarten mit List und Vorsicht, was weiter von Seiten der Adler gegen uns vorgenommen werden will, keine Furcht zu zeigen, aber auch keine Herausforderung, keine Demütigung, aber auch keinen Übermut. Ein Weiser sieht seinen Schaden voraus und bewahrt sich vor ihm, bevor er ihm naht. Denn unwiderruflich ist, wenn es nahe schon kam, uns das Unheil. Mit sanfter Gewalt, durch List und Verstand, vermeiden wir vielleicht den Krieg und die Unterjochung.«
   Jetzt nahm der König fragend das Wort: »Wie meinst du das? Welche List willst du gebrauchen gegen die Adler? Sprich es ganz aus, was du im Sinne hast.«
   Der Sprecher erwiderte: »Höre mich, mein König und Herr!
   Wenn ein König seine Räte befragt, die er als Weise erkannt und die Kenntnis von allen Dingen besitzen, so wird sein Reich wohl bestehen, und seine Macht wird gemehrt und gestärkt. Verschmäht aber ein König den Rat seiner Weisen und folgt, selbst wenn es ihm an eigener Klugheit und Einsicht nicht mangelt, nur seinem eigenen Willen und Vorsatz, der wird selten ein glückhaftes Ende seiner Ratschläge sehen, und sein Reich wird nicht zur Blüte gelangen. Lasset uns unser aller Rat so lange prüfen und weislich durchdenken, bis wir das finden, was das gemeinsame Beste ist. Mein Rat ist dieser: Zum ersten, daß wir uns des Eindrucks entschlagen, den der Schreck des unvermuteten feindlichen Überfalles in unsere Herzen goß, und mit gestärktem herzhaftem Gemüte Beschlüsse fassen. Zweitens, daß wir uns völlig klar werden über die Ursache des Überfalles und die Feindseligkeit der Adler gegen uns, eine Ursache, die im geschichtlichen Boden wurzelt. Ohne diese Ursache zu kennen und reiflich zu erwägen, ist unsererseits ein vernunftgemäßer Entschluß nicht möglich.«
   »Aber wie sollen wir diese Ursache ergründen?« fragte der König.
   »Sie ist ergründet, ich kenne sie, mein König«, antwortete der Sprecher.
   »So sage sie!« gebot der König.
   »Sie ist ein Geheimnis, mein königlicher Gebieter!« entgegnete der weise Ratgeber. »Die alten Weisen gaben aber das schöne Rätsel auf: Was ist für einen zu wenig, für zwei genügend, für drei zuviel? Das Geheimnis und was ich dir zu sagen habe, ist nur für zwei Zungen und für vier Ohren tauglich. Wie weise auch mancher Herrscher sei, alles kann er doch nicht wissen, darum heißen der Herrscher vertraute Räte Geheime, daß er ihnen seine Heimlichkeit anvertraue und sie ihm hinwiederum mitteilen, was nicht ein jeder andere zu wissen braucht.«
   Auf diese Worte hob der König die Sitzung seines Geheimratskollegiums auf und hieß den weisen Rat ihm in ein abgesondertes Gemach folgen und fragte ihn dort: »Was weißt du von der Ursache des gegen uns offenbar gewordenen Hasses der Adler?«
   »Die ganze Ursache wurzelt in einer Rede, mein König, die einmal ein Rabe gehalten hat«, antwortete der Geheimrat.
   »Setze dich nieder und erzähle mir das!« sprach der König und ließ sich ebenfalls nieder, um aufmerksam zuzuhören, und der Ratgeber erzählte:


   Vom Hasen und dem Elefantenkönige

   Es kamen einmal alle Geschlechter der Vögel zusammen, gemeinsam einen neuen König zu küren, denn ihr bisheriger König war gestorben, und sie waren bereits unter sich einig, den Aar zum Könige zu wählen. Schon sollte die Wahl erfolgen und bestätigt werden, so sah die Versammlung von weitem den Raben geflogen kommen, der sich verspätet hatte, und da sprachen einige der Versammelten: »Es ist gut, daß der Rabe auch kommt, auf daß wir seinen Rat ebenfalls vernehmen«, und als der Rabe sich niederließ, sprachen sie zu ihm: »Es ist recht, daß du kommst, dein Stimmrecht auszuüben, wie jeder von uns befugt und berufen ist; gern hören wir deine Meinung, doch sind die meisten Stimmen für den Adler als unserm künftigen König.« Darauf antwortete der Rabe: »Wenn über die Wahl bereits entschieden ist, so bleibe ich in der Minderheit und bin von vornherein überstimmt, aber dennoch gebe ich mein Nein zu diesem eurem Beschluß. Und selbst wenn es keine edlen Geschlechter unter uns Vögeln mehr gäbe, keine Königsgeier, Edelfalken, Reiher und heilige Ibisse, Schwäne und Paradiesvögel, sondern nur Tauben, Spatzen, Nachteulen und Rohrdommeln und dergleichen, so würde ich dennoch nicht für den Adler als unser gemeinschaftliches Oberhaupt stimmen, denn er wird von bösen Sitten beherrscht, seine Farbe ist ein unentschiedenes geflecktes und getigertes Braun, seine Zunge trägt er verkehrt im Schnabel, schöne Reden zu halten, wie wir weise Raben, vermag er gar nicht, und doch kommt so unendlich viel darauf an, daß ein Herrscher gut zu sprechen und Reden zu halten wisse. Der Adler ist ein halber Tor – in seinem ganzen Wesen und Gebaren ist kein Adel, nicht das, was wir noble Haltung nennen. Vernunft besitzt er gar keine, desto mehr aber Grimm und Grausamkeit, jähen Zorn und gnadenlose, unbarmherzige Tyrannei. Sein ganzes Geschlecht ist von jeher übel berühmt; hat stets auf Schlimmes gesonnen und ist arglistigen, tückischen Herzens auf anderer Schaden bedacht gewesen, ist so voll Bosheit, daß ich es gar nicht auszusprechen vermag. Darum sage ich euch, wählt keinen Adler zu unserm Könige, suchet euch einen andern, wenn er auch vielleicht minder klug und scharfsichtig ist; edle Einfalt der Gemütsart ist besser als behende allüberlistende Klugheit. Denn wäre einer König und immerhin etwas beschränkten Verstandes, wenn er weise Minister hat und fromme Räte und Beisassen, so wird sein Reich wohl bestehen, wie wir ein Beispiel haben an dem Könige der Hasen. Dieser war nicht besonders klug und weise, aber er folgte weisen Ratschlägen, und das kam ihm zugute.«
   Auf diese Rede fragten alle Vögel, welche so aufmerksam zuhörten, wie du jetzt mir, mein allergnädigster König und Herr, fuhr der weise Ratgeber zu erzählen fort, was denn der Hasenkönig getan und vorgehabt, worauf der Rabe antwortete:
   »Es war einmal ein überteures Jahr und dabei so trocken, daß die Früchte des Landes verdorrten und alle Quellbrunnen versiegten; das fiel allen Tieren zu ertragen sehr schwer, am schwersten aber denen, welche vieler Pflanzennahrung bedürfen, folglich den größeren und größten, nämlich den Elefanten. Diese traten zusammen und klagten ihrem Könige ihre große Not und sprachen: ›Uns gebricht es täglich mehr an Wasser und Weide. Wäre es dir genehm, so wollten wir Boten aussenden, eine andere Wohnstätte zu suchen, daß wir unser Leben erhalten.›‹ ›Ich habe nichts dagegen, tut nach eurem Rat und Gefallen‹, antwortete der Elefantenkönig. Darauf ernannten die Elefanten einen Ausschuß und schickten dessen Mitglieder aus, umherzulugen und zu suchen, wo sich ein besserer, wasserreicher Wohn– und Weideplatz böte. Davon gelangten einige in das Königreich der Hasen; das war ein lustiger Ort, mit einem Brunnen, welcher dem Monde heilig war, wie denn auch die Hasen dem Monde heilig waren vor alten Zeiten. Dort rings um den Brunnen waren die unterirdischen Höhlen der Hasen. Den ausgesandten Spähern gefielen Ort und Gelegenheit gar zu wohl, sie kehrten heim und erstatteten Bericht über den neuen Wohnsitz. Von den Hasen hatten sie nichts wahrgenommen, denn der Kleine fürchtet den Großen, und die Weisen behaupten, es sei von Seiten Kleiner nicht gut Kirschen essen mit den Mächtigen. Auf die gute Botschaft hin brach das Elefantenvolk samt seinem Könige auf und zertrampelten den armen Hasen Wohnungen, Höhlen und Ansitze in Grund und Boden samt einem Teile des zaghaften Völkleins. Da war des Jammers kein Ende, und die Hasen liefen haufenweise zu ihrem Könige und klagten ihm ihr Herzeleid und wollten Rat und Hilfe von ihm. Aber da war guter Rat teuer und Hilfe fern, denn was vermag das schwache Häslein gegen den mächtigen Elefanten? Der Hasenkönig aber berief dennoch seine Räte und sprach zu ihnen: ›Ich fühle wohl, daß ich nicht weise genug bin, meinem zertretenen Reiche zu helfen, darum ratet ihr, was uns zu tun ziemt, redlich und getreulich, mir und euch und der gesammelten Hasenheit zu Nutz und Frommen.‹ Da sprach ein alter Hase, welcher weise und gelehrt war und in großer Achtung stand: ›Wenn es dir gefällt, so sende mich, mein König, und noch einen deiner Getreuen, der meine Werbung vernehme und dir darüber berichte, zum Könige der Elefanten.‹
   Der König erwiderte auf diese Rede: ›Mich will bedünken, du seiest getreu und weise genug, und ich vertraue dir sonder allen Argwohn ganz allein. Vollziehe die Sendung und melde, was du ausgerichtet. Sage auch dem Könige der Elefanten meinen Gruß und außerdem in meinem Namen alles, was dir gut dünkt, denn ein Botschafter muß wissen, wie er sich verhalte, und alles beobachten und in Anwendung bringen, was ihm nützlich erscheint.‹ Hierauf machte sich der alte Hase in einer hellen Vollmondnacht auf und ging nach dem Mondbrunnen, doch überlegte er mit Vorsicht, daß er von zarter Leibes– und Gliederbeschaffenheit sei, und dachte der alten Sprichwörter: Wer sich mutwillig in Gefahr begibt, der kommt darin um, und wer unter die wilden Tiere geht, den zehren sie auf. Ich will diesen Berg besteigen und mit dem Elefantenkönige Zwiesprache pflegen.
   Der alte Hase tat, wie er gesagt, und kam vor den Elefantenkönig und sagte zu ihm: ›An dich, großmächtigster Herr und König, sendet mich der Mond, mein nachtbeherrschender Gebieter. Höre seine Botschaft durch mich an in deiner Weisheit und laß mich nicht etwas Mißfälliges entgelten, denn ein Abgesandter ist nur ein Werkzeug.‹
   Der Elefantenkönig sprach: ›Sage mir an, was ist es, das der Mond wünscht und gebeut?‹ Und der alte Hase erwiderte: ›Also entbietet dir durch meinen Mund der Mond: Der Mächtige, der seiner Macht vertraut, läßt sich leicht durch diese bewegen, zu streiten gegen den, der noch mächtiger und stärker ist, und sein Kampfgelüst wird ihm leicht zu einem Strick um seine Füße. Du, o König, lassest dir damit nicht genügen, daß du der Mächtigste und Größte bist unter allen Tieren, nein, du hast deinen Zug unternommen gegen mein armes Volk, das Volk der Hasen; hast mit den Deinen ihre und ihrer unschuldigen Kindlein Weide zertreten und meinen und ihren Brunnen. Tue dies nicht mehr, hebe dich mit den Deinen anderswohin von dannen, oder ich will eure Augen trübe machen, spricht der Mond, und euch von dannen bringen mit meinem grimmigen Zorn. Und so du, o König, meinen Worten nicht glaubst, so soll ich dir des Mondes zornvolles Antlitz zeigen. ‹
   Da erschrak der Elefantenkönig und ging mit dem Hasen zu dem Mondbrunnen, und der letztere ließ ihn in das Wasser sehen und sagte: ›Schmecke mit deiner langen Nase hinab, so schmeckst du den Mond.‹ Da stieß der Elefant seinen Rüssel in den Mondbrunnen, und da bewegte sich alsbald das Wasser, und das widergespiegelte klare Antlitz des Mondes verzerrte sich. ›Siehest du – o mächtiger König!‹ rief der Hase, ›wie grimmig der Mond dich anschaut und seinen ganzen Zorn dir verkündet durch seine Mienen über das Arge, das du ihm und seinem Volke getan!‹
   Darauf sprach der Elefantenkönig: ›O Herr, der Mond! Nimmermehr will ich oder soll einer der Meinen wider dich und die Deinen sein! Gern wollen wir weichen von deinem Heiligtume.‹ Und tat also und zog ab mit den Seinen weit hinweg von dem Mondbrunnen, und die Hasen nahmen wieder Besitz und bauten ihre Wohnungen aufs neue und wohnen noch heute in Frieden an ihrem Orte.
   »Dieses«, sprach der zu dem Volke der Vögel redende Rabe, »habe ich euch als ein Beispiel gesagt, daß ihr einen verständigen König euch wählt, der, wie jener König der Hasen, auf verständigen Rat achtet und nicht stets selbstherrisch immer oben hinaus will, wie der Adler, und auf der Irrigkeit eines starken Kopfes beharrt, oder der auch, weil Weisheit ihm mangelt, wie dem Elefantenkönige, leicht zu überlisten ist. Es ist auch ganz gegen des gesamten Vogelreiches Satzung, daß alle ein gemeinsames Oberhaupt haben. Mögen die Adler einen Adler zum Könige wählen, dagegen läßt sich nichts sagen, die Geier ihren Geierkönig und die Zaunhüpferlinge ihren Zaunkönig, jedes Volk seinen eigenen, dafür sind die Geschlechter unterschieden. Was soll, um nur ein Beispiel euch zu sagen, dem Taubengeschlechte ein Adler zum Könige? Er wird seine Krallen in ihrem Blute baden und sie fressen. Wahrlich, welches Geschlecht sich einen andern Gebieter erwählt und dem falschen Fremdling vertraut, dem geschieht billig, wie dem Hasen und dem Vogel, die in einer Streitsache einen unbekannten Mann über sich zum Richter erkoren.«
   »Wie war das?« fragten die Vögel.
   »Ich will es, mit eurer Erlaubnis, euch vortragen«, erwiderte der Rabe, der Sprecher in der befiederten Nationalversammlung.


