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|  Franz Treller
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|  Der Letzte vom "Admiral"
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   Franz Treller
   Der Letzte vom "Admiral"


   Ueber Bord gefallen 

   Der Wind blies scharf aus Südost und warf vor der breiten Elbmündung kurze, weißschäumende Wellen auf. Die Sonne war bereits untergegangen, und am Himmel jagten dunkle Wolken vorüber, die von Zeit zu Zeit einen Regenschauer niedersandten.
   Von Norden, über den großen Vogelsand her, suchte eine kleine Segeljacht gegen den Wind aufzukreuzen, um die Elbmündung zu gewinnen.
   Unter stark gekürzter Leinwand jagte sie auf einem Gang nach Süden durch die schaumgekrönten Wellen. Schon sandten der Leuchtturm von Neuwerk und fernher der von Kuxhaven ihr strahlendes Licht durch die Dämmerung. Drei junge Leute befanden sich an Bord des schlanken Bootes, in der eleganten Seemannstracht, wie sie die reichen jungen Hamburger auf ihren Fahrten anzulegen pflegten.
   Am Steuer saß ein kräftiger, breitschultriger Jüngling, der es mit Geschick handhabte. Der Gefährte an seiner Seite zeigte schlanke Formen und fast mädchenhafte Züge unter der blauen Matrosenmütze. Der dritte kauerte an der Brasse, um sie beim Umlegen des Bootes zu bedienen; seine stechenden dunkeln Augen würden sicherlich jedermann aufgefallen sein.
   »Ich fürchte, wir kommen bei diesem Lüftchen und solange noch die Ebbe abläuft nie in die Elbe, Henrik«, sagte der am Steuer zu dem neben ihm sitzenden jungen Mann.
   »So laß uns wenden und auf Büsum halten«, entgegnete der Angeredete, »wir sind mit diesem Wind hinter uns in einer Stunde dort und können nach Hamburg telegraphieren, um die Unsrigen zu beruhigen, und dann die Eisenbahn zur Heimfahrt benutzen.«
   »Unsinn!« schrie der dritte an der Brasse, zu dem die Worte trotz des Rauschens von Wind und Wellen gedrungen waren, mit einer wenig angenehmen Stimme, »wir kommen mit dem zweiten Gang sicher in die Elbe und erreichen die ›Alte Liebe‹ noch ehe es ganz Nacht wird. Laßt uns umlegen.«
   »Noch nicht«, entgegnete der am Steuer, »ich will erst Neuwerk achter haben, ich kann dann besser auf dem langen Gang ausholen.«
   Es ward nicht weiter gesprochen, und die Jacht lief dicht am Wind in schneller Fahrt an der Insel vorbei. Einen Augenblick erregte ein dort ankerndes Barkschiff die Aufmerksamkeit der jungen Leute, die sich wunderten, an solcher Stelle einen Kauffahrer liegen zu sehen, doch tauschten sie, vollauf mit ihrem Boot beschäftigt, keine Bemerkungen darüber aus.
   Es wurde dunkler, und ein feiner Sprühregen beschränkte den Ausblick noch mehr, doch war der Lichtschein vom Leuchtturm zu Kuxhaven deutlich zu gewahren. Jetzt hielt der Jüngling, welcher das Steuer führte und wohl als Kapitän gelten konnte, den Augenblick für gekommen, um zu wenden.
   Neuwerk lag hinter ihnen.
   »Geh nach vorn, Henrik«, sagte er zu dem, welcher neben ihm saß, »und wirf den Klüver herum, daß wir rascher den Wind fangen, wir bekommen sonst Wasser.«
   Henrik erhob sich, um den Befehl auszuführen.
   Das Boot lief so hart am Wind, daß der Segelbaum innerhalb der Bordwände lag, so daß der junge Mann, welcher nach vorn ging, dies im Lee der hart angespannten Leinwand tun konnte. Kaum war er neben der schweren Spiere, welche in Schulterhöhe sich hinstreckte, als das Tau, vermittelst dessen sie scharf angeholt war, im Block losglitt und das schwere Holz unter dem harten Luftdruck, der auf der Leinwand lag, mit starker Kraft Henriks Haupt traf und ihn in die dunkeln schäumenden Wellen schleuderte. Ein Schrei des Entsetzens hallte über die wilden Wasser hin. Der Mann an der Brasse saß leichenblaß und bewegungslos da. Dennoch hatte der andere trotz des furchtbaren Ereignisses Besonnenheit genug, das Steuer herumzuwerfen, um in den Wind zu kommen.
   »Hol steif!« schrie er gellend seinem Gefährten zu, der mechanisch dem Anruf folgte. Es vergingen Minuten der Todesangst, ehe das Boot wieder am Wind lag; es hatte viel Wasser eingenommen.
   »Henrik! Henrik!« schrie der Steuermann in wildem Schmerz über die Wellen hinaus und ließ seine Augen umherschweifen, um etwas von dem Freund zu entdecken.
   Vergebens. Das Boot jagte dahin zwischen schäumenden, sich überstürzenden Wogen – nichts – nichts war zu entdecken.
   Am Morgen nach dem für die Bemannung der Segeljacht so furchtbaren Abend ging der Senator a. D. Christian Asmus in dem wohlgepflegten Garten auf und ab, der seine Villa, die anmutig am Ufer der Elbe in Blankenese sich erhob, umgab. Der hochgewachsene Herr, ein stattlicher Sechziger mit einem schönen, vornehmen Gesicht, das starkes weißes Haar und ein kurz gehaltener Backenbart einrahmten, ging langsam, seine Havanna rauchend, zwischen den Blumenanlagen hin und her, oftmals sich zu einem seiner Lieblinge niederbeugend.
   Nicht ohne einiges Befremden sah er den jungen Holthaus, den Sohn des Nachbarn, den Gartenweg entlang auf sich zukommen. Die Stunde war für einen Besuch etwas früh gewählt. Als der junge, kräftige Mann, ziemlich langsam gehend, näherkam, bemerkte der Senator, wie bleich und verstört er aussah.
   Besorgnis stieg in dem alten Herrn auf, daß jener der Überbringer schlechter Nachrichten sein könne, und ihm entgegengehend, fragte er rasch: »Nun, Karl Holthaus, was bringen Sie mir?«
   »Leider nichts Gutes, Herr Senator«, sagte der Angeredete in einem Ton, der dem gramvollen Ausdruck seines Gesichts entsprach.
   Der alte Herr sah ihn aufmerksam an und sagte: »Kommen Sie mit in den Salon.« Er schritt die Stufen hinauf über die breite Veranda auf das nahe Haus zu, schloß, als Holthaus ihm gefolgt war, die Flügeltüren des kleinen Saales und fragte dann mit etwas gedrückter Stimme: »Was hat's gegeben?«
   »Ein Unglück, ein großes Unglück, Herr Senator«, und überwältigt von seinem Gefühl, brach der junge Mann in einen Tränenstrom aus.
   Der Senator erschrak hierüber heftig, und da er wußte, daß der junge Holthaus ein Freund seines Neffen Henrik Horsa sei, fragte er mit bebender Stimme: »Betrifft es Henrik?«
   Karl Holthaus nickte stumm, er konnte noch nicht reden. Schluchzen erstickte seine Stimme. Dem Senator lief es kalt den Rücken hinab und eine Ahnung großen Unheils stieg in ihm auf.
   »Was ist dem Jungen zugestoßen?« fragte er rasch und sah so bleich aus wie der in tiefer Erregung vor ihm stehende junge Mann.
   »Er ist – ach, Herr Senator, Henrik ist – verunglückt.«
   »Wie? Verunglückt?«
   »Er ist gestern abend bei Neuwerk über Bord gegangen.«
   »Und? Und?«
   »Es war wildes Wetter und – und zu retten war er nicht.«
   Der Senator ließ die Zigarre, die schon lange nicht mehr brannte, fallen und setzte sich in einen Lehnstuhl; er fühlte, daß die Beine ihn nicht mehr tragen wollten. Mit aller Anstrengung sagte er: »Teilen Sie mir alles mit – wie ist das zugegangen, Holthaus?«
   Dieser fing an von der Fahrt zu erzählen, dem schlimmen Wetter, der Schwierigkeit, die Elbmündung zu gewinnen, und berichtete dann stockend in schmerzvoller Erinnerung die schauerliche Katastrophe.
   Stumm, atemlos lauschte der alte Herr, und sein Herz zog sich in jähem Schmerz zusammen, als er das Schlimmste erfuhr.
   Er senkte das Haupt, unfähig zu sprechen.
   »Wir haben getan, was wir konnten, Herr Senator, aber es war Nacht – hoher Wellengang, es war nicht möglich, ihm Hilfe zu bringen. Bei Gott, ich wollte, ich wär's gewesen, der zugrunde ging«, setzte er in einem Ton hinzu, der aus dem Herzen kam. Auch wußte Asmus, wie sehr der junge Holthaus Henrik liebte.
   Erst nach einiger Zeit fragte der Senator: »Wer war noch in dem Boot?«
   »Onno Steenberg.«
   Onno Steenberg war der andere Neffe des alten Herrn, der Sohn seiner zweiten Schwester.
   »Und der saß an der Brasse, als das Unglück geschah?«
   »Ja.«
   Der Senator stand auf und ging einigemal im Zimmer auf und ab, die dichten Augenbrauen finster zusammengezogen und starr vor sich hinsehend. Dann wandte er sich wieder an Holthaus: »Und warum ist Onno nicht gekommen, mir das Unheil zu verkünden?«
   »Er ist furchtbar erregt und beschwor mich, die Botschaft zu übernehmen; übrigens wartet er draußen.«
   Der Senator klingelte und rief dem eintretenden Diener zu, seinen Neffen Onno hereinzuführen.
   Eine Minute später trat Onno Steenberg ins Zimmer.
   Er war eine nicht gewöhnliche Erscheinung. Auf der schlanken, mit stutzerhafter Sorgfalt gekleideten Gestalt ruhte ein Kopf von schöner Form. Haar und Gesichtsfarbe, auch der Schnitt der Züge deuteten auf südliche Abkunft; seine Großmutter war eine Spanierin. Der junge Mann, dessen Züge etwas Verlebtes an sich hatten, war sehr bleich und hielt den Blick zu Boden gerichtet, als er schwankend, den Hut in der Hand, eintrat.
   Die grauen Augen des Onkels ruhten mit strengem, ernstem Blick auf Onno.
   »Warum kamst du nicht selbst, um mich von dem entsetzlichen Unglück zu unterrichten?«
   »Ich hätte es nicht über die Lippen gebracht«, stammelte Onno – und schlug die behandschuhte Hand vor die Augen.
   »Erzähle mir, wie es kam.«
   »Ich weiß es nicht«, entgegnete er mit schwacher Stimme, immer den Blick zu Boden gerichtet. »Die Brasse war festgemacht, sie hatte fast eine Stunde wie Eisen gehalten; ich weiß nicht, wie es kam, daß das Tau durch den Block glitt.«
   »Aber ihr wolltet doch wenden? Hast du nicht zu früh losgemacht?«
   »Ich habe die Brasse nicht berührt, ich erwartete den Befehl von Holthaus.«
   Die dunkeln Augen des Sprechers bewegten sich unruhig hin und her. Der Blick des Greises wurde immer finsterer und drohender, als er auf das bleiche, zuckende Gesicht seines Neffen starrte.
   Plötzlich wandte er sich rasch an Holthaus, dessen derbes, ehrliches Gesicht in seinem kummervollen Ausdruck einen lebhaften Gegensatz zu dem Steenbergs bildete, mit der Frage: »Aber kann sich Henrik nicht nach Neuwerk durch Schwimmen gerettet haben?«
   Traurig entgegnete der: »Bei dieser See, nein, Herr Senator, auch traf ihn die Spier an den Kopf. Ach, wir haben gestern abend noch gekreuzt, ohne Rücksicht auf unser Leben, doch vergebens! Wir haben, an Land gekommen, alle Küstenstationen angerufen, nach Neuwerk telegraphiert, heute morgen war ich selbst mit mehreren Lotsen draußen. Wenn Gott kein Wunder getan hat, lebt Henrik nicht mehr.«
   Nach einer Weile fragte der Senator Holthaus wieder: »Weiß meine Schwester schon davon?«
   »Nein, wir sind zu Ihnen gekommen, um Sie zu bitten, Frau Horsa die Schreckenskunde zu bringen.«
   Asmus reichte ihm die Hand und sagte: »Wir müssen's tragen, Holthaus, so gut es geht; ich danke Ihnen.«
   Holthaus verbeugte sich und ging. Der Senator blieb mit seinem Neffen allein.
   Er trat dicht vor ihn.
   »Sieh mir einmal in die Augen.«
   Onno erhob die Augenlider, senkte sie aber sofort wieder, als er dem finstern, drohenden Blick des alten Herrn begegnete.
   »Tue ich dir unrecht, mag mich Gott strafen, aber du trägst das Zeichen Kains an der Stirn.«
   »Onkel!« schrie Onno schrill auf, »das mag dir Gott in deiner letzten Stunde vergeben.«
   »Ich kenne dich und dein Treiben besser, als du glaubst«, fuhr der Senator unerbittlich fort und setzte in scharfem Ton hinzu: »Eines merke dir noch. Du wärest mit Henrik gemeinsam mein Erbe geworden – denn du bist das Kind meiner seligen Schwester; nach diesem Unglücksfall aber geht mein Vermögen nach meinem Tod an wohltätige Anstalten über. Adieu!«
   Ein Blick des furchtbarsten Hasses streifte den alten Herrn, als Onno sich zum Gehen wandte, den jener indessen nicht bemerkte.
   Als Onno fort war, sagte der Greis: »Verzeih mir, Vater im Himmel, wenn ich ihm unrecht tat. Oh, mein Henrik, mein Liebling! Meine arme Schwester!«
   Er rief nach seinem Diener, befahl den Wagen und ließ sich ankleiden. Nach einer halben Stunde hielt er vor einer kleinen Gartenpforte am Ende Blankeneses.
   Als er ausstieg, eilte eine ältere, dunkel gekleidete Dame auf ihn zu, deren bleiches, von Seelenangst zeugendes Gesicht sehr schön gewesen sein mußte.
   »Oh, Krischan – wo ist Henrik?«
   Tiefbewegt legte der alte Mann den Arm der Schwester in den seinen, sagte: »Komm, Stinning, komm«, und führte sie dem Hause zu. Willenlos folgte sie ihm ins Wohnzimmer. Er leitete sie zu einem Sessel: »Set di man dal.«
   Sie ließ sich niedersinken.
   Die beiden alten Leute sprachen immer platt, wenn sie unter sich waren. Sie war noch bleicher geworden und ihre Augen hingen voll Angst an seinen trauervollen Zügen.
   »Wat is mit Henrik?«
   Zitternd kamen die Laute über ihre Lippen.
   Wie sollte er nun das Furchtbare verkünden? Henrik war ihr Einziger, ihr alles. Endlich legte er den Arm um ihre Schulter und schluchzte laut. Sie sah ihn mit einem Gesicht, auf welchem der Schreck versteinert schien, an, dann schrie sie auf, aller Schmerz einer Mutterseele klang in dem Ton wieder: »Krischan – he is all starwen?«
   Der Senator nickte stumm.
   »He is all bihn leiwen God, Stinning.«
   Sie starrte ihn an, mit einem Blick wie eine Irrsinnige, dann fiel sie vom Stuhl schwer zu Boden. Der Senator rief nach der Magd. Die Alte, welche länger als ein Menschenalter im Hause diente, erschrak nicht wenig, als sie den alten Herrn in Tränen und ihre Herrin in diesem Zustand erblickte. Sie hoben Frau Horsa auf, legten sie aufs Sofa, und Dürten kühlte ihr die Schläfe mit Kölnischem Wasser.
   Endlich kam sie wieder zu sich und erfuhr nun, was und wie es sich zugetragen.
   Bange Wochen bitteren Schmerzes vergingen. Nur ein fester, demütiger Glaube an die Weisheit, Macht und Güte Gottes half der Mutter das tiefe Leid ertragen. Dürten aber hatte die feste Überzeugung, daß Henrik noch unter den Lebenden weile; ein Traum hatte ihr das gesagt und Dürtens Glaube an die prophetischen Bedeutungen ihrer nächtlichen Gesichte war unerschütterlich.
   »Unse Jongherr kümmt all wedder, Madam – dat is so seker as dat Amen in de Kerk«, wiederholte sie oft, und warum sollte ein liebendes Mutterherz sich nicht auch an diese schwächste Hoffnung klammern?
   *
   Onno Steenberg, der, älter als Henrik Horsa, im großen Handelshause Oswald Söhne bereits eine angesehene Stellung einnahm, hatte sich im Laufe der folgenden Wochen im Auftrag seines Chefs nach Ostasien begeben, wo eine verwickelte Geschäftslage das Eingreifen eines erfahrenen und energischen Mannes bedingte. Das Haus Oswald Söhne stand in lebhaftem Handelsverkehr mit Indien und China. Er hatte sich um diese Stellung beworben, da ihm nach Henriks jähem Ende und der Haltung des Senators Hamburg verleidet war, und sie wurde ihm von seinem Direktor um so lieber anvertraut, als er durchaus die notwendigen Eigenschaften zu glücklicher Lösung der schwierigen Aufgabe besaß. Onnos Vorhaben war Senator Asmus angenehm gewesen, so grimmig er auch wurde, als sich nach der Abreise seines Neffen herausstellte, daß dieser, trotz eines guten Einkommens, infolge seines leichtfertigen Lebenswandels tief in Schulden geraten war und deren Deckung der Großmut seines Onkels überlassen hatte. Der Ehre der Familie wegen mußte der alte Herr die Schulden bezahlen. Er tat dies in der Hoffnung, daß ihm Onno nie wieder vor Augen kommen werde. Sein Schmerz um den Verlust Henriks war ungemindert.
   *
   Als die Brasse losließ und die Spiere den unglücklichen Henrik über Bord schleuderte, lähmte die Zurückbleibenden bleiches Entsetzen, die nächsten Augenblicke galten dann dem Kampf ums Leben, und so hatten sie ein starkes Ruderboot in Lee, welches, von sechs langen Riemen getrieben, nach Neuwerk zuhielt, nicht gesehen, obgleich es dicht an ihnen vorbeigetrieben war.
   Im Stern dieses Bootes saß ein noch junger, wettergebräunter Seemann und steuerte es mit vollendeter Sicherheit. Der gellende Schrei von der Jacht her drang vom Wind getragen bis zu ihm. Er wandte den Kopf, erblickte auch schattenhaft das Fahrzeug mit seinem im Wind flatternden Segel und gleich darauf, während das Heck seines Bootes niederging, ein bleiches Menschenantlitz neben sich, das eben aus der Welle auftauchte. Instinktiv fast, aber blitzschnell fuhr seine Hand nieder und faßte langes Haar, es mit der Kraft einer starken Seemannsfaust festhaltend. Eine Sekunde später und der im Meer Treibende wäre weit abgespült worden und versunken. Der Seemann hielt das Haupt über Wasser. Da er das Steuer nicht loslassen durfte und auch mit der einen Hand den bewegungslosen Körper nicht in das Boot ziehen konnte, rief er die ihm zunächst sitzenden Matrosen, die wohl gesehen hatten, was sich am Steuer zutrug, an: »Jan und Krischan, stopp! Hierher un helpt den Jongen in dat Boot trecken!«
   Die Angerufenen hoben gleichzeitig die Riemen aus den Dollen, legten sie an Bord nieder, gingen nach hinten, und gleich darauf lag der triefende Körper des Bewußtlosen neben dem Mann im Stern des Bootes.
   Da die bewegte See die ganze Aufmerksamkeit des Steuermanns wie die volle Kraft der Ruderer erforderte, ergriffen diese sofort wieder ihre Riemen, und unbeachtet lag der den Wellen entrissene Jüngling da.
   Nach einer halben Stunde schwerer Arbeit näherte sich das Boot dem Barkschiff, welches eine Laterne gesetzt hatte. Im Lee des Schiffes, welches sich nur über einem Buganker schaukelte, auf verhältnismäßig ruhigem Wasser angelangt, ward ihnen von Bord ein Tau zugeworfen, sie holten an, und der Steuermann stieg an dem aushängenden Fallreepan Deck.
   Dort stand der Kapitän im schwachen Schein der am Großmast befestigten Laterne.
   »Lange geblieben, Stürmann«, sagte er, als jener auf ihn zutrat.
   »War nich früher möglich, Kaptein.«
   »Hewwen Se allens?«
   »Ja, Kaptein, un noch en Stück Ballast dartau.«
   »Wie is dat?«
   Der Steuermann berichtete kurz, was ihm soeben begegnet war. Auch hoben die Matrosen schon den Körper des jungen Menschen über die Bordwand und ließen ihn sanft auf einem Stück Segeltuch im Schein der Laterne nieder. Während das Boot gehißt wurde, trat der Kapitän zu dem Bewußtlosen heran.
   »Aber der ist ja tot, Steuermann.«
   »Ich glaube nicht, Kapitän. Freilich habe ich mich auf der Fahrt nicht um ihn bekümmern können, aber er hatte kaum eine Minute im Wasser gelegen, als er an mich antrieb.«
   Der Kapitän, der Steuermann und einige Matrosen sahen auf die jugendliche, schlanke Gestalt, die leblos vor ihnen lag. Das feine, wollene Hemd, der gestickte Gürtel, die eleganten Beinkleider deuteten an, daß der Träger dieser Kleidungsstücke einer wohlhabenden Familie angehören müsse. Um das bleiche Gesicht von weichen, edeln Formen hing das feuchte Haar nieder, die Augen waren geschlossen. Der Junge lag da, als ob er schliefe. Rasch hatte ihm der Steuermann das Hemd geöffnet und sein Ohr an die Brust des Bewußtlosen gelegt.
   »Der Mann lebt, das Herz schlägt, Kapitän«, sagte er aufstehend, »ich denke, er hat den Giekbaum der Jacht an den Schädel bekommen.«
   »Diese Landlubbers sollen auf ihren Fischteichen bleiben«, brummte der Kapitän, »aber wat helpt dat nau – der Junge ist sicher guter Leute Kind. Lassen Sie ihn in die Koje bringen, abreiben und gut zudecken, Steuermann, wollen sehen, was daraus wird.«
   Während zwei Matrosen den Körper hinabtrugen, wurde der Anker gelichtet, Leinwand gesetzt, und bald schaukelte die Hamburger Bark »Roland« auf den kurzen Wellen der Nordsee, Henrik Horsa, der warm zugedeckt in einer Koje ruhte und durch sein Atmen bewies, daß noch Leben in ihm weilte, mit sich hinausführend in das weite Meer.
   Kapitän Jansen war, als er an Kuxhaven vorbeiging, durch eine ihm übermittelte Depesche seiner Reeder bedeutet worden, daß er noch ein wichtiges Schriftstück zu erwarten habe. Da er im Strom nicht beilegen wollte, hatte er seinen Steuermann an Land geschickt und, dessen Rückkehr abwartend, bei Neuwerk einen Anker fallen lassen. Dies war die Veranlassung, daß das Boot zu jener Stunde dem Schiff nacheilte.
   Während der Nacht sprang der Wind um und blies scharf aus West. Da mit dieser Brise der Kanal nicht zu passieren war, hielt der Kapitän nach Norden zu, um seinen Weg in den Ozean um Schottlands Küste zu suchen.
   Der junge Mensch lag immer noch bewußtlos in seiner Koje. Eine genauere Untersuchung hatte ergeben, daß er einen heftigen Schlag gegen den Kopf bekommen hatte, dessen linke Seite stark mit Blut unterlaufen war. Die Betäubung war also allem Anschein nach die Folge einer Gehirnerschütterung. Herz und Puls schlugen normal. Der Kapitän hatte beabsichtigt, den jungen Hamburger einem ihm im Kanal begegnenden heimischen Schiff zu übergeben, um ihn zurückführen zu lassen, doch der ihm durch den Westwind aufgezwungene Nordkurs vereitelte jedes Zusammentreffen mit einem nach Deutschland bestimmten Schiff. Der »Roland« trat in den Ozean nordwärts der Orkneyinseln, ohne daß ihnen ein Fahrzeug begegnet wäre, und der auf so ungewöhnliche Weise an Bord gekommene Passagier lag immer noch, ohne zur Besinnung gekommen zu sein, auf seinem Lager.
   Drei Monate waren fast vergangen seit dem Tag, der die Unglücksbotschaft in das Haus Frau Horsas brachte, als der Senator im schnellsten Galopp, welchen seine feisten Mecklenburger fähig waren, zum Erstaunen ganz Blankeneses die Straße herunterjagte und vor der wohlbekannten Gartentür hielt. Der alte Herr stieg so rasch aus, daß er fast gefallen wäre, und erschreckt eilte ihm seine Schwester entgegen. Der Senator schwenkte ein Telegramm in der Rechten und schrie nur so: »De Jong lewt, Stinning. De Jong lewt. He is all reddet, der leiwe God deit immer noch Wunners. De Jong lewt, Stinning.«
   Und der Herr Senator faßte seine Schwester um die Taille und küßte sie auf die Wange und wollte sich dann mit ihr im Tanz schwenken.
   Dürten ward durch den Lärm aus dem Haus gelockt und sah mit großer Verwunderung auf das seltsame Gebaren des Herrn Senators.
   Frau Horsa war zwar sehr blaß geworden, doch nicht in Ohnmacht gefallen, aber eines Wortes war sie nicht mächtig, zu gewaltig stürmte das Unerwartete, das Ungehoffte, das unendliche Glück auf sie ein. Der Senator aber schrie wieder: »Dürten, hei lewt – de Henrik lewt!«
   »Heww ick dat nich immer seggt?« versetzte Dürten nun mit dem ganzen Stolz einer Prophetin, deren Vorhersagungen eingetroffen sind, und die helle Freude strahlte aus dem derben, ehrlichen Gesicht.
   »Heww ick dat nich immer seggt, Madam? Ick heww Henrik im Droom in'n swarten Sarg liggen sehn, un dat bedüt all immer langes Lewen.«
   Rasch wurden der Mutter einige Erklärungen gegeben über die einem Wunder gleichende Rettung ihres Sohnes durch den »Roland«. Wer ein fühlendes Herz hat, kann sich die tiefe innere Freude der drei Menschen in dem kleinen Häuschen am Ende von Blankenese ausmalen. Und als gar Karl Holthaus dazukam und seinem unbändigen Jubel in lauten Rufen Luft machte, da lief die ganze Nachbarschaft zusammen. Der Senator mußte ihm endlich Ruhe gebieten, aber bald darauf wußte ganz Blankenese von dem Glück, welches im Hause von Henriks Mutter eingekehrt war.


   Fritze Fischer

   Vor einem leichten Luftzug schaukelte der »Roland« auf den langen Grundwellen des Großen Ozeans südlich des Äquators in der Nähe der australischen Inselwelt.
   Auf dem Vorderdeck standen der Erste Steuermann, Jan Findling, und neben ihm, in einfacher Matrosentracht, der, den er den Wellen der Nordsee entrissen hatte, Henrik Horsa. Beide schauten eifrig nach vorn aus.
   Erst nach Wochen waren die Folgen einer starken Gehirnerschütterung so weit überwunden gewesen, daß der Jüngling Auskunft über sich, die Heimat und die Seinigen zu geben vermochte. Mit Überraschung vernahm der Kapitän, daß er in Henrik Horsa den Sohn eines vor Jahren verstorbenen Schiffskameraden, des Kapitäns Erich Horsa, vor sich hatte, dessen Witwe mit ihrem Kind in Blankenese lebte. Dies wandte natürlich dem Kranken des Kapitäns besondere Teilnahme zu. Als Henrik geistig und körperlich vollkommen hergestellt war, erkundigte Jansen sich bei ihm eingehend nach allen seinen Verhältnissen. Aus den Mitteilungen des Jünglings ging hervor, daß er nach dem Tod des früh entrissenen Vaters von einer zärtlichen Mutter in ihrem kleinen Witwenheim erzogen worden war. Dem von ihm, seitdem er denken konnte, leidenschaftlich gehegten Wunsch, den Beruf des Vaters ergreifen zu dürfen, stand der Wille der Mutter entgegen. Sie weinte noch immer um ihren im fernen Meer vor Jahren versunkenen Gatten und wollte den Einzigen nicht den treulosen Wellen anvertrauen. So bereitete sich Henrik, der das Realgymnasium absolviert hatte, gehorsam der Mutter, doch nicht mit rechter innerer Freude, auf den Beruf des Maschineningenieurs auf der Technischen Hochschule seiner Vaterstadt vor. Doch leidenschaftlich der See ergeben, liebte er es, in seiner Segeljacht die Elbe zu befahren und sich auch, gegen den Wunsch seiner Mutter, in die See hinauszuwagen. Sein Freund, Karl Holthaus, ein ruhiger und geübter Segler, nahm stets an diesen Fahrten teil, und nicht ganz nach seinem Wunsch mußte Henrik auch öfter seinen Vetter, Onno Steenberg, mitnehmen.
   Nähere Auskunft über die Katastrophe, welche ihn in das Meer schleuderte, vermochte er nicht zu geben. Entweder hatten seine Gefährten ihn schon vorn geglaubt, oder das Tau war losgeglitten. Große Sorge hegte Henrik um seine Mutter, und er beschwor den Kapitän, alles aufzubieten, um ihr die Nachricht zugehen zu lassen, daß ihr Sohn noch am Leben sei. Da der Kapitän auf die brasilianische Küste abgehalten hatte, um von dort mit dem Passat nach der Kapstadt zu segeln, hatte sich erst an der Südspitze Afrikas Gelegenheit geboten, nach Hamburg Kunde von der Rettung Henriks zu geben.
   Sobald Henrik hergestellt war, hatte er den Kapitän gebeten, ihn im Schiffsdienst zu verwenden, und dieser, seinen Wunsch erfüllend, hatte ihn der Wache des Obersteuermanns zugeteilt. Vom Kap aus wurde an die Reeder die Ankunft des »Roland« telegraphiert, und Henrik richtete eine Depesche an seinen Onkel Asmus, schrieb gleichzeitig seiner Mutter ausführlich und bat sie, ihm zu gestatten, auf dem »Roland« bleiben zu dürfen und erst mit diesem zurückzukehren. Der Kapitän hatte ihn anfangs mit dem nächsten Dampfer nach Hause schicken wollen, gab aber seinen Bitten, ihn an Bord zu behalten, endlich nach und schrieb gleichfalls ausführlich an die Mutter, ihr darlegend, daß wir überall in Gottes Hand seien, und daß Henrik sicher nicht auf so wunderbare Weise vor der Mündung der Elbe gerettet worden sei, um im Ozean ein frühes Grab zu finden; er bat selbst, den Jüngling zunächst unter seiner Obhut zu lassen.
   Henrik schrieb auch von Kapstadt an seinen Freund Karl Holthaus, da er annahm, daß dieser und Onno sich gerettet hätten, was auch Findling für wahrscheinlich hielt. So blieb er, da er seiner Mutter den Trost geben konnte, daß er noch unter den Lebenden weile, freudigen Herzens an Bord.
   Da sich Henrik bei seiner großen Vorliebe für das Seewesen von früher Jugend an mit dem Schiff und allen seinen Einrichtungen vertraut gemacht hatte, soweit das Modell eines Vollschiffes, welches er vom Vater her besaß, und seine Besuche an Bord der im Hafen liegenden Fahrzeuge es ermöglichten, kannte er fast jedes Tau und seinen Gebrauch. Seine Gewandtheit und Kühnheit ließen ihn bei seinem großen Eifer zu lernen bald mit aller Sicherheit im Takelwerk arbeiten, und selbst das Steuer war ihm schon früh anvertraut worden, obgleich das bei einem Segler ein sehr verantwortungsvolles Amt ist. Die Kenntnisse, welche er auf der Schule erworben, befähigten ihn nach kurzer Unterweisung durch den Ersten Steuermann, Berechnungen zu machen, wie sie der Schiffsoffizier anstellt, um Länge und Breite zu ermitteln. Vom Kapitän Herrn Findling zur Ausbildung anvertraut, fand er in diesem einen sorgsamen, obgleich strengen Lehrer. Und nicht nur Dankbarkeit fesselte Henrik an seinen Lebensretter, er gewann den ernsten, tüchtigen Seemann, der in noch jugendlichem Alter stand, er zählte erst sechsundzwanzig Jahre und war bereits Obersteuermann, aufrichtig lieb. Aber auch der Junge, der mit so großer Bereitwilligkeit jeden Dienst verrichtete, war vom Steuermann wie von den Matrosen gern gesehen. »Seemannsblut«, brummten die alten Blaujacken, wenn sie ihn mit Geschick einen gefährlichen Dienst in der Höhe verrichten sahen; sie kannten den Namen seines Vaters als den eines berühmten und kühnen Seefahrers.
   So war Henrik Horsa, welcher neben dem Obersteuermann jetzt nach Ost, wohin der Bug des Schiffes stand, ausschaute, angeheuerter Leichtmatrose der Bark »Roland«. Die Tropensonne hatte ihn gebräunt, und er sah kräftiger aus als in der Heimat.
   »Das ist Land da vorn, mein Junge«, sagte Findling, ein hochgewachsener schlanker Mann, dessen wohlgeformtes Gesicht mit seinem Ausdruck von Offenheit und Kühnheit sehr für ihn einnahm, indem er auf etwas, was einer Wolke ähnlich am Horizont lagerte, hindeutete, »nur kann ich dir nicht sagen, welche Insel wir vor uns haben«, setzte er mißmutig hinzu.
   Er verschwieg, daß der Kapitän seit einigen Tagen die Karten und Instrumente unter Verschluß hielt und die Berechnungen allein machte. Jansen hatte seinen Offizieren erklärt, daß ihn die Pflichten gegen seine Reeder verhinderten, ihnen die Lage der Insel, auf welche sie zusteuerten, mitzuteilen, da diese nicht wünschten, daß eine gute Handelsquelle andern als ihm, ihrem Vertrauensmann, bekannt werde.
   Die Steuerleute wußten zwar, daß das Schiff nordöstlich von Neuguinea stand, in der Nähe der diese große Insel umgebenden kleinern Inselwelt, aber seine genaue Lage kannte nur der Kapitän. Im Jahr 1870 war dieser Teil der Südseeinseln noch wenig erforscht, auch war keiner von den beiden Steuerleuten je in dieser Weltgegend gewesen, während Kapitän Jansen wiederholt Reisen hierher gemacht hatte. Es galt einen vorteilhaften Tauschhandel mit den Eingeborenen, um möglichst große Mengen der sehr wertvollen Kopra zu gewinnen. Der »Roland« hatte bereits die Admiralitätsinseln und Neuhannover angelaufen und an beiden Punkten nicht unerhebliche Quantitäten dieser Kopra erhandelt, doch wurden diese Inseln zu gleichem Zweck häufig von englischen Handelsschiffen besucht, so daß die Ausbeute dem Kapitän wenig lohnend schien. In Neuhannover hatte Jansen auch einen Eingeborenen, der erträglich Englisch sprach, als Dolmetscher für seinen demnächstigen Handelsverkehr gewonnen und war dann südlich gesteuert. Von der Zeit ab hatte er sich die Berechnung allein vorbehalten.
   »Wenn meine geographischen Kenntnisse mich nicht täuschen, müssen wir auf die Salomonsinseln zusegeln«, äußerte Henrik.
   Findling warf ihm einen Blick zu, in dem sich Überraschung widerspiegelte.
   »Alle Wetter, Junge, du hast entweder eine gute Nase oder einen wunderbaren Lehrer in der Geographie gehabt.«
   »Das letztere, Herr Obersteuermann; doch hatte mir der Kapitän früher erlaubt, seine Karten zu studieren, und da ich erfuhr, daß wir für diesen Teil der Welt bestimmt waren, habe ich mich eingehend mit den australischen Inselgruppen beschäftigt.«
   »Es wird so sein, wie du vermutest, und wir steuern auf den verrufensten Teil dieser ganzen Inselwelt zu.«
   »Warum verrufen, Herr Obersteuermann?« fragte Henrik.
   »Die Salomonsinseln werden von ebenso verräterischen wie mordlustigen Kannibalen bewohnt, und das Geschäft, das wir zu unternehmen haben, muß sehr lohnend sein, wenn der Kapitän es wagt, diese Inseln anzulaufen.«
   Nach einer Weile sagte er: »Sprich nicht darüber vor der Mannschaft, Henrik, es würde die Leute unruhig machen; der Alte ist übrigens ein vorsichtiger Mann, der sich nicht leicht in Gefahr begibt.«
   »Selbstverständlich werde ich kein Wort darüber verlieren«, versprach Henrik, »der Kapitän hat ganz sicherlich gewichtige Gründe, seine Absichten vorläufig geheim zu halten.«
   Findling ging hinab, um dem Kapitän Meldung abzustatten, daß in Südost Land in Sicht sei.
   Jansen vernahm dies ohne Überraschung. Er sah seinen Ersten Steuermann einen Augenblick forschend an und fragte dann: »Wo glauben Sie, daß wir uns befinden?«
   »Ich bin geneigt, anzunehmen, daß wir in der Nähe der Salomonsgruppe stehen, Kapitän.«
   Der Kapitän ließ einen leisen Pfiff hören und lachte dann behaglich.
   »Stimmt, Findling, haben die Salomonen vor uns, seid ein Seemann durch und durch. Ist Marholm«, dies war der Zweite Steuermann, »auch Eurer Meinung?«
   »Ich habe mit ihm darüber nicht gesprochen.«
   Der Kapitän ging einigemal in der Kajüte auf und ab und sagte dann gutmütig: »Sie sind verdrießlich, Findling, daß ich Ihnen ein Geheimnis aus Länge und Breite mache; es ist nicht Mißtrauen von mir, auf mein Wort, aber die Reeder haben durch einen Amerikaner von dem Platz, den wir besuchen, Kenntnis erlangt und es mir zur Pflicht gemacht, die Ortsbestimmungen als Geheimnis zu bewahren. Kann nicht anders, Findling.«
   »Ich freue mich, zu hören, Kapitän, daß das Mißtrauen nur bei den Eigentümern des Schiffes zu Hause ist und nicht bei Ihnen, außerdem bin ich nicht neugierig.«
   »Ich denke ein großes Geschäft mit den braunen Burschen zu machen und bald wieder von hier abzukommen.«
   »Die Eingeborenen hier stehen in üblem Ruf.«
   »Weiß, weiß, ein böses Gesindel. War schon voriges Jahr hier – ich bin vorsichtig, Findling. Lassen Sie uns an Deck gehen und einmal Ausschau halten.«
   Beide gingen hinauf.
   Da das Schiff des schwachen Windes wegen von oben bis unten mit Leinwand bedeckt war, mußten beide zum Vorderkastell gehen, um nach vorn Ausguck halten zu können. Der Kapitän hatte sein Glas mitgenommen und sah nach dem fernen Land, welches schon deutlich als solches zu erkennen war.
   »Alles richtig, Findling. Lassen Sie zwei Strich mehr nach Süden halten, daß wir im Lee der Insel vorbeigehen. Wünschte, wir hätten eine Mütze voll Wind.«
   Nach Seemannsart überflog er durch sein Glas noch den Horizont, ehe er wieder achter ging.
   »Donnerschlag!« entfuhr es ihm plötzlich und eifrig hielt er das Glas auf eine Stelle gerichtet. Dann reichte er es Findling und sagte: »Sehen Sie einmal da über die Rüsthölzer weg.«
   Der Obersteuermann nahm das Glas und hatte es kaum an die Augen gebracht, als auch ihm ein Ausruf der Überraschung entfuhr: »Das ist ein Wrack, Kapitän.«
   »Ja, und im Sinken begriffen.«
   Durch das Glas zeigte sich den Männern in etwa zwei Meilen Entfernung ein wenig über die Meeresfläche sich erhebender Schiffsrumpf, den zwei Maststumpfen überragten.
   »Lassen Sie draufzuhalten, Findling.«
   Findling gab dem Mann am Steuer den Befehl und ging wieder nach vorn. Der Kurs brauchte zu diesem Zweck nur wenig geändert zu werden und ein umlegen war nicht nötig, da sie den Wind fast von hinten hatten. Langsam kamen sie dem Wrack näher, welches sich auf der langen, regelmäßigen Dünung des Ozeans schwerfällig hob und senkte. Dann und wann wurden die Gläser dorthin gerichtet. Ein lebendiges Wesen wurde an Deck nicht wahrgenommen, dessen Lage über Wasser sich übrigens in der Zeit, welche sie zum Ansegeln brauchten, nicht im geringsten zu verändern schien. Als sie auf einige hundert Faden nahe gekommen waren, ließ der Kapitän das Großsegel backlegen, die Jolle aussetzen und forderte Findling auf, hinzurudern, um sich, wenn möglich, über den Namen des Schiffes Gewißheit zu verschaffen. Drei Matrosen, Henrik und Findling gingen in das rasch ausgeschwenkte und niedergelassene Boot, das unter kräftigen Schlägen schnell auf das Wrack zutrieb. Findling war ein zu erfahrener Seemann, um sich ohne weiteres in die Nähe eines Schiffsrumpfes zu wagen, der jeden Augenblick in die Tiefe gehen konnte. Er ließ daher sein Boot in einiger Entfernung langsam einen Kreis um das Wrack beschreiben und betrachtete aufmerksam das Deck und vor allem den Spiegel des Schiffes, der aber bereits zu tief im Wasser lag, um dessen Namen noch erkennen zu lassen. Da er die Überzeugung gewann, daß das Wrack durch eine bestimmte, augenblicklich nicht erkennbare Ursache mit seinem Deck noch über Wasser gehalten werde und sein Sinken zunächst nicht zu befürchten sei, ließ er an Bord rudern und stieg, das Bollwerk war weggerissen, an Deck des fremden Fahrzeuges. Die Wellen hatten ihr grausiges Zerstörungswerk vollbracht, zerrissene Wanten und Stage, welche mit einem Ende noch am Rumpf fest waren, lagen umher oder spielten im Wasser neben dem Schiff. Die Masten waren zur Hälfte gebrochen und nur ihre zersplitterten Enden ragten noch empor. Stengen und Rahen waren mit Segel– und Tauwerk weggespült, das Vollwerk nur an einigen Stellen noch erhalten. Alle Luken aber waren fest geschlossen. Ein Stück der eisernen Kombüse stand noch mittschiffs und in seinem Schutz lag der Rest eines gleichfalls eisernen wohlbefestigten Herdes. Findling ging, trübe gestimmt durch den Anblick einer Zerstörung, der den Untergang der Besatzung ankündigte, langsam darauf zu, sich überall umschauend, ob er nicht irgendwo den Namen des Fahrzeuges auf einem der Schiffsteile entdecken könnte. Als sein Blick in den schmalen Raum zwischen dem Rest der Kombüsenwand und dem Herd fiel, traf er auf einen regungslos daliegenden jungen Menschen, dessen Kopf auf der Balkeneinfassung der Schiffsküche ruhte. Er glaubte im ersten Augenblick, einen Leichnam vor sich zu sehen, trat aber doch näher, um sich zu überzeugen. Es war ein nur mangelhaft bekleideter schlanker Körper, auf den sein Auge fiel. Das Gesicht konnte er nicht erblicken, da es auf dem als Unterlage benutzten Arm ruhte. Er beugte sich nieder, um die Hand zu erfassen, und freudig zuckte er zusammen, als er sie berührte; sie war warm, der Strom des Lebens pulsierte noch.
   »Henrik!« rief er. Sofort sprang dieser an Deck und stand neben ihm. Er erschrak nicht wenig, als er den Körper vor sich sah, doch rasch sagte Findling: »Er lebt noch, Junge, wunderbar genug«, und auch Henrik fühlte sein Herz freudig pochen.
   Der Steuermann faßte den herabhängenden Arm und schüttelte ihn. Da hob sich das Gesicht, welches auf dem andern Arm ruhte, matt empor, und beide sahen in ein bleiches, verstörtes Antlitz, blaue Augen starrten sie wie die eines Schlaftrunkenen an und: »Nanu?« tönte es wie verwundert zu den beiden Männern empor.
   »Gott sei Dank!« sagte Henrik, der noch nicht ganz überzeugt gewesen war, einen Lebenden vor sich zu haben, bei diesem Ausruf.
   »Sind Sie der einzige hier an Bord?«
   Der Gefragte sah sich um, als ob er seine Gedanken sammeln müsse und entgegnete dann im unverkennbaren Dialekt des Berliners: »Ick jloobe wohl – sie haben mir alleene uff die Entenpfütze jondeln lassen.«
   Findling und Henrik lächelten über diese mit schwacher Stimme gegebene Antwort; auch in dieser entsetzlichen Lage verließ das Kind Spreeathens der Humor nicht.
   »Kommen Sie, Ihre Not hat geendet.«
   »So? Na, det is sehr anjenehm, denn een Pläsierverjnügen is et nich, det kann ick Ihnen sagen.«
   Der starke Arm des Steuermanns half dem, wie es schien, gänzlich geschwächten und blaß und elend aussehenden Menschen auf die Beine; er mußte ihn halten, da er umzusinken drohte.
   »Haben Sie nich een Tröppken Wasser – Herr – ick habe so 'n Durst –«
   »Dann rasch an Bord – dieser Not kann abgeholfen werden. Befindet sich noch etwas hier, was Sie mitzunehmen wünschen?«
   »Nee, Männeken, ick bin froh, wenn ick von die Jondel ab bin – det kluckst da drin«, er deutete auf Deck, »als wenn eener 'n Schlucken hat, un –«
   Findling, aufmerksam gemacht, vernahm jetzt das Geräusch, auf welches der Berliner anspielte, und im Augenblick wurde ihm klar, daß nur die unter Deck zusammengepreßte Luft den Rumpf über Wasser hielt, daß diese Luft aber langsam entwich. Da er nicht länger, als nötig war, auf diesem dem Untergang geweihten Fahrzeug weilen wollte – jeder Augenblick, das Bersten einer Planke, konnte die Katastrophe herbeiführen – nahm er den jungen Menschen wie ein Kind auf den Arm, trug ihn zum Boot und die Matrosen setzten ihn nahe dem Steuer auf eine Bank. Findling und Henrik stiegen ein. »Los! Legt euch in die Riemen!« kommandierte der Obersteuermann, und von schnellen Schlägen getrieben, stand das Boot bald hundert Faden vom Wrack ab.
   Eine dumpfe Explosion ließ sich von dorther vernehmen – das Deck war augenscheinlich gesprengt, die eingepreßte Luft entwich und der Rumpf versank in die Tiefe.
   »Wir kamen und gingen zur rechten Zeit«, sagte aufatmend Findling.
   In wenigen Minuten erreichten sie den »Roland«, der auf einer leichten Boleine abgehalten hatte und unweit stand. Der Berliner war ohnmächtig geworden und mußte an Deck gehoben werden, von wo aus der Kapitän das, was auf dem Wrack geschah, verfolgt hatte.
   »Wasser!« rief Findling. Der Koch brachte schnell ein Gefäß voll und der Steuermann flößte dem Bewußtlosen einige Schluck ein. Der atmete tief auf und ein glückliches Lächeln erschien auf seinem bleichen Gesicht.
   »Mehr!«
   »Man nich tau veel«, sagte der Kapitän, der den magern, fast verschmachteten Burschen teilnahmsvoll betrachtete. Doch Findling goß ihm noch einige Löffel voll ein.
   Der junge Mensch öffnete die Augen und sagte mit einem Seufzer inniger Befriedigung: »Schmeckt besser als die feinste Weiße. Jeben Sie mich noch eenen Schluck.«
   »Nee, min Jong, teuf man. Du sollst noch genug Water hewwen, aber teuf man. Hast du denn Hunger, Kind?«
   »Nee, bloß man jroßen Durst, den ick von meinem Onkel jeerbt habe, det eenzige, wat er mir hinterlassen hat.«
   Wunderbar war die Wirkung der kleinen Menge Wasser, die man dem Schiffbrüchigen eingeflößt hatte. Neues Leben schien seine Glieder zu durchströmen, die Augen wurden lebendiger und der Ausdruck des Leidens verschwand nach und nach aus dem Gesicht.
   Nach einiger Zeit gab man ihm wieder zu trinken und mehr als vorher.
   »Unser Zimmerherr, der Doktor von de Philosophie, hat et immer jesagt, Wasser wär' det Beste – jetzt weeß ick, det er recht hatte!«
   Der Kapitän und die Matrosen standen um den Geretteten und freuten sich des zurückkehrenden Lebens.
   »Ein Seemann bist du wohl nicht, Junge?« fragte Jansen. Die zarten Hände, welche niemals rauhe Arbeit verrichtet zu haben schienen, rechtfertigten diese Frage.
   »Nich de Bohne, ick bin Zuschneider.«
   Herzlich lachte der Kapitän bei der nicht ohne Selbstgefühl gegebenen Antwort.
   »Na, recht, mein Junge, es muß auch Schneider geben. Wie befindest du dich denn?«
   »Een bißken dösig, sonst janz jut. Bitte noch um een Schluck.«
   Wieder gab man ihm etwas Wasser.
   »Kannst du mir sagen, wie dein Schiff hieß?« fragte der Kapitän, der begierig war, dies zu erfahren.
   »Allemal. Et war der Rostocker Schoner ›Goliath‹, Kapitän Merks, von Sidney nach Hongkong, und von da sollte et weiterjehn. Denn kam der jroße Wind mit det Wellenjebrause, und die langen Mastenstangen knickten man so wie Haselruten. Die Herrn Seematrosen setzten sich, als et zu doll wurde und det Wasser schonst von unten rauf buddelte, in zwee Jondeln und dampften ab, und mir ließen se mitten mang det Wellenbad janz alleene.«
   Der Bursche sagte dies mit einem Humor, der etwas bitter Schmerzliches an sich hatte; die Nachwirkung der ausgestandenen Todesangst und die Leichtlebigkeit der Berliner Natur kämpften hier miteinander.
   »Was bist du denn für ein Landsmann?«
   »Icke?« fragte er ganz erstaunt. »Een Berliner, klar. Fritze Fischer, Reezenjasse Numero siebenundzwanzig, vierte Stiege in't zweete Hinterhaus.«
   »Es freut mich, Fritz Fischer, daß wir dich noch zeitig genug übergeholt haben. Nun geh hinunter, laß dir zu essen geben und schlafe dich aus. Später wollen wir mehr darüber reden.«
   Mit großer Sorgfalt vom Koch bewirtet, kroch er dann nach vollendetem Mahle in die ihm angewiesene Koje und schlief mit den Worten: »Der liebe Jott verläßt keenen Berliner nich,« alsbald ein.
   Die Entdeckung des Wracks und die Rettung des jungen Mannes wurden auf Deck noch lebhaft besprochen, während der »Roland« seinen Kurs wieder aufnahm, um die Insel, welche höher und höher aus dem Wasser stieg, links seines Weges liegen zu lassen. Der Wind, welcher aus West stand, frischte etwas auf, und das Schiff machte gute Fahrt. Der Kapitän, der das Auffinden des Wracks mit der ihm allein bekannten Länge und Breite und den von dem Schneider angegebenen Namen des Schiffes ins Logbuch eingetragen hatte, erschien wieder an Deck.
   Kapitän Jansen hatte, wie bereits berichtet, in Neuhannover einen Eingeborenen an Bord genommen, einen hochgewachsenen, kräftigen Mann, der den ganzen Tag still an Deck saß und seine Pfeife rauchte. Der braune, stark tätowierte Geselle hatte das Interesse Henriks erregt, und da er auch einigermaßen mit dem Englischen vertraut war, hatte er sich wiederholt mit dem Insulaner zu unterhalten versucht, was bei der Wortkargheit Aturas – so nannte er sich – indessen sehr schwierig war.
   Als der Kapitän durch das Glas eine neuauftauchende Insel betrachtet hatte, rief er Atura an, machte ihn auf das Land aufmerksam und unterhielt sich leise mit ihm. Die Antworten des Mannes schienen ihn zu befriedigen. Das Schiff blieb auf Südkurs und passierte nach einigen Stunden auch diese Insel, welche stattliche dicht bewaldete Berge zeigte. Und wiederum sprach der Matrose, der in den Vortopgeschickt war, Land an. Nach einigen Stunden war es deutlich, daß man hier eine Insel von beträchtlichem Umfang und hoch emporragenden Gebirgszügen vor sich hatte. Das Land lag über Backbord und erstreckte sich weithin von Nordwest nach Südost. Wenn man den Kurs beibehielt, mußte man in wenigen Stunden darauf laufen. Findling betrachtete die noch ferne Küste durch das Glas und rief dann dem Mann im Vortopzu, scharf nach weißem Wasser auszulugen.
   Als Findling nach dem Achterdeck kam, wo Kapitän Jansen, eine Zigarre rauchend, auf und ab ging, fragte dieser, was er dem Mann zugerufen habe. Der Obersteuermann sagte es ihm.
   »Nichts zu besorgen, Findling. Riffe finden sich zwar überall in diesen Gewässern, aber wir treffen, was die Küste da drüben angeht, bald auf eine Strömung, die uns von den Riffen abbringt. Lassen Sie die Buganker klarmachen, wir wollen zu Nacht an der Küste bleiben.«
   »Zu Befehl, Kapitän«, und Findling ging, um die Anker klarmachen zu lassen, so daß sie auf den ersten Befehl niedergehen konnten.
   Am Steuer stand während der Unterredung der beiden Befehlshaber ein alter wettergebräunter Seemann, der jedes Wort vernahm. Als er gewahrte, daß Findling die Anker gleich ausbringen ließ, flog ein Zug der Befriedigung über sein derbes Gesicht und er murmelte: »Er versteht's, der Junge.«
   Dann handhabte er sein Rad ruhig und still wie bisher.
   Der Koch meldete dem Kapitän, daß der gerettete Schneider ganz munter erwacht sei.
   »Na, laß ihn achter kommen, ich will mir das Gewächs mal ordentlich betrachten.«
   Gleich darauf tauchte Fritze Fischer aus dem Mannschaftslogis auf und ging nach hinten. Bekleidet war er, wie man ihn aufgefunden hatte, nur mit einem wollenen Hemd und einer leinenen Hose. Aber sein rascher Schritt verriet, daß er sich durch Nahrung und Schlaf wesentlich gekräftigt hatte. Bald stand er in bescheidener Haltung vor dem Kapitän. Der sonst ganz unverfrorene Berliner hatte auf seinen Seereisen gelernt, daß auf dem Hinterdeck und vor dem Kapitän die größte Ehrerbietung geboten sei. Jansen musterte den Jungen von oben bis unten. Fritz Fischer war mager und von schmächtiger Gestalt. Sein Gesicht, welches er in diesem Augenblick in ehrfurchtsvolle Falten gelegt hatte, nahm für ihn ein; es lag viel Gutmütiges und durch die etwas aufgestülpte Nase, den Ausdruck der wasserblauen Augen und der Mundwinkel, doch etwas Drolliges darin.
   »Nun, wie fühlst du dich, Bursche?«
   »Janz passabel, Herr Kapitän; ick habe sehr anständig gefuttert und een Schläfchen jemacht.«
   »Kann ich mir denken«, sagte Jansen lächelnd. »Wie alt bist du?«
   »Über achtzehn, Herr Kapitän.«
   »Und Schneider deines Zeichens?«
   »So is et«, er wollte hinzusetzen: »sagt Neumann«, schluckte es aber, als für die Person, vor der er stand, nicht geeignet, hinunter.
   »Nun erzähle mir mal, wie du hierher in die Südsee kommst?«
   Fritz Fischer kratzte sich etwas in seinem nicht gerade glatten, semmelblonden Haar und sagte dann: »Det is so, Herr Kapitän: Vater is schon lange tot, und mein' liebe olle Mutter mußte uns vier alleene uffbringen. Und det hat sie auch redlich jetan, Herr Kapitän, det wird jeder sagen, der ihr kennt. Sie macht Feinwäscherei un die beeden guten Stuben vermietet sie an Zimmerherrn, die ooch nich allemal berappen. Ick bin der Älteste un de Line is erst dreizehn. Wilhelm is Tischler, Jule wird Buchbinder un ick habe de Schneiderakademie bei Meister Pietsch in de olle Jakobsgasse abserviert. Nu hatt' ick 'n Onkel in det olle Australien, in Sidney, un der schrieb, ick solle man kommen, et wäre ville Arbeit da, un die würde jut bezahlt. Ick wollte doch meiner lieben Ollen 'n bißken unter de Arme jreifen, un in Berlin jing det Geschäft nich recht von wejen zu ville Arbeitskräfte, da entschloß ick mir, rüber zu machen. Die liebe Verwandtschaft legte det Reisejeld vor mir zusammen un denn habe ick so 'n Sticker sechs Monat uff so 'n ollen Sejelkasten rumjeschaukelt. Wie ick nu nach Sidney kam, war mein juter Onkel tot und de liebe Verwandtschaft dort verleugnete mir, weil ick nich standesgemäß ufftreten konnte, un mit de Arbeit war et ooch nischt. Ick war jerade an't Verhungern, als mir Kapitän Dierks sah. Jott habe ihm selig, er war jut zu mir. Ick dauerte ihm in meine Not, un er sagte, er wolle mir mitnehmen nach Rostock; ick könnte mir unterwegs als Schneider un als Schiffskellner un sonst nützlich machen. Da dachte ick, det olle Australien, wo se nich emal 'n Berliner Schneiderjesellen richtich ästimieren, kann der Kuckuck holen, ick jehe wieder nach Berlin, un so kam's, det Sie mir uff det jroße Salzwasser jefunden haben, Herr Kapitän.«
   Der Junge erzählte dies in seinem unverfälschten Berliner Dialekt mit unverkennbarer Treuherzigkeit, und das gefiel Kapitän Jansen. Ernst fragte er dann: »Und die Mannschaft hat den ›Goliath‹ verlassen und du bliebst zurück?«
   »Ach, Herr Kapitän, sie hätten mir woll schonst mitjenommen, aber det jing alles so rasch mit die Masten un det jrausliche Wasser un den Sturm un de jräßliche Dunkelheit. Da hatte ick mir in de Küche verkrochen un habe an meine liebe Mutter un die andern jedacht, un als ick mir endlich uff de jejenwärtige Situation besann, waren de andern weg.«
   »Du wirst wohl der einzige Überlebende vom ›Goliath‹ sein; bei einer See wie die, die über euch kam, konnte sich kein Boot halten. Wie lange ist das her?«
   »Es ist heute der vierte Tag.«
   »Hattest du denn etwas zu essen?«
   »In een Kessel war noch 'n Häppken Salzfleesch, det habe ick mir zu Jemüte jezogen, aber der Durst – Herr Kapitän – der Durst – et wurde immer doller.«
   »Na, min Jong, dat is all öwer! Mach dich hier nützlich an Bord und verdiene deine Kost.«
   »Allemal. Ick werde allens, wat Sie mir ufftragen, uff det prompteste besorjen.«
   »Nu geh nach vorn; was du an Kleidern brauchst, wird dir der Steuermann geben.«
   Jansen nickte ihm zu, und Fritze ging eilig nach vorn. Henrik, der nahe dabeigestanden, hatte die Unterredung mit angehört, und der Berliner Junge hatte ihm sehr gefallen.


   Die Südseeinsel

   Die Sonne sank in den Ozean hinab, als der »Roland« die Insel erreichte, auf welche er zustrebte. Zu dem Kapitän trat der Insulaner von Neuhannover, deutete auf die Bucht, vor welcher das Schiff mit zwei Knoten Fahrt hinstrich, und sagte: »Dort gut, dort Kopra.«
   Die Bucht, rings von dichtem Wald eingefaßt, war von ziemlicher Ausdehnung und bot eine sichere Lee. Der Kapitän ließ die Nahen schwenken und das Schiff außer Fahrt bringen, er war aber zu vorsichtig, um dem Land näherzutreten. Die Jolle wurde ausgesetzt und der zweite Steuermann in die Bucht geschickt, um sich der Wassertiefe zu versichern. Nach kurzer Zeit gab er das Signal, daß der »Roland« ohne Gefahr, aufzulaufen, bis dicht an Land treten könne. Hiernach wurde das Schiff an den Wind gebracht und trat in die Bucht ein. In acht Faden Tiefe ließ es einen der Buganker fallen und schaukelte bald ruhig auf dem Wasser. Die Küste lag schweigend da, als ob nie ein Menschenfuß sie betreten hätte, keine Hütte, kein Kanu war zu sehen. Die Nacht war hereingebrochen und hüllte Meer und Land in ihren dunkeln Schleier.
   Zum Erstaunen Henriks ließ der Kapitän an die Steuerbordwache, welche, trotzdem das Schiff ankerte, vollzählig aufziehen mußte, Büchsen und Revolver verteilen, auch wurden einige kurze Lanzen sowie scharfgeschliffene Beile an die Masten gestellt, um zum augenblicklichen Gebrauch bereit zu sein.
   Henrik gehörte zu dieser Wache, die vom Obersteuermann kommandiert wurde, während Marholm die Hundewache, das ist die von zwölf bis vier Uhr morgens, zu übernehmen hatte. Die an Deck befindlichen Leute hatten es sich bequem gemacht, saßen und lagen mittschiffs, plauderten und rauchten. Am Hinterdeck ging Findling langsam auf und ab. Henrik stand an die Reling gelehnt und schaute, in Gedanken versunken, in die Nacht hinaus. Bilder der Heimat stiegen vor seinem Geist empor. Er sah seine liebe Mutter im kleinen Stübchen beim Schein der Lampe am Tisch sitzen, mit der Nadel beschäftigt. Sein Onkel, Senator Asmus, trat herein und setzte sich zu ihr. Sie plauderten, und erzählten von ihm. Der Onkel liebte ihn wie seinen Sohn; er selbst hatte keine Kinder, und Henrik erwiderte herzlich des alten Herrn Zuneigung. Er nickte seinen Lieben in Gedanken freundlich zu. Während er so sann, kam der Obersteuermann und lehnte sich neben ihm über das Wasser hinaus. Findling unterhielt sich oft, soweit es der Dienst und die Disziplin erlaubten, mit Henrik, und dieser war stets um so mehr darüber erfreut, als der Obersteuermann nicht nur ein sehr geschickter Schiffsführer war, sondern auch eine bei einem Seemann der Handelsflotte nicht gewöhnliche Bildung besaß, die er sich größtenteils durch gut gewählte Lektüre erworben hatte. Auch brachte ihm der Obersteuermann fortwährend aufrichtiges Wohlwollen entgegen.
   »Woran denken Sie, Henrik?« fragte er.
   »An meine Mutter, Herr Findling.«
   Nach einer kleinen Weile erst sagte der Steuermann leise: »Wohl dem, den eine Mutter in der Heimat erwartet.« Henrik wagte nicht zu fragen, ob er den Verlust einer Mutter zu beklagen habe, auch fuhr Findling gleich darauf in einem andern Ton fort: »Der Alte muß dem Frieden hier nicht besonders trauen, nach den kriegerischen Maßregeln zu schließen, die er getroffen.«
   »Martin sagt« – Henrik meinte den alten Matrosen, der am Steuer gestanden hatte, als die Buganker klargemacht wurden – »wir könnten jeden Augenblick eines Überfalls gewärtig sein; er ist wiederholt in diesen Meeren gewesen.«
   »Martin ist ein erfahrener und kluger Bursche, wenn es auch mit der Lese– und Schreibkunst nicht gut bei ihm bestellt ist, und er bestätigt nur, was ich bereits erwähnte und worauf die Vorkehrungen des Kapitäns ja auch hindeuten. Jedenfalls heißt es, die Augen offen halten.«
   »Glauben Sie, daß man dem Neuhannoveraner trauen kann?«
   »Ich habe diese Meere noch nicht befahren und bin deshalb unbekannt mit dem Charakter der Eingeborenen, doch stehen die Leute in Neuhannover im Ruf der Treue und Zuverlässigkeit, auch ist der Mann gut empfohlen.« In diesem Augenblick ging Martin hinter ihnen vorbei, und Findling redete ihn an: »Du warst schon in diesen Gewässern, Martin?«
   »Jo, Stürmann.«
   »Weißt du, wo wir uns befinden?«
   »Nu, Stürmann, ostwärts von Neuguinea, so veel weet ick.«
   »Bist du mit den Eingeborenen hier in Berührung gekommen?«
   »Ick weet blot, dat se Menschenfreter sin.«
   »Menschenfresser?« fragte Henrik. »Sollte das wirklich hier noch vorkommen?«
   »Min leiwe Jong, all die Inseln hier ostwärts von de grote Insel sin voll von Menschenfreters. Als ick vor fif Johren hier segelte, war in dieser Gegend een inglische Vark scheitert, un se hewwen Kapitein un Matrosen richtig upfreten. Wir hewwen all de Knoken und Schädels siehn.«
   »Nette Menschenbrüder«, sagte Findling, und Henrik schauderte.
   »Dat sin Spitzbauwen, Stürmann.«
   »Nun, um so wachsamer müssen wir sein.«
   Martin ging und ließ sich am Langboot neben den andern nieder.
   Der an Bord befindliche Insulaner hatte sich, wie bisher, sein Lager in der Nähe des Langboots zurechtgemacht, wo er vor dem Wind geschützt lag. Er saß wie die Matrosen da und rauchte. Findling rief ihn an, und Atura erhob sich und kam zu ihm.
   »Du kennst die Eingeborenen dieser Insel?« fragte er in englischer Sprache.
   »Ich kenne sie.«
   »Sie sollen Menschenfleisch verzehren?«
   »Das tun sie.«
   »Sind sie den Weißen feindlich gesinnt?«
   »Das nicht, sie schlagen sie nur tot, wenn sie können, um ihre Köpfe als Siegeszeichen zu haben und ihr Fleisch zu essen.«
   »Und du bist ein Freund der Eingeborenen hier?«
   Atura spuckte aus, wie um seine Verachtung erkennen zu geben. »Atura Gentleman, nicht wilder Mann. Atura werden er essen zuerst, schmecken ihm besser als Weißer.«
   »Na, das ist doch wenigstens ein Trost«, sagte lächelnd Findling.
   »Aber wenn die Leute hier, wie du sagst, so begierig auf Köpfe und Menschenfleisch sind, fürchtest du nicht, daß sie uns überfallen könnten?«
   Der Insulaner schüttelte den Kopf. »Er große Angst vor Büchse und kleines Gewehr.« Er berührte leicht den Kolben des Revolvers, der aus Findlings Tasche herauslugte. »Er nicht wagen, er nur ganz heimlich schlagen tot.«
   »So sind wir also, deiner Meinung nach, auf dem Wasser ganz in Sicherheit?«
   »Ganz in Sicherheit.«
   »Aber ans Land kann man sich nicht trauen?«
   »Nicht an Land gehen, sehr gefährlich. Geben mit Pfeil, geben mit Lanze furchtbare Wunde. Nicht an Land gehen.«
   Der Insulaner zog sich still auf seinen Platz zurück, und Findling ging mit Henrik langsam an Deck hin und her. Die Nacht war mild, das Meer ruhig, und nur leicht schaukelte sich der »Roland« auf der Ankerkette, die indessen, da sich in der Bucht eine Strömung bemerkbar machte, fest angezogen war. Diese erste Nachtwache, die Steuerbordswache, der durch die Gunst des Kapitäns Henrik zugeteilt worden war, hatte für diesen stets großen Reiz gehabt, wenn Wind und Wetter gut waren. Zu tun gab es dann nichts, und Findling erwies ihm auch gewöhnlich die Ehre, ihn in eine längere Unterhaltung zu verwickeln. Der Obersteuermann war das Urbild eines stattlichen Germanen von hoher Gestalt und ungewöhnlich kräftig; schlank und mit einem edelgeformten, von einem leichten blonden Vollbart umrahmten Gesicht, erinnerte er Henrik oft an einen der verwegenen Seefahrer aus Nordland, welche auf ihren Drachenschiffen die fernsten Meere durchpflügten. Er war ein ebenso geschickter als kühner Seemann, der mit ruhiger Sicherheit das Kommando, auch unter schwierigen Umständen, führte und sich auch in schwerem Wetter noch nach oben traute, wenn die kecksten Matrosen es nicht wagten, aufzuentern. Die Mannschaft hatte ganz gehörigen Respekt vor ihm, und doch waren ihm die wilden Burschen zugetan, denn er war stets bereit, jedem, der in Not war, beizuspringen. Sein Wesen war ernst und schweigsam, und die Matrosen wunderten sich nicht wenig, daß er dem jungen Horsa gegenüber, der freilich aus guter Familie und der Sohn eines trefflichen Seemanns war, oft gesprächig wurde.
   Von allen an Bord kannte ihn seit längerer Zeit und genauer nur Martin, der wiederholt mit ihm gesegelt war; doch der ließ nichts von ihm verlauten, als daß Findling von früher Jugend an auf dem Meer zu Hause und – wie er sagte – der beste Seehund sei, der ihm in seinem Leben vorgekommen.
   Während Findling mit Henrik an Deck hin und her ging und die Matrosen am Langboot sorglos ihr Garn spannen, fragte der Obersteuermann: »Überkommt Sie nicht oft die Sehnsucht nach der Heimat, Henrik?«
   »Ich liebe das Meer, Herr Findling, und jetzt, da ich die Sicherheit habe, daß meine Mutter mich noch unter den Lebenden weiß, bin ich mit voller Seele bei meinem Beruf.«
   »Ja«, sagte Findling, »es liegt etwas Gewaltiges, die Seele Gefangennehmendes in diesem Ringen der Menschenkraft mit den Naturmächten, und ganz glücklich fühle ich mich nur, wenn Luft und Wasser wild einherstürmen und ich ihnen auf gebrechlichem Fahrzeug Trotz bieten kann.« Nach einer Weile fuhr er fort: »Manchmal sehne ich mich auch nach dem stillen Hafen, den der heimatliche Herd bietet« – und in tief schmerzlichem Ton setzte er hinzu: »Aber ich habe keine Heimat!«
   Die einfachen Worte und der Ton, in welchem sie gesagt wurden, bewegten Henrik sehr. »Sie haben Ihre Angehörigen verloren, Herr Findling?«
   »Angehörige? Mein lieber Junge, ich habe keine Angehörigen. Genau wie Sie im Wogengebrause auftauchten, so bin ich von den Wellen des Lebens ausgeworfen worden; ich trage den Namen, den mir ein feinsinniger Mann für dieses Dasein mitgegeben hat, mit Recht, denn ich bin ein Findling und jede Anrede erinnert mich daran.« Stumm horchte Henrik dem trauervollen Bekenntnis. »Sie stehen mir, Henrik«, fuhr der Steuermann fort, »durch Bildung und Lebensanschauung am nächsten hier an Bord, und Sie müssen ja wohl auch gefühlt haben, daß ich mehr als gewöhnliches Interesse für Sie habe.«
   »Ja, Herr Findling, das habe ich längst empfunden und bin Ihnen dankbar dafür.«
   »Als Sie vorher Ihrer lieben Mutter gedachten, war die ganze Sehnsucht eines einsam in die Welt Geschleuderten in mir rege, ein einziges Mal in meinem Leben an einem liebenden Mutterherzen zu ruhen.«
   Als der bewegte Jüngling nicht antwortete, fuhr er fort: »Mich hat das Meer ausgeschleudert wie Sie. In einem einsam im Ozean treibenden Boot wurde ich als kleines Kind an der Brust einer toten Malaiin aufgefunden. Man erhielt mich am Leben, brachte mich nach Hamburg, und dort im Waisenhaus ward ich mir mit den fortschreitenden Jahren dieses Daseins bewußt. Vergebens waren alle Nachforschungen nach dem Schiff, nach meinen Eltern, ich war Jan Findling und wuchs als solcher auf. Ich hatte von früh auf Sehnsucht nach dem Meer, vielleicht bin ich auf dessen Rücken geboren. Meinem Wunsche entsprechend wurde ich mit vierzehn Jahren einem Schiffer als Junge mitgegeben. Dieser Mann, Kapitän Baggesen – gesegnet sei sein Angedenken – nahm sich in väterlicher Weise des armen Waisenjungen, des Findlings, an. In müßigen Stunden unterwies er mich und mehrte meine Kenntnisse, ohne daß mir an rauher Schiffsarbeit etwas erspart ward. Des ›Kapitäns Puppe‹ nannten mich die Leute. In wenigen Jahren war ich Vollmatrose und verstand ein Schiff von oben bis unten zu takeln. An Land wohnte ich bei Kapitän Baggesen und benutzte die Zeit der Ruhe, Englisch, Französisch und Mathematik zu treiben. Mit seiner Hilfe besuchte ich die Navigationsschule und machte mit meinem Wohltäter, mit dem ich im ganzen sieben Jahre die Ozeane durchfuhr, noch eine Fahrt als Steuermann, dann legte er sich nieder und starb, und mit ihm schied der einzige Mensch, der mir wirkliche Herzensteilnahme gezeigt hatte. Selbst den Tod überlebte seine Liebe zu mir, denn er hinterließ mir eine Summe, groß genug, um sorgenlos die Studien und das Examen für große Fahrt machen zu können. Mit vierundzwanzig Jahren war ich Obersteuermann mit glänzendem Zeugnis. In kurzer Zeit werde ich auch ein Schiff haben. Der Lebenslauf des Findlings ist also selten glücklich gewesen; nur eins fehlt meinem Leben – und wie sehne ich mich danach – mir fehlen eine Mutter, eine Heimat.«
   Henrik Horsa war von der einfachen, schlichten Erzählung des Steuermanns, die auf ein tiefes Fühlen schließen ließ, bewegt, doch fand er dem Mann, dem Vorgesetzten gegenüber, der ihn durch diesen Herzenserguß so hoch ehrte, nicht die passenden Worte für seine innige Teilnahme. Findling schien auch keine Äußerung von ihm zu erwarten und sah still und nachdenklich in die Nacht hinein; dann sagte er wieder: »Die Art, wie ich in dieses Land abgetrieben bin, mein einfacher Lebensgang sind ja kein Geheimnis; aber daß ich Ihnen Mitteilung davon machte, sollen Sie als Beweis ansehen, daß ich Sie schätze. Ihre innige Liebe zu Ihrer Mutter rief mir die Sehnsucht wach, schloß mir das Herz auf.«
   »Sie haben mir einen Beweis von Vertrauen gegeben, auf den ich stolz bin.«
   »Still!« gebot Findling plötzlich.
   Sie standen beide auf dem Vorderkastell; jetzt vernahm auch Henrik ein leises Klirren der Ankerkette.
   Geräuschlos hob der Steuermann eine der Handspeichen des Gangspills auf, neben welchem sie standen, und trat ebenso leise an die Bordwand, wo durch die Klüse die Ankerkette auslief. Henrik folgte ihm und zog den Revolver aus der Tasche. Die Laterne vom Großmast sandte nur schwachen Schein hierher. Den Atem anhaltend, lauschten beide. Ein leises Geräusch erreichte ihr Ohr; schattenhaft erhob sich über das Vollwerk ein dunkler Kopf, auf den alsbald die Speiche in Findlings Hand niedersauste. Der Kopf verschwand, und das Wasser rauschte auf, wie wenn etwas Schweres hinabgefallen wäre.
   »Klar zum Gefecht!« dröhnte des Steuermanns Kommandostimme durch die Nacht. »Alle Mann an Deck! Ruft den Kapitän auf!«
   Es war fast gegen Mitternacht, als dies geschah. Die Wache lag schläfrig oder schlafend mittschiffs. Alle sprangen auf und ergriffen die Gewehre. Aus dem Mannschaftslogis, in welches der Ruf Findlings gedrungen war, eilten die Matrosen hervor, halb angekleidet, und faßten ebenfalls die für sie bereitgestellten Waffen.
   »Steuerbordwache hierher! Die andern jeder an seinen Mast. Fertig zum Feuern!« hallten die mächtig, aber gemessen gegebenen Kommandos des Steuermanns über das Deck.
   Mit dem schnellen, schweigenden Gehorsam, der die Seeleute in der Stunde der Gefahr auszeichnet, wurden die Befehle ausgeführt, und die Steuerbordwache eilte mit dem Insulaner nach vorn.
   »Henrik, nimm aus meiner Kajüte die Magnesiumfackel, rasch in den Toppund zünde sie an, damit wir das Wasser übersehen können. Halte dich aber gedeckt, die Pfeile der Wilden fliegen weit.«
   Henrik eilte davon.
   Schon kam der Kapitän, aufgeschreckt und auch nur halb bekleidet, von achtern.
   »Was gibt's?«
   Findling stattete Bericht ab.
   »Ein Überfall?« Der Kapitän schien ungläubig. »Haben Sie sich auch nicht geirrt, Findling?«
   »Mein Auge und meine Handspeiche irren nicht, Herr Kapitän. Es wurde der Versuch gemacht, über die Ankerkette her das Deck zu erklettern. Die tiefe Dunkelheit verhinderte mich, zu erkennen, was auf dem Wasser vorging. Der aber, der die Speiche auf den Schädel bekam, wird an keinen Irrtum glauben.«
   Vom Toppdes Großmastes flammte die Magnesiumfackel auf und beleuchtete weithin die Wasserfläche. Aller Augen hielten Ausguck, aber still und ruhig lagen das dunkle Meer und die dichten Wälder da; nichts Lebendes war zu schauen, keine Bewegung irgendeiner Art zu gewahren.
   »Was meinst du, Atura«, fragte der Kapitän den Insulaner, »wollten die Leute uns überfallen?«
   »Denke nicht«, entgegnete der braune Mann ruhig. »Denken Dieb, kommen stehlen in Nacht, nichts tun weißem Mann, erst Kopra verkaufen, dann Kopf abschneiden.«
   »Na, und davor wollen wir uns möglichst schützen«, brummte der Kapitän vor sich hin.
   Schlaftrunken tauchte jetzt Fritz Fischer aus dem Mannschaftslogis auf. »Nanu? Jeht et wieder los? Was gibt's? Lassen Sie mir man in diese Jondel nich ooch sitzen?«
   »Hal di de Düwel, Sneffter!« schnauzte ihn der Kapitän unwirsch an.
   Fritze sah erstaunt auf die halbbekleideten, mit Waffen in der Hand dastehenden Matrosen und dann empor zu dem Mast, von dem helles Licht ausging, das kurz darauf verschwand; bald war alles wieder in tiefes Dunkel eingehüllt.
   »Es wird so sein, wie du sagst, Atura«, sagte der Kapitän dann beifällig nickend, »einer von den Burschen hat stehlen wollen. Na, dem ist die Sache, immer vorausgesetzt, Herr Findling hat sich nicht geirrt, nicht gut bekommen.«
   »Acht Glasen!« (Mitternacht) meldete jetzt der vom Mars herabgestiegene Henrik mit lauter Stimme dem Obersteuermann.
   »Na, Marholm«, wandte sich dieser, ohne die Bemerkung des Kapitäns über einen möglichen Irrtum seinerseits zu beachten, an den Zweiten Steuermann, »so übergebe ich Ihnen das Kommando. Mittelwache auf! Steuerbordwache zur Back!«
   Die Leute wechselten im Nachtdienst. Leise sagte Findling dann zu Marholm: »Stellen Sie eine Ankerwache aus und, ich rate Ihnen, halten Sie die Augen offen.«
   Dieser nickte.
   Dem Kapitän schien der ganze Vorfall unangenehm zu sein; er mochte wohl befürchten, daß das erhoffte Geschäft dadurch beeinträchtigt würde, und übelgelaunt ging er zu seiner Kajüte zurück. Auch die Matrosen stellten die Waffen beiseite, und die Steuerbordwache begab sich ins Mannschaftslogis, die andern zerstreuten sich an Deck.
   »Du, wat war det eigentlich?« fragte der Schneider Henrik, der neben ihm stand.
   »Ein Haifisch wollte an der Ankerkette 'raufrutschen, um sich hier einen von uns zum Abendbrot zu holen.«
   Erstaunt sah ihn Fritze an. »Willst du mir blau anloofen lassen?«
   »Guck nur über Bord. Der Steuermann hat ihm mit der Speiche eins auf die Nase gegeben, und nun schwimmt er wütend um das Schiff herum und lauert darauf, daß einer von uns baden geht.«
   »Na, det ick nich jehe, darauf kann er Jift nehmen. Wat war denn det for'n Licht uff die Mastenstange?«
   »Das war das berühmte Sankt Elmsfeuer.«
   »Feuerwerk?«
   »Es ist kondensierte Elektrizität, von der wir immer einen Vorrat an Bord haben; der Kapitän versteht sich trefflich darauf, ihn zu ergänzen.«
   »Wie is det?«
   »Der Kapitän fängt die Elektrizität mit einem magnetisch gemachten Blitzableiter aus niedrig ziehenden Gewitterwolken ein und spart sie in seinem Schrank sorgfältig auf, bis wir sie gerade brauchen.«
   Fritz Fischer sah sehr verdutzt aus, da aber Henrik, mit seinem trockenen niederdeutschen Humor, durchaus ernst sprach, vermochte der Schneider bei seinem Mangel an Kenntnissen nicht zu unterscheiden, ob er Scherz mit ihm treibe oder Wirkliches berichte.
   »Jetzt fangen se ooch schon die Blitze in un sparen se uff! Det war doch früher nich.«
   »Nein, das ist eine ganz neue Erfindung, sie stammt von Jupiter fulminans, und man nennt sie die fulminante Fulmenakkumulation.«
   »Nee, wat die Menschen noch allens erfinden. Na, mir is et ejal, aber ick sammle nich mit. Herr Jotte doch, wenn der Kapitän so'n Kasten voll von hat, dann kann det Ding doch aber losjehn.«
   »Das kommt öfters vor, wenn der Verschluß nicht ganz fest ist; dann fliegt natürlich alles in die Luft.«
   »Ick danke vor so neimod'sche Erfindungen. Wär' ick man erst wieder in de Reezenjasse.«
   »Geh schlafen, Fritze, und lasse dich durch die neumodischen Erfindungen und kletternden Haifische nicht beunruhigen. Ich gehe auch in die Back.« Er suchte in der Tat seine Schlafstätte auf, ebenso Fritz Fischer.
   Findling blieb noch einige Zeit auf Deck, um sich dann ebenfalls in seine Kajüte zurückzuziehen.


   Die Wilden

   Die Nacht verging durchaus ruhig, nichts Angewöhnliches wurde von der Wache bemerkt, so daß der Kapitän, als er am Morgen Meldung bekam, in seiner Ansicht, Findling sei durch irgend etwas getäuscht worden, nur bestärkt ward.
   Die ganze Aufmerksamkeit der Besatzung war jetzt auf die Küste gerichtet, an der sich immer noch nichts Lebendes zeigte. Atura erbot sich eben, an Land zu gehen und die Besitzer der Kopra aufzusuchen, die nach Art dieser Insulaner stets von der Küste entfernt wohnten, als endlich ein Kanu mit zwei Insassen auf dem Wasser erschien und auf das Schiff zuruderte. Bald lag es längsseit des »Roland«. Die beiden Insulaner, ältere Männer, welche in dem kleinen Boot erschienen, waren bis auf einen Lendenschurz unbekleidet; Gesicht, Brust, Arme, Beine hatten sie stark tätowiert.
   Atura eröffnete mit ihnen von der Bordwand aus eine Unterhaltung und teilte dann, die Äußerungen der Leute übertragend, dem Kapitän mit, daß die von den Eingeborenen angesammelte Kopra in einer Bucht weiter südlich aufgehäuft sei, und daß der »Roland« dorthin segeln müsse, um sie aufzunehmen.
   »Meinetwegen, wenn sie nur recht viel von dem Zeug haben. Laß mal die beiden Burschen an Bord kommen.«
   Als ihnen dies verdeutlicht war, kletterten die Wilden gewandt an Deck.
   Es waren hochgewachsene muskulöse Männer, deren starkes dunkles Haar kunstvoll in einzelnen Büscheln nach oben stand, was ihnen ein besonders wildes Aussehen verlieh. In Nase, Unterlippe und Ohrläppchen, welche zu diesem Zweck durchbohrt waren, trugen sie Stücke Perlmutter oder weiße Muscheln. Dazu Stirnbänder aus Zypriamuscheln. Der Gesichtsausdruck des ältern der beiden deutete auf Stumpfsinn, während der andere intelligenter aussah.
   Der Kapitän musterte sie mit scharfen Blicken und ließ ihnen dann durch Atura vorhalten, daß sie versucht hätten, in der Nacht das Deck zu besteigen, um zu stehlen.
   Nicht eine Miene veränderte sich hierbei in den Gesichtern der Leute. Endlich meinte der eine, dessen Züge einigen Verstand verrieten, es schlichen böse Menschen von den benachbarten Inseln bei ihnen herum, welche nach Köpfen ausgingen, vielleicht seien es solche gewesen, welche an Bord kommen wollten.
   Da der Kapitän wußte, daß die Bewohner dieser Inseln sich mordlustig untereinander bekriegten, da er ferner auf keinen Fall sein Handelsgeschäft beeinträchtigen wollte, gab er sich mit dieser Erklärung zufrieden.
   Da diese Leute auch versicherten, daß der Ort, wo die Kopra lag, in einigen Stunden zu erreichen sei, hißte man ihr Kanu, in welchem sich ihre Waffen, Speere und Bogen befanden, an Deck, lichtete den Anker, und bald darauf steuerte der »Roland« nach Süden die Küste entlang. Findling, der kein Freund von ihm unbekannten Strömungen und noch weniger von Riffen war, hatte einen Jungmann mit scharfen Augen in den Vortoppgeschickt, um nach weißem Wasser auszusehen. Der Wind blies leicht aus Ost.
   Die beiden Insulaner hatten sich an Deck niedergekauert und rauchten aus ihren selbstgefertigten Pfeifen. Sie nahmen Fritz Fischers ganzes Interesse in Anspruch.
   »Nee, so 'ne braune Menschenkinder mit jar nischt an als eene Halsbinde, da is doch det Ende von weg. Ick habe in't Panoptikum un in Zoologischen ooch schon wat von Affenabstammung jesehen, aber die hatten doch alle wat an, un wenn't man een boomwollenes Hemd war. Du, Schiffsjunge«, wandte er sich dann vertraulich an Henrik, zu dessen größtem Vergnügen, »wat sin denn det vor Menschen?«
   »Oh, dat sin Menschenfreters.«
   »Wat sin se?« schrie der Schneider.
   »Ich sage es dir ja.«
   »An solche Menschen laßt ihr hier an Bord kommen? Det kann ja det jrößte Unjlück jeben, wenn die Hunger kriegen.«
   »Die werden immer nur an Bord gelassen, wenn sie schon gespeist haben.«
   Zweifelnd sah Fritze bald die in stoischer Ruhe rauchenden Insulaner, dann wieder Henrik an.
   »Hamburger, ick jloobe, du willst dir über mir lustig machen.«
   »Wenn du nicht zu belehren bist, dann is dir nicht tau helpen.«
   Der ältere der beiden Insulaner starrte Fritze aus seinen ausdruckslosen Augen an und sagte dann etwas zu seinem Gefährten.
   »Verstehst du, was er sagt?«
   »Er sagt, du gefielst ihm außerordentlich und müßtest gebraten vorzüglich schmecken.«
   »So? Na, bei mir is det Jejenteil der Fall, der Bursche sieht aus wie eene Holzfijur, die bei't Schnitzen verunglückt is. Dem werd ick aber noch den Appetit nach mir verderben«, fuhr Fritz erbost auf, »det is ne Frechheit von so nem Menschen, so wat zu sagen.«
   »Oh, das ist ein Kompliment für dich.«
   »Ick danke vor so Komplimente, da läuft et einem ja über die Haut bei. Aber«, setzte er mißtrauisch hinzu, »verstehst du denn ooch wirklich wat von die kauderwelsche Froschsprache?«
   »Natürlich, alle diese polynesischen und mikronesischen Sprachen werden auf dem Realgymnasium zu Hamburg gelehrt.«
   »Det ooch noch? Ick bedaure dir, Hamburger.« Trotz seiner Entrüstung über die dem Insulaner zugeschriebenen Gelüste auf seine Person nahm er doch Interesse genug an den Wilden, um weiterzufragen: »Weeßt du, wie die Burschen heeßen?«
   »Da, der ältere, der mit dem geistreichen Gesicht, heißt Moppelano, und der andere Cosifantutte.«
   Wieder warf ihm Fritz Fischer einen forschenden Blick zu, aber Henrik sah so ernst aus, als ob nie ein Scherzwort über seine Lippen gekommen sei.
   »Det is komisch«, sagte er dann. »Na, für't Panoptikum sin die Bengels reif. Nee, wat für 'ne Sorte Menschen uff der Welt rumläuft, et is nich zu sagen.«
   Er machte vorsichtig einen Bogen um die Insulaner und begab sich nach dem Vorderdeck. Henrik sah ihm vergnügt nach.
   Der »Roland«, der etwa eine Meile von der Küste abgetreten war, machte fünf Knoten Fahrt und kam gut vorwärts.
   Als sie nach zwei Stunden eine kleine Landzunge umsegelten, schrie der Matrose im Topp: »Deck ho!«
   »Was gibt's?« fragte Findling und sprang nach dem Vorderkastell.
   »Weißes Wasser vor uns.«
   »Wie weit?«
   »Zwei bis drei Meilen.«
   Der Steuermann stieg eilig nach oben, und selbst dem unbewaffneten Auge zeigten sich Brandungswellen in großer Ausdehnung in einer Entfernung, die der Schätzung des Marsgastes wohl entsprach.
   An Backbord zeigte sich eine tiefe geräumige Bucht mit flachen bewaldeten Ufern. Die Insulaner erhoben sich und deuteten dem Dolmetscher an, dies sei der Ort, wo die Kopra lagere, wiesen auch nach einer bestimmten Stelle des Ufers.
   Als der Mann aus Neuhannover dem Kapitän ankündigte, daß hier der Landungsplatz sei, ließ er umlegen und hielt auf die Küste zu, mitten in die Bucht hinein, doch mit gekürzten Segeln. Trotzdem die Insulaner auf Anfrage versicherten, das Wasser sei tief bis an die Küste, ließ der Kapitän doch die Jolle aussetzen und loten. Die Angabe der Wilden bestätigte sich, auch bot sich geeigneter Ankergrund.
   Einige hundert Faden vom Ufer wurde dann der »Roland« festgelegt. Hütten der Eingeborenen zeigten sich auch hier nicht, doch lagen eine Anzahl Kähne vor den Augen der Schiffer und, was den Kapitän sehr erfreute, auch Kopra, aufgeschichtet in umfangreichen Haufen.
   Etwa zwanzig nackte Wilde standen am Ufer.
   Den beiden Insulanern wurde jetzt bedeutet, daß der Handel beginnen könne, doch dürften nie mehr als drei Kähne zugleich am Schiff anlegen, und zwar nur Backbord, wer über Steuerbord käme, würde einfach niedergeschossen.
   Der Kapitän und die Mannschaft nahmen die Revolver und stellten die Gewehre dahin, wo sie leicht zu erreichen waren.
   Aus dem Raum wurden die Waren hervorgeholt, welche als Tauschmittel dienen sollten: Beile, Äxte, große rote und blaue Glasperlen, farbige und weiße Stickperlen, Armringe aus Porzellan, Tabak, Pfeifen, rotes Zeug, bedruckte Kattune, Streichhölzer, Hobeleisen, Spiegel, Mundtrommeln, Nägel, Hämmer und anderes. Alles dies wurde auf Deck ausgestellt. Die Augen der beiden wilden Insulaner funkelten in heißer Gier, als sie diese Schätze vor sich sahen.
   Findling, welcher nach dem versuchten nächtlichen Überfall sehr mißtrauisch geworden war, schärfte den Matrosen die größte Wachsamkeit ein.
   Mit großem Erstaunen sah Fritz Fischer diese Vorbereitungen zu einem Tauschgeschäft, welches, wie es schien, nur unter dem Schutz der Feuerwaffen vor sich gehen konnte.
   »Det is ja 'n netter Jahrmarkt hier, mit die Pistole in die Hand«, äußerte er gegen Henrik, »is denn det immer so in diese Jejend?«
   »Es geschieht dies nur, damit nicht einer von uns weggeschleppt und verzehrt wird.«
   »Na, denn bitte ick mir aber ooch so 'ne olle Drehpistole aus, ick werde mir doch nich von so Leute zu det Vesperbrot braten lassen. Det könnte mir noch jerade fehlen.«
   »Die Pistole könnte dir in der Tasche losgehen, Schneider; dat sin höll'sche Dinger.«
   »Na, egal, mit oder ohne so'n paar Knallbonbons, ick lasse mir nich an die Wimpern klimpern. Det sollte man bloß eener riskieren!«
   Damit zog sich Fritz Fischer, fest entschlossen, sich nicht ohne weiteres verzehren zu lassen, vorsichtig hinter einige stämmige Matrosen zurück.
   Nun begann alsbald unter Vermittlung Aturas ein eifriger Handel mit den Eingeborenen, die, wie vorausbestimmt war, nur von einer Seite und in geringer Zahl an Bord gelassen wurden.
   Die über den Wert der Gegenstände, welche sie für ihre getrockneten Kokosnüsse eintauschen wollten, durchaus ununterrichteten Wilden gaben für Kleinigkeiten ihre wertvolle Ware hin, obgleich dabei heftig gefeilscht wurde.
   In zahlreichen Kanus wurde die in Körben aufgehäufte Kopra an das Schiff gebracht und durch einen Teil der Mannschaft aufgehißt und unter Deck verstaut, während der andere Teil der Matrosen, die Waffen stets zur Hand, den Vorgang bewachte. Die beiden früher an Bord gekommenen Insulaner saßen ruhig wie bisher da, ohne sich an dem Geschäft zu beteiligen. Da sie vermutlich Oberhäupter waren, schenkte der Kapitän jedem ein großes Einschlagmesser, was selbst den stumpfsinnigen Gesichtsausdruck des ältern für einen Augenblick in ein Lächeln der Befriedigung verwandelte.
   Die Arbeit dauerte bis spät am Nachmittag, und die Handelsgeschäfte schienen zur Befriedigung beider Teile erledigt zu sein, sicher zu der des Kapitäns, welcher an zehn Tonnen Kopra für einen äußerst geringen Preis eingehandelt hatte; für eine Tonne, welche in Hamburg einen Wert von achthundert bis neunhundert Mark repräsentierte, war von ihm vielleicht fünfzehn bis zwanzig Mark an Wert gezahlt worden.
   Die Insulaner in den Kanus gingen zurück an Land, und die Mannschaft des »Roland« stärkte sich nach harter Arbeit an Speise und Trank.
   Zu seiner freudigen Überraschung wurde dem Kapitän von den noch an Bord gebliebenen beiden Häuptlingen durch Vermittlung Aturas die Mitteilung gemacht, daß am andern Tag noch mehr Kopra zur Stelle sein würde. Dies änderte seine Absicht, noch vor Dunkelwerden in See zu gehen, und er beschloß, an seinem Ankerplatz zu bleiben. Den Vorschlag des Obersteuermanns, wenigstens die Bucht zu verlassen, um weiter draußen zu ankern oder unter gekürztem Tuch zu kreuzen, der mit der Gefahr eines möglichen nächtlichen Überfalls motiviert wurde, lehnte der Kapitän ab, da von den Wilden, welche eine so starke Mannschaft und so zahlreiche Gewehre gesehen hätten, nichts zu befürchten sei. Die beiden Eingeborenen schickten sich an, sich für die Nacht häuslich an Deck niederzulassen. Dies wollte aber der Kapitän denn doch nicht zugeben. Er ließ ihr Kanu aufs Wasser setzen und ihnen bedeuten, sie sollten sich beeilen, zu ihren heimischen Wäldern zurückzukehren. Stumpfsinnig gehorchten die beiden und ruderten der Küste zu. Die auf der Fahrt üblichen Wachen wurden auch diese Nacht beibehalten.
   Kapitän Jansen, sehr zufrieden mit seinem Geschäft, zog sich in seine Kajüte zurück, um sich an einer Flasche Wein zu laben.
   Ruhig verlief die erste Wache. Die Nacht war dunkel, aber ein milder Lufthauch zog über Meer und Land. Auf Befehl des Kapitäns, der nur kurze Zeit in der Bucht zu weilen gedachte, war, um den Leuten Arbeit zu ersparen, nicht wie gestern die schwere Ankerkette ausgelassen worden. Der Buganker war an einem starken Kabel niedergegangen.
   Als um Mitternacht die Mittelwache antrat, zog sich der Obersteuermann in seine Kajüte zurück und Henrik ging nach seiner Koje.
   Der Steuermann hatte sich die Wache über still und schweigsam verhalten und war nicht auf seine gestrigen vertrauensvollen Mitteilungen, welche dem jungen Matrosen so innige Teilnahme abgenötigt hatten, zurückgekommen. Selbstverständlich wagte Henrik nicht, das Thema zu berühren. Erwähnt hatte Findling nur, daß in der Bucht eine Strömung vorhanden sei, die aber bei dem guten Ankergrund die Sicherheit des »Roland« nicht beeinträchtigen könne. Freilich sei bei einem etwa ausbrechenden Weststurm Gefahr vorhanden, an die Küste geschleudert zu werden. Auch die Nähe des weitausgedehnten Riffs, welches man freilich von der Bucht aus nicht gewahren konnte, flößte ihm Unbehagen ein.
   Dennoch war die Nacht so ruhig, die hohen Berge der Insel bildeten eine so sichere Lee gegen alle Windströmungen von Ost und Nordost, die hier um diese Jahreszeit vorherrschen, daß Findling sich frei von jeder Besorgnis zur Ruhe begeben hatte und bald in einem tiefen Schlaf lag.
   Henrik schlief, wie man eben mit achtzehn Jahren schläft, wenn man einen Tag voll Arbeit in frischer Seeluft hinter sich hat.
   Zwei Stunden mochten so vergangen sein, als er sich heftig gerüttelt fühlte; die Augen öffnend erblickte er bei dem schwachen Licht der von der Decke herabhängenden Öllampe Fritz Fischer vor sich.
   »Komm gleich, Hamburger, komm an Deck, et is nich allens richtig da draußen.«
   Im Nu war der so aufgescheuchte Henrik aus der Koje und fuhr, da er nach Matrosenart fast ganz angekleidet schlief, sofort in seine Stiefel. »Was gibt's?«
   »Komm nur, et ist etwas nich janz richtig und oben schläft allens.«
   Hastig ging Henrik hinauf. Fritze verschwieg, daß sein nach unfreiwilligen Fasttagen noch sehr unregelmäßiger Appetit ihn an Deck geführt hatte, um sich in der Kombüse nach einem »Häppken« umzuschauen. Als Henrik das Deck betrat, erkannte er sofort, daß das Schiff losgetrieben war. Ohne die schlafende Wache zu beachten, sprang er nach hinten, schlug mit der Faust an Findlings Kajüte, schreiend: »App, Stürmann, wi sin affdrewen.«
   Augenblicklich hörte man den Steuermann sich regen und seine Stimme »Glik, Jonge!« antworten.
   Der »Roland« schaukelte auf langen Wellen und ein unheimliches Geräusch war zu vernehmen. In kürzester Zeit betrat Findling das Deck. Einen Blick warf er nach Himmel und Wasser – das Schwanken des Decks sagte ihm, daß sie außerhalb der Bucht seien – sein Ohr faßte das eigentümliche Rauschen. »Donnerkiel, dat Riff!« entrang es sich seiner Brust. »Wache auf! Hinunter mit dem Buganker! Alle Hände an Deck! Weckt den Kapitän!«
   Schlaftrunken sprangen die Leute der Mittelwache auf und stürzten nach vorn, wo der eine Buganker, den Findling so fürsorglich klargehalten hatte, noch draußen hing. Das Schiff trieb, Spiegel voran, in einer scharfen Strömung.
   Schon eilten auch, durch das Aufstoßen von Handspeichen auf das Deck geweckt, die Matrosen herauf, welche zur Back gegangen waren. Marholm, der sehr niedergedonnert war, daß man ihn schlafend getroffen hatte, war nach vorn geeilt.
   Jetzt kam eilends der Kapitän heraus.
   »Was gibt's? Was gibt's?«
   »Das Schiff treibt auf das Riff zu.«
   Den Kapitän faßte Entsetzen; er vernahm jetzt auch das Rauschen der Brandung und war keines Wortes mächtig.
   Der Anker ging nieder, die Kette rollte mit unheimlich klirrendem Geräusch durch die Klüse.
   Alle an Deck standen lautlos in der schweigenden Nacht da, das Brechen der Wellen an den scharfen Felskanten sagte ihnen zu deutlich, daß naher Untergang sie bedrohe. Die ganze Kette, hundert Faden, rollte ab, der Anker kirrte nicht. Der schwache Luftzug war östlich.
   »Der Anker faßt nicht Grund, Herr Kapitän; soll ich Segel setzen lassen, um nach West abzukommen?«
   Kapitän Jansen, sonst ein mutiger und besonnener Schiffsführer, war von dem Unerwarteten so erschüttert, daß er nur sagte: »Lassen Sie Segel setzen!«
   Näher klang das unheimliche Rauschen der Brandungswellen. Aber nie zeigt sich der Seemann größer als in der Ruhe, mit der er den todbringenden Gefahren des Meeres zu begegnen weiß.
   »Alle Hände zum Segelsetzen!« dröhnte Findlings Stimme über Deck.
   Die Leute, eine auserlesene Schar, von der jeder selbst bei dunkelster Nacht jedes Tau fand, standen schon an den Wanten und Brassen.
   »Los das Großsegel, den Klüver, die Besangaffel! Steuer hart backbord! Luvbrassen bemannt!« Die Leute wußten, es ging ums Leben, und die Leinwand kam mit großer Schnelligkeit hernieder. Mit ebenso großer Präzision schwenkten sich die Rahen, und kaum waren die Schoten gefestigt, so fühlte auch das Schiff, welches das Riff immer noch spiegelwärts hatte, den Wind und trieb nicht mehr nach hinten.
   Doch da in der dunkeln Nacht weder Land noch Meer zu sehen waren, konnte nicht erkannt werden, ob es Fahrt machte.
   »Herunter mit Mars– und Bramsegel, Jungens, laßt alle Leinwand fallen!«
   Die Matrosen waren oben geblieben und führten die Befehle trotz der tiefen Finsternis mit Sicherheit aus.
   Leise sagte Findling zu Henrik, der die Besangaffel bedient hatte und jetzt im schwachen Schein der Decklaterne erkennbar unweit stand: »Geh zum Koch, er ist ein zuverlässiger, mutiger und erfahrener Mann, er soll Wasser, Zwieback, Schweinefleisch ins Langboot bringen, aber vorsichtig, daß die Leute es nicht gewahren. Leg die Flinten und Patronentaschen ins Boot und die Taljen an, damit wir es gleich ausschwenken können.« Eilig entfernte sich Henrik, der die eherne Ruhe seines Befehlshabers aus tiefster Seele bewunderte, um dessen Befehle auszuführen. Schweigend harrte alles an Bord der Wirkung des Luftzuges in der entfalteten Leinwand. Da schlief der Wind ein und die Segel hingen schlaff herab. Immer näher scholl das dumpfe Brausen, schon leuchtete der weiße Schaum durch die Nacht – das Schiff trieb langsam achterwärts seiner Vernichtung entgegen.
   »Alles von oben herunter!« donnerte Findling. »Wir müssen das Langboot aussetzen, Kapitän, in fünf Minuten sind wir auf dem Riff. Nehmen Sie Ihre Papiere, Kompaß, Instrumente und Karten, es ist Zeit.«
   »Sie haben recht«, sagte der Kapitän niedergeschlagen, »ich bin gleich zurück«, und ging in seine Kajüte.
   Die Mannschaft war eilig aus dem Takelwerk an Deck herabgekommen. Mit felsenfestem Vertrauen harrten sie der Befehle Findlings, die so ruhig, so entschlossen gegeben wurden.
   »Langboot fertig zum Ausschwenken. Segel und Riemen hinein!«
   Obgleich ein solcher Befehl in dieser Lage des Schiffes dessen Untergang ankündigte, gehorchten die Leute schweigend und willig.
   Der Koch und Henrik hatten mit fast übermenschlichem Eifer gearbeitet, das Boot war verproviantiert, die Taljen eingehängt. Findling fühlte sich am Rock gezupft, neben ihm stand der Schneider und sagte wehmütig: »Lassen Sie mir nich sitzen, Herr Steuermann.«
   »Nein, Junge, bleib bei mir.«
   Immer furchtbarer, grausiger tönte das hohle Rauschen der Brandung durch die Nacht. Schon hob sich das schwere Langboot, um über Bord zu gehen, als der helle Ruf von vorn ertönte: »Der Anker hat gefaßt!«
   Ein Gefühl der Erlösung, neuen Lebens ging durch alle Herzen. Die Arbeit am Boot stockte, aber Findling, nach vorn gehend, rief den Leuten zu: »Nur hinab damit, kann nie schaden!« und das Boot senkte sich aufs Wasser. »Loten!« befahl Findling. Das Lot fiel, und es erwies sich, daß sie in zwanzig Faden Tiefe ankerten. Das Schiff lag fest.
   Findling ließ die Brassen loswerfen, damit das Fahrzeug vor einem sich erhebenden Luftzug tot lag, und dann langsam die Ankerkette anziehen. Der Anker hatte fest gefaßt, und Findling ließ die ausgelaufene Kette auf vierzig Faden verkürzen. Der Kapitän kam eilig herbei; bereit, sein Schiff zu verlassen, sah er es mit tiefer Freude vor Anker und lobte, was Findling getan. Erst jetzt, wo größere Ruhe in allen Gemütern herrschte, belehrte sie das Geräusch, daß sie auf drei Seiten von Brandungen umgeben waren.
   Man ließ noch einen weiteren Anker fallen.
   Marholm, der zweite Steuermann, hatte sich überzeugt, daß das Tau, welches den »Roland« in der Bucht festlegte, mit scharfen Messern durchschnitten war.
   Diese Tatsache, Beweis einer unheimlichen Tätigkeit der Wilden, rief Grimm und Verwunderung hervor.
   »Die Strömung hätte uns unweigerlich auf den Felsen geworfen und das müssen die Schelme gewußt haben«, sagte Findling zu dem Kapitän.
   »Aber zu welchem Zweck?«
   »Sie konnten sich, sobald das Schiff zerschlagen war, allerlei Strandgut auslesen, Herr Kapitän; an dies gut bewaffnete Schiff trauten sie sich nicht und zogen es vor, sich hier im Riff ihren Raub zu holen. Die Kopra wird zu Ende sein, nicht aber die Begierde dieser Menschen, sich in den Besitz wertvoller Dinge zu setzen.«
   Der Kapitän ersparte zunächst dem Zweiten Steuermann die Vorwürfe, die er verdiente, und sagte: »Welch ein Glück, Findling, daß Sie die Abtrift bemerkten.«
   »Das war Henrik vorbehalten, er rief mich auf.«
   »Du, Junge?«
   »Nein, Herr Kapitän, hier unser Schneider hat die Gefahr entdeckt.«
   »Donnerschlag, wie is dat? Vertell mi dat, min Jong.«
   Fritz erzählte nun, daß ihn der Hunger an Deck getrieben hatte und daß ihm hierbei das Schaukeln des Schiffes und das unheimliche Rauschen aufgefallen sei.
   Jansen und Findling lachten und der Kapitän sagte: »Na, God segne din Apptit, min Jonge. Awer du hest dat, wat wi an di gewandt hewwen, all riklich wedder gaud makt. Du bist us nix mehr schullig.«
   Fritz Fischer war nicht wenig stolz, daß sein nächtlicher Furagierungsgang so erfreuliche Resultate erzielt hatte.
   Es blieb nichts übrig, als den Morgen abzuwarten, ehe weitere Schritte geschehen konnten. Jansen befahl, den Leuten Grog zu verabreichen, und bald saßen die braven Jungen seelenvergnügt, trotz der überstandenen und sie noch erwartenden Gefahren, und ließen sich den »Steifen« munden.
   Sie legten sich dann mit dem felsenfesten Vertrauen, welches sie ihren Offizieren entgegenbrachten, an Deck zum Schlafen nieder, Jansen aber und die Steuerleute erwarteten unruhig den Aufgang der Sonne, um Gewißheit über ihre Lage zu erhalten.


   Der Überfall

   Endlich stieg die Sonne über dem Meer empor und sandte eine Flut goldenen Lichtes über die Wellen. Der Kapitän und die Offiziere gingen nach oben, um weitern Ausblick zu haben. Was sich da ihren Augen bot, war nicht erfreulich.
   Bis auf den Ausgang nach Norden hin, durch den sie vermittels der Strömung zwischen die Riffe geraten waren, zeigten sich nach Westen und Süden nur Brandungswellen, in meilenweiter Ausdehnung. Auch der Raum zwischen der unfernen, hier in Felsenformationen hoch und schroff aufragenden Küste war mit Riffen durchsetzt.
   Mit Schrecken sah Jansen, daß sie in der Dunkelheit bis auf hundert Faden an die Riffe herangetreten waren. Bei leichtem Wind schaukelte sich die Barke jetzt gemächlich vor ihren Ankern, aber dieser Wind blies leider von Norden und verlegte so den einzigen Rettungsweg; ein Aufkreuzen dagegen war nicht möglich. Die Strömung, welche sie südwärts getrieben hatte, lief in das Riffgewirr hinein.
   Hierauf bauend, sagte Jansen: »Es muß sich ein Weg durch die Brandungen finden. Hier droht Gefahr, auf die Klippen getrieben zu werden, wenn es stärker von Norden her weht. Lassen Sie uns die Jolle und das Lot nehmen und uns nach einem Ausweg umsehen.«
   Die Jolle wurde klargemacht, die Bootsmannschaft, zu welcher Henrik gehörte, der Kapitän und Findling, begaben sich hinein, und man ruderte, fortwährend lotend, auf die Brandung zu. Es zeigte sich, daß ein breiter und tiefer Kanal hineinlief, der sich aber bald dem Land zuwandte, von dem ihnen Felsen entgegenstarrten. Den Weg fortsetzend kamen sie dicht ans Ufer. Hier wandte sich der Kanal fast in einem spitzen Winkel nach Süden. Jansen und Findling überzeugten sich, daß es möglich sei, den »Roland« mit Hilfe des Wharptrosses den Winkel beschreiben zu lassen, wenn er dabei auch dicht an die Uferfelsen treten mußte. Wassertiefe war überall genug vorhanden. Sie verfolgten den Kanal nach Süden und entdeckten zu ihrer Freude, daß er, ohne Hindernisse zu bieten, dem Schiff gestattete, in den Ozean zu laufen. Als sie sich hiervon überzeugt hatten, traten sie in froher Stimmung den Rückweg an.
   Der Buganker wurde gehoben, und man ließ den »Roland« sich langsam um den zweiten ausgebrachten Anker drehen, bis sein Bug nach Süden stand. Etwas Leinwand wurde entfaltet, und das Schiff glitt zwischen die unter dem Wogenanprall schäumenden Klippen. Der Wind blies stetig aus Nord, und der »Roland«, der dem Steuer gut gehorchte, legte mit ruhiger Sicherheit seinen Weg durch den Kanal zurück. Unweit des Landes ließ Jansen die Segel tot an den Wind bringen und sandte die Jolle mit dem Wurfanker am Wharptroß nach dem Felsengestade, um ihn dort festzumachen. Dies gelang auch nach einiger Mühe. Die Schwierigkeit war, den »Roland« den Bug nach vorn, so zwischen den spitzauslaufenden Klippen und dem Ufer zu wenden, daß er mit der Nase von neuem nach Süden zu stehen kam, wo er dann bei diesem Wind leicht den Ozean erreichen konnte. Der Raum für das Wenden war dem Schiff so knappzugemessen, daß der Wurfanker dreimal an anderer Stelle ausgelegt werden und die gesamte Mannschaft mit Aufbietung aller Kraft am Gangspill arbeiten mußte, um es in dem engen und winkeligen Fahrwasser um die Riffspitze herumzubringen. Der Himmel hatte sich umzogen und große Tropfen fielen nieder, die einem echten Tropenregen vorangehen.
   Jansen rief die Jolle zurück, um die Arbeit später fortsetzen zu lassen, und ließ die angestrengten Leute hinab und zu Tisch gehen. Er selbst, wie auch Findling, begaben sich in ihre Kajüten; auf dem Deck waren nur noch Henrik, Fritz Fischer und der Insulaner von Neuhannover, welcher mit großer Aufmerksamkeit die Felsen betrachtete, denen das Bugspriet so nahe gekommen war. Ein furchtbarer Platzregen prasselte hernieder, und Henrik und der Berliner krochen, da man in Erwartung eines solchen die Luken geschlossen hatte, rasch unter das Gig des Kapitäns, welches am Vormast kieloben lag; ihnen folgte der Insulaner.
   Unendliche Flut strömte herab, das Deck stand bald fußhoch unter Wasser. Diese Regen, so gewaltig sie auch auftreten, sind nur von kurzer Dauer. In zehn Minuten war der Guß vorbei und die Flut hatte sich den Weg durch die Speigaten gesucht. Ein eigentümliches Geräusch auf Deck machte Henrik und Fritz stutzen, sie streckten rasch und neugierig die Köpfe unter dem Boot hervor und sahen mit versteinerndem Schreck etwa fünfzig bis sechzig bewaffnete Wilde an Bord verteilt. Einige von ihnen waren im Begriff, eine schwere Kiste auf die Luke zu schieben, welche zum Mannschaftslogis führte, während andere hinten neben der Luke standen, die den Eingang zu der Kajüte bildete.
   Kaum waren die jungen Leute bemerkt, als sie hervorgezogen wurden und ein Haufe grimmig grinsender Wilder um sie stand, die sie mit den Waffen bedrohten.
   »Ach Jotte doch!« stöhnte entsetzt der Schneider. Henrik schwieg, obgleich auch durch ihn Schauer des Entsetzens zogen. Gleich darauf kroch Atura unter dem Boot hervor; auch auf ihn stürzten sich die Kannibalen, doch er rief dem einen der Häuptlinge, die an Bord gewesen waren, einige Worte zu, worauf dieser befahl, von ihm abzulassen.
   Die Luke, welche den Eingang zu den Kajüten deckte, wurde zurückgeschoben und zu Henriks tiefstem Schrecken erschien Kapitän Jansens Haupt über Deck.
   »Zurück!« schrie Henrik ihm gellend zu, alle Rücksicht auf seine eigene Lage vergessend. Doch schon sauste, von hinten her geführt, eine Keule auf des Kapitäns unbeschütztes Haupt hernieder und mit zerschmettertem Schädel sank der Körper vornüber, von kräftigen Fäusten aufs Deck heraufgerissen.
   Aus der Luke aber krachten zwei Revolverschüsse und zwei Wilde schrien auf, einer brach zusammen; da wurde auch die Luke schon wieder zugezogen. Eilig wälzten auch hier die Insulaner schwere Gegenstände darauf. Einem Messerstich war Henrik nur entgangen, weil Atura ihn rasch zurückzog und sich vor ihn stellte.
   Der Anblick des erschlagenen Kapitäns, dessen Blut das Deck rötete, war schauderhaft. Totenbleich standen die beiden jungen Leute da, fürchtend, daß auch sie dieses Schicksal ereile. Die Insulaner schienen aber zunächst nicht die Absicht zu haben, die waffenlosen Gefangenen zu töten. Jetzt wurde es auch im Mannschaftslogis lebendig und kräftige Versuche gemacht, die Luke zu heben. Schimpfworte drangen herauf, die Matrosen schienen keine Ahnung von dem Zustand auf Deck zu haben.
   Die drei Gefangenen wurden jetzt, während eine starke Zahl der Wilden vorn Wache hielt, nach hinten geführt und Atura veranlaßt, die unter Deck befindlichen Mannschaften anzurufen. Er forderte, dem Befehl gehorchend, den Steuermann zu einer Unterredung.
   Dieser kam zur Luke, als er des Insulaners Stimme hörte, doch war sein erstes Wort: »Henrik!«
   »Hier, Herr!«
   »Bist du gefangen?«
   »Ja.«
   »Ist der Kapitän tot?«
   »Ja, Herr Findling, leider.«
   »Wieviel der Halunken sind an Bord?«
   »Wohl sechzig Mann.«
   »Die Luken sind verrammelt?«
   »Ja.«
   Mit einer grimmigen Miene schob der früher so blödsinnig vor sich hinstierende Häuptling, der jetzt sehr energisch dreinblickte, Henrik zurück und rief Atura ein befehlendes Wort zu.
   »Herr!« wandte sich dieser englisch an Findling.
   »Sprich, ich höre.«
   »Das Schiff ist im Besitz der Feinde.«
   »Ich weiß es. Was wollen sie?«
   »Ihr sollt alles, was ihr an Tauschwaren habt, herausgeben, dann wollen sie euch absegeln lassen.«
   »Ja, wie den Kapitän«, murrte Findling in deutscher Sprache. »Sage ihnen, Atura«, fuhr er dann englisch fort, »ich wäre dazu bereit und wolle alles zusammensuchen; wenn aber dir oder den beiden jungen Leuten ein Leid geschehe, sprengte ich mich mit dem ganzen Schiff in die Luft, dann bekämen sie gar nichts und führen damit zur Hölle, wohin sie überhaupt gehörten.«
   Der Insulaner übertrug das so gut wie möglich den Wilden und diese schienen von der Zusicherung, die Tauschwaren zu erhalten, sehr befriedigt zu sein.
   Findling rief noch: »Henrik, geh nach dem Vorderdeck, wenn du kannst.«
   Dieser antwortete nicht, um nicht den Verdacht zu erregen, daß die Worte ihm galten.
   Die Gefangenen wurden mittschiffs geführt. Bange Minuten verflossen. Erstaunt hörte Henrik Holzäxte unter Deck in Tätigkeit. Auf eine Frage des Häuptlings an Atura über die Ursache dieses Geräusches, erklärte dieser: »Sie öffnen die Kisten, um die Waren auszupacken.«
   Die Augen der Wilden glänzten vor Habgier und Mordlust.
   Unbeachtet hatte sich Henrik immer mehr und mehr dem Vorderdeck genähert. Jetzt hörte er unter sich die tiefe Stimme des Steuermanns: »Antworte nicht, Henrik, wenn du es nicht ohne Gefahr tun kannst; bleibe mit den andern vorn, gehe aber aus der Nähe der Luke.«
   Jetzt wußte Henrik, was die Axthiebe unten bedeuteten; durch den Raum war eine Verbindung zwischen Vorder– und Hinterschiff hergestellt worden, und die gesamte Mannschaft jetzt vereinigt.
   Bald darauf rief Findling wieder an der hintern Luke den dolmetschenden Insulaner an. Dieser begab sich nach achtern und fast alle an Deck befindlichen Wilden folgten ihm. Henrik und der vor Angst halbtote Schneider lehnten sich vorn ans Bollwerk.
   »Sage doch den Wilden, Atura, daß wir jetzt alles geben wollen, was wir haben, aber sie sollen sich erst an das Land verfügen.«
   Als ihm dies übersetzt wurde, lächelte der Anführer der Wilden höhnisch und ließ entgegnen, sie möchten nur alles zu den kleinen Kajütenfenstern herausreichen – dort wären Kanus, um es aufzunehmen.
   »Nein«, meinte Findling, »das geht nicht, sie müssen dazu die Luke öffnen.«
   Dies wurde abgelehnt.
   Dann war es eine Zeitlang still. Unter der Luke des Vorderdecks schrie dann Findling: »An die Bordwand, Henrik!« Und kaum hatte er dies ausgesprochen, als eine explodierende Pulverschachtel die Luke zersplitterte und zugleich die beschwerende Kiste beiseite warf. »Drupp, Jungens! Rächt unsern ollen Kaptein!« schrie Findling und sprang auf Deck. Augenblicklich krachte seine Büchse, ihre Kugel in den Haufen der Wilden sendend. Er warf sie weg und griff zum Revolver. Atura sprang hinten über Bord. Mit Hurra stürmten die wutschnaubenden Matrosen heraus, feuerten die Büchsen ab und stürzten dann, unaufhörlich aus den Revolvern feuernd, in der Linken Axt oder Lanze haltend, vor.
   Die Eingeborenen waren zwar mit der Feuerwaffe und ihrer Wirkung nicht unbekannt, doch kamen diese gefürchteten Kannibalen zu selten mit Europäern in Berührung, um eine Ahnung von der Verheerung zu haben, welche das Feuer der Matrosen jetzt unter ihnen anrichtete.
   Nachdem sie durch Beschwerung der Luken die Mannschaft unten eingesperrt hatten, hielten sie sich auf Deck für vollständig sicher und für Herren des Schiffes. Ihre Siegeszuversicht war so groß, daß die meisten ihre Waffen, Speere und Lanzen mittschiffs oder vorn abgelegt hatten.
   Größer als dieses Bewußtsein war aber das Entsetzen, welches die Explosion an der Vorderluke, das Losbrechen und rapide Feuer der Matrosen hervorrief. Mehr als ein Dutzend der Ihrigen lagen tot am Boden, eine größere Zahl war verwundet, und als die furchtbaren Weißen herankamen, da sprangen alle, die es vermochten, heulend zurück. Auch Henrik hatte, als seine Kameraden vorstürmten, eine Pike ergriffen und sich ihnen angeschlossen, ihm nach eilte der fast von Sinnen geratene Schneider, mit einer Lanze, bewaffnet. Doch schon stürzten sich die Wilden kopfüber ins Wasser. Ein Verwundeter raffte sich vom Deck auf und kletterte über die Bordwand, als Fritz Fischer herankam; der jetzt sehr zornig gewordene Schneider gab dem Wilden noch einen Schlag mit der Lanze über den untern Teil seines Rückens, ehe er ins Wasser plumpste.
   »Du Racker, du, du willst Beefsteak aus mir machen, dir will ich et jeben, du sollst an Fritze Fischer denken!«
   Er stürmte weiter, die Lanze drohend in den Händen schwingend, gleich Ajax dem Telamonier, doch fernere Gelegenheit zu rühmlichen Taten ward ihm nicht gegeben. Die kampfbereiten Wilden waren von Deck verschwunden, und die Waffe des wütenden Schneiders wäre bald den Matrosen gefährlich geworden, wenn sie ihm nicht einer aus der Hand gerissen hätte. Die durch den Tod des Kapitäns zu wilder Wut gereizten Leute warfen alle Insulaner, ob lebend oder tot, ins Meer.
   Ein gellendes Hurra feierte den glänzenden Sieg, der ihnen kein Blut gekostet hatte. Atura, der sein Leben durch einen rechtzeitigen Sprung ins Meer gerettet hatte, kletterte jetzt vorn über Bord wieder herein. Die Matrosen feuerten noch nach den im Meer Schwimmenden, aber Findling war sich trotz der Aufregung der Stunde der Gefahr, mit welcher sie die nahe, hochgelegene Küste bedrohte, von welcher die Feinde mit ihren Pfeilen das Deck bestreichen konnten, vollständig bewußt, um so mehr, als jetzt nach des Kapitäns Tod alle Verantwortung auf ihm lag. Im Kommandoton, ruhig wie sonst, schrie er über Deck: »Heda, holla! Vorwärts und den Anker up Stürbordside bracht! Vorwärts, Kinnings, wi möten maken, dat wi all von die ollen Felsen afkamen.« Gehorsam gingen die aufgeregten Leute sofort ins Boot und ans Wharptroß. Findling lud seine Büchse und forderte Henrik auf, dasselbe zu tun, um mit ihm die gefahrdrohenden Felsen zu beobachten, vor allem, um die Leute in der Jolle zu schützen.
   »Ich weiß ja, du kannst schießen; wo ein Kopf erscheint, feuere darauf, du rettest einem der Unsern das Leben.«
   Die Matrosen arbeiteten mit großer Energie. Bald neigte sich der Schnabel des Schiffes in den nach Süden führenden Kanal und die Leute in der Jolle kamen mit dem Wurfanker zurück.
   Noch einmal nahte sich das Hinterteil des »Roland« den Uferfelsen, einige von oben herabgewälzte Felsbrocken konnten Unheil anstiften, doch nichts Gefahrdrohendes zeigte sich, die Wilden waren betäubt von der furchtbaren Niederlage. Das Schiff fing den Wind, als jetzt die Brassen angezogen wurden, und glitt vor leichter Brise nach Süden. In zwei Minuten waren sie auch vor Pfeilschüssen von den Felsen aus durch die Entfernung geschützt. Die Boote wurden gehißt und alles weggestaut. Die Leiche des Kapitäns, welche mit einem weißen Tuch bedeckt am Achterdeck lag, wurde in die Kajüte getragen und dort bis zur Bestattung niedergelegt. Findling befahl dann, das Deck zu scheuern, und noch ehe sie in den Ozean traten, waren alle Spuren des blutigen Kampfes verwischt. Findling übergab Marholm das Kommando mit dem Befehl, nach Norden aufzukreuzen. Er wollte den in der Bucht gekappten Anker nicht einbüßen und darum dem Ort einen zweiten Besuch abstatten. Dann begab er sich in die Kajüte.
   Neben Henrik stand Fritz Fischer, einen erbeuteten Speer in der Hand, seine Züge glänzten in hohem Siegesbewußtsein.
   »Siehste, Hamburger, det nenn ick Krieg führen, ick sage dir, wenn wir aus de Reezenjasse einmal anfangen, denn wird et aber schlimm.«
   »Ja, ich habe dich bewundert. Wieviel der Feinde hast du denn wohl erlegt?« »Nu, so 'n Stücker drei hab' ich massakriert, die werden an mir denken.«
   Henrik lachte herzlich, aber Fritz hielt diesen ungezügelten Ausbruch von Heiterkeit für bewundernde Zustimmung.
   »Mir is et nur lieb, dat wir die Menschenfresserbande los sind, von wejen die alte Frau, die würde sich doch sehr jejrämt haben, wenn sie Hackefieesch aus mir jemacht hätten. Sage mal, Hamburger, hast du denn auch noch ne Olle?«
   Als durch diese Frage plötzlich das Bild der Mutter vor Henriks Seele gebracht wurde, traten ihm Tränen in die Augen.
   Fritz bemerkte das und fragte in herzlichem Ton: »Du hast ihr wohl sehr lieb?«
   Henrik nickte stumm.
   »Nu, ick meine ooch, un komm ick wieder zurück, soll et die Alte jut bei mir haben.«
   Henrik reichte ihm die Hand und sagte: »Kehren wir zur Heimat wieder, Fritze, soll in der Reezengasse keine Not mehr herrschen.«
   »Na, dat jebe der liebe Jott, et is manchmal knapp jejangen, seit Vater dod is – aber die alte Frau hat den Kobb oben, det muß jeder sagen, der ihr kennt. Wat die vor Oogen machen wird, wenn se hört, dat ick mir hier mit de Wilden rumjebalgt habe.« Er lächelte vergnügt, indem er sich ausmalte, wie er die Reezengasse mit seinen Abenteuern in Staunen setzen würde, und Henrik konnte die Vermutung nicht unterdrücken, daß die drei heutigen Opfer des Schneiders sich bis zur Rückkehr zur Heimat wohl zu einem Dutzend und mehr steigern würden.
   Fritz wurde jetzt beordert, bei der Einhüllung der Leiche des Kapitäns tätig zu sein, und ging nach der Kajüte. Für drei Uhr wurde die Mannschaft im Sonntagsanzug zum Begräbnis befohlen. Man behält auf See nicht gern eine Leiche lange an Bord.
   Als die Stunde gekommen war, versammelten sich die Leute auf dem Achterdeck, alle in sauberer Kleidung und Wäsche. Die Leiche des Kapitäns wurde herausgetragen. Sie lag auf einer Planke und war in Segelleinen gehüllt, ein schweres Bleistück am Fußende befestigt. Die Steuerleute waren in schwarzen Oberröcken und Kastorhut erschienen.
   Findling las aus dem auf norddeutschen Schiffen üblichen Buch ein Gebet, dann ließ man die Leiche über Bord gleiten und der Seemann hatte das ihm eigenste Grab gefunden. Der wohlwollende Befehlshaber wurde von der Schiffsmannschaft aufrichtig betrauert. Hierauf wurde, soweit die Ereignisse des Tages es gestatteten, die gewöhnliche Ordnung wieder hergestellt.


   In indischen Gewässern

   Während der »Roland« mühsam nach Norden aufkreuzte, saß Findling in der Kajüte des Kapitäns, um, wie es seine Pflicht als nunmehriger Befehlshaber des Schiffes war, die Schiffspapiere durchzusehen und sich vor allem über die dem Kapitän von den Reedern erteilten Instruktionen zu unterrichten.
   Nächst den Befehlen an Kapitän Jansen, besonders die Südseeinseln anzulaufen, deren geographische Lage übrigens näher nicht angegeben war, fand sich eine Order vor, die Findlings Erstaunen erregte. Diese machte dem Kapitän den Besuch eines Felseneilands, dessen Lage genau beschrieben war, zur Pflicht, um dort einen Schatz zu heben.
   Dies erschien dem Obersteuermann verwunderlich, besonders da der Befehl von einem vornehmen Hause ausging. Es waren den Instruktionen einige Dokumente beigegeben und die Nachbildung einer unbehilflich entworfenen Karte, nebst einem Situationsplan, auf welchem die Stelle, wo das Gold begraben lag, bezeichnet war. Aus den Abschriften, welche die Aussagen eines Matrosen Hans Evers wiedergaben, ging hervor, daß er und sein Schiffsmaat Klaus Warren im Frühling des Jahres 1844 in Point de Galle, da sie ihr Schiff verloren hatten, Dienst auf dem spanischen Klipper »Gallego« genommen hatten, der nach Cadiz bestimmt war. Der Spanier hatte auch einige Fahrgäste an Bord, unter diesen einen deutschen, vornehm aussehenden Herrn, dessen Namen die Matrosen indessen nicht erfahren hatten.
   Im Indischen Ozean geriet das Schiff in schweres Wetter und wurde zum Wrack. Die spanische Mannschaft und die Fahrgäste suchten endlich in den Booten Rettung, indes die beiden deutschen Matrosen, wahrscheinlich absichtlich, an Bord zurückgelassen wurden.
   Während alle Insassen der Boote vor den Augen der Zurückgebliebenen den Tod in den Wellen fanden, retteten sie ihr Leben, denn das schwerbeschädigte, doch im Rumpf noch dichte Schiff, welches die Spanier zu voreilig verlassen hatten, ging nicht unter, sondern hielt sich über Wasser und wurde an ein unbewohntes Eiland des Indischen Ozeans angetrieben, wo es auflief. Die beiden Matrosen, welche als Herren des Schiffes alles an Bord untersuchten, fanden unter anderm das Privatvermögen des in Point de Galle eingeschifften Deutschen, dessen Gepäck sie kannten, da sie es selbst beigestaut hatten, bestehend in einer Anzahl Goldbarren, einer großen Summe gemünzten Goldes, Banknoten und vor allem in einer wertvollen Juwelensammlung. Dies brachten sie gemeinsam mit dem, was der Kapitän an Geld an Bord hatte, in einem Versteck an Land unter. Lange Zeit verging, ehe sich der außerhalb der Meeresstraßen liegenden Insel ein Schiff nahte. Der Matrose Warren starb im Lauf dieser Zeit, das Wrack wurde endlich von den Wellen zerstört, und die durch Zufall in jene Breite verschlagene schwedische Brigg »Gustav« fand nur noch den Matrosen Hans Evers vor, den sie, nachdem er länger als zwei Jahre auf jenem Eiland zugebracht hatte, mit sich führte. Seine endliche Erlösung von der Insel kam ihm so überraschend, sie vollzog sich so schnell, daß er nicht imstande war, etwas von dem verborgenen Schatz mitzunehmen. Er schied von dem Eiland in der Hoffnung, später den Schatz heben zu können, nachdem er sich mit Hilfe des Steuermanns der geographischen Lage der Insel versichert und alle Landmarken eingeprägt hatte. Bei seiner Vernehmung verschwieg er die nähern Umstände seiner Rettung und machte falsche Angaben über das Schiff, immer in der Absicht, sich des Gutes zu bemächtigen, sobald es anging. Alle Versuche, zu der Insel zurückzukehren, mißlangen indes dem mittellosen Mann, und als er später wohlhabende Leute für die Sache durch einen ihnen in Aussicht gestellten Gewinnanteil zu interessieren suchte, wurde er mit seinem fabelhaften Schatz – er durfte doch nicht wagen nähere Angaben zu machen – ausgelacht. Als Evers, der sich später in Hamburg als Jollenführer ernährte, im Krankenhaus im Sterben lag, ließ er einen der Chefs des Hauses Oswald zu sich bitten, für das er oft gefahren war, machte diesem seine Angaben, die er später vor einer Gerichtsperson wiederholte und mit einem Eid bekräftigte. Nächst dem Wunsch, die rechtmäßigen Eigentümer, über die er freilich keine nähern Angaben zu machen vermochte, in den Besitz ihres Geldes gelangen zu lassen, hatte den Sterbenden auch hauptsächlich die Mittellosigkeit seiner Familie zu dem Bekenntnis veranlaßt, denn er hatte die Bedingung gestellt, daß man als Bergelohn diese aus dem Fund unterstützen möge, was auch unbedenklich zugesagt wurde.
   Erst dann hatte er genauere Angaben über die Örtlichkeit, wo der Schatz vergraben lag, gemacht und hierauf bezügliche Aufzeichnungen übergeben.
   Herr Oswald bezweifelte die Angaben des Matrosen nicht, dieselben weiter zu verfolgen, würde er indessen abgelehnt haben, wenn ihn nicht besondere Umstände dazu bestimmt hätten. Die Mitteilungen des Evers riefen ihm die Erinnerung an den zu jener Zeit auf dem Meer zugrunde gegangenen hanseatischen Konsul Eduard Isenhoit wach, vor allem die von jenem erwähnte Juwelensammlung. Herr Oswald wußte, daß der ihm befreundete Konsul bei seiner Übersiedlung nach Deutschland den wesentlichen Teil seines Vermögens in Edelsteinen angelegt hatte, wie sie die Berge Ceylons bargen, um sie in Deutschland mit erheblichem Vorteil umzusetzen, denn er war ein genauer Kenner edlen Gesteins. Freilich stimmten die Aussagen des Evers, nach denen Isenhoit mit einem spanischen Schiff im Indischen Ozean zugrunde gegangen sein mußte, nicht mit den über dessen Rückreise bekannten Umständen. Isenhoit hatte Point de Galle zwar um die von dem Matrosen angegebene Zeit verlassen, aber auf der Hamburger Bark »Elisabeth«. Diese war zwar mit Mann und Maus zugrunde gegangen, aber erst im Atlantischen Ozean, nachdem sie, wie unzweifelhaft feststand, Kapstadt angelaufen hatte.
   Die Schilderung, welche Evers von der Persönlichkeit des Deutschen zu geben wußte, konnte auf Isenhoit zutreffen.
   Trotz dieses Widerspruches zwischen den bisherigen Annahmen über das Ende des Konsuls und den unter Eid gemachten Aussagen Evers', beschlossen die Herren Oswald, den Kapitän des »Roland«, der doch Point de Galle anlaufen mußte, mit Nachforschungen über den Schatz zu betrauen. Gleichzeitig veranlaßten sie den derzeitigen hanseatischen Konsul der indischen Hafenstadt, amtliche Erhebungen über die Abreise Isenhoits anzustellen, ihm alles hierauf Bezügliche, besonders auch die Aussagen des Evers mitteilend, wobei natürlich die Lage des Eilands, welches Evers zum Aufenthalt gedient hatte, ihr Geheimnis blieb. Jedenfalls war der »Roland« befehligt, dieses Eiland anzulaufen und Nachforschungen anzustellen. Dem jungen Befehlshaber des »Roland« erschien diese Sache höchst abenteuerlich, und er fragte sich, ob bei den Aussagen des sterbenden Mannes nicht krankhafte Phantasie tätig gewesen sei, ob nicht die Absicht, seinen Hinterbliebenen Teilnahme und Unterstützung zuzuwenden, ihn zu diesen Angaben vermocht habe. Dennoch blieb nichts übrig, als dem strikten Befehl der Reeder nachzukommen.
   Nach einiger Überlegung beschloß er, da bereits mehr Kopra an Bord war, als die Handelsherren in Aussicht genommen hatten, er auch nicht zum zweitenmal das Schiff der Gefahr eines Überfalles aussetzen wollte, diese Inselwelt, sobald er seinen Anker wieder hatte, zu verlassen und den Kurs nach Ceylon zu nehmen.
   Vorher mußte er freilich erst genau wissen, wo er stand.
   Der »Roland« war unterdessen weit genug aufgekreuzt, um in die Bucht treten zu können, von welcher aus er triftig geworden war.
   Mit geringer Anstrengung ward der Anker gehoben; die gegen einen Angriff der Wilden getroffenen Vorsichtsmaßregeln erwiesen sich als unnötig. Das Schiff blieb unter leichtem Tuch in der Nähe der Insel.
   Die Sonne stand am andern Tag an wolkenlosem Himmel, und Findling machte um Mittag seine Berechnung. Diese ergab, daß er unter dem 154. Grad östlicher Länge stand, in einer südlichen Breite von 2 Grad 3 Minuten. Daß sie die Salomonsinseln angelaufen hatten, ward dadurch zur Gewißheit; der »Roland« stand westlich der umfangreichen und lang hingestreckten Insel Bougainville, wie die Karte ergab. Hiernach beschloß er, seinen Weg durch die Torresstraße zu nehmen und ließ alsbald den Bug des Schiffes nach Südwesten richten. Da er die Pflicht hatte, den als Dolmetsch angeworbenen Insulaner Atura in seine Heimat oder zu einer Stelle zu befördern, von wo aus er diese leicht erreichen konnte, fragte er ihn, ob es ihm recht sei, wenn er ihn auf Murua aussetze, eine Insel, welche der Mann kannte. Dieser war um so mehr damit einverstanden, als Findling sein Honorar wegen des weiten Heimwegs um zwei Pfund erhöhte. Sie machten bei frischem Wind gute Fahrt und hatten gegen Abend des folgenden Tages Murua, auch Woodlarkinsel genannt, vor sich. Dort verabschiedete sich der Mann von Neuhannover, der aus dem für die Wilden bestimmten Warenvorrat noch reich beschenkt worden war, mit aufrichtigem Dank. Hierauf hielt Findling nach Südost, um südlich der Lusiaden in das Korallenmeer zu treten, da es ihm zu gefährlich deuchte, bei Nacht zwischen diesen und Neuguinea durchzugehen.
   Da der Kapitän bisher die Morgenwache getan hatte und ein Ersatz nötig war, übertrug er diese Marholm und übergab das Kommando der Mittel– oder Hundewache dem Matrosen Martin, der ein sehr erfahrener und kaltblütiger Seemann war, dem man das Schiff ruhig anvertrauen konnte. Da der Wind fortwährend günstig blieb, traten sie am sechsten Tag aus der Torresstraße in die Harafurasee. Findling wollte seinen Weg südwärts der Sundainseln nehmen, da in der Straße von Malakka zu dieser Jahreszeit vorwiegend bei der Fahrt nach Westen ungünstige Luftströmungen herrschten.
   Fritz Fischer, der sich in hohem Grade der Gunst der Mannschaft erfreute, saß mittschiffs im Schatten des großen Segels und ließ fleißig die Nadel fliegen. Sobald die gewöhnliche Ordnung auf dem Schiff wieder hergestellt war, hatte sich der junge Schneidergeselle, dem es gegen die »Reputation« ging, wie er sagte, sein Brot umsonst zu essen, Arbeit erbeten, die ihm auch aus der Kajüte wie aus dem Mannschaftslogis reichlich zuteil wurde.
   Henrik kam von vorn, betrachtete mit Behagen das zufriedene Gesicht des Jungen aus der Reezengasse und fragte: »Nun, Fritze, wie befindest du dich?«
   »Janz jut, Hamburger, und wenn einem die liebe Sonne nich jerade senkrecht uff'n Kobb scheinen wollte, wäre et noch molliger.«
   »Ja, Junge, wir sind jetzt gerade in der Nähe vom Äquator.«
   »Wat is denn det eigentlich. Ick habe woll in de Bezirksschule 114 mal von jehört, aber ick hab' et wieder verjessen.«
   »Das ist ein eiserner Reifen, der rings gerade um die Mitte der Erde gespannt ist, damit sie nicht auseinanderfällt bei dem ewigen Umsichselberdrehen.«
   Fritze sah von seiner Arbeit auf und blickte in das ganz ernste Gesicht hinüber.
   »Du, Hamburger, wenn du mir zum Fatzke machen willst, so kann ich dir nich mehr ästimieren.«
   »Ich beabsichtige keineswegs, dich zum besten zu halten; du wirst dich doch der dicken schwarzen Querlinie in der Mitte der Planigloben noch erinnern?«
   »Det stimmt, und det war ooch der Äquator, jetzt weeß ick et.«
   »Nun, diese Linie deutet eben den Streifen an.«
   »Wer hat den um die Erde gemacht?«
   »Nun, der ist gleich bei der Schöpfung aus zusammengeschweißten Magneteisenklumpen drumgelegt worden.«
   »So? Nu, wer weeß det denn? In de Bibel steht nischt von. Wer hat ihm denn jesehn?«
   »Oh, den haben viele gesehen, denn bei sehr niedrigem Wasserstand ragt er über das Meer empor.«
   Fritze schien nicht überzeugt zu sein. In diesem Augenblick ging Martin vorbei und Henrik fragte ihn: »Hewwen Se all die Linie siehn, Stürmann Martin?«
   Martin, voll trockenen Humors, wie fast alle Niederdeutschen, war durchaus geneigt, auf einen Scherz einzugeben und entgegnete: »Ich bin all achtmal öwer un tweemal unner weg fahren.«
   »Und Sie haben sie wirklich jesehen?« fragte Fritze.
   »Ob ick sie sien heww? Ick gläuw ook. Wie wi dat erstemal unner weg segelten, stieß die Oberbramstange bowen an un knickte tausamen, leik as en Swewelsticken.«
   Der wettergebräunte Matrose, den seine vorübergehende Würde als Deckoffizier zwar sehr befriedigte, aber keineswegs stolz machte, blickte scheinbar so ernst aus den scharfen, grauen Augen, obgleich in jedem der zahlreichen Fältchen, welche sich darum eingenistet hatten, das Vergnügen lauerte, einem Landlubber eine seiner haarsträubendsten Geschichten beibringen zu können. Fritz Fischer erhob keinen Widerspruch, obgleich man sah, daß er nicht überzeugt war.
   »Ja«, fuhr Martin mit gleichem Ernst fort, »das war in derselben Gegend, wo wir den großen Fisch sahen. Der war beinahe drei Meilen lang und eine Meile breit, und auf seinem Rücken wuchs Seetang und lagen Felsbrocken von sechs bis acht Faden Höhe. Wir liefen an seine Seite; ich ging mit andern auf seinem Rücken und wir sind da wohl eine Stunde lang behaglich drauf herumspaziert.«
   Fritz horchte stumm und staunend der wunderbaren Mär, meinte aber dann: »Det wird dann wohl der Leviathan jewesen sind, davon steht in de Bibel.«
   »Dat wird ja woll so Wesen sin, min Jong«, schmunzelte Martin.
   »Und er hat euch nischt jetan?«
   »Ick denke, he hädd all slapen, denn as wi dat Best twee Meilen achter hadden, ging he all unner. Dat gaw ne Flutwelle, so hoch as de Petrikerkturm, un wi danzten as Nußschale bowen upp.«
   »Merkwürdig.«
   »Ja, dat schall woll sien. As wi vorigt Johr im Roten Meer in tausend Faden Tiefe vor Anker gingen«, mit Mühe nur verbiß Henrik sein Lachen, als der alte Bursche so unverschämt log, »kam de Anker, als wi 'n anholten, bowen, un een grot Wagenrad hing an.«
   Henrik wandte sich um und hielt das Taschentuch vor den Mund. Ganz ernsthaft aber bemerkte Fritze: »Det wird denn woll eins von die Wagenräder jewesen sind, wo der olle Pharao dunnemals mit zujrunde jejangen is.«
   Diese Antwort verblüffte den alten Matrosen so, daß er nur kurz sagte: »Dat schall woll sien« und hinwegging.
   Auch Henrik mußte sich entfernen, um sich unbemerkt über den Berliner auslachen zu können. Fritz aber stichelte munter weiter, bei sich denkend: »Habt ihr mir blau anloofen lassen, alte Seeratten, ick werd et euch schonst wiederjeben.«
   Nach einiger Zeit kam Martin, mit dessen Anlandgehjacke sich Fritz gerade beschäftigte, und brachte ihm einige Knöpfe, um sie anzunähen, es waren schöne Hornknöpfe.
   »Hewwen se in Berlin ook so wat Scheunes?« fragte er, auf die Knöpfe deutend.
   »Det nennen Sie wat Schönes, Herr Stürmann?« fragte Fritz mit einem verächtlichen Achselzucken.
   »Na, nich? Dat is feines Büffelhorn.« »Ja, von wilden«, sagte Fritze so von oben herab.
   »Natürlich von wilden, die immer seltener werden – Präriebüffel.«
   »Bei Ihnen in Hamburg mögen sie ja seltener werden, bei uns in Berlin is det aber janz anders, dort mehren sie sich.«
   »Wie is dat?«
   Henrik, der Martin im Gespräch mit Fritze sah, kam herbeigeschlendert.
   »Ziegler und Kompanie, Knopffabrikanten en gros mit de Medallje, haben uff de Hasenheide schonst seit Jahren eene Herde von mehr als zweitausend Stück von der feinsten amerikanischen Sorte, dat Zeug vermehrt sich gehörig. Die jeben nu de Hörner her vor de wirklich juten Büffelhornknöpfe, denn die loofen nich so wild rum, die werden extra vor dat Horn gepflegt un jeben jedes Jahr ein paar Hörner her. Von die Knöppe kost de erste Sorte zehn Taler det Stück, die tragen nur der König und de Prinzen uff ihre Jagdröcke. Vor de zweete Sorte wird immer noch fünf Taler bezahlt. Da kriegen die andern Könige, Fürsten und Bleichröders wat von ab. Die gemeenste Sorte macht zwee Taler det Stück, un die is nich emal zu haben, die is uff viele Jahre hinaus feste bestellt.«
   »Eine Büffelherde von rund zweitausend Stück?«
   »Haben Sie ihr noch nich jesehn?« fragte darauf Fritz sehr freundlich. »Det is ja jroßartig in de Hasenheide. Hörner von anderthalb bis zwee Ellen Länge un durchsichtig wie Bernstein, se werden den Viechers ooch jeden Morgen uff de Köbbe poliert. Ja, det müssen Se mal sehen, Kerr Stürmann, det jibt echte Hornknöppe, davon sin die Leute ooch so reich jeworden.«
   Henrik amüsierte sich über Martins Gesicht, der sehr verblüfft war und dies doch nicht merken lassen wollte, aber über die Umgebung der Häfen, in welchen er landete, war die gute Blaujacke nie hinausgekommen.
   »Na«, meinte er, »die Büffelherde werde ich mir nächstens mal besehen.«
   »Det versäumen Se ja nich, det tun alle Fremden – det is wat Kolossives.«
   Martin, der in seiner Art ebenso beschränkt war, wie Fritze in anderer, kaute an dieser Büffelhorngeschichte, der er nichts entgegenzusetzen wußte, und entfernte sich ziemlich mißgestimmt, im Zweifel darüber, ob das Berliner Kind gewagt habe, ihm auch etwas aufzubinden.
   Lächelnd sah ihm Fritze Fischer nach.
   »Also ihr habt dort eine Herde von zweitausend Büffeln?« fragte Henrik.
   »Zweitausend sin et mindestens«, erwiderte Fritze mit der unschuldigsten Miene.
   »Amerikanische?«
   »Ick jloobe, et sin ooch afrikanische mit mang, genau weeß ick det nich.«
   »Wundert mich sehr, daß die Leute sich noch solche Kosten machen, seitdem man im Garten zu Kew bei London den Büffelhornbaum gezüchtet hat.«
   Fritze sah von der Arbeit auf und forschend in das Gesicht Henriks.
   »Büffelhornbaum?«
   »Hast du noch nichts davon gehört oder gelesen?« fragte Henrik verwundert. »Das ist ja der großartigste Erfolg gärtnerischer Kunst.«
   »Wie denn? Wat denn? Wat is det denn?«
   »Den Gelehrten war es längst bekannt, daß die echten Büffelhörner halb tierischen, halb pflanzlichen Stoffes seien, und es kam nur darauf an, einen Weg zu finden, um diesen pflanzlichen Teil zum Keimen und Wurzelschlagen zu bringen. Nach endlosen Versuchen gelang es denn. Die animalischen Substanzen wurden auf chemischem Weg aus dem Horn entfernt und der Rest gepflanzt. Sie schlugen Wurzel und entwickelten sich zu Bäumen, doch taugten die hornartigen Früchte nichts. Da düngten sie endlich mit Blut, um dem Baum tierische Substanzen zuzuführen, und dies hatte wunderbaren Erfolg. Zwar sind die so gewonnenen Hörner bis jetzt noch klein, aber sie werden mit jedem Jahr größer.«
   »So?« sagte Fritz, »werden se mit jedem Jahr jrößer? Nanu, wo wächst dein Wunderbaum?«
   »Genau da, wo deine Büffelherde von zweitausend Stück weidet.«
   Fritz sah in die lachenden Schelmenaugen und brach dann in ungezügelte Heiterkeit aus. Henrik lachte mit.
   »Siehst du, Berliner, wir Hamburger sind euch gewachsen.«
   »Ja, ick seh' et«, lachte Fritze. »Hamburger, du bist ein Deuwelsjunge mit dem Büffelhornbaum. Nu darum keene Feendschaft nich.«
   »Nein!« entgegnete ihm ebenso vergnügt Henrik.