   Von einem Hasen und einem Vogel

   »Ich hatte einst«, sprach der Rabe – so erzählte der weise Ratgeber des Rabenköniges – zu den aufhorchend um ihn versammelten Vögeln, »einen guten Freund, auch einen Vogel; sein Name gehört nicht zur Sache. Derselbe hatte die Gewohnheit, wenn er sein Nest verließ, das in der Nachbarschaft des meinen in einer Felskluft sich befand, oft sehr lange wegzubleiben, so daß ich manchesmal glaubte, er sei in der Fremde verunglückt oder gestorben oder gefangen oder habe sich anderswo häuslich niedergelassen. Da geschah es, daß ein Hase jene Felskluft fand und in ihr das weiche warme Vogelnest und sich hineinbettete. Ich hielt nicht für weise, mich in fremde Angelegenheiten zu mischen, und gedachte bei mir, weshalb solltest du dem Hasen die Wohnung wehren, da doch vielleicht der Vogel nicht wiederkehrt? Auf einmal vernahm ich ein Gezänk unter mir, denn der Baum, welcher mein Nest trug, stand dicht neben dem Felsen. Mein Nachbar, der Vogel, war wieder da, saß außen vor dem Felsloche und kreischte: ›Das ist mein Nest! Packe dich gleich heraus!‹ Drinnen aber saß der Hase und rief: ›Ich bin im Besitze dieser Wohnung und schon eine geraume Zeit. Da könnte jeder kommen, dem sie anstünde, und könnte sagen: Ziehe aus!‹
   ›Du bist ein ehrvergessener, schlechter Hase!‹ schrie der Vogel. ›Ein Räuber bist du! Das Nest ist mein, und du wirst es räumen!‹
   ›Nein – ich werde es nicht räumen!‹ erwiderte der Hase. ›Schimpfe und schwätze du, soviel du willst! Glaubst du, eine gerechte Sache zu haben, so verklage mich! Vor dem Richter will ich dir Rede stehen, hier aber nicht.‹
   Hierauf verwahrte der Hase seine Türe und zog sich in das Innere der Felskluft zurück.
   Eine Zeit darauf kam der Vogel wieder und sagte zum Hasen: ›Ich weiß einen frommen, redlichen Alten, der soll Recht sprechen zwischen dir und mir! Folge mir zu ihm.‹ – ›Wer ist es? Wie heißt er?‹ fragte der Hase. ›Ich habe ihn noch nicht gesprochen ‹, antwortete der Vogel. ›Er lebt noch nicht lange in dieser Gegend, er ist ein frommer Einsiedler, welcher den ganzen Tag fastet und betet und voll ehrbaren Wesens sich zeigt. Er soll früher ein Maushund gewesen sein, hat sich aber längst der Katzennatur abgetan und aller Üppigkeit der Welt, allen schnöden Mäusefraßes. Er vergießt kein Blut, nährt sich von Wurzeln, Gras und Kräutern, sein Getränk ist nur klares Wasser. Er wird ganz gewiß unparteiisch über uns Urteil sprechen.‹
   ›Eine Katze? Ein alter Maushund?‹ fragte mißtrauisch der Hase. ›Dem traue ich nicht sonderlich. Das Sprichwort sagt: Die Katze läßt das Mausen nicht.‹
   Aber der Vogel hörte nicht auf, in den Hasen zu dringen, bis dieser mit ihm ging. Ich folgte von ferne nach, zu sehen, wie das ablaufen werde. Die Katze, eigentlich ein großer wilder Kater, saß, wie ich von weitem sah, vor ihrer Wohnung und sonnte sich, dehnte sich behaglich aus, beleckte sich die Pfoten und strich den Bart, plötzlich, wie sie den Vogel und den Hasen kommen sah, huschte sie in ihr Gemach, und als die beiden Gefährten zu ihr eintraten, fanden sie dieselbe in ein härenes Büßergewand gehüllt, in betender Stellung auf den Knien liegen. Da gewann der Hase Zutrauen und freute sich, einen so heiligen Mann kennenzulernen, und nun entschuldigten beide um die Wette die Störung in der Andacht und baten, ihrem Anliegen ein geneigtes Ohr zu leihen.
   ›Liebe Freunde‹, sprach der Maushund mit leiser und heiserer Stimme, indem er die Augen frömmelnd verdrehte, ›ich bin alt, meine Augen sind trübe und dunkel, um mein Gehör stehet es sehr übel, gehet nahe herzu und redet recht laut, daß ich ja alles richtig vernehme.‹
   Nun erzählten Vogel und Hase, wie sie miteinander ob des von einem verlassenen, vom andern in Besitz genommenen Nestes in Streit und Hader gekommen und sich dahin vereinigt, sich seinem unparteiischen Urteilsspruche zu unterwerfen. Als sie beiderseits schwiegen, sprach der wilde Maushund wieder ganz heiser: ›Hab euch wohl verstanden, liebe Kinder, wohl verstanden. Ich will euch gut beraten und euch weisen die Wege der Gerechtigkeit. Oh, daß mich der Himmel erleuchte, ein rechtes und richtiges Urteil in dieser eurer so überaus wichtigen Sache zu fällen und in diesem schwierigen Falle die Wahrheit zu finden! Denn besser ist es, eine Sache geht verloren durch die Beleuchtung mit der Fackel der Wahrheit, als daß sie durch Lug und Trug und Unwahrheit fälschlich gewonnen werde. Ach – ach! Was haben wir denn hienieden? Keine bleibende Stätte! Nur das eine nehmen wir mit hinüber in die zukünftige Welt, die Werke, die wir vollbracht haben zu unserer Seelen Heil oder zur Verdammnis. Gönnte doch ein jeglicher seinem Nächsten hienieden Gutes! Tretet getrost näher, liebe Kinder, und ruhet euch aus, derweil ich im Gebet um Erleuchtung in eurer Sache flehe.‹
   Hase und Vogel vertrauten diesen heuchlerischen Worten des falschen, heimtückischen, wilden Katers, ich aber, der ich nahe geflogen war und jedes Wort vernommen hatte, hörte nur noch, wie die Katze ihre Türe zuwarf und wie der Vogel drinnen jämmerlich schrie. Das ungetreue Tier hatte Vogel und Hasen erwürgt, verspeiste beide und bezog dann jene verlassene Wohnung, welche besser gelegen und eingerichtet war als die armselige des Maushundes, worauf ich alsbald von dort auswanderte.
   Sehet hier ein Beispiel, wie blindes Vertrauen, das man auf unbekannte Leute setzt, die sich, gleich den Adlern, uns durch ihre Arglist und Bosheit nähern, sich bestraft. Der Adler ist unter den Vögeln gerade das, was der Wolf unter den vierfüßigen Tieren. Und ich bleibe dabei und wiederhole es euch dringend und warnend, ja warnend: wählt nimmer den Adler zum König!«
   »Mit erhobener Stimme«, fuhr der alte Geheimrat Rabe dem Könige, seinem Herrn, zu erzählen fort: »endete der gewandte Volksredner seinen Vortrag, und was war die Folge? Kein Vogel wollte nun den Adler zum Könige haben, es wurde nichts aus der ganzen Königswahl, die Rednergabe des Raben feierte einen glänzenden Sieg, wenig fehlte, so hätte man ihn zum Könige ausgerufen.«
   »Und was sagte der Adler dazu?« fragte der König.
   »Das soll mein gnädigster König und Herr sogleich erfahren«, erwiderte der Geheimrat. »Der Adler sprach zum Raben: ›Sprich Rabe, was habe ich dir jemals zuleide getan? Aus welchem Grunde wälzest du so viele Schmach auf mich? Nie habe ich etwas wider dich verschuldet, und du mit deinen giftigen und verleumderischen Worten raubst mir heute eine herrliche Krone, die ich schon nahe über meinem Haupte schweben fühlte! Aber bei aller Wahrheit schwöre ich dir heilig und teuer, du Lästerredner: ein Baum, in den ein Mensch mit der Axt haut, wächst wieder zusammen, und eine Schwertwunde durch Fleisch und Bein mag wieder heilen. Aber die Wunden, welche die Zunge schlägt, die heilen nicht, und ihre Schande gewinnt kein Ende. Deine Worte sind mir ein glühendes Schwert, das mir immerdar im Fleische wütet. Feuer mag durch Wasser gelöscht werden und der Brand des Haders durch Schweigen; der Schlangen Giftbiß heilt durch Theriak und die Wunde der Traurigkeit durch Hoffnung. Aber das Feuer der Feindschaft, in das die Zunge Öl gießt, das brennt sonder Ende. Heute hast du einen Dornbusch gepflanzt zwischen dein Geschlecht und mein Geschlecht, der soll dauern und grünen von Welt zu Welt, bei unserm und unserer Kinder und spätesten Enkel Leben, und soll euch die bitterste Frucht des Hasses tragen! Das sei dir zugeschworen bei Jovis Blitzen!‹
   Als die Vögel die Zornworte des Adlers vernahmen, erschraken sie, hoben ihre Schwingen und flogen davon nach allen vier Winden, und der Adler flog auch davon, und keiner sagte weiter ein Wort, und nur der Rabe saß einsam und verlassen auf dem Steine, der ihm als Rednerkanzel gedient hatte, und wurde sehr nachdenklich und sprach zu sich selber: Nun habe ich auch geredet. Weiser wäre gewesen, wenn ich geschwiegen hätte. Die alten Weisen sagten: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Jetzt habe ich durch meine Warnung mir und meinem Geschlechte der Aaren ewigen Haß heraufbeschworen. Der Adler hat mich mit Machtworten niedergeschmettert, und keiner der andern Vögel hat auch nur den Schnabel aufgetan, das Wort für mich zu nehmen, trotz ihres vorherigen tollen Zujauchzens. Sie waren klug, sie haben das Gold des Schweigens gefunden; sie haben nicht Neigung gehabt, ihre Zungen zu verbrennen, wie ich getan, ich alter Narr und alberner Schwätzer. Jene gedachten der Zukunft, ich hatte nur die Gegenwart im Auge. Stütze sich doch kein weiser Mann auf seine Weisheit und kein Starker auf seine Stärke und belade sich nicht, um andern zu nützen, mit Feindschaft, sonst ist er der Tor, der Gift genießt, um hernach dessen Wirkungen mit Theriak zu hintertreiben; solches Tun kann leicht fehlschlagen. Für den unweisesten und allerdümmsten aller Vögel muß ich mich von heute an und immerdar selbst halten. Konnte ich nicht dessen eingedenk sein, was die alten Weisen sagten: das ist der schädlichste Verlust, den sich einer durch Worte zuzieht – bevor ich mit meinem dummen Schnabel die ewige Feindschaft der Adler gegen mein Geschlecht entzündete!
   So klagte der Rabe und nahm sich seine unweise Rede dermaßen zu Herzen, daß er bald darauf erkrankte und starb.
   »Siehe, mein König«, endete der Geheimrat seine Mitteilung, »das ist die Ursache des Adlerhasses gegen uns.«
   »O wehe!« seufzte der König. »Wollte der Himmel, daß jener unweise Rabe nie aus dem Ei gekrochen wäre, statt uns in diese Not zu bringen. Jetzt werden uns noch die Zähne von den sauren Träublein stumpf, die unsere Väter gegessen haben. Aber nun rede weiter, was soll es werden, was sollen wir tun?«