   Auf Tod und Leben

   Findling, der diese Gewässer zum erstenmal befuhr, hatte mit größter Vorsicht seinen Weg durch die gefährliche Torresstraße gesucht und war fast Tag und Nacht nicht von Deck gekommen. Während der wenigen Stunden, die er schlief, verließ er sich mehr auf den erfahrenen und besonnenen Martin als auf Marholm. Doch jetzt in der Harafurasee gönnte er sich mehr Ruhe. Der Auftrag, den Schatz des verschollenen Konsuls zu heben, kam ihm jetzt, wo das Schiff seine Aufmerksamkeit weniger erheischte, wieder lebendiger zu Sinn. Er hielt das Ganze noch immer für die Ausgeburt eines kranken Gehirnes.
   Während mittschiffs Henrik, Martin und der Schneider sich Wunderdinge erzählten, saß er am Hinterdeck unter dem Sonnenzelt, welches er hatte herstellen lassen, und hing seinen Gedanken nach. Ob er es gleich von der niedrigen Stufe aus, auf welche ihn das Geschick alsbald nach seiner Geburt gestellt, verhältnismäßig rasch zu einer achtbaren Stellung gebracht hatte, so nagte doch das Gefühl, so ganz vereinsamt im Leben zu stehen und auf die Frage: »Woher des Landes und wer waren die Eltern?« die Antwort schuldig bleiben zu müssen, oft schmerzhaft an seiner Seele. Doch nicht allein die Demütigung, die dieses Verlassensein mit sich führte, bereitete ihm Kummer, mehr noch die so vergebliche tiefe Sehnsucht nach einem Wesen, das nach Blut und Seele ihm innig verwandt sei. Wie beneidete er die beiden Jünglinge, den frischen, feurigen, so gut und edel veranlagten Henrik Horsa, den gutmütigen, drolligen Schneider um das Glück, ein liebendes Mutterherz ihr eigen nennen zu können. Er war gut und freundlich im Waisenhaus behandelt worden, und er war heute noch dankbar dafür, aber die gütigste Haushälterin war keine Mutter, der freundlichste Lehrer kein Vater. Sein eigenartiges Wesen hatte ihn verhindert, im Waisenhaus sowohl wie später unter seinen derben, oft rohen Schiffsgenossen, die an natürlicher Begabung und bald auch an Wissen und Können unter ihm standen, Freunde zu finden. Bis auf Kapitän Baggesen war niemand seinem Herzen näher getreten. Henrik, dessen Äußeres für ihn einnahm, wie sein freundliches Wesen, vornehmes Denken und gute Manieren, der eine für seine Jahre nicht gewöhnliche Bildung besaß, hatte bald sein Herz gewonnen, und in einer Stimmung, in welcher die Sehnsucht nach Gütern, die ihm ein herbes Geschick geraubt hatte, mächtig war, hatte er ihm jene vertraulichen Mitteilungen gemacht.
   War Henrik auch für einen Freundschaftsbund mit einem durch die rauhen Stürme des Lebens vor der Zeit gereiften Mann zu jugendlich an Jahren und Empfindungen, so brachte ihm doch Findling ein Wohlwollen entgegen, welches Ähnlichkeit mit dem Gefühl hatte, mit dem man einem jüngern Bruder gegenübersteht.
   Seine Gedanken kehrten, während das Schiff langsam durch die Wellen strich, zu dem Auftrag zurück, den Schatz des Konsuls zu suchen, und als Martin in die Nähe des Hinterdecks kam, rief er ihn an.
   Der Alte trat zu ihm.
   »Hast du einen Marsgasten Hans Evers gekannt, der später in Hamburg Jollenführer war?«
   »Will's meinen, Kaptein; habe mehr als einmal die Back mit ihm geteilt.«
   »War's ein zuverlässiger, ehrenwerter Mann?«
   »Nu, Kaptein, er war ein guter Schiffsmaat, nichts gegen zu sagen, nur mit der Wahrheit nahm er's nicht ganz genau, war mitunter ein Leichtfuß.«
   »Hast du ihn denn auch noch als Jollenführer gekannt?«
   »Habe ihn immer gesehen, wenn ich in St. Pauli vor Anker lag. War ein drolliger Kauz geworden, hatte seine fixe Idee. Nach dem dritten Glas Grog faselte er stets von einem Schatz, den er irgendwo verborgen wußte, und schimpfte auf die Dummheit der Menschen, die ihm nicht die Mittel geben wollten, ihn zu heben, das wußte der ganze Hafen und amüsierte sich daran.«
   Das klang, was die Aussagen des Evers anging, nicht gerade tröstlich.
   »Kennst du den Namen Isenhoit?«
   »Habe den Namen wohl nennen hören, zählten ehemals zu den großen Hansen, die Isenhoits.«
   »Von einem Konsul dieses Namens, der vor Jahren mit dem Schiff zugrunde gegangen, hast du nichts gehört?«
   »Kann mich nicht besinnen, Kaptein, muß all lange her sein.«
   Da bis auf die nicht tröstlichen Mitteilungen über die Zuverlässigkeit des Evers zu der Sache, welche Findling ihrer Eigenartigkeit wegen interessierte, nichts Wichtiges aus ihm herauszubekommen war, verabschiedete er ihn.
   Der Wind war allgemach eingeschlafen und nach kurzer Zeit herrschte völlige Windstille. Luft und Wasser waren so ruhig, daß die Segel matt herniederhingen. Auch die Grundströmung machte sich hier in der Binnensee nur wenig bemerkbar.
   Der »Roland« schaukelte sich leicht auf und nieder wie ein Kahn auf einem Teich.
   Findling wußte, daß Windstillen in diesen Gewässern oft tagelang anhalten. Die Harafurasee ist eingeschlossen von hoch aufragenden umfangreichen Inseln und liegt nicht in den Linien, welchen die großen Luftbewegungen folgen. Dieses erzwungene Stilliegen war ihm wenig angenehm.
   Gegen Norden zeigten sich dem Auge, nur wenige hundert Faden entfernt, zwei anmutig gestaltete, bewaldete Inseln. Ein reiches Tierleben schien dort heimisch zu sein, denn zahlreiche Wasservögel belebten die kleinen Buchten, Papageien und andere buntgefiederte Waldbewohner schwangen sich auf den Zweigen umher.
   Zu Henrik, der neben ihm am Vollwerk stand, sagte Fritze, der wie sein Gefährte bewundernd auf das Tropenbild schaute: »Du, wat meenste, Hamburger, wenn wir so een paar von die Paradiesvögel mit nach Hause bringen könnten, det wär' aber 'n Jux vor die janze Reezenjasse.«
   Auch in Henrik war die Sehnsucht lebendig, eine Erinnerung an diese farbige Tropenwelt mit hinwegzunehmen, und er äußerte die Absicht, um Erlaubnis zu bitten, an Land gehen zu dürfen.
   »Denn bitte aber vor mir ooch, ick möchte meine Beene mal gehörig vertrampeln.«
   Die Mütze in der Hand, nahte sich Henrik dem Hinterdeck.
   »Komm her, was willst du?« rief ihm Findling entgegen.
   Henrik trat vor ihn und sagte mit seinem einnehmenden Lächeln: »Ich möchte um die Erlaubnis bitten, einige von den Enten und Papageien dort für den Herrn Kapitän schießen zu dürfen.«
   »O wie liebenswürdig, und der Herr Horsa möchte natürlich auch einige von jenen Papageien mit nach Hause nehmen?«
   »Ja, Herr Kapitän – dort würde es große Freude bereiten. Auch Fritz Fischer sehnt sich danach, seiner Mutter Sonntagshut mit einem echten Paradiesvogel zu schmücken.«
   Findling stand auf, ließ seinen Blick über den Horizont schweifen und sagte dann freundlich: »Nehmt die Jolle, Jungs, und geht an Land. Der Schneider darf mit. Bei dieser See kann jedes Kind rudern.«
   Diese Erlaubnis enthielt für die beiden jungen Leute die Aussicht auf ein seltenes Vergnügen. Die Jolle ging nieder, Findling gab Henrik seine eigene Doppelflinte sowie Patronen mit Dunst und grobem Schrot, und vergnügt ruderten der Hamburger und Fritze nach der nahen Küste. Zwei Stunden Urlaub hatte ihnen der Kapitän bewilligt. Henrik war ein vortrefflicher Schütze und erlegte schon vom Boot aus zwei Enten. Sie landeten, legten die Jolle fest und begannen sich nun nach den bunten Vögeln umzuschauen, die zahlreich die Uferbäume belebten. Besonders erregte ein seltsamer Vogel, dem vom Haupt zwei lange, dünne, auffallend gestaltete Federn, länger als der ganze Körper, herniederhingen, nicht nur Fritzes, sondern auch Henriks bewunderndes Staunen, der weder in den berühmten Vogelsammlungen seiner Vaterstadt, noch in ornithologischen Werken ähnliches gesehen hatte.
   »Du, Hamburger«, schrie der entzückte Berliner, »von die schieß ein paar. So 'n Ding soll de Alte un de Line uff'n Hut haben, wenn wir Sonntags zu'n Jrunewald jehn, denn platzt awer de olle Piefken vor Neid und Jalle.«
   Henrik schoß nach einem schönfarbigen langgeschwänzten Papagei, traf ihn auch, aber der Knall erregte einen furchtbaren Aufruhr in der Vogelwelt; wild flatterte alles von Ast zu Ast und erhob mißtönendes, betäubendes Geschrei. Da die schönen Vögel nach mehreren gut gezielten Schüssen scheu wurden und nicht mehr aushielten, folgten ihnen die beiden Jünglinge in den Wald.
   Zum erstenmal sahen sie sich staunend von den Wundern der Tropennatur umgeben, die sie bis jetzt nur von fern erschaut hatten. Seltsame, nie gesehene Pflanzen, farbenprächtige Blüten von wunderlichen Formen, mit denen große Schmetterlinge an Glanz und Schönheit wetteiferten, Schlinggewächse, die sich von Baum zu Baum in kühnen Windungen hinzogen, dichtbelaubte Waldesriesen, welche zum Himmel aufragten, andere, welche niedergesunken am Boden der Vernichtung entgegengingen, boten sich ihren staunenden Augen; die feierliche Stille, das düstere Halbdunkel unter den Bäumen, welches nie ein Sonnenstrahl zu erhellen schien, dies alles erfüllte das Gemüt der jungen Leute mit Schauern der Ehrfurcht. Wie in eine Märchenwelt fühlten sich die Kinder des Nordens versetzt, in jene phantastische Welt, welche in ihre Kindesträume hereinragte.
   »Det is aber wirklich scheene hier«, nahm endlich Fritze das Wort, »det is doch noch anders wie der Tierjarten. Nur 'n bißchen duster is et.«
   »Es ist die Tropenwelt in ihrer ganzen Pracht und Macht«, sagte Henrik in staunender Bewunderung.
   »Ja, scheene is et, aber 'n bißchen kellerig mang die ollen Bäume, meenste nich?«
   Henrik, in den neuen und überwältigenden Anblick versunken, antwortete nicht. Fritze, bei dem der Eindruck dieser so überreichen Vegetation weniger tief haftete, sagte dann: »Aberst, nu laß uns 'n paar von die Paradiesvögel schießen, det wir ooch wat mitbringen.«
   Sie schritten in den Wald hinein, bahnten sich ihren Weg durch Büsche und Schlinggewächse, überkletterten morsche Bäume und stiegen allgemach höher und höher an der Berglehne empor. Es gelang Henrik, zwei von den ersehnten Vögeln zu schießen, und dann dachte der besonnene Jüngling an den Heimweg, den er nach dem kleinen Kompaß an seiner Uhr bestimmte. Sie stiegen mit ihrer Beute bergab, um die Meeresküste zu gewinnen, als ein heftiger Donnerschlag sie plötzlich aufschauen ließ. Der Himmel war ihnen durch das dichte Laubdach verdeckt und ein Luftzug, hier im dichten Urwald, nicht zu spüren. Henrik erschrak über diese jähe Veränderung des Wetters, die sicher von starker Luftströmung begleitet war, und setzte eilends seinen Weg fort. Unter großen Anstrengungen erreichten sie nach einer halben Stunde den Strand und sahen den mit grauem Dunst überzogenen Himmel über sich. Die See zeigte Bewegung, und von Osten blies es scharf. Das Auge suchte das Schiff. Dort stand es wohl drei Meilen weit unter kurzen Segeln und lavierte hin und her. Es war klar, der sich erhebende Ostwind hatte es von der Insel abgetrieben, während sie im Wald weder die Sonne sahen noch einen Lufthauch spürten.
   Henrik war bereits erfahren genug, um zu wissen, daß es gelte, den »Roland« vor dem Ausbruch eines schweren Wetters zu erreichen, solange er noch am Wind segeln konnte.
   »Vorwärts!« rief er und lief nach der Stelle zu, wo die Jolle lag. Glücklicherweise führte diese immer Mast und Segel mit, so auch jetzt. Kräftig hob er den Mast empor und setzte ihn ein, Fritze befehlend, die Schote des Klüvers zu festigen, während er das Segel losband.
   Er fühlte das Anschwellen des Ostwindes, sah wie die Wogen sich zu heben begannen und übergab das Segel nur sehr verkürzt dem Luftzug. Sich ans Steuer setzend, zog er die Schot an, und das Boot schoß wie ein durchgehender Renner über die Wellen. Schweigend saß Fritze neben ihm und starrte auf die blasenwerfenden Wellen. Sie liefen vor dem Wind ab und machten schnelle Fahrt.
   Henrik war ein überaus kräftiger Jüngling, geübt, ein Boot auch in rauhem Wetter zu führen, und hielt das Steuer mit eherner Kraft. Doch nie hatte er bis jetzt eine solche See im Boot befahren, und auch der »Roland« war bisher immer von gutem Wetter begünstigt worden. Er wußte, daß sie rettungslos verloren waren, wenn die Jolle einen Augenblick außer Fahrt kam, die nächste Welle hätte sich mit aller Wucht daraufgestürzt und sie versenkt. Ja er wußte, daß, wenn das Boot in seiner Schnelligkeit nachließ, er Wasser von achtern bekommen würde, was ebenfalls Vernichtung bedeutete. Gern hätte er gewendet, wiederum die schützende Bucht der Insel zu suchen; das war ein vergeblicher Wunsch, denn nie konnte die Jolle bei diesem Luftzug am Wind fahren, sie konnte nur von ihm ablaufen. In steigender Verzweiflung sagte er sich, daß es bei diesem Wellengang ganz unmöglich sein würde, an Bord zu gelangen – da – sein Herz bebte krampfhaft zusammen – der »Roland« hatte vor dem ausbrechenden Sturm wenden müssen und lief jetzt gleichfalls vor dem Wind ab, sich mit jeder Sekunde weiter von ihnen entfernend. Diese Bewegung des Schiffes, durch die eherne Notwendigkeit erzwungen, glich einem Todesurteil für die Jünglinge. Aber Henrik war von jener kühnen deutschen Art, die auch in drohender Gefahr des Unterganges nicht verzweifelt. Mit immer gleicher Ruhe, Kraft und Geschicklichkeit steuerte er das Boot durch die schäumenden Wellen, dem brausenden Sturm Trotz bietend.
   Die Jolle hielt sich unter ihrem Steuermann wundervoll. Während das ausdrucksvolle Gesicht Henriks einen Zug jenes Mutes verriet, der sich vor nichts fürchtet und trotzig den gebotenen Kampf aufnimmt, saß Fritz Fischer blaß neben ihm, merkbar zitternd. Jetzt nahm die Jolle Wasser auf. Da warf sich Fritz auf die Knie und betete laut. Henrik aber herrschte ihn an: »Bete im Herzen und schöpfe das Wasser aus.«
   Und gehorsam begann der Schneider das Wasser mit dem im Boot befindlichen Gefäß und seiner Wachstuchmütze auszuschöpfen. Die Wolken hingen so dunkel hernieder, die Luft war so voll Sprüh und Gischt, daß das Auge kaum hundert Schritt weit sehen konnte.
   Stunde auf Stunde verrann, und nach wie vor jagte die Jolle in wilder Eile vor dem Sturm her, jeden Augenblick in Gefahr, den Wind von der Seite zu bekommen, sobald sie sich aus einem Wellental, wo sie für kurze Zeit den Wind verlor, wieder erhob. Aber Henrik hatte nicht vergeblich seine Studien in den wilden, kurzen Wellen der Nordsee gemacht, und stetig gelang es ihm, dieser Gefahr mit starkem Arm zu begegnen. Fritz schöpfte Wasser und betete still, Henriks ganzes Denken war von der Lage des Fahrzeugs in Anspruch genommen.
   Hoch erhob es sich auf einer Welle und, da – schattenhaft zeigte sich zu seiner Linken Land. Mit kräftiger Hand drückte Henrik das Steuer nieder und ließ die Jolle zwei, drei Strich der Küste sich zuwenden; er wollte das Segel schärfer anziehen, aber er vermochte es nicht – er durfte das Steuer nicht loslassen – aber sie näherten sich dem Land – schon war die Küstenbildung deutlicher zu erkennen. Noch einmal wagte er es, das Steuer herabzudrücken, der Bug richtete sich schärfer auf das Land, sie kamen näher. Fritze stöhnte, denn das Boot nahm mehr Wasser auf als vorher, aber mit der Kraft der Verzweiflung schöpfte er es aus. Bis auf zwanzig Schritt waren sie dem Ufer nahegekommen und jagten daran hin, doch an ein Landen war nicht zu denken, die Brandung war zu stark. Eine scharfe Landzunge zeigte sich dem Blick, leewärts, hinter dieser war das Wasser ruhig – mußte es ruhig sein – lange konnte sich das Boot nicht mehr halten.
   Henrik hielt nahe auf die Spitze zu – in ihrer Höhe ließ er das Segel flattern und riß mit aller Kraft das Ruder backbord. Wie ein Kreisel gehorchte die Jolle – wendete – und lag gleich darauf in dem verhältnismäßig ruhigen Wasser einer kleinen geschützten Bucht. An einem Schilfsaum glitt sie hin; Henrik faßte die starken Halme, trieb das Boot in das Schilf hinein – und fast bewegungslos lag die Jolle da.
   »Gott sei Dank!« sagte Henrik aus der Tiefe seines Herzens.
   »Ja«, wiederholte Fritze in vor Erregung zitterndem Ton, »ja, Jott sei Dank – det war ne scheene Jondelfahrt mit die Schöpfkelle.«
   Der Sturmwind fuhr über die Geretteten hin, sauste in den Bäumen hoch über ihnen einher, das Geräusch der Brandungswellen drang zu ihren Ohren, aber hier lagen sie sicher.
   Endlich sagte Fritz: »Wat nu, Hamburger?«
   »Komm, wir wollen das Wasser ausschöpfen und dann an Land gehen.«
   Sie taten um so eifriger, was er sagte, da sie beide von oben bis unten durchnäßt waren und fröstelten; bald war die Jolle leer.
   Der Sturm schien nachzulassen, wenigstens drang das Geräusch von Wellenbrausen und Rauschen in den Lüften schwächer zu ihnen, auch der Himmel schien sich aufzuheitern. Statt sich mühsam durch das dichte Schilf nach dem Land hinzuarbeiten, trieb Henrik das Boot wieder in die Bucht hinaus, die, vor dem Wind vollständig geschützt, nur leichte Bewegung der Wasserfläche zeigte. Ein Blick auf das Meer lehrte, daß die Wellen bereits niedriger gingen und die Luft fast klar war. Deutlicher sahen sie, welch ein anmutiger Nothafen sich ihnen aufgetan hatte! Die Bucht war schmal und zog, sich verengend, einige hundert Schritt ins Land hinein. Eingefaßt von Schilf und Bäumen, nur an wenigen Stellen zeigten sich Sand und Steingeröll, bot sie ein Bild stillen Friedens im Gegensatz zu dem wildschäumenden Meer. Henrik nahm die Riemen und fuhr langsam am Ufer hin in die Bucht hinein. Noch wiegten sich hoch oben an Land die Wipfel der Kokospalmen im Luftzug, fast gespenstisch, mit unheimlichem Geräusch flatterten die großen Blätter umher, aber am Wasserrand war es still, kaum ein Zweig regte sich. Als sie die Tiefe der Bucht erreichten, hielten sie vor der Mündung eines klaren Baches, an dessen Ufern sich weiterhin seltsame Felsgebilde erhoben. Henrik trieb das Boot an eine flache, sandige Stelle in der Nähe der Mündung, legte es fest und beide gingen ans Land. Riesige Farnkräuter, Mimosen, verschiedene Palmenarten traf ihr Auge. Dazwischen blühende Schlingpflanzen, welche sich von Baum zu Baum zogen. Hochauf ragten schlanke Palmen, deren Früchte hie und da zerstreut am Boden lagen. So unberührt lag alles da, als ob es eben erst aus des Schöpfers Hand hervorgegangen sei; nichts Lebendes war zu gewahren.
   Traurig sagte Fritze: »Det wird wohl so 'ne Jeschichte wie Robinson seine werden – ick seh et kommen.«
   »Na, Fritze, wir sind dann wenigstens Zweisiedler und so noch immer besser daran als er.«
   »Meenste? Wat wird denn nu aus uns werden?«
   »Nun, sobald Findling kann, kehrt er zurück und holt uns ab.«
   »Ick will det wünschen, denn an so ne wüste Insel rumzuklettern hab ick keene Lust. Wenn ick nur een kleenes Feuerstübchen hätte, ick habe et so in die Knochen.«
   »Komm, wir wollen einen Platz suchen, wo wir ein Feuer anzünden und nächtigen können.«
   Sie schritten am Ufer des Baches entlang und schauten sich überall aufmerksam um. Die grauen Felsen, welche sie vor sich sahen, waren zerklüftet und schienen Zufluchtsorte zu bieten. Nach kurzer Frist sahen sie eine dunkle Felsöffnung vor sich und gingen darauf zu. Henrik war vorsichtig genug, sich am Boden nach Spuren wilder Tiere umzusehen, die in dem feinen Sand, der vor den Felsen lag, leicht bemerkbar sein mußten. Doch nichts zeigte sich dem forschenden Blick, was auf solche Gefahr hindeuten konnte. Sie schauten in die Öffnung hinein und gewahrten, daß sie wenig umfangreich sei, doch Raum genug für sie beide bot. Auch fiel etwas Licht durch den Eingang, um selbst im Hintergrund noch ein Halbdunkel zu erhalten. Sie traten ein und fanden sich in einer länglichrunden Höhle von der Größe und Höhe eines geräumigen Zimmers. Sie schien durchaus trocken zu sein. Auch hier zeigten sich keine Spuren, welche darauf hindeuteten, daß sie Tieren zum Aufenthaltsort diene.
   »So, Fritz, hier wollen wir uns zunächst niederlassen«, sagte Henrik. »Geh und suche trockenes Holz, damit wir Feuer bekommen und uns trocknen können, ich will das Boot heranholen.«
   Fritz ging hinaus und sah sich nach trockenem Holz um, während Henrik die Jolle den Bach hinauftrieb.
   Fritz kehrte bald mit einem Arm voll Holz zurück, und Henrik, der die Flinte, die Patronen und den Beutel mit Schiffszwieback, der nach Findlings Anordnung nebst einem Fäßchen Wasser in jedem Boot fortwährend beigestaut sein mußte, heraufgeschafft hatte, zündete vermittelst des Inhalts seiner Zündholzbüchse das Feuer an. Bald loderte es hoch und lustig empor und erfüllte die Höhle mit einer angenehmen Temperatur, welche den durchnäßten Seefahrern sehr wohl tat. Zwieback kauend und sich wärmend saßen sie am Feuer. Halt! wozu hingen denn die Kokosnüsse draußen. Henrik lief hinaus und kam bald mit zwei Früchten zurück, bei deren Schütteln das Geräusch verriet, daß der Kern noch flüssig sei. Mit einiger Mühe entfernten sie die äußere Schale und saugten durch eine der von der Natur gemachten Öffnungen, deren weichen Pfropfen sie mit dem Taschenmesser beseitigten, den erfrischenden Inhalt.
   »In welche Himmeljejend sin wir denn nu, Hamburger?« fragte endlich Fritz.
   »Der Sturm kam aus Nord und ich vermute, wir müssen südlich der Sundainseln stehen.«
   »Lauter Inseln«, sagte verdrießlich der Schneider, »scheene Jejend.«
   »Ich vermute, wir sind an ein unbewohntes Eiland verschlagen –«
   »Fehlte ooch noch, det hier braune Menschenfresser rumliefen und Beefsteak aus uns machten.«
   »Nur ruhig, in zwei, höchstens drei Tagen sind wir wieder an Bord des Schiffes. Findling weiß, wo er uns zu suchen hat. Hier droht uns keine Gefahr.«
   »Na, ick will et wünschen, ick habe jar keene Lust, den wilden Mann zu machen.«
   »Zunächst, Fritze, wollen wir uns für die Nacht behaglich einrichten. Heute ist nichts mehr zu unternehmen, auch wird es bald dunkel. Laß uns noch Holz herbeiholen, damit wir das Feuer die Nacht über erhalten können, es möchten sich doch allerlei gefährliche Bestien hier herumtreiben, und besorge du noch ein paar Arme voll Moos. Ich trage Segel, Riemen und die Steuerpinne herein, für alle Fälle, und dann wollen wir morgen sehen.«
   »Glaubst du denn, daß der ›Roland‹ in ein paar Tagen wieder hier ist? Ick nich. Ick weeß, wie det jeht uff die Schiffe. Eenmal bläst et aus die Ecke, un denn aus die andre, un immer aus die unrechte; manchmal bläst et ooch jar nich. Ick jloobe nich, det der ›Roland‹ wieder kommt.«
   »Was für Einbildungen! Torheit! Mach kein so verdrießliches Gesicht, Schneiderseele.«
   »Ick weeß, wie det mit die Einsiedler zujeht, die sitzen immer jahrelang uff so 'ne verwünschte Insel.«
   »Unsinn. Geh, hole Moos, Fritz, morgen leuchtet uns nach Sturm und Ungewitter die Sonne wieder, heute wollen wir einen langen Schlaf tun, ›denn dieses Tages Qual war groß‹.«
   Sie brachten Moos herbei für das Nachtlager, Henrik Ruder und Segel, und dann ließen sich beide an dem Feuer nieder.
   »Wer mir das vor einem halben Jahr gesagt hätte«, begann Henrik, »daß ich heute mit einem Herrn aus der ›Reezengasse‹ auf einer einsamen Insel des Indischen Ozeans sitzen würde, den hätte ich ausgelacht.«
   »Ick ooch, ick habe jar keen Talent zu wilde Abenteuer.«
   »Du hast dich aber doch so tapfer auf dem ›Roland‹ geschlagen, als die Wilden da waren.«
   »Nu, ja«, lächelte der geschmeichelte Schneider, »en Stücker vier hab ick hinjeholfen.«
   Aha, dachte Henrik, jetzt sind es schon vier, das Dutzend wird voll, ehe wir heimkommen.
   »Aber 'n so rechtes Pläsiervergnügen habe ick an so wat nich.« Nach einer Weile fuhr er fort: »Du bist doch 'n janz reputierlicher Mensch, Hamburger, hast so 'ne feine Art, un kannst ooch Franzesch, ick habe mir immer jewundert, wie du unter det rohe Matrosenvolk jekommen bist.«
   »Rohe Matrosen?«
   »Na, Pli hat keener nich, det wirst de doch zujeben müssen; wie bist du denn eegentlich darunter jeraten?«
   »Ich bin ins Meer geworfen worden, und sie haben mich aufgefischt.«
   »Spaß.«
   »Ernst.« Henrik erzählte ihm nun, auf welche Weise er auf den ›Roland‹ gekommen war. Staunend horchte der Schneider.
   »Na, det nenn ick Jlück, da haben sie dir aber jleich ordentlich mit Meerwasser jetooft.«
   »Siehst du, Junge«, fuhr Henrik fort, »von Jugend auf liebe ich den kühnen Beruf des Seemanns, es muß im Blut liegen; ich glaube, meine sämtlichen Vorfahren waren verwegene Seeleute. Ein altes Friesengeschlecht, hausten wir Horsas seit Jahrhunderten an der Küste. Mein lieber Vater befuhr das Meer wie seine Väter und fand den Tod des Seemanns in seinem Schoß. Meine gute Mutter wollte mich vor den Gefahren der See bewahren, aber das Geschick ist mächtiger als Menschenwille, Gottes Hand schleuderte mich in die wilden Wasser, aus denen ich erstand als Seemann, zu dem ich vom Schicksal augenscheinlich bestimmt bin.«
   »Und dein Vater ist auch auf der See zujrunde jejangen?«
   »Versunken im Meer, von Schiff und Mannschaft hat man niemals wieder gehört.«
   »Und doch trautest du dir uffs wilde Wasser?«
   »Pah, der Soldat endet ruhmreich auf dem Schlachtfeld, der Seemann findet sein Grab im Meer und die Meereswelle singt ihn zur ewigen Ruh, das ist Mannesende.«
   »Ick habe da keene Leidenschaft vor.«
   Während Henrik in Gedanken verloren dasaß, fuhr der Schneider nachdenklich fort.
   »Na, du bist woll über Hals und Kopf in det Seeleben rinjekommen. Also een eigenes Schiff hattest du oder Jacht, wie du sprichst? Dann bist du woll een reicher Junge?«
   »Das nicht, aber wir haben unser Auskommen. Die Segeljacht verdanke ich meinem Onkel Asmus.«
   »Is det 'n Erbonkel?«
   Henrik lachte über die Frage, sagte aber dann ernst: »Nun, wenn der gute Alte, was Gott noch recht lange hinausschieben möge, einmal die Augen schließt, so werden Onno und ich wohl seine Erben sein, da er keine Kinder hat; wir sind seine leiblichen Neffen.«
   »Sagtest du nicht vorher, daß der Onno, wie du ihm nennst, den Segelbaum uff dir losjelassen hat, der dir in't Wasser warf?«
   »Das habe ich nicht gesagt – ich erzählte dir nur, er habe an der Brasse gesessen, als ich nach vorn ging.«
   »Nu, ja«, und Fritze pfiff ein Lied vor sich hin.
   »Was meinst du damit?«
   »Icke? O nischt nich.«
   »Gewiß meinst du etwas, heraus damit.«
   »Na, ick meene nur, det et doch komisch is, dat der eene Erbe an de Maschine sitzt und se jerade zu rechter Zeit losjeht, um den andern Erben in det Wasser zu werfen.«
   Henrik wurde sehr bleich bei diesen Worten.
   »Schäme dich«, sagte er dann, »einen solch abscheulichen Verdacht auszusprechen, ja so etwas auch nur zu denken.«
   »Na, nichts für unjut, ick meene man bloß; et sin schon janz andere Sachen passiert.«
   Henrik war sehr verstimmt durch des Schneiders Worte und sagte nach einiger Zeit kurz: »Wollen schlafen gehen.«
   Er warf noch Holz auf das Feuer, beide suchten dann die in einer Ecke bereitete Lagerstatt auf und deckten sich mit dem trocken gewordenen Sprietsegel zu.
   Der Schneider schlief bald fest, Henrik aber warf sich noch lange unruhig hin und her.


   Der Waldmensch

   Schon stand die Sonne am Himmel, als die beiden erwachten. Da nichts anderes übrig blieb, stillten sie ihren Hunger mit Kokosmilch und Zwieback. Henrik erklärte seine Absicht, die Insel zu umsegeln.
   »Det würde ick nich tun«, meinte Fritz.
   »Warum nicht?«
   »Na, siehst de, jede richtige Insel hat doch ooch 'n Berg, da haben wir et doch billiger, wenn wir 'ne Kletterpartie ruff machen, wir können uns doch von da weiter in die Welt umsehn.«
   Dieses letzte Argument leuchtete Henrik ein und er beschloß, den höchsten Punkt der Insel zu ersteigen, um Umschau zu halten.
   »Und dann kannst du mit deiner Donnerbüchse ooch wat Eßbares schießen, denn mit die Kokosbrüh und den ollen Zwieback is det man mau.«
   »Ei, ich habe ja noch die beiden Enten in der Ducht der Jolle. Fritze, wir wollen gleich Braten frühstücken. Mach Feuer an.«
   Er lief nach dem Boot und kehrte gleich darauf mit der Jagdbeute zurück, die Papageien waren in der Not des Augenblicks achtlos weggeschleudert worden.
   Sie brieten an dem hellbrennenden Feuer eine der Enten, so gut es gehen wollte, und sie mundete Henrik herrlich. Fritz aber, der überhaupt bleich und angegriffen aussah, gewann dem Frühstück wenig Geschmack ab.
   Etwas Zwieback und den Rest der gebratenen Ente mitnehmend, gingen sie in den Wald hinein, nach dem höchsten Punkt der Insel suchend.
   Nach einem beschwerlichen Aufstieg durch dichtverschlungenen Wald fanden sie ihn endlich in einer Felskuppe, welche einen Überblick über die ganze Insel und weithin über das Meer erlaubte.
   Henrik führte noch sein altes Taschenteleskopbei sich und durchforschte nun eifrig den Horizont. Zuerst nach Westen, von wo der »Roland« ansegeln mußte. Doch nichts war zu gewahren. Henrik hatte auch nichts zu sehen erwartet, da der Wind immer noch aus Ost kam. Nach Norden hin aber glaubte er, Land zu erkennen, obgleich es sich nur wie ein dünner Nebelstreif zeigte. Die Insel, auf welcher sie gejagt hatten, war unter dem Horizont. Nachdem sie sich einige Zeit oben aufgehalten, stiegen sie wieder hinab, sich den Weg sorgfältig einprägend, um ihn leicht wieder finden zu können. Fritz klagte unterwegs über Schwere im Kopf, über Frost und legte sich matt danieder, als sie ihren Zufluchtsort wieder erreichten. Henrik holte ihm Kokosnüsse, die ihn auch erquickten.
   Er sagte sich nun, daß noch Tage vergehen konnten, ehe der »Roland« zurückkam und der wenige Zwieback bald aufgebraucht sein würde, er also für Nahrungsmittel sorgen müsse; so beschloß er, da er außer den Kokosnüssen die Früchte von Baum und Strauch nicht kannte, zu jagen. Er war ein guter Schütze und verstand, den flüchtigen Bock wie die Bekassine zu treffen. Doch mit der Fauna dieser Gebiete war er nicht bekannt; Papageien, Kakadus hätten sich leicht schießen lassen, ob sie aber eßbar waren, wenn nicht Heißhunger das Gericht würzte, war eine zweite Frage. Außerdem mußte er sparsam mit der Munition umgehen. Ihm stiegen auch allerlei Erinnerungen aus den unzähligen Robinsons, welche die deutsche Literatur aufweist, empor; in diesen hatten die Schiffbrüchigen immer das Glück, das zu finden, was sie gerade brauchten, aber die Wirklichkeit mochte wohl nicht den phantastischen Gemälden der Verfasser der Robinsonaden entsprechen.
   Der Tag wurde heiß, und Henrik zog sich, um sich vor der Sonnenglut zu schützen, in die Höhle zurück, in welcher Fritze fiebernd daniederlag. Er gab ihm wiederholt Wasser und deckte ihn mit den Segeln und trockenem Moos zu, um ihn in Schweiß zu bringen, mehr konnte er nicht für ihn tun. Er selbst aß Zwieback und trank Kokosmilch. Da nichts versäumt werden durfte, um die Annäherung des »Roland« zu gewahren, stieg er, als die Hitze nachgelassen hatte, noch einmal auf den Berg, um Umschau zu halten, doch zeigte sich dem Blick nichts, was einem Segel ähnlich war; seine Vermutung aber, daß sie nordwärts Land in Sicht hatten, wurde durch wiederholte Beobachtungen vermittelst des Glases zur Gewißheit. Zeitig vom Gipfel aufbrechend, um nicht von der Nacht im Wald überrascht zu werden, schoß er unterwegs auf ein durch die Büsche schlüpfendes, einem Stück Rehwild ähnliches Tier, welches auch im Feuer zusammenbrach. Als er es näher betrachtete, fand er, daß es ein seltsames Gemisch zwischen Hirsch und Wildschwein darstellte. Es trug die Spieße eines jungen Stückes Rotwild und führte im Gebiß starke Fangzähne. Ohne sich auf naturwissenschaftliche Untersuchungen einzulassen, und da er glaubte, daß es kein übles Stück Wildbret sein dürfte, nahm er es weidgerecht aus und warf es auf die Schultern, das Tier wog wohl dreißig Pfund. Dies hatte seinen Heimweg etwas verzögert und er kam an der Küste an, als die Sonne eben sinken wollte. Auf der Oberfläche der Bucht sah er etwas auf das Land zuschwimmen, und da er vermutete, es möchte eine Ente sein, genau vermochte er es der Waldesschatten wegen, welche auf dem Wasser lagen, nicht zu erkennen, so ließ er seine Beute, deren Verwendbarkeit für die Küche ihm nicht ganz zweifellos war, sinken, um die Ente zu schießen. Mit maßlosem Erstaunen sah er einen Tiger aus dem Wasser auf das Ufer steigen und sich die Nässe aus dem Fell schütteln. Das, was er für eine Ente gehalten, war der Kopf des Tieres gewesen. Auch wußte er nicht, daß die Tiger der Sundainseln oft große Strecken schwimmend zurücklegen. Das Tier war kaum dreißig Schritt von ihm entfernt. Der Tiger windete in geduckter Stellung und mußte wohl Witterung von ihm bekommen haben, denn er kauerte sich nieder und sog hastig die Luft ein. Henrik sah sich um.
   Der einzig denkbare Zufluchtsort war die Höhle, aber da sie zu weit entfernt und der Weg dahin ohne Deckung war, mußte ihn die Bestie in zwei Sprüngen erreichen, wenn er dorthin fliehen wollte. Henrik war entschlossen, sich zu wehren, wenn das Tier ihn angreifen sollte. Dies schien der Fall zu sein, denn der Tiger wand sich auf dem Bauch den Bäumen, hinter welchen Henrik stand, näher. Der bedrohte Jüngling hatte zwei Schüsse in der Flinte, der rechte Lauf war mit Dunst geladen, der linke mit Hühnerschrot. Schwache Waffen gegen einen Tiger. Aber Henrik behielt kaltes Blut.
   Das Tier war auf fünfzehn Schritt an ihn herangeschlichen und seine grünen Lichter glänzten in wilder Gier herüber. Töten kann ich ihn mit Dunst nicht, sagte sich Henrik, aber vielleicht blenden, und den zweiten Lauf feuere ich erst ab, wenn ich ihn dem Tier in den Nacken setzen kann. Wiederum kroch das Tier vorwärts – es legte sich zum Sprung nieder – kaum zwölf Schritt entfernt. Da hob der Jüngling langsam die Flinte, hielt fest auf die Mitte zwischen die beiden Lichter und gab Feuer.
   Gleich einem aufspringenden Gummiball schnellte der Tiger unter furchtbarem Gebrüll hoch in die Luft und fiel fast auf derselben Stelle, von wo er aufgesprungen war, nieder, zitternd und sich wild die Flanken peitschend.
   Atemlos stand Henrik da.
   Von neuem brüllte der Tiger furchtbar auf und flog in wildem Sprung wohl zwanzig Fuß weit vor, aber nach einer andern Richtung als der, in welcher Henrik weilte. Dort stand er wieder gebeugten Kopfes und windete nach dem Wald hin.
   Das benutzte Henrik, um nach der Höhle zu laufen. An seine Jagdbeute dachte er nicht. Noch war Glut vorhanden, er warf rasch von dem gesammelten Holzvorrat darauf, und da das Feuer, des Rauchabzugs wegen, nahe dem Eingang angelegt war, durfte er sich in einiger Sicherheit wähnen. Er glaubte zwar, aus dem Gebaren des Tigers schließen zu dürfen, daß sein Schuß ihm die Sehkraft zerstört habe, doch war er dessen nicht gewiß.
   Die Nacht war mit der diesen Breiten eigenen Schnelligkeit hereingebrochen. Endlich floß Henriks Blut ruhiger durch die Adern und er hörte das Stöhnen Fritz Fischers zu seinem Ohr dringen. Von neuem erschütterte ein Wutgebrüll des Tigers die Luft, doch klang es aus weiterer Entfernung.
   »Hamburger«, sagte der Schneider schwach, »wat is denn das? Det is ja wie in die Menagerie!«
   »Ja, und ich bin zufrieden, wenn wir nicht noch nachträglich das Eintrittsgeld bezahlen müssen.«
   »Na, mir ejal. Hamburger, komm een bisken bei mir.«
   Henrik ging zu dem von heftigem Fieber durchschüttelten Gefährten.
   »Ick jloobe«, sagte der Schneider mit schwachem Ton, öfter unterbrochen von Stöhnen und Zähneklappern – »ick jloobe, ick mache et nich lange mehr – mir is janz miserabel.«
   »Da sei Gott vor, Fritze. Du hast dich stark erkältet, und das geht auch wieder vorüber.«
   »Oder ooch nich. Na, Hamburger, mir is et nur um die alte Frau leid, weeste, sie hat et schwer, un ick hätte ihr jerne een bisken uff de Beene jeholfen.« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Tu mir die eenzigste Liebe – wann mir der Sensemann abjeholt hat, un schreib een Brief an de Alte, Reezenjasse 17 in't zweete Hinterhaus – und schreib ihr – ick hätte ihr immer lieb jehabt und ick könnte nicht vor, daß ick hier so als Robinson uff eene wüste Insel abjeschrammt wär – ick hätt et nich besser machen können.«
   Das Groteske, das in diesen Äußerungen des Berliners lag, verschwand durchaus vor dem Ton herzlicher Liebe zu seiner Mutter und der ruhigen Ergebung in sein Geschick. Henrik war auf das tiefste gerührt.
   »Irüße ooch die Line, et is 'n Prachtmächen, spielt uffs Klavier Walzer un ›Lang, lang is et her‹, und jrüße den August und den Jule, un se sollen man von de Inseln wegbleiben und von de Menschenfresser – et kommt nischt bei raus, et jeht mir so im Kobb rum – et –«
   Ein furchtbares Gebrüll des Tigers ließ sich von neuem hören.
   »Hurra!« schrie Fritze, »Hurra! Vier Jroschen Entree –« Seine Gedanken verwirrten sich augenscheinlich, denn es folgten sinnlose Redewendungen oftmals von heiterm Lachen unterbrochen. Unaufhörlich beschäftigte sich der Kranke mit seiner Familie und den Erinnerungen an seine ärmliche und doch in dieser Erinnerung so freudevolle Vergangenheit. Hie und da ertönten noch von fernher zornige Laute des Tigers dazwischen.
   Doch die Natur war stärker als die Schrecken draußen und die der nahen Umgebung, Henriks Augenlider sanken nieder – und bald lag er in tiefem Schlaf.
   Als er erwachte, hörte er den im Delirium liegenden Fritze singen. Zu seinem tiefen Schrecken fand er, daß sein Zustand sich verschlimmert hatte. Er holte ihm Wasser und versuchte, ihm Kokosmilch einzuflößen, aber der bewußtlose Kranke verweigerte beides anzunehmen. Fritz war in einem Zustand, der Henrik das Schlimmste befürchten ließ. Er war in Verzweiflung, daß er kein Mittel besaß, ihm zu helfen. Es war noch ein Rest Zwieback vorhanden und Henrik kaute an einem der harten Stücke herum, es von Zeit zu Zeit mit Kokosmilch, die ihm übrigens schon herzlich widerstand, anfeuchtend. Dann fiel ihm seine Beute von gestern ein, welche unweit lag. Er spähte vorsichtig zur Felsöffnung hinaus, ohne etwas Verdächtiges zu gewahren; er nahm die Flinte und, sie schußfertig in der Hand tragend, ging er nach dem Baum, wo er das Tier fallen ließ. Er fand es unversehrt vor und trug es rasch zur Höhle zurück, fachte das Feuer an und briet ein Lendenstück, es noch halb roh verzehrend. Es schmeckte nicht übel. Unruhe trieb ihn dann, den Berg zu ersteigen, um nach dem ›Roland‹ auszuschauen. Er vermehrte das Holz auf dem Feuer, um Fritz, während er ihn allein lassen mußte, vor unliebsamen Besuchen wilder Tiere zu schützen, und schritt dann vorsichtig, die Flinte fertig zum Feuern, in den Wald hinauf. Er erreichte jetzt, da er den Weg kannte, den Gipfel in drei Viertelstunden. So aufmerksam er mit Augen und Glas den Horizont und das Meer absuchte, nichts, nichts gewahrte sein Blick. Niedergeschlagen stieg er langsam wieder hinab, doch des Tigers eingedenk, überall umherspähend. Ein Geräusch zu seiner Rechten machte ihn stutzen – er schaute hin – auf einer kleinen Waldblöße lag das Raubtier – heftig die Luft einziehend. Trotz des Schreckens, der ihn bei diesem Anblick überkam, gewahrte er doch, daß die Augen des Tieres blutig gefärbt waren. Der Schuß schien die beabsichtigte Wirkung voll getan zu haben.
   Der Tiger schnellte in langem Sprung empor, um, an einem Baum anprallend, mit einem Wutgebrüll zurückzusinken. Das Tier war blind. Ehe Henrik noch einen Gedanken zu fassen vermochte, huschte eine dunkle seltsame Gestalt, einem riesigen Affen ähnlich, aus den Büschen, und ein mit einem keulenartigen Instrument geführter Schlag fiel so wuchtig auf des Tieres Schädel, daß die Knochen krachten. Die Bestie lag auf dem Rücken und streckte die im Todeskampf zitternden Pranken in die Luft. Ebenso rasch, wie der unbekannte Bundesgenosse aufgetaucht war, war er auch wieder im Wald verschwunden.
   Staunend über das, was er gesehen, stand Henrik regungslos und starrte auf den Tiger. Das Tier hatte sich gestreckt und lag tot auf der Seite. »Was war das? Wer war das? Ein Mensch? Ein menschenähnlicher Affe?« Die Gestalt war so rasch an seinen Blicken vorübergezogen, daß er nur einen allgemeinen Eindruck von ihm bekam – aber soviel hatte sein Auge doch festgehalten, daß langes wirres Haar das Haupt dieses Wesens umgab und ein langer Bart davon herniederfiel. Seltsam, seltsam!
   Er sah sich forschend nach allen Seiten um, brauchte auch sein Glas, nichts war zu erspähen. Er lauschte – nur die gewöhnlichen Stimmen des Waldes ließen sich vernehmen. Er fühlte starke Neigung, sich einer so seltenen Trophäe wie die des Tigerfelles zu bemächtigen, aber dieser dunkle Waldgeselle, der mit einem Schlag einem Tiger das Haupt zerschmetterte, kam ihm so unheimlich vor, daß er davon abstand. Rasch und nicht ohne Furcht, die gespenstische Gestalt wieder auftauchen zu sehen, eilte er hinab zu seinem Zufluchtsort.
   Der arme Jüngling aus der »Reezenjasse« lag in heftigem Fieber. Schauerlich war es Henrik, wenn der Kranke seine Lieder sang. »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben«, »Es zogen drei Burschen wohl über den Rhein« – brachte er mit heiserer Stimme hervor. In tiefer Niedergeschlagenheit ging Henrik an den Eingang der Höhle, nachdem er, so gut es anging, Fritzens Lager geordnet hatte, um sich dort niederzulassen. Zu seiner nicht geringen Überraschung lag unweit der tote Tiger. Er schaute sich um nach dem, der das gewaltige Tier hierhergeschleppt hatte – er sah niemand.
   Der Tiger war ein Prachtexemplar, und da er ihn jetzt zweifellos als seine Beute betrachten durfte, zog er sein Matrosenmesser, um das Tier des Felles zu entkleiden. Er zog den Kadaver in den dichten Baumschatten und begann seine mühevolle Arbeit. Als er einmal aufschaute, sah er mit tiefem Schrecken unweit die seltsame unheimliche Gestalt aus dem Wald vor sich. Da saß ein Wesen – was war es – Tier oder Mensch? Es war ein Mensch – denn aus diesem braunen, schmutzigen Gesicht, umgeben von wildem, verworrenem Haar von unbestimmter Farbe, blickten zwei blaue Augen zu ihm her – das waren Menschenaugen, freundliche Menschenaugen. Ja, es war ein Mensch – da war kein Zweifel.
   Der Wilde war nackend bis auf ein Fell, welches er um die Lenden gebunden trug. Die gebräunte Gestalt war auffallend mager – fest lag die Haut auf den Knochen, und Arme und Beine schienen nur Bündel von Muskeln und Sehnen zu sein – ihre Formen deuteten aber auf die Kraft hin, welche den Tiger niederstreckte. Nachdem Henrik sein schreckenvolles Staunen überwunden, fragte er die regungslos vor ihm hockende Gestalt, und zwar ohne daran zu denken, daß ihn diese vielleicht nicht verstehen werde, in seiner Muttersprache: »Hast du mir das Tier hierhergebracht?«
   Der Mann schien dem Klang zu lauschen und saß noch horchend da, als die Laute längst verhallt waren. Trotz der braunen Hautfarbe des fremden Wesens schien es Henrik doch, als ob er einen Weißen vor sich habe.
   Jetzt fiel ihm ein, daß der Mann wohl schwerlich Deutsch verstehen werde, und er wiederholte seine Frage Englisch.
   Der Fremde schüttelte das Haupt, nicht als Antwort, sondern als ob er nicht verstanden habe, während seine hellen Augen fortwährend mit offenbarem Vergnügen auf Henriks jugendliches Gesicht gerichtet waren. Und wieder fragte Henrik in deutscher Sprache: »Bist du auf dieser Insel heimisch?«
   Und wieder lauschte hiernach der Fremde, das Haupt neigend und wohlgefällig vor sich hinblickend, als ob Töne aus weiter Ferne angenehm sein Ohr umschmeichelten. Dann erhob er sich und schritt auf den jungen Mann zu, ganz nahe blieb er vor ihm stehen und blickte ihm ins Gesicht. Henrik konnte ein Gefühl der Furcht und des Widerwillens nicht bemeistern, als er des wunderlichen Wesens Antlitz so nahe vor sich sah, und doch versöhnten die guten, blauen Augen mit dem wenig erfreulichen Anblick.
   Der fremde Mann – Henrik erkannte jetzt deutlich, daß er einen Europäer vor sich hatte, den die Tropensonne, Wind und Wetter gebräunt hatten – hob langsam die Hand und streichelte zärtlich des Jünglings Schulter, so wie man ein kleines Kind zu streicheln pflegt.
   Plötzlich horchte er auf, Fritz sang wieder in seinen Fieberphantasien. Der Wilde, in dessen Augen etwas auf geistige Störung zu deuten schien, schlich geräuschlos wie ein Waldtier zur Höhle, schaute hinein und trat dann ein. Beim Lager des Kranken blieb er stehen. Henrik war ihm gefolgt und stand neben ihm. Zum Erstaunen des Jünglings faßte der Mann, dessen Gesicht und nackter Körper, wie sich bei näherer Betrachtung zeigte, manche Narbe aufwies, nach Fritzens Hand und fühlte nach dem Puls. Ebenso befühlte er seine Stirn. Hierauf ging er hinaus und lief mit einer unbeschreiblichen Schnelligkeit nach dem Wald, in welchem er verschwand. Ehe Henrik noch eine Erklärung dieses Gebarens finden konnte, kehrte jener schon wieder zurück, ein Bündel Pflanzen in der Hand und den Mund mit deren Blättern gefüllt, die er eifrig kaute. Er trat wieder zu dem Lager und schob, ehe Henrik es verhindern konnte, das, was er kaute, dem Berliner in den Mund.
   Das Bündel Pflanzen, welches er in der Hand führte, legte er sorgfältig neben das Mooslager nieder. Der bewußtlose Schneider ließ sich das Tun des Mannes ruhig gefallen. Dieser ging wieder hinaus, trat an den Bach und betrachtete lange, und wie es schien nachdenklich, die dort liegende Jolle.
   Dann sah er wieder Henrik an und stets lag, so oft er das tat, derselbe Schimmer von Freundlichkeit in seinem Auge, der den Jüngling mit seinem abschreckenden Äußern versöhnte. Er nahm hierauf seinen keulenartigen Stock auf und ging in den Wald.
   »Was war das«, fragte sich Henrik, »ein verwilderter, zum Urzustand zurückgekehrter Mensch? Ein Wahnsinniger, der hier einem Tier gleich sein Leben fristet?« Trotzdem viel Güte in des Geschöpfes Tun ihm gegenüber lag, war es doch ein höchst unheimliches, widerwärtiges Wesen. Ein Laut war nicht über seine Lippen gekommen.
   Henrik streifte dann den Tiger ab und trug das Fell zur Höhle, um es dort an der Sonne trocknen zu lassen, nachdem er es fest ausgespannt hatte. Nach Fritz sehend, fand er diesen ruhig schlummernd vor. Der Tag schlich hin und der Abend brachte durch den Umblick vom Berg keine Hoffnung auf baldige Erlösung von dieser Insel durch den »Roland«. Da ganz augenscheinlich durch die von dem wilden Mann gebrachten Kräuter der Zustand Fritzens gebessert worden war, zögerte Henrik nicht, ihm eine Anzahl von deren Blätter in den Mund zu stecken, die der Kranke mechanisch kaute.
   Am andern Morgen fand Henrik vor der Höhle zwei erlegte hühnerartige Vögel, eine Anzahl Eier und ein Dutzend der Orange ähnliche Früchte vor, dazu, wiederum frisch gepflückt, Kraut von der Art, wie es gestern der Wilde geholt hatte. Diese Geschenke machten Henrik an und für sich Freude, er freute sich auch über die fürsorgende Gesinnung des Mannes, der sie gespendet.
   Fritz befand sich entschieden viel wohler. Das Fieber hatte nachgelassen und ein leichter Schweiß perlte auf seiner Stirn; er schlief immer noch fest, atmete aber ruhig.
   Henrik setzte die Kur mit den heilenden Kräutern fort.
   Traurig kam er von seiner Umschau über das Meer zurück, nichts vom »Roland« war zu sehen.
   Spät am Tag erschien der wilde Mann, kauerte sich in der Nähe Henriks nieder und blickte ihn unverwandt an.
   »Dir, mein Freund, verdanken wir die uns so wertvollen Geschenke, du bist so gut mit uns armen, an diese Insel verschlagenen Menschen. Gott lohne es dir.«
   Als der Fremde, der mit Wohlbehagen den Worten zu lauschen schien, schwieg, fuhr er fort: »Die Kräuter, die du gebracht hast, haben Wunder gewirkt, mein Freund befindet sich bereits viel wohler.«
   Nach einiger Zeit ging der Wilde in die Höhle, betrachtete Fritze, befühlte seine Stirn und ließ dann rauhe Laute hören, welche wohl seine Befriedigung ausdrücken sollten.
   Er schritt dann wieder hinaus, und zwar zu der Jolle, die er, wie gestern, lange nachdenklich betrachtete. Hiernach entfernte er sich. Drei Tage vergingen, nichts zeigte sich vom »Roland«. Aber jeden Morgen fand Henrik Wild und Früchte vor der Höhle, täglich erschien der verwilderte Mann, sah lange und freundlich Henrik an, lauschte mit unverkennbarem Wohlgefallen dessen Worten, betrachtete die Jolle und entfernte sich schweigend, wie er gekommen war. Dem Kranken war das Bewußtsein zurückgekehrt, er hatte Nahrung zu sich genommen und befand sich entschieden im Zustand der Genesung. Doch war er sehr schwach. »Wenn ick jetzt eene Tasse Mokka von Muttern hier hätte un eene Schrippe, denn wär ick janz zufrieden«, hatte er erklärt.
   Auf seine Erkundigung, wie denn nu die »Aktien stünden«, hatte ihm Henrik mitteilen müssen, daß die Hoffnung auf das Erscheinen des »Roland« sich bis jetzt noch nicht verwirklicht habe.
   »Det der nich wiederkommt, wußte ich ja, den wird et ooch wie den ›Goliath‹ jejangen sind. Ick sage dir, Hamburger, wir können hier unsere Jahre absitzen, det is immer so in alle Jeschichten.«
   Henrik, den der Gedanke, daß der »Roland« untergegangen sein könne, sehr erschreckte, faßte sich endlich und erwiderte ihm, daß, wenn das Schiff in gemessener Zeit nicht erschiene, er nach Norden segeln wolle, wo sich Land zeige. Von dort würde es nicht schwierig sein, einen Hafen der Sundainseln zu erreichen. Sehr erstaunt war Fritze, als ihm Kunde von dem Erscheinen des sonderbaren Mannes ward, der auf der Insel heimisch zu sein schien.
   Als der Genesende spät am Tag von einem Schlaf erwachte, fiel sein Auge auf die wilde, fremdartige Gestalt, welche unweit seines Lagers saß. Er rieb sich die Augen und starrte von neuem verwundert darauf hin.
   »Na nu?« wandte er sich dann an Henrik. »Wat is denn det vorn Jebilde?«
   Henrik sagte ihm, es sei ihr geheimnisvoller Freund.
   »Na, so wat – ach Jotte doch, det is ooch 'n Menschenbruder? Na, der is aber scheene runterjekommen, von die zivilisierte Politur is nich mehr ville da.«
   »Der Mann hat dir jedenfalls das Leben gerettet, Fritze.«
   Der Schneider sah den Wilden hiernach freundlicher an und sagte: »Det war scheene von Ihnen, wertester, wilder Menschenbruder, un ick bedanke mir ooch bei Ihnen.«
   Er streckte dem Mann trotz des Widerwillens, welches ihm sein Äußeres einflößte, die Hand hin, und dieser ergriff sie, schüttelte sie, und nickte mehrmals mit einem Ausdruck in den rauhen Zügen, der eine schwache Freude ausdrückte.
   »Wat vorn Landsmann sin Sie denn?«
   Wiederum nickte der Mann.
   »Na, Hamburger, vor 't ville Reden scheint unser unfrisierter Freund mit de Pelzmantille um de Taille nich zu sind.«
   »Er hat bis jetzt noch kein Wort gesprochen.«
   »Also eener von de Stillen? Ooch jut. Von de Schneiderkunst scheint er nich ville zu halten, seinem Negligé nach zu schließen.«
   Henrik freute sich, daß der Jüngling aus der Reezengasse seine gute Laune wieder gefunden hatte, und nickte ihm lächelnd zu.
   »Ick, Verehrtester Herr«, fuhr Fritze fort, »bin Fritze Fischer, Berlin 0, Pantinenviertel; mit wem habe ick die Ehre?«
   Der Fremde nickte freundlich wie vorher.
   »Et scheint ein juter Mensch zu sind, aber 'n bißchen dusemang, un von richtige Bildung hat er keene Ahnung. Un du meenst wirklich, daß det een Mann aus unsre europäische Jegend is?«
   »Europäischer Abkunft ist er jedenfalls. Sieh dir nur Haar und Bart an. Die ursprüngliche Farbe ist blond, Sonne und Regen haben beiden diese unbestimmte Farbe gegeben, und die Augen sind blau.«
   »Mir erinnert er stark an den Orang-Utang in'n Zoo, obgleich ick den Mann nich beleidigen will.«
   Nach einiger Zeit erhob sich der Wilde, streichelte, als er beim Verlassen der Höhle an ihm vorüberging, Henriks Schulter, wie er stets zu tun pflegte, wenn er sich verabschiedete.
   Als er fort war, sagte Fritz wehmütig: »Du, Hamburger, ick jloobe, wenn wir een paar Jahre hier rumgeloofen sind, werden wir jerade so aussehen wie dieser verschwiegene Herr mit det Paradieskostüm. Jib acht, det is nu endlich der richtige Robinson.«
   »Sei ruhig, Fritze, wir sind hier nicht auf einer einsam im Weltmeer liegenden Insel. Unweit von uns befinden sich dichtbevölkerte Gebiete, die wir, wenn wider Erwarten der ›Roland‹ nicht zurückkehren sollte, in unserer Jolle erreichen können.«
   »Der liebe Jott mag et jeben, ick will lieber solche Jeschichten lesen, als sie selbst erleben.«


   Das einsame Grab

   Tage vergingen, kein »Roland« zeigte sich, so sorgfältig Henrik auch vom höchsten Punkt der Insel nach ihm ausspähte, auch kein anderes Fahrzeug kam in Sicht. Der geheimnisvolle Mann erschien täglich und brachte Eier, Wild, Früchte, so daß, besonders nachdem auf Fritzens Rat die Eier in der heißen Asche geröstet wurden, die Verpflegung der beiden Leidensgenossen wenig zu wünschen übrig ließ.
   Von Fritz war das Fieber vollständig gewichen, er entwickelte einen starken Appetit und kam rasch wieder zu Kräften.
   Da die Hitze mitunter sehr drückend war, schlug ihm Henrik eines Tages eine Fahrt in der Jolle vor, um sich der kühlern Seeluft zu erfreuen, worauf der Schneider mit Freuden einging.
   Als Henrik Mast, Segel und Riemen hinabtrug und das Boot segelfertig machte, war ihr schweigsamer Freund, der Waldmensch, zugegen, der diesen Vorbereitungen mit bemerkbarem Interesse folgte.
   Beiden, Henrik sowohl als auch Fritze, hatte sich die Überzeugung aufgedrängt, daß der sonderbare Mensch, der entschieden nordeuropäischer Abkunft war und durch ein großes Unglück an dieses Eiland geschleudert sein mochte, gestörten Geistes sei.
   Jetzt zum erstenmal, seitdem sie mit ihm zusammengetroffen waren, als der Mast stand und die Jolle segelfertig war, zeigte sich geistiges Leben in seinem Gesicht, es schien den Jünglingen, als ob mächtige Erinnerungen in ihm erwachten.
   Als Fritz und Henrik ihre Plätze eingenommen hatten und eben abstoßen wollten, trat der Mann rasch ins Boot und ließ sich auf einer der Bänke nieder. Sobald Henrik den einen Riemen ergriff, nahm er den zweiten zur Hand und legte ihn in die Dolle. Henrik sah es mit Erstaunen, ließ ihn aber gewähren. Sie stießen ab, und es zeigte sich alsbald, daß der Fremde in der Handhabung des Riemens geübt genug war. Mit gleichen Schlägen trieben sie die Jolle den Bach hinab, durch die Bucht, bis sie den leichten Seewind spürten.
   »Stopp!« kommandierte Henrik nach Schifferart, und augenblicklich hob der Mann den Riemen aus der Dolle; er kannte das Kommando.
   Als das Segel entfaltet wurde, begab sich der Fremde nach vorn und brachte den Klüver an den Wind, mit der Sicherheit des segelkundigen Mannes. Es lag nahe genug, in dem Unglücklichen, der unter so seltsamen Umständen auf dieser einsamen und allem Anschein nach gänzlich unbewohnten Insel lebte, einen Seemann zu vermuten. Während Henrik sich am Steuer niederließ, blieb jener vorn sitzen, und sein verwildertes Antlitz trug unverkennbar den Ausdruck des Vergnügens, als sich jetzt die Jolle auf den Wellen schaukelte. Freundliche Blicke trafen die Jünglinge und mehrmals nickte er Henrik zu.
   »Unsern wilden Robinson macht det Jondeln Spaß«, meinte Fritze, der sich in der frischen Seeluft selbst unendlich behaglich fühlte.
   »Er ist sicher von Beruf Seemann und wird wohl lange nicht von den Wellen des Meeres geschaukelt worden sein.«
   »Wenn meine Jarderobe nich in so desolatem Zustande wär, so sollte es mir uff 'n boomwollenet Hemd nich ankommen, der Mann sieht doch een bißken zu natürlich aus.«
   »Ich habe es für unmöglich gehalten, daß ein Mensch, und besonders ein Europäer, in einen solchen Zustand geraten könnte. Sein körperliches Befinden scheint übrigens nichts zu wünschen übrig zu lassen.«
   »Aber oben is 'ne Schraube los«, warf Fritz ein. »Ooch is der Menschenbruder stumm.«
   »Wer weiß. Ein herbes Geschick muß diesen Menschen zu dem gemacht haben, was er jetzt ist.«
   Henrik fuhr an der Küste entlang, die, buchtenreich und dicht bewaldet, dem Auge malerische Bilder bot. Er führte jetzt die längst gehegte Absicht aus, das Eiland, welches ihnen Zuflucht gewährt hatte, zu umsegeln, was bisher nur durch Fritzens Gesundheitszustand verhindert worden war.
   Das Innere der Insel kennenzulernen, schien Henrik kaum wünschenswert, denn erstlich war dies bei der dichten tropischen Vegetation ein mühevolles Unternehmen, und ein Zusammentreffen mit eingeborenen Bewohnern war mehr zu fürchten als zu wünschen. Auch schien es geboten, ein Begegnen mit wilden Tieren bei ihrer ungenügenden Bewaffnung zu vermeiden. Das Erscheinen des Tigers hatte den jungen Leuten Respekt genug eingeflößt. Auch das täglich erwartete Erscheinen des »Roland« drängte das Interesse, das Eiland kennenzulernen, zurück. Etwas anderes war es, im sichern Boot, vor einem leichten Wind die Insel zu umsegeln.
   Der Luftzug kam von Nord und war zum Segeln günstig. Als sie im Süden der Insel standen, legte Henrik um, und wieder bediente ihr Gast den Klüver und sah mit großer Aufmerksamkeit auf die Bewegung des Bootes. Langsam strich das Fahrzeug an der auch hier sehr malerischen Küste, welche an einigen Stellen kühne Felsformationen zeigte, hin. Als sie eine geräumige Bucht vor sich sahen, ostwärts, deren weißes Wasser auf Klippen deutete, wies der Fremde lebhaft und mit einladender Gebärde darauf hin.
   »Meinst du, wir sollen hier landen?« fragte Henrik.
   Der Mann wiederholte die Bewegung.
   »Wie denkst du, Fritz, über diese Aufforderung? Ich bin diesen unbekannten, dichten Waldgebieten gegenüber nicht ganz frei von Besorgnis.«
   »Ach, der Mann meent et jedenfalls jut, der wird hier sein Sommerlogis haben und uns 'n Frühstück vorsetzen wollen.«
   »Also du würdest landen?«
   »Der neue Robinson mit de Wildenfrisur hat sich doch bis jetzt sehr honorig jegen uns benommen, ick jloobe, da is nischt zu besorgen.«
   »Nun gut, so wollen wir an Land gehen«, und er lenkte in die Bucht ein.
   Der Fremde sprang aus geeigneter Entfernung ans Ufer und zog mit erstaunlicher Kraft die Jolle so weit aufs Land, daß sie fest lag.
   Als Henrik das Boot solcherweise gesichert sah, folgte er, seine Flinte ergreifend, mit dem Berliner.
   Der Wilde nickte beiden wohlwollend zu und schritt voran in die Areng– und Djatigebüsche. Er trug wie immer seine Keule, wie es schien seine einzige Waffe, in der Hand.
   Sie hatten bald einen Saum von Büschen und Lontarpalmen durchschritten und sahen einen freien Platz vor sich, der auf felsigem Grund nur spärlichen Graswuchs zeigte. Nach der Landseite hin erhoben sich dunkle Felsen. Auf diese schritt ihr Führer zu.
   Zur Überraschung der Jünglinge sank er plötzlich mit einem leisen Zischen zu Boden und winkte ihnen, ihm nachzuahmen. Ehe sie jedoch diesem Wink zu folgen vermochten, sahen sie ein großes schwarzes Tier zwischen den Steinen vorüberhuschen und rasch verschwinden.
   Der Mann wandte den Kopf und zeigte mit einem Ausdruck grimmiger Freude im Gesicht nach den Felsen hin. Er hob einen Stein von der Größe einer starken Mannesfaust auf, deutete Henrik und Fritz durch eine Gebärde an, zu bleiben, wo sie waren, und kroch dann mit einer staunenswerten Behendigkeit, ganz nach der Art eines wilden Tieres, welches eine Beute beschleicht, nach den Felsen zu, zwischen deren Öffnungen er verschwand.
   Nach kurzer Zeit, während die beiden noch verwundert nach dem Felsen hinüberstarrten, gewahrten sie auf deren Höhe das schwarze, katzenartige Tier, welches verstohlen darüber hinkroch. Von einem Stein getroffen, der mit außerordentlicher Kraft und Sicherheit geschleudert sein mußte, stürzte das Tier, jäh aufbrüllend, herab. In demselben Augenblick erschien der wilde Mann wieder vor dem Fels, seine Keule in der Hand. Die schwarze Katze knurrte zornig und erhob sich zum Sprung. Doch dieser zeugte nicht von der elastischen Kraft, welche diese Tiere besitzen – fünf Schritte vor dem Wilden fiel es zu Boden. Mit der Schnelligkeit einer Kanonenkugel entfuhr dessen rechter Faust die um den Kopf geschwungene Keule, als kaum die Sohlen des Tieres die Erde berührt haben konnten, und aufheulend wälzte es sich, an der Schulter getroffen, auf dem Rücken. Dann versuchte es davonzuschleichen – aber seine Bewegungen waren kraftlos. Mit einem Sprung, der dem des Tieres nichts nachgab, setzte ihm der Wilde nach, faßte seine furchtbare Keule, schleuderte sie von neuem, und mit gebrochenem Kreuz brach der Panther – es war einer der seltenen schwarzen Panther der indischen Inseln – heulend zusammen, unfähig, sich ferner zu bewegen. Die ersten Würfe hatten ihm bereits Rippen und Schulterblatt gebrochen.
   Triumphierend lachte der wilde Jäger jetzt auf. Er konnte sich an Kraft, Behendigkeit und Kühnheit mit der wilden Bestie dreist messen.
   Staunend hatten Henrik und Fritz die Vorgänge verfolgt, welche die gefährliche Bestie unschädlich machten. Jetzt begriff ersterer, wie ein Mensch, der auf den ursprünglichen Naturzustand zurückgesunken war, den Kampf mit der Tierwelt und dem Dasein siegreich in einem Klima führen konnte, welches in seiner Milde und fast gleichmäßigen Wärme Kleidung und Feuer entbehrlich macht. Der verwilderte Mann, dessen Geist zwar gelitten haben mußte, dessen tierische Natur und Instinkte aber um so stärker entwickelt waren, bezwang mit Waffen, wie sie nur der Urzustand der Menschheit kannte, seine tödlichen Feinde. Es lag etwas Grausiges und doch Erhebendes in diesem Kampf des Waldmenschen gegen den Panther. Es war ein Ringen zwischen wilden Geschöpfen, aber das wenn auch geringe Geistesvermögen des Menschen hatte gesiegt über die Kraft und Wildheit, über den Instinkt des Tieres.
   Sie traten dem Geschöpf, welches noch lebte und sie mit tödlichem Haß aus den funkelnden gelben Augen anstarrte, näher. Neben ihm stand, auf die furchtbare Keule gestützt, ihr Führer, verächtlich auf die besiegte Katze blickend.
   »Herr Jotte doch«, sagte Fritze, »wenn ick et nich jesehn hätte, ick hätte et nich jegloobt; der neue Robinson is ja noch jefährlicher wie so 'ne olle Tijerjattin. Wenn der Mann eenmal 'ne Vorstellung im Zoologischen jeben will, dann läuft janz Berlin zusammen. Ne, so wat. Et is man een Glück, det der Mensch uff uns jut zu sprechen is, ick möchte keenen mit dem Knüppel uff 'n Koppkriejen.«
   »Welch staunenswerte Kraft und Geschicklichkeit du hast, mein Freund«, redete Henrik den nackten Mann an, nachdem er mit Interesse den schwarzen Panther, dessengleichen er noch nicht gesehen, betrachtet hatte.
   Ob jener ihn verstand, ob nicht, er lachte auf, er lachte in höhnischem Triumph und versetzte dem gänzlich gelähmten Tier einen Fußtritt, daß es einige Schritte hinwegflog.
   Erst in der Nähe gewahrte das Auge die dunkeln Flecke auf dunkelm Grunde, wie sie dem Pantherfell eigentümlich sind.
   Ihr Führer winkte ihnen weiterzugehen, und den verendenden Panther liegen lassend, folgten sie dem Wilden zwischen die zerklüfteten Felsen, deren wirre, aber wie es schien, dem Mann, wohlbekannte Gänge sie in ein liebliches, kleines Tal führten, das von Gras, Büschen und vereinzelten Lontarpalmen bestanden war, durch dessen Mitte ein klares Bächlein rieselte. Es war ein friedliches, trauliches Plätzchen, zu welchem der Wilde sie geleitet hatte. Die Jünglinge blieben stehen und erfreuten sich des Anblicks. Auch ihr Begleiter hielt, als er dies bemerkte, inne, aber er schaute ernsthaft zu Boden. Nach einiger Zeit, das Haupt erhebend, deutete er mit einer gewissen Feierlichkeit auf einen sich nur wenig über die Talsohle erhebenden Kugel und schritt dann langsam darauf zu. Henrik und Fritz gingen hinter ihm her. Vor dem Erdaufwurf, man konnte die kleine Erhöhung kaum anders nennen, blieb der Mann stehen, und zu ihrer nicht geringen Überraschung gewahrten jetzt die jungen Leute, daß ein aus Holz roh gefertigtes Kreuz den mit kurzem Gras bedeckten Hügel überragte.
   Ihr Führer deutete mit der Hand auf das Kreuz, während sein rauhes, gebräuntes Antlitz von tiefem Ernst überschattet war, und dann zeigte sein Finger auf den Hügel.
   Es war ringsum feierlich still, und leise nur sagte Henrik: »Es ist ein Grabhügel!« Fritz Fischer nickte stumm.
   »Wer mag darunter schlummern? Es ist ein Grab – und der Mann scheint es treulich zu bewachen.«
   Er schwieg und schaute auf die Stätte nieder, welche, dem Kreuz nach zu schließen, die Gebeine christlicher menschlicher Wesen einschloß; sie mochten dem Fremden einst teuer gewesen sein.
   »Ist es ein Grab, mein Freund?« fragte er dann den traurig dastehenden Wilden, »und hast du uns hierhergeführt, um es uns zu zeigen?«
   Als er nicht antwortete, fuhr Henrik fort: »Wer schläft hier den letzten Schlaf? Ruhen hier Gefährten von dir?«
   Es war nicht zu erkennen, ob Laut und Sinn der Worte ihm verständlich waren – aber er trat auf Henrik zu, schaute diesem aufmerksam in das Gesicht – streichelte mit der Hand zärtlich dessen Schulter und deutete wieder ernsthaft auf den Boden hin, da wo das Kreuz stand.
   »Deine Lieben schlafen hier, nicht wahr, und du hast ihre Ruhestätte mit dem heiligen Zeichen geschmückt? Aber wenn du mich verstehst, so sage mir, wer hier begraben liegt, damit wir es in der Heimat erzählen können, wenn Gott uns Heimkehr bereitet.«
   Der in seinem ganzen Gebaren so sonderbare Mensch ließ ein dumpfes Stöhnen hören, schmerzlich klang es aus seiner Brust empor – er sah Henrik und dann Fritz an, und seine Lippen bewegten sich, als wollte er sprechen – aber wenn es ein Versuch dazu war, so mißlang er und endete in einem tiefen Seufzer.
   In der Art und Weise des Mannes, der geheimnisvollen Grabstätte, lag etwas Erschreckendes. Was mochte der Hügel bergen, an welche unheilvolle Vorgänge mahnte er, woran erinnerte der bemitleidenswerte Zustand des fast zum Tier gewordenen Menschen, in dem trotz allem der göttliche Funke noch nicht ganz verlöscht schien? Langsam wandte der Wilde sich hinweg und ging auf eine von Büschen halbverdeckte Felsöffnung zu. Henrik folgte ihm, und der Schneider, den alles, was er sah, ungewöhnlich erregte, schloß sich schweigend an. Vor dem Höhleneingang, an dem das Bächlein dicht vorüberfloß, lagen Knochen, Muschelschalen, Fischgräten, Überreste von Kokosschalen und andern Früchten. Der Mann ging in die Höhle und Henrik trat hinter ihm ein. Sie war sichtlich die Behausung des Bedauernswerten. Ein rascher Überblick zeigte in einer Ecke ein rauhes Lager von Moos und Fellen. Das schien die ganze häusliche Einrichtung des Bewohners zu sein. Einige Kokosnüsse lagen umher und die Reste einer, wie es Henrik deuchte, roh verzehrten Ente.
   Der Eindruck, den Wohnung und Bewohner machten, war ein maßlos trauriger.
   Henriks Auge fiel auf einen langen Bootsriemen, der von Würmern zerfressen an der Wand lehnte. Am Boden, dicht davor, lag eine verrostete Pistole, an welcher der Hahn fehlte – und neben ihr die Reste eines Seemannsstiefels. Diese Erinnerungen an die Vergangenheit der Insassen der Höhle rührten den Jüngling. Er ließ dann sein Auge über deren ziemlich glatte Wände gleiten und in jäher Überraschung traf sein Blick auf einige Silben, die in deutscher Sprache dem Fels eingegraben waren.
   In großer Erregung entzifferte er: »Juli 66 – Überfall – mordet – Admiral – letzte – höllische Malaye – Gott – gnädig –.« In fieberhaftem Eifer eilte sein Auge suchend umher – doch keine weitern Schriftzeichen boten sich ihm dar. Waren die Worte einst mit einem metallenen Instrument eingegraben worden, so hatte die Zeit, die auch an den Felsen nagt, sie fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Die Struktur des Gesteins förderte das Abblättern.
   Dem Jüngling stand fast das Herz still, als er die Schriftzeichen las. »Admiral« hieß das Fahrzeug, welches sein Vater einst befehligte, er war nimmer heimgekommen – versunken in den Wogen – verschollen unter den Menschen – doch nicht vergessen – nicht von seinem Weib – nicht von seinem Sohn.
   In der furchtbarsten Aufregung faßte er die Schulter des neben ihm stehenden nackten Mannes. – »Um Jesu Christi willen – sage mir, Mensch, was bedeuten diese Worte dort?«
   Der Mann nickte ernsthaft und traurig und deutete mit der Hand auf die wenigen noch lesbaren Schriftzeichen und dann zum Eingang hinaus auf den Erdhügel mit dem Kreuz.
   »Antworte mir, sammle um Gottes willen deine Erinnerungen! Den, ›Admiral‹ führte mein Vater, Erich Horsa; warst du bei ihm an Bord? Hat mein Vater hier sein Ende gefunden? Ruhen seine Gebeine unter jenem Kreuz? Antworte – antworte, ich bin Henrik Horsa – der Sohn des Kapitäns.«
   Ganz leise wiederholte der Wilde: »Horsa« – es war das erste Wort, welches Henrik von ihm hörte, und wie ein Hauch klang es dann aus seinem Mund nach – »tot.«
   »Ja, ja – seit Jahren – tot – aber du, du warst an Bord des ›Admiral‹? Ist das dort meines Vaters Grab?«
   Der Mann lauschte angestrengt den Worten, blickte ihn forschend an – und schien sehr erregt zu sein – es arbeitete gewaltig in ihm und mehrmals stöhnte er, wie von innerm Schmerz gepeinigt, aber ein Wort kam nicht über seine Lippen.
   In fiebernder Angst hatte Henrik ihn beobachtet – gewünscht – gehofft – daß aus der Nacht, welche die Seele des Mannes umgab, das Licht der Erinnerung hervorbrechen möge.
   Fritz Fischer war von dem allem so gerührt, daß ihm die hellen Tränen über die Wangen liefen. »Ach Jotte doch, da is aber det Ende von weg«, sagte er im Ton innigster Teilnahme leise.
   Der Mann holte den fast ganz verwitterten Bootsriemen herbei, hielt ihn Henrik vor Augen und dieser las den nach Seegebrauch eingebrannten Schiffsnamen »Admiral«. Kein Zweifel, das Ruder stammte von seines Vaters Schiff. Jener setzte das Stück Holz beiseite, ging hinaus zu dem Kreuz, deutete auf die Erde und brachte in gebrochenen Tönen, mit Anstrengung die Worte hervor: »Horsa, Kapitän – tot.«
   Da brach ein Tränenstrom aus Henriks Augen und unter krampfhaftem Schluchzen stürzte er zur Erde nieder und faßte in das Gras. »O Vater, mein lieber, lieber Vater!«
   Lange lag er so.
   Der braune nackte Mann sah auf ihn nieder und atmete schwer; Fritz Fischer wischte sich ein über das andere Mal die Augen mit dem Ärmel und Zipfel seiner Matrosenjacke.
   Endlich legte sich der gewaltige Sturm in Henriks Brust – die Tränen flossen ruhiger – er richtete das Haupt auf und sah auf den Wilden, auf den gerührten Schneider.
   Dann reichte er jenem die Hand: »Du Armer – du Letzter vom ›Admiral‹, du hast meinen teuren Vater der Erde übergeben – sein Grab bereitet und treu bewacht – wie danke ich dir. Mann – wie danke ich dir!«
   Der Mann nickte, eine seltene Freundlichkeit leuchtete aus seinen Augen, er streichelte Henriks Wange: »Oh, Horsa – gut.«
   Der tiefbewegte Schneider trat zu Henrik und legte den Arm um seine Schultern, immer noch flossen seine Tränen. »Fasse dir, Hamburger.«
   »Oh, Fritz, hier ruhen meines Vaters Gebeine, eine wunderbare Fügung hat mich zu seiner Ruhestatt geführt.«
   »Et is zu rührend – et is janz kolossal.«
   Aus des Schneiders blassem, sonst so drolligen Gesicht sprach aufrichtiges Mitgefühl. »Fasse dir.«
   Von seinen Gefühlen überwältigt, schwieg Henrik und drückte Fritz nur die Hand.
   »Der nackte Mann muß doch nich janz meschugge sind, weil er sich so jut uff allens erinnert.«
   »Welch furchtbares Schicksal mag hier gewaltet haben, um meinen armen Vater mit seinen Gefährten in den Tod zu reißen.«
   Der Mann ging rasch nach der Felswand und entnahm einer Vertiefung zwei menschliche Schädel, die er funkelnden Blickes Henrik vor Augen hielt. Er deutete auf große Zersplitterungen der Knochen, die wohl von wuchtigen Streichen herrühren mochten, und stieß ein so wildes Gelächter aus, daß die Jünglinge schauderten. Die Felsen hallten das entsetzliche Lachen wider. Verächtlich warf er dann die Schädel beiseite.
   »So ist mein Vater ermordet worden?«
   Der wilde Mann schwang mit den magern sehnigen Armen die Keule empor, in Haltung, Blick und Gesichtsausdruck furchtbaren todbringenden Zorn widerspiegelnd.
   »Du hast seinen Tod gerächt?«
   Wieder lachte der grimmige Mann, wie vorher.
   Die Sonne schien hernieder auf das stille Tal der einsamen Insel, der Wind flüsterte in den Blättern der Palmen, und das Bächlein rauschte sein eintönig Lied. Henrik deuchte es ein weihevoller Grabgesang, der dem teuren Toten galt. Tief erschüttert weilten die beiden Jünglinge an dem Grab dessen, der vor Jahren hier einen geheimnisvollen Tod gefunden, weilte der Sohn an des Vaters letzter Ruhestatt – und der einzige Zeuge der letzten furchtbaren Katastrophe stand stumm, einem Dämon der Rache gleich, zu des Grabes Häupten.
   Es verging Zeit, ehe sich Henrik zu der Frage ermannte: »Ist nichts mehr vorhanden, was an meinen Vater, an Kapitän Horsa, erinnert?« setzte er, damit ihn der aufmerksam Lauschende besser verstehen sollte, hinzu.
   Der so Angeredete blickte ihn forschend an. Er schien die Laute nur schwer zu fassen.
   »Sind nicht Kleider, Waffen, Papiere vom Kapitän Horsa, Bark, ›Admiral‹, noch da? Besinne dich.«
   Aber der Wilde verstand ihn augenscheinlich nicht, er verhielt sich stumm.
   Seufzend gab Henrik den Versuch auf. Näheres über das Schicksal seines Vaters durch den geistig herabgekommenen Menschen zu erfahren. Fritz erinnerte jetzt daran, daß es Zeit sei, sich zur Heimfahrt zu schicken, und Henrik stimmte dem zu.
   »Komm«, sagte er zu ihm. »Das war ein ereignisvoller Tag in meinem Leben.« Noch einmal wandte er sich zu dem Grab und sagte mit tiefem Gefühl: »Ruhe sanft, lieber Vater, in der fremden Erde, ruhe sanft.«
   Seine Tränen zurückdrängend, wandte er sich ab, um den Ausgang aus dem felsigen Labyrinth zu suchen. Dies gewahrend, ging ihr Begleiter voran und brachte sie rasch ans Boot. Er blieb zurück, als Henrik abstoßen wollte, und die beiden fuhren allein in die See hinaus.
   Nachdem sie ein großes, der Insel vorgelagertes Riff umsegelt hatten, fand Henrik endlich die Ruhe, um sich selbst all die erschütternden Vorgänge, welche seine Seele so sehr erregt hatten, zurechtzulegen.
   Schattenhaft nur stand des Vaters Gestalt in seiner Erinnerung, wie sie sich der Seele in früher Kinderzeit eingeprägt hatte, doch durch der Mutter Schilderung war ihm dessen männliche Erscheinung und eigenstes Wesen so vertraut geworden, als ob er ihn genau gekannt hätte. And ihr erblühte in dem Sohn, dem teuren Vermächtnis des Toten, die Hoffnung ihres Lebens. Im Jahr 1866 verließ Kapitän Horsa Singapore auf seinem guten Schiff, dem »Admiral«, um Adelaide anzulaufen – und von Schiff und Mannschaft wurde nie wieder etwas vernommen. Da zu jener Zeit wilde Wirbelstürme den Ozean durchfurchten, lag die traurige Gewißheit nahe genug, daß der »Admiral« in diesen mit Mann und Maus gesunken sei.
   And nun? Nun fand der Sohn an einer einsamen Insel des Indischen Ozeans die letzten Reste des Schiffes, das Grab seines Vaters, und in einem Menschen, der hier wie ein Tier mit Tieren lebte, den einzig überlebenden der Besatzung, den Zeugen jenes schreckenvollen Ereignisses, welches das Ende herbeigeführt hatte. Nicht auf dem Meer, nicht im Kampf mit den Naturgewalten fand, wenn er den Waldmenschen richtig verstand und die Inschrift nicht trog, der Vater seinen Tod, nein, hier am schützenden Land unter der verräterischen Hand – wessen? Des »höllischen Malaien«?
   Er teilte dem Schneider mit, was ihm durch die Seele zog. »Es scheint ja«, setzte er hinzu, »in dem Gehirn des verwilderten Menschen zu dämmern, und wenn Gott seinen Mund erschließt, erfahren wir vielleicht noch manches von den letzten Stunden meines Vaters und seiner Mannschaft. Ist hier«, so schloß er mit tiefem Ernst, »ein Verbrechen begangen worden, so hat mich Gott auf wunderbare Weise an das einsame Grab meines teuren Vaters geführt, daß ich das Werkzeug der Sühne werde.«
   »Ist allens schön und jut, Hamburger, oder eegentlich recht traurig – aber det wird allens schon werden, wenn wir nur erst von die olle Insel weg sind. Ick sehne mir aus die Wildnis raus, et is doch nischt vorn jebildeten Menschen, als Höhlenbewohner oder bei Mutter Jrün mit Kokosnüsse un geröste Eier sich durchzuleppern.«
   »Wir warten noch einige Tage auf die Rückkehr des ›Roland‹. Ist es vergebens, so segeln wir mutig nach Norden und suchen den Weg zu europäischen Niederlassungen.«
   »Ja«, meinte Fritz wehmütig, »wenn wir nicht vorher von die Herren Wilden uffjespeist werden. Uff meine werte Person scheinen sie et besonders abjesehen zu haben.«
   »Vertrauen wir auf den, der das Geschick der Menschen leitet.«
   »Allemal, der liebe Jott verläßt keenen Berliner nich.«
   Sie erreichten ihre Heimstätte und suchten nach dem ereignisvollen Tag Ruhe im Schlaf.


   Der Sohn des Radscha

   Zwei Tage vergingen. Der Fremde ließ sich nicht sehen, obgleich Früchte und Wild, welche die Jünglinge vor der Höhle fanden, von seiner andauernden Fürsorge zeugten.
   Als Henrik am Morgen des dritten Tages von dem Berg, auf welchem er wiederum vergeblich nach dem Schiff ausgeschaut hatte, zur Küste zurückkehrte, sah er mit Erstaunen eine Schar Inder am Strand, und in der Bucht ein zweimastiges, nach Schonerart getakeltes Fahrzeug vor Anker liegen, welches sichtlich eine starke Bemannung an Bord führte.
   Voll Verwunderung fiel sein Auge auf einen jungen Mann von gebietender Haltung, welcher nicht weniger erstaunt über Henriks Anwesenheit zu sein schien.
   Die indische Tracht, das seidene Hemd von einer bunt gestickten Weste umgeben, das bauschige Unterkleid von blauer Farbe, die bis über die Knie reichenden ledernen Gamaschen hoben die schlanke Gestalt des Mannes vorteilhaft hervor. Das Haupt war von einem dunkelseidenen Tuch turbanartig umwunden und unter diesem zeigte sich ein schöngeformtes jugendliches Antlitz von jener hellen Bronzefarbe, wie sie den vornehmen Indern eigen ist. In der Hand trug er eine reichverzierte Büchse; seine dunkeln Augen ruhten fragend auf Henrik.
   Fünf oder sechs ähnlich gekleidete und bewaffnete Männer standen hinter ihm, wie er verwundert auf den Europäer blickend. In weiterer Entfernung hielten mehrere Diener große Hunde an Leitriemen.
   Furchtlos trat Henrik näher und grüßte.
   »Wie kommst du hierher, Fremder?« fragte der junge Indier in gutem Englisch.
   »Der Sturm hat mich und meinen Gefährten an diese Insel geschleudert, Herr.«
   »Ist hier ein Schiff gescheitert?«
   Henrik gab ausführlich an, wie er vom »Roland« getrennt wurde.
   »Bist du ein Holländer?«
   »Nein, ein Deutscher.«
   »Oh«, im Gesicht des Indiers erschien ein freundlicher Zug, »ein Deutscher, das freut mich. Du sehnst dich von hier fort?«
   »Ja, Herr, sehr. Auf mein Schiff warte ich wohl vergeblich.«
   Henrik sah und fühlte, daß er einen hochstehenden Mann vor sich habe, und bewahrte deshalb eine höfliche, ehrerbietige Haltung. Dies entging dem Indier nicht, denn Leute von guter Erziehung und vornehmer Denkungsart erkennen sich sofort, welchem Volk sie auch angehören mögen, und er gewahrte seinerseits ebenfalls, daß in dem jungen Seemann ein Mann von gesellschaftlicher Bildung vor ihm stand.
   »Wissen Sie, wo Sie sich befinden?«
   »Ich nehme an, südwärts der Sundainseln.«
   »Ganz recht. Im Norden liegt meine Heimat, die Insel Lombok, wie die Europäer sie nennen; wollen Sie und Ihr Gefährte meine Begleiter auf der Rückfahrt werden, sollen Sie mir willkommen sein.«
   »Mit dem größten Dank nehme ich das an, Sir.«
   »Sie werden gewiß in einem unserer Häfen ein Schiff finden, welches Sie zu einem der großen Handelsplätze bringt, von wo aus es Ihnen dann leicht werden dürfte, die Heimreise anzutreten.«
   Henrik verneigte sich.
   Fritz, der seit seiner Krankheit sehr viel schlief, trat in diesem Augenblick aus der Höhle und sah mit maßlosem Erstaunen auf die Inder.
   »Wat is 'n det? Jotte doch, det is ja wie in die Maskerade.«
   Auf einen fragenden Blick des jungen Eingeborenen erklärte Henrik, daß Fritz sein Begleiter sei.
   Während dieser kurzen Unterredung hatten die Diener des Indiers an einem schattigen Platz Decken und Polster ausgebreitet und Vorbereitungen zu einem Frühstück getroffen. Durch höfliche Gebärde lud er Henrik und den Berliner ein, daran teilzunehmen.
   »Du, Hamburger, wat sin denn det vor welche, det is ja wie int Märchen von Tausenduneene Nacht.«
   »Sei still jetzt und setze dich bescheiden hierher. Dies ist ein vornehmer Inder, der uns von hier mit fortnehmen wird.«
   »Det is sehr scheene von den messingfarbenen Herrn mit det Musselintuch um den Kopp!«
   Der junge Fremde ließ sich nieder, auf seinen Wink folgten noch vier der Begleiter seinem Beispiel, und ein halbes Dutzend weißgekleideter Diener wartete auf.
   In kleinen Porzellantassen reichten sie Tee und Kaffee herum. Fritz strahlte vor Vergnügen, als der Duft sich verbreitete und sagte, als er seine Tasse empfangen hatte: »Hamburger, et is richtiger Mokka ohne Zichorie.«
   Der junge Indier lächelte, als er das gewahrte.
   Auch Henrik war nicht wenig erfreut, nach der Diät der letzten Wochen eine Tasse vorzüglichen Tees vor sich zu haben. Während er sie langsam trank, äußerte er: »Welch ein glücklicher Zufall hat Sie an diese unbewohnte Insel geführt, Herr?«
   »Oh«, sagte dieser, »kein Zufall; ich pflege dies Eiland seit einigen Jahren öfters zu besuchen, um zu jagen. Das Wild wird bei mir zu Hause immer seltener, die reißenden Tiere sind auf Lombok längst ausgerottet.«
   »Darf ich fragen, ob Sie ein Angehöriger des Hinduvolkes sind?«
   »Nein«, entgegnete der Gefragte lächelnd, »ich bin ein Balinese, aber wir bekennen uns zur Lehre Brahmas. Ich bin Anak Madé, der Sohn von Ratu Asem, des Radscha von Bali und Lombok.«
   Einiges Erstaunen zeigte sich in Henriks Antlitz, als er erfuhr, daß ein indischer Fürstensohn ihn als Gast bewirte. Im Augenblick vermochte er nichts Gescheiteres zu sagen als: »Sie sprechen ein vortreffliches Englisch, mein Prinz.«
   »Oh«, entgegnete Anak Madé, »es ist nicht verwunderlich; ich habe mehrere Jahre das Hastingskolleg in Kalkutta besucht und auch Ihren berühmten Landsmann, Professor Haug, den größten Kenner der indischen Sprachen und Literatur, dort gehört.«
   Henrik erstaunte immer mehr, in dem Sohn des Fürsten einer wenig bekannten Insel einen Mann von solcher Bildung vor sich zu haben.
   »Das Lob des deutschen Gelehrten aus Ihrem Mund macht mich auf meinen Landsmann stolz. Ich muß leider eingestehen, daß ich von Ihrer Heimat nur geringe Kenntnis besitze.«
   Ein Schatten flog über des Prinzen Gesicht, als er erwiderte: »Ich wollte, sie wäre noch weniger bekannt. Die Herren Holländer bemühen sich eifrig, unsere innern Verhältnisse kennenzulernen, doch Ratu Asem ist nicht der Mann, ihr Wissen besonders zu vermehren. Meine Heimat Lombok oder Selapanang, wie wir sie nennen, ist dicht bevölkert, leider nicht allein von Balinesen; wir haben auch mit den mohammedanischen Sassakern zu rechnen, abgesehen von einigem malaiischem Raubgesindel. Doch wird es Ihnen von der Macht des Fürsten einen Begriff geben, wenn ich sein Heer auf achtzigtausend Mann beziffere. In meinen Begleitern sehen Sie Offiziere dieser Armee.«
   Der Stolz des Fürsten klang unwillkürlich aus seinen Worten, als er dies sagte. Er sprach so vornehm, ruhig, daß Henrik durchaus keinen Zweifel in seine Mitteilung setzte, obgleich sie ihn, den mit den Verhältnissen Inselindiens nicht Vertrauten, sehr überraschte.
   »Von solcher Machtstellung eines indischen Inselreiches hatte ich freilich keine Ahnung, mein Prinz.«
   »Sie werden mich begleiten und Mataram, die Residenz meines Vaters, sehen. Wie lange weilen Sie übrigens schon hier?«
   »Etwa drei Wochen.«
   »Was, so lange? Ist Ihnen unser Waldmensch begegnet?«
   Hoch horchte Henrik auf. »Wenn Sie den verwilderten Menschen meinen, der hier dem Tier gleich haust, ja. Auch Sie kennen ihn also?«
   »Oh, seit mehreren Jahren; er ist mir sehr gewogen.«
   Begierig fragte Henrik: »Wie lange mag er hier weilen, und wie kommt er hierher?«
   »Das Wenige, was ich weiß, ist, daß hier vor zehn oder zwölf Jahren eine Schiffsmannschaft von Malaien ermordet worden ist, und daß der Mann vermutlich dieser Mannschaft angehört hat.«
   Da Anak Madé bemerkte, daß Henrik bei diesen Worten sehr erregt wurde, fragte er: »Hat dieses Ereignis oder dieser Mensch ein besonderes Interesse für Sie?«
   Der bewegte Jüngling erzählte dem Sohn des Radscha jetzt, wer er sei, sprach von seinem Vater und der wunderbaren Fügung, welche ihn durch den Waldmenschen zu dessen Grab geleitet hatte.
   Ernst und teilnahmsvoll lauschte der Balinese seinen Worten.
   »Das ist in der Tat eine Fügung der Gottheit. So wäre also der Unglückliche ein Gefährte Ihres beklagenswerten Vaters gewesen?«
   »Es kann nicht anders sein.«
   »Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?«
   »Er scheint die Fähigkeit zu sprechen eingebüßt zu haben, er stammelte nur einige Laute, aber er nannte deutlich meines Vaters Namen.«
   »Es ist richtig, er spricht nicht. Ich kenne ihn seit vier Jahren, und er hat mich bei meinem ersten Besuch hier dadurch verpflichtet, daß er eine äußerst gefährliche Schlange aus meinem Weg räumte. Wir haben später versucht, ihn mit uns zu führen, um ihn den Seinigen wiederzugeben, aber der Versuch mißlang; er entfloh in die Wälder, ehe wir ihn an Bord bringen konnten. Geschenke an Kleidern und Waffen wies er zurück; er scheint sich als Waldmensch wohler zu fühlen als in der Zivilisation.«
   Fritz, für den diese Unterhaltung unverständlich war, hatte sich mit lobenswertem Eifer der Vertilgung verschiedener Tassen des vorzüglichen Kaffees wie besonders der umhergebotenen Süßigkeiten und des Reisbrotes hingegeben, auch einige lecker bereitete kalte Fleischspeisen nicht verschmäht.
   Als jetzt der Dialog zwischen Anak Madé und Henrik ein Ende nahm, sagte er: »Du, Hamburger, det war aber jottvoll; die wilden Menschen hier aus 'n Bilderbuch verstehn wat Jutes zu pappen, da laß ick sogar Kotelett mit Makkaroni vor stehn.«
   »Das sind keine wilden Menschen, Fritz. Der junge Herr, der uns als seine Gäste bewirtet, hat studiert und ist außerdem ein Prinz.«
   Fritz machte große Augen.
   »Een Prinz, een richtiger zitronenfarbener Prinz? Na, det jeht aber über jeden Robinson.«
   »Vergiß deshalb nicht, ihn mit der gebührenden Achtung zu behandeln.«
   »Natürlich nich, vor Prinzen habe ick immer den jrößten Respekt, besonders wenn se wat druff jehn lassen. Ne, Hamburger, der jelbe Mann sieht janz reputierlich aus, un ick werde ihn jehörig ästimieren; hoffentlich kommt et ihm uff ne Handvoll Diamanten nich an. In Tausenduneene Nacht kriegen arme, jute Jungen immer so'n Präsent von de Märchenprinzen.«
   Henrik lachte, und als Anak Madé ihn fragte, was der blasse Mensch Drolliges gesagt habe, verdolmetschte er es ihm, so gut es anging, und der Sohn des Radscha lachte auch und nickte Fritz freundlich zu.
   Das Frühstück, bei dem Reis in verschiedenen Zubereitungen, kalter Braten und Süßigkeiten die Hauptbestandteile bildeten, wurde durch den Prinzen beendet, indem er sich erhob. Alle andern folgten seinem Beispiel.
   »Wollen Sie mich auf die Jagd begleiten?« fragte er Henrik.
   Dieser lehnte es ab, da er zur Jagd in diesen Wäldern nicht ausgerüstet sei und seinen noch leidenden Gefährten nicht allein lassen wolle.
   »Ich kehre«, sagte der Inder, »am Abend noch oder am nächsten Morgen zur Heimat zurück, Sie und Ihr Begleiter sind mir als Gäste willkommen.«
   Er grüßte, indem er mit der flachen Hand die Stirne berührte und ging mit seinem Jagdgefolge davon, während noch eine starke Mannschaft auf dem Schiff zurückblieb. Das Fahrzeug führte, wie Henrik jetzt erst bemerkte, sechs Kanonen.
   Er war über diese Begegnung unendlich glücklich, denn so gab sich die Möglichkeit, ihn und Fritz aus unfreiwilliger Gefangenschaft in den großen Strom des Lebens zurückzuführen. Auf die Ankunft des »Roland« rechnete er nicht mehr. Da an Findlings aufrichtiger Teilnahme an ihrem Geschick nicht zu zweifeln war, lag der betrübende Gedanke nahe, daß dem Schiff ein Unglück zugestoßen sei.
   Der vornehme Inder hatte ihm sehr gefallen und er vertraute sich ihm rückhaltlos an. Sinnend zu ihrer Behausung zurückkehrend, fand er am Eingang der Höhle ein Notizbuch liegen, welches freilich arg beschädigt war. Überrascht und begierig nahm er es empor und schlug es auf. Die ihm wohlbekannte Handschrift seines Vaters leuchtete ihm entgegen.
   Er fühlte, wie das Blut ihm zu Herzen drang und ließ das Buch sinken. Rasch aber überwand er die Aufregung und begann zu lesen. Er war allein, denn Fritz hatte nach dem reichlichen Frühstück das Lager aufgesucht. Das kleine Buch war fast zerstört, Wind und Wetter hatten ihm sehr zugesetzt. In Rührung, ja in leidenschaftlicher Erregung durchblätterte er es und überflog den Inhalt der zerrissenen Seiten.
   Da waren Notizen, Handelsgeschäfte betreffend, und solche, die für das spätere Eintragen ins Logbuch berechnet waren, aber alle verstümmelt. Tränen traten ihm in die Augen, als er las: »Gestern nach Hause geschrieben – Muscheln für Henrik.« Dann kamen andere Eintragungen: »Schlimmes Wetter. Stenge fort. Werde durch Lombokstraße gehn.« Und endlich: »Wenn ein Mensch dies findet – der Malaie – Singapor an Bord – Falle gelockt – todwund – keine Rettung – Gott sei mir gnädig – – – liebe Stinning – Henrik –«
   Er schluchzte wie ein Kind, als er hier sah, wie der Vater noch im letzten Augenblick an die Mutter, an ihn gedacht hatte. Wie hatte er seinen Untergang gefunden? Wer war der Malaie, der offenbar schon in der Inschrift an der Höhlenwand des Waldmenschen erwähnt war? O wenn der letztere doch reden könnte!
   Er warf sich auf sein Lager und weinte sich aus. Als endlich sein Herz ruhiger schlug, die Erschütterung seines ganzen Wesens sich weniger fühlbar machte, erhob er sich und ging hinaus. In der Bucht schaukelte das schmucke Fahrzeug des Balinesen, das mit großer Sorgfalt getakelt war. Er begab sich in der Jolle an Bord, wo er in dem Befehlshaber einen Engländer fand, der, ehemals Steuermann auf einem Indienfahrer, jetzt in Diensten des Radscha von Lombok stand. Er trug ebenfalls indische Tracht und empfing Henrik freundlich. Nachdem er sich nach den Umständen erkundigt, die diesen hierhergeführt hatten, gab er Henrik den Trost, daß er von Lombok aus leicht Gelegenheit finden würde, die Heimreise anzutreten.
   Während sie noch plauderten, erscholl ein gellender Schrei vom Wald her. Aller Augen wandten sich dorthin und erblickten den Waldmenschen, der mit unbegreiflicher Schnelligkeit, in gewaltigen Sprüngen auf das Ufer zueilte. Dort lag ein Boot des Schoners, er sprang hinein, ergriff einen Riemen und trieb es mit aller Kraft auf das Schiff zu. Im nächsten Augenblick stand er, mit rollenden Augen und zornigem Gesicht, schweratmend an Deck.
   Einige von der Mannschaft hatten ihn früher schon gesehen, die meisten indessen nicht, ebensowenig der Kapitän. Der staunte die sonderbare Erscheinung verwundert an.
   Der Wilde kam rasch auf ihn und Henrik zu. Einige unartikulierte Laute drangen aus seinem Mund hervor. Der Kapitän und Henrik fühlten, daß der Mann leidenschaftlich erregt war, daß er etwas mitteilen wollte und es nicht vermochte.
   »Wer ist das?«
   Henrik erklärte es dem Kapitän mit einigen Worten.
   Die Aufregung des Wilden wurde größer, er deutete auf die Segel, den Anker, die Kanonen, dann nach Osten, und Henrik glaubte die Worte zu verstehen: »Gefahr – Malaien – totschlagen.«
   Verwundert sah der Engländer Henrik an.
   »Es bedroht den Prinzen jedenfalls eine Gefahr, und zwar von Malaien, er fordert uns auf, ihm mit dem Schiff Hilfe zu bringen.«
   Der Kapitän erschrak.
   Jetzt schien es, als ob aus weiter Ferne her Gewehrfeuer tönte.
   »Ist der Mann gesunden Geisteszustandes?« fragte Blake zweifelnd.
   »Jedenfalls nicht unfähig, eine Gefahr, welche den Prinzen bedroht, einzusehen und zu melden.«
   Mr. Blake wurde sehr unruhig, denn das ferne Flintenfeuer, welches nicht nach Jagdschüssen klang, die Erwähnung von Malaien, der Piraten des Sundaarchipels, machten ihn um seinen jungen Gebieter besorgt.
   Er rief den ältesten der Balinesen an und beriet mit diesem. Die Erregung des nackten Menschen nahm zu; es war jetzt jedem klar, daß er aufforderte nach Osten zu segeln, auch die Mannschaft wurde nachgerade sehr erregt.
   »Aber angenommen, es bedrohe Anak Madé eine Gefahr, wenn er nun hierher kommt und das Schiff nicht findet?« äußerte Blake zu Henrik.
   »Lassen Sie meine Jolle mit einigen Leuten hier, Sir; sie genügt, um ihn im Fall der Not in See zu bringen.«
   »Wäre es nicht richtiger, ich schickte Leute zu Land ab?«
   »Viele Stunden würden sie sich, ohne genaue Kenntnis der Bodengestaltung, durch den dichten Wald mühen müssen.«
   »Sie, der Sie diesen Wilden besser kennen als ich, würden also der geheimnisvollen Aufforderung folgen?«
   »Ja«, sagte Henrik, »unbedingt.«
   Wieder glaubte man fernes Gewehrfeuer zu hören. Dies gab den Ausschlag. Der Waldbewohner hatte schon die Speichen der Ankerwinde gefaßt und drehte sie mit der Kraft von sechs Männern. Jetzt gab der Kapitän rasche Befehle zum Ankerlichten und Segelstellen.
   Während der Anker unter den Anstrengungen einiger Balinesen heraufkam, flog der Fremde, einem Affen gleich, ins Takelwerk hinauf und band das Focksegel los.
   Der Kapitän ordnete mit Ruhe an, daß vier bewaffnete Leute mit der Jolle zurückbleiben sollten, um zu des Prinzen Verfügung zu stehen, wenn er zur Küste käme. Sofort gingen diese an Land.
   Jetzt entschlossen, nach Osten zu steuern, gab er Befehl, alle Leinwand fallen zu lassen. Dies geschah. Die Balinesen waren geschickt, und der Wilde arbeitete gleich einem Riesen auf den Rahen; bald lief das Schiff unter allen Segeln. Dann ließ der Schiffsführer Gewehre und Säbel an die Mannschaft verteilen und zur großen Befriedigung des Waldmenschen die Kanonen, sechs leichte Bronzegeschütze, schußfertig machen.
   Das Schiff lief mit einer Geschwindigkeit von etwa sieben Knoten an der Insel hin.
   »Was kann dem Sohn des Radscha begegnet sein, Herr?« wagte Henrik den Kapitän zu fragen.
   Besorgt erwiderte dieser: »Die politischen Verhältnisse auf Lombok sind ziemlich verwickelt. Die Balinesen sind der herrschende Stamm dort, aber die zahlreiche Urbevölkerung der Insel, die Sassaker, hassen ihre Unterdrücker und besonders das herrschende Fürstengeschlecht. Ich fürchte, es ist ein Anschlag auf Anak Madé im Werk, der von eben dieser Seite ausgeht. Nur eine solche Befürchtung konnte mich bewegen, meinen Ankerplatz zu verlassen. Der Verrückte mag mit seiner Aufforderung recht haben; die Wälder sind schwer passierbar, und die Feinde des Prinzen folgten uns natürlich zu Schiff. Gott gebe, daß dem so ist und wir noch zur rechten Zeit kommen!«
   Henrik begriff nach dieser Auseinandersetzung erst, welcher Art die Gefahr war, die den Prinzen bedrohte.
   Lautlos stand alles an Bord. Wiederum vernahm man Büchsenfeuer.
   Das Schiff war ein trefflicher Segler. Der Inselbewohner, welcher, eine Weile von den Balinesen sowohl seiner abenteuerlichen Erscheinung halber, als wegen seiner seemännischen Geschicklichkeit und außerordentlichen Kraft angestaunt, am Vorderdeck gestanden und ausgelugt hatte, kam jetzt nach hinten und deutete auf eine scharf vorspringende Meerzunge nach vorn hin. Verständlich, wenn auch leise und mühsam, sagte er: »Dort!« und deutete zugleich auf die obern Segel, mit dieser Gebärde auffordernd, sie einzuholen.
   »Was meint er?« wandte sich der Engländer an Henrik.
   »Ich vermute, die Gefahr birgt sich hinter jener Landzunge, und er möchte Segel geborgen sehen, um die Fahrgeschwindigkeit zu mäßigen. Auch sind wir bald am Ende der Insel, Herr.«
   Der Kapitän, der des Balinesischen, wie es schien, genügend Herr war, ließ die übrigens recht geschickten braunen Matrosen aufentern und alle obere Leinwand einnehmen.
   Mit verminderter Fahrt steuerten sie längs des Vorsprungs eine Weile dahin und sahen, daß vor ihnen, in Kanonenschußweite, ein einmastiges Fahrzeug von jener Form ankerte, deren sich die Malaien in diesen Gewässern bedienen. Als der Schoner sichtbar wurde, zeigte sich an dessen Bord ein lebendiges Treiben.
   Der Engländer ließ die Flagge des Radscha hissen und befahl, die drei Steuerbordgeschütze zu bemannen.
   Von der Prau her tönte ein Kanonenschuß, doch schien es nur ein Signalschuß zu sein. Das Glas zeigte, daß das Fahrzeug nur ein altes Geschütz an Deck führte.
   Sie kamen näher, das Leben an Deck des fremden Fahrzeuges mehrte sich, eilig stieß auch von dort ein Boot nach dem Land ab.
   Der Kapitän befahl seinen Kanonieren, gemeinsam auf den Mast zu zielen und ließ Feuer geben. Die Geschütze waren gut gerichtet gewesen, denn gleich darauf neigte sich der Mast und kam, unter wildem Geschrei der Bemannung der Prau, nach vorn nieder.
   »So«, sagte Mr. Blake, das war des Engländers Name, »der wird uns nicht mehr entwischen! Es ist eine malaiische Prau«, fuhr er fort, »aber was nun?«
   Sie waren jetzt in Büchsenschußweite von dem Fahrzeug entfernt, und einige Flinten wurden von dort aus auf sie abgefeuert, verfehlten jedoch ihr Ziel.
   Die Balinesen erwiderten das Feuer sofort, und es mußte nicht ohne Wirkung geblieben sein, denn Schmerzensgeheul antwortete den Schüssen.
   »Was nun?« fragte Blake den Wilden. Dieser mußte die Worte verstanden haben oder aus dem Ton auf ihren Inhalt schließen, er deutete auf das Land: »Dort – helfen!«
   Die Worte waren deutsch. Ehe sie Henrik noch übersetzen konnte, sprang der Waldmensch über Bord und schwamm, seine Keule mit sich führend, wie ein Delphin durchs Wasser.
   Aus dem Wald, der hier die Hügel krönte, krachten Büchsenschüsse.
   Entschlossen befahl der Kapitän dem größern Teil der Mannschaft, in den zwei Booten, welche der Schoner im Schlepptau hatte, an Land zu gehen, während der Steuermann mit den Zurückbleibenden unter leichtem Tuch kreuzen sollte.
   Er selbst ergriff eine Büchse und stieg ins Boot; Henrik, der schon früher eine Waffe zur Hand genommen hatte, folgte ihm. In zwei Minuten waren sie an Land.
   »Es ist sicher«, äußerte Mr. Blake, »daß sie Anak Madé überfallen haben, diese malaiischen Schurken, und wir müssen um so vorsichtiger vorgehen, als wir die Stärke des Feindes nicht kennen.« In diesem Sinn instruierte er seine Leute. »Wäre nur das Subjekt hier, welches uns hergerufen hat.«
   Die ganze Bemannung der Prau, es mochten dreißig bis vierzig Menschen sein, sprang jetzt über Bord und schwamm dem Land zu. Der Balinese aber, welcher nun den Schoner kommandierte und ebenfalls das ganze Bewußtsein der Gefahr hatte, welche Madé, den einstigen Beherrscher und Liebling seines Volkes bedrohte, ließ rücksichtslos die mit Traubenschüssen geladenen Kanonen auf den einen Kaufen abfeuern, der eben ans Land stieg. Der Schuß war von furchtbarer Wirkung. Mehr als die Hälfte der halbnackten Malaien sank tot oder verwundet zu Boden, die andern verschwanden im Wald.
   »Gut gemacht, Ayung«, sagte der Engländer, »das erspart uns Arbeit.«
   Aus den Büschen tauchte der Waldmensch auf und winkte. Auf den Befehl Blakes gingen die Balinesen, welche sämtlich gute Büchsen trugen, in einer Schützenlinie vor, während der Wilde die Richtung angab und Bahn durch das Unterholz brach.
   Unter furchtbaren Anstrengungen wandten sie sich durch den Urwald, Henrik an der Seite des Kapitäns.
   Jetzt hörten sie ganz nahe Büchsenfeuer und wildes Geschrei.
   Der Wald wurde lichter, und gleich darauf sahen sie eine mit Felsgestein durchsetzte Grasfläche vor sich, auf welcher einige dreißig braune, halbnackte Gesellen lagen und eine Höhle beschossen, aus welcher das Feuer von Zeit zu Zeit erwidert wurde.
   Kaum waren die Balinesen am Waldsaum erschienen, als die Malaien unter wildem, ohrenbetäubendem Geschrei aufsprangen und auf den Eingang der Höhle losstürmten.
   Da feuerten die Balinesen, und niederstürzende Gestalten zeigten, wie gut sie getroffen hatten. Mit einem gellenden Schrei sprang der verwilderte Mann aus den Büschen auf und schwang seine Keule. Die Malaien hatten schon entsetzt innegehalten, als die Schüsse der Balinesen krachten, und liefen nun doppelt bestürzt in eiliger Flucht davon, doch nicht, ohne daß zuvor zwei von der Keule des Wilden niedergestreckt waren.
   Der Kapitän und Henrik voran, stürmten jetzt die Balinesen ins Freie, auf die Höhle zu. In dieser erschienen einige der Begleiter des Prinzen, dann er selbst.
   Freudig schritt Anak Madé auf seine Leute zu, als ein wie tot am Boden liegender Malaie aufsprang und das krumme Messer auf ihn zückte. Der Prinz wich dem Stoß aus, doch wäre es um ihn geschehen gewesen, wenn nicht in gleichem Augenblick Henrik den Malaien von hinten um den Leib gepackt und zurückgerissen hätte. Einer Schlange gleich wandte der Mann sich um, und der Jüngling blickte in das dunkle von verzehrendem Haß erfüllte Auge des Gegners, dessen Messer er vor sich blitzen sah. Aber Henrik, stark und behende wie ein junger Bär der germanischen Wälder, hatte blitzschnell zugreifend mit der Linken des Gegners rechtes Handgelenk gefaßt und führte mit der Rechten zugleich einen so kräftigen Kolbenstoß auf des Malaien Brust, daß sie dumpf dröhnte. Die tigerartige Gewandtheit des Schurken war deutscher Kraft nicht gewachsen, trotz seines Zerrens und seiner wilden Sprünge hielt die eiserne Faust Henriks die messerbewehrte Hand fest. Die Keule des herzuspringenden Wilden machte dem Kampf ein rasches Ende, niederfahrend zerschmetterte sie des Feindes Haupt. Einer Mauer gleich scharten sich jetzt die Balinesen um den Prinzen, ihn mit ihren Leibern zu decken.
   Da Mr. Blake fürchtete, es könne aus den Büschen geschossen werden, ersuchte er den Prinzen, den Schutz des Waldes aufzusuchen. Anak Madé nickte zustimmend und ging.
   Henrik erfuhr jetzt, daß in der Tat ein Anschlag auf das Leben, zum mindesten auf die Freiheit des einstigen Beherrschers von Lombok ausgeführt worden war. Anak Madé und die Seinen waren überfallen, zwei seiner Diener erschossen worden. Er und seine Jagdgenossen erwiderten zwar das Feuer, doch würden sie im verschlungenen Waldesdickicht wohl die Opfer der Feinde geworden sein, wenn nicht der Waldmensch erschienen wäre und sie zu der Höhle geführt hätte, aus welcher sie eben befreit worden waren. In der Höhle hatte man sie belagert, doch war durch die energische Verteidigung das Schlimmste abgewehrt. Erst das Feuer des Schoners, welches die Feinde stutzen machte, sagte ihnen, daß Hilfe herannahe.
   »Wie danke ich dir, mein guter Waldmensch«, sagte Anak Madé, dem Blake Bericht von dem, was in der Bucht und an Land vorgegangen war, abgestattet hatte, und schüttelte die braune Hand des Wilden herzlich, »dir verdanke ich mein Leben.«
   Der Waldmensch nickte lächelnd und sagte mehrmals: »Gut, gut.«
   Dann dankte der Prinz auch Henrik: »Ich werde deine rechtzeitige Hilfe nicht vergessen, deutscher Jüngling, du hast am Sohn des Radscha von Lombok einen Freund fürs ganze Leben gewonnen.«
   Auch an Mr. Blake und seine Leute richtete er freundliche Worte.
   Da von dem Feind nichts mehr zu bemerken war – die noch Lebenden schienen sich im Wald zerstreut zu haben – begaben sich alle hinab zur Küste.
   Rührend war es, wie die Balinesen unaufhörlich mit ihren Leibern den jungen Prinzen zu decken suchten, damit ihn nicht eine Kugel aus tückischem Hinterhalt erreiche. Der Wilde, welcher Gesicht und Gehör eines Waldtieres zu haben schien, umkreiste gleich einem Wächterhund den Zug.
   Bald hatten sie das Meer erreicht und befanden sich gleich darauf an Deck des Schoners. Die Prau wurde ins Schlepptau genommen, und mit einer frischen Brise segelten sie zurück. In kurzer Zeit hatten sie die Bucht erreicht.
   An Land gehend, sahen sie die zurückgelassenen Balinesen mit den Waffen in der Hand vor der Höhle stehen, welche die jungen Leute bewohnten und vernahmen aus dem Innern die in Todesangst zitternde, dabei befehlend-kreischende Stimme des Schneiders.
   »Sowie du dir muckst, jebe ick Feuer und mache dir een Loch in dein Fell, det du daran denken sollst. Stehst du stille! Von dir lasse ick mich nich an die Wimpern klimpern. Ick bin mit een Dutzend Menschenfresser fertig jeworden, verstehst du, dir lasse ick ooch noch anloofen. Ruhig!«
   Während der Schoner auf seiner Fahrt begriffen war, hatten die zurückgebliebenen Leute des Prinzen ängstlich der weitern Entwicklung der Dinge geharrt. Kurz vor der Rückkunft des Schiffes war am Wald ein halbnackter Bursche aufgetaucht, der, als er die Balinesen und ihre erhobenen Büchsen plötzlich gewahrte, im ersten Schrecken in die Höhle geschlüpft war, welche Henrik und dem Schneider als Unterschlupf diente.
   Fritz Fischer hatte nach dem herrlichen Frühstück, welchem er so große Ehre erwiesen, ein langes Schläfchen gehalten. Er war eben aufgewacht und befand sich in der behaglichen Stimmung eines Menschen, welcher gut gespeist und gut verdaut hat, als zu seiner jähen Überraschung ein brauner Bursche, der ihn im ersten Augenblick nicht gewahrte, in die halbdunkle Höhle schlüpfte.
   Der Mann hatte ein blinkendes Messer in der Hand und stand gebückt und lauernd am Eingang.
   Fritz wurde bei diesem Anblick von Todesangst befallen. Instinktiv aber griff er zu Henriks Flinte, welche zum Glück neben ihm stand und spannte zitternd die Hähne.
   Auf dieses Geräusch hin wandte sich der Eindringling nach ihm hin und sah mit tiefem Schrecken die Mündungen der Doppelläufe auf sich gerichtet.
   »Hilfe!« schrie Fritze, »hier is eener.«
   Der Mann machte eine demütig flehende Bewegung, aber der Schneider, welcher sie wohl in seiner Angst für eine drohende halten mochte, riß die Flinte empor und rief in bebendem Ton: »Rühre dich nicht, oder et jeht los.«
   Dieses und die Stimmen der Balinesen draußen schüchterten den Flüchtling, der zitternd und lauschend dastand, noch mehr ein. Wer die größere Angst hatte, der Eingeborene oder der Berliner, war nicht zu entscheiden. Seinen Todesschrecken zu betäuben, schrie Fritz unaufhörlich.
   Solcherart war die Situation, als Henrik das Land betrat und die Stimme seines Freundes hörte.
   Er und der Wilde liefen allen andern voran nach der Höhle. »Ist ein Malaie drin, so fangt ihn lebendig!« rief Anak Madé den Seinigen zu und wiederholte es für Henrik englisch.
   Henrik mit der Büchse, der Waldmensch mit der Keule in der Hand, drangen furchtlos in die Höhle ein, sahen den tapfern Schneider auf seinem Lager sitzen, wie er die Flinte in unsichern Händen handhabte, und den Malaien bebend vor ihm stehen.
   Schon hob sich die furchtbare Keule, als Henrik rief: »Lebendig, Freund!«
   Da ließ der Malaie auch schon den Kris fallen und warf sich als Zeichen der Ergebung zur Erde nieder, mit der Stirn den Boden berührend.
   Als der Schneider das sah, wich plötzlich seine Todesangst, und wenn auch mit vor Aufregung noch bebender Stimme, so doch mit stolzem Selbstbewußtsein sagte er auf den demütigen Mann deutend: »So, Hamburger, den hätten wir. Der soll nur mit keenen Berliner nich anfangen; der kennt mir noch nich!«
   Die nachdringenden Leute des Prinzen bemächtigten sich des Gefangenen, banden ihm die Hände auf den Rücken und führten ihn hinaus.
   Henrik erfreut, daß er seinen Gefährten ganz unverletzt sah, fragte: »Nun, mein guter Fritze, der Bursche hat dich wohl sehr erschreckt?«
   »So eener?« entgegnete der Schneider, dem jetzt der Kamm nicht wenig geschwollen war, verächtlich. »Nee, da müssen andere Leute kommen, von die Sorte nehm ick et mit een halbes Dutzend uff.«
   Henrik lachte: »Ja, mein tapferer Junge, ich kenne dich ja seit der Affäre mit den Menschenfressern. Du mußt dem Mann gehörig zugesetzt haben.«
   »Det schwöre ick dir, ick hätte den Spitzbuben durch und durch jeschossen, wenn er sich jemuckst hätte. Der Schlingel war aber janz dusemang, wie er mir sah. Der muß ne scheene Angst ausjestanden haben!«
   »Das glaube ich auch, du hast was Gefährliches an dir.«
   »Ick sage dir, Hamburger, wenn wir aus de Reezenjasse anfangen, dann jeht et nich jut.«
   »Dein Mut und deine Kaltblütigkeit sind um so bewundernswerter, als meine Flinte nicht geladen war.«
   Äußerst verblüfft sah Fritze bald auf die Waffe, bald auf Henrik.
   »Nich jeladen? Denn is et jut, det der Mann det nich jewußt hat, der hätte mir scheene abmurksen können mit sein krummes Messer«, sagte Fritz kleinlaut.
   »Das ist ja eben das Großartige, daß du ihn durch deine Entschlossenheit auch mit der leeren Flinte in Schach gehalten hast.«
   »Ick jloobe ooch, Hamburger, et war een kleenes Bravourstück, meenste nich?«
   »Ich sage es ja.«
   »Det war een böser Bruder, un et jehörte wat zu, ihm zu imponieren, aber ick habe et fertig jebracht. Jetzt brauche ick mir nich mal mehr vor eenen von die Leutnants zu schenieren. Erst 'n halbes Dutzend Menschenfresser un dann diesen entsetzlichen Räuber un Mörder! Det macht mir doch so leicht keener nich nach.«
   »Du bist der geborene Held.«
   »Det haben wir Berliner so an uns!« sagte Fritze von oben herab. »Wenn ick det zu Hause jemacht hätte, un hätte so 'n äußerst gefährliches Subjekt janz alleene jefangen jenommen, hätte ick 'n Orden jekriegt un wenn't man vierte Jlasse jewesen wäre.«
   »Vielleicht zeichnet dich der Fürst von Lombok für deine Tapferkeit auch aus.«
   »Meenste, Hamburger, et könnte so wat vor mir abfallen?« fragte Fritze begierig.
   »Man kann nicht wissen.«
   »Na, aber denn, denn kann mir aber det janze Pantinenviertel den Stoob wegblasen«, sagte der Jüngling aus der Reezengasse mit unnahbarem Stolz. »Verdient hab ick eene Auszeichnung, det is so sicher, wie die 101 Kanonenschüsse bei 'n neuen Prinzen.«
   Henrik ergötzte sich höchlich an dem Selbstbewußtsein des Berliners.
   Sie begaben sich hinaus. Draußen hatte man den Gefangenen vor Anak Madé geführt. Es war noch ein junger Bursche, der große Angst zu haben schien. Nach seiner Aussage galt der Überfall in der Tat der Gefangennahme des Prinzen, von dessen Jagdausflug die Führer der Expedition unterrichtet gewesen sein mußten. Die Prau hatte im ganzen sechzig Mann beherbergt, der Mehrzahl nach Malaien, doch waren auch einige Sassaker darunter. Der weitaus größere Teil war unter dem Feuer der Balinesen gefallen; in die Wälder konnten nur wenig Verwundete entkommen sein, und diesen war mit der Wegnahme der Prau das letzte Rettungsmittel geraubt. Der Prinz hörte schweigend die Aussagen des Gefangenen an und befahl, ihn an Bord zu bringen. Er wandte sich dann mit freundlicher Gebärde an Fritz. »Und Sie, mein kleiner Deutscher, haben uns den Burschen festgehalten?«
   »Wat sagt er?«
   Henrik übersetzte ihm die englisch gesprochenen Worte.
   »Allemal!« sagte Fritz, »un et war keen leichtes Stück Arbeet, Euer Königliche Durchlaucht, Exzellenz, det darf ick wohl sagen, denn det war een fürchterlicher Mordbruder mit det Messer. Aber ick hab' et ihm jejeben, der weeß jetzt, wat 'n richtiger Berliner bedeutet.«
   Nach passender Übersetzung durch Henrik entgegnete Anak Madé höflich: »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren Beistand, mein junger Freund, und ich werde es nicht vergessen.«
   »Wat sagt er?«
   »Der Prinz dankt dir.«
   »Oh, et hat nischt zu sagen, Hoheit, Exzellenz. Vor Ihnen fange ick noch een janzes Dutzend solcher Brüder, wenn Ihnen det Spaß macht.«
   Anak Madé reichte ihm die Hand und wandte sich zu seinen Offizieren.
   »Hat er nischt von so 'n Ding vor't Knopfloch gesagt oder angedeutet, Hamburger?«
   »Bis jetzt noch nicht, aber die Orden verleiht ja sein Vater, der regierende Fürst.«
   »Na, ick bin bejierig«, meinte Fritz.
   Nach kurzer Beratung mit seinen ältern Begleitern befahl der Prinz, daß alles sich auf den Schoner zurückziehen sollte. Henrik und Fritz wurden dahin eingeladen.
   Als sie ins Boot stiegen, gesellte sich der Waldmensch zu ihnen, indem er sich neben Henrik setzte.
   »Willst du bei uns bleiben, mein Freund?«
   Der Mann nickte ernsthaft, streichelte Henriks Schulter und sagte leise: »Horsa – gehen.«
   Dies rührte Henrik sehr.
   Erfreulich war es, daß der Inselbewohner endlich seine Lippen geöffnet hatte. War es auch wenig, was er gesprochen und waren die Laute auch unbehilflich herausgekommen, wie bei jemand, der seiner Sprachwerkzeuge nicht Herr ist, so ließ es doch die Hoffnung aufkommen, daß mit der Zeit, wie die seit Jahren ungebrauchten Stimmorgane, auch der so lange untätige Geist erstarken werde. Daß noch Gefühl für seine Zusammengehörigkeit mit Leuten weißer Abstammung, daß noch Erinnerungsvermögen vorhanden war, hatte sich klar gezeigt. Mit stummem Entzücken hatte er auch, das wurde Henrik jetzt klar, den deutschen Lauten gelauscht, als sie zuerst wieder nach langen Jahren vor seinem Ohr erklangen und wie eine süße Melodie aus ferner Jugendzeit zu ihm zu sprechen schienen.
   Daß er bei seinem fast märchenhaften Dasein, nach vielen Jahren des Schweigens nur mit Anstrengung Sprachlaute bildete, konnte nicht überraschen. Daß die geistigen Fähigkeiten gelitten hatten, war nur zu erklärlich, und doch hatte er gerade bei der Gefahr, welche den Prinzen bedrohte, Intelligenz und Geistesgegenwart verraten. Ebenso waren alle seemännischen Instinkte aufgewacht, als er wieder ein Schiff betreten hatte. Ob dieser Mensch, der das Leben eines wilden Tieres führte, dem zivilisierten Leben wieder zu gewinnen war, schien ja zweifelhaft, aber nicht unmöglich, wie es Henrik dünkte.
   An Bord gekommen, begab sich der Prinz sofort in seine Kajüte, die Sorge für Henrik und Fritz dem Kapitän überlassend.
   Der Wilde, der, wie alle wußten, das Werkzeug zur Rettung Anak Madés gewesen war, hatte sich, in Gang und Haltung wieder ganz zum Matrosen geworden, nach vorn begeben und schaute, sich ans Bollwerk lehnend, still zu der Insel hinüber. Weniger sein von Sonne und Wind gebräunter Körper erregte unter den selber halbnackten balinesischen Matrosen Aufsehen, als die furchtbare Haar– und Barttracht. Henrik beschloß, einen Versuch zu machen, ihn davon zu befreien. Er weihte den Kapitän in diese Absicht ein und teilte ihm mit, welches besondere Interesse er für den Menschen habe, und daß er sein Bestes tun wolle, ihn seinem gegenwärtigen Zustand zu entreißen. Mr. Blake, der dankbar genug dafür war, daß jener ihm die Möglichkeit gewährt hatte, seinen jungen Herrn aus so großer Gefahr zu befreien, ging bereitwillig darauf ein. Da der Prinz nach Art der indischen Großen eine zahlreiche Leibdienerschaft mitführte, veranlaßte der Kapitän, daß aus deren Schar diejenigen gerufen wurden, welche als Barbiere und Friseure tätig waren. Als sie mit Schere und Messer kamen, versuchte Henrik, seinem Schützling klar zu machen, was er von ihm wünsche. Dieser lehnte indessen die Hilfeleistung der Diener ab. Da ließ Henrik einen Spiegel herbeischaffen und hielt ihm diesen vor. Der Mann starrte hinein – ein Ausdruck des Entsetzens überflog seine Züge, dann sank er auf die Knie, schlug die Hände vor das Gesicht und große Tränen rannen zwischen den Fingern hindurch.
   Nicht ohne bewegt zu sein, sahen das die umstehenden mit an. Endlich stand er auf, setzte sich auf einen nahen Schiffsstuhl und winkte den Leuten, ihr Werk zu beginnen. Die geschickten Balinesen machten sich ans Werk, kürzten seinen Haarwuchs, salbten ihm den Bart, schnitten ihm die Nägel an Händen und Füßen, und als ein ganz anderer stand er bald darauf da. Wieder hielt ihm Henrik den Spiegel vor, lange sah er hinein und nickte seinem Bild zu.
   »Gut, gut«, sagte er dann und drückte Henrik die Hand.
   Mr. Blake, der an diesem Vorgang großes Interesse nahm, hatte eines der dünnen, tunikaartigen Gewänder holen lassen, wie es die Indier geringern Schlages tragen, und der Mann ließ es sich überstreifen, behielt es auch an, obgleich er sich sehr unbehaglich darin zu fühlen schien.
   »So«, sagte Henrik, »jetzt sind wir äußerlich ins Leben zurückgekehrt, mein Freund, hoffentlich schließt sich auch die Seele wieder deinem Volk, deinem Vaterland an.«
   »Vaterland?« wiederholte jener leise, »ja – deutsches Vaterland.« Er erhob sich und ging zum Bugspriet und sah still in die Weite. Rücksichtsvoll ließ man ihn ungestört.
   »Der olle wilde Robinson is 'n janz reputierlicher Menschenbruder, jetzt wo er frisiert is«, meinte Fritze, »paßt mal uff, der wird noch janz zahm.«
   Henrik und Fritz wurden in eine kleine Kajüte geführt, wo Badediener ihrer harrten, die sie zu ihrem großen Behagen nach indischer Art badeten und salbten. Danach bot man ihnen indische Kleidung an, die sie um so dankbarer annahmen, als die ihrige durch den dreiwöchentlichen Aufenthalt im Wald und in der Höhle nicht gewonnen hatte.
   »Jetzt siehst du ooch aus wie 'n Prinz aus det Bilderbuch, Hamburger«, sagte Fritze bewundernd, dem die schlanke Gestalt und das edel geformte Gesicht Henriks in der malerischen Tracht ungemein gefielen. »Un ick? Wat meenste denn zu mir mit die Maskerade?«
   »Du hast etwas echt Orientalisches an dir; man könnte dich für einen geborenen Maharadscha halten.«
   »Ja, weeste, det is uns Berlinern anjeboren, wir sind nu mal ne feine Sorte.«
   Fritz ging würdevoll an Deck auf und ab und kam sich nicht wenig wichtig vor.
   Nach einiger Zeit erschien Mr. Blake, der sich der äußern Verwandlung der jungen Leute freute, um sie in die Hinterkajüte zu führen, wohin Anak Madé sie einladen ließ.
   Wie erstaunten beide, als sie hier im Schein hellbrennender, mit Milchglas umhüllter Lampen, welche einen angenehmen Duft verbreiteten, eine Pracht entfaltet sahen, die fast märchenhaft zu nennen war. Wände und Decke zeigten nicht nur die kostbarsten Hölzer des Ostens in feinster Politur, nein, auch wundervolle von Künstlerhand gefertigte Schnitzereien in Elfenbein, Perlmutter und Metall waren darin eingelassen, Ornamente, Früchte, Blumen und Tierstücke darstellend, in seltener Farbenpracht. Der Fuß versank in einem weichen Teppich, der schwellende Diwan, die Polster waren mit den teuersten indischen Geweben überzogen. Auf dem niedrigen, ebenfalls schön verzierten Tisch standen Gefäße von Silber und Gold, aus den besten Werkstätten Indiens hervorgegangen. Das Staunen der Jünglinge, die Ähnliches nie gesehen und von der Industrie Indiens und der Geschicklichkeit seiner Kunsthandwerker keine Ahnung hatten, war durchaus gerechtfertigt. Anak Madé hatte sich umgekleidet und empfing sie in einem hellen seidenen Gewand, welches vortrefflich zu seiner Hautfarbe paßte und ihm zugleich Anmut und Würde verlieh.
   Er freute sich der Überraschung seiner Gäste und begrüßte sie freundlich.
   Fritz machte unaufhörlich ehrfurchtsvolle Bücklinge; diese orientalische Pracht verblüffte den Sohn der Reezengasse vollständig.
   »Det is noch scheener, als bei Kommissionsrats in ersten Stock in 't Vorderhaus«, äußerte er später, um seiner Bewunderung kräftigen Ausdruck zu geben.
   »Seid mir willkommen, meine jungen deutschen Freunde, die mir Wischnu, der Erhalter, zur rechten Zeit gesendet hat!« Mit diesen Worten lud Anak Madé sie durch eine höfliche Gebärde ein, auf den Polstern in seiner Nähe Platz zu nehmen.
   Fritz drehte sich einigemal um seine eigene Achse, ehe es ihm gelang, sich niederzulassen.
   »Des Ewigen unerforschlicher Ratschluß hat uns hier zusammengeführt, euch, die blonden Söhne des fernen Nordens, und mich, das Kind einer heißern Sonne; zu aller Heil will mich bedünken.«
   »Wir sind nächst Gott Ihnen Dank schuldig, Prinz, wenn wir aus unserm Inselgefängnis befreit wurden.«
   »Nichts von Dank, Sir, ich bin Ihnen für mein ganzes Leben verpflichtet«, entgegnete er ernst. »Sie werden sich mit Erstaunen gefragt haben, wie es kam, daß ich der Gegenstand eines so heimtückischen Angriffs wurde. Ich müßte Ihnen ein gutes Teil der verwickelten Geschichte dieser Inseln erzählen, wenn ich es vollständig erklären sollte. In erster Linie war es wohl der Zorn der bei uns ansässigen räuberischen Maleien, die wiederholt die schwere Hand meines Vaters gefühlt haben und«, setzte er mit einem finstern Gesichtsausdruck hinzu, »vielleicht sind auch noch andere Kräfte hierbei wirksam gewesen, gefährlichere – doch, das wird sich finden. Wunderbar wie unser Zusammentreffen, ist meine, ist unsere Rettung. Wäre ich in die Hände dieser Räuber gefallen, würden sie zur Nacht das Schiff durch ihren Angriff überrascht haben, und dann wäre wohl niemand am Leben geblieben. Der seltsame Waldmensch«, fuhr er nachdenklich fort, »mußte das Werkzeug sein, mich vor dem Tod, zum mindesten vor der Gefangenschaft zu bewahren. Wie vergelte ich es dem Armen?«
   Henrik erzählte ihm jetzt, welches Experiment er mit ihm vorgenommen habe.
   Mit freudvoller Teilnahme erfuhr der Indier, daß der Geist des Waldbewohners sich zu regen beginne.
   »Unsere heiligen Schriften lehren uns«, sagte er dann, »daß alles auf Erden von dem Willen der Gottheit abhängt, daß nichts ohne sie geschieht, und in den Begebenheiten, die Sie hierher zu dem einsamen Grab Ihres Vaters geführt haben, die jenen Unglücklichen, seinen einstigen Gefährten, mir zur Hilfe sandten, zeigt sich das Walten des Ewigen in seiner ganzen Macht. So wird auch bei unserm Freund, wie ich hoffe, das Licht der Vernunft wiederum einkehren, die schwere Tat, welche an den Ihrigen verübt worden ist, gesühnt werden, wenn Gott nicht bereits gestraft hat. Er weiß den Schuldigen zu treffen.«
   »Ich hoffe, ich glaube so«, entgegnete Henrik ernst.
   Diener ließen jetzt die vornehmen Balinesen, welche den Prinzen als Jagdgefährten begleiteten, ein. Auch sie hatten sich umgekleidet und nahten sich Anak Madé ehrfurchtsvoll. Auf seine Einladung ließen sie sich nieder. Ein reiches Mahl wurde jetzt aufgetragen, dessen Hauptbestandteile wiederum Reis, gebratenes Geflügel, eingemachte Früchte und süßes Gebäck bildeten. Die Diener reichten die Schüsseln und Schalen aus Porzellan und edeln Metallen herum. Messer und Gabeln wurden durch kleine Löffel von Elfenbein und aus demselben Material gefertigte Stäbchen ersetzt. Henrik gewahrte, wie anstandsvoll und mit welchem Geschick sich die Balinesen dieser Hilfsmittel bedienten, und ahmte nicht ohne Erfolg diese kunstvolle Art zu speisen nach. Das Berliner Kind aber, schon durch die nie gesehene Pracht der Ausstattung der Kajüte eingeschüchtert, saß ratlos an dem niedrigen Tisch und vor den Speisen, die seinen nach der Krankheit sehr gesunden Appetit gewaltig reizten; Löffelchen und Stäbchen waren für ihn nicht die geeigneten Mittel, würdevoll zu essen. Mit den Händen zuzugreifen, wozu er nicht geringe Lust verspürte, scheute er sich den feinen Indiern gegenüber doch.
   »Du, Hamburger«, sagte er endlich leise, »ick kriege 't nich fertig, mit die Dinger so aus de Vogelperspektive wat zu knabbern; wat mach ick nu?«
   »Nimm dir ein Beispiel an den indischen Herren, ich ahme ihre Art zu speisen ja auch nach.«
   »Ja, du, du bist 'n studierter Junge.«
   Der Prinz hatte augenscheinlich des Berliners Verlegenheit bemerkt, und Ähnliches mochte ihm in Gesellschaft von Europäern schon begegnet sein; er rief einem der Diener einige Worte zu, der gleich darauf Fritz und Henrik silberne Messer und Gabeln vorlegte. Der Speisesaal des Indiers war auch auf den Empfang abendländischer Gäste eingerichtet.
   »Det is aber fein«, meinte Fritz, »die jelbe Hoheit Exzellenz hat Pli. Nu kann 't aber losjehn.«
   Und mit frischem Mut begann er, den Speisen zuzusprechen.
   Anak Madé wechselte hie und da einige Worte mit seinen Offizieren oder richtete eine Frage in englischer Sprache an Henrik.
   »Die Deutschen«, äußerte er im Lauf des Mahles, »sind, wie ich unterrichtet bin, ein großes und gelehrtes Volk, haben auch viel Handelsschiffe auf der See; wie kommt es, daß wir nie ein deutsches Kriegsschiff in diesen Gewässern zu sehen bekommen?«
   »Unsere Uneinigkeit, die Zerrissenheit in viele Stämme, die miteinander haderten, hat das deutsche Volk verhindert, gewaltig zur See aufzutreten, mein Prinz. Alle unsere Kraft mußten wir auf die Landmacht verwenden.«
   »Die Holländer sind mächtiger als ihr Deutschen, nicht wahr?«
   Henrik lachte. »Mächtiger? Nein. Die Holländer sind ein tüchtiges, mannhaftes Volk, aber wenn Deutschland, das ganze einige Deutschland in Waffen steht, wird kaum eine andere Macht dagegen aufkommen können.«
   Eifrig übertrug der Prinz dies seinen Gefährten, und diese schienen Henriks Äußerung mit großem Vergnügen zu vernehmen.
   »Die Holländer haben das Glück gehabt, während wir uns in Bruderkämpfen aufzehrten, kraftvoll auf dem Meer auftreten zu können, zu einer Zeit, wo wir nicht ein Orlogschiff besaßen. Doch wird der Tag kommen, an dem die deutsche Kriegsflagge auf allen Meeren weht und den fernsten Völkern die Macht und Herrlichkeit des einigen Deutschlands kündet.«
   Henrik hatte mit einem Feuer gesprochen, welches den Indiern Bewunderung abnötigte, besonders als der Prinz die Worte übertragen hatte.
   »Wat haste die Leute jesagt?« fragte Fritz kauend.
   »Ich habe ihnen vom großen Vaterland, vom heiligen Deutschland gesprochen.«
   »Is recht, Hamburger! Det janze Deutschland soll et sein! Nu sag die Leute ooch noch wat von ollen Fritzen unter die Linden, damit sie uns recht ästimieren.«
   »Ich habe von euch Deutschen viel gehört in Kalkutta«, wandte sich der junge Fürst an Henrik, »und, wie ich schon sagte, euern großen Gelehrten, den Professor Haug, der selbst den Brahmanen die heiligen Schriften auslegt, weil er Sanskrit und Prakrit besser beherrscht als sie, persönlich kennengelernt. Die Holländer sind bei uns nicht beliebt. Die Herren von Java wollen auch auf Bali und Lombok einen Einfluß ausüben, der uns nicht zusagt. Glauben Sie nicht, Sir«, fuhr er lebhafter fort, »daß ich die Güter, welche die hohe Zivilisation, deren die Europäer sich erfreuen, im Gefolge hat, unterschätze, ich habe sie in Kalkutta bewundern gelernt, aber wir wollen sie uns nicht mit Kanonen und Bajonetten aufzwingen lassen, vielmehr unsere Eigenart wahren.«
   So wurde noch manches gesprochen, was für Henrik, der dieser Inselwelt und ihren Völkergebilden fremd gegenüberstand, von hohem Interesse war.
   Fritz Fischer, der wenig beachtet wurde, widmete dem Mahl und seinen einzelnen Bestandteilen eine eingehende Aufmerksamkeit und verriet entschieden die Absicht, für kommende Zeiten der Not Vorrat einzulegen.
   Endlich hob Anak Madé, nachdem er noch mitgeteilt hatte, daß er morgen nach Ampanan zu segeln gedenke, die Tafel auf und verabschiedete höflich seine Gäste. Fritze ließ sich hierbei wieder eine stattliche Anzahl merkwürdiger Verbeugungen zuschulden kommen.
   »Det mußt du aber doch sagen, Hamburger, det ick mir standesjemäß uffjeführt habe bei unsern Prinzen, en Leutnant von die Jarde kann et ooch nich besser«, sagte er draußen.
   Henrik hatte nun hierüber zwar einige Zweifel, versuchte aber nicht, die gute Meinung, die Fritz von sich selbst hatte, zu zerstören. Er sah sich noch nach dem Wilden um, da er ihn aber auf Deck nicht fand und annahm, daß er irgendwo einen Unterschlupf gesucht habe, begab er sich zu der ihm und Fritz angewiesenen Kabine und ging zur Ruhe.
   Im Traum sah er seinen Vater, der liebevoll auf ihn herniederblickte.
   Das Klirren der Ankerkette auf Deck weckte ihn. Er erhob sich, kleidete sich an und ging hinauf. Eben stieg die Sonne empor und übergoß des Gewölk des Firmaments mit Flammenglut. Rasch verbreitete sich die Helle des Tages, denn diese Breiten kennen keine Dämmerung. Von neuem suchte er nach dem wilden Freund. Da mußte er zu seinem Leidwesen von Mr. Blake erfahren, daß der Mann aller Wahrscheinlichkeit nach schon gestern abend heimlich das Schiff verlassen habe und an Land geschwommen sei.
   Er schaute nach der Insel hinüber, mit einem Gefühl ernster Trauer, denn dort ruhte, was an seinem Vater sterblich war, und jetzt sollte er für immer von dieser ihm heiligen Stätte scheiden.
   Da erschien Anak Madé an Deck. Alles war zum Ankerlichten fertig und man erwartete nur seine Befehle. Der Sohn des Radscha winkte Henrik zu sich und sagte in der ihm eigenen, höflich freundlichen Weise: »Es drängt Sie gewiß, mein Freund, Abschied von dem Grab Ihres Vaters zu nehmen, wir wollen es zusammen besuchen, ehe wir nach Lombok segeln.«
   Henrik war von so viel Zartgefühl innig gerührt und dankte schweigend.
   Die den Malaien abgenommene Prau war mit einer Notstenge versehen und mit einigen Matrosen besetzt worden, die sie nach Lombok führen sollten.
   Mr. Blake erhielt seine Befehle, und der Schoner, welcher den indischen Namen »Arang« führte, aber auf einer englischen Schiffswerft erbaut war, entfaltete Segel und lief um die Insel bis zu der Bucht, an der einst der Wilde Henrik und Fritz landen ließ; dort legte er bei. Da die in den Wäldern befindlichen Feinde zu fürchten waren, wurden dreißig mit Büchsen bewaffnete Leute an Land geschickt, um den Weg zu säubern, dann erst begab sich Anak Madé mit seinen Gästen, auch Fritz war an Deck erschienen, an Land.
   Mit leichter Mühe fanden sie das Felstal und die stille Grabstätte. Von ihrem treuen Wächter war nichts zu gewahren.
   Während sich der Inder zartfühlend zurückhielt, kniete Henrik an dem Grab nieder und betete innig, so Abschied nehmend von den teuern Resten, welche hier die fremde Erde barg.
   Als er zu Anak Madé zurückkehrte, sagte dieser: »Solange ich lebe, Freund, soll diese Stätte gepflegt werden und für heilig gelten.«
   Henrik dankte von ganzem Herzen. Als er, ehe sie zwischen die Felsen traten, noch einmal zurückblickte, sah er zu seiner höchsten Überraschung den Wilden an dem Kreuz knien und, wie es schien, inbrünstig beten.
   Er wartete, und als jener sich erhob, rief er ihn an. Augenblicklich kam er zu ihm.
   »Willst du nicht mit mir zur Heimat kommen?« fragte ihn Henrik.
   Der nickte und sagte langsam: »Kapitän – ihm Abschied sagen – gehen mit Sohn.«
   »Nun, das ist gut – so komm.«
   Der Mann hatte sein indisches Gewand abgelegt, holte es aber jetzt aus seiner Höhle und zog es über.
   Als alles an Bord war, nahm der »Arang« seinen Kurs nach Ampanan mit gutem Wind und bald verschwand die kleine einsame Insel unter dem Horizont. Bis zum letzten Augenblick sahen der Wilde und Henrik zu ihr hinüber.
   Mehrmals im Lauf des Tages begab sich Henrik zu seines Vaters einstigem Gefährten, der still und traurig am Vorderdeck weilte. Sein Erscheinen, seine Anrede überzog das Gesicht des Mannes stets mit freudigem Schimmer. Henrik sprach viel zu ihm, damit sein Ohr sich wieder an die Laute der deutschen Sprache gewöhne und fragte ihn auch nach diesem und jenem. Er erhielt auch kurze Antworten, die davon Zeugnis gaben, daß die Frage verstanden worden sei. Er redete von Deutschland, von Hamburg, und aufmerksam lauschte der ehemalige Matrose. Bei einer dieser Unterredungen richtete er die Frage an ihn: »Wie heißest du eigentlich?«
   Jener sah ihn an und versank dann in Nachdenken.
   »Du hast doch sicher noch Angehörige, die dich als tot beweinen und sich nun freuen werden, wenn du wieder unter ihnen erscheinst?«
   Ernsthaft nickte er.
   »Und wie nannten sie dich?«
   Langsam, nachdem er wieder eifrig nachgesonnen, entgegnete er: »Er weiß es nicht.«
   Das war eine niederschlagende Antwort, besonders da er von sich in der dritten Person sprach. Und doch gab Henrik den Versuch, ihm Erinnerungen zu wecken, nicht auf. Als ihm das Unglück, welches einst seinen Vater getroffen, zu vollem Bewußtsein gekommen war, hatte er sich, es waren einige Jahre seitdem vergangen, zum Waterschout seiner Vaterstadt begeben und sich das Verzeichnis der Mannschaft vorlegen lassen, mit welcher der »Admiral« von Hamburg in See gegangen war. Bereitwillig hatte der Beamte seinen Wunsch erfüllt. Henrik hatte sich die Liste mit allen auf die Personen bezüglichen Bemerkungen abgeschrieben und kannte jeden einzelnen Namen der Schiffsgenossen seines Vaters. Der vor ihm sitzende Mann, trotzdem ein hartes Dasein ihn gealtert haben mochte, konnte die Vierzig noch nicht überschritten, vielleicht noch nicht erreicht haben. Er rief sich zwei Namen jüngerer Leute aus der Mannschaft ins Gedächtnis zurück und fragte, einen derselben anwendend, auf gut Glück: »Bist du nicht Karl Steffen aus Finkenwerder?«
   Wie von einem elektrischen Schlag berührt, sprang der Angeredete auf und starrte Henrik fast mit Entsetzen an, so daß dieser erschrak.
   »Karl Steffen aus Finkenwerder?« wiederholte er, »Karl Steffen – ja, Karl Steffen – Karl Steffen –« dann wandte er sich ab und schaute aufs Meer hinaus. Henrik entfernte sich und überließ ihn sich selbst.
   Als er am Nachmittag wieder zu ihm trat, sagte jener leise: »Ich bin Karl Steffen, jetzt weiß ich's.«
   Henrik war hoch erfreut darüber. »Siehst du? Ich kenne die Namen aller Gefährten meines Vaters, und du mußtest Karl Steffen oder Christian Böting sein.«
   »Karl Steffen«, wiederholte er.
   »Gut, Karl, du wirst aus dem wilden Traum, den du so lange geträumt hast, erwachen und wieder werden wie du warst. Was für ein tüchtiger Seemann du bist, haben wir ja erfahren; ich habe noch keinen in der Höhe so arbeiten sehen, wie dich.«
   Karl Steffen lächelte und blickte zur Fockrahe empor, dann nickte er.
   Henrik, so sehr es ihn drängte, Kunde von dem Ende seines Vaters zu erlangen, sagte sich, daß diesem so lange schlummernden Geist gegenüber nichts überstürzt werden dürfe und bezwang sich.
   Fritz Fischer aber teilte er in freudiger Erregung mit, daß der Name des armen Robinson entdeckt sei.
   »Det freut mir ooch«, meinte der Schneider, »et is doch nischt, wenn eener keenen Namen nich hat. Paß mal uff, Hamburger, det wilde Menschenkind wird noch een janz jebildeter Mensch, wenn wir weiter mit ihm umjehen. Der Mann, weeste, is durch die Einsiedlerei herabjekommen un muß nu wieder Politur annehmen. Ich werde en bißcken an ihm rumschleifen, weeßte, wir Berliner haben so det Feine an uns. Jotte doch, Hamburger, wenn ick mir en paar Jahr uff die olle Insel hätte alleene rumtreiben müssen, ick wär ooch meschugge jeworden, un ick bin doch aus die Stadt von die Intelljenz. Mit det wilde Karlchen wird sich det noch machen.«