   Von einem Einsiedel und drei Gaunern

   »Ein kluger Mann vollbringt durch Einsicht und überlegten Entschluß, was manchem stärkeren mißlingt!« sagte der weise Rabe, des Rabenkönigs Ratgeber, zu diesem letzteren. »Ich muß dabei jener Gauner gedenken, die mit ihrer List und Schlauheit einen Einsiedel also täuschten, daß er das nicht mehr glaubte, was doch seine Augen sahen.«
   »Wie geschahe das?« fragte der König, und der Rabe antwortete:
   »Es war einmal ein Einsiedel, der ging und kaufte sich eine Geiß, sie bei seiner Hütte zu halten und ihre Milch zu genießen. Das sahen von weitem drei Diebe und besprachen sich untereinander, wie sie ohne Gewalt den Waldbruder um die Geiß betrügen möchten. Sie verteilten sich alsbald so, daß einer nach dem andern dem Einsiedel begegnete, in kurzen Fristen hintereinander. Der erste, welcher zu ihm kam, bot ihm die Zeit und sagte spöttisch: ›Waldbruder! Ihr sorget Euch gewiß, daß die Diebe Euch Eure Schätze stehlen wollen, weil Ihr Euch einen Hund gekauft habt. Was wollt Ihr mit dem Hunde tun?‹ – ›Es ist kein Hund, es ist eine Ziege!‹ sagte der Einsiedel gelassen, aber jener behauptete steif und fest, es sei ein Hund, bis der zweite Gauner hinzukam, auch grüßte und ebenfalls fragte, was der fromme Waldbruder mit dem Hunde tun wolle. ›Ein heiliger Mann‹, sagte er, ›muß sich nicht mit einem so unreinen Tiere befassen. Eines Hundes Gebell stört Gebet und Andacht, und nirgendwo steht geschrieben, daß die heiligen Apostel Hunde geführt oder sich gar mit solchem Getier getragen hätten!‹
   Jetzt kam der dritte Schalk hinzu, als jene drei noch über den vorgeblichen Hund stritten, und sprach: ›Aha! Ihr habt hier einen Hundehandel! Was soll der Köter gelten? Ich suche just ein solches Vieh zu kaufen.‹
   Jetzt glaubte der Einsiedel allen Ernstes, seine Geiß sei ein Hund und der sie ihm verkauft, habe ihn betrogen, und da warf er im Zorn die Geiß hin und eilte von dannen. Die drei Gauner aber nahmen die Geiß, trugen sie heim, schlachteten und brieten sie und ließen sich den Braten gut schmecken, indem sie des Einsiedels Einfalt noch lange belachten.
   »Dieses sagte ich dir, mein König«, fuhr der weise Rabe fort, »auf daß du erwägest, daß, wie klug und mächtig auch die Adler sind, wir mit List und Schlauheit uns ihrer dennoch entledigen können. Und nun, o König, sage ich dir erst mein eigentliches Geheimnis, denn die Ursache der Feindschaft zwischen den Adlern und den Raben ist vielen kundig und von unserer Väter Überlieferung her noch manchem Alten im Gedächtnis. Mein Rat, den ich dir jetzt gebe, muß zwischen dir und mir das tiefste Geheimnis bleiben.
   Erstens überschütte mich vor den andern mit der scheinbaren Zornschale deiner Ungnade; tue, als habe ich dir falschen und böslichen Rat gegeben, hacke auf mich vor dem ganzen Hofhalte, verwunde mich und laß mich auf der Erde liegen, dann erhebe dich mit deinem gesamten Volke, flieget von dannen so weit, daß man keinen Raben mehr ringsum erblicke, und haltet euch an einem andern Orte so lange still, bis ich wieder zu dir zurückkehre und dir gute Botschaft ansage.«
   Diesen Rat befolgte der König der Raben. Und als die Kundschafter der Adler wahrgenommen, daß das Volk der Raben samt seinem Könige sich von dannen gehoben, so kamen sie in Scharen samt ihrem Könige nach dem Rabenwalde und zerstörten der Raben Nester, und einer unter ihnen sah den verwundeten Raben unter dem Baume liegen und flog zu ihm nieder.


   Der listige Rabe

   Der Adler, welcher zu dem am Boden scheinbar elend daliegenden Raben flog, fragte nun diesen alsbald: »Wer bist du? Wie kommst du hierher? Und wohin sind deine Brüder gezogen?«
   Mit matter Stimme antwortete der Rabe: »Was quälst du mich mit Fragen? Siehst du nicht meinen elenden Zustand? Laß mich ruhig liegen und sterben! Ich vermag dir nichts zu sagen, könnte ich aber ein Wort mit deinem Könige reden, so würde ihm daraus kein Schade entspringen.« Da rief der Adler den Adlerkönig herbei, und als der letztere den Raben erblickte, sprach er: »Diesen kenne ich wohl! Er ist des Rabenkönigs vertrauter Geheimrat und ein Abkömmling jenes elenden Schwätzers, der meinen Ahnherrn um die allgemeine Reichskrone des gesamten Geflügels brachte. Mich wundert äußerst, daß wir ihn in solcher Lage finden.«
   Darauf fragte der Aarenkönig den alten Raben: »Was hat denn dich in solche Widerwärtigkeit gebracht?«
   »Ach, großmächtiger Herr und König!« antwortete der Rabe. »Böser Rat und närrisches Verständnis!«
   »Wieso?« fragten die Adler.
   Und jener antwortete: »Nachdem ihr den Raben also tatet, wie ihr getan, und viele getötet, berief unser König seinen geheimen Rat und fragte uns, seine Ratgeber, ob er wider euch streiten solle. Da sprach ich: ›Mich bedünket mitnichten, gegen die edlen Aaren zu streiten, denn sie sind mächtiger als wir und frischeren Herzens. Mein Rat ist, uns mit ihnen zu vertragen, Ruhe und Frieden zu halten, ihnen vielmehr, statt ihnen uns widerspenstig zu zeigen, einen jährlichen Tribut zu entrichten, in ihren Schutz uns zu begeben‹ – da kam ich aber sehr übel an, denn alle anderen Räte rieten unserem Könige, gegen euch zu streiten und zu kämpfen auf Tod und Leben, es falle wohl oder übel aus. Ich blieb dagegen fest auf meiner Meinung und rief: ›Niemand wird leichter von seines Feindes Hand erlöset, als wer sich ihm unterwürfig macht. Sehet die Saat auf dem Felde und die Halme der Wiesengräser, wie sie sich beugen vor dem Winde. Dem hohen und harten Baum bricht der Wind die Krone ab, weil der Baum sich bedünken läßt, er dürfe nicht weichen und wanken, aber das schlanke schwache Rohr bleibt ungebrochen, weil es Demut gelernt hat. Demut schützt vor Wehmut!‹ Als ich so redete, schrien alle, die mich hörten: ›Du bist ein treuloser Ratgeber! Du hältst zur Schar unserer Feinde! Du förderst unsern Verlust, um dir drüben Gunst zu machen, du ehrloser Verräter, der du bist!‹ – und fielen über mich her und schlugen mich, bissen mich, kratzten mich und traten mich mit Füßen, so daß ich halb tot hier liegen blieb und mich nur wundert, daß ich noch atme.«
   Auf diese Rede wandte sich der Adlerkönig an seinen ersten Geheimrat mit der Frage: »Was bedünket dich, daß wir mit diesem Raben beginnen sollen?«
   »Nichts, mein König«, antwortete der Premier, »bedünket mich, als daß wir diesen Raben alsobald erwürgen, denn er ist ungleich klüger als wir, er ist einer der listigsten und verschlagensten unter dem ganzen Rabengeschlechte; mit seiner Vertilgung bereiten wir dem Rabenkönige und den Raben den empfindlichsten Verlust und uns ungleich größere Sicherheit, denn jene haben keinen zweiten, der ihnen so wohlüberdachten, klugen und schlauen Rat zu ersinnen vermöchte wie eben dieser. Die alten Weisen sagten: Wem Gott etwas Großes und Gutes in die Hand gibt und er verliert es, der findet es selten wieder, und wer einen Feind hat, den das Glück ihm in die Hand sendet, und er achtet das nicht und läßt den Feind wieder entgehen, der ist ein Tor, dem alle Weisheit der Welt nicht frommen mag.«
   »Was meinst du?« fragte auf diese Rede der Adlerkönig seinen zweiten Geheimrat.
   Dieser letztere war minder mordsüchtig und sagte: »Mein Rat ist, daß du den Raben nicht töten läßt. Es ziemet, dem Demütigen und Hilflosen Barmherzigkeit zu erzeigen. Ist dieser Rabe auch unser Feind, so ist er doch zugleich unser wehrloser Gefangener. Wir haben ihn nicht im Streite gegen uns ergriffen, sein Unglück hat ihn in unsere Hand und Macht gegeben. Mancher fand Hilfe von seinem Feind, die der Freund ihm versagte, und ward damit des Feindes Freund und des Freundes Feind.«
   »Was sagst du dazu?« fragte nun der Adler seinen dritten Geheimrat.
   Und dieser erwiderte: »Auch ich, mein allergnädigster König und Herr, kann nicht für die Tötung dieses unseres Gefangenen stimmen, vielmehr wäre mein Rat, guten Nutzen von ihm zu ziehen. Seine Freunde und sein König haben ihn mißhandelt und schmählich in seiner Not ihn verlassen. Er kann uns, und wird es auch, alle Heimlichkeit unserer Feinde offenbaren, und das kann uns nur zugute kommen, wenn einer unserer Feinde gegen die seinen steht. Seine Feinde zu entzweien und dann über sie zu triumphieren, haben die alten Weisen für die beste Kunst zu kriegen und zu herrschen erklärt, wie es ging mit dem Dieb, dem Teufel und dem Einsiedel.«
   »Wie war denn das?« fragte der Adlerkönig, und sein dritter Geheimrat erzählte das nachfolgende Märchen.


   Der Dieb und der Teufel

   »Es war einmal ein Einsiedler, dem schenkte ein frommer Mann aus Barmherzigkeit und um Gottes Willen eine Kuh. Ein Dieb erfuhr das und gedachte, diese Kuh sich anzueignen. Als er zur Nachtzeit sich auf den Weg machte nach der Klause des Einsiedlers, welcher einige Pilgrime bei sich beherbergte, was dem Dieb ebenfalls bekannt war, stieß er auf einen Mann, welcher auf dem gleichen Wege auf und ab ging. Der Dieb vermutete, es möge ein andrer Dieb sein, der dieselbe Absicht habe wie er, und fragte: ›Wer bist du? Was hast du hier zu schaffen? Was führst du im Schilde?‹ Darauf antwortete jener: ›Wenn du es wissen mußt, will ich dir es sagen. Ich bin der Teufel und will dem Einsiedel in dieser Nacht das Genick brechen, denn ich hasse ihn schon lange und habe nun heute endlich Macht über ihn gewonnen, denn er beherbergt in heutiger Nacht einen Missetäter. Darum warte ich nur hier, bis dieser mit seinen Gefährten sich schlafen gelegt habe. Und was suchst du hier?‹ – ›Ich?‹ fragte der Dieb. ›Ich habe es nicht so schlimm im Sinne wie du. Solche schwarzen Pläne hege ich keineswegs. Ich will dem Einsiedel nur aus Mitleid eine Kuh wegführen, denn ihr Gebrüll stört die Andacht des frommen Mannes, auch weiß er nicht mit einer Kuh umzugehen, und sie könnte ihn mit ihren Hörnern schädigen.‹
   Nun gingen der Dieb und der Teufel miteinander nach der Klause des Einsiedels, welcher seine Kuh angebunden und sich zur Ruhe niedergelegt hatte. Jetzt dachte der Dieb bei sich selbst, du mußt eilen, daß du erst die Kuh gewinnst, denn wenn der Teufel an den Einsiedel kommt und ihn erwürgen will, so wird derselbe aufwachen und schreien, davon werden die Pilgrime ebenfalls aufwachen, und dann finden und fangen sie zuletzt dich. Darum, besser ist besser – erst die Kuh, dann den Hals. Sprach daher zu dem Teufel: ›Höre und halte einmal. Laß mich erst meine Kuh holen, hernach mache mit dem Einsiedel, was du willst.‹ – ›Mitnichten!‹ sprach der Teufel. ›Erst erwürge ich ihn, dann nimm du dir, was dir gefällt.‹
   ›Nicht also!‹ widersprach der Dieb. ›Ich muß zuerst in die Klause.‹
   ›Wagst du mir Trotz zu bieten?‹ zischte der Teufel leise und rollte seine glühenden Augen wild im Kopfe.
   ›Ich habe mich noch nie vor einem dummen Teufel gefürchtet!‹ antwortete der Dieb. Darauf krallte ihm der Teufel nach dem Halse – und da schrie der Dieb: ›Mordio! Mordio! Einsiedel! Holla! Der Teufel will uns an den Kragen! Hilfe! Hilfe!‹ – Indem so erwachte der Einsiedel aus dem Schlafe, und die Pilgrime wachten auch auf, und der Einsiedel eilte aus der Klause mit einem Kruzifix – vor diesem entwich spornstreichs der Teufel, und die Pilgrime hatten ihre harten und langen Stecken, vor diesen fürchtete sich der Dieb und lief, was er laufen konnte. So rettete der Einsiedel seinen Hals und seine Kuh, weil sich seine beiden Feinde entzweit hatten. Darum ist das ein weiser Mann, der seiner Feinde Zwietracht nützt und sie ausbeutet zu seinem Vorteil.«
   Auf diese Rede des dritten Rates des Adlerköniges hub der erste Rat wieder an zu sprechen: »Traue, o König, nicht diesem Redner und seinen glatten Worten, wenn du nicht dich selbst und alles, was dein ist, verlieren willst. Folge meinem Rat und lasse diesen Raben töten, denn ich fürchte, daß wenn er am Leben und bei uns bleibt, so wird unser Ende ein schmähliches sein. Ein vernünftiger Mann läßt sich mit Worten nicht betrügen, wenn ihm Gott seinen Feind in die Hand gibt. Ein Unweiser aber wird mit schmeichelnden Worten getäuscht und betrogen. Glaube doch ja nicht den Worten des wunden Raben, denn in ihm ist keine Treue, er stammt aus einem falschen diebischen Geschlechte. Bis jetzt haben die Raben uns noch nicht überlistet, was aber weiter geschehen wird, und ob dieses Raben Gesellschaft uns nützlich und förderlich sein wird, läßt sich nicht voraussehen, ich aber bezweifle äußerst, daß er sich hier habe zu unserm Heil oder Vorteil finden lassen. Ich wiederhole meinen Rat: Tötet ihn! Ihr wißt, daß ich die Raben nie gefürchtet habe, aber dieser erweckt mir ein ahnungsvolles Bangen, daß er uns allen Unheil brüten werde.«
   Der Adlerkönig hörte diese Worte an, aber er fühlte sein Herz von königlicher Großmut schwellen und wollte auch zeigen, daß er herrsche und daß seine Räte nicht Reichsregenten seien, obschon das zu sein mancher vielleicht sich einbildete, darum sprach er: »Ich gebe dem Unglücklichen Gnade, er soll leben. Man warte und pflege seiner wohl und heile seine Wunden.«
   Mit Schmerz schwieg der treue Warner des Adlerkönigs und dachte sein Teil. Der Rabe aber, der mit hoher Einsicht begabt war und der Rede so mächtig, wie sein Ahnherr, aber besser als dieser geübt in der Kunst, zu rechter Zeit zu reden und zu rechter Zeit zu schweigen, machte sich bald Gunst und Gönnerschaft am Hofe des Königs, und am meisten bei diesem selbst. Gar manche schöne Mär wußte er zu erzählen, die zur Lehre wie zur Erheiterung diente; er wußte fein zu scherzen und anmutig zu huldigen. Er durfte des Adlerköniges jungen Prinzen und Prinzessinnen Unterricht erteilen und ihnen Vorträge halten, der König ernannte ihn zum Kammerherrn und hatte ihn stetig gern um sich. Dafür versicherte der Rabe dem Könige unausgesetzt seine Treue und seinen Haß gegen die Raben, und in einer Versammlung sprach er laut aus: »Wollte Gott, daß ich zu einem Aaren werden könnte, müßte ich die Wandlung selbst, dem Vogel Phönix gleich, mit dem schmerzenden Flammentode erkaufen! Wie wollte ich mich dann an meinen Feinden rächen und meine Rache in ihrem Blute kühlen!«
   Da sprach der alte, strenge, erste Rat des Adlerkönigs: »O du Gleisner! Du herber Essig in unserm goldenen Becher! Und wenn du dich tausendmal selbst verbrenntest und ein anderer Vogel – wäre dies möglich – aus dir würde, so würde es doch immer wieder ein häßlicher, falscher, tückischer Rabe werden, wie es jener Maus erging, von der ein Märlein aus India meldet.« Auf diese Rede begehrten die Aaren das Märlein zu hören, und der scharfsichtige Adler erzählte.


   Die verwandelte Maus

   »Es war einmal ein frommer Mann, der diente der Gottheit betend und büßend in einer Wildnis, und Gott war ihm ob seiner Frömmigkeit und fleckenlosen Tugend also gnädig, daß er jeden Wunsch des Büßers erhörte und erfüllte. Einst saß der Fromme am Strande eines Baches, versunken in andächtige Gedanken, da flog ein Sperber über ihn hin, der hatte ein Mäuslein gefangen, das er noch in den Krallen trug, das Mäuslein aber zappelte und entfiel dem Sperber und fiel herab in des frommen Mannes Schoß. Da erbarmte sich der Fromme des Mäusleins, band es lind in ein Tüchlein und trug es nach seinem Hause, um es allda zu pflegen und aufzuziehen. Da gedachte er aber, daß seine Diener daran einen Anstoß nehmen würden, daß er, der reine Mann, mit einem unreinen Tiere sich abgebe, und würden sich scheuen, und da bat er Gott, das Mäuslein doch lieber in ein Maidlein zu verwandeln. Und siehe, Gott erhörte die Bitte, und verwandelte alsbald das Mäuslein in ein schönes Maidlein. Das führte nun der Fromme fröhlich in sein Haus, erzog es und hatte an ihm sein väterliches Wohlgefallen, und seine Diener glaubten, ihr Gebieter habe es in der Wildnis gefunden oder es sei ihm von Anverwandten übergeben worden. Da nun das Maidlein, das als des Frommen Tochter galt, herangewachsen war, so gedachte er daran, es an einen guten Mann zu verheiraten, und fragte die Maid, ob sie Neigung habe zu heiraten, und was für einen Mann sie sich wünsche. Die Maid aber trug hohen und herrischen Sinn und antwortete: ›Ja – aber nur den höchsten Herrscher!‹
   Der Pflegevater erwiderte darauf: ›Der höchste Herrscher, mein Kind, das ist der mächtige Sol; er beherrscht die ganze Welt, erleuchtet und durchwärmt sie mit seinen Strahlen, ich will ihn bitten, sich mit dir zu verbinden; dann wird man dich Frau Sonne nennen.‹ Der Fromme läuterte sich durch Gebet und Abwaschung und trug dem Sol sein Anliegen vor; dieser aber sprach: ›Gern gehorchte ich dir, dem die Gottheit jeden Wunsch erfüllt, o frommer Büßer! Aber der Mächtigste bin ich nicht. Siehe, der Lenker der Wolken ist mächtiger denn ich; ein Hauch von ihm wird zur Wolke, die meinen Schein mir nimmt, daß es finster wird auf der Erde.‹ Da ging der Büßer bis an des Meeres Ufer, aus dem die Wolken sich emporheben, und bat deren mächtigen Lenker, wie er den Sol gebeten hatte. Da hob sich auf seinem Wolkenthrone der Wolkenlenker aus des Meeres Schoße, aufsteigend wie ein großer Rauch, empor und sprach: ›O du Frommer und Gottseliger! Wohl hat mir die Gottheit mehr Gewalt gegeben als selbst den Engeln in seinem Himmel, aber einer ist doch, der mächtiger ist, als ich bin. Das ist der Vater der Winde. Wenn er sich erhebt und stark haucht, so fahren meine Gewölke auseinander und verschwimmen in ein wesenloses Nichts oder fliegen und fliehen vor ihm und seinem Grimme von einem Ende der Welt zum andern, und ich bin nichts gegen ihn und vermag ihm nicht zu widerstehen.‹
   Da machte sich der Büßer auf zum Vater der Winde, der in einer großen und weiten Berghöhle wohnte, in der er die Winde verschlossen hielt, und nur zu Zeiten einem oder dem andern zu wehen gestattete – und trug nun diesem seine Bitte vor. Aber auch der Vater der Winde erklärte, daß er sich nicht für den mächtigsten Herrscher erachten könne. ›Siehe, du Frommer, Reiner, Makelloser‹, sprach er, ›diesen mächtigen Berg, wie er da steht in stolzer Ruhe! Mag ich mit allen den meinen sausen und brausen, so stark wir immer können und wollen, er bleibt unerschüttert, weicht und wankt nicht vor meinem Grimm, darum ist er mächtiger als ich, und darum wende dich an ihn.‹
   Darauf wandte sich der gläubige Büßer an den Berg und trug diesem seinen Wunsch vor, und der Berg sprach: ›Du nennst mich den Mächtigsten, und es ist wohl wahr, ich bin groß und mächtig, die Sonne dient mir und läßt meinen Scheitel grünen, die Wolken müssen meine Wiesen und Wälder mit Tau und Regen tränken, der Wind fächelt mich, wie ein Sklave seinen Gebieter, aber der Mächtigste ist doch nur der, der nichts erdulden muß. Ich will dir jemand zeigen, der mächtiger ist als ich, denn ich muß ihn dulden, ich mag nun wollen oder nicht wollen.‹
   ›Wer wäre das?‹ fragte ganz verwundert der Büßer. ›Es ist‹, sprach der Berg, ›ein winzig kleines, graues Männchen, das wühlt in mir und gräbt, baut sich Wohnung und Gemächer und fragt mich nicht, ob ich‘s ihm gestatte.‹
   ›Was wär das für ein winzig kleines, graues Männchen?‹ fragte der Fromme. – ›Es ist die Maus!‹ antwortete der Berg. Hierauf wendete sich jener mit seinem Wunsch und Antrag an den Mausmann, und dieser antwortete: ›Ich bin der, von dem der Berg gezeuget hat. Kann ich aber, auch wenn ich wollte, ein Menschenmaidlein freien und in meine niedere Wohnung führen? Darüber ersinne du selbst dir weisen Rat, Gottseliger!‹ Nun ging der Einsiedel wiederum zu seiner Tochter und sprach zu ihr: ›Ich habe dir lange den Mächtigsten zum Manne gesucht, willst du diesen, so muß ich von der Gottheit erflehen, daß sie dich wieder zu einer Maus werden lässet, welche du vordem schon einmal gewesen bist, dann kann dein Wille in Erfüllung gehen.‹ Und da die Tochter auf ihrem Sinne beharrte, weil ihr ihr Pfleger darlegte, wie immer ein Mächtiger ihn an einen noch Mächtigeren gewiesen, so wurde sie auf sein Flehen wieder in eine Maus verwandelt und dem Mausmännlein zur Gemahlin gegeben, denn gleich und gleich gesellt sich gern, was zum Heller geschlagen ist, wird kein Taler, und aus einem verräterischen Raben wird nimmermehr ein Phönix, wenn er sich auch, gleich diesem Wundervogel, verbrennte. Aber wohlan, lasse dich verbrennen, Verräter, und laß uns schauen, was aus deiner Asche emporsteigt.«
   Der Adlerkönig und seine Umgebung hörten diese Rede nicht ohne ernste Erwägung an, und mehrere teilten die Meinung des treuen Ratgebers, der Rabe aber spottete.
   »Trage doch Holz, du Edler, zu meinem Scheiterhaufen! Schichte ihn empor aus Adlerfarn und fache die Funken mit deinen eigenen Fittigen zu heller Flamme an. Du trägst dann unsterblichen Ruhm davon, und man wird dich als Rabentöter noch lang in Heldenliedern verherrlichen.«
   »Du sollst nicht brennen!« sprach der Adlerkönig, »weder daß du unser einer werdest, denn wir haben allein Macht genug, dich an deinen und unsern Feinden zu rächen, noch daß wir uns an dir rächen wollen. Haltet Friede!«