   Ein indischer Fürstenhof

   Der Pik von Lombok, der sich bis zu viertausendzweihundert Meter erhebt, stieg höher und höher aus dem Meer empor, den Scheitel umwallt von Dampfwolken, Zeichen seiner vulkanischen Tätigkeit. Bald lag die felsige Südküste vor ihnen, und zwischen Bali und Lombok, in die nach letzterm benannte Straße einlaufend, trafen sie noch vor Sonnenuntergang auf der Reede von Ampanan ein.
   Da die Einfahrt bei Nacht gefährlich war, ging der »Arang« vor Anker. Der Prinz blieb an Bord, und nur zwei der Offiziere begaben sich im Boot nach der Stadt, von denen der eine den Fürsten von dem auf seinen Sohn gerichteten Angriff unterrichten sollte, während dem andern befohlen war, sofort Vorbereitungen für eine kriegerische Expedition nach der Insel zu treffen, um sich der dort befindlichen Malaien zu versichern.
   Den Abend verbrachten unsere Freunde in der Gesellschaft des liebenswürdigen und gastfreien balinesischen Fürstensohnes. Nach Sonnenaufgang segelte der Schoner nach Ampanan. Der Hafen der malerisch an Höhenzügen gelegenen Stadt zeigte, als sie näherkamen, trotz der frühen Stunde reges Leben; indische und chinesische Fahrzeuge ankerten dort in großer Zahl, und auch am Ufer ward lebhafte Tätigkeit entfaltet.
   Mr. Blake ließ die Flagge des Prinzen aufziehen und die Kanonen donnern. Alsbald flogen auf allen Schiffen bunte Wimpel empor, und zwei Batterien, welche, gut mit Geschützen besetzt, die Hafeneinfahrt deckten, erwiderten den Gruß. Mit frischem Wind kam der »Arang« ein.
   Henrik und Fritz standen an Deck und blickten auf die im Sonnenschein glänzende Stadt mit ihren niedrigen Häusern, auf das bunte Gewirr der ostasiatischen Fahrzeuge und Boote mit ihrer farbigen Bemannung. Zu ihrem Leid sahen sie kein europäisches Schiff.
   Vorn stand der Einsiedler Karl Steffen und schaute mit einem Ausdruck fast des Schreckens auf das rege Treiben.
   Bald legte der »Arang« an einem gutgebauten Quai an.
   Am Ufer hielten einige mit schönen Pferden bespannte Wagen, unter denen eine elegante Equipage auffiel.
   Soldaten, wohl in der Stärke eines unserer Bataillone, waren erschienen, um den Prinzen zu empfangen. Mit Erstaunen sah Henrik sie in gut ausgerichteten Reihen aufgestellt und einheitlich uniformiert. Rote Jacke, weißes Kopftuch und die Sarong, das blaue weite Beinkleid, gaben ihnen im Verein mit den dunkeln, bärtigen Gesichtern ein orientalisch malerisches Gepräge. Bewaffnet waren sie mit krummen Seitengewehren und schönen englischen Büchsen; sie zeigten eine Haltung, die fast an europäischen Drill erinnerte.
   Jetzt erschien auch Anak Madé an Deck, begleitet von den noch an Bord anwesenden Offizieren. Er war in prachtvolle seidene Gewänder gekleidet, im Schnitt ähnlich der militärischen Tracht. Sein weißes Kopftuch zierte eine glänzende Diamantagraffe. An der Seite trug er einen mit Gold und Edelsteinen reich gezierten Säbel in rotsamtener Scheide. Er war eine fürstliche Erscheinung.
   »Du, Hamburger«, flüsterte Fritz, »unser gelber Prinz hat sich aber gehörig rausgemausert.«
   »Still!«
   Henrik begrüßte ihn mit einer Verbeugung, und Anak Madé sagte freundlich: »Ihr werdet mir folgen, meine Diener werden für euch Sorge tragen.«
   Henrik ging zu Steffen und sagte: »Wirst du mit uns an Land kommen, Steffen?«
   Dieser, der von dem Treiben ringsum wie betäubt schien, entgegnete, den Kopf schüttelnd: »Besser, Bord – viele Menschen.«
   Da Henrik es gleichfalls für das beste hielt, daß Steffen auf dem Schiff blieb, folgte er ohne diesen mit Fritz dem Prinzen, der bereits mit seinen vornehmsten Begleitern in der Equipage Platz genommen hatte.
   Diener führten sie zu einem der andern Wagen von indischer Bauart, und in diesem folgten sie dem Prinzen, während die Soldaten die Gewehre präsentierten und eine Musikbande mit Pfeifen, Trommeln und Becken einen ohrenbetäubenden Lärm erhob. Sassaker, Chinesen, Malaien, Balinesen waren herbeigeströmt, um den Prinzen zu sehen und begrüßten ihn in der sklavischen Weise der Asiaten.
   Die Wagen brachten sie auf guter Straße rasch nach einem kleinen, in indischem Stil errichteten Lustschloß, einem Holzbau mit reichem Bildwerk, welcher inmitten eines schön gepflegten Gartens lag.
   Henrik und Fritz wurden in die untern Gemächer geführt und dann eingeladen, in besonders dazu hergerichteten Räumen zu baden. Dies geschah in der luxuriösen Weise des Orients. Hernach kleidete man sie in prachtvollere Gewänder als ihre bisherigen und brachte ihnen Frühstück, ähnlich den Mahlzeiten, welche sie an Bord eingenommen hatten.
   »Wie kommst du dir denn nu ejentlich vor, Hamburger?« fragte Fritz, als er seinen nicht unerheblichen Appetit befriedigt hatte. »Mir ist det Janze so wie'n Traum, weeßte.«
   »Ja, du hast recht; die Begebenheiten der letzten Woche sind märchenhaft, traumartig.«
   »Wenn sie mir man nur nich uff ne unanjenehme Weise uffwecken.«
   »Fürchte das nicht, wir sind Gäste eines vornehmen Mannes.«
   »Ja, det muß wahr sind, der Prinz Exzellenz is 'n janz feiner Kunde, so uff seine Art. Jloobst du denn nu, dat so wat vor't Knopploch vor mir abfallen wird, Hamburger?«
   Henrik lachte über das wiederholt sich äußernde Ordensbedürfnis des Schneiders.
   »Na, wat is denn da zu lachen?« sagte Fritz verdrießlich. »Ick habe doch den wilden Mörder jefangen, un bei uns kriegt manch eener 'n Orden vor weniger.«
   »Nur ruhig, Fritz, es wird schon eine Belohnung für deine Tapferkeit kommen.«
   »Na, ick bin bejierig.« – Nach einiger Zeit sagte er: »Uff welchen Erdteil sin wir denn nu hingeraten, weeßt du da wat von?«
   »Ich weiß nur, daß wir auf Lombok sind, einer der kleinern Sundainseln.«
   »Hab ick noch nie von jehört.«
   »Glaube ich wohl, diese Gebiete sind den Europäern überhaupt wenig bekannt.«
   »Dann jebe ick, wenn ick wieder nach Haus komme, eene Reisebeschreibung heraus: ›Fritze Fischer uff de wilden Inseln‹, da jibt et aber Moos vor.«
   »Ja, das tue, das wird Aufsehen machen, ich nehme die ersten zwanzig Exemplare.«
   »Un unser juter, armer Robinson, der wird sich uff det olle Schiff aber mopsen.«
   »Es ist besser, er bleibt dort und gewöhnt sich erst nach und nach wieder an Menschen.«
   »Der kann ooch 'n Buch schreiben von wilde Inseln.«
   »Ich glaube auch«, erwiderte Henrik und dachte an den entsetzlichen Zustand, in welchem sie Steffen aufgefunden hatten, an die noch so dunkle Begebenheit, welche ihn in jene Wildnis geschleudert.
   Mr. Blake ließ sich einführen und berichtete, daß er den jungen Leuten als Dolmetscher beigegeben sei, da der Prinz sich nicht mehr in bisheriger Weise um sie bekümmern könne. Auch forderte er sie auf, sich zum Ritt nach der Hauptstadt Mataram bereit zu machen, da Anak Madé aufbrechen wolle.
   »Wat is det? Reiten? Na nu is aber det Ende von weg. Det tu ick nich, uff so 'n Beest setze ick mir nich; eenmal hat mir eens abgefeuert, aber feste! Mir tun noch die Knochen weh, wenn ick an denke. Ne, det tu ick nich«, äußerte Fritz nachdenklich, als er von dieser Art der ihm zugemuteten Fortbewegung erfuhr. »Warum können wir denn nich in de Equipage fahren? Daran bin ick jewöhnt.«
   Mr. Blake erklärte, daß der Gebrauch eines Wagens untunlich sei und die Reise zu Pferd gemacht werden müsse, da verschiedene unüberbrückte Gewässer den Weg kreuzten.
   Henrik, der auch sehr gut im Sattel zu Haus war, freute sich des bevorstehenden Rittes und sagte ermunternd zu Fritz: »Aber, Sohn der Metropole, Kind der Stadt der Intelligenz, du wirst doch das bißchen Reiten fertigbringen? Wenn du das nicht kannst, dann, so leid es mir tut, sinkt meine Hochachtung vor dir erheblich!« Henrik begleitete diese Aufmunterung mit so bedeutsamen Blicken, daß der so bei seinem Selbstbewußtsein, seinem Stolz auf die Berliner Abkunft gefaßte Schneider schwankend zwischen der Erinnerung an unliebsame Erfahrungen und dem Drang, seine angeborene Würde aufrechtzuerhalten, zögernd entgegnete: »Ja, ick könnte 't ja woll riskieren – det heeßt – dat muß denn aber ooch 'n jutes Pferd sind – wat 'n sanftmütigen Charakter hat, so mit tückische Beesters lasse ick mir nich in.«
   »Es ist doch selbstverständlich, daß unser Prinz nicht nur die besten und ruhigsten Pferde besitzt, sondern daß man dir auch ein lammfrommes Roß geben wird; das Tier, dem es gelungen ist, dich abzuwerfen, war gewiß nur ein gemeiner Karrengaul.«
   »Det stimmt.«
   »Nun, siehst du? Und was würde Seine Durchlaucht denken, wenn du dich weigern wolltest zu reiten, nachdem du so hervorragende Heldenwerke verübt hast – und – was einen möglichenfalls in Aussicht stehenden Orden anbelangt – ja – man kann nicht wissen – wie – ja, wie das alles noch wird.«
   »Ick reite mit, Hamburger«, erwiderte Fritz sehr lebhaft, »ick werde mir schon festklammern, wenn det Tier eklich wird – ick reite mit.«
   »Ich wußte ja, daß dein angeborener Mannesstolz dir nicht erlaubt, zurückzubleiben.«
   Sie gingen mit Mr. Blake hinaus und fanden eine große Reiterschar vor, wie es schien, Soldaten. Eine stattliche Anzahl der kleinen, aber dauerhaften Pferde wurde von diesen gehalten.
   Gleich nach ihrem Erscheinen führte man den drei Europäern Rosse vor, die nach indischer Art gesattelt waren. Diese hat Ähnlichkeit mit der arabischen.
   Fritze betrachtete sich den ihm zugedachten Braunen mit Mißtrauen.
   »Wenn det Vieh die Ohren spitzt, denn setz ick mir nich uff – det kenn ick schon.«
   Aber der Braune spitzte die Ohren nicht, und Henrik half dem Schneider in den Sattel, der Diener übergab ihm die Zügel, und Fritz Fischer war beritten.
   Henrik schwang sich leicht auf den Rücken seines schönen Grauschimmels.
   »Wenn der Racker sich man nur anständig ufführt!« äußerte Fritz nicht ohne Besorgnis.
   »Nur Mut, ihr Berliner seid ja die geborenen Reiter.«
   »Det woll, det hat schonst der olle Ziethen jesagt – aber –«
   Anak Madé erschien mit einigen Begleitern, alle Indier verneigten sich tief, die Stirn mit der Hand berührend. Er bestieg sein Tier und gab das Zeichen zum Aufbruch, es bildete sich ein Zug von orientalischem Gepräge.
   Eine Schar bewaffneter Reiter eröffnete ihn, dann folgte der Prinz, hinter sich ein Gefolge von vornehmen Balinesen und Offizieren, in deren letzten Reihen Mr. Blake und unsere jungen Freunde ritten. Dienerschaft folgte, und eine zweite bewaffnete Reiterschar schloß den Zug, der wohl hundertfünfzig Pferde zählen mochte. Ampanan ward umritten, und bald befanden sie sich auf einer breiten, gut gebauten und von wilden Feigenbäumen eingefaßten Landstraße, welche in gerader Linie nach dem etwa eine Stunde entfernt liegenden Mataram führte.
   Wohlbebaute Reis– und Maisfelder zeigten sich rechts und links auf der weit ausgedehnten, hie und da von kleinen Hainen durchsetzten Ebene, dazwischen anmutig gelegene Dörfer im Schatten von Palmen. Fernhin erhob sich das Gebirge, gekrönt von dem himmelanstrebenden Pik, den die Eingeborenen Gunung Rindjani nennen. Mataram selbst war eines niedern Hügelzuges wegen nicht zu gewahren.
   Die Kavalkade bewegte sich im Schritt, und Fritz Fischer befand sich ganz behaglich im Sattel, wenngleich er dem Tier etwas mit dem Zaumzeug zusetzte.
   »Wie nehm ick mir denn aus, Hamburger, als reitender Kavallerist?« fragte er.
   »Als wenn du im Sattel aufgewachsen wärest.«
   »Ick jloobe ooch, ick kann et, der Jaul kriegt mir nich runter.«
   Und mit viel Selbstgefälligkeit reckte er sich im Sattel.
   Nach einiger Zeit fragte er, auf den Gipfel des Pik deutend: »Wat is denn det vor'n Rauch uff den Berg, jibt et da Fabriken?«
   »Das ist ein gewaltiger Vulkan, ein feuerspeiender Berg, der Schwefeldämpfe in die Höhe sendet.«
   »Een feuerspeiender Berg? Willst du mir uzen?«
   »Du kannst dich ja von seiner Tätigkeit überzeugen, wenn wir die Erlaubnis erhalten, ihn zu ersteigen.«
   »Ick werde mir hüten un uff so een Ding ruffklettern, nee – vor so Sachen bin ick nich.«
   Sie hatten einen kleinen Fluß, welcher den Weg kreuzte, durchritten, und dem Beispiel des Prinzen folgend, setzte sich alles in Galopp.
   »Ach Jotte doch, Hamburger, det Beest jeht durch!« schrie Fritz und klammerte sich an den Sattelknopf.
   »Sitze nur ruhig, das Pferd ist sanft.«
   »Wenn er mir absetzt, reiten mir die andern tot. Brr! Brr! Hü! Hott! Brr!«
   »Sei still und blamiere uns nicht.«
   »Du hast jut reden. Ach, du lieber Jott!«
   »Nimm ihn fest zwischen die Knie.«
   »Ja woll – o brr! Is det ne tückische Canaille.«
   Henrik, der sich über ihn ärgerte, gab ihm einen Puff in die Seite: »Halt den Mund und sitz ruhig, es kann dir nichts geschehen.«
   »Oh, du meine Jüte – det jeht noch über de Menschenfresser –«
   Blaß vor Angst klammerte sich Fritz ohne Rücksicht auf den Zügel an Mähne und Sattelknopf, obgleich das Pferd in der Tat einen so sanften Galoppging, daß er wie in einer Wiege saß und nur seine Furcht ihn Gefahren sehen ließ, die gar nicht vorhanden waren. Ein neuer Flußübergang gebot Schritt, und Fritz kam wieder zu sich.
   Als sie langsam weiter ritten, sagte er: »Ick habe mir aber jut jehalten, nich wahr, Hamburger?«
   »Und wie! Wenn dein Ritt in Berlin bekannt wird, stecken sie dich sofort unter die Gardedragoner.«
   »Da jeh ick ooch bei, jetzt hab ick et schon so ziemlich weg.«
   Die Reiter hatten eben einen dünnen Waldsaum durchmessen, als sie die Stadt Mataram nahe vor sich sahen.
   Von einem gewaltigen Bambuszaun umgeben, in welchem eine breite Toröffnung sichtbar war, zeigten sich die niedrigen, mit Atapoder Alang-Alang gedeckten Tonhäuser der Stadt, zwischen denen sich Gebangpalmen erhoben. Einige tempelartige Gebäude fielen auf, alles aber wurde von des Radscha Palast überragt, auf welchen die breite Straße gerade zuführte.
   Sie ritten durch das Tor, an welchem einige Kanonen standen. Die Stadt machte einen überaus seltsamen Eindruck. Rechtwinklig sich durchschneidende Straßen – die durch dieselben gebildeten Vierecke von Tonmauern umgeben – die Häuser ohne Fensteröffnungen – das Ganze nur verschönt durch blühende Pflanzen und einzelne Palmen, das war es, was ihr Auge erblickte. Dennoch mußte die Bevölkerung Matarams nicht unbeträchtlich sein, denn an den Zug Anak Madés drängten sich zahlreiche Scharen von Männern, Frauen und Kindern, die sehr verwundert auf die weißen Gesichter Henriks und Fritzens starrten.
   Sie kamen am Palast, einem stattlichen, in indisch-arabischem Stil gehaltenen, aus Backsteinen errichteten Bauwerk, das inmitten Matarams auf einem freien Platz lag, vorbei und verließen die Stadt auf der entgegengesetzten Seite. Anak Madé wurde von der Bevölkerung, welche vorwiegend aus Balinesen bestand, freundlich und ehrfurchtsvoll begrüßt.
   Der Eindruck, welchen Mataram machte, war so fremdartig, so von allem verschieden, was europäische oder auch orientalische Städte kennzeichnet, daß selbst der Berliner erstaunt war und sich zu der Bemerkung aufraffte: »Det is aber ne putzige Jegend.«
   Dicht vor dem andern Tor umfing die Reiter ein herrlicher Wald, der bald in künstliche Anlagen auslief, in deren Mitte Gunung Sari, das Lustschloß des Radscha und seine eigentliche Residenz, ein in indischem Stil errichtetes Prachtgebäude sich erhob. Während Anak Madé sich zum Hauptgebäude wandte, um seinen Vater zu begrüßen, wurden Mr. Blake, Henrik und Fritz zu einer der weiter zurückliegenden Behausungen geführt und dort einquartiert. In der Anlage des Parkes, mit seinen von Wasservögeln belebten Teichen, den Wohnungen, Stallungen und Wirtschaftsgebäuden, den Scharen von Dienern zeigte sich die ganze Pracht eines indischen Fürstenhofes.
   »Det is aber fein hier«, meinte Fritz in einer aufrichtigen Bewunderung, welche Henrik vollkommen teilte.
   Sie verbrachten den Tag, die heißen Stunden der Mittagszeit ausgenommen, damit, sich unter Mr. Blakes Leitung alle Herrlichkeiten Gunung Saris anzusehen, soweit das möglich war, ohne den Fürsten zu belästigen. Das prächtige Schloß enthielt in seinen Zimmern und Sälen nicht nur große Kostbarkeiten an indischen Geweben, Porzellanen, Schnitzereien aus Elfenbein und edeln Holzarten, schön verzierten Waffen und künstlerisch geformten Gefäßen aus Gold und Silber, sondern die große Vorhalle zeigte auch eine Reihe kostbarer Gemälde, welche Szenen aus dem altindischen Epos, dem Mahabharata, darstellten. Hierüber erstaunte Henrik am meisten.
   Überraschend waren die künstlichen Wasserwerke des Parkes; Kaskaden, Fontänen, Wasserfälle, alles umrahmt von herrlicher tropischer Vegetation, boten reiche malerische Abwechslung.
   »Det is noch scheener als unser Tierjarten«, gestand Fritz unter der Fülle von Eindrücken.
   »Ja«, sagte Henrik, »das ist orientalische Pracht, von der wir zu Hause nur träumen.«
   Nach Dunkelwerden waren Schloß und Park feenhaft durch bunte Laternen beleuchtet, dazwischen brannten in Kandelabern wohlriechende Hölzer.
   Der Prinz sandte jetzt einen Diener und ließ seine jungen Gastfreunde zu sich bitten, um sie seinem Vater vorzustellen. Er entschuldigte sich, daß er sich nicht habe um sie bekümmern können, doch hätten ernste Geschäfte ihn davon abgehalten. Dann führte er sie zu einem Saal im Erdgeschoß des Schlosses, dessen weite Fensteröffnungen auf den Park hinausgingen.
   In der gedämpften Beleuchtung sahen sie einen stattlichen, etwas beleibten Herrn vor sich, der im Kleid des vornehmen Inders in einem Lehnsessel ruhte. Das gut geformte, obwohl fleischige Gesicht, in welchem große dunkle Augen funkelten, drückte bedächtige Klugheit und zugleich Wohlwollen aus. Das war Ratu Nghura Agung Asem, der Radscha von Bali und Lombok.
   Anak Madé nahte sich ihm mit tiefer Ehrfurcht.
   Henrik verbeugte sich sehr respektvoll, und Fritze wäre beinahe hingefallen, so tief bückte er sich vor der vornehmen Person des Fürsten.
   Der Prinz stellte die Jünglinge vor, und des Radschas Auge ruhte mit Wohlgefallen auf Henriks edler Erscheinung. Er sprach zu ihnen freundliche Worte, welche Anak dahin übersetzte: »Mein Vater dankt euch für den Beistand, den ihr mir geleistet habt, und heißt euch willkommen. Ihr seid seine gerngesehenen Gäste, so lang es euch gefallen wird, hier zu weilen.«
   Der Fürst ließ an die jungen Leute noch einige Fragen über ihre Stammesangehörigkeit, heimischen Verhältnisse und nächste Absichten richten, die Henrik bescheiden beantwortete.
   Ratu Asem entließ sie, indem er sich verabschiedend neigte, mit der Zusage, daß sie, um einen Hafenplatz zu erreichen, der ihrer Heimkehr förderlich sei, sich seines Beistandes versichert halten könnten.
   Draußen fragte Fritz, der erst jetzt wieder zu sich kam: »Det war wohl 'ne Audienz, wie man det nennt?«
   »Ja, so ungefähr.«
   »Sehr nobel war die jelbbraune Durchlaucht, janz wie 'n Sekretar uff det Bureau, det muß ick sagen. Hat er nischt fallen lassen von so 'n Bändchen oder 'n kleenen Papagei; hier werden et ja woll Papageis statt Adler sind, in det Knopfloch vor mir?«
   Henrik mußte verneinen, was Fritz sehr verstimmte.
   Sie wurden in den Park geführt, wo sich schon zahlreiche, zum Hofstaat gehörige Personen eingefunden hatten, und wohnten der Aufführung von Waffentänzen junger Balinesen und den überaus geschickten und überraschenden Produktionen von privilegierten Gauklern bei, welche ihnen die höchste Bewunderung abnötigten. Mr. Blake geleitete sie dann nach Beendigung der Aufführungen zu ihrem Schlafgemach.
   Als Fritz Fischer am andern Morgen erwachte und die noch verschlafenen Augen auf seine nächste Umgebung richtete, malte sich ein nicht geringes Erstaunen in seinen Zügen, welches erst mit dem aufdämmernden Bewußtsein, das ihm die Gegenwart zurückrief, wich.
   »Ick habe et bloß geträumt«, murmelte er vor sich hin, »jetzt weeß ich et, aber et war zu natürlich. Die liebe Olle mit's Kaffeebrett un de Schrippen, un de Line ans Klavier, ick sah ihnen vor mir. Ick bin aber noch in die indische Jegend, un wie et nu weiter jehen wird, det weeß der liebe Jott. Mein juter Hamburger liegt noch in Morpheusens Armen, wie man sich jebildet ausdrückt.« Er warf einen Blick auf den unweit ruhenden und noch fest schlafenden Henrik. »Et is man jut, det wir von die olle Insel weg sind, ick halte et doch mit eene halbwegs jebildete Jegend. Et is hier janz propper, det muß man sagen, wenn't ooch 'n bißchen türkisch is oder so.«
   Er ließ seinen Blick über das luftige Gemach streifen, das den beiden jungen Leuten als Schlafraum angewiesen war. Die großen Fensteröffnungen waren durch Gehänge von dünnen Bambusstäben geschlossen, die aber doch Luft und ein behagliches Dämmerlicht einließen. Außer den niedrigen Ruhestätten zeigte das geräumige Zimmer indische Rohrsessel und Diwans. Wo nicht Holzschnitzereien die Wände zierten, waren sie mit farbigem Musselin bekleidet. Teppiche von köstlicher Arbeit deckten den Fußboden. Einige Gefäße aus Metall und Porzellan waren in geschmackvoller Anordnung an den Wänden aufgestellt, und auf einem niedrigen runden Tisch stand ein Becken mit einem kleinen Metallstab daneben. »Ja, et is recht hübsch, wenn ick nur allens mitnehmen könnte.« Er betrachtete dann die Kleider, die vor seinem Bett lagen und des Gebrauchs harrten, und nahm das weiße Obergewand und die Sarong, die als Beinkleid diente, in die Hand, unwillkürlich die Beine kreuzend und unterschlagend und sich so in die Stellung bringend, in der die Schneider zu nähen pflegen.
   »Der Stoff is jut«, murmelte er, »da is nischt jejen zu sagen, vier Mark fünfzig der Meter bei siebzig Zentimeter Breite. Is ooch jut jenäht, vor Handarbeit sehr jut; der braune Kollege hier versteht et ooch, det seh ick schonst. Aber ick jloobe, die haben hier von die freie Arbeit un von Handwerkerstolz keene Ahnung un am Ende ästimieren sie mir nich mehr, wenn sie wissen, det ick Schneider bin.«
   Er versank, immer in seiner Stellung verharrend, in Nachdenken. »Nun, Fritz, willst du dich hier als Marchand tailleur niederlassen?« erklang Henriks Stimme, der halbaufgerichtet auf seinem Ruhebett lag und mit muntern Augen zu Fritz herüberschaute. Flink streckte Fritz seine gekreuzten Beine aus und ließ die Kleider, die er in der Hand hielt, fallen.
   »Bist du schon bei der Hand, Hamburger?«
   »Jawohl, mein lieber Schneidermeister in spe, ich bewundere den Kennerblick, mit dem du deine orientalische Kleidung betrachtest.«
   »Als Maskeradenjarderobe mag det Zeug ja anjehn, aber et is ne janz unvernünftige Tracht.«
   »Landessitte, Landesart; unser schwarzer Schwalbenschwanz und wunderlicher Zylinder würden einen seltsamen Gegensatz zu Palmen und indischen Häusern bilden. Mir will es scheinen, als ob du mit deiner Haltung und deinem ausdrucksvollen Angesicht für diese malerische Tracht geboren wärest.«
   Fritze warf ihm einen Blick zu, der nicht ganz frei von Mißtrauen war, sagte aber doch: »Meenste?«
   »Unzweifelhaft.«
   Nach einer Weile sagte Fritz: »Du, Hamburger, ick will dir mal wat sagen.«
   »Nun?«
   »Siehste, et is ja natürlich, daß die jelben Menschen hier uns für etwas Reputierliches halten –«
   »Selbstverständlich, besonders dich als geborenen Berliner.«
   Ohne der Unterbrechung zu achten, fuhr Fritz fort: »Und et könnten sich ja noch allerlei Folgen dran knüpfen.«
   »Hoffentlich«, erwiderte Henrik, der nur mit Mühe den Ausbruch heiterster Laune zügelte.
   »Wenn die Leute hier nu erfahren, det ick man bloß von die Schneiderakademie bin, nich als ob ick mir etwa schäme, det brauchst du nich zu jlooben, ick bin stolz uff mein Metier, aber so 'n richtigen Handwerkerstand haben sie hier doch nich mit Zunft und Lade und Fahne – dann –« Fritz hielt zögernd inne.
   »Nun, schieß nur los.«
   »Ick meene, weil sie doch hier keenen richtigen Verstand von haben, wat unsereins bedeutet.«
   »Nun ja, nur weiter.«
   »Wenn sie nu erst wissen, det ick Schneider bin, am Ende könnten mir die Exzellenzen un Durchlauchten nich mehr jehörig ästimieren, un –«
   »Weiter – weiter – ?«
   »Deshalb brauchst du den Prinzen det nich gerade auf die Nase zu binden, det könnte meine jejenwärtige Stellung gefährden.«
   »Das ist richtig. Der Fürst schien dich mit großem Wohlgefallen zu betrachten und wird dich wohl nächstens zum Geheimrat ernennen, vorausgesetzt, daß du dich gelb anstreichen lässest.«
   »Mit dir is gar kein vernünftiges Wort zu reden«, sagte Fritz sehr verstimmt.
   »Nein, sei nur ruhig – ich sage kein Wort von deiner akademischen Würde«, lachte Henrik, »mögen sie dich für einen abendländischen Prinzen halten.«
   »Brauchst dich gar nich lustig zu machen, man hat doch seinen Pli un feines Benehmen –«
   »Ja, ja.«
   »Un ick habe mir doch ooch in die Schlachten honorig aufgeführt.«
   »Der alte Derfflinger ist ein Hase gegen dich –«
   »Der war ooch Schneider«, sagte Fritz sehr nachdrücklich.
   »Darum erwähne ich ihn ja.«
   »Und hat den Schweden det Maß mit eiserner Elle bei Fehrbellin genommen.«
   »Richtig.«
   »Un Napolium ooch –«
   »Was?«
   »Der war ooch Schneider.«
   »Wer?« schrie Henrik auf.
   »Na, der jroße Napolium mit Leipzig un Waterloo.«
   Mit grenzenlosem Erstaunen starrte ihn Henrik an.
   »Der war – ?«
   »Ick sag et dir ja – der war ooch Schneider.«
   »Hahaha!« Das Gemach dröhnte von dem Ausbruch von Henriks Heiterkeit. »Hahaha! Fritze, Schneiderseele, Marchand tailleur, willst du mich denn durch Lachkrämpfe umbringen: Napoleon, Schneider? Hahaha!«
   »Ja, in die Bücher steht da nischt von, det hat er alles wegstreichen lassen, weil er sich später der Profession geschämt hat, aber Schneider war er.«
   »Junge, woher hast du denn diese überraschende historische Kunde?«
   »Det hat uns der Altgeselle mehr als einmal auf der Werkstatt erzählt. Napolium oder Bonaparte, wie er eigentlich hieß, war Geselle in Marseille und ein sehr feiner junger Mensch. Da sagte eines Tages ein General, der ihm jut leiden mochte, zu ihm: ›Hören Sie mal, kleiner Bonaparte, Sie sollten auch lieber Offizier werden, als sich mit der Nadel zu quälen, Sie haben so was Militärisches an sich.‹ Da sagte Napoleon: ›Wenn Sie meinen, kann ick ooch Offizier werden, det sagt mir sehr zu‹, und da wurde er Offizier und ein Jahr drauf war er schon General und gewann janz alleene die jrößten Schlachten.«
   »Fritz, wenn du die Geschichte durch diese überraschende Neuigkeit bereicherst, wirst du schon allein dadurch berühmt.«
   »Ach, ick erzähle et ja man nur, damit de weeßt, daß aus 'n richtigen Schneider allens werden kann.«
   »Ich zweifle nicht, ich zweifle nicht und werde mich auch nicht verwundern, wenn du nach deiner bisherigen kriegerischen Tätigkeit auch schließlich noch Heere kommandierst und mindestens Feldmarschall wirst.«
   »Meenste nich? Wenn ick mir man nur ordentlich uff det Geschäft lege, ick bringe et ooch fertig, so jut wie der Derfflinger.«
   »Fritz, seitdem ich erfahren habe, daß Napoleon Schneider war, ehe er sich aufs Kriegshandwerk legte, halte ich alles für möglich. Aber diese Morgenunterhaltung hat mir einen Appetit verursacht, der dringend nach Befriedigung verlangt.«
   »Jeht mir ooch so. Aber ick habe dir det allens nur jesagt, damit du mir nich unnötig in der Achtung dieser Menschen herabsetzest, die vor Gesellen von die Schneiderakademie von Pietsch nich den jehörigen Respekt haben könnten.«
   »Nein, künftiger Generalissimus, von mir erfährt es kein Mensch, daß du statt des Schlachtschwertes bisher die Nadel geführt hast. Deine kriegerischen Neigungen gaben sich übrigens auch darin kund, denn es war immerhin Stahl, was du in der Hand führtest.«
   »Mach dir nur lustig«, entgegnete Fritz, der von der Zusicherung Henriks sehr befriedigt war, »auf dem ollen Schiff habe ick die Menschenfresser doch jehörig zugesetzt.«
   »Ja, das ist für alle Zeit aufgezeichnet.«
   »Ohne von die jelben Mörder, die ick uff der Robinsoninsel injefangen habe, zu reden.«
   »Ja, Fritz, in dir stecken mehrere Derfflinger, mindestens ein Napoleon und nebenher noch ein Freiherr von Münchhausen.«
   »Wie meenst du det?«
   »Ah, daß du einer der wahrheitsliebenden Menschen bist.«
   Fritz wollte etwas entgegnen, aber Henrik unterbrach ihn mit einem »Genug, ich habe Hunger«.
   »Is denn hier keen Kammerdiener nich oder so, der einem 'n bißchen uffwartet?«
   »Warte, wollen mal sehen, ob wir deinen Kammerdiener nicht herbeizaubern können, ich bemerke doch, daß du etwas vom Grandseigneur in dir hast.«
   »Von wat?«
   »Das will ich dir später erklären, zukünftiger Napoleon.«
   Henrik nahm das Stäbchen und schlug damit auf das metallene Becken, dem er dadurch einen hellen, lang anhaltenden Ton entlockte.
   Wie er vermutete, rief dieser Laut Dienerschaft herbei, denn gleich darauf traten zwei braune Burschen ein, die sich tief verbeugten.
   Henrik und Fritz Fischer wurden durch Gebärden eingeladen, zu folgen.
   Man hing ihnen Mäntel von Baumwollenstoff um und führte sie in ein nahegelegenes Badezimmer, kleidete sie nach erfrischendem Bad an und geleitete sie in einen andern luftigen Raum, dessen großes offenes Fenster den Blick in einen Teil des Parkes freigab, wo ein nach indischer Sitte angerichtetes reiches Frühstück ihrer harrte.
   Mit dem besten Appetit sprachen die jungen Leute den schmackhaft bereiteten Speisen, dem trefflichen Tee zu.
   Nach beendetem Mahl ließen sie die aufwartenden Diener abtreten und setzten sich an das Fenster, mit tiefem Behagen die köstliche duftgeschwängerte Luft einatmend und sich an dem zwar beschränkten, aber lieblichen Anblick, den das kleine Stück Park dem Auge bot, erfreuend.
   »Det is recht hübsch hier«, meinte Fritz, »det is so wie in't Palmenhaus bei uns.«
   Henrik war in Gedanken versunken und achtete deshalb der kühnen Behauptung des Spreeatheners nicht.
   Nach einiger Zeit äußerte der Schneider, der vom Schweigen kein Freund war: »Worüber jrübelste denn, Hamburger?«
   »Ich sinne über die wunderbaren Fügungen nach, die uns aus tiefem Elend hierhergeführt an den Hof eines gastfreien Fürsten.«
   »Ja, Hamburger, et is wunderbar jenug, und der liebe Jott muß et doch jut mit uns meinen. Wenn et man nur so bleibt.«
   »Du hast recht, noch sind wir weit vom Heimatland, doch ich würde mich der Gegenwart mit ungetrübter Freude hingeben, wenn ich über das Schicksal des ›Roland‹ beruhigt wäre.«
   »Ja, der jute Herr Findling; aber sei man ruhig, Hamburger, dem wird der liebe Jott ooch aus die Patsche helfen.«
   »Mögest du wahr sagen.«
   »Meene liebe Olle, die wird sich ooch schon um mir ängstigen, un et is schade, det hier keen Postbureau is mit Briefmarken, ick würde ihr schonst allens schreiben, und der Jule würde eine unbändige Freude über die wilden Marken haben.«
   »Das müssen wir noch aufschieben, bis wir in eine Hafenstadt kommen, die regelmäßige Verbindung mit Europa hat.«
   »Wenn sie in der Reezenjasse wüßten, wie ick hier in die fremde Kledasche rumgehe un von Hoheiten und Durchlauchten ästimiert werde, die würden sich aber wundern. Recht nobel jeht et hier zu, det muß ick sagen. Von so 'ne Jegend hab' ick doch keene Ahnung jehabt.«
   »Diese Insel ist auch wohl kaum je von Europäern, die Häfen ausgenommen, betreten worden, es ist eine unbekannte, eigenartige Welt.«
   »So?« meinte Fritz nachdenklich, »dann werden sie hier am Ende gar keenen Orden haben.«
   Es zuckte um Henriks Mundwinkel, und seine Augen drückten das Vergnügen aus, das er bei dieser hingeworfenen Äußerung des Schneiders, die da ankündete, womit sich seine Gedanken vorwiegend beschäftigten, empfand.
   »Aber warum nicht?« erwiderte er mit drolligem Ernst. »Haben wir Elefanten– und Schaffellorden –«
   »Wat haben wir?«
   »Nun, Dänemark hat den Elefantenorden, und Spaniens Goldenes Vlies ist nichts weiter als ein Widderfell.«
   »Na, da is doch det Ende von weg«, sagte erstaunt der Schneider.
   Ernsthaft aber fuhr Henrik fort: »Warum sollten die Leute hier nicht einen Tiger-, Panther-, Rhinozerosorden haben?«
   »Hm, möglich wäre et ja. Ick habe nur jar nischt jesehen an die Leute, nich emal 'ne Dienstschnalle oder so wat.«
   »Nun, wir werden darüber noch ins klare kommen, der Prinz ist ein sehr gebildeter Mann, hat unter Engländern gelebt und weiß, was sich ziemt.«
   »Diamanten oder so soll et in diese Länder doch recht viele jeben.«
   »Das glaube ich auch, und deshalb werden wahrscheinlich alle Orden nur in Brillanten verliehen werden.«
   »Meenste?« Fritze versank wieder in Nachdenken, sagte aber nach einiger Zeit: »So 'n Rhinozerosorden möchte ick aber doch nich jerne haben.«
   »Unsinn! Du brichst die Brillanten 'raus und trägst den Orden versteckt.«
   Mr. Blake, der ebenfalls die Nacht in Gunung Sari zugebracht hatte, ließ sich melden und begrüßte die jungen Leute freundlich.
   In der zwischen ihm und Henrik in englischer Sprache geführten Unterhaltung teilte der Kapitän des »Arang« mit, daß der Prinz schon vor Tagesanbruch mit einer Schar Reiter ins Land geritten sei.
   Zur Erklärung fügte er hinzu: »Die Balinesen, als der herrschende Stamm auf dieser Insel, werden von den Eingeborenen des Landes, den Saffakern, gefürchtet und gehaßt, und blutige Aufstände gehören nicht zu den Seltenheiten. Anak Madé fürchtet, daß der Anschlag auf ihn nicht nur von raublustigen Malaien ausgegangen sei, sondern daß die Saffaker nach seinem Leben strebten. Der Prinz, der vor vier Jahren einen Aufstand mit großer Tapferkeit niederwarf, ist sehr gefürchtet von den Eingeborenen, und er ist mit der ihm eigenen Kühnheit ins Land geritten, um sich von der Haltung der Saffaker und ihrer Häupter zu überzeugen. Er läßt seinen jungen Gastfreunden seine Grüße vermelden und sie bitten, alles, was ihm gehöre, als ihr Eigentum zu betrachten.«
   Trotzdem Henrik von dem Sohn des Radscha bereits Andeutungen erhalten hatte, welche einiges Licht auf die innern Verhältnisse des Landes warfen, überraschte es ihn doch, daß Anak Madé sich so rasch auf eine Expedition begeben hatte, die kriegerische Gefahren in sich barg, und er äußerte dies Mr. Blake gegenüber.
   »Ich glaube nicht«, entgegnete dieser, »daß die Gefahr eines Aufstandes droht, denn die Entschlossenheit und Tapferkeit Anak Madés sind bekannt genug, sein Ritt ins Land wird, immer vorausgesetzt, daß die Saffaker sich überhaupt zu rühren gedächten, überaus einschüchternd wirken.«
   »Sie leben schon längere Zeit hier, Mr. Blake?«
   »Vier Jahre. Anak Madé lernte mich auf seiner Reise nach Kalkutta – ich diente als Steuermann auf dem Dampfer, der ihn trug – kennen und fand Gefallen an mir. Auch in Kalkutta sah ich ihn wiederholt, während er dort studierte. Als er mir schließlich den Vorschlag machte, als Schiffsführer in die Dienste seines Vaters zu treten, nahm ich an und befinde mich hier ganz wohl, der Radscha sowohl als der Prinz sind vornehme, fürstliche Naturen.«
   »Und Sie denken hier zu bleiben?«
   »Doch nicht. Ich werde recht hoch besoldet und führe ein bequemes Leben, doch hoffe ich, in einem oder zwei Jahren mit meinen nicht unerheblichen Ersparnissen mein Vaterland wieder aufsuchen zu können.«
   »Sie kennen gewiß auch das Innere des Landes?«
   »Ich bin nie weiter als Mataram und Gunung Sari gekommen, doch habe ich in diesen Jahren sorgfältige Küstenvermessungen vorgenommen. Das Innere der Insel ist unbekannt, es existiert auch keine Karte davon; die Fürsten scheuen sich, fremde Gelehrte ins Land zu lassen, sie fürchten ungemein, daß die Holländer Gelüste nach Lombok verspüren und ihnen ihre Macht nehmen könnten.«
   »Das Innere des Landes und besonders der riesenhafte Vulkan müssen sehr Interessantes bieten.«
   »Mag sein, doch ich habe als Seemann kein Verlangen, dort Studien zu machen.«
   »Für mich wäre es die Befriedigung eines heißen Wunsches, das Innere dieses seltsamen Landes sehen und den feuerspeienden Berg besteigen zu dürfen.«
   »Ich fürchte, Sir, daß dieser Wunsch ohne Erfüllung bleiben wird.«
   »Schade. Welche Aussicht bietet sich uns denn, von hier aus nach einem besuchten Hafen gelangen zu können?«
   »Der Verkehr europäischer Schiffe in Ampanan ist ein sehr unregelmäßiger. Einem der chinesischen oder malaiischen Küstenfahrer sich anzuvertrauen, ist untunlich, wir müssen deshalb warten, bis ein Dampfer oder Kauffahrer anlegt, doch fürchte ich, daß da noch einige Zeit vergehen wird.«
   »So müssen wir uns in Geduld fassen; unsere gegenwärtige Lage läßt ja nichts zu wünschen übrig.«
   »Soweit es mein Dienst erlaubt, stelle ich mich gern zur Verfügung«, sagte Mr. Blake höflich, »doch muß ich jeden Augenblick des Befehls gewärtig sein, Soldaten nach irgendeinem Punkt der Küste zu führen, so daß ich mich bald an Bord begeben muß. Der Prinz hat indessen einen jungen Offizier, der mit ihm in Kalkutta war und trefflich Englisch spricht, zu Ihrem Adjutanten ernannt. Ara Labung, der im Land weilt, wird sich noch heute bei Ihnen melden.«
   Henrik drückte sein Bedauern aus, daß er die Gesellschaft Mr. Blakes entbehren solle.
   »Sie werden in diesem köstlichen Landaufenthalt des Radscha nicht nur Erholung, sondern auch Unterhaltung finden. Wenn es Ihnen beliebt, machen wir einen Spaziergang durch den Park, den Sie gestern doch nur flüchtig gesehen haben.«
   Henrik und Fritz folgten gern der Einladung des gefälligen Mannes. Durch schattige Alleen, deren Bäume reich von buntfarbigen Papageien der verschiedensten Gattungen und den schönen grünen Tauben belebt waren, die den kleinen Sundainseln eigentümlich sind und sehr wenig Scheu vor Menschen haben, führte er sie nach einem Teil des Parkes, den sie gestern nicht betreten hatten.
   Hier befand sich die Tiersammlung des Radscha. In geschmackvoller Anordnung waren die Tiere in einzelnen Häuschen, die als Käfig dienten, oder auf umfriedigten Plätzen untergebracht. Da auf den kleinen Sundainseln schon längst die größern wilden Tiergattungen ausgestorben sind, stammten die Bewohner der fürstlichen Menagerie größtenteils aus Indien.
   Der bengalische Tiger war in mehreren prächtigen Exemplaren vertreten, die das Staunen und Grausen Fritz Fischers hervorriefen.
   »Det sind jrade solche Canaillen, wie du eene jeschossen hast, Hamburger.«
   Nicht ohne innern Schauder dachte Henrik an seine Begegnung mit der gefährlichen Bestie, und Mr. Blake vernahm davon wie von dem Keulenschlag, mit dem der Waldmensch sie abgetan, mit Staunen und Bewunderung.
   »Det is 'ne jefährliche Sorte«, meinte Fritz.
   Auch der schwarze Panther war vorhanden, dessen Anblick Henrik lebhaft die Erinnerung an seines Vaters einsames Grab zurückrief.
   Zahme indische Elefanten, Hirsche und Rehe, der nur den Sundainseln angehörende Hirscheber, Büffel, einige riesige Exemplare des Gangeskrokodils zogen ihre Aufmerksamkeit an.
   Die Schlangen waren zahlreich in starken Glaskästen vertreten. Vogelhäuser, welche schöne Exemplare sämtlicher Vogelarten der Sundainseln bargen, gewährten überraschende und anmutige Bilder.
   Die Bewohner eines großen Affenhauses entzückten vor allem Fritz Fischer.
   »Det is 'n Zoologischer«, äußerte er. »Der kann sich beinah mit unserm messen, vor 'ne wilde Insel is det janz hübsch.«
   Das Ganze war zwischen Bäumen und Büschen angebracht und hatte malerische Wirkung.
   Während sie dahinschritten, ehrfurchtsvoll von einigen der Wärter begleitet, begegnete ihnen ein junger Hindu, der, zum Hof des Radscha gehörend, sich durch große Gewandtheit in indischen Zauberkunststücken auszeichnete und auch gestern abend schon vor den entzückten Zuschauern einige seiner Künste gezeigt hatte.
   »Da kommt Sundara, der indische Magier«, sagte Mr. Blake, »vielleicht ist er in der Laune, uns einige seiner geheimnisvollen Produktionen vorzuführen. Ich will ihn darum bitten.«
   Er rief den höflich grüßenden Hindu an, stellte ihn den jungen Leuten vor und trug ihm dann seine Bitte – Sundara verstand und sprach Englisch – ihnen einige Beweise seiner ungewöhnlichen Kunstfertigkeit zu geben, vor.
   Der Hindu, ein junger Mann mit klugem Gesicht, der Mr. Blake als eine am Hof des Radscha angesehene Person kannte und wußte, daß er in den beiden Weißen Gäste des fürstlichen Hofes vor sich hatte, nickte lächelnd Gewährung.
   Sie waren an einem freien Platz angekommen, der, von schattigen Bäumen umgeben, eine gleichmäßige, von äußerst kurz gehaltenem Rasen bedeckte Fläche bildete.
   Der Hindu rief einem der Menageriewärter etwas zu, worauf dieser rasch einen aus Bambusstreifen geflochtenen länglichen Korb herbeiholte, wie man sie überall sah. Sundara, der Hindu, übergab diesen leeren, durchsichtigen Korb Fritz und ersuchte ihn in englischer Sprache, diesen irgendwo auf dem Rasenplatz mit der Öffnung nach unten aufzustellen.
   »Wat soll ick machen, Hamburger? Uff Zauberjeschichten laß ick mir nich in, det sag ick jleich.«
   »Du sollst nur den Korb irgendwo hinstellen.«
   »Jut, det will ick machen.«
   Er trat vor, setzte den Korb, den Boden nach oben, nieder und ging dann wieder zurück.
   Die Europäer standen etwa zwölf Schritte von dem Korb, der, leicht und durchsichtig gearbeitet, absolut nichts in sich verbergen konnte. Die Menageriediener standen weiter ab. Der Hindu schritt um den Korb herum, leise murmelnd, machte einige Gebärden nach dem Korb zu, blieb stehen, hob den Korb empor und – sechs Schlangen reckten züngelnd ihre Häupter hoch aus dem Gras.
   Es war staunenswert, denn auch das ganz kurze Gras konnte die Tiere nicht verborgen haben.
   »Det is kolossal«, murmelte Fritz. »Sind sie jiftig?«
   Der Hindu, den Korb in der Hand, umschritt im Kreis die Schlangenhäupter, die, sich zu ihm neigend, ihm folgten, deckte dann den Korb wieder darüber, und nach einigen beschwörenden Gebärden hob er ihn wieder empor, lächelnd einladend, sich zu überzeugen, daß die Schlangen verschwunden seien. Alle traten hinzu, betrachteten den ganz gewöhnlichen Korb und den unberührten, festen Erdboden. Die Schlangen waren verschwunden, wie sie gekommen waren.
   »Da is aber det Ende von weg«, erklärte Fritz.
   »Die Künste dieser indischen Jongleure«, sagte Mr. Blake, »sind staunenswert.«
   Er und Henrik überhäuften Sundara mit Lobsprüchen, die dieser wohlgefällig entgegennahm.
   »Was meinst du«, sagte Mr. Blake dann zu ihm, »wenn du uns das bewundernswerteste deiner Kunststücke vorführtest, das mit den Pfeilen; du würdest uns allen eine große Freude damit bereiten.«
   Der Inder sah nach dem Himmel und den Baumkronen, prüfte den Luftzug, sagte dann, er sei bereit, und gab einem der Diener einen Befehl, worauf sich dieser flink entfernte.
   »Jetzt werden Sie etwas zu sehen bekommen«, äußerte Blake, »was ein Europäer niemals fertig bringt.«
   »Glauben Sie, daß ein Europäer das Schlangenkunststück nachahmen kann?«
   »Das wäre möglich.«
   »Wie erklären Sie es sich?«
   »Diese Leute haben ein wunderbares Talent, Schlangen zu zähmen und abzurichten. Ich zweifle nicht, daß er die Schlangen bei sich trug, sie, ungesehen von uns, ins Gras unter den Korb schlüpfen ließ und dann, unsere Aufmerksamkeit durch seine Gebärden ablenkend, wieder an sich rief. In der Dressur dieser Tiere liegt hier das Wunderbare.«
   Schon kam der Diener zurück und überreichte dem Hindu einen Bogen und ein Bündel Pfeile.
   Dieser wählte sorgfältig acht Pfeile aus und steckte sie nebeneinander in den Gürtel.
   »Ich muß einen Schuß tun, Sahib, um den Luftzug zu erproben.« Er legte einen neunten Pfeil auf die Sehne und schoß ihn senkrecht in die Höhe. Der Pfeil kam herab und sauste einige Schritte von der Gruppe entfernt bis fast zu dem befiederten Ende in den Boden. Der Indier wechselte hiernach seine Stellung und bat die andern, zu seiner Seite zu treten. Als dies geschehen war, schnellte er mit einer fabelhaften Schnelligkeit alle acht Pfeile, die er im Gürtel trug, einen nach dem andern in die Höhe – und alle acht Pfeile fielen, einen Kreis bildend, gleichzeitig wieder hernieder.
   »Wonderful!« rief der Engländer, »herrlich! prächtig!« Henrik. Auch Fritz, der freilich die außerordentliche Geschicklichkeit, welche das Abwägen der größern oder geringern Kraft erforderte, mit der die Pfeile in blitzschneller Folge emporgeschnellt wurden, nicht zu würdigen vermochte, stimmte ein. Henrik aber, der recht gut erkannte, worin die wunderbare Kunst des Hindu bestand, staunte sie deshalb um so mehr an. Blake und er drückten Sundara lebhaft ihre Anerkennung aus und sagten ihm Dank.
   »Sie haben recht, Mr. Blake«, sagte Henrik dann, »das wird nie ein Europäer nachahmen, das ist staunenswert.«
   Der Jongleur sammelte seine Pfeile, grüßte und entfernte sich, während die Jünglinge unter des Kapitäns Führung weitergingen.
   Sie erreichten durch einen schattigen Laubgang einen freien grünen Platz, an dessen Ende sich ein Tempel erhob, vor dem einige prächtige Kühe weideten.
   »Das ist ein den indischen Gottheiten geweihtes Haus, in dem die Balinesen ihre Andacht verrichten.«
   Es war ein mit reichster indischer Ornamentik geschmücktes Gebäude, das sie vor sich sahen, dessen unterer Teil aus rötlichem Sandstein, dessen oberer aus kostbaren geschnitzten Hölzern errichtet war. Zwei riesenhafte, aus Stein gemeißelte Figuren, in den grotesken, doch bedeutungsvollen Formen der indischen Symbolik ausgeführt, flankierten den Eingang, zu dem einige Stufen hinaufführten. Der von hohen Bäumen umstandene Platz, das still und einsam daliegende Gebäude machten einen feierlichen Eindruck.
   »Wat is denn det?« fragte leise Fritz.
   »Ein Hindutempel.«
   »Ach, du meenst so 'ne Kirche vor die braunen Menschen?«
   »So ist es.«
   »Jotte doch, wat haben die aber vor Fratzen vor die Tür, die haben ja acht Arme.«
   »Still, diese Figuren sind den Leuten heilig.«
   Ein weißgekleideter Priester erschien im Eingang und schritt dann auf sie zu.
   »Müssen wir uns entfernen, Mr. Blake?«
   »O nein, die Leute sind nicht fanatisch.«
   Der Priester kam heran und betrachtete mit großer Aufmerksamkeit Henrik und Fritz. Er grüßte höflich, und sich an den Engländer wendend, fragte er in balinesischer Sprache: »Sind das die jungen Europäer, die Anak Madé vor dem Kris der Malaien gerettet haben?«
   Als Mr. Blake bejahte, wandte er sich an Henrik und Fritz. »Ihr waret das Werkzeug der Gottheit, Freunde, um dieses Land vor unendlichem Weh zu bewahren. Wir sind euch dankbar und haben Wischnu, dem Erhalter, Opfer für euch dargebracht.«
   Mr. Blake übertrug Henrik diese Worte.
   »Du sagst recht, Priester, wir waren Werkzeuge in Gottes Hand.«
   »Gefällt es euch, Freunde, in das Haus der Ewigen zu treten, ihr seid willkommen.«
   Henrik, der gern die Gelegenheit benutzte, das Innere eines Hindutempels zu sehen, nahm die Einladung dankbar an.
   Fritze sagte, als ihm die Aufforderung, den Tempel zu betreten, verdeutscht wurde: »Ick jehe mit, Hamburger, ick werde dir in die Jötzengegend nich allein lassen.«
   Der Priester geleitete sie durch den Haupteingang und eine Vorhalle in das Innere des Tempels. Die vor dem Eingang emporragenden massigen Götterbilder sahen in der Nähe noch abschreckender aus als aus der Ferne, wie auch die reiche, phantastische Ornamentik der Front etwas Sinnverwirrendes hatte, was dem Herrn aus der »Reezengasse« Unbehagen verursachte.
   In das Innere geführt, befanden sie sich in einem hohen und umfangreichen Raum, den geheimnisvolle Dämmerung einhüllte. Die Wände waren bedeckt mit symbolischen Figuren in für den Nichteingeweihten unverständlicher wirrer Zeichnung. Auf steinernen Altären lohten kleine Feuer, und betäubender Geruch verbrannten Räucherwerks füllte den ganzen Raum. Rechts und links erhoben sich Götterbilder, die in dem Dämmerlicht der großen Halle unheimlichen Eindruck machten.
   Das mächtigste dieser, die göttlichen Gewalten darstellenden Bildwerke erhob sich dem Eingang gegenüber und ragte hoch auf. Die verzerrten Gesichtszüge, die unförmlichen Leiber, die vervielfachten Glieder der nur entfernt an Menschen erinnernden Figuren, auf denen der Schein der Altarflammen unruhig hin und her zuckte, waren eher geeignet, Grausen zu erwecken, als Ehrfurcht oder Bewunderung hervorzurufen.
   »Hamburger«, flüsterte Fritz, »ick verziehe mir, ick halt et nich aus, et jruselt mir. Et riecht hier nach Menschenblut.«
   »Still!«
   Der Priester, der sie langsam und schweigend einherführte, geleitete sie jetzt zu einem andern Ausgang, der in einen freundlichen Hofraum auslief, den die Wohnungen der Priester einfaßten.
   Hier sagte er: »Wir gestatten selten Fremden, die nicht zu Brahma beten, Eingang in den Tempel, aber jeder gute Mensch ist der Gottheit angenehm, und daß ihr gute Menschen seid, habt ihr bewiesen.«
   Andere Priester erschienen, begrüßten die Fremden, überreichten ihnen Blumen und jedem ein Täfelchen aus Bambusrinde, auf denen Sprüche aus den heiligen Schriften der Inder eingekratzt waren.
   Die drei Europäer dankten und verabschiedeten sich. Gleich darauf umfing sie der hochstämmige Wald, der an die Tempelmauer grenzte. So groß Henriks Interesse an dieser Stätte eines fremden Kultus war, so teilte der Schneider es durchaus nicht, ihm waren Tempel, Priester und Götterbilder höchst unheimlich erschienen.
   »Zu die ollen Zauberer mit's Räucherwerk in die dunkle Bude und die steinernen Fratzen jeh' ick nich wieder hin; det is ne scheene Jesellschaft.«
   Henrik wollte ihn über die Religion Brahmas belehren, aber Fritz unterbrach ihn: »Laß jut sein, Hamburger, ick will nischt von wissen, det is allens fauler Zauber. Ick habe Jeschichten von so Sachen jelesen, die murksen hier Menschen ab, det kenn ick schonst.«
   Alle Bemühungen Henriks, ihm diesen törichten Glauben zu nehmen und ihn zu überzeugen, daß der Gottesdienst der Hindu keine blutigen Opfer bedinge, blieben fruchtlos.
   »Det kenn' ick allens, Hamburger«, erwiderte er, »ick habe von jelesen mit Ferdinand Cortez un so, ne det is ne jrausliche Mörderbande, ick will nischt mit zu tun haben. Ick verlasse mir nur uff unsere Durchlaucht, der ick doch schließlich det Leben gerettet habe, der Prinz wird mir nischt tun lassen.«
   »Tu hast dem Prinzen das Leben gerettet?« fragte Henrik, über diese neueste Münchhauseniade des Berliners doch verblüfft.
   »Meenste nich? Der Mordbube mit det krumme Messer, den ick jefangen jenommen habe, hatte et doch sicher auf die Durchlaucht Exzellenz abjesehen, det is doch mal klar, und et wär' ooch 'n scheenes Malör passiert, wenn ick ihm nich zahm jemacht hätte. Det war 'n schwerer Junge, sag' ich dir.«
   »Diese Auffassung ist zwar sehr eigenartig«, sagte Henrik hoch belustigt, »aber sie hat viel für sich.«
   »Ich jloobe ooch«, meinte Fritz und murmelte in sich hinein: »Ich bin nur neugierig, wie die hier sich löffeln werden.«
   Henrik wandte sich von dem mit so beneidenswerter Phantasie begabten ehrgeizigen Schneider zu Mr. Blake, dessen Schilderungen feierlicher Handlungen in und vor dem Tempel, denen er wiederholt mit angewohnt hatte, er mit Interesse lauschte.
   Fritz Fischer gab hierauf den Wunsch zu erkennen, etwas »zu mangscheen«, da die »Tempelangelegenheit ihm alteriert habe«, und Mr. Blake, hiervon verständigt, schlug den Heimweg ein.
   In der den beiden angewiesenen Wohnung angelangt, fanden sie, ganz nach dem Wunsch Fritzens, dessen Appetit, seiner Phantasie darin gleich, etwas Ungeheuerliches an sich hatte, ein reiches Mahl bereit, dem sie mit Behagen zusprachen.
   Als Mr. Blake nach beendetem Mahl seine Absicht ankündigte, nach Ampanan zu reiten, um nach dem Schoner zu sehen, erklärte Henrik, der den Waldmenschen nicht so lange allein lassen wollte, ihn begleiten zu wollen. Fritz lehnte eine Aufforderung hierzu ab, da er eine »Schlafung« zu machen gedenke, und Henrik, der herzlich wünschte, seinen Leidensgefährten bald wieder in aller Kraft vor sich zu sehen, drang nicht weiter in ihn.
   Auf den herbeibeorderten Pferden ritt er mit Mr. Blake in Begleitung einiger Diener davon, während Fritz sich zum Mittagsschläfchen auf einem weichen Polster niederließ.
   Als der junge Schneidergeselle sich nach einiger Zeit »aus Morpheusens Armen«, wie er gern sagte, erhob, setzte er sich an das offene Fenster und schaute sinnend hinaus.
   »Es jeht mir recht jut hier in die fremde Jegend, allens wat wahr is, und die Leute essen janz jut hier; ick wollte, det jute Mutterchen und die andern hätten ooch wat von.« Er eilte in Gedanken nach der fernen Heimat und suchte die Wohnstätte seiner Lieben auf.
   »Ob sie wohl an mir jetzt denken?« sagte er leise vor sich hin.
   »Döskopp!« klang es ganz deutlich in einem etwas krächzenden Ton an sein Ohr.
   Hoch horchte er auf, er kannte den plattdeutschen Ausdruck sehr gut. »Nanu? Wat is 'n det? Hamburger, bist du et?«
   »Schafskopp!« sagte dieselbe Stimme.
   »Du, das verbitt' ich mir aber«, fuhr er jetzt empor. »Mach deine Witze mit andern Leuten.«
   Er blickte zornig zu der Fensteröffnung hinaus, gewahrte aber niemand. Auf den Bäumen spielten die grünen Tauben, Kakadus und kleine bunte Papageien, wie sie den ganzen Park belebten; sonst lag alles still und einsam da. »Hamburger, uze mir nich und komm hervor«, rief er nach den Büschen hin.
   »Hahaha!« erklang ein schrilles Lachen, und zwar kam der Ton von oben.
   Er erschrak doch in der Tiefe seiner Seele bei dem ungewohnten höhnischen Ton. Er blickte empor, gewahrte aber nichts als die Ausladungen des hölzernen Baues, in dem er sich befand.
   »Na, da is doch det Ende von weg? Wer is denn det?«
   Dem Schneider wurde unheimlich zumute.
   Aus den Büschen vor ihm klang es jetzt recht deutlich herüber: »Good morning.«
   »Ja, good morning, hol dich der Kuckuck; wenn du mich zum besten haben willst, werde ick dir wat zeigen. Ick bin noch mit janz andere Leut fertig jeworden.«
   Während der Schneider auf Antwort harrte und seine Augen anstrengte, um das Gebüsch zu durchdringen, klang es über seinem Haupt: »Döskopp!« ein Ausruf, dem wieder das höhnische, unheimliche Lachen folgte.
   Fritz wurde sehr bleich.
   »Det jeht nich mit rechten Dingen zu.«
   »Hahaha!« ertönt es wieder, diesmal etwas entfernter.
   Fritz sank in seinen Rohrstuhl zurück, er bebte an allen Gliedern.
   Plötzlich wurde in einem scharfen Ton die Melodie von »Heil dir im Siegerkranz« gepfiffen, doch immer sich wiederholend nur die ersten Teile des Liedes.
   »Det is«, murmelte Fritz, »det is 'n Landsmann.«
   »Hahaha!« Von neuem das entsetzliche Lachen.
   »Jott erbarm sich«, stöhnte Fritz, »hier jeht eener am hellen Tag um«, und er vergrub sein Gesicht in den Polstern.
   Nach geraumer Zeit, während er in nicht geringer Aufregung lauschend verharrte, ohne daß sich die verdächtigen Laute wiederholten, hörte er das Geräusch eiliger Hufschläge, und gleich darauf trat raschen Schrittes Henrik ein.
   »Nun, tapferster aller marchand tailleurs», wo steckst du?« fragte er heiter, verstummte aber, als er das verstörte Wesen des Schneiders gewahrte.
   »Was fehlt dir, Mensch? Bist du wieder krank?«
   »Hamburger, bring mir weg von hier, ick halte et nich mehr aus.«
   »Warum denn nicht? Was ist denn geschehen?«
   »Hamburger, et spukt hier, hier jibt et Jeister.«
   »Das wäre.«
   »Ick bleibe nich vor 'n Dorf hier, in det verzauberte Nest. Hamburger, rette mir.«
   Die Verzweiflung des Berliners sprach so deutlich aus seinem ganzen Wesen, daß Henrik wirklich besorgt fragte: »Aber so sprich doch nur, Mensch, was ist denn vorgefallen?«
   Und nun erzählte der zitternde Schneider in fliegender Eile, was ihm begegnet war.
   Verdutzt hörte Henrik zu.
   »Aber, lieber Freund, das wird ein Papagei gewesen sein.«
   »Papagei? So? Ick habe wohl jehört, det et sprechende Papageien jeben soll, un habe ooch daran jedacht in meiner Angst, aber, Hamburger, die werden doch hier auf die türkische Insel nich deutsch sprechen. Det is 'n verzauberter Jeist, sage ich dir, der mir Schafskopf geschimpft hat. Un ick bin et ja ooch, wat habe ick in die fremden Weltteile zu suchen? Hamburger, in det verzauberte Schloß bleibe ick nich.«
   Henrik beruhigte ihn so gut es gehen wollte. Die Anwesenheit eines Papageien, der deutsche Worte wiederholte, hier auf der Europäern unzugänglichen Sundainsel, wollte ihm auch nicht recht wahrscheinlich dünken. Hatte der immer noch nervös erregte Schneider geträumt?
   Um ihn von seinen Gedanken abzubringen, erzählte er ihm von dem Waldmenschen, der große Freude gezeigt habe, als er Henrik vor sich gesehen, sonst aber still in einer Ecke oder auf den Rahen seine Zeit verbrachte.
   »Is denn keen Schiff da, det mir von die jrausliche Insel wegbringt?«
   »Nein, noch nicht.«
   »Laß uns auskneifen, Hamburger, sonst werden wir auch massakriert.«
   »Wie denn massakriert?«
   »Det sin Jeister hier von Leuten, die die ollen Zauberer in dem Tempel abgemurkst haben.«
   »Laß dich doch nicht auslachen, Schneiderseele. Das wird sich ganz natürlich erklären.«
   »Ja, det wird 'ne scheene Erklärung werden«, erwiderte kläglich der Schneider, »ick habe so Geschichten jelesen von Zauberinseln.«
   »Komm, wir wollen hinausgehen und uns dort in den Schatten der Feigenbäume setzen, da werden dir die abergläubischen Gedanken vergehen.«
   »Mir is et recht. Aber bleib nur bei mir. Uff mir haben sie et abgesehen.«
   Henrik führte den ganz gebrochenen Berliner Jüngling hinaus und zu einer im Schatten angebrachten Ruhebank.
   »Ich begreife gar nicht, daß du, ein Spreeathener, ein Kind der Metropole der Intelligenz, dich so ins Bockshorn jagen läßt.«
   »Du hast noch nich mit Jeistern zu tun jehabt.«
   »Döskopp!« sprach eine krächzende Stimme über ihren Häuptern.
   Der Schneider wäre beinahe von der Bank gefallen, selbst Henrik zuckte unwillkürlich bei dem Laut zusammen, der so überraschend aus der Höhe herabklang. Er richtete die Augen nach oben und erblickte einen der grauen Papageien, wie sie so oft auch in Deutschland im Käfig gehalten werden und sich vorzugsweise durch Intelligenz und Nachahmungsgabe von Tönen auszeichnen.
   » Good morning«, sagte der Vogel und neigte den Kopf, freundlich mit dem einen Auge auf die beiden jungen Leute herunterlugend.
   » Good morning«, erwiderte Henrik höchst vergnügt, so die Ursache des Entsetzens des Schneiders ergründet zu sehen. » Good morning, Sir. How are you?«
   »Döskopp!« antwortete der Vogel und ließ dann das eigentümliche Lachen hören, das Fritz so viel Schrecken eingejagt hatte.
   Der Berliner starrte wie versteinert auf den Vogel, der wenige Fuß über ihnen ganz zutraulich saß. »Da is aber doch det Ende von weg«, stammelte er. »Det Vogelvieh hat mir zum besten jehabt.«
   »Es scheint so, obgleich man sich mit einem Berliner keinen Scherz erlauben sollte.«
   »Kann det nich 'n verzauberter Jeist sein?«
   »Wenn du nun jetzt deinen Unsinn nicht laßt, Napoleon mit der Nadel, dann sollst du etwas erleben, Bursche.«
   Fritz fuhr erschreckt zusammen bei dem barschen Ton Henriks und schwieg.
   »Komm, Papchen, komm«, lockte Henrik, indem er dem Vogel die Hand hinhielt.
   »Koppchen kratzen«, brachte dieser hervor.
   »Natürlich, komm nur, komm, wollen Koppchen kratzen.«
   Der, wie es schien, sehr zahme Vogel kam nach einigem Zögern auf Henriks Hand herab und schaute ihn zutraulich an. Dann neigte er den Kopf, und Henrik, der die Gewohnheiten dieser gezähmten Tiere kannte, kraulte ihn sanft, was dem Tier zu behagen schien.
   »Bist du nun ein Engländer oder ein Deutscher, Papchen?«
   » Good morning«, sagte der Vogel.
   »Also ein Engländer, auch gut.«
   »Döskopp!«
   »Ah, das geht auf dich, Fritz. Nun, was fehlt dir denn? Bist du nicht froh, daß dein Geisterspuk sich so hübsch aufgeklärt hat?«
   Der Schneider sah finster zu Boden.
   »Ah, der Herr aus der ›Reezengasse‹ sind ungnädig? Na, komm, junger Derfflinger ›mit die Jeistererscheinungen‹, wir wollen gehen und etwas ›mangscheen‹. – Auch jetzt heitert sich dein geistvolles Angesicht nicht auf?«
   »Döskopp!« krächzte der Papagei.
   »Verwünschtes Beest!« murrte Fritz.
   »Komm nur, Held der kleinen Sundainseln, ick heww ook so 'n lütten Appetit, wi wolld enn beten eeten.«
   Er ging mit dem Vogel, der traulich auf seiner Schulter saß, langsam dem Haus zu, und mürrisch und schweigend folgte Fritz.
   »Was fehlt dir denn eigentlich, Mensch?« fragte Henrik. »Rück doch heraus damit.«
   Als der Schneider immer noch verstockt schwieg, fuhr Henrik fort: »Jetzt schieß aber los, oder ich lasse dich auf ›die verzauberte Insel‹ hier sitzen.
   »Ich bin jiftig auf dir.«
   »Warum denn?«
   »Du willst mir verhauen.«
   »Ich dich verhauen?« fragte Henrik erstaunt.
   »Hast doch jesagt, ick sollte wat erleben.«
   »Nun ja, ich wollte dich von den Malaien auslachen lassen wegen deiner Geisterfurcht.«
   »Wenn unser Meester sagte, ›ick sollte wat erleben‹, dann jing die Keilerei aber ooch jleich los.«
   »Mein lieber Junge, so war's nicht gemeint«, erwiderte Henrik lächelnd.
   »Ick hätt' et ooch nich um dich verdient, seitdem ick dir det Leben jerettet habe.«
   »Du hast mir das Leben gerettet?« fragte höchst erstaunt Henrik.
   »Na, woll nich?«
   »Wie denn? Wie denn, Fritze?«
   »Wenn ick det Wasser nich ausjeschöpft hätte aus die Jondel bei die jrausliche Fahrt nach die Tigerinsel, wo wärst du denn jeblieben, Hamburger?«
   »Ja, Napoleon, das ist aber auch wahr«, erwiderte der entzückte Henrik, »und diese Tat aufopfernder Menschenliebe vermehrt das Register deiner Heldenwerke wesentlich. Schade, daß wir in Hamburg keine Orden haben, sonst würde ich einen beim Senat für dich beantragen.«
   »Ach, hör uff, da wird nich einmal hier wat aus werden«, erwiderte traurig Fritz.
   »Nun, komm nur, wasserschöpfender Lebensretter, noch ist nicht aller Tage Abend, jetzt laß uns friedlich zu Nacht essen und von der Heimat plaudern.«
   »Na, wenn du mir wieder ästimierst, Hamburger«, sagte der gutmütige Berliner, »denn is et ja jut.«
   Und vergnügt schritten beide ihrer Behausung zu, sich bald angelegentlich in eine gründliche Untersuchung des ihnen vorgesetzten reichlichen Mahles vertiefend.
   Am andern Morgen meldete sich bei den beiden jungen Leuten Ara Labung, den Anak Madé ihnen zugewiesen hatte, um ihnen als Führer zu dienen. Der junge Balinese, den die malerische Uniform sehr gut kleidete, sprach fließend englisch und zeigte sich als ein Mann von feinen Umgangsformen. Er brachte Grüße des Prinzen und kündigte dessen baldige Rückkehr an.
   Durch seinen mehrjährigen Aufenthalt in Kalkutta war ihm europäische Art nicht fremd, und er hatte sogar eine nicht üble Kenntnis der politischen Verhältnisse Europas, obgleich auch ihm im inselindischen Staatsleben die Holländer als der wichtigste Faktor erschienen, mit dem die eingeborenen Fürsten rechnen müßten.
   In seiner Gesellschaft besuchten sie Mataram, die eigenartige Stadt mit ihrer so gemischten Bevölkerung, besichtigten den großen Palast des Radscha, der eine Fülle indischer Kunstwerke und einen unvergleichlichen Reichtum barg.
   Einige Ausflüge in die Umgebung lehrten sie das anmutige und schöne Land kennen. Die Hitze wurde durch den Monsun, die zu bestimmten Jahreszeiten einsetzende, bald nach Ost, bald nach West sich richtende Luftströmung, erheblich vermindert. Für den Schneider hatte man ein ruhiges Pferd ausgewählt, und Fritze Fischer begann sich im Sattel behaglich zu fühlen.
   Wiederholt besuchte man auch Apanam und den »Arang«, um Mr. Blake zu begrüßen und Karl Steffen zu erfreuen. Nach des Kapitäns Aussage war bei dem herrschenden Wind noch für längere Zeit keine Aussicht, ein zur Heimkehr der beiden Deutschen geeignetes Fahrzeug einlaufen zu sehen.
   So waren einige Tage in anmutigem und anregendem Wechsel verbracht, als Anak Madé wieder eintraf.
   Er machte den jungen Gastfreunden seinen Besuch und war erfreut zu hören, daß sie sich äußerst wohl fühlten.
   »Ihr sollt eine freundliche Erinnerung an Lombok und mich mitnehmen und bewahren«, sagte er herzlich.
   Wie aus seinen Mitteilungen hervorging, war das Land ruhig, keine Gefahr eines Aufstandes vorhanden und so der Anschlag auf sein Leben wohl nur ein Ausfluß persönlicher Rache gewesen. Obgleich eine strenge Untersuchung im Gang war, hatte sie bis jetzt kein Ergebnis geliefert, da der junge gefangene Malaie wenig auszusagen vermochte und der mit Mannschaft ausgesandte Offizier es sicher sehr schwierig fand, die noch auf der Insel vorhandenen Piraten einzufangen, denn er war noch nicht zurückgekehrt.
   Mit Vergnügen vernahm Anak Madé, daß Henrik sein Heimatland schön fand.
   »Gern würde ich mir auch einmal Ihre ferne Welt ansehen«, äußerte er, »doch darf ich zunächst nicht daran denken, mich auf längere Zeit zu entfernen. Mein Vater ist alt und kränklich, und ich bin seine rechte Hand.«
   Henrik konnte es nicht unterlassen, den deutsch und englisch sprechenden Papagei zu erwähnen.
   »O ja«, sagte der Prinz, »den hat mir Mr. Blake zum Geschenk gemacht, der ihn von einem Matrosen kaufte. Er soll auch deutsche Worte sprechen. Hat er Sie damit überrascht?«
   Anak Madé lächelte, als ihm Henrik Fritzens Abenteuer erzählte.
   Als der Prinz dann im Lauf des Gesprächs nach besondern Wünschen Henriks fragte und dieser zu erkennen gab, daß es ihn überaus beglücken würde, den aus der Ferne so oft angestaunten, hoch zum Himmel ragenden Vulkan besteigen zu dürfen, entgegnete der Sohn des Radscha ernst: »Es ist dies schwieriger, als Sie glauben; ich habe den Versuch gemacht und bin gescheitert. Der Gunung Rindjani ist ein feuerspeiender Riese von geheimnisvoller Tücke. In seinem Innern glüht und zuckt es, und um seinen Scheitel weht eisige Luft. Ich gestehe, daß die Kälte mich wieder hinabgetrieben hat, ehe ich den Gipfel erreichte.«
   Aber Kälte konnte Henrik, dem Sohn aus dem Norden, bestimmt nichts anhaben. »Ich würde es als ein großes Glück betrachten, jenen Bergriesen besteigen zu dürfen, vielleicht als erster Europäer, der seinen Krater erreicht.«
   »Ich finde Ihren Wunsch begreiflich, Mr. Henrik, und es wird Ihnen leichter werden als mir, die kalten Luftströme dort oben zu ertragen. Ich weiß, was die nordischen Länder bringen, ich habe in Kalkutta sogar gefrorenes Wasser gesehen und seine Temperatur kennengelernt.«
   Henrik, der vor Begierde brannte, die abenteuerliche Fahrt auf den interessanten und eine außerordentliche Rundsicht versprechenden Berg zu wagen, wiederholte seine Bitte, worauf der Prinz erwiderte: »Wenn Ihnen das so viel Freude macht, will ich Sie gern hinaufgeleiten lassen. Es ist sehr mühevoll, sogar nicht ungefährlich, doch habe ich Leute zur Verfügung, die den Berg kennen und dafür sorgen werden, daß Sie ungefährdet zurückkommen. Ich werde sogleich die nötigen Befehle erteilen.«
   Hocherfreut dankte Henrik, und der Sohn des Radscha entfernte sich. Als Henrik jetzt Fritz Fischer, der stumm und in ehrfurchtsvoller Haltung der Unterredung mit angewohnt hatte, jubelnd mitteilte, daß Anak Madé die Ersteigung des Vulkans guthieß, machte der Schneider ein sehr langes Gesicht.
   »Nimm mir's nicht übel, Hamburger«, sagte er dann, »aber du bist ein janz verdrehtes Huhn. Wat hast du denn nu uff den ollen rauchenden Berg zu suchen?«
   »Denke doch, Fritz, wenn wir als die ersten Besteiger des Rindjani, des höchsten Berges der Sundainseln, in der ganzen Welt ausposaunt werden.«
   »Is mir ejal. Laß dir nur ausposaunen, ick jeh' uff solche Berge nich.«
   »Aber der Prinz sagt, daß es ganz ungefährlich ist.«
   »Det hat der jut sagen, ick jeh' nich. Det kann keen Mensch von mir verlangen, det ick uff so feuerspeiende Berge jehen soll.«
   »Du wirst dich doch jetzt, wo du ganz wiederhergestellt bist, von dieser herrlichen Fahrt, die uns nie im Leben wieder geboten wird, nicht ausschließen?«
   »Det werd' ick janz jewiß.«
   »Fritz, was werden die Reezengasse und die Nachwelt sagen, wenn du diese Gelegenheit ausschlägst, berühmt zu werden?«
   »Det ick mir nich so leicht vor was fürchte, det weeßt du, Hamburger, aber uff so hohle Berge mit Feuer drin jeh' ick nu partutemang nich, und da kannst du dir uff 'n Kobb stellen.«
   »Welche Ehre für uns, wenn es durch alle Zeitungen läuft, Fritz Fischer aus Berlin und Henrik Horsa aus Hamburg bestiegen mit unvergleichlicher Kühnheit den Gunung Rindjani, dessen Gipfel bisher noch kein Europäer erreicht hatte.«
   »Ick bin jar nich eitel, Hamburger; tu mir die einzige Liebe und bleib von den ollen Berg weg. Wenn du in det Feuerloch da oben reinfällst, wat hast du dann davon?«
   »Na, so nahe werde ich nicht herangehen.«
   Alle Überredungskünste, um den Schneider willfährig zu machen, die Vulkanbesteigung zu versuchen, scheiterten an dessen unbezwinglichem Widerwillen gegen feuerspeiende Berge.
   Sie nahmen ihr Abendmahl in Gesellschaft Ara Labungs ein, der sich gleich Henrik einen hohen Genuß von der Besteigung des Rindjani versprach.