   Der Raben Arglist und Rache

   Lange lebte am Hofe des Adlerkönigs der alte Rabe; er wurde Mitglied des geheimen Kabinetts und vernahm alle Beschlüsse der Adler gegen die Raben und erlauschte alle Heimlichkeiten der ersteren. Der erste Rat des Adlerkönigs aber schied von seinem Posten; er nahm seine Entlassung, denn, so sagte er: »Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen. Wer mit sehenden Augen blind sein will, der sei es. Ich habe gesprochen und gewarnt in aller Treue und habe meine Seele bewahrt. O betörter König, leichtgläubiger König! Wie wirst du meiner Warnung gedenken, wenn es zu spät ist!« Und schied ab und flog in ein fernes Gebirge, um auf einem stillen Landsitze weit vom Königshofe und von dessen Unruhe seine Tage friedlich zu beschließen.
   Der Rabenkönig harrte still und lange seines Getreuen, während seine Umgebung diesen längst tot glaubte, denn der König hütete sein Geheimnis sorglich vor allen und ließ selbst seinen Vertrautesten nichts davon ahnen. Da kam eines Abends der Rabe geflogen, und alle erstaunten und verwunderten sich hoch und wußten nicht, ob sie ihren Augen trauen sollten, daß ihn der König, der ihn vor aller Augen mit Ungnade überhäuft und ihn sogar tätlich mißhandelt hatte, so freundschaftlich, ja selbst herzlich empfing.
   Der alte weise Rabe aber sprach zu seinem Könige: »Ich bringe gute Botschaft und verkündige Sieg und Freude! Der Himmel gibt unsere Feinde in unsere Hand. Die Adler haben jetzt eine Felsenkluft entdeckt, die unersteigbar ist, in dieser schlafen sie gemeinsam, denn sie ist innen weit und geräumig, luftig und trocken, gedeckt gegen Regen und Sonnenbrand, der Eingang aber ist enge und ohne Wache, weil weder Tiere noch Menschen ihm nahe kommen können. Wir aber können ihnen nahen, darum auf, mein König, auf, all ihr mutigen und getreuen Raben! Jeglicher fasse ein Stück dürren Holzes, so groß er solches zu tragen vermag mit Krallen und Schnabel, und ich will einen Feuerbrand tragen und voran fliegen.«
   Rasch wurde dieser Rat nach des Königs Zustimmung vollzogen, die ganze Schar der Raben flog dem Führer nach, jeder warf sein Holz auf den Ausgang der Aarenhöhle, und der alte Rabe legte sein glimmendes Holz hinein, dann wehten sie mächtig mit den Flügeln, und bald brannte das Holz in lichter Lohe.
   Tödlicher Schrecken ergriff die aus dem ersten Schlummer erwachenden, sich sicher wähnenden Adler samt ihrem Könige. Sie rauschten wild durcheinander, stießen aneinander, sie kreischten verzweifelnd; die Kühnsten flogen durch die Flamme, nur um draußen tot niederzufallen, indessen mehrten sich innen Dampf und Hitze, daß einer nach dem andern sterbend mit zuckendem Flügelschlage hinsank, und auch der König mit allen den Seinen, der noch klagend ausrief: »Welch ein Tor ist der Mann, der den Fremdling beschirmt und den treuen Warner verachtet!«
   So gewann das Reich der Aaren und ihre Feindschaft gegen die Raben ein Ende, und wenn nicht jener weise Ratgeber mit den Seinen sich in jenes Gebirge zurückgezogen hätte, so gäbe es gar keine Adler mehr, deren Geschlecht selten geworden ist, der Raben aber sind viele geworden, haben sich überallhin verbreitet, sind auch jeweilig noch große Redner und hassen die Aaren immer noch.


   Die beiden Brüder

   Es waren einmal zwei Brüder, von denen der eine klug war und der andere unklug, und beide waren Schäfer, welche wechselweise Tag um Tag die Schafe eines reichen Metzgers hüteten. Jedesmal, wenn der eine hütete, blieb der andere zu Hause, besorgte das Essen und trug es hinaus auf die Schafweide, wo dann das Mahl von beiden gemeinschaftlich verzehrt wurde.
   Nun traf einmal die Reihe des Hütens den Klugen und die des Kochens den Dummen, und nachdem letzterer das Essen gekocht hatte, trug er es zu seinem Bruder auf die Trift hinaus. Auf dem Wege aber kam er an eine alte wackelige Brücke, die über einen Bach führte und die viele Spalten hatte, unter denen das Wasser hinfloß, und da dachte der Dumme in seinem Sinne: Das ist ein gefährlicher Steg, da kann zuletzt ein Schaf oder ein Mensch durchfallen; da ist schwer, darüber zu kommen, willst doch die Brücke bessern. Und da begann der Dumme die Spalten mit den Klößen, die er gekocht hatte, auszustopfen, hart genug waren sie ohnehin, und in die schmalen Ritzen stopfte er Sauerkraut, dann ging er getrosten Mutes über die Brücke, die nun recht fest und haltbar aussah, und als ihn sein Bruder fragte: »Wo hast du denn das Essen?« – so lachte der Dumme und antwortete: »Essen habe ich nicht, aber ich hatte einen klugen Gedanken; ich habe den Brückensteg ausgebessert, daß er wieder hält. Ich habe die Klöße in die Klunsen gestopft und in die Ritzen das Sauerkraut, damit wir und unsere Schafe nicht durchfallen.«
   »Ei, was du für ein Pfiffikus bist!« spottete der kluge Bruder über den dummen. »Es ist nur gut, daß du morgen hütest und ich koche, sonst gäbe es für uns zwei Fasttage hintereinander. Aber das sage ich dir: wenn du morgen hütest, so sei so gut und habe nicht wieder kluge Gedanken nach deiner Art. Du hast dich um nichts zu bekümmern, als daß die Schafe hübsch nach der Reihe liegen bleiben. Wenn du so tust, machst du nichts Dummes.«
   »Will so tun«, sagte der Dumme.
   Am andern Tage, als der Kluge zu Hause blieb und kochte und der Dumme die Schafe auf die Weide trieb, wollten die Schafe sich nicht nach der Reihe hinlegen, und da hatte der Dumme mit ihnen recht seine Not und Plage, bis er rackrig wurde und schrie: »Wartet, ich will euch – wenn ihr nicht wollt, wie ich will!« und nahm einen Knüttel und schlug sie alle mausetot und legte sie hübsch nebeneinander in Reihen.
   Wie nun der Bruder mit dem Kessel voll Essen kam, wunderte er sich, daß die Schafe so schön lagen, und rief: »Ei, die liegen ja prächtig nach der Reihe!«
   »Gelt?« antwortete der Dumme mit großer Selbstzufriedenheit. »Erst wollten sie freilich nicht, hab Mühe genug gehabt, hab sie totgeschlagen, die Nösser, nun muckt keins mehr.«
   »Um des Himmels willen!« schrie der kluge Bruder. »Was hast du getan! Jetzt sind wir beide verloren!«
   »Ach, geh weg!« antwortete der Dumme mit großer Gemütsruhe. »Verloren? Das wäre! Wer uns findet, wird schon ein ehrlicher Finder sein, wird uns wiederbringen.«
   »Dummkopf!« schrie der Bruder erbost. »Der Metzger schlägt uns tot, wie du seine Schafe totgeschlagen hast! Packe auf! Wir müssen auf der Stelle fliehen!«
   Und da flohen die beiden Brüder und liefen, so sehr sie laufen konnten, und kamen in einen dichten, finsteren Wald, und als die Nacht kam, stiegen sie auf einen Baum, droben zu schlafen, und nahmen ihren Kessel, darin noch ihr Essen, Brühe und Brocken, war, auch mit hinauf, denn der Hunger war ihnen über Schreck und Furcht vergangen, und sie wollten droben zu Nacht speisen.
   Aber da sind zwei Räuber gekommen, die hatten einen Sack voll Nüsse und einen Sack voll Geld, beide Säcke schleppten sie unter den Baum, darauf die beiden Brüder saßen, setzten sich hin und wollten das Geld teilen. Da schwippte der Kessel etwas über, und der eine Räuber sprach zum andern: »Du – es tröpfelt!«
   Da fielen aus dem schwippenden, schwappenden Kessel auch Graupen und Brocken, und der andere Räuber rief: »Du – es graupelt und hagelt!«
   Die Brüder droben aber fürchteten sich und zitterten und vermochten den Kessel, der auf dem runden Aste nicht Stand halten wollte, nicht zu erhalten – und da stürzte der ganze Kessel hinunter. »Herr Gott! Ein Wolkenbruch! Der Himmel fällt ein! Da kommt schon eine Pauke! Das ist eine schöne Musik!« schrien die Räuber, liefen davon und ließen ihren Geldsack und ihren Nußsack im Stiche.
   Die Brüder aber stiegen vom Baume herab und fanden die Säcke, und da sprach der kluge Bruder zu dem dummen: »Sieh, da sind zwei Säcke, in einem ist hartes Zeug, das ist klein, der andere ist groß und sind Nüsse darinnen. Es fragt sich nun, welchen Sack du willst, denn du bist der Ältere und hast die Vorhand.«
   »Richtig!« antwortete der Dumme. »Ich habe die Vorhand, mir gebührt der große Sack, der mit den Nüssen. Die Nüsse kann ich essen, das harte Zeug aber kann man nicht essen.«
   So nahm jeder seinen Sack, und so wanderten sie miteinander. Der Dumme aß aus dem seinen fort und fort Nüsse und gab auch seinem Bruder ein paar, so daß er immer leichter zu tragen hatte, bis der Sack ganz leer war, den andern aber dünkte sein Geldsack immer schwerer zu werden, so daß er zuletzt nicht vermochte, ihn weiter zu tragen.
   »Du kannst jetzt meinen Sack auch eine Strecke tragen!« sagte der Kluge zu dem Dummen. »Er wird mir gar zu schwer.«
   »Nä! So haben wir nicht gewettet!« antwortete der Dumme. »Du hast ja meinen Sack auch nicht getragen. Ich habe dir noch dazu Nüsse gegeben, du aber hast mir nichts gegeben. Willst du‘s leicht haben, so teilen wir, du die Hälfte von dem harten Zeug, ich die Hälfte, das ist brüderlich, da trägt keiner zu schwer.« Erst wollte der Kluge davon nichts hören, er probierte, ob er nicht dennoch den Geldsack allein fortbringen könnte, war dies aber nicht imstande. Und so teilten sie denn, kauften sich Schafe für das Geld, hüteten sie und fingen ihr Wesen wieder von vorn an.


   Das Dukaten-Angele

   Es waren einmal drei Schwestern, die auf dem Lande lebten, von denen war die eine, namens Hannele (Hannchen), sehr geschickt, die zweite Schwester aber war unklug, und die dritte war noch ein ganz kleines Kind. Die kluge Schwester war in die Schule gegangen und hatte mancherlei gelernt, die unkluge war zwar auch in die Schule gegangen, hatte aber nichts gelernt, und es war ihr nichts einzutrichtern gewesen. Daher nahm die Kluge, da die Eltern nicht mehr lebten, sich des kleinen Hauswesens an, kochte und wusch, und die Unkluge mußte ihr Dienste leisten, aufwaschen, scheuern, Holz spalten, Gänge tun, das Kind tragen und in allem Aschenbrödel sein, aber ohne Aussicht, eine Prinzessin zu werden.
   Eines Tages schickte die kluge Schwester die unkluge nach der nahen Stadt und gab ihr Geld mit, um Brot zu kaufen. Nun war in der Stadt just Jahrmarkt, und die unkluge Maid hatte noch nie einen Jahrmarkt besucht, wandelte daher mit offenem Munde und gaffenden Augen zwischen allen den Buden voll Jahrmarktsherrlichkeiten umher, und da kam sie an einen Stand, der war eitel voll und übervoll von Puppen und Püppchen und Dockenköpfen und Bälgen, immer eine Puppe schöner als die andere, ach, da hätte das Mägdlein gar zu gern ein paar oder wenigstens nur eins von den Püppchen gehabt, und da rief die Verkäuferin ganz freundlich: »Nun, mein liebes, schönes Kind! Kommen Sie näher! Nehmen Sie sich ein Püppchen! Suchen Sie sich das schönste heraus!«
   »Das heiß ich eine gute Frau!« dachte die Unkluge, daß sie mir eins zu nehmen erlaubt, und nahm sich gar ein schönes Döckchen, dankte und wollte davon gehen, aber da hielt die Verkäuferin sie am Rocke fest und rief: »Na! Was ist denn das?
   Das wäre mir! So haben wir nicht gewettet, mein sauberes Jungferchen! Man bezahlt auch, wenn man kauft, oder ist Sie etwa eine Weißkäuferin, die findet, wo niemand was verloren hat. Geld heraus oder ich rufe die Polizei!«
   Über diese harte Rede erschrak das unkluge Mädchen mehr, als es jemals in seinem ganzen Leben erschrocken war, und gab vor Schreck alles Geld hin, für welches sie doch Brot kaufen sollte, und die Dockenverkäuferin nahm das Geld und schrie: »He! Der Bettel langt noch lange nicht!« und riß dem armen Mammele – so wurde die Unkluge aus Spott gerufen, weil sie klein und untersetzt von Wuchs war und einem alten Mamachen ähnlich sah – die schöne Puppe aus der Hand und gab ihm eine andere, weit geringere, die alt und nur ein bißchen wieder frisch aufgeputzt war, und schrie: »Nachdem das Geld, nachdem die Ware! Nachdem der Mann, nachdem brät man die Wurst! Lauf, kleiner Balg! Mach, daß du fortkommst! Sei froh, daß du für deine paar lumpigen Heller noch so eine schöne Docke gekriegt hast!«
   Trotz dieser üblen Behandlung von seiten der Marktfrau war das arme kleine Mammele doch froh, daß es ein Döckchen hatte, herzte es und küßte es und nannte es »Angele«, das ist Engelchen, und »mein Kindchen, mein Kindchen!« Aber ach, wie das Mammele heimkam vom Jahrmarkt und statt Brotes eine Docke brachte, da wurde das Hannele sehr böse und schlug das arme Mammele, daß es bitterlich weinen mußte, und redete den ganzen Rest des Tages kein Wort mehr mit ihm. Doch behielt das Mammele zu seinem Trost sein Angele und hätschelte es und nahm es mit zu Bette, legte es neben sich und schlief bald tief und fest ein, denn es war müde vom Wege, müde von Schlägen und matt vom Hunger, denn das Hannele hatte ihm auch noch zur Strafe nichts zu essen gegeben. Neben Mammeles Bette stand das kleine Bettchen der jüngsten Schwester, welche Annele (Annchen) hieß, und an der Wand gegenüber stand Hanneles Bette.
   Mitten in der Nacht nun – es war heller Mondschein, erwachte die kluge Schwester von einer seltsamen Stimme, die
   287 drüben aus dem Bette ihrer Schwester kam und lautete: »Mamma gacka! Mamma gacka!« und Hannele merkte, daß diese Stimme von der kleinen Puppe kommen müsse, denn ihre Schwestern hatten andere Stimmen. Da nun die unkluge Schwester fest schlief und nichts hörte, so rief zu dem kleinen Kinde hinüber das Hannele: »Annele! Weck einmal das Mammele! Das Angele will ein Gackele (Eichen) legen!«
   Auf diesen Zuruf ermunterte sich das kleine Annele und weckte das Mammele, und das stieg auf und nahm sein Angele und setzte es auf ein Tassenköpfchen.
   Da tat es gleich einen klingenden Klang in dem Tassenköpfchen, und wie das Mammele das Angele wieder davon herunter hob, so hatte letzteres ein goldenes Gackele gelegt, das einem Dukaten so ähnlich sah wie ein Ei dem andern.
   Da war große Freude bei den Schwestern; die Kluge wurde wieder ganz gut mit der Unklugen, und sie küßten und herzten gemeinschaftlich das gute Angele und hüllten es in seidene Läppchen, und für den Dukaten kauften sie Brot und Kuchen, Zucker und Kaffee und allerhand schöne Sachen. Und was die schönste Sache war, das war die: daß in jeder Nacht das Angele »Mamma gacka!« rief und jede Nacht ein goldenes Gackele legte. Da kaufte die kluge Schwester nach und nach hübsche Kleider und ließ das Häuschen, darin sie mit ihren Geschwistern wohnte, neu decken und von außen neu anstreichen, und inwendig ließ sie die Stube tapezieren, und sie kaufte auch Hühner, Gänse, Enten und Tauben für den Hof und schaffte eine Ziege an, später auch eine Kuh und für das Annele ein Kinderwägelchen, in dem fuhr das Mammele das Annele spazieren, und das Annele hatte das Angele auf dem Schoße, und nebenher lief ein junges Lämmchen, welches Lammele gerufen wurde und am Halse an einem roten Bändchen ein klingendes Schellchen trug. Da wunderten sich die Nachbarsleute, daß die Schwestern es so gut hatten und sich immer besser betaten, und jene konnten nicht begreifen, woher und wovon. Denn obschon die kluge Schwester sehr fleißig war, so wußten jene doch, daß der redliche Reiß nicht hilft zu schnellem Reichtum.
   Nun hatten die Schwestern ein Ehepaar zu nahen Nachbarn, das war selbst reich, aber gerade dieses Paar beneidete die Schwestern am allermeisten, und Mann und Frau redeten miteinander über sie: »Wenn wir nur in aller Welt wüßten, woher drüben das Hannele und das Mammele mit ihrem Annele so gar reich werden. Wo sie nur das Geld hernehmen? Es muß nicht mit rechten Dingen zugehen!«
   »Warte, mein lieber Mann!« sagte die Frau, »ich will das bald erfahren und herausbekommen; ich will das dumme Mammele fragen, die sagt mir in ihrer Einfalt ganz sicher alles.«
   Als nun bald darauf einmal das Mammele sein Annele mit dem Angele spazierenfuhr und das Lammele klingelnd nebenher lief, da trat ihnen die Nachbarsfrau in den Weg und sagte: »Ei, schönen guten Tag, liebes Mammelchen! Wie geht es denn mitsammen? Was macht denn mein gutes Hannelchen? Das ist gewiß recht fleißig zu Hause! Ach, das liebe, brave Mädchen! Und das herzallerliebste Annelchen da! Ach, das Zuckerkind! Ei – und was es für ein schönes Püppchen da auf dem Schöße hat! Und das schöne Lammele! Wie das springt! Und das goldige Schellchen, wie das klingt! Und das saubere Wägelchen, so schön buntig gemalt! Ja, da sieht man‘s recht, was das Sprichwort sagt: Schöne Leute haben schöne Sachen! O ihr herzigen Goldkinder, ihr!«
   Mit diesem scheinbar so freundlichen und liebreichen Geschwätze betörte die Nachbarsfrau das Mammele, und es sagte: »Jawohl, Frau Nachbarin, es geht uns ganz leidlich, wir sind zufrieden.«
   »Freut uns gar zu sehr, mich und meinen Mann, mein liebwertes Mammele!« schmeichelte die Frau. »Ihr seid aber auch gar zu gut, zu gut, zu brav, und verdient, daß es euch gut geht, denn das Sprichwort sagt: Was der Mensch wert ist, widerfährt ihm. Wer‘s nur auch so gut haben könnte wie ihr! Aber das Sprichwort sagt: Den Seinen gibt‘s der liebe Gott im Schlafe!«
   »Freilich, Frau Nachbarin«, antwortete darauf das unkluge Mammele. »Jede Nacht gibt es uns der liebe Gott! Jede Nacht einen goldenen Dukaten.«
   289 »Ei, du meine liebe Güte! Ei, Herr Jehchen! Ei, woher denn, du goldiges Herzenskind, du gar braves, liebes, gescheites Mammele du?« rief und schmeichelte die listige Nachbarin.
   »Das Angele tut‘s, was da das Annele auf dem Schoße hat!« plauderte das unkluge Mammele aus. »Jede Nacht einmal ruft es ›Mamma gacka!‹, und da setz ich‘s auf ein Tassenköpfchen, und da fällt der Dukaten hinein.«
   »‘s ist die Möglichkeit!« schrie die Nachbarin außer sich und griff hin und wollte das Püppchen an sich reißen, aber das Annele hielt es mit beiden Händen fest und erhob ein Geschrei, als stäk es am Spieße und strampelte sehr mit den Füßen.
   »Na, kleiner Narr, behalte nur deine Docke! Ich werde sie dir nicht nehmen! Ich brauche keine!« sagte begütigend die Nachbarsfrau und ließ ab. »Wenn man den kleinen Kindern den Willen tut, so greinen sie nicht, sagt das Sprichwort. Paßt auch auf große Kinder! Nun Adjes, auf Wiedersehen, gutes Mammele! Grüße schön das liebe Hannele und bleib fein gesund mit dem Annele und dem Lammele« – (du dummes Hammele, du Schaf) – setzte sie noch in Gedanken hinzu und eilte freudig zu ihrem Manne und verabredete mit diesem einen Plan, wie sie durch Trug und Täuschung um Aufnahme für eine Nacht in dem Häuschen der Schwestern bitten und den Schwestern das gute, nutzbare Püppchen, das Dukaten-Angele, entführen wolle.
   Als es Nacht geworden war und Zeit, schlafen zu gehen, vernahmen die Kinder drüben im Nachbarhause einen greulichen Lärm. Es klitschte und klatschte, es schmizte und patschte drüben, daß alles krachte und platzte, und man hörte die Frau kläglich heulen und den Mann greulich fluchen und schelten, es war aber alles nur List und Verstellung, und endlich fuhr drüben die Haustür auf, und die Frau fuhr heraus mit fliegenden Haaren, ringenden Händen, nur halb bekleidet, und geradewegs hinüber zu den Schwestern, in einem fort schreiend: »Ach, daß‘s Gott erbarm! Ach, der böse Mann! Ach, ach, ach! Ei, ei, ei! Ach, ach, ach! Ei, ei, ei!« und wollte sich gar nicht zufrieden geben. Endlich brachte sie unter erheuchelten Tränen und vielem Schluchzen die Lüge vor, daß ihr schlimmer Mann sie gottesjämmerlich geprügelt und aus dem Hause geworfen habe, und um keinen Preis ginge sie wieder hinüber, und die Schwestern möchten doch um Gottes Willen sie nur eine einzige Nacht bei sich behalten, weil es schon Nacht sei; morgen in aller Frühe wolle sie dann weiter fort, in ihr Heimatdorf, zu ihren Leuten.
   Die gutmütigen Schwestern hatten Mitleid mit der falschen Frau und bereiteten ihr in ihrer eigenen Schlafkammer ein Lager, denn das kleine Häuschen bot keine Gaststube und Gastkammern dar. Als nun alle sich zur Ruhe gelegt hatten, nahm die Nachbarin aus dem Bettchen des schlafenden Mammele das Dukaten-Angele, öffnete das Fenster, stieg hinaus, sprang in das Gärtchen vor dem Hause, zertrat der Schwestern schönste Blumen und eilte hinüber nach ihrem Hause, wo ihr Mann sie an der offenen Türe empfing, und beide hatten eine Hexenfreude und wollten sich miteinander scheckig lachen, daß der Raub so gut gelungen war.
   Und da sagte gleich darauf, als beide in der Stube waren, das Angele: »Mamma gacka! Mamma gacka!« Das freute die Frau von Herzen, sie nahm gleich statt eines Tassenköpfchens die Suppenschüssel, stellte diese dem Angele unter und sagte: »Mach‘s gut; mach‘s nicht so einzeln! Mach gleich einen Haufen, denn das Sprichwort sagt: Vorrat ist Herr – und viel hilft viel!« Und das Angele tat auf dieses Zureden sein möglichstes, in der Schüssel aber tat es keinen klingenden Klang, sondern einen tritschenden Tratsch, und wie der Mann die Bescherung sah, so glaubte er, seine Frau habe ihn zum Narren, wurde jetzt im Ernst so böse, als er kurz zuvor sich gestellt hatte, nahm die Suppenschüssel samt der Puppe und warf beide durch‘s Fenster hinaus auf den Mist, hernach aber nahm er einen Stecken und prügelte seine Frau nun ernstlich windelweich, da schrie sie nun auch im Ernste Zeter mordio! »Ach, ach, ach! Ei, ei, ei! Ach, du liebes Ei!«
   Und der Mann schrie: »Ich will dich be-eiern, daß du die Kränk kriegen sollst! Schmeckst du was? Schmeckst du, wie diese faulen Eier stinken? Das Sprichwort sagt: viel hilft viel! Wart, ich will dir helfen!« und schlug drauf und drein auf sie los, bis sie kaum noch piepsen konnte.
   Am andern Morgen merkten die Schwestern, daß das Angele fort war und hatte in dieser Nacht nicht auf das Tassenköpfchen begehrt, und sie waren darüber sehr betrübt.
   Unterdessen lag die Docke, das Angele, auf dem Mist, und die Suppenschüssel lag über ihr, und nur ein Stückchen Lappen von ihrem bunten Röckchen guckte unter dem Rande heraus; da kam ein Lumpensammler vorbei, der sah das Läppchen, stieß mit seinem Stock die Schüssel zur Seite und freute sich, daß er eine Puppe fand; gedachte gleich, dieselbe seinem kleinen Mädchen mitzubringen, hob sie auf, und da sie, zufolge der Umstände, nicht sauber war, so ging er an den nächsten Brunnen und wusch das Angele gar schön rein. Indem so kam von ungefähr das Mammele an den Brunnen, nach seiner Gewohnheit Wasser zu holen, die sah ihre Puppe in des fremden Mannes Hand und rief voller Freude: »Ei, mein Angele! Wo bist du denn gewesen?«
   Und die Puppe rief gleich: »Mamma gacka! Mamma gacka!« und tat einen Schneller und hüpfte somit dem Manne aus der Hand und dem Mammele an den Hals und schlüpfte ihm unters Halstuch und hatte sehr notwendig und legte geschwind ein Gackele, das wieder einem Dukaten so ähnlich sah wie ein Ei dem andern.
   Diesen Dukaten nahm das Mammele und schenkte ihn dem Lumpensammler und sagte: »Lieber Mann, dieses Püppchen, mag Er es gefunden haben, wo Er will, gehört mir. Hier hat Er aber zum Finderlohn ein schönes Trinkgeld, einen Dukaten, weil Er mein Angele gefunden und so schön sauber gewaschen hat!« – und sprang eilend nach Hause und zeigte es voller Freude den Schwestern und herzte und küßte das Angele, und die ältere Schwester wie die jüngere, das Hannele und das Annele, freuten sich, daß das Mammele das Angele zum zweiten Male in das Haus brachte, und hatten eine große Herrlichkeit, hüpften vor Freude, wobei auch das Lammele mit hüpfte, kochten einen doppeltgemoppelten Kaffee und buken Waffelkuchen.
   Und das Angele behielt seine Tugend bei und legte fortwährend jede Nacht sein gelbes Eichen mit einem klingenden Klang in das Tassenköpfchen. Davon wurden die Schwestern sehr reich, aber sie blieben gar gut und einträchtig beisammen, erzogen das Annele und ließen es was Ordentliches lernen, denn das begibt sich gar wunderselten, daß kleine Mädchen, die nichts gelernt haben und unklug sind, wie das Mammele war, ein Dukaten-Angele finden, denn das Sprichwort sagt: da hat sich was zu angeln.