   Der Gunung Rindjani

   Als Henrik am andern Morgen zum Fenster hinausblickte, sah er Karl Steffen ganz gelassen auf einer Ruhebank sitzen und ihm freundlich zunicken, als dieser ihn gewahrte.
   »Oh«, sagte Henrik erfreut, »war dir das Schiff zu enge, Karl? Sei willkommen am Land.«
   »Lange Wald gelebt«, erwiderte Steffen langsam, »wieder Wald sehen – Horsa sehen.«
   »Brav, mein Freund, komm herein.«
   Gleich darauf erschien der verwilderte Mann in dem Zimmer, das den jungen Leuten als Speiseraum diente. Karl Steffen nickte dem Schneider zu und blickte strahlend auf Henrik.
   »Ich finde es sehr begreiflich, daß dir ein im Hafen ankerndes Schiff als ungewohnte Fessel erschien, und freue mich, daß du an Land gekommen bist. Setz dich und nimm teil an unserm Frühstück.«
   Der ehemalige Matrose setzte sich unbehilflich; man sah ihm an, daß er sich Zwang antat; ihm, der so lange das Leben eines wilden Tieres geführt hatte, war das Sitzen auf einem Stuhl fremd, auch übte er große Vorsicht in der Auswahl der ihm vorgesetzten Speisen, die ihm ungewohnt waren. Er griff fast nur zu Früchten und in Wasser gekochtem Reis.
   »Det Karlchen von die Insel«, meinte Fritz, der, nebenher bemerkt, nicht guter Laune war, »müßte doch seine Toilette etwas vervollkommnen.«
   Steffen trug nichts weiter als sein indisches langes Gewand.
   »Das ist wahr, mein Lieber«, sagte Henrik, »und da könntest du dir wesentliche Verdienste erwerben, wenn du während meiner Abwesenheit Karl einen hübschen Anzug machen würdest. Stoff, Nähzeug und Bügeleisen wollen wir schon anschaffen.«
   »Hör mal, Hamburger«, sagte der Schneider sehr ernst, »ick habe dir schon auseinanderposamentiert, det ick Jründe habe, hier mein ehrenvolles Metier nich auszuüben, aus höhern Rücksichten, weißt du.«
   »Ich weiß, ich weiß«, sagte Henrik, »du bist nur inkognito hier, von wegen –« und er tippte mit dem Finger auf seine Brust, »aber dann komm mit mir.«
   »Ick habe ooch Jründe, uff keene verdächtigen Berggelegenheiten zu jehen.«
   »Ihr Schneider habt keine Courage, das weiß man ja.«
   »Hör mal, Hamburger«, sagte Fritz in großer innerer Erregung, »wenn du det sagst, du, der mir mitten mang die Schlacht jesehen hat, dann hört aber die Jemütlichkeit uff.«
   Fritz Fischer war sehr beleidigt.
   »Ich kenne ja deinen Mut, Fritz«, sagte begütigend Henrik, »und eben deshalb wundere ich mich, daß du mich nicht begleiten willst.«
   »Ick tu' et nich«, erwiderte der Schneider, störrisch, »keen richtiger Berliner jeht uff eenen feuerspeienden Berg, ick tu' et nich.«
   »Gut, gut. – Aber du, Karl Steffen, begleitest mich?«
   Dieser nickte: »Ich geh', wo Horsa geht.«
   »Ja«, brummte der Schneider, »der Mann paßt uff verrückte Berge, ick bin doch zu aufjeklärt, um mich mir nichts dir nichts in die Luft sprengen zu lassen.«
   »Ja, Karl, du bist anhänglicher als dieses Kind der Reezengasse, dieser Napoleon in Duodezausgabe, der mir zwar durch Wasserschöpfen das Leben, dem ich aber zehnmal mehr, dem ich sein besseres Selbst gerettet habe.«
   »Wat hast du mir gerettet?«
   »Mensch, Schneider, Münchhausen, begreifst du denn nicht, welchen Dienst ich dir erwiesen habe, als ich dich von der teuflischen Macht des verzauberten Papageien befreite, der dich, einen ebenso tapfern als geistig hochstehenden Jüngling, der mit Spreewasser »getooft« ist, zu einem ›Döskopp‹ machen wollte? Begreifst du das denn nicht, Undankbarer? Ohne mich wärest du jetzt wirklich ein Döskopp.«
   Fassungslos starrte ihn der Berliner an. »Nu ja«, brachte endlich der verblüffte Schneider, der sich doch innerlich schämte, daß er sich von dem Papagei ins Bockshorn jagen ließ, stotternd hervor, »nu ja, det unjebildete Vieh – det is – wat meenste denn eejentlich mit det allens?«
   »Döskopp!« krächzte es vom Fenster her, und auf den nahen Zweigen saß der Papagei, den man die Tage her mit Süßigkeiten vom Tisch freigebig bedacht hatte.
   Das übte nun freilich als Nachklang von Henriks Predigt eine so komische Wirkung, daß dieser sich vor Lachen nicht zu lassen wußte.
   Fritz aber war sehr verdrießlich. »Immer mußt du mir uzen.«
   »Nein, es war mir nur ein Bedürfnis, auch meine Verdienste um dich, der du mir durch Wasserschöpfen das Leben gerettet hast, hervorzuheben. – Übrigens würde ich mir diese beleidigenden Ausdrücke der Papageiengeister verbitten.«
   »Na, warte nur, ick werde et dir schon wieder jeben«, brummte Fritz.
   Ara Labung, der junge Balinese, erschien in Begleitung von Dienern, welche Jagdanzüge und Waffen trugen.
   »Prinz Anak Madé hat schon gestern abend alle nötigen Befehle für Ihren Ausflug gegeben, und wir können bald nach Mittag die Reise antreten, Gentlemen. Er sendet hier für das Bergsteigen geeignete Kleider und Flinten für den Fall, daß Sie unser Bergschaf, das nur am Rindjani vorkommt, jagen wollen. Alles andere führen die Diener mit.«
   Das freute Henrik sehr.
   Als er das Erstaunen gewahrte, mit dem der junge Balinese Karl Steffens absonderliche Erscheinung betrachtete, erklärte ihm Henrik, wer er sei.
   »Ja, ja, jetzt erinnere ich mich«, erwiderte der Offizier, »der Prinz hat von diesem Waldmenschen wiederholt gesprochen. Wird er mit uns gehen?«
   »Er möchte mich gern begleiten.«
   »Das mag er ruhig tun, unser Ausflug wird ihm seine einsame Insel mit ihrer Felsformation zurückrufen.«
   »Nun, Fritz, komm, wir wollen Bergsteigertoilette machen.«
   »Ick jeh' nich.«
   »Sei kein Narr.«
   »Der wär' ick, wenn ick mitjinge; ick tu' et nich.«
   »Na, dann muß ich es allein mit dem Rindjani aufnehmen, denn hinauf will ich nun einmal, auch wenn mir deine Tapferkeit nicht zur Seite steht.«
   Er bat Ara Labung, ihn zu entschuldigen, begab sich mit den Dienern in das Schlafzimmer und legte die neue Tracht an. Er sah prächtig aus in den hohen ledernen Gamaschen, der enganliegenden buntgestickten Weste mit der schön verzierten, einem Jatagan ähnlichen Waffe im seidenen Gürtel und der Büchse in der Hand.
   »Een hübscher Junge bist de doch, Hamburger«, meinte Fritz.
   »Mach dich ebenso hübsch.«
   »Ne, ick tu' et nich«, und entschlossen entfernte er sich.
   Ara Labung sagte, daß gegen Mittag alles zum Ritt fertig sein und er die Herren abholen werde.
   Zur festgesetzten Zeit erschienen die Pferde und wohl ein Dutzend Diener, die beladene Handpferde führten. Fritz Fischer hatte sich nicht sehen lassen, er mußte wohl im Park umherwandern.
   Mit Ara Labung erschien auch Anak Madé, und zwar beritten.
   »Ich werde Ihnen«, sagte der Prinz zu Henrik, »bis zu Ihrem ersten Nachtlager das Geleite geben, um mich zu überzeugen, ob meine Befehle ausgeführt sind.«
   Henrik war von dieser Aufmerksamkeit ungemein angenehm berührt.
   »Nun«, fragte der Prinz, »wo ist denn das andere junge Milchgesicht?« Er bediente sich scherzend des Ausdrucks, mit dem die Europäer gemeinhin im indischen Archipel von den Eingeborenen bezeichnet werden.
   Henrik sagte ihm, daß sich Fritz entschieden geweigert habe, an der Reise teilzunehmen.
   »Ja«, äußerte lächelnd Anak Madé, »es gibt auch hier im Land Leute genug, die vor dem rauchenden Riesen abergläubische Scheu hegen, ich selbst habe nur mit innerm Beben den Berg bestiegen. – Ah«, fuhr er, Steffen gewahrend, fort, »da ist ja unser Waldmensch. Will er Sie begleiten?«
   »Er wünscht es.«
   »Nehmen Sie ihn nur mit, er kann Ihnen nützlich sein.«
   Auf einen Wink Anak Madés brach man auf.
   Noch im Sattel sah sich Henrik nach dem Berliner um, gewahrte ihn aber nicht, obgleich Fritz aus einem Busch den Abritt beobachtete.
   Steffen weigerte sich entschieden, ein Pferd zu besteigen, und ging den Reitern, denen sich einige bewaffnete Soldaten zugesellt hatten, nach.
   Das Land, das sie nach Norden hin durchritten, war eben und von kleinen Flußläufen durchzogen. Zwischen den zur Seite ihres Weges liegenden Dörfern zeigten sich ausgedehnte Reis– und Maisfelder, Anpflanzungen von Bananen, Feigen und Gebangpalmen. Die kleinen Häuser der Landbewohner waren teils aus Ton, teils aus Bambus errichtet; in letztern wohnten dann sicher Sassaker, während die Balinesen den Ton als Baumaterial vorzogen. Hie und da wiegten prächtige Kokospalmen ihre Blätter im lauen Wind. Das Land war überall gut bebaut und schien fruchtbar zu sein. Zahlreiche Pferde weideten auf ausgedehnten Wiesen, und dichte Scharen von Enten belebten Teiche und Bäche. Enteneier und Pferde sind wichtige Handelsartikel für Lombok. In der Ferne zeigten sich bewaldete Höhen, über die immer noch das Haupt des Gunung Rindjani emporragte.
   Karl Steffen folgte treulich den Reitern und lief, als die Kavalkade sich in Galoppsetzte, in gleicher Schnelle und scheinbar ohne Anstrengung nebenher.
   Das weiße Gesicht Henriks wurde von den dem Zug Begegnenden mit staunender Bewunderung betrachtet, Anak Madé überall ehrfurchtsvoll begrüßt.
   Nach kurzem, wenig anstrengendem Ritt erreichten sie ein Wäldchen, in dem um dort aufgeschlagene Mattenzelte wohl fünfzig Männer versammelt waren, deren größerer Teil dem Volk der Sassaker angehörte. Es war die für Henriks Bergreise ausersehene Begleitung. Feuer, an denen gekocht und gebraten wurde, brannten, und zahlreiche Pferde waren ringsum angebunden.
   Die Reiter ließen sich auf ausgebreiteten Teppichen nieder, und die Diener überreichten Tee. Steffen war gleichzeitig mit den Reitern eingetroffen, zu nicht geringem Staunen der berittenen Balinesen, doch hielt er sich abseits.
   Anak Madé ließ einen alten Sassaker vor sich kommen, der Henrik, wie er diesem sagte, als erfahrener Führer dienen sollte. Ein sehniger Bursche, dem graues Haar, das lang unter dem bunten Kopftuch hervorquoll, das braune hagere Gesicht umwallte, beugte sich vor dem Prinzen.
   »Ich bin glücklich, Herr«, sagte er mit kriechender Höflichkeit, »daß ich dich von neuem auf den Berg geleiten kann.«
   »Dieses Glück wird dir nicht zuteil werden, Mann, aber das Milchgesicht neben mir wirst du zum Rauch oben führen und es wohlbehalten zurückbringen.«
   Wer die Weise des alten Sassakers kannte, würde wahrgenommen haben, daß des Prinzen Worte ihm eine bittere Enttäuschung bereiteten.
   »Geschieht dem Milchgesicht Übles, wirst du es büßen, Rasido«, fuhr Anak Madé fort.
   »Rasido, Herr«, sagte der Mann unterwürfig, »wird das Milchgesicht zurückbringen oder selbst nicht wiederkehren.«
   »Nach glücklich vollbrachter Reise werde ich dich belohnen, Rasido.«
   Der Sassaker neigte sich.
   »Du kennst den Berg, der Auf– und Abstieg kann auch zu dieser Jahreszeit ohne Gefahr bewerkstelligt werden?«
   »Der Berg ist ruhig, seine Geister schlafen.«
   »Gut, du siehst, daß ich dir vertraue, Rasido.«
   »Dein Diener, Sohn des Radscha, wird das Vertrauen rechtfertigen.«
   »Hast du alles, was du brauchst, um den Berg zu überwinden?«
   »Es ist alles vorhanden.«
   »Verdiene dir deine Belohnung.«
   Er winkte und der Sassaker entfernte sich demütig.
   »Ich muß Sie bald verlassen, Mr. Henrik«, sagte der Prinz, »ich bin in Mataram nötig, doch Ara Labung«, der Offizier hatte auf Anaks Befehl bei ihm und Henrik Platz genommen, »wird mich vertreten, und Sie werden auch an ihm einen Freund haben.«
   Während sie sich noch über den Vulkan und die Hindernisse auf dem Weg zu seinem Gipfel unterhielten, hörten sie Pferdegetrappel an der Grenze des Wäldchens, und gleich darauf trat zu freudiger Überraschung Henriks Fritz Fischer auf ihn zu, während ein mit diesem eingetroffener Diener sich zu Anak Madé wandte.
   »Fritze! Da bist du ja!« rief Henrik, dem der gute Schneider doch sehr gefehlt hatte.
   »Ja, Hamburger«, sagte der, »ick konnte et nicht übers Herz bringen, dir allein in dein Unglück rennen zu lassen, et hätte mir det Herz abjedrückt. Wir waren zusammen arme Robinsons uff die schofele Insel, wir müssen schonst zusammenhalten, unter die wilden Menschenbrüder.«
   »Das wollen wir auch, Fritz«, entgegnete Henrik, der die Anhänglichkeit des Schneiders, die selbst die Furcht vor dem Vulkan überwand, schätzte, herzlich und schüttelte ihm die Hand.
   Jetzt erst gewahrte der Schneider, der eine Stunde nach Henrik in Begleitung eines Dieners aufgebrochen war, um diesen einzuholen, Anak Madé.
   »Ach du jrundjütiger Himmel, unsere Hoheit, Durchlaucht. Entschuldigen der Herr Exzellenz jütigst, aber ick habe Ihnen nich gleich beaugenscheinigt, weil ich nur an diesen tollen Hamburger dachte, bei dem eene Schraube los ist.«
   Fritz ließ sich wiederum eine stattliche Anzahl seiner Bücklinge zuschulden kommen, die selbst dem ernsten Fürsten ein Lächeln abnötigten. Von Henrik unterrichtet, daß den jungen Berliner das Herz in letzter Stunde dem Freund nachgetrieben habe, reichte er ihm freundlich die Hand und forderte ihn auf, sich bei ihnen niederzulassen, was Fritz mit seltsamem Anstand auch glücklich fertig brachte.
   »Es ist schön, junger Freund«, sagte der Prinz, »daß Sie Ihren Gefährten nicht verlassen und die ihn erwartenden, nicht unerheblichen Anstrengungen teilen wollen.
   »Ick werde mir bemühen, Durchlaucht Hoheit«, stammelte Fritz und verbeugte sich, schon sitzend, mehreremal.
   Nach wenigen noch gewechselten freundlichen Worten erhob sich Anak Madé, mit ihm die andern. Die Reiter seiner besondern Begleitung saßen augenblicklich im Sattel, und das Pferd des Prinzen wurde vorgeführt.
   Er reichte Henrik die Hand. »Erfüllen Sie Ihres Herzens Wunsch und kehren Sie glücklich nach Gunung Sari zurück, der Erhalter beschütze Sie.«
   »Es is doch 'n janz famoser Kunde, der jelbe Prinz, und jar nich hochnäsig«, meinte Fritz.
   »Er ist ein prächtiger Mensch, du aber, meine liebe Schneiderseele, auch; ich freue mich von ganzem Herzen, daß ich dich bei mir habe.«
   »Wenn man nur allens jut abläuft.«
   »Sei doch kein Hasenherz.«
   »Na, et is nu ejal, nu mal rin in't Verjnügen.«
   Sie ließen sich mit Ara Labung wieder auf dem Teppich nieder, und Fritz füllte seinen Magen mit einer nicht unerheblichen Ladung von Reis und gekochten Hühnern.
   Bald kam die Nacht, und die jungen Leute suchten ihr Lager, das ihnen in einer der Basthütten auf Polstern bereitet war, während Steffen, einem treuen Wächterhund gleich, davor schlief.
   Bald nach Tagesanbruch wurden sie geweckt.
   Während sie mit Ara Labung frühstückten, wurden die Polster und die Mattenzelte den Pferden, die zu dem Zweck mitgeführt wurden, aufgepackt.
   Fritz Fischer, der sich, ehe er Henrik nachritt, in den übersandten Jagdanzug geworfen hatte, trug mit einigem Selbstbewußtsein die dazu gehörende kurze Hiebwaffe im Gürtel, die Büchse hatte er zurückgelassen: »Denn weeßte«, hatte er geäußert, »so 'n Ding kann losjehen un det is ne jefährliche Jeschichte.«
   Die Besorgnisse um den Ausgang der seiner Meinung nach so gefährlichen Expedition hatten übrigens weder seinen Schlaf noch seinen Appetit beeinträchtigt.
   Bald saß alles zu Pferd und ritt im Morgensonnenschein dem Rindjani zu. Es war ein stattlicher Reitertrupp, der die rauhe Straße einherzog, überaus malerisch durch die farbigen Gewänder. Die große Zahl beladener Saumrosse erhöhte das Stattliche des Zuges.
   Karl Steffen, an den Henrik nach seinem Erwachen freundliche Worte gerichtet hatte, bewegte sich auf seinen nackten braunen Füßen zur Seite der Reiter. Der schweigsame Mann im indischen Gewand, dessen helleres Haar zu der gebräunten Gesichtsfarbe nicht passen wollte, der mit ungeschütztem Fuß auch auf rauhem Boden mit dem galoppierenden Pferd Schritt hielt, war den Balinesen und vor allem den Sassakern aufgefallen, die ihn mit bemerkbarer Scheu betrachteten.
   Das Land war überall gut angebaut und ziemlich dicht besiedelt. Von allen Seiten liefen Leute herbei, um den Zug und die noch nie gesehenen Milchgesichter anzustaunen. Henrik ritt in der fröhlichsten Stimmung neben dem jungen Balinesen und Fritz einher. Dieser hatte bei dem mühelosen Ritt durch die Ebene seine gute Laune wiedergefunden und erging sich in kühnen Vergleichen zwischen dem, was ihnen vor Augen lag und der Umgebung von Berlin, wobei er nicht vergaß, deren landschaftliche Reize hervorzuheben. Zu ihrer Rechten zogen sich, als sie weiter kamen, sehr lieblich gestaltete, dicht bewaldete Höhen hin, und allgemach stieg auch ihr Weg empor.
   Als sie endlich in einen Wald einritten, dessen mächtige Baumgestaltungen von fremder ungewohnter Art Henrik bewundernde Ausrufe entlockten, wurde der Schneider wieder verdrießlich, und statt seine Aufmerksamkeit der reichen Vogelwelt, den buntgefieberten Kakadus, grünen Tauben oder den häufig auftretenden Affen zuzuwenden, schaute er oft ängstlich um sich her.
   Dämmerung umfing die Reisenden, und der Weg wurde hie und da so schmal, daß sie einzeln reiten mußten.
   Als Henrik und Fritz wieder zusammen ritten und der Schneider nach beiden Seiten wieder ängstlich ausschaute, sagte Henrik endlich: »Was hast du denn? Fürchtest du dich etwa? Wilde Tiere gibt es hier nicht.«
   »Ich fürchte mir ooch nich vor wilde Tiere, aber ick fürchte mich vor die braunen Menschen. Det is ne Jegend hier, wo sie eenen abmurksen können, ohne det irgend einer wat von erfährt.«
   »Du, ich spreche gleich die Sprache der Papageien, wenn du so fortfährst. Du weißt doch?«
   »Ja, ick verstehe dir, ›Döskopp‹ meinst du.«
   »Wir reiten unter der Bewachung von fünfzig zuverlässigen Leuten, stehen unter dem Schutz des Landesherrn.«
   »Ick sage dir, Hamburger, die braunen Menschen hier sind sich nich jut untereinander, jib nur mal acht, wie sie sich absentieren und immer in zwei Teile jehen.«
   Diese Bemerkung des Schneiders verriet mehr Scharfsinn, als bei ihm vorauszusetzen war, und machte Henrik, welcher der Begleitung wenig Beachtung geschenkt hatte, betroffen.
   Als Ara Labung sich wieder zu ihm gesellte, teilte er ihm mit, was Fritz wahrgenommen haben wollte.
   »Ihr Freund hat durchaus richtig gesehen«, erwiderte dieser. »Unsere Mannschaft setzt sich aus Sassakern und Balinesen zusammen, zwischen denen sowohl die Sprache als auch vor allem die Religion, deren Gesetze sich bis auf Speise und Trank erstrecken, einen wesentlichen Unterschied bedingen. Die Sassaker sind Mohammedaner, wir dienen Brahma, und dazu kommt, daß ich wohl der einzige Balinese hier sein dürfte, der die Sprache der Eingeborenen spricht, wie auch wohl unter jenen nur Rasido, unser Führer, unser Idiom verstehen wird. Daraus erklärt sich die Einteilung unserer Leute in zwei Gruppen ganz natürlich, einig aber sind diese in treuer Pflichterfüllung.«
   Als dem Berliner dies verdolmetscht war, äußerte er: »Det mag allens sind, aber ick traue die Leute nich.«
   Als sie nach mehrstündigem Ritt durch den dichten Wald endlich aus diesem heraustraten, sahen sie in seiner ganzen Majestät den riesigen Pik von Lombok vor sich. Der massige Koloß mit seinen bewaldeten Vorbergen, seinem sich vom klaren Abendhimmel scharf abhebenden Haupt, dem in unbewegter Luft senkrecht zum Himmel aufstrebend eine Dampfwolke entstieg, machte einen gewaltigen Eindruck.
   Während Henrik sich diesem überließ, schlugen die Diener an einer geschützten Stelle das Lager auf und zündeten Feuer an.
   »Ja«, sagte Fritz, »et is kolossiv, det muß wahr sin. Rauchende Berge haben wir bei uns doch nich.«
   »Nun, haben wir nicht auch zwei rauchende und feuerspeiende Berge in Europa?«
   »Det wirst du mir nich weismachen.«
   »Aber, Mensch aus Spreeathen, du hast doch sicher vom Vesuv und Ätna gehört?«
   »Ach so, die meenste? Von den eenen hab ick mal jehört, det is aber in de Türkei oder so rum.«
   »Na, kommen wir wieder glücklich zur Heimat, kaufe ich dir ein Geographiebuch und Bilder vom Vesuv und Ätna.«
   »Ick wollte, ick hätte et erst«, seufzte Fritz.
   Als sie sich am Feuer niederließen, erschien Karl Steffen, den sie den ganzen Tag nicht gesehen hatten, und brachte einige Hühner, die er auf seine Weise erlegt hatte und welche, rasch zubereitet, ein überaus wohlschmeckendes Abendbrot lieferten.
   Henrik veranlaßte den Matrosen, sich neben ihn zu setzen. Er befürchtete, das ungezügelte Umherstreifen in den wilden, einsamen Wäldern könne den kaum aus langem Schlaf erwachten Menschen in seine alten Gewohnheiten zurückfallen lassen. »Ziehst du nicht den unendlichen Ozean diesen düstern Waldungen vor, Karl?«
   Nach einiger Zeit entgegnete dieser: »See gut – Wald gut. Er geht mit Horsa – See – Wald.«
   »Selbstverständlich bleibst du bei mir. Hoffentlich sehen wir unser altes, schönes Hamburg bald wieder.«
   Als die Nacht hereinbrach, bot sich den Augen der Lagernden ein wunderbares Schauspiel. In regelmäßigen Pausen brach aus dem Krater des Berges Feuerschein, der die gewaltige ihm entstiegene Dampfwolke von unten rötlich beleuchtete. Es war ein ebenso prächtiger als gewaltiger Anblick.
   »Janz kolossiv«, murmelte der hingerissene Schneider. »Det wär wat vor de Berliner, besonders wenn et nischt kostet, aber ick jeh nich hin, wo det Feuer brennt.«
   Lang saß Henrik noch, als schon alle schliefen, in der stillen Nacht und schaute abwechselnd zu den glänzenden Sternen und zu der feurigen Wolke des Piks empor, deren Glanz weit über Land und Meer leuchtete. Erst spät suchte er das Lager auf. Vor dem Zelt schlief Karl.
   Am andern Tag stieg der Zug durch Wälder und Felsschluchten unter nicht geringen Anstrengungen zum Berg empor. Überaus herrlich waren die Ausblicke in die bewaldeten Täler, die in malerischer Abwechslung des Blattgrüns vom hellsten bis zum dunkelsten, bestrickend wirkten.
   Dazwischen erschienen schroffe Felspartien, deren wilde zerrissene Formen auf vulkanischen Ursprung deuteten. Von bewohnten Stätten waren sie schon längst entfernt, und als sie in einem Felskessel das Nachtlager bezogen, machte sich auffallende Kühle geltend. Ein Zeichen, daß sie bereits in ziemliche Höhe gelangt waren. Fröstelnd saßen die Indier in Schals gewickelt an den Feuern, und selbst die beiden Nordländer, empfindlich geworden durch den Aufenthalt im Tropenklima, hatten sich in wärmende Tücher gehüllt.
   Auch die Natur der Bäume und Pflanzen hatte sich geändert, wie auch Affen und Kakadus tief unten zurückgeblieben waren. Statt der Palmen zeigten sich dem Auge Jamudjueichen und düstere Nadelhölzer.
   Mit unbehaglicher Kälteempfindung erhoben sich Henrik und Fritz bald nach Sonnenaufgang vom Lager ihrer Mattenhütte. Karl Steffen hatte sich aus Alang-Alang, hohes binsenartiges Gras, eine Hütte zum Schutz vor der Nachtkälte gebaut.
   Von hier ab mußte der Aufstieg zu Fuß unternommen werden, Pferde konnten nicht höher gelangen. Sie und einige der Diener blieben in dem engen Tal, um die Rückkehr der kühnen Bergsteiger zu erwarten. Die Bewegung war in der frischen Morgenluft zuerst angenehm, weil erwärmend, wurde aber bald sehr beschwerlich. Auf steilem, gefährlichem Felspfad, zwischen dornigem Gestrüppund Tannenbüschen stiegen sie mühsam aufwärts. Voran der Führer Rasido, und einer nach dem andern folgte. Ein Abgrund öffnet sich vor ihnen, schroff fallen dessen Wände ab und langhin erstreckt sich der Spalt. Felstrümmer und entwurzelte Bäume liegen auf seinem Boden. Flink lassen die Sassaker ein Tau hinab und einige gleiten daran hernieder, nachdem sein Ende an einem starken Baum befestigt worden ist. Unten wird das Tau angezogen, daß es einen Winkel von fünfundvierzig Grad bildet. Auf einem kleinen Brett, das durch zwei kleinere Taue an dem großen Tau befestigt ist, fährt jetzt Rasido hinab, mit mäßiger Schnelle, und wird unten aufgefangen. Er hat gezeigt, daß die Fahrt gefahrlos ist, das Brett wird wieder in die Höhe gezogen, ein Sassaker fährt hernieder, dann Ara Labung.
   »Nun, Fritz, du.«
   Mit Schrecken hat der Schneider die Fahrt mit angesehen.
   »Ick jeh nich. Ick will nich Hals und Beine brechen.«
   »Torheit, die Sache ist ganz leicht.«
   »Ja, vor dir und andere Seematrosen, ick tu et nich, ick werde hier warten, bis ihr von dem ollen Berg wiederkommt.«
   »Das geht nicht, Fritz, wir können dich nicht hier lassen. Nur Mut.«
   Steffen, der dabeistand, hatte mit Kennerblick und nachfühlender Hand die Taue und ihre Festigungen untersucht, was Henrik wohl bemerkt hatte. Als der Schneider fortfuhr, sich des Hinabsteigens zu weigern, zwinkerte Henrik dem Matrosen mit den Augen verständnisvoll zu und der begriff als echte Teerjacke augenblicklich, was von ihm erwartet wurde.
   Eben war das Brett, von einem dünnen Tau gezogen, wieder oben angelangt. Von neuem untersuchte Steffen die Art, wie das Brett befestigt war, nahm den Schneider, der dabei entsetzlich schrie und zappelte, unter den Arm, saß im Nu auf dem Brett, rutschte mit dem vor Angst kreidebleichen Schneider hinab und setzte ihn unten säuberlich auf den Boden.
   »Det is – det is – det jeht jegen alles Völkerrecht«, zeterte mit einem Gemisch von Zorn und Angst Fritze; »ick werde dir verklagen, du oller Waldbruder mit die Pelzmantille un den unfrisierten Lockenkopp.«
   Schon aber kam Henrik herunter und suchte den grimmigen Schneider zu beruhigen.
   »Ick habe et jleich jesagt, ick will mit die janze Sache nischt zu tun haben«, schrie dieser.
   »Das war eine großartige Leistung, Fritz, das hätte dir niemand so leicht nachgemacht.«
   »Wat?« fragte der gänzlich verblüffte Schneider. »Wat is det?«
   »Bewundernswert war es, wie du während eurer Fahrt das Gleichgewicht hieltest; das nenne ich Kaltblütigkeit. Ohne diese hättet ihr beide das Genick brechen müssen.«
   Fritz, der während des Herabgleitens vor Angst ganz sinnlos gewesen war und den Komplimenten seines »Hamburgers« nie ganz traute, sah ihn forschend an.
   »Tu willst mir wohl zur Schaute machen?«
   »Ich? Jetzt? Angesichts eines feuerspeienden Berges? Was denkst du von mir?«
   »Der Waldbruder hat sich an mir vergriffen, sage ick dir.«
   »Um so mehr war deine Geistesgegenwart zu bewundern.«
   »Die Balance hab' ick ja woll jehalten, det is ja richtig, det mußte ick ja schon«, sagte Fritz.
   »Das erkannte ja jeder sofort.«
   »Aber uff eene zweete Reise mit den Karlchen von die Insel laß ick mir nich in.«
   Während dieses Dialoges waren sämtliche Balinesen und Sassaker und auch das nach der Höhe mitzuführende Gepäck unten angelangt.
   Der Aufstieg wurde auf der andern Seite auf einem schmalen Felspfad unternommen, der die Reisenden bald in eine Felsschlucht von großartig düsterm Charakter führte. Wohl an dreihundert Fuß stiegen fast senkrecht, hie und da wild zerrissen, Felswände in die Höhe. Steine, Baumstämme lagen auf dem Grund der Schlucht und erschwerten das Fortschreiten sehr.
   Fritz seufzte ein über das andere Mal und verwünschte alle feuerspeienden Berge.
   Am wohlsten von allen schien sich Steffen zu fühlen, der mit staunenswerter Kraft und Behendigkeit alle Hindernisse überwand.
   Ein Windstoß fuhr plötzlich mit unheimlichem Sausen hoch über sie hin, bog die an Felswänden stehenden Bäume nieder und heulte in den Klüften. Gleichzeitig verdüsterte sich der Himmel. Der Führer schrie mit lauter Stimme etwas hinab, was die Sassaker mit großer Unruhe zu erfüllen schien.
   »Wir müssen eilen«, sagte hastig Ara Labung zu Henrik, »ein Gewitter zieht herauf und bringt uns Verderben, wenn es uns in dieser Felsspalte überrascht.«
   Mit aller Kraft strebten die Leute jetzt nach oben.
   Es wurde dunkel in der Schlucht, und der Himmel sah fast schwarz aus. Ein feuriger, blendender Strahl zuckte über sie hin, dem ein sinnbetäubender Donner folgte; die Felsen schienen in ihren Grundfesten zu erbeben.
   Alle standen laut– und bewegungslos bei diesem furchtbaren Ausbruch, und Fritz murmelte: »Ach Jotte, die Welt jeht unter.«
   Wiederum schrie der Führer mit gellender Stimme etwas hinab.
   »Suche jeder Schutz an den Felswänden, die Wasser werden kommen«, wiederholte dröhnend Ara Labung zuerst balinesisch und dann englisch, sich an Henrik wendend.
   »Vorwärts, Fritz, wir müssen uns retten, mir nach«, sagte Henrik. Blitz folgte jetzt auf Blitz in unheimlicher Schnelle, und der Donner hallte wieder, als ob hundert Kanonen zugleich abgefeuert würden. Grausig, unheimlich war das Toben der entfesselten Naturgewalten, Fritz war wie gelähmt. Alle begriffen die Gefahr, die ihnen auf dem Grund der Schlucht drohte, und begannen in Todesangst an den Wänden emporzuklettern, um eine vor den zu erwartenden Wasserfluten gesicherte Stellung zu finden. Jedem Blitz folgte der erschütternde Donner, der zwischen den Felswänden mit zehnfacher Kraft widerhallte, und die blendenden feurigen Strahlen ließen die darauffolgende Dunkelheit nur noch tiefer erscheinen. Jetzt öffneten sich die Schleusen des Himmels, und nicht Tropfen, nein, Wasserstrahlen sausten mit furchtbarer Heftigkeit hernieder. Ein dumpfes Rauschen von oben her verkündete, daß die Wasser kamen.
   Alles, die feurige Lohe des Himmels, der mit verzehnfachter Kraft in der Schlucht widerhallende Donner, die undurchdringliche Finsternis wirkten so betäubend, daß Henrik emporgeklettert war, ohne sich zu versichern, ob der Schneider hinter ihm war.
   Als er eine Stellung erreicht hatte, die Sicherheit zu gewähren schien, sah er sich nach Fritz um.
   Beim Aufleuchten eines Blitzes erblickte er ihn zu seinem tiefen Schrecken noch unten, doch neben ihm stand der Waldmensch. Schon rauschten die verderbendrohenden Wasser näher.
   »Karl«, schrie Henrik in Todesangst, mit aller Kraft seiner Lunge: »rette!«
   Der nächste Blitz zeigte ihm den Matrosen, wie er, Fritz auf dem Arm, mit der Behendigkeit eines Affen emporkletterte. Gleich darauf stand er neben Henrik und setzte den Schneider nieder.
   »Det is 'n nettes Schützenfest«, murmelte Fritz schwach, als eben einige rasch aufeinanderfolgende Donnerschläge verhallt waren.
   Durch überhängenden Fels wurden sie zwar vor den Fluten des Himmels geschützt, zu ihren Füßen aber rauschten jetzt, Steine und Bäume gewaltig vor sich herschleudernd, die Bergwasser hernieder mit einer Wucht, welche den vieltausendjährigen Felsen Vernichtung zu drohen schien. Stumm, bebend, auf das tiefste erschüttert, ließen sie den Aufruhr der Natur an sich vorübertoben. Lange angstvolle Minuten vergingen.
   Aber rasch wie das Unwetter, das in solch furchtbarer zerstörender Kraft nur die Tropen kennen, emporgestiegen war, tobte es vorüber. Der Regen hörte auf, Blitz und Donner wurden schwächer, die düstern Wolken schwanden und das Blau des Himmels zeigte sich über ihnen. Wild und schäumend rauschten noch die Wasser zu Tal. Doch auch sie sanken tiefer und tiefer, und in kurzer Zeit war wieder der mit Felstrümmern und entwurzelten Bäumen bedeckte Boden der Schlucht zu schauen.
   Die Stille, die nach dem Aufruhr der Naturgewalten eintrat, sprach eindringlich zu den Herzen der Menschen, die eben dem Tod entgangen waren. Die ringsum an den Felswänden verteilten Sassaker und Balinesen fielen nieder und beteten. Unwillkürlich falteten auch die deutschen Jünglinge die Hände, und Gefühle aufrichtigen Dankes schwebten zum Himmel empor. Stumm und augenscheinlich teilnahmsvoll, doch bewegungslos sah Steffen auf die ergriffenen Jünglinge und ihre gefalteten Hände.
   »Dank dir, Karl«, sagte endlich Henrik, »daß du mir meinen Berliner gerettet hast.«
   Der Matrose nickte mit einem Ausdruck des Vergnügens.
   »Jetzt verzeihe ick dir auch, wildes Karlchen, dat du mir die Rutschpartie vorhin hast machen lassen«, sagte Fritz. »Det war een scheenes Bumberumbum, hier mang die olle Wolfsschlucht, un noch Wasserfall dazu. Ick danke vor. Jetzt wollen wir aber umkehren, Hamburger, ich denke, du hast ooch genug.«
   Henrik, der nach überstandener Gefahr seine froheste Laune wieder gewonnen hatte, erwiderte: »Jetzt erst recht nicht, min Jong, jetzt wolln wi upentern bis tau den Flaggenknopp.«
   »Verrückte Menschen«, brummte Fritz in sich hinein, »un ick muß den Mumpitz mitmachen.«
   Den andern gleich, kletterten sie in die Schlucht hinab und folgten in Gesellschaft Ara Labungs dem nach oben strebenden Führer.
   Niemand war zu Schaden gekommen. Nach harten Anstrengungen erreichten sie die Höhe eines breiten Felsrückens. Hell strahlte die Sonne vom tiefblauen wolkenlosen Himmel hernieder und beleuchtete den aus dunkelm Waldsaum hervorragenden nackten Felskegel, die Spitze des Bergriesen, der dunkler Dampf entstieg.
   Der Anblick war gewaltig, groß.
   Noch stand Henrik in Bewunderung des Bildes da, als Rasido schon zum Aufbruch mahnte. Es war keine Zeit zu verlieren, wenn sie noch am Abend von dem Krater zurück sein wollten.
   Eine steinige Halde lag vor ihnen, die sie hinabsteigen mußten, um dann durch den Waldsaum hindurch den aschebedeckten Felskegel zu gewinnen, dem der Dampf entstieg. Da erklärte aber Fritz mit großer Energie: »Nu hört et aber uff. Mitschleppen lassen kannst du mir, Hamburger, aber jehn tu' ick keen Schritt mehr, un da kannst du machen wat du willst.«
   Henrik, der erkannte, daß der Berliner erschöpft war und wirklich im Ernst sprach, beriet mit Ara Labung, und man beschloß, Fritz, dem keine Gefahr irgendwelcher Art drohen konnte, zurückzulassen, um ihrer Rückkehr zu harren.
   Man gab ihm Schals und Decken, um sich gegen die sehr kühle Temperatur zu schützen, Lebensmittel, und ließ ihn bei einem durch den Regen gefüllten Felsloch zurück. Einen der Balinesen beorderte Ara Labung, zum Schutz des »Milchgesichts« zurückzubleiben.
   »Ick lasse dir unjern in die Feueranjelegenheit jehen, Hamburger, aber ick kann nich mehr. Komm jesund von den ollen Schornstein wieder«, hatte er zu Henrik gesagt.
   Während die andern weiterzogen, labte sich Fritz an einigem kalten Braten, suchte sich dann eine geschützte Stelle, wickelte sich in die Decken und schlief gleich darauf ein.
   Indes der Sohn Berlins in »Morpheusens Armen« ruhte, suchte die Kolonne der Bergbesteiger mit großen Mühen ihren Weg durch den dichten Koniferenwald, oft auf schmalen Felskanten, an schwindelerregenden Abgründen vorbei, bis sie endlich an der Grenze jeglicher Vegetation vor dem nur mit Asche bedeckten Kegel standen.
   Erst jetzt erkannte Henrik, wie massig dieser war, daß er Stunden im Umfang maß.
   An sechshundert Meter waren noch bis zur Höhe zu erklettern. Der niederstürzende Gewitterregen hatte ihnen Wege gebahnt, welche das Emporsteigen erleichterten, indem er viel Asche hinweggespült hatte. Nach kurzer Rast begannen sie in sehr kühler Luft den Aufstieg. Steffen, der kaum Ermüdung zu fühlen schien, unterstützte den flinken Henrik wesentlich, so daß beide bald allen andern voraus waren. Endlich – endlich waren sie oben auf dem bis zu viertausendzweihundert Meter Meereshöhe sich erhebenden Pik von Lombok.
   Schneidende Luft wehte sie an und beide hüllten sich in dichte Schals.
   Wie erstaunte Henrik, als er jetzt auf dem Gipfel dieses Bergriesen ein einem See ähnliches Wasserbecken vor sich sah, aus dessen Mitte sich der rauchende, schweflige Dämpfe ausstoßende Krater erhob. Trotzdem sie den Wind im Rücken hatten, machte sich der Schwefeldunst geltend.
   Still lag der See da, zwischen kahlen Felswänden, kein Laut war zu vernehmen, tot war alles. Nicht Tier, nicht Pflanze lebte hier oben, nur der dampfende Krater, der von Zeit zu Zeit unter dumpfer Detonation seine Rauchwolken ausstieß, zeugte von Leben tief im Innern des Berges. Hell strahlte die Sonne Indiens, die Luft war klar, und weit, weit hinaus schaute Henrik über Land und Meer.
   Der Anblick war so überwältigend großartig, daß Henrik keine Worte fand, seinem Gefühl Ausdruck zu geben. Stumm stand er vor dem erhabenen Bild. Die Ebene um Mataram, die schöngeschwungenen Waldeshöhen im Osten, die riesigen, zerhackten Konturen des Berges, bald Fels bald Wald zeigend, das unendliche, im Sonnenstrahl glänzende Meer, ein wechselndes, reizvolles Bild in nie geahnten Dimensionen. Dazu der tote See mit dem lebendigen Krater.
   Henrik fühlte nicht mehr Ermüdung, fühlte nicht die Kälte der hohen Region, so gewaltig war der Eindruck dessen, was er erblickte, auf seine junge Seele. Endlich nahte sich ihm Ara Labung und der alte Sassaker, ihn aufmerksam zu machen, daß es Zeit sei den Rückweg anzutreten. Außer diesen beiden hatte es kein anderer gewagt, sich dem Kraterrand zu nahen; abergläubische Furcht hielt die Eingeborenen zurück. Noch einen Blick warf Henrik auf das Bild zu seinen Füßen, ein Bild voll Majestät und doch von unendlicher Schöne, das Mutter Erde in ihrer sonnigsten Gestalt zeigte, dann trat er langsam, erfüllt von Schauern der Ehrfurcht, zurück und schweigend stieg er mit den Gefährten hinab.
   Als Fritz Fischer, Reezengasse Nummer siebzehn ins zweete Hinterhaus, von seinem ziemlich ausgedehnten Schläfchen erwachte, schaute er nachdenklich nach dem Bergkegel hinüber und hielt dabei folgendes Selbstgespräch: »Wenn nur der jute Hamburger jlücklich zurückkommt. Ick hätte ihm ja ooch nicht alleene jehn lassen, aber die Beene wollten nich mehr fort. Ick habe doch rechte Angst vor ihm. Et is nur jut, dat er die verwilderte Menschenseele, det Karlchen, mit hat, der wird ihm schonst unter die Arme greifen. Den können wir ooch in 'ne Menagerie stecken, wenn wir nach Haus kommen, aus det Jewächse wird nischt mehr. Ja, wenn wir nach Haus kommen?
   Wat hat nu eener von die Berliner Schneiderzunft eejentlich uff so 'n eklichen Berg zu tun? Von wejen die Wissenschaft is et mir janz ejal, de können die verrückten Doktors von die Universität ruffklettern.
   Und dann noch die Rutschpartie und der Wolkenbruch mit Jewitteratmosphäre un Wasserfall, wat jeht det mir allens an?
   Der Papagei hat janz recht, wenn er mir ›Döskopp‹ nennt.
   Ick wollte, ick wär' wieder bei die jelbe Durchlaucht, da war et janz jut. Ob sie hier gar keen Orden nich haben? Det wäre putzig, Ordens jibt et doch überall.
   Der Hamburger uzt mir immer, aber ick mag ihm doch leiden. Wenn er man erst von die Feueresse da oben wieder runter wär'.
   Wo is denn nur der braune Mann, den sie mir als Ehrenposten hier gelassen haben? Na, ejal, unterhalten kann ick mir mit den Menschenbruder doch nich.«
   Da er einigen Hunger verspürte, nahm er eine Mahlzeit ein. Dann blickte er wieder nach dem Krater hinüber, endlich stand er auf und ging hin und her. Auf einem seiner weiter ausgedehnten Gänge gewahrte er einen schmalen Felsenspalt, durch den er den Himmel sah. Da dessen Boden, obwohl etwas aufsteigend, eben war, ging er hinein und blickte am andern Ende über einen schmalen Vorsprung hinweg in ein tiefes Felsental.
   Mit den Worten: Ne, mit Abjründe jebe ick mir nich ab«, wollte er sich eben zurückziehen, als er zu seinem tiefen Schrecken zu seiner Rechten auf schmalem Felspfad ein braunes Tier gewahrte.
   »Ach du jrundjütiger Himmel!« stöhnte er und trat in den Spalt. Als er sich nach wenigen Schritten angstvoll umsah, stand das Tier – er erstarrte fast vor Entsetzen – am Eingang der Felsspalte.
   »Jehste weg!« schrie der Schneider. »Pscht! weg!« Aber das Tier schien näher zu kommen. »Ach Jotte doch – ach, Jotte doch, det is mein Ende!« und in Verzweiflung warf er sich zu Boden. Da krachte draußen ein Schuß. Mit einem Sprung setzte jetzt das Tier über ihn hinweg und noch zehn andere folgten, immer mit gewaltigem Satz über den der Länge nach hingestreckten Schneider wegspringend und durch den Ausgang, durch den Fritz eingetreten war, verschwindend.
   Noch geraume Zeit lag er in Todesangst am Boden. Da alles still blieb, hob er endlich zögernd den Kopf: der Eingang war frei, er sah nur den Himmel. Er erhob sich auf die Knie und sah sich um, nichts Verdächtiges war zu gewahren. Schlotternd vor Angst schlich er an die Öffnung, zu der er hereingekommen war, und vorsichtig – vorsichtig lugte er umher. Endlich wagte er sich, immer in bitterer Herzensangst um sich sehend, hinaus. Etwas Gefährliches vermochte er nicht wahrzunehmen.
   Der Balinese war nicht da.
   Er bemerkte eine höhlenartige Vertiefung im Fels, die kaum mehr als einen Menschen fassen konnte, drängte sich durch den engen Eingang und kauerte sich nieder, zitternd auf jedes Geräusch lauschend. Seine Aufregung war so groß, daß er nicht einmal fror.
   Als die Besteiger des Kraters wieder unten anlangten, fanden sie den zurückgelassenen Balinesen mit einem Bergschaf zu seinen Füßen, welches seine gute Büchse erlegt hatte. Zu Henriks nicht geringem Schrecken fehlte Fritz.
   Der Balinese teilte Ara Labung mit, daß das Milchgesicht lange geschlafen habe. Da ihm Bergschafe vor Augen gekommen seien, habe er den Schlaf des ihm anvertrauten Jünglings benutzt, um eines der Tiere zu erlegen. Als er nach kurzer Frist mit seiner Beute zurückgekommen, sei der Mann verschwunden gewesen, und er habe ihn bis jetzt vergeblich gesucht.
   »Um Gottes willen, wo ist denn der Mensch hingekommen? Fritz! Berliner! 'Wo steckst du?«
   »Hier, Hamburger«, antwortete eine klägliche Stimme, und der Schneider kroch aus seiner Höhle heraus.
   »Det du mir noch lebend findest, is een Wunder.«
   »Nun, was ist dir geschehen?«
   »Ick bin von een fürchterliches Beest anjefallen worden.«
   »Was?«
   »Ick sage dir, Hamburger, ein Beest, so jroß wie det jrößte Pferd, mit Hörnern und jlühende Oogen, fingerlange Zähne un eene zottelige Mähne.«
   Henrik, der ja von Anak Madé wußte, daß Bali und Lombok keine wilden, ja, mit Ausnahme einiger vereinsamter Bergschafe auf felsigen Höhen, nicht einmal jagdbare Tiere besaß und des Berliners lebhafte Phantasie kannte, hob lächelnd den Finger und sagte: »Du, Fritz, die Brücke kommt.«
   »Ick schneide nich uff, Hamburger, ick sage et dir, et war een jräßliches Ungeheuer.«
   »Nun, wie bist du denn der Bestie entkommen?«
   »Ick habe mir tot jestellt in meene Angst, un da is det Vieh immer über mir hin und her gesprungen, hat sich aber nich an mir getraut.«
   »Das hast du nur deiner Eigenschaft als Berliner zu danken.«
   Henrik konnte sich, besonders angesichts des erlegten Bergschafes, recht gut denken, daß Fritz einigen dieser Tiere begegnet sei, an einer Stelle, wo das geängstigte Wild einen verzweiflungsvollen Durchbruch versuchen mußte; das war immerhin nicht gefahrlos, und der Schneider hatte richtig gehandelt, als er sich zur Erde warf.
   »Weeste, ick hätte et ja vielleicht mit det Monstrum uffnehmen können, wenn't man nich so schrecklich jroß gewesen wäre, aber da machte ick mir dünne.«
   »Sehr vernünftig. Also wie groß war das seltsame Tier?«
   »Na, ohne Übertreibung, wie so 'n Elefant im Zoologischen. Mit Oogen wie Kaffeetassen.«
   »Sollte es nicht ein ähnliches Geschöpf gewesen sein wie dieses da?« meinte Henrik mit schlauem Lächeln und deutete auf das erlegte Bergschaf, das dem Schneider bisher entgangen war.
   Er betrachtete das Tier, das, braun behaart, etwa die Größe eines gewöhnlichen Schafes hatte, nur daß es schlanker und etwas höher gestellt war. Die Hörner glichen denen der Zwergantilope. Freilich konnte das längere Haar um Hals und Brust recht gut als Mähne bezeichnet werden, wie es auch von einigen Zoologen geschehen ist. Ein harmloser Wiederkäuer war das Tier, nichts weiter.
   »Hm«, meinte der Berliner, »det kann wohl 'n junges sind, so von vier Wochen.«
   »Dies Bergschaf ist vollständig ausgewachsen.«
   »Denn war det 'n andrer Racker, vor die Sorte hier werde ick mir doch nich fürchten.«
   »Weißt du, lieber Fritz, ich glaube, dein Ungeheuer gehört zu der Büffelherde in der Hasenheide.«
   »So? Na, denn is man jut. Det hat man nu davon, det man uff feuerspeiende Berge jeht un mit wilde Beesters zu tun hat, denn machen se hernach noch 'n Fatzke aus einem.« Und gekränkt wandte der nadelführende Jüngling sich ab.
   Da Rasido zum Abmarsch drängte, um noch vor Einbruch der Dunkelheit die Stelle zu erreichen, wo sie zuletzt übernachtet hatten, brach man auf und kam nach sehr anstrengendem Marsch kurz nach Sonnenuntergang in dem engen Felsental an. Alle waren erschöpft. Henrik und Fritz suchten ihr Lager, und Steffen kroch in seine Grashütte.
   Bald lag alles in tiefem Schlaf. Die Feuer waren längst herabgebrannt, und Mitternacht mochte vorüber sein, als mit vorsichtiger Bewegung zwei Gestalten näher kamen, die im Dunkeln suchend zwischen den Schläfern einhergingen. So viel Mühe die Angekommenen sich auch gaben, jedes Geräusch zu vermeiden, so erwachte doch Steffen, der den leichten Schlaf eines Raubtiers hatte, von ihren Schritten. Er war zu lange mit den Gefahren, die dem einzelnen in der Wildnis drohen können, bekannt, als daß er nicht instinktiv nach der Ursache des Geräusches, welches ihn erweckte, ausgelugt hätte. Sein an Dunkelheit gewöhntes Auge sah die beiden Gestalten vorsichtig umherschleichen, dann hörte er da, wo die Saffaker lagerten, flüstern.
   Mit der Geschmeidigkeit und Lautlosigkeit einer Schlange kroch er aus seiner Grashütte dorthin, woher die Stimmen kamen. Er erkannte, daß der Führer es war, mit dem gesprochen wurde. Dann sah er, wie man mit ängstlicher Vermeidung jedes Lärmes die Sassaker weckte, und wie diese sämtlich langsam sich entfernten, bis sie in der Nacht verschwunden waren.
   Geraume Zeit harrte der verwilderte Mensch noch, dann kroch er unhörbar zu Henrik und weckte diesen durch leises Schütteln. Trotz seiner Erschöpfung war der Jüngling alsbald munter.
   »Was gibt's? Bist du's, Fritz?«
   »Es ist Karl Steffen vom ›Admiral‹.«
   »Oh, Karl, was führt dich her?«
   »Leute fort – viel Leute – gehen weg – zwei Männer hier sie geholt.«
   »Unsere Leute fort?« Henrik sprang auf. »Alle?«
   »Mit Flinte – noch hier – andere fort.«
   Nur die Balinesen trugen Flinten, also die Sassaker waren fort, jetzt mitten in der Nacht in der tiefsten Wildnis? Das sah bei der politischen Lage des Landes doch bedenklich aus.
   »Er wird nachschleichen – sehen, wohin gehen.«
   »Du willst jetzt in dunkler Nacht ihnen nachgehen?«
   »Ja, er andere wecken, Flinte nehmen; bald wieder hier.«
   Damit ging er zurück und verschwand, nachdem er eine Axt, die ein Sassaker hatte liegen lassen, aufgehoben, in der Richtung, in der sich die Sassaker entfernt hatten.
   Karl Steffen hatte damit bewiesen, daß er sich trotz der gewaltigen Veränderung seines bisherigen Lebens doch die Klugheit des gehetzten Waldtieres bewahrt hatte. Henrik weckte den unweit schlafenden Ara Labung und teilte ihm mit, was Karl berichtet hatte. Der Balinese nahm seinen Jatagan und seine Büchse, auch Henrik hatte die ihm mitgegebene Waffe ergriffen und beide gingen dahin, wo die Sassaker gelagert hatten. Sie waren alle fort.
   »Das sieht bedrohlich aus. So hatte ich doch recht, als ich annahm, daß Anak Madés edler Sinn getäuscht worden sei. Wir müssen alle munter machen und eines Überfalls gewärtig sein.«
   Während er die Balinesen weckte, ging Henrik zu Fritz und rüttelte ihn.
   »Aufstehen!«
   »Jeht et schon wieder los?« sagte dieser schlaftrunken. »Ick jeh' uff keenen feuerspeienden Berg mehr.«
   »Still. Komm nur.«
   »Jeht et schonst weiter? Ick bin noch schläfrig.«
   »Komm nur.«
   Er trat mit ihm zu den Balinesen, die sich, die Büchsen in den Händen, um ihren Offizier gesammelt hatten. Auch die Diener Anak Madés, die hier mit den Pferden zurückgeblieben waren, standen da.
   »Es ist nach dem, was ich sah und hörte«, sagte Ara Labung, »möglich, daß man uns mit Tagesanbruch, vielleicht noch in der Nacht angreifen wird. Ich zweifle nicht, daß die Sassaker sich in Massen erhoben haben. Vielleicht harrt man unser auch weiter unten. Lassen Sie uns eine Stellung einnehmen, in der wir nicht ohne weiteres überrascht werden können. Glücklicherweise hatten die davongelaufenen Burschen keine Waffen, aber sie werden wohl Genossen in der Nähe haben.«
   Er gab hierauf Befehl, daß alle sich zum obern Ausgang des Felskessels zurückziehen sollten, und verteilte geschickt seine Leute, soweit es die Dunkelheit zuließ.
   Fritz, der weder Balinesisch noch Englisch verstand, hatte dem allem mit Befremden zugesehen, auch war ihm aufgefallen, daß noch so wenig Leute anwesend waren.
   »Du, Hamburger, wat is denn los? Jibt et wieder Jewitter mit Regentraufe?«
   »Gewitter wird es wohl geben, die Sassaker haben uns heimlich verlassen, und der Offizier des Prinzen fürchtet, daß sie uns Übles sinnen.«
   »Die Sassaker? Det is die eene Sorte von die braunen Menschen? Ick habe et dir jleich jesagt, det et mit die Leute nich richtig is.«
   »Du hast leider recht gesehen.«
   »Siehste woll. Wat jibt et denn nu?«
   »Wir werden uns wehren müssen, wenn sie uns zu Leibe wollen.«
   »Ach du lieber Jott, sollen wir uns mit die Mordbrüder 'rumbalgen? Hamburger, ick tu nich mit, ick halte mir diesmal neutral.«
   »Ich fürchte, man wird deine Neutralität wenig respektieren.«
   »Det kommt allens von die feuerspeienden Berge. Welcher vernünftige Mensch wird denn uff so wat 'reinfallen, noch dazu unter braune Menschen. Jetzt haben wir die Bescherung. Ick bin der eenzige gescheite Mensch bei die janze Gesellschaft.«
   »Beruhige dich nur. Kommt es zu etwas Ernstlichem, so bin ich überzeugt, daß du mit deiner gewöhnlichen Tapferkeit fechten wirst, Zunftgenosse Derfflingers.«
   »Ick lasse mir uff so Sachen nich mehr in, ick habe et satt, in die Schlachten zu fechten, det is mir zu jefährlich.«
   »Wir müssen uns aber doch wehren, Besieger der Malaien.«
   »Da haben wir et wieder. Det ick in 'n solches Schlamassel geraten muß, un noch bei die Dunkelheit. Wäre ick doch bei die jute Durchlaucht Exzellenz jeblieben«, jammerte Fritz.
   »Du bist aus Liebe zu mir mitgegangen, Fritz. Du mußt jetzt schon bei mir aushalten.«
   »Det wird 'ne böse Sache werden, ick sehe et schonst kommen. Wo is denn der Mann von die Insel? Is der ooch wegjeloofen?«
   »Karl ist den Sassakern nachgeschlichen.«
   Eine dunkle Gestalt tauchte geräuschlos aus der Nacht auf, und der, von dem sie sprachen, stand vor ihnen.
   »Nun, Karl?« fragte, erfreut über seine Rückkehr, Henrik.
   »Leute dort«, sagte Steffen mühsam, »viel Leute«, und streckte den Arm in der Richtung aus, aus der sie, den Berg ersteigend, gekommen waren.
   Ara Labung, der nahe weilte, kam heran, als er des Waldmenschen Rückkehr bemerkte.
   »Viel Leute?«
   »Viel.«
   »Wieviel ungefähr?«
   »Wieviel? Es zehn – fünf – es – ganz viel.«
   Der Arme schien sein Zahlengedächtnis vergeblich anzustrengen.
   Henrik, dies erkennend, kam ihm zu Hilfe.
   »Ein ganzes Schiffsvolk?«
   »Ja.« Steffen atmete auf. »Kriegsschiff, alle Hände an Deck.«
   »Also etwa drei– bis vierhundert Mann?«
   »Ja, stark bemannt.«
   Henrik übersetzte es dem begierig harrenden balinesischen Offizier.
   »Fragen Sie ihn, ob sie Flinten hatten«, sagte dieser dann.
   Steffen sann nach.
   »Flinten? Nicht viel – wie Vollschiff.«
   »Also etwa dreißig.«
   »Kommen sie hierher?«
   »Essen, trinken, schlafen – Feuer.«
   »Daß die Sassaker sich erhoben haben, ist mir nicht zweifelhaft«, sagte Ara Labung. »Wenn dieses Zusammentreffen mit der dort lagernden Schar nicht zufällig ist, galt es dem Prinzen.«
   »Woraus schließen Sie das?«
   »Man hat ihn bei uns im Lager gesehen, und dies kann sehr gut das Gerücht verbreitet haben, daß er mit zum Rindjani gezogen sei.«
   »Da sie nun wissen werden, daß der Prinz nicht bei uns ist, lassen sie uns vielleicht in Ruhe ziehen.«
   »Glauben Sie das nicht, sie werden uns auf alle Fälle festhalten, wenn es uns nicht gelingt, einen Ausweg zu finden. Die Sassaker sind ein grausames, tückisches Volk und hassen uns Balinesen sehr.«
   »Anak Madé schien doch in unsern Führer Vertrauen zu setzen.«
   »Anak Madé ist auch zu täuschen.«
   »Was beginnen wir nun?«
   »Wir müssen das Tageslicht abwarten und dann unsern Weg so gut wie möglich abwärts suchen.«
   »Jeht et los, Hamburger?« fragte der Schneider ängstlich, als der Balinese schwieg.
   »Hoffentlich nicht. Wir müssen mit Tagesanbruch davonlaufen.«
   »Da bin ick aber sehr für«, sagte Fritz eifrig, »bei die Hauerei kommt nischt 'raus.«
   »Na«, sagte Henrik, dem selbst die gefährliche Lage die Laune nicht verderben konnte, »ein kleiner Orden –«
   »Wenn ick immer neue Heldentaten deswegen verüben soll, dann is mir daran ooch nischt mehr jelegen.«
   Ara Labung befahl, die gefesselten Pferde freizulassen, der übliche Weg war ihnen verlegt, und ein Rückzug über die Felsen machte die Tiere unnütz.
   Während Steffen nach Süden hin, wo die Sassaker lagerten, Wache hielt, verharrten die andern schweigend, bis auf den Schneider, der seinen Gefühlen über das Unbehagliche der Lage oftmals kräftigen Ausdruck verlieh.
   Endlich zuckten die ersten Lichter über den Himmel hin, die Sonne nahte, und ihr Aufgang vollzieht sich in diesen südlichen Breiten sehr rasch.
   Sobald die Helligkeit es erlaubte, sah sich Ara Labung aufmerksam in dem Felsenkessel, an dessen einem Ausgang sie hielten, um. Zur Rechten glaubte er eine zum Aufstieg geeignete Stelle zu bemerken. Er sandte den Gewandtesten seiner Leute dorthin, der bald zurückkam und versicherte, dort sei es möglich, nach oben zu gelangen.
   Auf Ara Labungs Befehl begaben sich alle dorthin.
   In weitausgreifenden Sprüngen nahte sich Steffen.
   »Kommen«, sagte er lakonisch.
   Der Offizier befahl seinen Spähern, Deckung am Fuß des Felsens zu suchen, und den Dienern, nach oben zu steigen, zugleich forderte er Henrik und Fritz auf, den Felspfad emporzuklimmen.
   Fritz ließ sich das nicht zweimal sagen und kletterte mit einer Eilfertigkeit nach oben, die deutlich erkennen ließ, daß er kriegerischen Verwicklungen durchaus abhold sei. Ihm folgten, zwischen den Dienern, Henrik und Steffen. Der Pfad, den sie emporklommen, war steil, bot aber für kräftige Männer keine besondern Schwierigkeiten, auch unterstützten Büsche, die aus den Felsen wuchsen, das Aufsteigen.
   Schon waren auch die Schützen, denen sich Ara Labung als letzter anschloß, auf dem Weg nach oben, als ein Truppmit Flinten bewaffneter Sassaker vorsichtig das Felsenrund, von Süden kommend, betrat.
   Als der balinesische Offizier auf der Höhe angelangt war, sagte er, auf die Feinde, denn als solche mußten sie bezeichnet werden, deutend: »Es steht zu fürchten, daß wir umstellt sind, der Schurke Rasido kennt das Gebirge.«
   »Sollte es so schwierig sein, einen offenen Weg zu finden?«
   »Sehr schwierig. Der Berg ist außerordentlich zerklüftet, und von uns kennt ihn niemand; wir können leicht in eine Felsenge geraten, aus der kein Entrinnen ist.«
   Während dieser Unterredung war Fritz Fischer nahe an den Felsrand getreten, um einen Ausblick nach unten auf die sich in gemessener Entfernung haltenden Sassaker zu haben, als auf der seinem Standpunkt gegenüberliegenden Felshöhle ein Schuß krachte und eine matte Kugel des Schneiders Ohrläppchen empfindlich, gleich einem glühenden Eisen, streifte. Der so jäh und unsanft berührte Schneider, der sich kaum Rechenschaft über die Ursache seines Schmerzes geben konnte, um so weniger, als man den Schützen nicht sah, ergriff wütend einen großen Stein und warf ihn mit den Worten: »Verwünschte Gesellschaft! Kommt mir nur nicht so«, in kindischem Zorn nach der Richtung, woher die Kugel gekommen war. Der Stein fiel in kaum zwanzig Schritt Entfernung herab, denn besonderer Kraft erfreute sich Fritz Fischer nicht, polterte in die Rinne, welche die Balinesen heraufgeklettert waren, und riß dort zwei andere Steine im Herabrollen mit sich.
   Während Ara Labung sagte: »Zurück, wir müssen Deckung suchen«, erschallte von unten wildes Schmerzensgeheul.
   Eine Schar wohlbewaffneter Sassaker hatte sich am Fuß des Felsens, wo sie von oben nicht gesehen werden konnte, hingeschlichen und war im Begriff, auf dem von den Verfolgten eingeschlagenen Weg diesen nachzuklettern.
   Mit furchtbarer Wucht sausten die oben mitgerissenen Steine in sie hinein, töteten mehrere und fügten andern schwere Verletzungen zu.
   Erstaunt standen die oben, die nur das Wehgeschrei hörten, ohne die Feinde zu sehen, am meisten Fritz.
   Ara Labung, der sofort begriff, was unten vorgegangen, rief: »Herr, das war ein Wurf zur rechten Zeit. Steine hinab!« Und jeder schleuderte Steine über die Felsen.
   Bald gewahrte man Fliehende, die sich beeilten, den furchtbaren Geschossen zu entgehen.
   »Sie haben uns vor einem tückischen Angriff gerettet, Herr.«
   »Wat meent er, Hamburger?«
   Dieser übersetzte, und Fritz, dem nun auch klar wurde, welche, freilich unbeabsichtigte Wirkung sein knabenhafter Wurf gehabt hatte, richtete sich stolz empor und sagte: »Det bringt ooch nur 'n Berliner fertig. Die haben ihre Haue weg.«
   »Fritz, du bist wirklich der geborene Napoleon; du hast durch deine ebenso kluge wie entschlossene Tat den Feind, der uns so nahe war, verjagt.«
   »Meenste nich? Ick jloobe ooch.«
   Wieder krachten zwei Schüsse von der gegenüberliegenden Seite, aber die Entfernung war zu groß, die Kugeln taten keinen Schaden.
   Da die trefflichen Snydergewehre der Balinesen viel weiter trugen als die Büchsen, mit denen herübergeschossen war, befahl Ara Labung seinen Leuten, nach der Stelle zu feuern, wo der Pulverdampf aufgestiegen war. Gleich darauf krachte eine Salve, und gellendes Geheul drüben zeigte an, daß sie nicht vergeblich abgegeben worden war.
   »Wir müssen jetzt auf gut Glück unsern Weg nach unten suchen, Mr. Henry. Sobald wird man nicht wagen, uns hier zu folgen«, sagte der Offizier.
   Sie betraten den dichten Wald, der den Felsen krönte.
   Unaufgefordert ging Steffen, der recht gut begreifen mochte, um was es sich handle, voran. Da sie einer hinter dem andern gehen mußten, verstummte jede Unterhaltung.
   Wiederholt mußten sie Bäume, die der gestrige Sturm entwurzelt hatte, überklettern, was mit nicht geringer Anstrengung verknüpft war.
   Endlich wurde der Wald lichter. Der Matrose schlich zu dessen Rand und hielt dort Umschau. Er sah dort einen wohl mehr als hundert Meter tiefen, düstern Abgrund vor sich, der in wechselnder Breite sich nach rechts und links erstreckte. Sein geübtes Ohr vernahm nichts Verdächtiges. Er ging zurück und rief die andern. Mit Schrecken sahen diese den grausigen Felsspalt vor sich. Selbst dem Berliner fiel hier kein Witzwort ein.
   Nach kurzer Beratung beschloß man, an dem Abgrund hinzugehen, bis sich eine Stelle zum Übergang finden würde. Dem Stand der Sonne nach, es war noch früh am Tag, dehnte sich der Spalt von Ost nach West aus, und der Weg der Flüchtlinge führte nach Süden.
   Endlich gewahrten sie einen hohen fichtenähnlichen Baum, der sich über den hier nicht mehr als zwanzig Schritt breiten Abgrund neigte. Der Sturm hatte seine Wurzeln nur teilweise zerrissen, er war gebeugt, aber nicht gebrochen.
   »Hier«, sagte Karl Steffen, »Baum – übergehen.« Erstaunt fragte der hiervon in Kenntnis gesetzte Ara Labung: »Wie soll das geschehen?« Schon war Steffens Riesenkraft am Werk, die zähen Wurzeln, die den Baum noch hielten, mit seiner Axt durchzuhauen; schon neigte sich der Wipfel tiefer und tiefer zum jenseitigen Rand, als Geschrei und Schüsse sie belehrten, daß sie entdeckt seien. Einige Kugeln, von unsichtbaren Feinden abgefeuert, schlugen in ihrer Nähe ein. Die Balinesen griffen zu den Büchsen und nahmen gedeckte Stellungen.
   Mit gewaltigem Eifer arbeitete Steffen, den die Schüsse gar nicht einzuschüchtern schienen, weiter. Jetzt senkte sich der mächtige Stamm, der Wipfel lag drüben fest, eine Brücke war hergestellt.
   »Horsa, kommen«, rief Steffen. Henrik nahte ihm, der Matrose hob ihn empor und trug ihn, mit seinem Leib ihn deckend, mit unvergleichlicher Behendigkeit über den seine Äste nach allen Seiten hin erstreckenden Stamm. Drüben ließ er ihn los, lief zurück und holte Fritz auf gleiche Weise.
   »Ach Jotte, ach Jotte, Karlchen, laß mir nich fallen«, brachte dieser zitternd hervor, »ick bin an solche Extratouren nich gewöhnt.«
   Auch er gelangte glücklich hinüber, und wieder kehrte der furchtlose Matrose zurück. Die Sassaker hatten wohl erkannt, was da vorging, obgleich die Äste und dichten Zweige mit ihrem Nadelschmuck verhinderten, daß sie die über den Baum gehenden Gestalten zu erkennen vermochten, und mehrmals zischten ihre Kugeln durch die Zweige. Aber auch die Balinesen hatten gefeuert und jedenfalls die Feinde dadurch von einem Vorstoß abgehalten.
   »Kommen Sie herüber«, rief Henrik, »der Weg ist gefahrlos.«
   Ara Labung befahl den Trägern, hinüberzugehen.
   Zitternd gehorchten die Leute und langten glücklich drüben an, während die Schützen ihr Feuer fortsetzten. Jetzt rief der Offizier auch den Soldaten zu, einzeln hinüberzugehen und von drüben das Gefecht fortzusetzen. Die Leute gehorchten ohne Hast und begannen, drüben angelangt, sofort von neuem das Feuer, wie es schien, mit besserer Wirkung als die Sassaker, trotzdem sich diese ängstlich gedeckt hielten. Jetzt waren nur noch Ara Labung und Steffen drüben, und Henrik wurde von Besorgnis um den tollkühnen Mann ergriffen. Auch er hatte einige Schüsse abgegeben, um die Feinde zu schrecken; getroffen hatte er niemand.
   Als Ara Labung auf der Fichte war, erschollen von neuem Axtschläge an der Wurzel des Baumes, Steffen hieb die Stangenwurzel völlig durch. Da sah Henrik, wie ein Kerl drüben heranschlich und sein Gewehr auf Steffen anlegte.
   In Todesangst schrie er: »Karl!« riß die Büchse an die Wange, feuerte, und durch die Schulter getroffen taumelte der Sassaker zurück und ließ seine Waffe fallen. Mit einem Sprung war Steffen auf dem Baum und wand sich einer Tigerkatze gleich durch dessen Äste.
   Neben Henrik auftauchend sagte er mit freudigem Grinsen: »Horsa schießen – gut« und streichelte ihm sanft die Schulter.
   »Wir sind jetzt freilich auf der andern Seite«, sagte Ara Labung, »aber die dort haben nun auch eine Brücke.«
   »Schießen!« sagte Steffen zu Henrik und ließ gleich darauf mit furchtbaren Schlägen seine Axt spielen, um den Wipfel des Baumes abzuhacken.
   »Was will er machen?«
   »Vermutlich die Brücke zerstören.«
   Zum Schutz Steffens befahl Ara Labung, stetig zu feuern, woran auch Henrik sich beteiligte. Aber die Feinde schienen eingeschüchtert, nur hie und da antwortete ein Schuß. Karl hatte nahe dem Rand den obern Teil des Stammes durchhauen, ergriff jetzt einen starken Ast, dessen er sich ganz nach Schifferart als Hebel bediente, und seiner ungeheuern Kraft gelang es, das Ende des Stammes über den Rand zu schieben. Während der Baum mit tosendem Geräusch zur Tiefe stürzte, sprang Karl in die Büsche.
   »Hätte ich es nicht gesehen«, sagte der Balinese, »nie hätte ich es geglaubt; das ist übermenschlich.«
   »Da ist doch der Riese Goliath ein Waisenknabe jejen«, äußerte der staunende Berliner. »Det jeht über die Hutschnur.«
   »Brav, Karl«, sagte Henrik und schüttelte dem ehemaligen Schiffsgefährten seines Vaters die Hand.
   Dieser nickte vergnügt.
   »Nun aber fort, sonst verlegen sie uns weiter unten den Weg.«
   Mit scheuer Verwunderung staunten die Balinesen den Matrosen an, dessen Körperkraft ihnen unheimlich erschien. Der Weg führte sie anfänglich durch den Koniferenwald und brachte sie dann in ein Tal, der von einem klaren Bach durchflossen wurde, während seine Wände von Büschen und Laubbäumen eingefaßt waren.
   An einer geschützten Stelle machten sie halt, nachdem einige Wachen ausgestellt waren, tranken von dem Wasser und sprachen den zum Glück mitgeführten Speisen zu.
   Ihre nächste Zukunft besprechend, sagte Ara Labung: »Anak Madé ist zwar durch die verräterischen Sassaker getäuscht worden, doch ist er ein zu umsichtiger und entschlossener Kriegsmann und verfügt über zu zahlreiche Truppen, als daß Mataram oder Ampanan Unheil drohen könnte. Auch wird er, sobald er die Gefahr erkannt, die uns wie ihm droht, Hilfe für uns abgeschickt haben.«
   »Es wäre zu wünschen.«
   »Werden wir denn aus det Feuerjebirge mit die Abjründe glücklich 'rauskommen, Hamburger?« fragte Fritz hierauf.
   »Ich hoffe; im schlimmsten Fall mußt du uns herausreißen, Napoleon aus der Reezengasse.«
   »Ick habe det jetzt schon 'n paarmal jetan und die janze Jeschichte 'rausgerissen und unzählige Menschen det Leben gerettet, aber immer kann ick det ooch nich, det strengt an. Ick fühle et in allen Knochen.«
   »Es ist sehr schlimm für uns, daß wir keinen Führer haben, der unsern Fuß leitet«, äußerte der Offizier, »der Rindjani ist kein Berg, er ist ein ganzes Gebirge, und wir haben ihn an der gangbarsten Stelle erstiegen.«
   »Trifft Ihre Vermutung zu, daß die Eingeborenen sich in Massen erhoben haben, und ich zweifle nicht, daß sie zutreffend ist, so werden wir auch in der Ebene Feinden begegnen, wenn wir diese erreichen.«
   »Diese werden unsere Reiter bald von Feinden gesäubert haben. Alle unsere Kämpfe mit den Sassakern spielen sich im gebirgigen Osten der Insel ab, wo ihnen die Bodengestaltung zu Hilfe kommt.«
   Nachdem man ausgeruht hatte, ward der Weitermarsch angetreten, und zwar so, daß stets Wachen vorausgingen, während Steffen einem Spürhund gleich die Flanken des Zuges bewachte. Anfänglich folgte man dem Lauf des Baches in dem lieblichen Tal, als aber dieser nach Norden umbog und Ara Labung daraus schloß, daß er sich ins Meer ergieße, an dessen einsamem, rauhem Ufer ihnen keine Hilfe irgendeiner Art winkte, ward beschlossen, einen sich quer vor ihnen hinziehenden waldigen Hügelrücken nach Süden hin zu überschreiten. Schon war es warm um sie geworden, und die Vegetation näherte sich bereits der der Ebene.
   An einem Bach, der diesmal nach Süden floß, beschloß man zu übernachten. Feuer wagte man nicht anzuzünden, aus Furcht, Feinde anzulocken. Bald lag alles, von der Anstrengung des Tages erschöpft, in tiefem Schlaf.
   Die Nacht verlief ungestört, und nach Sonnenaufgang setzte man den Marsch fort. Bald traten sie aus dem Wald hervor und sahen ein Felsenlabyrinth vor sich, das in wilder Zerklüftung eine große Anzahl Wege zeigte. Während sie überlegten, welchen Pfad sie wählen sollten, ging Steffen in das Felsengewirr hinein und entschwand ihren Blicken.
   »Det is wieder so 'ne Wolfsschlucht aus 'n Freischütz«, sagte Fritz, »wenn wir man hier jlücklich durchkommen.«
   »Wir müssen irgendeinen Wasserlauf suchen, der uns den Weg durch dies Felsengewirr zeigt«, sagte Ara Labung.
   Während sie noch berieten, kam Steffen aus den Felsen zurück, zum Erstaunen der andern einen Menschen auf seinen Schultern tragend, dessen Hände er fest umklammert hielt. In wenigen Minuten war er bei den Freunden und setzte einen jungen Eingeborenen, der auf das äußerste erschreckt schien, vor Ara Labung hin.
   »Hast du einen Gefangenen gemacht, Karl?«
   »Fangen«, war die kurze Antwort.
   Der Offizier betrachtete den jungen, nur mit einer Sarong bekleideten Menschen, dessen dunkle Augen die Angst seines Herzens verrieten, aufmerksam.
   »Tu bist ein Sassaker?« fragte er ihn dann in der Sprache dieses Volkes.
   »Nein, Herr«, erwiderte der Junge balinesisch, »ich bin ein Balinese wie du.« Dabei irrten seine Blicke von dem entsetzlichen Menschen, der ihn hierher gebracht, zu den weißen Gesichtern der beiden Europäer, derengleichen er wohl noch nicht gesehen hatte.
   »Wo kommst du her? Was tatest du in den Felsen dort?«
   »Oh, Herr, ich bin entflohen. Die Sassaker überfielen uns, die wir am Fuß des Berges wohnen, und töteten Männer und Frauen; da lief ich in Todesangst davon, mich zu verbergen, bis der furchtbare Mensch dort mich ergiff. Du bist ein Balinese, Herr, und wirst mich schützen.«
   »Wo stehen die Sassaker, die euch überfielen?«
   »Sie lagern unten, wo die Pfade zu den Bergen führen. Sie harren, wie ich aus ihren Gesprächen erlauschte, denn ich verstehe ihre Sprache, auf Anak Madé, der auf dem Berg sein soll, wie sie sagten.«
   »Waren es viel?«
   »Viel, Herr.«
   »Kannst du uns hinabführen in die Ebene?«
   »Ja, Herr, aber die Sassaker werden euch töten.«
   »Wenn sie können, gewiß, wir müssen sie umgehen.«
   »Es wird schwierig sein.«
   »Diese Milchgesichter sind Freunde Anak Madés; er wird dich reich belohnen, wenn du hilfst, sie nach Gunung Sari zu führen.«
   »Ich will euch führen, so gut ich kann. Doch, Herr, ist es wahr, ist der Sohn des Radscha auf dem Berg?«
   »Nein.«
   »Oh«, sagte der Jüngling mit leuchtenden Augen, »so wird er die Sassaker jagen.«
   »Ich hoffe es. Doch jetzt zeige uns den Weg, aber hüte dich, uns in die Hände der Feinde fallen zu lassen.«
   »Ich will vorsichtig sein. Doch, Herr, sage dem schrecklichen Menschen dort«, er schaute angstvoll nach Steffen hin, »daß er mir nichts zuleide tue.«
   »Er wird dir nichts tun. Geh nur.«
   Der Jüngling, dessen balinesische Abkunft dem Offizier Bürge war, daß er es redlich meinte, ging voran, und vorsichtig, die Waffen schußbereit, folgten ihm die andern in das Felsengewirr. Karl Steffen, der einer Gemse gleich klettern konnte, erstieg hie und da, besonders bei Wendungen auf ihrem Pfad, die Felswände, um weitere Umschau halten zu können.
   Plötzlich hielt er inne und gab ein Zeichen mit der Hand. Alle blieben stehen. Der Matrose kam rasch herab und sagte zu Henrik: »Leute dort.«
   »Feinde?«
   »Flinten.«
   Ara Labung ließ alle eine Gefechtsstellung annehmen und sagte zu dem jungen Balinesen: »Sieh nach, ob es Sassaker sind.«
   Der kletterte gehorsam an einer geeigneten Stelle hinauf und berichtete, bald zurückkehrend, daß ein starker Truppder aufständischen Eingeborenen in einem Felsenrund dort lagere und ihnen den Weg versperre.
   »Gibt es keinen Pfad, sie zu umgehen?«
   »Ja, Herr, aber wir müssen dann zurück und einen weiten Umweg nehmen.«
   »So wollen wir zurückgehen.«
   Auf seinen Befehl traten alle den Rückzug an.
   »Wo jeht et denn nu hin? Müssen wir wieder mang die Abjründe?«
   »Nein, wir wollen nur den Feinden, die vor uns lagern, aus dem Weg gehen.«
   »Det is det eenzig Richtige, wir machen et wie die Franzosen und konzentrieren uns rückwärts.«
   Sie waren zwischen den steilen zerrissenen Felsen noch nicht weit gegangen, als sie von vorn her Stimmen vernahmen, die der Wind ihnen zutrug.
   Alle standen und lauschten.
   »Ach Jotte doch, Hamburger, jetzt haben sie uns in die Klemme«, sagte zitternd der Schneider.
   »Still!«
   Es war kein Zweifel, daß Leute ihnen entgegenkamen, die ja nur Feinde sein konnten. Der balinesische Offizier verlor seine männliche Haltung nicht. Er schaute an den Felsen in die Höhe, nach einem Ausweg suchend.
   »Weißt du keinen Rat?« fragte er den jungen Menschen.
   Dieser erklärte ängstlich, er wisse keinen.
   »Was ist das dort oben?« fragte Ara Labung weiter, auf eine dunkle, zum Teil mit Buschwerk umstandene Stelle deutend. »Dort ist eine Höhle«, erklärte der junge Balinese, »aber, Herr, es sind Geister darin.«
   »Nun, vor den Geistern dort fürchte ich mich weniger, als vor denen hier unten.«
   »Fragen Sie Ihren wilden Freund, ob er dort hinaufklettern kann!« wandte er sich an Henrik.
   Als Steffen dies verdeutlicht war, stieg er ohne weiteres empor, und es zeigte sich, daß der Aufstieg weniger schwierig war, als es von unten den Anschein hatte.
   Von oben herab winkte er zu kommen, indem er zugleich den Schal, der sein Gewand zusammenhielt, abnahm und herunterhängen ließ, damit er den Folgenden zur Unterstützung dienen könne.
   »Laßt mir man zuerst hinauf«, sagte Fritz, »auf mir haben sie et abgesehen, seit ick die Kerls mit die Steine massakriert habe.«
   Aber Ara Labung befahl, daß die Träger die Schals abnehmen und zusammenbinden sollten und schickte mit diesem Leitseil den fremden Jungen hinauf, der bald, neben Steffen stehend, es um eine Felszacke schlang.
   Das erst von fern vernommene Stimmengewirr war näher gekommen.
   »Laßt mir rauf«, sagte Fritz und begann alsbald mit Hilfe des Seiles den Fels zu erklimmen.
   »Nun Sie, Mr. Henry.«
   Henrik folgte.
   Da die Gefahr, von Feinden überrascht zu werden, näher und näher kam, und so die Füße der Bedrängten beflügelte, waren in kurzer Frist alle oben, wo sie eine sich dem Anschein nach weit in die Felsen erstreckende Höhle vor sich hatten. Kaum waren die Flüchtlinge eingetreten und die verbundenen Schals heraufgezogen worden, als eine Schar Sassaker sichtbar wurde, deren Stimmen sie gehört hatten. Voran ging der alte Rasido, dem Anak Madé seine Gastfreunde anvertraut hatte, und die Balinesen erkannten im Zug einzelne derer, welche als Träger und Diener mit zum Krater hinaufgegangen waren.
   Als Ara Labung den Verräter erblickte, der ihn und seine Begleiter in diese gefährliche Lage gebracht hatte, der seinem Prinzen nach dem Leben strebte, wie er wohlgefällig plaudernd und lachend einherging, übermannte den heißblütigen Inder der Zorn, und dem neben ihm stehenden Soldaten die Büchse aus der Hand reißend, legte er an und streckte den Sassaker mit wohlgezieltem Schuß nieder.
   Donnernd hallte der Schuß in den Felsklüften nach, und die durch diesen unerwarteten Angriff, der gleich einem Blitz aus heiterm Himmel den Führer niederschmetterte, entsetzten Sassaker waren gleich darauf hinter der nächsten Felsecke verschwunden.
   »Oh«, sagte nach einem kurzen Aufleuchten wilden Triumphes der Offizier mit einem Ausdruck der Trauer, »ich ließ mich hinreißen. O Torheit. Jetzt haben wir alles zu fürchten.«
   Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre die Schar vorbeigezogen, ohne die Flüchtlinge, denen ihr Marsch galt, zu gewahren. Deren Lage war jetzt, der Offizier hatte recht, äußerst gefährlich geworden.
   Die Schar seiner Begleiter stand stumm in der nach hinten sich verdunkelnden Höhle, die in der Nähe des umbuschten Eingangs Befindlichen lugten hinaus nach Feinden, doch nichts war von solchen zu gewahren.
   Diese wußten aber jetzt, wo die Verfolgten sich befanden, und kam kein Entsatz, mußten sie sich ergeben oder verschmachten. An Entsatz war um so weniger zu denken, als sie von dem Weg, den sie nach oben genommen hatten, abgewichen waren. Dies alles ging dem balinesischen Offizier durch den Kopf und stimmte ihn sehr mißmutig.
   »Det wird wohl jetzt so 'ne Belagerung werden«, meinte Fritz melancholisch, »mit Hunger und Durst.«
   »Hoffentlich kommt es nicht so weit«, sagte Henrik, den auch ernste Besorgnisse anwandelten, um den Schneider zu trösten.
   »Weeßte, da wär' ick denn doch lieber uff die Robinsoninsel, vors Hungern bin ick nich, un ick habe ooch eenen mächtigen Durst.«
   Die Balinesen hatten aufmerksam die gegenüberliegenden Felsen beobachtet, da der Gedanke nahe lag, daß die Feinde diese erklettern und von dort aus einen Angriff versuchen würden. Traurig saß Fritz neben Henrik. Karl Steffen, der im Dunkeln zu sehen vermochte, hatte sich in der Tiefe der Höhle verloren. Auch die Balinesen verhielten sich stumpf.
   So vergingen lange beängstigende Minuten. Aus ihrem Sinnen erweckt wurden die beiden Deutschen, als die Soldaten plötzlich zu ihren Büchsen griffen.
   Es war den Feinden gelungen, die gegenüberliegende Felspartie von der andern Seite her zu erklimmen.
   Einige Köpfe zeigten sich drüben, und gleich darauf krachten Büchsen auf und Kugeln schlugen in den Eingang.
   Zwei der Soldaten, gute Schützen, feuerten zurück, ihre Kugeln trafen, und alle Köpfe verschwanden drüben; auch das feindliche Feuer verstummte.
   »Was haben Sie für Hoffnung, Sir?« fragte nach einiger Zeit Henrik den Offizier.
   »Gar keine«, erwiderte dieser finster, »sie werden uns aushungern.«
   »Könnten wir uns nicht im schlimmsten Fall unter gewissen Bedingungen in Gefangenschaft geben?«
   »Das wäre sicherer Tod. Diese Rasse ist erbarmungslos.«
   Das war schlimme Kunde.
   »Ick habe so Durst, Hamburger«, sagte Fritz leise.
   »Mußt es aushalten«, entgegnete Henrik.
   »Aber wat wird denn nu aus uns? Wir können doch nich ewig hier bleiben.«
   »Das mag Gott wissen.«
   »Ick habe et dir immer gesagt, bleib von die feurigen Berge weg.«
   »Mach mir jetzt keine Vorwürfe. Wer konnte das voraussehen.«
   Stumm und traurig saßen beide nebeneinander.
   Aus dem Dunkel der Höhle tauchte Karl Steffen auf, dessen Abwesenheit bei dem Ernst der Stunde kaum bemerkt worden war, und legte mit freundlicher Gebärde vor jedem der Jünglinge eine der traubenartigen Früchte der Gebangpalme und einige frische Feigen nieder.
   Erfreut schauten Henrik und Fritz auf, mit nicht geringem Erstaunen die Balinesen.
   »Wo hat der Mann die Früchte her?«
   »Woher, Karl?«
   Er deutete rückwärts: »Dort – Garten.«
   »Ein Garten?«
   »Kommen.«
   Er ging zurück, und Henrik, Fritz, der eifrig den Feigen zusprach, sowie Ara Labung folgten ihm. Da es dunkel wurde, je weiter sie in die Höhle, die sich zu einem Gang verengte, eindrangen, gab Steffen den ihm Folgenden seinen Schal, an dem er sie weiter führte. Der Pfad machte verschiedene Windungen und lief endlich bergab. Zu ihrer Freude sahen sie Dämmerlicht vor sich, welches rasch mit ihrem Fortschreiten zunahm und endlich in Tageshelle überging, die zu einer wohl mannshohen Öffnung hereinfiel.
   Zu ihrem Entzücken schauten sie hier durch in ein rings von hohen Wänden umgebenes Tal von geringem Umfang, das frisches Grün, Gras, Büsche, einige Gebangpalmen und Feigenbäume aufwies.
   Sie traten hinaus in den Sonnenschein und standen auf einem kleinen weltabgelegenen Plätzchen von seltener Anmut. Einem köstlichen Garten glich dies abgeschlossene Rund; der Waldmensch hatte treffend den Ausdruck gewählt: »Danke dir, Erhalter«, murmelte der Balinese.
   »Das ist köstlich«, sagte Henrik.
   »Ja, det is hübsch«, äußerte Fritz, »wenn ick nu wat vor den Durscht hätte. Karlchen, jibt et hier nischt zu trinken, nu wenn et man Pumpenheimer is.«
   Dieser nickte und führte ihn zu einem dem Fels entströmenden kleinen Quell, dessen Wasser sich zwischen dem Gras verlor.
   Mit Jubel wurde das frische Naß begrüßt und der sich bei der Hitze fühlbar machende Durst gestillt.
   »Wasser is doch det scheenste was' jibt«, sagte Fritz, »ick habe det schon eenmal erfahren.«
   Ara Labung, der sich aufmerksam in dieser so lieblichen Zufluchtsstätte umgesehen hatte, sagte jetzt zu Henrik: »Dieses wunderbare Plätzchen bietet gewiß zunächst einige Sicherheit, aber wünschenswert wäre es doch, wenn ein Ausweg sich fände, der uns die Flucht ermöglichte.«
   Steffen, als ob er die englisch gesprochenen Worte verstanden hätte, winkte Henrik, zu ihm zu kommen; er stand vor einem dichten Alanggebüsch, das sich an die Felswand anlehnte. Als Henrik neben ihm war, bog er die Zweige auseinander und machte so eine niedrige Öffnung sichtbar, die nach unten zu führen schien.
   »Führt der Gang ins Freie?« fragte freudig überrascht Henrik.
   Steffen nickte.
   Henrik machte sofort Ara Labung aufmerksam, der über die Aussicht, diesen Felsenwall im Rücken der Feinde verlassen zu können, nicht wenig erfreut war.
   »Das ist ein seltenes Glück, und wir können Ihrem Freund nicht dankbar genug sein.«
   Während die drei Europäer in dem stillen Asyl zurückblieben, ging der Balinese zu seinen Leuten, um sie herbeizurufen.
   Zitternd folgten ihm die abergläubigen Menschen, deren Phantasie alle Höhlen ihres Landes mit Spukgestalten bevölkert. Ihre Freude war nicht gering, als sie den sonnigen Felsengarten erblickten und frisches Wasser fanden.
   Ara Labung fragte jetzt den jungen Menschen, den Steffen gefangen hatte, ob er die Wege auf der andern Seite des Felsens kenne.
   Dieser bejahte.
   »Können die Feinde rasch dort hinkommen?«
   »Sie müssen einen großen Umweg machen.«
   »Werden wir bald Wald erreichen?«
   »Bald, Herr.«
   »So wollen wir uns von der Sicherheit des Weges überzeugen und dann den Weitermarsch antreten, der Wald schützt uns genügend.« Er trat dann in den Gang, den des Waldmenschen Späherauge entdeckt hatte, und schritt ihn, gefolgt von Steffen, Henrik und dem jungen Balinesen hinab. Nach vielleicht fünfzig Schritten, sie konnten überall aufrecht einhergehen, sahen sie Dämmerlicht vor sich und fanden einen gleichfalls dicht mit Gestrüppbedeckten Ausgang.
   Vorsichtig und nicht ohne Mühe drängten sie sich so weit hindurch, um einen Ausblick gewinnen zu können. Sie sahen ein breites Felstal vor sich, das nach Süden hin durch waldige Hügel abgeschlossen wurde, während nach Norden starre Felsen emporragten.
   Von Feinden war nichts zu gewahren.
   »Kennst du diesen Weg?«
   »Ja, Herr, dort hinter jenen Hügeln liegt meine Heimat.«
   »So wollen wir weitergehen, Anak Madé wird in großer Sorge um seine jungen Freunde sein.«
   Der Verlauf der gigantischen Felszüge hatte ihm gesagt, daß die vor der Höhle lauernden Feinde in der Tat große Umwege machen mußten, ehe sie ihren Weitermarsch hindern konnten. Im Wald hoffte er, jeder Verfolgung entgehen zu können; ein Nachtmarsch schien ihm untunlich.
   Die Träger und Soldaten wurden herbeigerufen, und Fritz, der ein stattliches Gericht Feigen zu sich genommen hatte, gesellte sich zu Henrik.
   »Det war 'n recht hübsches Sommerlogis«, meinte er, auf das köstliche Plätzchen anspielend, welches sie eben verlassen hatten, »det müßten wir bei Berlin haben, det wär wat vor Rentjehs.«
   Eilig zogen sie jetzt davon.
   Steffen und der junge Balinese gingen als Späher voran, und nach einer Stunde anstrengenden Marsches erreichten sie, aus dem chaotischen Felsengewirr heraustretend, tropischen Wald mit seinem dichten Schatten, seinem Reichtum an Früchten, Vögeln und Affen. Nach kurzer Rast setzten sie ihren Weg wohlgemut, doch immer mit großer Vorsicht fort. Als sie endlich aus dem Wald herauskamen, sahen sie zerstörte Wohnungen und stießen auf einzelne Leichen.
   »Wo liegt Mataram?«
   Der junge Balinese, der traurig auf seine verwüstete Heimat blickte, gab die Richtung an. In dieser zogen sie durch ein sanft sich neigendes Wiesental weiter und wollten eben zur Seite eines Gehölzes in die Ebene treten, welche Mataram umgibt, als aus den Büschen einige Schüsse fielen, einer der Träger getroffen aufschrie und gleich darauf eine starke Schar Sassaker mit wildem Geschrei auf sie zustürmte. Mit einer außerordentlichen Schnelligkeit verschwand Fritz Fischer hinter einem Busch. Die Balinesen verloren aber ihre Ruhe nicht und feuerten auf ihres Führers Befehl mit guter Wirkung. Auch Henrik hatte entschlossen seine Büchse in den Haufen abgefeuert. Die Feinde hielten einen Augenblick im Vorschreiten inne, das wohlgezielte Feuer hatte sie erschreckt, dann aber stürmten sie unter der Führung eines großen, starken Mannes, der eine Lanze schwang, wieder heran.
   Obgleich die Balinesen und Henrik noch einmal feuerten, sahen sie doch ihren Untergang vor Augen, die Träger suchten bereits das Weite.
   »Gott sei mir gnädig«, murmelte Henrik, »aber wehrlos fallen will ich nicht!« Trotzigen Angesichts und blitzenden Auges schwang er die Büchse ums Haupt, bereit, bis zum letzten Augenblick zu fechten. Vor ihn stellte sich Karl Steffen, der die Lanze eines der entflohenen Träger ergriffen hatte: »Horsa nichts tun«, sagte er, sein Leben für das des Sohnes seines Kapitäns darbietend.
   Das gellende, weithin hallende »Ahi!« des Schlachtrufs der Balinesen wandte aller Blicke und brachte die Sassaker zum Stehen. Eine starke Reiterschar, die langen Lanzen eingelegt, bog um das Gehölz und stürmte in vollem Rosseslauf auf die Feinde zu.
   Voran jagte der Führer, den blitzenden Säbel in der Hand.
   »Anak Madé!« schrien die Balinesen neben Henrik wie besessen und nahmen dann den Schlachtruf auf. Es war der Sohn des Radscha, der zu kühnem Angriff seinen Reitern voranstürmte.
   Mit einem gräßlichen Angstgeheul stürzten die gänzlich überraschten Sassaker davon, sich über das Feld zerstreuend. Das Erscheinen Anak Madés brachte alles zu wilder Flucht. Staunend und jubelnd sah es Henrik. Prachtvoll war der Anblick, wie die malerisch gekleideten Reiter einherjagten. Ihre langen Lanzen bohrten sich in die Leiber der Flüchtenden.
   Fritz, der jetzt durch das Geschrei veranlaßt, hinter seinem Busch hervorlugte, die Feinde fliehen sah, Henrik jubeln hörte, schrie ein über das andere Mal: »Hurra!« Diese kriegerische Kundgebung verstummte aber alsbald, als er den Führer der Sassaker, der sich aus dem Gedränge losgemacht hatte, in wilder Eile auf sich losstürmen sah.
   »Ach du meine Jüte, det jilt mir.« Der Sassaker hatte Fritz wohl kaum gesehen, dachte jedenfalls nur an Rettung vor den Reitern Anak Madés und lief was er konnte.
   Wenn er seine Richtung beibehielt, mußte sie ihn dicht an dem Busch, der Fritz barg, vorüberführen, und dies mochte wohl in dem Schneider den Glauben erregen, daß er auf ihn zulief.
   Der durch Todesangst zur Verzweiflung getriebene Berliner warf dem Flüchtigen einen Ast, den er krampfhaft ergriffen hatte, vor die Füße, und zwar so glücklich, daß der schwere Mann darüber stolperte, mit voller Wucht zur Erde stürzte und besinnungslos dalag.
   »Hurra! Wir haben ihm«, schrie Fritz in hoher Aufregung. »Fangt ihm! Hurra!« und lief zu Henrik, Schutz bei ihm zu suchen.
   Dieser und die Balinesen, welche nur Augen für die Reiter hatten, so aufmerksam gemacht, kamen heran, und die Soldaten Ara Labungs bemächtigten sich leicht des so schwer niedergestürzten Mannes. Kaum war das geschehen, als Anak Madé heranjagte. Seine Freude war groß, als er die beiden Europäer wohlbehalten vor sich sah. »Ich hätte mir das ganze Leben hindurch Vorwürfe gemacht, wenn euch ein Unheil getroffen hätte. Die Schurken haben mich getäuscht«, sagte er.
   Ara Labung stattete ihm jetzt kurzen Bericht über die Reiseerlebnisse ab, die der Prinz nicht ohne Verwunderung hörte. Als er erfuhr, daß der Verräter Rasido unter des Offiziers Kugel gefallen sei, sagte er: »Er hat Glück gehabt.«
   Sein Blick fiel jetzt auf den gefangenen und gebundenen Führer der Sassaker. »Oh, Ita Rasu, bist du in meiner Gewalt? Du sollst es büßen, die Waffen gegen mich erhoben zu haben. Wer nahm ihn gefangen?«
   Die Soldaten, die auf des Schneiders Geschrei herbeigeeilt waren und sich des Bewußtlosen bemächtigt hatten, deuteten auf Fritz.
   »Was?« sagte erstaunt Anak Madé. »Sie, mein jugendlicher Freund, haben diesen gefährlichen Mann überwältigt?«
   »Ja, Durchlaucht Exzellenz«, erwiderte der von der Frage verständigte Fritz, »er wollte sich an mir machen, aber da warf ick ihm den Knüppel zwischen die Beene. An die Wimpern laß ick mir nich klimpern.«
   »Ich bin sehr erfreut, daß dieser Mann nicht entkommen ist. Sie haben ebensoviel Kaltblütigkeit wie Tapferkeit bewiesen. Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar.«
   »Wenn ick nu nich wenigstens die vierte Klasse kriege, dann jibt et keene Gerechtigkeit uff Erden«, murmelte Fritz hierauf in sich hinein. »Det soll mir eener nachmachen.«
   Was von den Sassakern nicht niedergestreckt war, hatte die Flucht ergriffen, und die Reiter kehrten zurück. Gleichzeitig traf ein starker TruppInfanterie auf dem Feld ein.
   Anak Madé erteilte Befehle, die auf die Gefangennahme der in dem Felsengewirr sich befindenden Sassaker Bezug hatten, mit deren Besiegung Ara Labung betraut wurde, und lud dann die jungen Leute ein, mit ihm nach Gunung Sari zurückzukehren. »Nur die Sorge um Sie hat mich ins Feld getrieben«, sagte er, »meine kriegerische Aktion gegen die Rebellen beginnt erst, wenn ich genügend Truppen vereinigt habe.«
   Es wurden Pferde gebracht, und Henrik und Fritz ritten in Begleitung eines Trupps nach dem Schloß des Radscha. Steffen lief nebenher.
   Während sie gemächlich dahinritten, fragte Henrik den Schneider: »Wo warst du denn, während wir andern fochten.«
   »Icke? Ick hatte mir aus strategischen Gründen in't zweete Treffen zurückjezogen, ick machte die Reserve, und die Reserve is immer die Hauptsache, sagte der Feldwebel, der eene Stiege unter uns wohnte.« »So, du warst in Reserve?« »Na, woll nich? Ich lauerte auf den Haupträuber un habe 'n denn ooch jlücklich erwischt.«
   Henrik, der wohl gemerkt hatte, wie eilig der Schneider verschwunden war, als die Gewehre der Sassaker knallten, war eigentlich froh gewesen, daß der Berliner Jüngling sich aus der Schußlinie entfernt hatte, denn nützen konnte er doch nichts. Da ihn aber die Prahlereien Fritzens stets von neuem amüsierten, sagte er nur: »Ich dachte, du habest dich beiseitegedrückt.« »Een Drückeberger? Icke? Da kennst du mir aber schlecht.« »So hätten wir also eine neue Heldentat von dir zu verzeichnen.« »Ah, det mach ick immer so.«
   »Und verkriechst dich, wenn's losgeht?«
   »Ick sagte dir schon, aus strategische Jründe«, entgegnete ärgerlich Fritz. »Willst de mir vielleicht um meine Reputation bringen.«
   »Um den Heldenlorbeer auf deinem Haupt? Nein. Ich sehe immer mehr ein, daß Falstaff recht hat, wenn er sagt, daß Vorsicht der Tapferkeit besseres Teil ist. Du kennst Sir John Falstaff?«
   »Nie von jehört.«
   »Na, der war ebenso tapfer wie du.«
   »Mir ejal, jeder tut wat er kann, und ick gloobe, ick habe et janz jut jemacht.«
   Aus des Prinzen Mitteilungen, der sich persönlich aufgemacht hatte, um sie aufzusuchen, entnahmen sie, daß der Aufstand größern Umfang angenommen habe und daß Mr. Blake mit dem »Arang« nach Bali gesegelt sei, um Truppen herüberzuholen. Je näher sie Gunung Sari kamen, desto häufiger trafen sie auf lagernde Regimenter.
   Spät gegen Abend trafen sie in der Hauptstadt ein. Henrik und Fritz bezogen ihre bisherige Wohnung und sanken nach den Anstrengungen der letzten Tage bald in tiefen Schlaf. Karl Steffen, der treulich gefolgt war, suchte sich im Park ein Nachtlager.
   Sie hatten am andern Morgen kaum gefrühstückt, als ein Inder bei ihnen erschien, der in schwer verständlichem Englisch den Wunsch Anak Madés übermittelte, sie sofort zu sehen. Unter des Boten Führung begaben sie sich eilig zum Palast, in dessen Seitenflügel der Sohn des Radscha wohnte. Sie trafen auf ihrem Weg viele Reiter, welche wohlgeordnet hielten und einen durchaus kriegerischen Eindruck machten.
   Das Vorzimmer des Prinzen war mit Offizieren gefüllt, die neugierig die Milchgesichter und besonders den Schneider anstarrten. Nach einigem Harren wurden sie bei Anak Madé eingeführt, der, bereits kriegerisch gerüstet und, wie es schien, sehr ernst gestimmt, sie mit gewohnter Herzlichkeit empfing. »Ich erhielt gute und schlimme Nachrichten, meine Freunde. In Ampanan ist gestern ein englisches Schiff eingelaufen, welches nach Madras in See geht. Es steht euch frei, diese Gelegenheit zur Heimkehr zu benutzen, wenn ihr mir nicht die Freude machen wollt, länger meine geehrten Gastfreunde zu sein. Ihr seid in Gunung Sari für alle Zeit willkommen. Zwar muß ich euch verlassen, ernste Nachrichten aus dem Osten zwingen mich, in einer Stunde auf dem Weg dorthin zu sein, ob und wann ich wiederkehre, wissen die Unsterblichen allein. Ich muß den Aufstand rasch und blutig unterdrücken – und«, fügte er nachdrucksvoll hinzu, »es wird geschehen.«
   Es lag in der Haltung des jungen Mannes der hoheitsvolle Ernst und die gehaltene Energie, die den Gebieter kennzeichnen und Ehrfurcht abnötigen. Als Fritz Fischer die Worte des Prinzen übertragen waren, sagte dieser: »Dann wollen wir machen, daß wir hier von wegkommen, Hamburger, denn wenn ick mir ooch nich fürchte von Krieg, so bin ick doch kein Freund nich von. Hat er sonst nischt gesagt?« fragte er hastig mit erwartungsvollem Blick.
   Henrik erklärte hiernach dem Prinzen, daß sie es unter diesen Umständen vorzögen, das englische Schiff zu benutzen, und sprach seinen Dank für die gastliche Aufnahme aus.
   »Nicht doch, ich bin euch Dank schuldig und werde dessen auch nie vergessen, wie ich hoffe, daß auch ihr Anak Madé ein freundliches Andenken bewahren werdet.«
   Er überreichte Henrik ein goldenes mit Edelsteinen geschmücktes Armband von kunstvoller indischer Arbeit und Fritz ein kleineres zugleich mit einem kostbaren funkelnden Ring. Beides von hohem Wert. »Dies zur Erinnerung an mich.«
   Fritz starrte seine Geschenke und besonders den Ring mit grenzenlosem Erstaunen an.
   »Det schenkt mir die Exzellenz? Ach Jotte doch! Da is aber det Ende von weg.«
   Hierauf händigte Anak Madé Henrik ein Taschenbuch ein, das eine stattliche Zahl englischer Banknoten barg.
   »Hier sind die Mittel zur Rückkehr in eure Heimat und eine Summe für den guten Waldmenschen, um ihm den Schritt in seine frühern Verhältnisse zu erleichtern.«
   Henrik war von so viel Güte gerührt und sagte dies auch dem Prinzen.
   Anak Madé wiederholte: »Ich bin euch verpflichtet«, und reichte Henrik die Hand.
   Als er sich dann an Fritz wandte und mit einem feinen Lächeln sagte: »Ich hoffe, Sie werden freundlich meiner denken und stets die Ihnen angeborene Tapferkeit bewahren«, entgegnete dieser: »Ich bedanke mir noch schönstens, Exzellenz Durchlaucht, un wenn Sie mal nach Berlin kommen, jehen Sie mir nich vorüber, Reezenjasse 17, vier Treppen in't zweete Hinterhaus. Jrüßen Sie mir ooch die alte Exzellenz und sie hätte mir sehr jefallen.«
   Fritz war sehr bewegt, als er diesen Abschiedsgruß stammelte, den Henrik freilich nur in sehr freier Übertragung dem Prinzen vermitteln konnte. Nachdem der Prinz noch gesagt, daß sein Vater sich aus Gesundheitsrücksichten die Freude versagen müsse, die Deutschen zu empfangen, daß er aber das Beste für ihre Zukunft wünsche, verabschiedete er sich mit warmer Herzlichkeit.
   Bald darauf verließ er an der Spitze von zweitausend Reitern Gunung Sari.
   Da nach seiner Abreise die beiden Jünglinge nichts mehr hier fesselte, ließen sie Anstalten treffen, um nach Ampanan an Bord des Engländers überzusiedeln. Als die Pferde zur Reise vorgeführt wurden, fragte Henrik Fritzen, der in einem Meer von Wonne schwamm und immer wieder seine Geschenke liebevoll betrachtete: »Wollen wir nicht auch den grauen Papagei mitnehmen?«
   »Det falsche Beest? Erinnere mir nur nich daran.«
   Gefolgt von dem unermüdlichen Steffen und begleitet von zahlreichen Dienern traten sie ihren Weg nach Ampanan an. Fritz hatte nur noch den einen Wunsch, sich im indischen Anzug hoch zu Roß photographieren lassen zu können, sonst war er ganz glücklich. Sie trafen unterwegs starke Infanteriemassen, die von der See kamen und nach Osten zogen, und langten ohne Gefahr in der Hafenstadt an.
   Zu ihrer Freude trafen sie dort Mr. Blake, der eben mit Truppen eingelaufen war. Er war über ihr Abenteuer auf dem Rindjani ebenso erstaunt, wie über ihr glückliches Entkommen erfreut.
   »Sowie ich die erste Kunde von dem Aufstand bekam, fürchtete ich für Sie das Ärgste, Sie dürfen von großem Glück sagen, der Gefahr entkommen zu sein.«
   In seiner Gesellschaft begab sich Henrik an Bord des englischen Schiffes und vereinbarte mit dessen Kapitän die Passage nach Madras. Er und Fritz erhielten eine kleine Kajüte hinten, während Karl vorn zwischen den Leuten untergebracht werden sollte. Es zeigte sich, daß der Sohn des Radscha für Henrik und Fritz in sehr schön gearbeiteten Kisten noch Anzüge und balinesische Waffen mitgegeben hatte, die seine Diener an Bord des Engländers ablieferten.
   Da Henrik sich danach sehnte, wieder europäische Tracht anzulegen, sagte er zu Fritz, während sie am Quai im bunten Volksgewühl umherschritten: »Du könntest mir eigentlich einen Anzug machen, Fritz, Stoff werden wir wohl bei einem chinesischen Händler finden.«
   »Nu bin ick so lange indianischer Prinz jewesen un nu werd' ick wieder Schneider«, sagte er melancholisch.
   »Ich denke, du bist stolz auf dein Metier?«
   »Bin ick ooch, aber weeßte, Prinz is ooch scheene, wenn et ooch in ne wilde Jejend is.«
   »Dann bleib doch hier! Deine anerkannte Tapferkeit wird dir die höchsten kriegerischen Würden eintragen.«
   »So? Un meene liebe Olle? Un die Jeschwister. Ne, weeßte, hierher in so Länder mit feuerspeiende Berge, wo sie einen so mir nischt dir nischt abmurksen, passe ick doch nich.«
   »Also du machst mir, machst uns Anzüge?«
   »Weeßte, hier möchte ick et doch nich jerne un uff dat Schiff sin wir doch noble Passagiere vor die Kajüte, da möcht ick et ooch nich.«
   »Du hochmütige Schneiderseele, willst den großen Herrn spielen, merke ich.«
   »Sei nur ruhig, ick komme bald jenug wieder an die Nadel.«
   »Und ich auf den Mast als flinker Marsgast, Gott sei Dank.«
   Bei einem chinesischen Händler sahen sie zu ihrem Erstaunen einige ganz neue und gutgearbeitete Matrosenanzüge, sicher europäischen Ursprungs, die wohl einem gescheiterten oder beraubten Schiff entstammen mochten. Auch neue Hemden fanden sie bei dem Mann vor, und Henrik erhandelte mit sachverständiger Hilfe Fritzens einige der Anzüge und ein gutes Teil Wäsche. Als Fußbekleidung mußten sie vorläufig noch ihr indisches Schuhwerk behalten.
   Sie ließen die erworbenen Anzüge an Bord bringen, und Henrik begann sich umzukleiden, während Fritz sich von seiner Balinesentracht, obgleich sie ihm oftmals Unbequemlichkeiten bereitete, noch nicht trennen mochte. Sie erinnerte ihn an die Heldenzeit seines Lebens.
   Henrik hatte nach richtiger Matrosenart Nadeln, Zwirn und dergleichen von dem Chinesen miterhandelt. Da ihm seine Jacke nicht ganz passen wollte, ersuchte er Fritz, seine Künste an dem Kleidungsstück zu probieren, was dieser um so weniger abschlug, als sie allein in ihrer Kajüte waren.
   Flugs saß er mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch und handhabte die Nadel mit dem Eifer und Geschick des geübten Schneiders, als unerwartet die Tür sich öffnete und Mr. Blake hereintrat, der nicht ohne sichtbares Erstaunen auf den so beschäftigten Schneiderjüngling blickte.
   Fritz, so überrascht, sprang herab, wobei Henrik lachte, was den Schneider noch mehr ärgerte.
   Mr. Blake, der nach Gunung Sari reiten mußte, war gekommen, von den beiden jungen Leuten Abschied zu nehmen, was er mit den besten Wünschen für deren Zukunft in liebenswürdiger Weise tat.
   Daß Anak Madé den Aufstand der Sassaker rasch unterdrücken werde, erschien ihm zweifellos, und er hegte nur den Wunsch, gelegentlich mit den Kanonen seines Schoners eingreifen zu können.
   Auch er bat die beiden Deutschen, ihm freundliches Andenken zu bewahren.
   Als er fort war, sagte Fritz verdrießlich: »Nu wissen sie et, det ick zu de Zunft jehöre.«
   »Das wird den Radscha und seinen Sohn sehr freuen, denn Mr. Blake sagte mir, daß die Kleiderkünstler in diesem Lande so hoch geschätzt werden, daß man sie den Edelleuten zurechnet.«
   »Is det wahr?«
   »So wahr mir Mr. Blake das gesagt hat.«
   »Denn is jut, wenn sie mir nur ästimieren.«
   Hierauf packte er seinen Balinesenanzug sorgfältig ein.
   »Darin jeh ick aber uff de Maskerade bei Pinkerts in die Mühlenjasse, die sollen aber Oogen machen, wenn ick mit so wat echt Türkisches ankomme.«
   Bald erschien er in Matrosentracht, die auch Karl Steffen, der sich still am Vorderkastell hielt, bereitwillig angelegt hatte. Am Abend noch ging der »Cumberland« südwärts in See.