   Die scharfe Schere

   In einem kleinen Städtchen war einmal ein frommes Schneiderlein, das wartete gar fleißig seiner Arbeit und rührte sich vom Morgen bis zum Abend mit Nähnadel und Fingerhut, Schere und Bügeleisen, brachte es aber gar nicht weit damit und kam zu nichts Rechtem. Alles was man von seinem Glücke sagen konnte, war: daß sotanes Schneiderlein sich leidlich und ehrlich durchflicke. Die Familie, aus Frau und mehreren Kindern bestehend, welche erhalten sein wollte, schwere Zeit und durch sie manche Sorge erpreßten dem Schneiderlein manchen Seufzer. Hätte es gerne etwas besser gehabt, wußte aber nicht, wie dies anfangen; hätte gerne noch mehr gearbeitet, konnte aber doch nicht mehr tun, als zu tun ihm aufgetragen wurde, und konnte keine Kundschaft herbeizaubern, so sehr er dies auch manchesmal wünschte.
   Aber die Zeit wurde immer schlechter, und es gedieh dahin, daß das arme Schneiderlein keinen einzigen Gesellen mehr halten konnte, und als sein letzter Lehrling losgesprochen war und das Räntzel geschnürt hatte und in die Fremde gewandert war, so meldete sich kein anderer Knabe zum Lehrling, denn die Leute sagten dem Schneiderlein nach, es sei weiter nichts als ein Flickschneider, welches Wort nicht viel mehr sagen will als ein Lump.
   Da klopfte eines Tages schon gegen die Abenddämmerung endlich einmal wieder ein Schneidergesell an, grüßte das Handwerk und bat um Arbeit. Dem klagte das arme Meisterlein gleich seine Not und sprach, es wollte ihm von Herzen gerne Arbeit geben, so es deren nur hätte. Der Schneidergeselle aber antwortete, der Meister solle ihn nur annehmen; wo er arbeite, da sei das Glück, da gebe es genug zu schaffen.
   »Nun wohl! Wir wollen es auf acht Tage probieren«, sagte der Schneider, der leicht Hoffnung schöpfte, und wäre es auch nur ein Fingerhut voll gewesen. Einiges fand sich noch zu flicken vor, und am andern Morgen begann die Arbeit; Meister und Geselle saßen einander gegenüber, und dem ersten stand die Nadel still, als er sah, wie flink und fertig der neue Geselle nähte. Dessen Nadel flog nur so, man sah kaum die arbeitende Hand.
   Nun betrachtete sich der Meister seinen neuen Gesellen auch weiter und verwunderte sich über dessen Gestalt. Derselbe war schier so dünn wie ein Zwirnsfaden; das nichts weniger als wohlbeleibte Schneiderlein war gegen jenen, was ein starker Stamm ist gegen eine dünne Gerte; das Gesicht des Gesellen war dem Meister nicht angenehm; es ähnelte jenes Physiognomie aufs Haar der eines Ziegenbockes, und nebenbei hing der Geselle an alles, was er sprach, ein seltsames kicherndes Gelächter, das akkurat wie Meckern klang.
   Kaum hatte die Arbeit begonnen, als es an die Türe klopfte und ein fremder Herr eintrat, welcher ein neues Gewand bestellte und das Geld für das Tuch gleich auf den Arbeitstisch legte. Zitternd vor Freude hüpfte das Schneiderlein um den Fremden herum und nahm das Maß. Ach, es hatte so lange nicht das wonnige Gefühl einer Schneiderseele empfunden, ein Maß zu einem nagelneuen Gewande zu nehmen. Der Fremde empfahl Eile und ging, und die Frau Meisterin sollte geschwind in den Tuchladen gehen, das Tuch zu holen, konnte sich nicht schnell genug anziehen.
   »Sieht der Meister, daß ich recht hatte?« fragte der Geselle. »Mit mir kommt das Glück ins Haus, mähähähä!«
   »Freut mich, freut mich sehr!« antwortete schmunzelnd das Schneiderlein.
   »Zehn Taler hat der Herr zu Tuch da gelassen?« fragte der Geselle weiter. »Da schickt man achte in den Tuchladen, und zweie behält man – mähähähä!«
   »Gott soll mich behüten und bewahren!« rief erschrocken das Schneiderlein. »Nein, das wäre eine Sünde, das wäre unrechtes Gut, das bringt kein Gedeihen!«
   »Lasse mich der Meister aus mit – und Sünde – solche Worte kenn ich nicht – mähähähä!« erwiderte mit einem ungemein spöttischen Gesichte der Geselle, immerfort fleißig arbeitend. »Man riecht dem Meister recht das kleine Stadtnest an, darin wir sitzen – da sollte einmal der Meister in einer großen Stadt leben und ein Kunde so dumm sein wie der unsrige, das Geld zum Tuche voraus zu bezahlen! Dort müßte man von zehn Talern gleich fünfe behalten, weil so gar viele andere Kunden das Tuch, das die Schneider zum Gewande tun, nie und niemals bezahlen, und Auslagen nebst Macherlohn zum – zum Teufel sind – mähähähä!«
   Das fromme Schneiderlein fädelte einen neuen Faden in seine Nadel, zog diesen recht lang aus, hielt ihn dem Gesellen unter die Nase und sagte: »Sieht Er, Mosjö! Ehrlich währet am längsten!«
   »Eine gute Zehrung, mit der man weit kommt!« spottete der Geselle mit seinem steten unausstehlichen Meckerlachen.
   Das Tuch wurde gebracht, es war fein und gut; der Schneider spitzte die Kreide und schickte sich zum Zuschneiden an. Der Geselle blickte in die Camera obscura, die sich an den Arbeitstischen der Schneider befindet, um Abfälle von Tuch, Futter und dergleichen aufzunehmen, und scharrte mit dem Fuße darinnen umher, es lag aber gar nichts darin als einige Fasern von der letzten Flickarbeit – dann folgte des Gesellen lauernder Blick jeder Handbewegung des Meisters – dann sagte er: »Nun Meister! Euer Ältester braucht notwendig ein Röcklein, oder die Frau Meisterin könnte eine Sonntagsjacke wohl brauchen. Schneidet hübsch mit Verstand zu – werft die Lappen her – in die Hölle – mähähähä!«
   »Beim Teufel ist die Hölle – nicht bei mir! Nicht ein Flecklein zu einem Haubenläppchen für meine Frau behalte ich!« versetzte der ehrliche Schneider.
   »Pah!« rief der Geselle und zog sein Bockgesicht zu einer greulich fletschenden Grimasse. »Wozu ist denn die Hölle da? Wozu hat sie ein Loch – mähähähä?«
   »Es heißt eigentlich gar nicht Hölle, es heißt Höhle, weil es ein dunkler hohler Raum ist – mit der Hölle hat kein ehrlicher Schneider was zu schaffen«, versetzte der das Tuch mit größter Gewissenhaftigkeit zuschneidende Kleiderkünstler.
   »Schulmeister! Oh! Deutscher Sprachmeister!« spottete der Geselle und warf einen Blick voll des grimmigsten Hohnes auf den redlichen Mann. Dieser aber ließ sich nicht irren, und die neue Arbeit wurde begonnen. Im Laufe desselben Tages gingen noch andere Bestellungen ein – eine nach der andern; bereits war Arbeit auf eine ganze Woche vorhanden.
   Dem Schneidermeister gefiel sein neuer Geselle gar nicht; er hätte ihm gern am Morgen des ersten Arbeitstages schon wieder Feierabend gegeben, aber er hatte ihn nun einmal auf eine Woche lang angenommen; der Geselle schien in der Tat das Glück mitgebracht zu haben, und schickte er ihn aus der Arbeit, so konnte er allein nicht in zwei Wochen alles fertigen, was bestellt war. Und einen zweiten Arbeiter, wie dieser Geselle war, gab es gar nicht.
   Am folgenden Tage setzte sich die Arbeit rührig fort, unter manchem Zwiegespräch, unter mancher Spötterei und manchem den Meister verhöhnenden Bockgelächter, daran sich dieser jedoch wenig kehrte. Er dachte: Spotte, höhne du nur immerzu, stichle, so viel du willst, arbeite nur so fort; dein Spott beißt mich nicht, dein Hohn sticht mich nicht – der heiße Bögelstahl deiner Zunge brennt mich nicht.
   So kam der Schneider mit Geduld und gutem Gewissen viel weiter, als wenn er fort und fort mit dem Gesellen gezankt und gehadert hätte.
   Zwischen die Arbeittage fiel jetzt ein Sonntag. Meister und Meisterin schliefen eine Stunde länger, es war ja Ruhetag. Am Abende vorher hatte die Meisterin die Werkstätte recht schön ausgekehrt und aufgewaschen, war aber nicht wenig erstaunt, als sie am Sonntagmorgen hineinschaute, den Boden rings umher wieder voll Tuchschnitzel, Zwirnstücke und Futterfetzen liegen zu sehen und auf seinem Platze den Gesellen in voller Arbeit; er hatte ein reines Hemde an, welches vorn aufstand, und mit Entsetzen gewahrte die Meisterin, daß des Gesellen Brust über und über voll schwarzer Haare war.
   Sie zog sich zurück und drückte ihrem Manne ihre Verwunderung aus, daß er den Gesellen am lieben Sonntage arbeiten lasse, was doch eine Sünde sei – und sie habe doch erst abends zuvor die Werkstatt so schön gefegt.
   »Wie? Er arbeitet?« fragte ganz verwundert der Meister.
   »Mir ist nicht eingefallen, ihn das zu heißen. Das soll er gleich bleiben lassen!«
   Rasch trat der Meister in die Werkstatt: »Schönen guten Morgen auch! Aber was soll das heißen? Weiß Er nicht, daß heute Sonntag ist?«
   »Großen Dank, Meister! Nä, mähähähä!«
   »Hör Er! Lasse Er Sein dummes Lachen! Ich verbitt es mir!« sagte der Meister und warf sich in die Brust. »Heute ist Sonntag, heute wird ein für allemal nicht schneideriert. Sonntag ist Ruhetag!«
   »Halte mir doch der Meister meine Arbeiten nicht für ungut!« verteidigte sich der Geselle mit scheinbarer Demut. »Für wen arbeite ich denn? Für Ihn oder für mich? Doch ohne Zweifel für Ihn. Ich bin nun einmal an stete Tätigkeit gewöhnt, ich muß mir stets was zu tun machen – ich kenne keine Ruhe und keinen Müßiggang. Kennt Ihr nicht das schöne Sprüchlein: Müßiggang ist des Teufels Ruhebank und aller Laster Anfang? Mähä —«
   »Mag sein«, antwortete der Meister, einigermaßen verwirrt. »Jetzt höre Er auf zu arbeiten. Frühstücke Er und ziehe Er sich an. Er täte auch wohl, sich zu rasieren; schau Er einmal in den Spiegel – Er hat ja einen Bart justement wie ein Ziegenbock.«
   »Mähähähä!« lachte der Geselle überlaut. »Verzeih mir‘s der Meister – ich muß lachen – mähähähä! daß Ihr einen solchen Vergleich braucht. Nun Euer Wille soll geschehen.«
   Der Geselle ging in seine Kammer, rasierte sich und zog sich an und sah mit dem Barte, den er sich hatte stehen lassen, wie eine lebendige Satire auf die ganze löbliche Schneiderzunft aus.
   Er hatte einen kohlschwarzen Frack von glänzendem Sommerzeug an, dessen Schöße bis auf die Erde hingen, und in der Tasche des einen bauschte etwas, als wenn eine lange Schlangengurke drinnen stäke, vermutlich eine Tabakspfeife, denn es hing eine Art schwarzer Quaste heraus. Unter dem Frack trug der Schneidergeselle eine Weste von feuerfarbigem Berkal, und seine Sommermodesten waren von echtem Nankin. Einen Hut besaß der Geselle nicht, sondern bloß ein flottes barettähnliches Käpplein von schwarzem Sammet, mit rotem Rande und mit Goldschnur baspoliert. In der Hand trug er einen wunderlich knorrigen Stock von Wacholderholz, dessen Griff eine Art Drachenkopf bildete, welcher als ein Spiel der Natur so gewachsen war.