   Wiedersehen

   Es dauerte einige Zeit, bis die jungen Leute nach den so abenteuerlichen aufregenden Ereignissen der letzten Zeit und besonders der jüngsten Tage das ruhige Gleichgewicht ihrer Seelen wieder gefunden hatten. Außer der Umgebung, der europäischen Kost, die sie doch schließlich der indischen vorzogen, trug auch das freundliche Benehmen Kapitän Fultons dazu bei.
   Auch er vernahm mit Verwunderung die Schilderung ihrer Erlebnisse und bezeigte ihnen aufrichtige Teilnahme. Vor allem aber erregte ihn das Schicksal des Waldmenschen.
   Er schlug vor, ihn zu seinem eigenen Besten im Schiffsdienst zu verwenden, und da Henrik diesem Vorschlag gern zustimmte, wurde Steffen gefragt, ob er arbeiten wollte. Begierig ging dieser darauf ein, er ward der Steuerbordwache zugeteilt, in der er schweigend, aber überaus pünktlich seinen Dienst verrichtete.
   Mit großem Interesse lauschte der Kapitän den Schilderungen ihrer Erlebnisse auf Lombok. »Ich befahre diese Meere seit Jahren«, sagte er, »und laufe fast alljährlich Ampanan an, ohne mehr als die Küste gesehen zu haben; und selbst im Hafen haben wir Europäer nur mit den chinesischen Zwischenhändlern zu tun. Sie haben ein besonderes Glück gehabt, das Innere in etwas kennenzulernen. Der Radscha, der hier herrscht, mag ja ein vortrefflicher Mann sein, und daß er seine Unabhängigkeit bewahren möchte, wird ihm ja niemand verübeln; die innern Zwistigkeiten auf diesen Inseln dienen aber nur dazu, sie um so sicherer unter die Oberherrschaft der Holländer zu bringen.«
   Im weitern Verlauf der Unterredung sprach man von dem »Roland« und seinem wahrscheinlichen Schicksal.
   Kapitän Fulton, welcher die indischen Gewässer seit Jahren besuchte, bemerkte: »Die in Ost einsetzenden Stürme sind im Indischen Ozean sehr gefährlich, besonders wenn sie ein Schiff in der Nähe der Südküste der Sundainseln treffen. Sie setzen aus und fahren um die halbe Windrose herum. Dazu bieten die Küsten keine Ankerplätze als Zufluchtsorte. Ich glaube gern, daß Herr Findling ein erprobter Seemann ist, doch gibt es kein tückischeres Gewässer auf Erden als diesen Ozean. Ich will hoffen, daß sein Schiff der Gefahr glücklich entronnen ist.«
   Diese Äußerungen des erfahrenen Schiffers stimmten Henrik sehr traurig, seine schlimmsten Befürchtungen schienen hier bestätigt zu werden. Auch der Schneider war aufrichtig betrübt, als er erfuhr, wie nahe der Gedanke läge, daß der »Roland« zugrunde gegangen sein könne.
   »Det wäre recht schade, Hamburger«, meinte er, »denn der Herr Findling war so 'n netter Mensch un hatte so wat Liebes und Jebildetes an sich. Det wär recht schade.«
   Henrik war auf das ernstlichste besorgt um das Schicksal des ihm so sympathischen Mannes, der ihn der See entrissen hatte, und sehnte den Augenblick herbei, der ihn zu einem größern Hafen führen würde, wo er Näheres und hoffentlich Günstiges über den »Roland« zu erfahren erwartete. Die tiefe Erschütterung seiner Seele, welche die wunderbare Auffindung der letzten Ruhestätte seines Vaters hervorgerufen hatte, war durch die nachfolgenden Ereignisse etwas gemindert worden. Jetzt bei leichtem Wind über den Ozean gleitend und unbeschäftigt, kehrten seine Gedanken zu dem einsamen Grab zurück. Er suchte zu ergründen, wie die Katastrophe so grauenvoll über die Mannschaft des »Admirals« hereingebrochen war.
   Eingedenk der dem verwilderten Mann gegenüber gebotenen Vorsicht, hatte er keine Frage an ihn gerichtet, aber doch mit Freuden bemerkt, daß er in angestrengter Tätigkeit – und Kapitän Fulton sorgte dafür, daß er beschäftigt wurde – sich langsam an das zivilisierte Leben gewöhnte. Auch sein früheres, verwildertes Aussehen war durch nochmaligen Schnitt von Haar und Bart sehr wesentlich verändert.
   Heute saß er allein auf dem Vorderdeck und splißte Taue, eine Arbeit, welcher er zwar gewachsen war, die aber unter den ungeübten Fingern nur langsam vonstatten ging.
   Den Matrosen war der sonnverbrannte und schweigsame Mensch mit seinen so oft ins Weite stierenden Augen unheimlich und sie hielten sich fern von ihm. Auch zu necken wagte ihn keiner, nachdem sie Proben seiner riesenhaften Körperkräfte gesehen hatten; sie ließen ihn still seinen Dienst tun. Henrik ging nach vorn und lehnte sich ans Bollwerk. Wie immer zog ein Schimmer von Freude über Karl Steffens Züge, wenn Horsa in seine Nähe kam.
   »Nun, Karl, bist du gut zuwege?« fragte Henrik.
   Nach einiger Zeit, während deren er sinnend vor sich hinsah, erwiderte Karl: »Es lag wie Blei hier oben«, er deutete auf die Stirn, »aber es wird mit jedem Tag leichter. Vor den Augen schwebte es wie Nebel, ich sah und erkannte nur wenig, aber es wird heller um mich – heller.«
   Langsam und stockend kamen diese Worte über seine Zunge, welche sich immer noch ungebärdig zeigte, aber sie kündeten doch deutlich, daß die Nacht, welche seinen Geist umhüllte, allmählich wich, und was mehr war, daß er seinen Zustand erkannte.
   »Und du sehnst dich nicht nach deinem bisherigen Aufenthalt, nach der Lebensweise zurück, welche du auf der Insel führtest?« fragte Henrik.
   Ein leichter Schauer überlief seinen Leib, dann sagte er: »Nein.« Er arbeitete eine Zeitlang eifrig und fragte dann, innehaltend: »Welche Jahreszahl haben wir?«
   »1880.«
   Er ließ den Marlpfriem sinken und sann angestrengt nach. »1880«, wiederholte er leise, »1880 – und 1866 war es, ja, 1866.«
   Mit fieberhafter Eile splißte er dann weiter, so, als ob er quälende Gedanken dadurch verscheuchen wollte; Henrik verließ ihn, um die Regungen seiner Seele nicht zu stören.
   Er begegnete Fritz, der sich als gutbeköstigter Kajütenpassagier äußerst wohlfühlte, in diesem Augenblick aber verdrießlich aussah.
   »Nun, Mensch, der das unermeßliche Glück hat, mit Spreewasser getauft zu sein, welche Wolke lagert über deinem Geist?«
   »Weeßte, Hamburger, die janze wilde Sache uff die olle Tigerinsel un dann hinterher die indianische Anjelejenheit mit Jartenpalais, feuerspeienden Berg un den Krieg, det kommt mir manchmal nur wie ein Traum vor.«
   »Gewiß, Fritz, nur ist es gut, daß uns der Traum einige handgreifliche und wertvolle Andenken zurückgelassen hat.«
   »Det muß wahr sind, die jelben Exzellenzen haben sich sehr honorig jegen mir benommen, allens wat recht is. Ick habe et aber ooch verdient, det wirst du zujeben, denn ick habe doch eejentlich die jrausame Schlacht jewonnen.«
   Henrik war über diese Behauptung Fritzens nicht sonderlich erstaunt, ja, er hatte Ähnliches erwartet und fragte ganz ernsthaft: »Du, mein kleiner Napoleon? Wieso denn? Ich glaubte, es wäre der Prinz mit seinen Reitern gewesen.«
   »Allens richtig, aber wenn ick den schrecklichen Räuberhauptmann nich dingfest jemacht hätte, dann wär' die Jeschichte wieder von vorne losjejangen. Det kannst du jlauben und dann hätten sie mir und dir abgemurkst, und allens war futsch.«
   »Zugegeben. Deine großen Verdienste um die Sache des Radscha werden ja auch wohl in der Geschichte Lomboks fortleben und ich werde mir die Freude machen, sie in Deutschland zu verbreiten. Was ist denn nun aber der langen Rede kurzer Sinn?«
   »Siehste, Hamburger, ick ärgere mir doch manchmal im stillen, daß die jelbe Exzellenz, mit det Palais un die Springbrunnen, mir nich so wat vor't Knopploch jejeben hat, et hätte mir zu großen Spaß jemacht, mit so'n wilden Orden heimzukommen!«
   »Aber Mensch, du besitzest ja einen der höchsten lombokschen Orden, was willst du denn noch?«
   »Wie denn? Ick habe doch bloß det kleene Armband, det kriegt de Line, un den Ring.«
   »Nu ja, das ist ja der Orden, an blauem Band um den Hals zu tragen.«
   »Den Ring?«
   »Du kannst doch nicht verlangen, daß die Indier genau dieselbe Form zur Verzierung einer verdienstvollen Brust haben, wie wir Abendländer. Was bei uns ein Stern ist, das ist bei den Balinesen ein Ring. Höchste Klasse mit Brillanten!«
   »Meenste det wirklich? Oder is det man Mumpitz?«
   »Aber das ist doch ganz klar.«
   »Wenn ick den Orden aber um den Hals trage«, meinte Fritze nachdenklich, »dann dürfte ick ihn in Berlin bald los sein.«
   »Das könnte wohl so kommen.«
   Fritz versank in Gedanken und fragte dann: »Wieviel meenste denn, Hamburger, dat det Ding an Jeld wert is?«
   »Der Stein? Ich verstehe mich zwar nicht sonderlich auf Diamanten, aber ich glaube, du wirst, wenn du ihn einem Juwelier anbietest, vier– bis fünfhundert Taler dafür erhalten.«
   »Wieviel?« schrie Fritz.
   Henrik wiederholte die Summe. Fritze machte einen Satz und drehte sich dann um sich selbst. Mit strahlendem Gesicht rief er dann: »Denn is et jut, Hamburger, denn bin ick aber scheene 'raus. Denn wird det versilbert, und wenn et ooch 'n Orden is, un dann koofe ick de Olle een Kleid un 'n Hut mit oben wat druff, un die Line ooch, Jule und Aujust kriegen ooch wat ab, dann soll aber die Reezenjasse Oogen machen.«
   »Ich glaube, es ist das Beste, was du mit deinem Orden anfangen kannst, denn von unserer Regierung würde er doch schwerlich anerkannt werden.«
   »Is mir ejal, ick bin jetzt janz zufrieden; det is der richtige Orden vor mir.«
   Und Fritze war mit diesem wertvollen Orden, den er seiner unbezweifelten Tapferkeit verdankte, jetzt wirklich höchst zufrieden.
   Bei ruhigen Luftströmungen war der »Cumberland« bis etwa zum l00. Grad östlicher Länge gesegelt, als gegen Abend der Wind sich stärker erhob. Dem Kapitän gefiel das Aussehen des Himmels durchaus nicht und er ließ Leinwand kürzen, so daß das Schiff nur noch vor gerefften Obersegeln, dem Fock– und dem Vorstengenstagsegel dahinlief; dies war kurzes Tuch für ein Schiff, welches den Wind fast über Heckbord hatte. Dennoch ließ der Kapitän gegen neun Uhr wieder reffen. Ununterbrochen blies es aus Südost, und als der Morgen heraufkam, lief das Schiff nur noch unter Fock– und dem großen Marssegel. Alle andere Leinwand war in der Nacht geborgen worden. Henrik war früh an Deck gekommen, und auch Kapitän Fulton war bereits erschienen.
   Der Sturm brauste unheimlich im Takelwerk, und die Wellen liefen so hoch, daß es schwer war, einen Ausguck auf den Horizont zu bekommen. Der Kapitän hielt bei dem gewaltigen Luftdruck auch das Marssegel noch für zu viel für das Schiff und befahl, es einzunehmen.
   Das war ein schwieriges Stück Arbeit, und die geübtesten Matrosen gingen hinauf, um das Stück Leinwand zu bergen. Als sie oben waren, riefen sie das Deck an, doch bei dem Wind konnte kein menschlicher Ruf nach hinten dringen. Fulton, der das Kommando führte und nicht gut nach oben gehen konnte, bat den in seiner Nähe stehenden Henrik, in die Besantakelage zu steigen und sich umzusehen nach dem, was die Matrosen gewahrt haben mußten.
   Alsbald stieg Henrik empor und erblickte zu seinem nicht geringen Erstaunen auf der Steuerbordseite ein Schiff, welches gleichen Kurs mit dem »Cumberland« hielt und nicht hundert Faden abstand. Das fremde Schiff lag unter ganz kurzer Leinwand, hielt sich stetig vor dem Wind, sobald es den Luftzug fühlte, gierte aber furchtbar, sobald es in den Wellenhöhlungen lag, worin ihm der »Cumberland« nichts nachgab. Ehe Henrik nach unten kommen konnte, erbebte das Schiff bis in seine Grundfesten.
   Fulton hatte, während der »Cumberland« zwischen den zu Wasserbergen sich erhebenden Wellen lag, eben den Befehl zum Lösen der Schoten des Marssegels erteilt, und alle Hände waren unter der Aufsicht der Steuerleute mit Aufbietung aller Kraft beschäftigt, Halsen und Bauchgordingen anzuziehen, als das Schiff wieder in den Sturm trat, das Marssegel mit einem kanonenschußähnlichen Knall zerriß und das gewaltige Stück Leinwand in Streifen mitsamt den Blöcken und Kardeelen, welche an der Rahe geblieben waren, so furchtbar umherpeitschte, daß es das Leben der Leute oben in die dringendste Gefahr brachte. Dabei erbebte der Mast in seinen Grundfesten. Sofortige Hilfe war not. Die Fetzen und Blöcke mußten abgeschnitten werden, wenn sie nicht großes Unheil anrichten sollten.
   Während die Leute oben noch zauderten, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, stieg mit einer selbst dem verwegensten Seemann unbegreiflichen Schnelligkeit Karl Steffen in die Takelage. Alles starrte nach dem kühnen Mann hin. Mehrmals war er in ernstester Lebensgefahr, aber es gelang ihm, ungefährdet und in kürzester Zeit Blöcke und Leinwand abzuschneiden, die von dem Sturm davongeführt wurden, so daß bald nur die nackte Spiere sich dem Auge bot.
   Erst jetzt, als die Gefahr für die Leute wie für Steffen beseitigt war, ging Henrik hinab und meldete dem davon sehr betroffenen Kapitän die Nähe des mit dem »Cumberland« gleichen Kurs haltenden Schiffes.
   Fulton stieg in die Besanwanten, bis er Ausguck auf den Fremden hatte, und Henrik folgte ihm. Das Schiff war bis auf Fock, Sturmsegel und die Besangaffel nackt. Gleichzeitig sanken beide Schiffe in die Wellenhöhlungen, und nun war nichts von dem Fremden zu gewahren. Als der »Cumberland« mit der nächsten Welle sich hob, sahen Fulton und Henrik mit Schrecken, daß das fremde Fahrzeug kaum dreißig Faden entfernt, gerade dwars von seinem Kurs abgierte. Das war ein furchtbarer Augenblick. Gleich wildgewordenen Rennern rasten die beiden Schiffe durch die Wogen, um dann unsicher in den Wellenhöhlungen hin und her geworfen zu werden, sobald sie den Wind verloren. Stießen sie, mit furchtbarer Kraft vom Sturm dahingeführt, zusammen, so waren beide rettungslos verloren. Einen Augenblick gar schien es, als ob der Fremde von gewaltiger Welle gehoben mit seiner ganzen Wucht auf den »Cumberland« stürzen wolle.
   »Ruder hart Backbord!« schrie der Kapitän mit aller Kraft, und drüben – fast berührten die Nahen des fremden Schiffes die des »Cumberland« – sprang ein athletischer Mann den Steuerleuten zu Hilfe, um das Ruder nach Steuerbord zu reißen. Einen hellen Jubelschrei stieß da Henrik aus, denn der dort drüben – ja, es konnte keine Täuschung sein – war Findling! Deutlich sah Henrik sein kühnes Gesicht, und auch jener mußte ihn erkannt haben, denn er beantwortete den Freudenruf. Der nächste Augenblick mußte über Leben oder Tod entscheiden. Da! – ein Seufzer der Erleichterung entrang sich jeder Brust; die Schiffe gehorchten dem Steuer und traten auseinander.
   Als der »Cumberland« sich wieder mit der Welle hob, war der »Roland«, immer noch Ruder Steuerbord, weit genug abgetrieben, um jede Gefahr eines Zusammenstoßes auszuschließen.
   Henrik war von dem wunderbaren Wiederfinden des »Roland« und seines fast schon tot geglaubten Freundes Findling auf das innigste erfreut. Sehnsüchtig hing sein Blick an dem in Sturm und Wellen schwankenden Schiff. Dort am Bollwerk stand Findling und schwenkte den Hut – Martin und die Matrosen schauten herüber – Henrik winkte mit der Hand – die Schiffe sanken nieder – Wasserberge türmten sich zwischen ihnen auf – und als die Fahrzeuge wieder hoch auf der Flut erschienen, war kein Gesicht mehr zu erkennen. Doch, Gott sei Dank, Findling lebte, der »Roland« schwamm noch auf dem Wasser!
   Fulton und Henrik stiegen hinab; in voller Herzensfreude berichtete letzterer dem Kapitän, daß dort sein Schiff segele. Fulton teilte seine Freude.
   »Wunderbar genug, Sir. Wünsche Euch Glück. Dort kommandiert ein erfahrener Seemann. Sah, wie er sein Schiff handhabt. Lassen Sie die Besangaffel aufziehen«, rief er dem Steuermann zu, »der Deutsche hat recht, daß er sie führt. Das Schiff liegt ruhiger und wir nehmen weniger Wasser über.« Es geschah, und die Wirkung war bald sichtbar.
   Henrik suchte Fritz auf, der in seiner Koje lag. Als jener in die Kajüte stürmte, fuhr der Schneider erschreckt empor: »Ach Jott, jeht et wieder los?«
   »Junge, Fritze, Schneiderseele – der ›Roland‹ ist da, Findling läßt dich grüßen«, jubelte Henrik. Fritze sah ihn groß an und dachte: Ach Jott, is der rappelig geworden?
   »Gaffe nicht so, Schneider – es ist, wie ich sage – der ›Roland‹ ist da, nicht eine Meile von uns steht er. Komm mit an Deck, daß du ihn selbst sehen kannst.«
   Fritz war zwar kein Freund vom Aufenthalt an Deck bei solchem Wetter, sprang aber doch behend aus der Koje, und mit einem »Det wäre!« folgte er Henrik. Bald sahen sie den »Roland«, der immer noch neben ihnen herlief, etwas voraus auf den Wellen schaukelnd.
   »Un det, meenste, wär der ›Roland‹?«
   »Ja, Fritze, das ist er, und Findling war beinahe hier an Bord.«
   >»Nanu? Bei det Wetter?«
   »Ja, er hatte es eilig, uns wiederzusehen.«
   »Und?«
   »Zog es aber doch vor, ruhigeres Wasser abzuwarten, ehe er uns seine Visite macht. Er läßt dich grüßen.«
   »Na, da is aber det Ende von weg«, brachte der staunende Schneider hervor. »Hast du ihm denn gesprochen?«
   »Natürlich; er sagte, er habe hier schon drei Wochen auf uns gewartet.« Mit der so unverhofften Freude wachte aller Jugendübermut in Henrik wieder auf.
   »Wie konnte er denn wissen, det wir hier vorüberkutschieren würden?«
   »Weißt du, was Trigonometrie ist?«
   »Nee.«
   »Nun, infolge trigonometrischer Berechnungen wußte er, daß wir ihm hier begegnen mußten.«
   »Det jeht aber doch über die Hutschnur.«
   Die geheimnisvollen Berechnungen der Schiffer, nach denen sie den Kurs bestimmen, waren Fritz freilich stets höchst wunderbar erschienen, aber diese trigonometrische Leistung schien ihm doch über das Maß des Menschlichen hinauszugehen!
   »Willst du mir wieder mopsen, Hamburger?«
   »Wieso denn? Du siehst doch, daß der ›Roland‹ da ist. Packe deine Sachen zusammen; sobald das Wetter es erlaubt, siedeln wir über.«
   »Ooch mit die Trigonometrie?«
   »Selbstverständlich, auf der Lehre vom Dreieck beruht das ganze Weltall.«
   »Na, mir is et ejal, meintwegen uff en Zweieck. Aber ick freue mir doch kollosiv, det am ›Roland‹ noch allens in Ordnung is.«
   Henrik teilte Kapitän Fulton seinen Wunsch mit, sobald es tunlich sei, mit Fritz und Steffen nach dem »Roland« überzusetzen, einen Wunsch, den der Engländer ganz natürlich fand. Der Wind legte sich in den nächsten Stunden, und die beiden Schiffe – der »Roland« stand kaum eine Meile ab – trugen wieder die gewöhnliche Leinwand. Als die See sich so weit beruhigt hatte, daß ein Boot ausgesetzt werden konnte, kürzte der »Roland« Segel und signalisierte, daß er den »Cumberland« sprechen wolle. Fulton antwortete, daß er beilegen werde.
   Henrik hatte sein Gepäck an Deck schaffen lassen, sich dann an Steffen gewandt und diesem mitgeteilt, daß er an Bord des Schiffes, dem er angehöre, übersetzen werde, wobei er selbstverständlich voraussetze, daß Steffen ihn begleite.
   »Ich gehe mit – Horsa«, hatte dieser erwidert, »ich gehe mit – immer mit.«
   Als die Schiffe noch einige hundert Faden entfernt waren, legten beide bei und der »Roland« ließ ein Boot zu Wasser. In freundlicher Weise hatte Fulton sich schon von Henrik und Fritz verabschiedet. Karl Steffen aber, für dessen Schicksal er fortwährend ein besonderes Interesse zeigte, der dem »Cumberland« einen so wichtigen Dienst geleistet hatte, schenkte er zum Dank für seine kühne Tat eine silberne Taschenuhr, die der Arme mit freudigem Staunen entgegennahm.
   Das Boot des »Roland« kam heran, die Kisten der jungen Leute wurden hineingeschafft, und mit kräftigen Schlägen trieben die Leute, welche Henrik und Fritz jubelnd begrüßt und Karl Steffen angestaunt hatten, das Boot zurück.
   Einige Minuten später lag Henrik an Findlings Brust. Fritz war von dem Wiedersehen nicht weniger ergriffen. Die Freude der Mannschaft über die Rückkehr der Verlorengeglaubten äußerte sich auf mannigfache Weise. Verwundert blickten alle auf Steffen, der still nach vorn gegangen war. Findling führte Henrik in seine Kajüte und lauschte dort der fast wundersamen Mär von dessen jüngsten Erlebnissen. Ergreifend war ihm, daß das Geschick den Jüngling zum Grab des Vaters geführt hatte, der unter seltsamen Umständen gemordet worden war. Mit steigernder Teilnahme vernahm er von dem verwilderten Menschen, den Henrik dort gefunden und mit an Bord geführt hatte. Dann berichtete er, wie der »Roland« in jenem Sturm schwere Havarie erlitten und Poerworedja auf Java anlaufen mußte, um seine Schäden auszubessern, ehe man zu den Inseln, an denen die beiden jungen Leute Zuflucht gefunden haben konnten, zurückzukehren vermochte. Er hatte nur schwache Hoffnung gehegt, daß die Jolle sich in dem Sturm halten werde, und Henrik mit trauerndem Herzen verlorengegeben. Dennoch hatte er acht Tage zwischen den Inseln gekreuzt, nach Spuren der Verlorenen gesucht und, als alles dies vergeblich war, endlich die Fahrt nach Ceylon wieder aufgenommen, mit der Überzeugung, daß das Meer die Jolle mit ihren Insassen verschlungen habe.
   »Die Überraschung, als ich dich im Besan des Engländers erblickte«, so schloß er, »war so jäh, so gewaltig, daß ich fast auf den ›Cumberland‹ aufgelaufen wäre, und immer noch erscheint mir deine Rettung wie ein Wunder.«
   Während Findling mit Henrik in der Kajüte weilte, umringten die Matrosen Fritz, um von ihm zu erfahren, was mit ihm und Henrik in jener Zeit vorgegangen sei.
   Staunend horchten sie, als der Schneider den Aufenthalt auf der Insel beschrieb, ihnen erzählte, wie sie mit Tigern und Panthern gekämpft hatten, wie ein gelber Prinz mit unzähligen Dienern und einer Jacht, wie sie prächtiger kein Kaiser habe, gelandet sei, um zu jagen. Er vergaß nicht, den Überfall durch die Malaien kräftig auszumalen, erwähnte, wie Henrik der Durchlaucht das Leben gerettet und wie er selber durch kaltblütige Entschlossenheit einige von der Mörderbande gefangengenommen habe. Von dem verwilderten Menschen, den sie gefunden, von dem einsamen Grab und allem, was sich daran knüpfte, sprach er, nach Henriks Wunsch, nicht. Dann erzählte er mit glühender Phantasie von seinem Aufenthalt auf Lombok, dem Schloß, den Fürsten, der Besteigung des Rindjani mit ihren wundersamen Abenteuern und vergaß nicht, besonders da Henrik nicht dabei war, seine unglaublichen Taten gebührend hervorzuheben.
   »Det war ne vornehme Sache bei die jelbe Durchlaucht Exzellenz, det kann ick euch aber sagen. Jold un Silber un Diamanten, det lag nur so haufenweise rum, und Elefanten und Rhinozerosse und Kamele jingen man so in den Jarten spazieren, un uff alle Bäume saßen dressierte Papageien un sangen die schönsten Arien. Aber fein, det könnt ihr jlooben. Mit die alte Durchlaucht hatte ick mir so befreundet, det sie mir zum Geheimrat oder so wat machen wollte, ich lehnte et aber ab, weil ick doch wieder nach Hause muß. Als ich aber nu schließlich eine janze Schlacht jewonnen hatte, da hat er mir mit Tränen in de Oogen seinen höchsten Orden verlihen, erste Jlasse am blauen Band um den Hals. Un die um den Hals det sin die richtigen.«
   Matrosen sind Freunde von wunderbaren Begebenheiten und erzählen gerade solche mit Vorliebe, die des märchenhaften Charakters nicht entbehren, die letzten Schilderungen des Schneiders erschienen ihnen indessen doch zu bunt.
   »Na, Sneffter«, sagten die einen, »wenn wi di dat all gläuwen söllt, dann lat us doch den Orden 'n beten ankieken.«
   Würdevoll zog Fritz seinen Ring, den er an einer starken Schnur um den Hals und auf der Brust verborgen trug, hervor und zeigte ihn den über die Pracht des Steines erstaunten Leuten.
   »Dat is awer 'n Ring.«
   »Det is uff Lombok der Diamantenorden erster Klasse und verleiht den erblichen Adel.«
   »Donderslag, dann bist du ja een von de Barons?«
   »Det will ick meenen.«
   So wenig die Matrosen den Erzählungen des drolligen Schneiders, der bei ihnen seiner Anspruchslosigkeit und Gefälligkeit wegen sehr beliebt war, Glauben schenkten, so sehr imponierte ihnen der Ring, dessen Wert einige von ihnen annähernd zu schätzen wußten.
   »Donnerkiel, so 'n Orden wulld ick ook woll hewwen.«
   Nachdem sie das Schmuckstück genügend bewundert, fragte einer der Leute: »Wat is denn dat vor'n Kirl, den Ji an Bord bracht hewwt?«
   Fritz war sich dessen, was ihm Henrik eingeschärft hatte, bewußt. Henrik wollte nicht haben, daß Steffen ein Gegenstand unpassender Neugierde oder gar roher Scherze würde, und deshalb sollte der Zustand, in welchem sie ihn gefunden, der Mannschaft verborgen bleiben.
   Fritz sagte deshalb nur: »Das ist ein schiffbrüchiger Matrose, der mit uns fahren will.«
   Damit waren die Leute zufrieden, denn daß er ein Seemann war, hatten sie in der Art, wie er an Bord stieg, erkannt.
   Auf dem Vorderdeck hatte sich, während die Matrosen mittschiffs um Fritz herstanden, eine wundersame Szene abgespielt. Martin, der alte Matrose, der immer noch aushilfsweise den Steuermann während der Wache vertrat, hatte dem Schneider eine Zeitlang zugehört und war dann nach vorn gegangen, um sich den Fremden näher zu betrachten. Steffen hatte sich am Fuß des Gangspills niedergelassen und sah nachdenklich vor sich hin. Der Ausdruck seiner Züge war, seitdem er die Insel verlassen und wieder unter Menschen, unter seinesgleichen weilte, ein anderer geworden. Die träumerische Stumpfheit war von seinem Gesicht gewichen und hatte einem Ausdruck von Intelligenz Platz gemacht, der, wenn Henrik mit ihm sprach und Erinnerungen in ihm wachzurufen suchte, lebendiges Geistesleben erkennen ließ.
   Martin musterte den gebräunten, narbigen Burschen, der da vor ihm saß, von oben bis unten. Steffen, der sinnend ins Weite gesehen hatte, richtete das Haupt auf und blickte mit seinen blauen Augen Martin gerade an.
   Dieser zuckte zusammen, als ob er einen elektrischen Schlag bekommen hätte, und starrte den Mann fast fassungslos an. Dann holte er tief Atem und sagte: »Bist du Korl Steffen, min Backkamrad von datomalen?«
   Nach einer Weile entgegnete der Angeredete, dessen Blicke forschend auf Martins Gesicht weilten: »Ich bin Karl Steffen aus Finkenwerder.«
   »Herr und Gott, dat gifft doch noch Wunners! Korl, Korl, kennst du mi denn nich mehr?«
   Immer noch war das Auge Steffens fragend auf Martins Züge gerichtet.
   »Karl, besinn di – wie makten tausamen use erste Fohrt upde ›Anna Marie‹, weeßt noch? Wo oft sün wie tosamen segelt – besinn di.«
   Als Steffen immer noch nicht antwortete, seufzte Martin: »Ach du leiwe God, ick gläuw, de Kirl is dösig.«
   Gleich darauf aber fuhr er wieder fort: »Weest du noch, min Jung, as wi mal seekrank weeren und halfdod in use Kojen leegen, und de Stürmann keem mit dat Tauende un bracht us dormit an Deck? Ick seh di no upalle vör uppentern.«
   Da lachte Steffen still in sich hinein, das Bild, welches jener zurückzurufen sich bemühte, mochte wohl vor seinem Geist aufgestiegen sein. Er sah Martin wieder an, stand auf, legte die Hände auf seine Schultern, blickte ihm treuherzig in die Augen, und dann kam es leise von seinen Lippen: »Jetzt weiß ich's – du bist Martin Härting von Ritzebüttel, mein alter Maat.«
   »Jonge! Jonge! Wi mi dat freut, dat du mi nu all wedderkennst!«
   Findling und Henrik waren auf Deck erschienen, hatten Martin eifrig auf Steffen einredend erblickt und den letzten Teil ihrer Unterredung mit angehört. Der Kapitän rief Martin an. Gehorsam schritt dieser zu ihm.
   »Oh, Kapitän«, sagte Martin, der, wenn er mit Findling sprach, in sein aus allen niederdeutschen Dialekten gemischtes Schifferplattdeutsch auch gar noch Hochdeutsch einfließen ließ, »der Mann ist en ohlen Schiffskamerad von mir, den ich lange für tot hielt – oh, et ist ganz merkwürdig. Ich habe ihm gleich erkannt, trotz der Jahre, die twischen liegen – und he besann sich jetzt auch auf mi. Min God, wer harr dat woll dacht!«
   Findling nahm ihn beiseite und teilte ihm mit, unter welchen Umständen Karl Steffen unter Menschen zurückgekehrt sei, und wie es deswegen sowohl der Verschwiegenheit, als der vorsichtigen Behandlung des Mannes bedürfe, um seinen Geist wieder ganz erstarken zu lassen.
   Betroffen vernahm dies Martin.
   »Awer dösig is hei nich, hei hedd mi kennt.«
   Er versprach, den Mann ruhig seiner Wege gehen zu lassen, und bat nur, ihn seiner Wache zuzuteilen. Dies wurde ihm zugesagt.