   »Ei – Er hat sich ja recht stattlich herausgeputzt, Schwarzburger!« rief der Meister den Gesellen an, der, wie das Wanderbuch auswies, aus dem Schwarzburgischen stammte. »Nur Sein Bart gefällt mir nicht und Sein Käpplein auch nicht, es hat vorn so seltsame Ecken, just als ob ein paar Bockshörnlein darunter steckten!«
   »Ei, daß Euch der Bock stieße, Meister!« rief der Geselle.
   »Erst soll ich armer Schwartenhans einen Bocksbart, dann gar Bockshörnlein haben! Wisset, wenn Ihr so seid, so kann ich auch bocken, kann auch Feierabend machen.«
   »Friede am lieben Sonn– und Feiertage!« gebot der Meister. »Wir wollen einander nicht gegenseitig ins Bockshorn jagen. Hier Geselle, hat Er ein Gesangbuch – wir gehen in die Kirche.«
   Vergebens hielt der Meister dem Gesellen das Buch hin – jener berührte es nicht – und lachte verlegen:
   »Mähähähä, Meister! Legt‘s hin – legt‘s hin – ich muß – ja, zu meiner Schande muß ich‘s Euch gestehen – ich kann nicht – ich kann nicht lesen.«
   »Hm! Hm!« brummte das Schneiderlein verwundert und sprach: »Das nimmt mich wunder, daß bei den zahllosen trefflichen Schulanstalten, deren Deutschland sich zu erfreuen hat, und bei der Überzahl von Lehrern, welche rings die wahre Bildung und Aufklärung verbreiten, irgendwo der Unterricht noch so mangelhaft beschaffen sein sollte, daß ein deutscher Schneider nicht lesen könnte – indessen nehme Er nur das Buch, lege Er es in der Kirche vor sich hin und tue Er, als sähe Er hinein – das machen viele Tausende so, die recht gut lesen können. Es sieht doch aus wie Andacht.«
   »Ich kann wahrhaftig nicht, verschone mich der Meister damit!« lehnte der Geselle beharrlich ab. »Ich kann nicht in die Kirche gehen – die kühle Luft beklemmt mir meine schwache Brust – ich will ein wenig Spazierengehen, die Natur ist mein Tempel – und hier ist eine schöne Gegend, nicht wahr, Meister?«
   »O ja«, mischte sich die Meisterin in das Gespräch. »Wenn er zum untern Tore hinaus ist, führt gleich links der Weg in ein Felsental; man heißt diesen Weg nur den Drachengraben, und weiter hinten steht ein schöner Steinfels, den heißt man die Teufelskanzel.«
   »Ah! Das ist schön! Da will ich hingehen! Küsse die Hand, Frau Meisterin! Wünsche allerseits gute Andacht! Mähähähä!«
   Am Sonntage nach der Nachmittagskirche ging das ehrsame Schneiderlein mit seiner Familie auch spazieren; das Wetter war sehr einladend, und an einem nahen Vergnügungsorte, allwo es gutes Bier gab, wurde es sehr voll. Die Kinder fanden Spielgenossen, die Frau Meisterin fand Freundinnen und Gevatterinnen, und der Meister fand einen ihm wohlwollenden geistlichen Herrn, mit dem er sich noch ein wenig in der Nähe des Lustgartens in guten Gesprächen erging. Da begegnete ihnen der Geselle.
   »Mein, was ist das für eine Figur? Die hab ich doch hier noch nicht gesehen!« fragte der geistliche Herr. »Schaut, Meister, diese verzwickte Gestalt, diese miserable Physiognomie, und wie der Kerl hinkt!«
   »Wahrhaftig, er hinkt, das habe ich noch gar nicht wahrgenommen!« erwiderte der Schneider.
   »Wie? Ihr kennt ihn, Meister?«
   »Es ist mein neuer Geselle«, antwortete mit einer gewissen Wichtigkeit und Betonung das Schneiderlein; denn es schmeichelte ihm doch, der Mann zu sein, welcher einen Gesellen hielt. Dieser Geselle aber schlug einen Nebenweg ein und bog links ab, um den beiden, die von ihm sprachen, nicht zu begegnen.
   Der geistliche Herr schien ebenso neugierig als argwöhnisch, er richtete Frage auf Frage an den Meister und machte dem guten Manne, der so ehrlich war, keine Hölle haben zu wollen, dennoch die Hölle heiß.
   »Was sagt Ihr mir da alles, Meister?« rief der geistliche Herr. »Wie ein Bock sieht er aus – meckert wie ein Bock – scheint Hörnlein unter der Kappe zu haben – hinkt – faßte das Gesangbuch nicht an – kann die Kirchenluft nicht vertragen? O du Erzbock, du Sündenbock! Du Bock aller Böcke! Meister, um des Himmels willen, welch einen Bock habt Ihr geschossen, diesen Bock in Euer christliches Haus aufzunehmen! Dankt dem Himmel, daß Euch heute mich hier finden ließe. Euer Geselle – das ist der helle Teufel!«
   Das Schneiderlein stieß einen Schrei aus und war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen – ja – ja – alles wurde ihm klar – die plötzlich sich häufende Arbeit, der schlimme verführerische Rat, vom Tuchgelde zu behalten, Tuch zu ganzen Jacken in die Hölle zu werfen – des Gesellen Hohn, den er stets gegen alles aussprach, was hehr und heilig war, jetzt stand alles im fürchterlichen Zusammenhange da. Wenn das Tischgebet gesprochen wurde, hatte der Geselle sich Salz genommen, das Ding in seiner langen Rocktasche hatte sich bisweilen wunderlich bewegt, als zapple ein Aal darin, und die Quaste, die manchmal herausbaumelte, war nicht von schwarzem Kamelgarn, sondern es waren Haare.
   »Meister!« begann aufs neue sehr ernst der geistlich Herr: »Ihr seid ausersehen zu einer großen Tat, wie noch nie ein Schneider eine verrichtete – vollbringt Ihr sie, so tragt Ihr ewigen Ruhm davon; unterlaßt Ihr sie zu vollbringen, so seid Ihr mit Leib und Seele, mit Frau und Kindern verloren zeitlich und ewiglich. Ihr habt jetzt den Schwarzen im Hause, Euch dient er, auf Spekulation, Eure Seele zu verderben, der Seelenfänger. Habet Acht, wie wir ihn bannen und ihm das Wiederkommen verleiden, denn das wißt Ihr doch, daß eine Katze nicht wieder das Haus besucht, darin man ihr den Schwanz abhackte oder die Ohren abschnitt. Laßt vom Schleifer Eure Schere schärfen und habt sie zur Hand – das Weitere will ich Euch dann schon noch sagen.«
   An diesem Abende gab es an dem Vergnügungsorte nächst dem Städtchen, wo das Schneiderlein seßhaft war, zwischen Schneidergesellen und Schuhmachergesellen fürchterliche Prügel. Ein Schuhmachergeselle hatte über die unförmigen Stiefel gespottet, welche der fremde Schneidergeselle trug, es waren erst witzige, dann grobe Worte gefallen, dann die Schläge hageldicht, erst mit Stöcken, dann mit Stuhlbeinen, und noch nie hatte es so viele zerschlagene Nasenbeine, Beulen, Löcher in den Köpfen und dergleichen gegeben. Alle Leute kamen in dem Urteil überein, der Teufel sei völlig losgewesen.
   Am andern Tage ging kein Geselle an die Arbeit. Die ganze Gesellenschaft war aufgeregt, keiner mochte arbeiten, man feierte blauen Montag, zog rauchend und singend, sich Arm in Arm führend, gassenbreit durch das Städtchen, zu den Schneidern gesellten sich Barbier-, Drechsler-, Glaser-, Tuchmacher– und Färber-Gesellen, zu den Schustern aber Gerber-, Tischler-, Schmiede-, Maurer– und Zimmergesellen. Der Schwarzburger war der Führer der erstgenannten Partei – er hatte eine rote Hahnenfeder auf sein Barettlein gesteckt, und als abends die Gesellenschlacht entbrannte, zu der man sich den ganzen Tag über durch manches Glas Branntwein gehörig vorbereitet hatte, floß vieles Blut, und – was noch nie dagewesen war, die Schneiderpartei behauptete siegreich den Kampfplatz, indes kam am Abende dieses blauen Montags kaum einer ohne blaue Flecken oder Blutergüsse heim. Nur der Schwarzburger zeigte keine Spur einer Verwundung, auch keine Ermüdung, sondern arbeitete am Dienstag früh wieder flott und rüstig, zog aber ein sehr schiefes Gesicht, als jener geistliche Herr in die Werkstätte trat, und rückte unruhig hin und her. Der Meister empfing denselben mit vieler Reverenz, zeigte hinter dem Rücken des Gesellen auf die frischgeschliffene scharfe Schere, und der geistliche Herr begann allerlei Fragen an den Gesellen zu richten, so zum Beispiel: »Wie ist dein Taufname?« Da stank es schon in der Fechtschule. »Ich bin nicht getauft«, antwortete der Geselle.
   »So bist du vielleicht ein Jude?« fragte der geistliche Herr.
   »Ich bin kein Jude.«
   »Oder ein Türke? Oder ein Heide?« ging das Fragen fort.
   Der Geselle tat, als höre er nicht wohl, und antwortete: »Ja, ich bin ein Schneider. Mähähähä!«
   »Der Teufel bist du, unsauberer Geist!« donnerte der geistliche Herr. » Exorciso te, creatura daemonica!«
   Da begann der Teufel zu zittern und bekam den Krampf in seine dürren Waden, und der Schneider hatte sich mittlerweile unter den Sitz des Teufels gebückt und die rechte Stelle ersehen und schnitt jetzt mit einem kühnen Griffe dem Teufel rupps und kahl den bisher so sorglich verwahrten Schwanz ab. Der Teufel tat ein Höllengebrüll und fuhr auf und davon und kam niemals wieder. Den Schwanz ließ er fallen, und der geistliche Herr hob denselben auf, um ihn zu anderen Seltenheiten der Natur und Kunst zu legen, die man in der Reliquienkammer aufbewahrte.
   Das Schneiderlein aber wurde gefeiert als ein Held, bekam vielen Zuschlag und hatte später zwölf Gesellen und sechs Lehrburschen sitzen. Litt aber nicht, daß einer gute und große Lappen in die Hölle warf. Die scharfe Schere wurde zu keiner andern Arbeit mehr verwendet, sie blieb ein Angedenken und Kleinod in der Familie, und als der Schneider im Rufe eines frommen Christen verstorben war, meißelte man das treue Abbild derselben in den Grabstein und mauerte diesen an die Außenwand der Kirche, just da, wo innen die Reliquienkammer sich befand.
   Seitdem geht nun der Teufel ohne Schwanz umher, und der große Dienst, den der Schneider der Welt durch seinen kecken Schnitt zu leisten vermeinte, bleibt noch sehr in Frage gestellt; denn als der Teufel seinen Schwanz noch hatte, den er allerdings gern auf alles legte, konnte man ihm besser aus dem Wege gehen als jetzt, wo er ohne Schwanz umherstolziert; seit er so gestutzt und stattlich erscheint, kam der Name Stutzer auf für Leute, die geschniegelt, gebügelt und gestriegelt sich sehen lassen, sich in die Brust werfen, hochnäsig und hochmütig, und dabei doch nichts als arme oder dumme Teufel sind.