   Point de Galle

   Yenrik war über die Begegnung zwischen Steffen und Martin hocherfreut, bildete die Jugendfreundschaft zwischen beiden doch eine neue starke Brücke von der Vergangenheit zur Gegenwart herüber.
   Findling ließ zur Feier des freudigen Ereignisses der Wiederkehr der beiden jungen Leute der Mannschaft einen Extragrog reichen. Bald fügte sich alles wieder in die gewohnte Ordnung. Henrik tat Dienst in der Steuerbordwache, Steffen wurde der Mittelwache zugeteilt, und der durch seine abenteuerlichen Erlebnisse höchlich aufgeblasene Schneider flickte wieder die Jacken und Hemden der Mannschaft, wenn auch nicht gerade mit Behagen. Mit günstigem Wind liefen sie nordwärts auf Point de Galle zu.
   Steffen, der freundlich, aber schweigsam einherging und seine Arbeit tat, stand bald durch seine Geschicklichkeit und ungewohnte Muskelkraft bei der Mannschaft in hoher Achtung. Martin behandelte ihn, durch Findling und Henrik angeleitet, mit großer Klugheit. Er sprach, wie es die Gelegenheit bot, von ihrer gemeinsamen Vergangenheit, ohne nach seinen Schicksalen zu fragen, und behandelte ihn im Dienst, den Steffen freilich fast instinktiv in allen seinen Einzelheiten noch inne hatte, als ob jener nie das Deck eines Schiffes verlassen hätte. Martin entsann sich sehr gut, daß Steffen unter Kapitän Horsa mit dem »Admiral« ausgefahren und mit diesem verschollen war. Einen gewaltigen Eindruck machte es auf ihn, als er erfuhr, wo die Mannschaft des »Admiral« geendet hatte, und daß Steffen als einziger Überlebender der Wächter des Grabes gewesen war, in dem sein Kapitän und seine Schiffskameraden schliefen.
   »Hier, Henrik«, sagte er wieder in seinem eigentümlichen Gemengsel von Hoch und Platt, »is en verruchtes Verbrechen begangen worden! Aber der liebe Gott hat Sie nicht umsonst an das Grab Ihres Vaters föhrt und Karl finden laaten. Der Tag der Vergeltung für das vergossene Blut wird kommen, gläuwen Se mi man!«
   Er erzählte auch von Steffen, daß er sich schon früh durch Geschicklichkeit und außerordentliche Körperkraft sowie durch kindliche Gutmütigkeit ausgezeichnet habe; daß es sehr schwer gewesen sei, ihn zum Zorn zu reizen; war das aber geschehen, dann hätte man allen Grund gehabt, ihn zu fürchten.
   Bemerkenswert war es, daß Steffen jetzt oft auf ein Gespräch über gemeinsame Jugenderlebnisse mit freudiger Erinnerung einging, dagegen über den Untergang des »Admiral« und sein Leben auf der Insel tiefes Schweigen bewahrte.
   Für Henrik zeigte er eine Hingebung, die wahrhaft rührend war. Hatte jener oben etwas zu tun, und Steffen war gerade frei, so zeigte dieser sich sofort bereit zu helfen oder ihm die Arbeit abzunehmen, so daß Henrik sich oft genug dagegen wehren mußte.
   Für einen Seemann wie Findling war der als Waldmensch aufgefundene Matrose ein Gegenstand hohen Interesses. Er beobachtete ihn, soweit es seine Stellung zuließ, fortwährend und gewahrte mit Freuden, wie ruhig und sicher er im Dienst war. So hatte er ihn nach der Reihe der Mannschaftsordnung auch an das Steuer treten lassen, freilich nicht ganz ohne Besorgnis; aber Steffen entwickelte auf diesem besonders verantwortlichen Posten in so hohem Grad die gewissenhafteste Aufmerksamkeit und seemännische Geschicklichkeit, daß bei Findling jede Befürchtung schwand. Es war ganz augenscheinlich, daß der stille Mensch sich in der altgewohnten Umgebung langsam aber sicher selbst wieder fand. Der geheimnisvolle Untergang des »Admiral« an einer unbewohnten Insel erregte auch in Findling den lebendigen Wunsch, die nähern Umstände kennenzulernen, die zu diesem Unglück führten, doch mußte man die Aufklärung, mit Rücksicht auf Steffen, späterer Zeit überlassen.
   Nach einer ruhigen Fahrt lief der »Roland« in den geräumigen Hafen von Point de Galle ein. Schiffe aller europäischen Nationen ankerten vor diesem bedeutenden Handelsplatz und zwischen ihnen chinesische Dschunken, Fahrzeuge aus indischen Gewässern und die eigenartigen Schiffe der Araber, welche – beiläufig bemerkt – noch immer ein sogenanntes lateinisches, das ist dreieckiges Segel führen. Ein buntes Gemisch von Singalesen, Chinesen, Indern, Malaien, Arabern, Negern, in allen möglichen Farbenabstufungen, vom leichten Gelb bis zum dunkelsten Schwarz, belebte Hafen und Quais, und ein Sprachengewirr herrschte, welches an den Turmbau zu Babel erinnerte.
   Kaum hatte der Hafenoffizier dem Schiff seinen Platz in der Reihe der andern angewiesen, kaum war der »Roland« festgelegt worden, als auch schon der Agent des Hauses Oswald & Co. an Bord erschien. Findling stellte sich ihm als den derzeitigen Befehlshaber des Schiffes vor und gab einen kurzen Bericht über das Ende Kapitän Jansens.
   Der Agent, ein Herr Spieß, der die ausgedehnten Handelsverbindungen des Hauses auf Ceylon zu überwachen und den Verkehr mit den einheimischen Handelshäusern zu vermitteln hatte, war ein noch junger Mann, von magerer, kleiner Gestalt und einem Gesicht, welches lebhaft an Reineke Fuchs erinnerte. Die zurückliegende Stirn, die vorstehende schmale und lange Nase, das spitze Kinn, die kleinen, funkelnden, dunkeln Augen riefen bei jedem Beobachter diesen Vergleich hervor. Klugheit und Verschmitztheit lagen in diesem Gesicht, dessen gelbliche Farbe nicht auf gute Gesundheit schließen ließ, während die ziemlich stark gerötete Nase auf den häufigen Genuß geistiger Getränke hinzudeuten schien. Er war in einen sehr eleganten hellen Anzug gekleidet und hatte verbindliche Manieren. Herr Spieß kam mit einer gewissen Hast an und seine erste Frage war, ob ein Superkargo oder sonst ein Bediensteter der Firma vom Kontor an Bord sei. Als diese Frage verneint wurde, nahm er sofort eine ruhigere Haltung an. Die Geschäfte zwischen ihm und Findling waren rasch erledigt. Die Konnossemente gaben genau an, was gelandet werden sollte, und des Herrn Spieß Sache war es, den »Roland« nach Auftrag des Hauses zu beladen. Er forderte Findling noch auf, während dessen Aufenthaltes in Point de Galle sein Gast zu sein, was dieser aber höflich ablehnte.
   Am andern Tag begab sich Findling zum Konsul, um amtlichen Bericht über die Vorgänge an Bord und den Tod des Kapitäns abzustatten. Nachdem ein Protokoll aufgenommen war, führte der Konsul, Herr Peters, Findling in sein Privatgemach. »Oswalds haben mir da eine absonderliche Aufgabe zugewiesen, die Ermittlung der Abreise meines Vorgängers Isenhoit betreffend«, sagte der Konsul, nachdem sie sich niedergelassen hatten. »Sie sind von dem, was zu erforschen wäre, unterrichtet?«
   Findling teilte mit, was ihm aus den Papieren des Kapitäns über die Sache bekannt geworden war.
   »Ich habe die Akten des Konsulats und die amtlichen Hafenregister zu Rate gezogen, bisher aber nur feststellen können, daß Isenhoit im Juni des Jahres 1854, begleitet von seinem kleinen Sohn, dessen Wärterin und einem Diener, mit der Bark ›Elisabeth‹ von hier abgesegelt ist; diese Bark ist im Atlantischen Ozean verschollen. Kurz vorher war ein spanisches Schiff, der Schnellsegler ›Gallego‹, nach Cadix in See gegangen. So weit stimmt also die Aussage des Evers. Ob der ›Gallego‹ zu jener Zeit ebenfalls zugrunde gegangen, habe ich noch nicht ermittelt, doch erwarte ich darüber Nachricht von den spanischen Behörden, an die ich mich brieflich gewandt habe. Außeramtliche Nachforschungen haben zu keinem greifbaren Resultat geführt. Von den jetzt hier lebenden Deutschen war keiner zu jener Zeit in Point de Galle anwesend, Europäer halten an diesem ungesunden Platz nicht lange aus. Ich habe einige der ehemaligen Diener Isenhoits ermittelt, Eingeborene; aber die wissen weiter nichts, als daß ihr einstiger Herr mit einem großen Schiff davonfuhr. Nur ein hier lebender Malaie, der eine Schenke für Seeleute hält und mit den Matrosen allerlei mehr oder minder ehrenwerte Geschäfte macht, der auch Isenhoit gelegentlich als Makler gedient haben will, entsann sich, daß der Konsul mit einem andern Schiff abgesegelt sei, als dem ursprünglich bestimmten, und zwar weil er Nachrichten aus Deutschland bekommen hatte, die seine baldige Anwesenheit dort wünschenswert machten. Er hätte deswegen das früher in See gehende und schnellere Schiff benutzt. Ob es ein Spanier gewesen sei, wußte der Mann nicht mehr; indessen ist die Aussage dieses Malaien so verworren, daß man keinen besondern Wert darauf legen kann. Über die Hamburger Matrosen Evers und Werner geben die Konsulatsakten nichts an. Freilich will das, da ein Teil des Archivs durch Feuer zerstört worden ist, nicht viel sagen. Für die Behauptung des Evers spricht also nur die Aussage Ali Tungas, des Malaien, den Sie ja selbst vernehmen können; er haust unten am Hafen und spricht ganz gut Englisch.«
   Aus all dem glaubte Findling entnehmen zu können, daß die Aussagen des Evers doch wohl auf Wahrheit beruhen mußten, so verwunderlich es auch war, daß sich weder hier noch in Deutschland Aufzeichnungen oder Briefe vorfanden, aus denen hervorging, ob und wann der Konsul ein anderes Schiff, als das ursprünglich bestimmte, zur Heimreise benutzt habe. Wenigstens aber dienten diese spärlichen Nachrichten dazu, seine Fahrt nach dem Schatz weniger aussichtslos zu machen. Den Malaien wollte er aufsuchen. Konsul Peters, dem Findling sehr gefallen hatte, bat ihn, sein Haus als sein eigenes zu betrachten, er sei jederzeit willkommen.
   Als Findling an Bord zurückkam, fand er Henrik an Deck eifrig einem eben einlaufenden englischen Dampfer nachschauend, der in der Nähe des »Roland« vorbeigestrichen war.
   »Nun, was hat denn der Steamer Bemerkenswertes?« fragte Findling.
   »Wenn es jemals einen Doppelgänger gegeben hat so dürfte er dort an Bord sein. An jenem Hinterdeck stand ein Mann, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit meinem Vetter Onno hatte.«
   »Der Engländer kommt über Singapore von China, Junge, und von der Seite dürfte dein Verwandter schwerlich anlangen.« Findling schlug dann vor, später an Land zu gehen, um Wäsche und Kleider für ihn einzukaufen, was Henrik sehr angenehm war.
   Das Schiff und die Leitung des Löschens und Ladens wurde Marholm überlassen. Ein Dutzend Malaien war für die Arbeit angeworben worden.
   Für den Abend hatte Findling beschlossen, das Lokal des Malaien Ali Tunga aufzusuchen, und Henrik aufgefordert, ihn zu begleiten.
   »Du bekommst in einer solchen Spelunke, hier, wo sich Asien und Europa ein Stelldichein geben, ein gutes Stück Welt zu sehen.«
   Natürlich sagte Henrik vergnügt zu.
   »Kennst du übrigens«, fuhr er, während sie an Deck im Schatten des Sonnensegels hin und her schritten, fort, »den Namen Isenhoit?«
   Höchlichst erstaunt blickte Henrik bei dieser Frage zu ihm auf.
   »Oh, gewiß.«
   »Hast du von einem Konsul Isenhoit etwas gehört, der vor Jahren hier amtlich tätig war?«
   »Auch das. Aber verzeihen Sie, Herr Findling, wie kommen Sie zu dieser Frage?«
   »Davon nachher. Was weißt du von diesem Isenhoit?«
   »Er ist vor Jahren – wie lange es her ist, weiß ich augenblicklich nicht – auf der Rückfahrt nach Europa untergegangen. Seine Witwe ist die teure Freundin meiner Mutter, und sie weint noch heute um den Gemahl und ihr Kind, die beide das Meer verschlang.«
   »Sind die Isenhoits reich?«
   »Sie waren einst begütert und gehören zu den ältesten Geschlechtern Hamburgs; auch der Konsul, der, wie ich glaube, der Letzte der Familie im Mannesstamm war, dürfte mindestens wohlhabend gewesen sein. Doch ist sein Vermögen mit ihm zugrunde gegangen.«
   »Also seine Witwe lebt noch?« fragte Findling gedankenvoll.
   »So hoffe ich.«
   »Und ist sie arm?«
   »Ich fürchte, sehr arm.«
   »Hm. Weißt du, wo der Konsul zugrunde ging?«
   »Im Atlantischen Ozean mit der Vark ›Elisabeth‹.«
   »Das hast du von Frau Isenhoit?«
   »Aus ihrem Munde.«
   »Wo war denn die Frau, während ihr Mann auf See sich befand? Wenn du des Konsuls Gattin kennst und sie sogar mit deiner Mutter befreundet ist, bist du ja wohl über diese Verhältnisse unterrichtet.«
   »Frau Isenhoit war nach Deutschland geeilt, weil ihre Mutter schwer erkrankte, und hatte Mann und Kind, einen Säugling, hier zurückgelassen. Erst nach geraumer Zeit folgte ihr der Konsul, der, nachdem er seine Geschäfte abgewickelt hatte, sich wieder im Vaterland niederlassen wollte. Vater und Kind versanken im Meer und mit ihnen auch das Vermögen, welches der Konsul, der ein Kenner war, vorteilhaft in Edelsteinen angelegt hatte.«
   Die Gattin war also, so mußte sich Findling sagen, jedenfalls der Überzeugung, daß Isenhoit auf der »Elisabeth« gesegelt sei. Nach Deutschland war also keine Kunde gelangt, nach welcher der Konsul das Schiff gewechselt habe. Über den Grund, welcher ihn veranlaßte, nach Isenhoit zu fragen, ließ er sich Henrik gegenüber nicht aus, so sehr dieser auch begierig war, zu erfahren, wie Findling dazu gekommen sei, so ganz unerwartet den ihm wohlvertrauten Namen zu erwähnen. Findling ließ überhaupt das Thema fallen.
   Die Mannschaft hatte Erlaubnis erhalten, an Land zu gehen, bis auf zwei Matrosen, welche der Wachtdienst auf dem Schiff erforderte. Karl Steffen, dem das rege Getriebe am Hafen wenig angenehm zu sein schien, hatte keine Lust bezeigt, das Schiff zu verlassen, und Martin, der sich aus den Freuden, welche die Wirtshäuser am Strand boten, wenig machte, war bei seinem Freund geblieben. Aufgefallen war allen der starke, mit Zorn gemischte Widerwille, den Steffen äußerte, als die malaiischen Arbeiter an Bord kamen. Es schien, als ob er jeden Augenblick auf sie losstürzen wollte und nur mit Mühe diesen ungestümen Drang bändige. Der »adelige« Schneider mit dem Lombokschen Orden, den Findling nicht mitnehmen wollte, war von einigen der jüngern Matrosen ins Schlepptau genommen und an Land geführt worden.
   Findling ging mit Henrik gleichfalls ans Land, um ihm die Stadt und ihre Umgebung, die er selber schon kannte, zu zeigen. Die Vegetation Ceylons ist ebenso großartig wie artenreich und anmutig. Sie übertrifft hierin alles, was die Tropen in dieser Hinsicht aufzuweisen haben. Henrik war erstaunt über die hier zahlreich vorhandenen herrlichen Exemplare von Palmen, Tamarinden, von der überreichen Fülle pflanzlichen Lebens, wie sie die Umgebung der weit ausgedehnten Stadt bot. Bananen, Frucht– und Blütenbäume füllten anmutige Gärten oder überschatteten zierliche, luftige Landhäuser, welche den Europäern als Heim dienten.
   Der Spaziergang im Schatten dieser Bäume, in der von köstlichen Düften geschwängerten Luft, war so anregend und unterhaltend gewesen, daß die Nacht hereinbrach, ehe Findling und Henrik an die Heimkehr dachten. Die Nacht kommt plötzlich in jenen Breiten und hüllt alles in tiefen Schatten, wenn der Mond nicht am Himmel steht.
   Unbekannt mit den Wegen, welche nach Point de Galle führten, sahen sie sich nach einem Hause um, bei dessen Bewohnern sie sich Auskunft holen konnten. Unfern erblickten sie die bereits erleuchtete Veranda eines Landhauses, gingen darauf zu und traten in den das Haus umgebenden Garten. Näherkommend, gewahrten sie auf den Stufen der Treppe, welche zu der Veranda führte, ein altes Singalesenpaar; Mann und Weib saßen da traulich beieinander. Als der hochgewachsene blonde Findling, dessen stattlicher Gestalt der helle, elegante Sommeranzug etwas Vornehmes verlieh, aus dem Schatten der Büsche in das Lampenlicht trat, starrten ihn die Eingeborenen, augenscheinlich Diener des Hauses, gleich einer Geistererscheinung an.
   Es lag ein solcher Ausdruck von Schrecken in den dunkeln Gesichtern, in den weit aufgerissenen Augen, daß Findling stehen blieb, um die Leute nicht etwa zu verscheuchen.
   »Der Konsul!« sagte der Mann mit bebenden Lippen in englischer Sprache, und »der Konsul!« wiederholte zitternd die Frau. Deutlich vernahmen es Findling und Henrik. Dann erhoben sich die beiden Alten und liefen wie von Entsetzen geschüttelt in das Haus hinein.
   Unsere Seeleute wunderten sich über dieses sonderbare Benehmen der Singalesen, welches sie dem Eindruck zuschrieben, den ihr unerwartetes Erscheinen hervorgerufen hatte; eben wollten sie sich wieder entfernen, als eine junge Dame aus dem Innern des Hauses auf die Veranda trat und forschend in den Garten sah. Findling trat sofort vor, nahm den Hut ab und sagte: »Wir müssen um Entschuldigung bitten, Miß, daß wir hier als Eindringlinge erschienen sind. Wir haben auf einem Spaziergang den Weg verloren und wollten nur bitten, uns die Richtung anzugeben, in welcher wir die Stadt zu suchen haben.«
   Auch Henrik war näher zu der Veranda getreten.
   Die Dame, welche anfänglich etwas wie Schreck nicht zu verbergen vermochte, war durch die Anrede Findlings, sein männlich schönes Äußere und durch sein offenes, ehrliches Antlitz augenscheinlich beruhigt. »Sie haben unsern alten Sadil und seine Frau nicht wenig in Furcht gesetzt«, entgegnete sie mit einem freundlichen Lächeln, »doch bitte, kommen Sie herauf.«
   Findling und Henrik betraten die Veranda, deren offene Tür in elegant eingerichtete und wohlbeleuchtete Gemächer führte. Ersterer stellte sich, seinen Namen nennend, als Kapitän des im Hafen liegenden »Roland« vor und Henrik als seinen Steuermann, zugleich seine Entschuldigung wiederholend und seine Bitte erneuernd.
   Höflich entgegnete die junge Dame: »Sie befinden sich in der Behausung Mr. Johnsons, meines Vaters, Sir, und ich will Ihnen gern einen Diener mitgeben, der Sie bis zur großen Straße führt. Sie haben dann die Stadt vor sich. Mein Vater ist leider nicht zu Hause und kann Sie nicht bewillkommnen.«
   »Sie sind überaus gütig, Miß, und wir Ihnen sehr verpflichtet.«
   »Was mag die beiden Alten nur so sehr erschreckt haben?« fragte Miß Johnson. »Sie waren ganz außer sich und riefen: ›Ein Geist – der Konsul sei ihnen erschienen.‹ Ich kann mir das nicht anders erklären, als daß Ihr Äußeres zufällig eine Erinnerung an vergangene Zeiten bei den alten Leuten hervorruft.«
   »Das Benehmen Ihrer Diener war in der Tat höchst merkwürdig, doch so, wie Sie sagen, erklärt es sich vielleicht; freilich fehlt mir jede Ahnung, wem ich das Glück oder Unglück habe, ähnlich zu sehen.«
   »Wir«, entgegnete Miß Johnson, »bewohnen dieses Haus erst seit wenigen Jahren, aber Sadil und seine Frau dienen hier seit langen Zeiten seinen wechselnden Besitzern oder Mietern.«
   Hinter einer Glastür erschienen die ängstlichen Gesichter des braunen Paares, und die großen Augen hafteten mit schreckenvollem Staunen an Findling.
   »Kommt nur heraus, ihr Hasenherzen«, sagte die Dame, »und überzeugt euch, daß kein Grund vorhanden war, davonzulaufen. Diese Herren wollen nur nach dem Weg fragen.«
   Zögernd, immer die Blicke auf Findling gerichtet, kamen sie hervor, halb scheu, halb neugierig. Der Mann beugte das mit dem weißen Turban bedeckte Haupt ehrerbietig vor dem Kapitän und sagte in durchaus verständlichem Englisch: »Oh, verzeih Fremder – verzeih, ich und Hami dachten, als wir dich erblickten, der Konsul sei aus seinem Grabe gestiegen und käme zurück zu uns. Oh, wir liebten ihn sehr, er war sehr gut.«
   »Von welchem Konsul sprichst du, Sadil?« fragte Miß Johnson.
   »Oh, vom Konsul, Herrin, von unserm Konsul. Er war bei uns hier im Hause, als wir jung waren, Hami und ich, und wir waren seine Diener.«
   »So hat dieser Herr Ähnlichkeit mit ihm? Wie hieß denn dein Konsul mit Namen?«
   »Er hieß nur Konsul, und dieser Herr sah aus wie er – ganz so; darum erschraken wir sehr, Herrin, als er plötzlich aus den Büschen trat. Und die liebe Mistreß und klein Baby, kleine Henry ihn sehr lieb gehabt. Lange her, Hami war ganz jung damals, aber nicht vergessen.«
   »Sie sehen, Herr, wie sich Ihr Doppelgänger in die Herzen von Sadil und Hami eingeschrieben hat. Wenn mich Ihre Aussprache nicht täuscht, sind Sie ein Deutscher; haben vielleicht Verwandte von Ihnen hier gewohnt?«
   »Nein, Miß«, entgegnete Findling, der auf ihm selbst unerklärliche Weise von dem, was er hier hörte und sah, sehr erregt wurde, »ich habe wohl kaum Verwandte auf dieser Insel gehabt, wenigstens«, setzte er nicht ohne schmerzliche Empfindung hinzu, »weiß ich nichts davon.«
   »Sie müssen indessen dem Konsul, von dem diese beiden sprechen, ganz außerordentlich ähnlich sehen. Was ist denn aus deinem Konsul geworden, Sadil?«
   »Oh, Miß Mary – er gehen auf See mit kleinem Baby – da ganz ertrunken. Wir sehr geweint, als wir das hörten, Hami und ich – ihn sehr liebgehabt. Anfangs wir denken, der Geist von Konsul kommen uns besuchen, jetzt denken, du Sohn von Konsul, Sir. Du nicht Sohn von Konsul?«
   Die Erregung in des Kapitäns Seele steigerte sich. Allmächtiger Gott, dachte er, der auf dem Meer gefundene, elternlose Findling, wenn hier eine Spur entdeckt wäre, die auf meine Abkunft hindeutete?
   Auch Henrik, dem der ältere Freund in einer weichen Stimmung mitgeteilt, in wie rauher Weise ihn das Schicksal behandelt hatte, war von dem ganzen Vorgang bewegt und fühlte mit Findling.
   Mit unsicherer Stimme sagte dieser dann: »Dies alles ist so außerordentlich, erregt meine Teilnahme in so hohem Grad, daß ich um die Erlaubnis bitte, meinen Besuch wiederholen zu dürfen, um zu erfahren, von wem Ihre Diener sprechen, mit wem ich eine so auffallende Ähnlichkeit habe.«
   »Meine Eltern werden sich freuen, Sie hier zu sehen«, erwiderte Miß Johnson mit liebenswürdiger Höflichkeit.
   Findling bat um einen Wegweiser, und nachdem er sich die Lage des Hauses hatte bezeichnen lassen, verabschiedete er sich. Er und Henrik wurden von dem alten Singalesen mit einer Laterne zu der beleuchteten großen Straße geführt, auf der sie bald Point de Galle vor sich sahen.
   Als Sadil heimkehrte, sagte seine Frau zu ihm: »Ich denke, Sadil, dies Gentleman kleiner Henry, Gott ihn retten aus der See, er ganz wie Konsul.«
   »Es ganz gut möglich sein, Gott sehr mächtig und tut viel Wunder.«
   Dann schlug er sich vor den Kopf, als ob ihm plötzlich etwas einfiele.
   »Der Chinese, weißt du, der Chinese machen kleine Henry blaues Zeichen auf Arm, sagte, wäre Glückszeichen. Konsul noch so sehr böse, weißt du, Chinesen gleich fortjagen. Wenn dieser Mann kleine Henry – er muß haben Zeichen auf Arm – ihm oft gesehn, er ganz blau.«
   »Ihn fragen, Sadil, er nicht übelnehmen; kleine Baby doch sehr liebgehabt.«
   Findling und Henrik schritten schweigend in tiefen Gedanken die Straße entlang. Dem Kapitän klopfte das Herz heftig. Mit wem hatte er Ähnlichkeit, und eine solche Ähnlichkeit, daß sie noch nach so langen Jahren auf diese beiden Leute wirkte? Welcher Konsul war mit seinem Kinde im Meer ertrunken?
   Sein Inneres war in wildem Aufruhr, und so heiß er wünschte, hier Aufklärung über das Geheimnis seines Lebens zu erlangen – er wagte es nicht zu hoffen – zu groß wäre das Glück gewesen. Und doch hatte er in den Wechselfällen des Seelebens früh die Einsicht erlangt, daß das Leben oft viel wunderbarere Erscheinungen bietet, als der phantasiereichste Romanschriftsteller sie erfinden kann. Aber er wagte nicht zu hoffen, um keine Enttäuschung zu erleben.
   Henrik, dem der Vorgang im Hause Mr. Johnsons eine jener geheimnisvollen Fügungen deuchte, wie sie oft genug des Menschen Schicksal bestimmen – hatte doch dieselbe unbegreifliche Macht ihn zum Grabe seines Vaters geführt – wälzte allerlei bunte Gedanken und Vermutungen durch das Hirn, doch wollte er ihnen nicht Worte leihen, nicht das Schweigen unterbrechen.
   Als sie die erleuchteten Straßen der Stadt betraten und sich dem Hafen zuwandten, sagte der Kapitän: »Laß uns jetzt den Malaien aufsuchen, Henrik, ich möchte ihn doch noch sprechen.«
   Von einem Hafenarbeiter ließen sie sich zu dem Wirtshaus Ali Tungas führen.
   Ein niedriges Gebäude, von Veranden umgeben und von Palmen überschattet, an welches sich ein mit Papierlaternen erleuchteter Garten anschloß, wurde ihnen als das gesuchte Haus gezeigt.
   Die luftigen Vorhallen waren gefüllt mit zechenden Matrosen aller europäischen Nationen, ebenso der Garten. Chinesen und Singalesen liefen aufwartend zwischen den Gruppen umher, und es herrschte ein wüster Lärm.
   Da sich Findling nicht zwischen die Matrosen setzen wollte, sah er sich nach einem Diener um, der ihm einen besondern Platz anweisen könne.
   Während er so, hell beleuchtet von den Laternen und den in Pfannen brennenden Lichtern, um sich blickte, tauchte plötzlich ein kleiner, breitschulteriger, nach Malaienart gekleideter Bursche vor ihm auf, der ihn aus dunkeln Augen mit tigerhafter Wut anblickte.
   Gleichzeitig sah ihn aber auch Findling. Die Brauen finster zusammenziehend und die Faust ballend, rief er: »So lewst du ook noch, min Jong?«
   »Oh, Steuermann«, sagte der Malaie englisch in heiserm Ton, »bist du da – nun, hier wirst du Amea nicht schlagen.«
   Er schien im Gürtel mit der Hand nach dem Messer zu suchen, und es lag etwas in der Haltung des Menschen, das an eine sich zum Sprung bereitende Katze erinnerte.
   Mit kühler Ruhe, aber den Malaien und jede seiner Bewegungen fest im Aug behaltend, hatte Findling den mitgeführten Revolver schußfertig gemacht: »Wenn du nicht eine Kugel vor den Kopf haben willst, meuterischer Schuft, dann bleibe mir aus dem Weg.«
   Henrik trat an Findlings Seite, und einige nicht weit sitzende Matrosen erhoben neugierig die Köpfe, um nach den Männern hinzusehen. Dies mochte den häßlichen braunen Burschen veranlassen, den Rückzug anzutreten. Mit einem Blick von unvergleichlicher Tücke zischte er: »Hüte dich!« und verschwand gleich darauf im Dunkel. Ruhig rief Findling, ohne des Burschen weiter zu achten, einen der bediensteten Singalesen an und fragte ihn, ob er für ihn und seinen Begleiter einen Platz habe, an dem sie ungestört weilen könnten.
   Der Singalese führte sie in das Haus hinein zu einer kleinen hochgelegenen Veranda, welche nach dem Garten hinaus lag, auf der sie sich allein befanden.
   Während der braune Bursche die bestellte Limonade holte, machten sie sich's bequem. »Dieser Malaie«, begann Findling, »einer der verruchtesten Burschen, welche je auf See gefahren sind, hat die Lektion, welche ich ihm erteilte, in gutem Gedächtnis bewahrt. Auf unsern und den holländischen Indienfahrern lassen sich oft genug, wenn es den Kapitänen an Leuten fehlt, Malaien anwerben, die ganz gute Seeleute sind. Dieser Kerl, der sich eben Amea nannte, sonst aber verschiedene Namen führt, ich kenne ihn nur als John Devil, ist seit Jahren zwischen Hamburg und Indien gefahren, trotz der Konflikte, die er mit Kapitänen und Behörden gehabt hat. Doch sind diese braunen Gesellen für unser Auge schwer wieder zu erkennen. Der Schurke ist, wie ich jetzt weiß, zu jedem Verbrechen fähig, und vielleicht auch bereits eines jeden schuldig. In Hamburg sucht man diesen John Devil, alias Asang Tha, alias Henry William, alias Amea wegen Mordes. Ich hatte den Mann an Bord, als ich auf dem ›Blücher‹ nach Singapore segelte. Außer ihm waren noch zwei seiner Farbe vor dem Mast. Diese waren willig, aber der Schurke machte sie meuterisch, nebenbei stahl er auch wie ein Rabe. Dafür ließ ich ihn züchtigen und war von dem Augenblick an meines Lebens nicht mehr sicher. Eines Tages stürzte er in der ganzen tigerhaften Wut dieser Leute mit seinem Kris auf mich ein, ein Faustschlag streckte ihn nieder und belehrte ihn, wie gefährlich es sei, mit einem deutschen Seemann anzubinden. Der Kapitän ließ ihn nicht, wie ich beantragte, fesseln und einsperren, sondern er tat weiter Dienst, ging sogar ans Steuer. Und wäre ich nicht rechtzeitig in einer verhängnisvollen Minute an Deck, so hätte uns die rachsüchtige, tückische Bestie in der Malakkastraße auf ein Riff laufen lassen, an dem wir wie Glas zersplittert wären. Als ich ihm da zu Leibe wollte – ganz heil wäre er meinen Fäusten nicht entronnen – sprang er über Bord. Ich glaubte, er sei längst eine Beute der Haifische geworden. Nun«, setzte er gleichmütig hinzu, »kommt er mir wieder gefahrdrohend in den Weg, werde ich wohl dafür sorgen müssen, daß er unschädlich wird.«
   »Aber sollte man nicht die Behörde benachrichtigen?« meinte besorgt Henrik.
   »Pah«, entgegnete Findling, »Behörde – solchem Subjekt gegenüber ist sie machtlos, wenn es nicht auf frischer Tat gefaßt wird. Unter diesen Inselmalaien, die sich in den Hafenstädten und auf den europäischen Schiffen herumtreiben, ist viel Mordgesindel, aber sie sind bald hier, bald da, haben ihre Schlupfwinkel, verschwinden spurlos unter ihren Stammesangehörigen und sind daher nur selten zu fassen.«
   Der Singalese kam zurück und brachte die Limonade.
   »Sage deinem Herrn, Ali Tunga, daß ihn hier ein deutscher Schiffskapitän zu sprechen wünscht. Ich lasse ihn bitten, sich herzubemühen.«
   Der Diener verneigte sich und ging.
   Gleich darauf erschien ein grauhaariger brauner Herr, halb indisch, halb europäisch gekleidet, und verneigte sich mit orientalischer Höflichkeit. Sein feistes Gesicht trug den Ausdruck von Klugheit, ja Verschlagenheit.
   »Du hast befohlen, Herr?« fragte er, während seine Augen forschend auf seinen Gästen ruhten.
   »Ich wünschte einige Fragen an dich zu richten, Ali Tunga, und ließ dich deshalb durch einen deiner Diener herbitten.«
   »Der Herr frage«, entgegnete Ali; er sprach, wie Findling, englisch, und seine listigen Augen drückten Mißtrauen aus. Das kam vielleicht daher, daß er oftmals mit Schiffskapitänen ihrer Leute wegen in Berührung kam, was nicht selten für ihn von recht unangenehmen Folgen war.
   »Du bist vor Jahren mit dem Konsul Isenhoit bekannt gewesen, nicht wahr?«
   Das Mißtrauen verschwand bei dieser Frage aus den Zügen des Malaien. »So ist es, Herr«, antwortete er, und seine Augen ruhten auf Findlings Zügen, als suche er dort Aufklärung über die unerwartete Frage, oder als mute ihn im Wesen Findlings etwas Bekanntes an. »Bist du sein Verwandter?« frug er erstaunt.
   Dem Kapitän drang das Blut zum Herzen bei dieser Frage, aber er bezwang seine Erregung und entgegnete: »Wie kommst du zu dieser Frage?«
   »Weil du sagen ließest, du seiest ein Deutscher.« Immer noch ruhten seine Blicke forschend auf Findlings Gesicht. »Auch siehst du dem Konsul Isenhoit ähnlich.«
   Findling trank hastig ein Glas Limonade und fuhr dann in einem Ton, der seine innere Bewegung verriet, fort: »Unser jetziger Konsul hat schon einige Fragen wegen Isenhoits an dich gerichtet, und ich habe ein besonderes Interesse daran, von dir genaue Kunde über einige Umstände zu erhalten, die für uns sehr wichtig sind. Tu weißt, Konsul Isenhoit ist im Meer ertrunken, als er nach Deutschland reisen wollte.«
   »So hat Gott es gewollt.«
   »Entsinnst du dich nun, Ali Tunga, mit welchem Schiff er abgereist ist?«
   Der Malaie kratzte sich den grauen Kopf. »Ja, Kapitän, siehst du, früher wußte ich es ganz genau, aber es ist lange her, viele Jahre, und seitdem mich der Konsul gefragt hat und immer wieder gefragt hat, schiebt es sich mir ganz wirr im Kopf hin und her.«
   »Aber du weißt doch, daß er mit einem andern Schiff abgereist ist, als mit dem er anfänglich reisen wollte?«
   »Ja, Herr – es ist sicher – ein Schiff trug sein Gepäck – ja, das ist gewiß, das ließ ich selbst an Bord bringen, und mit dem andern Schiff reisten er und das Kind.«
   »Und er segelte früher ab, als das Schiff mit dem Gepäck?«
   »Ja, Sir, das kann wohl sein – er war in großer Eile – dessen entsinne ich mich noch. Er war ein sehr guter Mann und bezahlte mich immer reichlich; es tat mir leid, daß er fort ging.«
   »Die Sache ist die, aufzuklären, ob er mit der deutschen Bark ›Elisabeth‹ in See ging oder schon vorher mit einem spanischen Schiff?«
   »Wer kann das wissen? Ich verstehe eure fremden Namen nicht, auch ist alles so lange her; nur seiner Person entsinne ich mich noch, weil Haar und Bart golden waren. Als der Konsul mich nach ihm fragte, fiel es mir wieder ein; er war sehr gut gegen Ali Tunga. Ein Schiff trug sein Gepäck, ein anderes ihn selbst, aber ob das Gepäck vorher abging oder folgte, das, Herr, kann ich nicht sagen.«
   Der Mann wußte entschieden nicht mehr, als er berichtete, auch war es zu erklärlich, daß er nach fünfundzwanzig Jahren sich nicht auf Einzelheiten entsann, die ihn gar nicht interessiert hatten. Findling gab es auf, weiter zu forschen und richtete nur noch die Frage an ihn: »Weißt du, wo der Konsul Isenhoit damals gewohnt hat?«
   Der Alte sann nach und sagte dann: »Er hatte sein Office hier am Hafen, wo, weiß ich nicht mehr.«
   »Aber der Garten, in welchem er wohnte?«
   »Das weiß ich nicht; alle Konsuln wohnen vor der Stadt, wo, weiß ich nicht.«
   Findling entließ ihn mit einigen dankenden Worten. Er äußerte Henrik gegenüber nichts, was auf die eben geführte Unterredung Bezug hatte, und schien sehr nachdenklich zu werden. Endlich sagte er: »Die Wolke will sich nicht zerstreuen.« Er bezahlte darauf und schickte sich an, das Haus zu verlassen. Henrik erinnerte ihn an die Begegnung mit Amea.
   »Ja«, sagte Findling, »dieses Raubtier könnte mir auflauern, und ein Messerstoß ist hier leicht beigebracht. Wir wollen uns schützen, so gut es geht.«
   Er nahm seinen Revolver hervor und entfernte die Sicherung. Glücklicherweise trafen sie draußen einige Matrosen, welche an Bord zurückkehrten, und erreichten in deren Gesellschaft den Hafen, ohne von irgend jemand belästigt zu werden. Gleich darauf betraten sie das Deck des »Roland«.
   Findling sagte Henrik kurz gute Nacht und suchte seine Kajüte auf. In bewegter, freudiger Stimmung ging auch Henrik zur Koje.
   Im Laufe des Nachmittags des gleichen Tages ereignete sich eine besondere Szene im Kontor des Agenten der Firma Oswald. Herr Spieß lag bequem im Schaukelstuhl und rauchte behaglich seine Manila, als es anklopfte und auf seinen Hereinruf Onno Steenberg in tadelloser, sommerlicher Toilette eintrat.
   »Ich sehe Herrn Wilhelm Spieß vor mir?« fragte er verbindlich.
   »Allerdings«, entgegnete jener nachlässig, »wer erweist mir die Ehre?«
   »Ich bin der Bevollmächtigte des Hauses Oswald & Cie., mein Name ist Steenberg.«
   Mit einem unverkennbaren Ausdruck des Schreckens sprang Spieß empor. »Oh – sehr angenehm – ja, sehr angenehm«, sagte er. »Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen; Zigarre, ein Glas Limonade oder Tee gefällig? Oh, sehr angenehm.«
   Onno hielt die dunkeln, stechenden Augen fest auf den kleinen, sehr erregten Herrn gerichtet und antwortete nicht, was diesen noch mehr in Verwirrung brachte.
   »Wirklich sehr angenehm«, wiederholte Spieß mechanisch, »bitte, Platz zu nehmen.«
   Onno setzte sich mit einem fatalen Lächeln um seine Lippen.
   »Vielleicht Tee?«
   Er lehnte ab.
   »Sind in letzter Zeit Schiffe des Hauses hier gewesen?«
   »Gestern ist der ›Roland‹ eingelaufen.«
   »Oh, schon?« Die Augenbrauen Steenbergs zogen sich zusammen. »Der muß gute Fahrt gehabt haben.«
   »Wie man's nimmt«, und Spieß berichtete eilfertig, was er von Findling über die Vorgänge in der Südsee vernommen hatte.
   »So? Findling führt das Schiff? Hm! Ein blonder Hüne, nicht? Oh, das ändert vieles. Sie kennen seine Instruktionen?«
   »Soweit mir bekannt, nimmt der ›Roland‹ hier Kaffee und Zimt ein, läuft auf der Rückfahrt Massaua an und kehrt über Suez nach Hause zurück.«
   »So?« Onno erhob sich und ging einigemal im Zimmer auf und ab, während ihn Spieß angstvoll betrachtete. Der junge Mann richtete dann den Blick wieder auf das kleine Männchen vor ihm und sagte: »Ich komme von Hongkong und Singapore, wo ich unsere Agenturen inspizierte und allerlei merkwürdige Erfahrungen machte. Ich habe triftige Gründe, zu wünschen, daß meine Anwesenheit hier zunächst nicht bekannt werde – Sie werden später erfahren warum – nicht dem Konsul, nicht dem derzeitigen Führer des ›Roland‹, überhaupt niemandem. Verstanden?«
   »Wie Sie befehlen, Herr Steenberg.«
   »Es ist dies für das Gelingen eines besondern Geschäftes, mit welchem ich von der Firma beauftragt worden bin, dringend notwendig«, sagte er nachdrucksvoll.
   »Sie dürfen sich auf mein Schweigen verlassen.«
   »Ich hoffe das; es würde für Ihre Stellung nicht vorteilhaft sein, wenn meine Anwesenheit vor Abwicklung des Geschäftes bekannt werden sollte.« Er hielt inne und fuhr dann, Spieß scharf anblickend, fort: »Sie haben in der letzten Zeit starke Beträge auf das Haus gezogen?«
   »Ich kann von den Pflanzern nur gegen bar kaufen, und muß ihnen große Vorschüsse zahlen; dabei liefern diese gewissenlosen Leute sehr schlecht!«
   »Sie haben jedenfalls übervolle Lager?«
   »Das ist es eben«, entgegnete Spieß merklich zitternd, »die Fristen sind nicht eingehalten – ich erwarte täglich – die Lagerräume sind augenblicklich –«
   »So?« entgegnete Onno lakonisch und der fatale Zug erschien wieder um seinen Mund. »Nun, wir werden ja sehen.«
   Dann fuhr er in wesentlich anderm Ton fort: »Ich bedarf zur Ausführung des mir erteilten Auftrags eines kleinen schnellsegelnden Schiffes, welches See halten kann. Können Sie mir das mit der nötigen Mannschaft, natürlich immer, ohne daß mein Name dabei genannt wird, auf kurze Zeit mieten?«
   »Wenn Ihnen eine malaiische Prau und Malaien als Matrosen genügen, dürfte das nicht schwer sein. Vielleicht findet sich auch ein geschulter Führer unter den unbeschäftigten Seeleuten.«
   »Über den verfüge ich, und eine Prau mit malaiischen Matrosen ist mir recht. Wollen Sie mir jetzt das Hauptbuch und das Kassabuch vorlegen, dann können wir gleich die Kaffenbestände revidieren.«
   Herr Spieß wurde totenbleich.
   »Hat das nicht Zeit bis morgen?« stammelte er.
   »Doch nicht, Herr Spieß, lassen Sie uns sofort an die Arbeit gehen.«
   »Da müßte ich wohl erst Ihre Vollmacht sehen«, brachte der Agent mit Mühe hervor.
   »Gewiß, mein Herr«, entgegnete Onno, »hier ist sie«, und er entnahm seiner Brieftasche ein zusammengefaltetes Papier, das er Spieß überreichte.
   Der warf nur einen flüchtigen Blick darauf und sagte dann zitternd: »Am Gottes Barmherzigkeit willen, lassen Sie mir Zeit bis morgen und Sie werden alles in Ordnung finden.«
   Mit einem wahrhaft satanischen Blick maß ihn Onno von oben bis unten. Dieser Blick, den der Agent wohl verstand, sagte: Dich habe ich in den Klauen; daß Onno in Gedanken hinzusetzte: Du sollst mir als willenloses Werkzeug zur Erreichung meines Zieles helfen, wußte er nicht.
   Spieß sank matt in seinen Stuhl, vollständig niedergedrückt von Schuldbewußtsein. Onno ging, ohne des andern zu achten, hin und her: Also der ›Roland‹ ist schon da? sagte er sich in Gedanken. Das ist ein Strich durch die Rechnung. Dieser Findling ist ein verwegener Bursche und kennt jetzt natürlich die dem Kapitän mitgegebenen Instruktionen. Es käme also darauf an, zuerst hinzugelangen, und dazu muß dieser spitzbübische Dummkopf helfen. Den ›Roland‹ hier aufzuhalten wird um so leichter sein, als Freund Spieß kaum etwas auf Lager hat. Nun, wir werden sehen – ich will zuerst dort sein – und dann bin ich nicht mehr Sklave – dann bin ich Herr. Dann lache ich dich aus, glorreicher Onkel. Es ist doch gut, wenn man ein seines Ohr auf dem Kontor von Oswald & Cie. hat. Man erfährt interessante Sachen.
   Nach einer längern erregten Unterredung mit dem Agenten verließ Onno das Kontor mit triumphierendem Lächeln.


   Der Malaie

   Henrik war am andern Morgen schon auf Deck, als Fritz Fischer mit verdrießlichem Gesicht aus dem Volkslogis auftauchte.
   »Nun«, fragte Henrik, »Mensch mit dem Lombokschen Orden, was hat dir denn die Laune verdorben?«
   »Erstens ärgere ick mir, det ick mir von die Matrosen jestern abend so viel Punsch habe einjießen lassen, ick habe die scheensten Koppschmerzen, und dann wundere ick mir über dir, daß du mir nich mehr ästimierst.«
   »Wieso?«
   »Ich bin vor dir jar nich mehr da, seit du mit den Herr Kapitän in de feine Kledasche an det Land herumbummelst. Ick bin doch mit dir unter de Menschenfresser jewesen un auf de Robinsoninsel, habe dir det Leben gerettet, uff feuerspeiende Berge bin ick deinetwegen jeklettert un so, un wenn ick man ooch nur 'n armer Schneider bin, ick möchte aber doch ästimiert werden.«
   Henrik lachte, tupfte dem Schneider auf die Schulter und sagte: »Fritze, ich ästimiere dir nach wie vor, aber wenn mich der Kapitän mit an Land nimmt, kann ich doch nicht ablehnen, was?«
   »Nee, natürlich nich, ick dachte nur, det ick jetzt vor dir nich mehr jut jenug war, un det ärgerte mir – denn ick mag dir jut leiden, Hamburger.«
   »Und ich dich auch, Sohn der Reezengasse. Laß dir deswegen keine grauen Haare wachsen, wir bleiben Freunde, Fritze.«
   »Na, denn is man jut.« Das Gesicht des Schneiders heiterte sich auf.
   Hinter den beiden stand Karl und schaute freundlich auf den Schneider; es schien ihm Freude zu machen, daß Fritz seinen freundschaftlichen Gefühlen für Henrik Ausdruck gab.
   »Nun, Karl«, wandte sich letzterer an Steffen, »warst du schon an Land?«
   »Nein, zuviel Menschen, ich werde schwindlig, wenn ich so viel Menschen sehe.«
   »Das will ich gern glauben, nachdem du so lange einsam gelebt hast.«
   Trotzdem Steffen sich von den Matrosen fern hielt und wenig sprach, schienen doch die Beschäftigung, wie er sie von früher gewohnt war und der Umgang mit Martin, an den ihn gemeinsame Jugenderinnerungen knüpften, sein ganzes Wesen rascher umzuwandeln, als man erwarten konnte.
   Für Henrik zeigte er immer die gleiche Anhänglichkeit; er liebte es, ihn sprechen zu hören, beantwortete auch immer klarern Geistes dessen gelegentliche Fragen, doch war noch kein Wort über das Schicksal des »Admirals«, nach dem Henrik freilich auch nicht geforscht hatte, über seine Lippen gekommen.
   »Ich denke, Karl, wir machen gelegentlich einen Ausflug ins Land hinein«, sagte Henrik zu Steffen, »und diesen Berliner Jüngling nehmen wir auch mit.«
   Steffen nickte vergnügt. »Mit Ihnen, Horsa, will ich gern gehen.«
   »Das ist ein Wort. Warst du schon einmal in diesem Hafen?«
   Steffen dachte einen Augenblick nach.
   »Ja«, sagte er dann, »ich war schon hier, aber es ist lange her und es hat sich vieles verändert.«
   »Hamburg wirst du noch mehr verändert finden, es ist eine gewaltige Stadt geworden.«
   »Ja – eine gewaltige Stadt«, sagte er langsam.
   »Und du wirst dich freuen, sie wieder zu sehen – mit der Petrikirche und Blankenese und dem lustigen St. Pauli.«
   Steffen nickte nachdenklich.
   »Na«, meinte Fritz, »det Hamburg is doch nur een kleenes Nest jejen Berlin.«
   »Richtig, Mann mit dem Orden, besonders der Hafen kann sich mit dem Berliner nicht messen, ebensowenig wie die jämmerliche Elbe mit der Panke.«
   Fritz schaute ihn etwas verblüfft an. »Meenste?« fragte er mißtrauisch, »oder willst du mir uzen?«
   »Ei, wer würde wohl wagen, einen Berliner zu uzen? Wenn wir Findling ein gutes Wort geben, segelt der bis Treptow.«
   »Jeht denn det?«
   »Durch die Havel, die Seen, die Spree, sehr leicht, die Bergfahrt kostet nur ziemlich viel.«
   »Wie is det? Davon habe ick doch noch nie jehört.«
   »Ja, das Schiff muß durch die Schleusen des Riesengebirges gehen, und das kostet bei seinem Tonnengehalt recht viel; das ist übrigens ein Glück, sonst hätte uns Berlin schon die ganze Schifffahrt weggenommen.«
   Henrik sprach bei solchen Ergüssen immer mit dem trockenen Ernst, welcher dem niederdeutschen Humor seinen eigenen Charakter verleiht. Der gänzlich konsternierte Schneider entgegnete nur: »Wenn det bloß so is, det Riesenjebirge werden se ooch noch wegkriegen.«
   »Das verhüte der Himmel, denn dann wird die Sache für uns Hamburger schlimm.«
   Er wandte sich aber jetzt doch ab, denn Fritze machte ein Gesicht, auf welchem gerechtes Staunen mit dem Zweifel rang, welchen er nach frühern Erfahrungen in Henriks Behauptungen setzte. Die unfreiwillige Komik dieses Gesichtsausdrucks hatte ihn zum Lachen gereizt.
   »Er ist mir doch über«, sagte Fritze leise vor sich hin.
   Das Löschen der für Ceylon bestimmten Waren wurde unter Herrn Marholms Leitung kräftig gefördert, nebenbei die durch die lange Seefahrt verursachten Schäden an Takelage und Segelwerk von der Mannschaft ausgebessert, wobei sich hauptsächlich Steffen, der an das Tropenklima gewöhnt war, auszeichnete.
   Im Lauf des Vormittags langte ein Billett von Mr. Johnson an, in welchem Findling und sein Begleiter zum Tee für den folgenden Abend eingeladen wurden. Findling sagte um so bereitwilliger zu, als er sich sehnte, die beiden Singalesen wieder zu sprechen. Von der tiefen Erregung seiner Seele, welche die Begegnung mit diesen Leuten hervorgerufen hatte, ließ der starke Mann nichts gewahren.
   Als er, in Gedanken verloren, langsam auf Deck einherschritt, nahte sich ihm Fritz, bescheiden seine Mütze in der Hand haltend.
   »Nun, was willst du«, redete der Kapitän ihn freundlich an, denn er mochte ihn wohl leiden.
   »Ich möchte mir woll eene Frage erlauben, Herr Kapitän.«
   »Heraus damit!«
   »Der Hamburger, mein Freund, uzt mir immer.«
   »Der Henrik?«
   »Ja, un wenn ick die andern Herren Matrosen frage, dann uzen sie mir erst recht, un da wollt ick mir denn bein Herrn Kapitän drüber in firmieren; ick möchte mir nich jern uzen lassen, det ärgert mir sehr.«
   »Schieß los!« Innerlich lächelte der ernste Mann bereits.
   »Der Hamburger sagt, man könne über die Schleusen von det Riesenjebirge weg direkt mit det Schiff bis Berlin fahren, un ick wollte mir nur erkundigen, ob det woll so war? Nichts vor unjut, Herr Kapitän.«
   Findling, der ja die Scherze kannte, welche Henrik und die Matrosen gelegentlich mit dem Schneider trieben, entgegnete, in Laune versetzt, trocken: »Ja, min Jung, dat sall woll wesen, wenn man erst de Schleusen farig sind.«
   »Also doch«, sagte Fritze, »ick dachte, er wollte mir mopsen. Nichts für ungut, Herr Kapitän, un ick bedanke mir ooch scheenstens.« Mit mehreren seiner artigsten Verbeugungen entfernte er sich.
   Die kleine Szene hatte dazu beigetragen, Findlings leidenschaftliche Erregung etwas zu dämpfen.
   Im Lauf des Vormittags erschien Herr Spieß mit seinem freundlichsten Lächeln an Bord und suchte den Kapitän.
   »Ah, wie ich mit Vergnügen bemerke, mein wertester Herr Kapitän, sind Sie ja vollauf bei der Arbeit.«
   »Ja, wir fördern sie nach Kräften. Morgen denke ich fertig zu sein, und dann können wir sofort an das Laden gehen.«
   »Ja, mein verehrter Herr Kapitän, das wird sich leider wohl nicht machen lassen.«
   »Wie?« fragte Findling erstaunt. »Warum nicht?«
   »Die starken Regengüsse der letzten Zeit haben die Flüsse überall anschwellen lassen, so daß Zufuhren aus dem Innern unmöglich waren. Sie werden sich mit dem Laden wohl noch einige Zeit gedulden müssen.«
   »Oh, das wäre sehr schlimm, ich habe schon viel Zeit verloren.«
   »Ja, es ist mit dem besten Willen nicht möglich.«
   »Und wie lange glauben Sie, daß es dauern könne, ehe meine Fracht anlangt?«
   »Vierzehn Tage mindestens, vielleicht drei Wochen.«
   »Drei Wochen?«
   »Weniger als vierzehn Tage unter keinen Umständen.«
   Unmutig ging Findling an Deck hin und her. Plötzlich erheiterte sich sein Gesicht: »Nun, wenn dem so ist, so will ich die Zeit nicht verlieren und segle übermorgen.«
   Jetzt war es an Herrn Spieß, in Erstaunen zu geraten: »Übermorgen? Ohne Ihre Ladung?«
   »Ich komme wieder zurück, Herr Spieß«, sagte Findling freundlich, »ich kann inzwischen ein anderes Geschäft des Hauses erledigen.«
   Herr Spieß stutzte und seine kleinen Luchsaugen funkelten listig.
   »Man darf nicht erfahren, welch ein Geschäft das ist, Herr Kapitän?«
   Findling, dem zwar der Mann und seine Art und Weise höchlich mißfielen, dem außerdem die Frage unpassend erschien, entgegnete doch mit viel Treuherzigkeit: »Nun, Ihnen, der Sie zum Hause gehören, kann ich es ja sagen, obgleich die Instruktionen geheime sind. Ich habe Befehl, Trinkonomale anzulaufen, um dort ein bestimmtes Geschäft abzuwickeln – üben Sie Verschwiegenheit, daß mir niemand zuvorkommt.«
   Herr Spieß machte zu dieser Auskunft ein sehr erstauntes Gesicht, entgegnete aber nur: »So ist es also Ihre ernstliche Absicht, zu segeln?«
   »Gewiß, in vierzehn Tagen längstens bin ich zurück.«
   Gedankenvoll entfernte sich der Agent nach einiger Zeit vom »Roland«. »Was mag das nur für ein Geschäft sein, welches die beiden, wie es scheint, vorhaben? Nun, mir soll es gleich sein, wenn ich nur aus meiner Klemme herauskomme. Herr Steenberg scheint auch ein heller Junge zu sein – und – na, was geht's mich an.«
   Als er nach Hause kam und Onno vor sich sah, teilte er ihm mit, daß Findling segeln wolle.
   »Unter keinen Umständen«, entgegnete Onno in zorniger Aufwallung, »unter keinen Umständen darf er in See gehen, er muß hier festgehalten werden, bis ich zurück bin. Der »Roland« ist unser bester Segler.«
   »Ja, wie soll ich ihn zurückhalten?« sagte Herr Spieß kläglich.
   »Er muß zurückgehalten werden auf jeden Fall, auf jede Weise, sonst ist alles verloren – und Sie mit, Herr Spieß. Von dem Gelingen meines Geschäftes hängt es ab, ob ich gerichtlich gegen Sie vorgehe oder nicht.«
   Herr Spieß wurde sehr bleich.
   »Machen Sie es, wie Sie wollen. Sie müssen ja hier allerlei Verbindungen haben, aber der »Roland« muß hier bleiben, und wenn sein Kapitän dabei zugrunde geht«, setzte er finster hinzu.
   Nach einiger Zeit fragte er den eingeschüchterten Agenten: »Haben Sie die Leute für die Prau?«
   »Wir werden sie morgen haben. Ich habe einen fahrtkundigen Malaien angeworben, der Englisch und sogar etwas Deutsch spricht, da er mit deutschen Schiffen gesegelt ist – der wird morgen Leute bringen.«
   »Gut. Daß noch heute der Proviant und die Instrumente an Bord kommen!«
   »Ja, Herr Steenberg.«
   Onno nahm seinen Hut und sagte noch einmal mit drohendem Blick: »Der »Roland« muß hier bleiben – oder – Sie werden es bereuen.«
   Damit ließ er den gänzlich fassungslosen Spieß allein. Kurze Zeit darauf lud dieser den Malaien Amea zu sich.
   Am Nachmittag forderte der Kapitän Henrik zu einem Spaziergang auf; beide schlenderten durch die in der Nähe des Hafens sich hinziehenden schattigen Anlagen und betrachteten sich das bunte Treiben der aus so mannigfachen Bestandteilen zusammengesetzten Bevölkerung. In einem durch Büsche umgrenzten Weg kam ihnen mit dem schwerfälligen Gang der Angetrunkenen ein seemännisch aussehender Geselle entgegen, in dessen Gesicht die Spuren des Lasters in starken Zügen ausgeprägt waren.
   »Aus dem Wege, Halunken«, sagte er in deutscher Sprache, als er näherkam, »Steuer Backbord oder ich segle euch in den Grund!«
   Findling zuckte unangenehm berührt zusammen, als er den Mann bemerkte und trat mit Henrik beiseite, um ihm Raum zu geben. Der Matrose hob, als er vorbeiwankte, die trüben Augen und starrte überrascht Findling an.
   »Ho, wen haben wir denn da? Das ist ja, weiß Gott, der Findling, der große Seemann, der ehrliche Leute von ihrem Posten verdrängte. He – Bursche – habe das Tauendchen nicht gespart, als du noch ein elender Kajütenjunge warst – hast das nicht vergessen, he? Kömmst du mir wieder in den Weg, Halunke?«
   In dem aufgedunsenen, stark geröteten Gesicht war ein Zug tückischen Grimmes aufgestiegen, der es noch widerlicher machte, als es durch den Trunk schon geworden war.
   »Gehen Sie, Carsten«, sagte Findling ruhig, »ich wünsche mit Ihnen nicht in Berührung zu kommen.«
   »Aber ich mit dir, du Schleicher. Bringst ehrliche Leute um ihr Brot, weil sie mal einen Schluck Rum zuviel getrunken haben – warte, dir will ich's eintränken – du sollst noch an Jan Carsten denken« – er ballte die Fäuste.
   Findling trat zurück und sagte mit derselben Ruhe wie vorhin: »Zwingen Sie mich nicht, Carsten, mir den Weg freizumachen«, aber in dieser Ruhe lag etwas Drohendes, was dem angetrunkenen Mann doch imponierte, er ließ die Hände sinken.
   »Warte nur, Bursche, bin jetzt auf dem Weg, wieder obenauf zu kommen, habe einen Kompagnon gefunden; segle nur, kommen doch früher an – haha – wird dafür gesorgt – Jan Carsten vergißt nicht – es wird dir eingetränkt«, er setzte sich schwerfällig und heiser vor sich hinlachend in Gang und schritt vorüber. Dann wandte er sich noch einmal um, drohte mit der erhobenen Faust und wiederholte: »Wollen dir es eintränken, großer Steuermann.«
   Gleich darauf verschwand er an einer Biegung des Weges.
   Findling ging mit Henrik langsam weiter.
   »Schade um diesen Menschen«, sagte er, »ein trefflicher Seemann, aber durch den Rum in den Schlamm hinabgezogen. Ich bin als Junge mit ihm gefahren und später als Zweiter Steuermann, während er Erster war. Er war dem Trunk bereits so ergeben, daß er mehrmals das Schiff in Gefahr brachte und in Valparaiso entlassen werden mußte. Ich rückte dadurch an die erste Stelle. Es ist ein Jammer, einen begabten Menschen durch eine widerliche Charakterschwäche zu einem solchen Zustand herabgesunken zu sehen. Bedauernswertes Subjekt.«
   »Was konnte er aber mit seinen dunkeln Reden meinen?«
   »Geschwätz! Der Trunk sprach aus ihm. Weil ich den Dienst für ihn tun mußte, bildete sich der verkommene Mann ein, ich hätte ihn verdrängt.«
   »Wie kommt er aber hierher?«
   »Er wird vor dem Mast fahren. Einen Matrosen kann man an Bord schon nüchtern halten, bei einem Offizier ist das schwieriger.«
   Sie kehrten nach einiger Zeit zur Stadt zurück und nahten sich schon dem Hafen, als sie einen Menschenknäuel vor sich erblickten und wüstes Geschrei hörten. Aus dem Gewirr löste sich eine einzelne Gestalt los, und mit der Eile eines gehetzten Wildes lief ein Mann auf sie zu, in welchem sie den Malaien von gestern abend erkannten, der sich Amea genannt hatte; er lief in furchtbarer Hast an ihnen vorbei und sprang gleich darauf in die Büsche. Aus dem Haufen sprang ein anderer Mann hervor, wohl ein halbes Dutzend der Umstehenden dabei zu Boden schleudernd, und nahte sich mit tigerhaften Sätzen. Zu ihrem grenzenlosen Erstaunen erkannten sie in ihm Karl Steffen, der dem Malaien augenscheinlich nachsetzte. Sie riefen ihm zu, aber ohne ihrer zu achten, sprang er mit der staunenswerten Kraft und Behendigkeit, die er in seinem wilden Einsiedlerleben erworben hatte, an ihnen vorüber, einem Leoparden gleich, der dem Hirsch nachsetzt. Er verschwand ebenfalls in den Büschen.
   Ein aufgeregter schreiender Haufe von farbigen Leuten wälzte sich nach. Ehe sich Findling und Henrik noch von ihrem Erstaunen erholt hatten, stand atemlos und schweißtriefend Fritz Fischer vor ihnen.
   »Was bedeutet das? Was hat es gegeben?« fragten sie ihn hastig.
   »Ach, Jotte doch«, brachte der Schneiderjüngling keuchend und mühevoll hervor, »ach – Jotte doch – der wilde Mann von die Insel – der Karl is meschugge – rein meschugge.«
   Nachdem der Schneider endlich zu Atem gekommen war, berichtete er den aufgeregten Hörern: »Ick jehe mit Karl een bisken so mang den Hafenquai flanieren, und et hatte ville Mühe gekostet, ihn von Bord zu bringen, um mir so det Menschenjewühl aus die Nähe zu beaugenscheinigen. Der Mann war janz dusemang. Uff eemal macht er een Jesichte wie 'n Tiger in de Menagerie, wenn det Beest falsch wird, un stiert, als ob er ihn fressen wollte, uff eenen kleinen, braunen Mann, der so mang die andern jelben Menschen stand. Eh ick noch ›Pst!‹ machen konnte, sprang der Karl los un hatte ihn an die Kehle un uff die Erde. An nu lag en janzer Haufe auf ihm un piesackte ihn von oben, et war janz grauslich. Dann sah ick den braunen Mann wegrennen un denn jab det in det Jemenge eene Katzbalgerei, un der Karl warf so 'n Stücker zwölfe in de Luft un uff de Erde, det die man nur so rumflogen und lief ihm ooch noch nach. Ach Jotte, der jute Mensch is meschugge. Der muß nach Dalldorf, da kann er dann den wilden Mann machen.«
   Fritz war augenscheinlich von dem Vorgang sehr erregt.
   Die drei Deutschen waren allein, als der Schneider dies erzählte, denn der Haufe war an ihnen vorbeigestürzt.
   »Das muß eine besondere Bewandtnis haben«, sagte Findling.
   Henrik dachte an die frühern Äußerungen Karls über Malaien, an die Inschrift in der Höhle und die spärlichen Aufzeichnungen seines Vaters, und heiß stieg ihm das Blut zu Kopf.
   »Lassen Sie uns folgen, Herr Kapitän«, sagte er hastig.
   »Nein, Henrik. Wir können dem Steffen wenig nützen und gleich wird es Nacht sein. Nach allem, was ich von ihm weiß, ist er der Mann, sich aus dieser Affäre ohne Nachteil herauszuziehen und mit dem Instinkt des Wilden auch den Rückweg zu finden. Hoffentlich hat er sich nicht mit dem Gesetz in Konflikt gebracht.«
   Henrik fügte sich nicht ohne inneres Widerstreben, und sie schritten dem Hafen zu. Dort standen noch einzelne Gruppen von Leuten. In einigen aus Matrosen bestehenden, wurde Englisch gesprochen und sie vernahmen da, daß der Wahnsinnige, so bezeichneten sie Steffen, mehrere Malaien schwer verletzt hatte; einer sollte bereits gestorben sein.
   Aufgeregt von dem Vorgang und besorgt um das Schicksal Steffens, erreichten sie den »Roland«.
   Henrik blieb bis zu später Stunde an Deck, seine Seele war stürmisch erregt und der Schlaf floh ihn. Er dachte des Schicksals seines Vaters und des einsamen Grabes.
   Die Sterne schienen hell hernieder, und leise plätscherten die Wellen um die Schiffswände. Still war es und das Leben am Land erstorben. Es mochte gegen zwölf Uhr sein, als er ein leises Geräusch vernahm. Wie er sich umwandte, stand im Schein der Laterne Karl Steffen vor ihm, mit zerrissenen, teilweise blutgeröteten Kleidern. Er sah schrecklich aus und sein Gesicht trug die Züge des Grimmes.
   Henrik war keines Wortes mächtig, so entsetzte ihn die im schwachen Licht der Laterne fast geisterhafte Erscheinung.
   Dann sagte Karl: »Er ist mir entkommen.«
   »Wer?«
   »Deines Vaters Mörder.«
   Henrik zitterte, so erregten ihn diese Worte.
   Und Steffen, der bisher so stille Mensch, in dem nach so langer tiefer Einsamkeit das Verständnis der Gegenwart, die Erinnerung an die Vergangenheit erst langsam wieder erwacht waren, dessen Sprachwerkzeuge durch Mangel an Übung nur schwerfällig gehorchten, sprach jetzt auf einmal in tiefer, leidenschaftlicher Bewegung, die er nur mit großer Mühe in Schranken zu halten schien, zwar mit einzelnen Stockungen, doch gleich einem lang zurückgehaltenen Strom brachen seine Worte hervor.
   »Höre!« begann er. »In Singapore nahmen wir John Devil, den Malaien, an Bord; der Kapitän wollte die kleinen Sundainseln anlaufen, und Devil sollte die Durchfahrten und die Ankerplätze genau kennen. Wer ihn empfohlen, weiß ich nicht. Was er dem Kapitän vorgespiegelt, weiß ich nicht. Horsa war ein verwegener Seemann, doch vertrauensvoll wie ein Kind. Der gelbe Hund war in meiner Wache. Wir liefen zwischen Lombok und Bali durch, und es ist wahr, Devil kannte das Fahrwasser. Während wir langsam dahinsegelten nahe der Küste, machte sich der Kerl oben zu schaffen und ließ mit einemmal das Oberbramsegel flattern. Was das bedeuten sollte, erfuhr ich erst später. Der Steuermann schnauzte ihn an und er entschuldigte sich mit einem unglücklichen Zufall. Nach einiger Zeit sahen wir vier Praus leewärts vor uns, die aus einer Bucht hervorgetreten sein mußten. Da in jenen Gewässern Raubgesindel sein Wesen trieb, gab der Kapitän Befehl, uns zu bewaffnen. Doch die Fahrzeuge liefen mit dem Wind ab und am andern Morgen war nichts von ihnen zu sehen. Gegen Mittag sprachen wir eine Insel an; es war die, auf welcher du mich gefunden hast. Der Kapitän wollte landen, denn er ließ die Buganker klarmachen. Der Wind blies scharf aus Ost und wir führten, wie es Horsa liebte, mehr Tuch, als ein vorsichtigerer Schiffer oben gelassen hätte. Der Malaie stand am Steuer, als wir das Ostende der Insel umsegelten. Der Hund hielt nah an Land, wir liefen um eine Landzunge und – ›Ruder hart Backbord!‹ schrie der Erste Steuermann, der vorn war, mit aller Kraft; da riß dieser Schurke das Ruder nach Steuerbord, sprang mit dem Gelächter eines Teufels über Bord, und wir sausten, ehe nur einer an das Ruder springen und es herumreißen konnte – wir standen alle wie versteinert – mit einer Geschwindigkeit von zehn Knoten auf das Riff, das du kennst. Eine Felsspitze bohrte sich durch den Boden des ›Admirals‹. Wie wahnsinnig liefen wir hin und her und sahen nicht einmal die Praus, die unweit von uns vor Anker lagen, aber die Donnerstimme deines Vaters klang über Deck: ›Kaltblütig, Jungen! Jeder an seinen Posten! Boote ausgeschwenkt!‹ und wir gehorchten trotz aller Todesangst, wie Kinder, wenn sie den Ruf des Vaters vernehmen. Der Kapitän stand so unbewegt am Hinterdeck, als ob wir im Hafen lägen, trotzdem das Schiff zu sinken begann. ›Nur ruhig, Kinder!‹ und das Beispiel unseres Befehlshabers wirkte zauberhaft auf uns; rasch, aber ohne Übereilung, jede Hand an der richtigen Stelle, brachten wir die Boote auf das Wasser. Horsa war der letzte, der den ›Admiral‹ verließ. Er sah blaß aus, war aber ruhig. Wir steuerten durch die Brandung und kamen glücklich an Land. Kaum hatten wir den Boden der Insel betreten, als aus den Büschen auf uns geschossen wurde. Wir waren sechzehn Männer und bis auf deinen Vater unbewaffnet, der im letzten Augenblick die Schiffspapiere und eine Pistole in der Kajüte an sich gerissen hatte. Wir hatten nur unsere Messer.
   Fünf von uns stürzten tot zusammen, andere wurden verwundet. So furchtbar, so sinnberaubend das war, verlor dein Vater auch jetzt die Ruhe nicht: ›Mir nach in die Büsche!‹ schrie er, und wir folgten ihm willenlos, betäubt. Wir sahen uns von braunem Raubgesindel umringt, mich faßte ein Kerl, und schon zuckte sein Messer nach meiner Kehle, als die Faust deines Vaters, der ein ebenso mutiger wie starker Mann war, ihn niederschmetterte. Das rettete mir das Leben – ach – Henrik – was für ein Leben!«
   Er schwieg einen Augenblick. – Das Wiedererblicken des Malaien schien in Steffen die Erinnerung an den furchtbaren Vorgang in aller Stärke und in aller Deutlichkeit wieder heraufgerufen zu haben.
   Henrik lauschte mit stummem Entsetzen der grauenhaften Tragödie, deren Held seinem Herzen so teuer war.
   Leise fuhr Karl Steffen fort: »Wir haben uns gewehrt in jener schrecklichen Stunde und unser Leben teuer verkauft. Die braunen Bestien, von denen die Büsche wimmelten, umsprangen uns gleich wilden Katzen. Dein Vater schoß einen nieder und bediente sich dann der schweren Schiffspistole als Keule. Wohin sein Schlag traf, brachte er Verderben. Wir drangen immer weiter in die dichten verschlungenen Büsche, einer nach dem andern von uns fiel und starb unter den Messern dieser Mörder, aber jeder nahm seinen Mann mit in die Ewigkeit. Als wir auf dem Felsen anlangten, wo deines Vaters Gebeine ruhen, stieß dieser Schandbube, der uns auf das Riff geführt hatte – deinem Vater das Messer in den Rücken – ich stach den Mörder nieder, faßte deinen Vater und führte ihn zu der Höhle, in welcher ich später hauste. Er fühlte den Tod kommen – schrieb noch in sein Notizbuch – und starb in meinem Arm. Wie durch ein Wunder war ich unverwundet geblieben – ich floh in die Wälder. Später sah ich, wie die Malaien den ›Admiral‹ plünderten, wie sie alles auffischten, was an den Strand geworfen war oder im Wasser trieb. Endlich zündeten sie den Rest des Schiffes an und segelten davon.
   Ich trug die Leichen meiner Gefährten zusammen – und begrub sie neben meinem Kapitän, die erschlagenen Malaien überließ ich den wilden Tieren. Die Leiche des Mörders deines Vaters suchte ich und fand sie nicht. Ich war allein – allein!«
   Er schauderte.
   »Wie ich gelebt habe, wie ich so geworden bin, wie du mich fandest, ich weiß es nicht mehr – ich dachte nicht – ich sprach nicht – ich war kein Mensch mehr – ich war ein wildes Tier geworden – dem selbst der Tiger scheu aus dem Weg ging. Die Zeit war für mich nicht vorhanden. Später – viel später kam der Balinese auf die Insel und ich sah wieder Menschen – doch sie waren mir fremd – und ich war an meine Einsamkeit gewöhnt, ich wich ihnen aus. Da erblickte ich weiße Gesichter – hörte Laute – Laute – ach, ich habe nie ein solch unnennbares Glück empfunden als in dem Augenblick, wo deutsche Worte mir zum erstenmal wieder zum Ohr drangen.
   Ich konnte mir in jenem Augenblick keine Rechenschaft davon geben, was die Ursache war, aber gleich einer himmlischen Musik schmiegten sie sich um mein armes, erstorbenes Herz – und weckten es zu neuem Leben. Langsam, langsam kam ich zu mir selbst, nach und nach tauchte wie aus Nebel die Vergangenheit vor mir empor – da sah ich heute – diesen Teufel, den Malaien – den Mörder – lebend vor mir – und alles Grausen jener Stunde, alles, was jahrelang geschlummert hatte, stieg in mir auf. Ich sprang auf ihn los. Mit einem Griff hätte ich ihn erwürgen können – aber lebend wollte ich ihn haben, du solltest ihn sehen, den Mörder deines Vaters! Er sollte vor deinen Augen sterben.«
   Der Zorn des Mannes war erschreckend. Ruhiger fuhr er nach einer Weile fort: »Der Aal ist mir entschlüpft – er hat seinen Schlupfwinkel – aber ich werde ihn fangen – und – er soll büßen.«
   Bruchstückweise – oft langsam, dann wieder hastig hervorgestoßen, mitunter schwerfällig und undeutlich, doch im ganzen verständlich, kam das alles hervor, Henriks Seele auf das tiefste erregend. Sprechen konnte der junge Hamburger nicht – er reichte Karl Steffen nur die Hand und drückte sie innig. Er fühlte das Bedürfnis, allein zu sein und suchte sein Lager. Am andern Morgen, nach nur kurzem, unruhigem Schlummer erwacht, begab er sich, sobald es anging, zu Findling und machte ihm Mitteilung von allem, was er erfahren hatte. Bewegt hörte der Kapitän ihn an. Außerordentlich überrascht war er, zu erfahren, daß der Malaie, der ihm selbst so unliebsam über den Weg gelaufen war, unter anderm auch den Untergang des »Admirals« auf dem Gewissen hatte.
   Er ließ dann Steffen kommen und sagte ihm, indem er seinen Mannesmut, seine Treue rühmend hervorhob, daß er den Gedanken, den John Devil alias Amea und so weiter zu verfolgen, aufgeben müsse.
   »Du kannst eher eine Stecknadel in einem Heuschober finden, als einen Malaien in diesen Städten. Außerdem liegt die Gefahr sehr nahe, daß dich die Polizei deines gestrigen Auftretens wegen festnimmt, und dann bist du ganz machtlos, etwas zu unternehmen. Ich kann dich nicht schützen. Bleibe du ruhig an Bord. Ich wünsche wie du, daß jenen Verbrecher die irdische Gerechtigkeit ereile, aber wir können zunächst nichts tun, um ihn dieser zu überliefern. Mitteilungen über den gefährlichen Burschen will ich indessen durch unsern Konsul an die Behörden gelangen lassen.«
   Steffen schien überzeugt und nickte. Die Löscharbeiten wurden nach Kräften gefördert, Wasser und frische Vorräte eingenommen, und Findling ließ alle Anordnungen treffen, um am andern Tag in See gehen und jenes geheimnisvolle Eiland aufsuchen zu können.
   Im Laufe des Tages erschien Herr Spieß wieder und überzeugte sich, daß der »Roland« segelfertig gemacht werde. Er lud Findling für den Abend zu sich ein, was dieser kühl mit der Bemerkung ablehnte, daß er für heute bei Mr. Johnson zugesagt habe. Der Kapitän begab sich hierauf noch zu dem Konsul und machte ihm Mitteilungen über den Malaien und den Untergang des »Admiral«.
   »Ja«, entgegnete Herr Peters, »wir haben den Burschen bereits im schwarzen Buch, auch die Polizei beobachtet ihn, aber wie ein Chamäleon die Farbe, wechselt ein solch heimatloser Bursche den Namen, den Aufenthalt, und da es an Zeugen fehlt, ist sogar oft seine Identität sehr schwer festzustellen. Dennoch will ich die Behörde benachrichtigen.«
   Henrik ging den Tag über still und stumm einher, selbst Fritz vermochte ihn nicht aufzuheitern.
   Steffen arbeitete im Takelwerk und richtete nur von Zeit zu Zeit die scharfen Augen suchend auf das Gedränge an dem Hafen. Trotz dieser Aufmerksamkeit gewahrte auch er nicht, daß der »Roland« von einigen braunen Burschen beobachtet wurde, ebensowenig wie Findling bemerkt hatte, daß, als er in der Stadt war, ihm zwei Malaien folgten. Findling sehnte den Abend herbei, um von neuem mit den Singalesen in Mr. Johnson's Villa zusammenzutreffen. Er hatte einen Wagen bestellt, und gegen acht Uhr fuhren er und Henrik hinaus zu dem Engländer.
   Bald bogen sie in die dunkeln Wege ein, welche zu den zerstreut liegenden Landhäusern führten.
   Ein starker Ruck des jäh haltenden Wagens schleuderte die Insassen plötzlich recht unsanft aus einer Ecke in die andere. Man hörte den Mulatten, der als Kutscher diente, fürchterlich schimpfen. Gleich darauf verstummte alles.
   Findling riß den Wagenschlag auf – tiefe Dunkelheit herrschte, denn die Laternen waren durch den Ruck erloschen, und er sprang hinaus. Kaum berührte er den Boden, als eine wollene Decke über seinen Kopf geworfen und seine Arme gefaßt wurden. Findling, welcher große Körperkraft besaß, suchte die Decke abzustreifen, wurde aber trotz seines Widerstandes niedergerissen und war gleich darauf an Händen und Füßen gefesselt. Henrik, der nach ihm den Wagen verlassen hatte und mit lähmendem Schrecken das wilde Ringen gewahrte, wurde, ehe er sich nur über das, was vorging, klar werden konnte, ebenso behandelt wie der Kapitän. Auch den Kutscher hatte man vom Bock herabgerissen und gebunden.
   Irgend jemand sagte in englischer Sprache, gedämpft, doch so, daß die Laute zu den Ohren der Gefangenen drangen: »Es sind zwei, der Steuermann ist bei ihm.«
   »Desto besser, nehmt den auch mit«, war die Antwort.
   In deutscher Sprache ließ sich hierauf eine heisere Stimme nahe ihren Ohren hören: »Einen Laut, Burschen, und es fährt euch ein Messer in die Kehle.« Es war unverkennbar die Stimme des verkommenen Carsten. Soweit sie in der Finsternis zu erkennen vermochten – die Decken waren den Überfallenen abgenommen worden, als sie gefesselt am Boden lagen – waren sie von einem Haufen dunkler Gestalten umgeben. »So, mein braver Steuermann«, ließ sich eine Stimme vernehmen, der man es anhörte, daß ihr Besitzer angetrunken war, »jetzt wollen wir es dir besorgen. Kannst ausschlafen, Bursche, während wir das Inselchen aufsuchen –«
   »Schweigen Sie!« Mit diesen in scharfem Ton hervorgestoßenen Worten wurde er unterbrochen.
   Trotz der Todesangst, welche Henrik befallen hatte, denn er fürchtete, daß man ihn und Findling töten werde, glaubte er, die Stimme Onnos zu erkennen.
   » Go on!« klang es in gleichem Ton, und die Gefangenen wurden aufgehoben, wieder in den Wagen geschoben, zwei in der Dunkelheit nicht erkennbare Männer setzten sich zu ihnen, und das Fahrzeug, dessen niedergestürzte Pferde wieder emporgebracht waren, fuhr davon.
   Die sich schweigend verhaltenden Gefangenen wurden nach langer Fahrt veranlaßt, auszusteigen und in einen dunkeln Raum hineingestoßen, in welchem sie auf Maisstroh niedersanken.


   In Gefangenschaft

   Als am andern Morgen der Steward Findlings Kajüte betrat und gewahrte, daß der Kapitän nicht an Bord gekommen sei, machte er Marholm Meldung. »Der englische Kaufmann wird den Kapitän und den Jungen über Nacht bei sich behalten haben«, meinte dieser.
   Am acht Uhr kam der Besitzer des Fuhrwerks, dessen sich Findling bedient hatte, und fragte nach seinem Verbleib. Auch er ließ sich an dem bereits angegebenen Grund genügen. Als aber die Zeit vorrückte und Findling, dessen Gewissenhaftigkeit Marholm ja kannte, nicht erschien, wurde er unruhig, nahm einen Wagen und fuhr zu Mr. Johnson's Kontor.
   Zu seinem nicht geringen Schrecken vernahm er von diesem, daß die von ihm Geladenen gar nicht erschienen seien. Als sich später aber der Wagen, der Findling gefahren hatte, in der nächsten Umgebung der Stadt herrenlos, mit abgetriebenen Pferden vorfand, als dann der Kutscher des Gefährtes auftauchte und von dem Überfall erzählte – auch er war gefangengehalten und erst bei Tagesanbruch freigelassen worden – entstand an Bord des »Roland« große Aufregung.
   In leidenschaftlicher Weise äußerte besonders Fritz seine Besorgnis um den »Hamburger«, den er so sehr ins Herz geschlossen hatte. Karl Steffen ging mit einer Miene umher, die denen nichts Gutes verhieß, welche Findling und Henrik ein Leid zugefügt hatten.
   Marholm begab sich jetzt zum Konsul und erstattete Anzeige. Dieser fuhr mit ihm zur Polizei, der Kutscher wurde vernommen, aber er konnte um so weniger mitteilen, als er gleich nach dem Überfall in den Wald geführt und dort von zwei Leuten bis zum Morgen bewacht worden war; seine Wächter waren dann verschwunden und hatten es ihm überlassen, den Heimweg zu suchen.
   Ein genügender Erklärungsgrund ließ sich für den mit solcher Energie und so großen Mitteln ausgeführten Überfall nicht finden, denn an der Beraubung zweier Herren, welche sich zu einem Besuch anschickten, konnte nichts gelegen sein, und eine Gefangennahme, um etwa Lösegeld zu erpressen, war hierzulande nie vorgekommen. Die Absicht, die Reisenden zu berauben, konnte auch kaum vorgelegen haben, denn sie hätte sonst ausgeführt werden können, als man die beiden überwältigt hatte. Die Motive der Tat waren in tiefes Dunkel gehüllt. Auch Herr Spieß zeigte für die Aufsuchung Findlings das größte Interesse und stellte Mittel zur Verfügung, um energische Nachforschungen anzustellen.
   Die ganze Polizei war bald auf den Beinen, um nach den Vermißten zu forschen.
   In großer Aufregung lief Fritz Fischer jammernd auf Deck umher. Das geheimnisvolle Schicksal seines Freundes ging ihm unendlich nah.
   Zu Steffen, der finster, mit zusammengezogenen Brauen und funkelnden Augen umherging, sagte er: »Du hast ihm doch ooch lieb jehabt, den Hamburger, wat sprichst du denn keen Wort? Ick sage dir, Waldmensch, wenn ick ihm jetzt jesund un munter hier hätte, ick jäb meinen Orden drum. Aber die braunen Canaillen werden ihm abgemurkst haben!« Fritz brach in Tränen aus.
   »Du bist ein guter Junge«, sagte Steffen, und klopfte ihm freundlich auf die Schulter. Doch dann ging er stumm und kummervoll wie vorher beiseite.
   Marholm hatte ganz den Kopf verloren und war durchaus der Meinung des teilnahmsvollen Agenten, daß an Segeln nicht zu denken sei, auch wußte er gar nicht, wohin Findling auszulaufen gedachte, und dessen Papiere wagte er nicht einzusehen, ehe nicht sein Tod konstatiert war.
   Eine flinke Prau verließ am Morgen dieses Tages den Hafen, auf deren Deck man außer Onno Steenberg den Malaien Amea am Steuer und Jan Carsten als Kommandant auf dem Hinterdeck erblickte.
   Die Lage, in welche Findling und Henrik auf so überraschende Weise geraten waren, war eine überaus peinliche und beängstigende.
   Ihre Fesseln schmerzten sie, und dies diente nicht dazu, die Situation behaglicher zu machen. Unterwegs in dem dunkeln Wagen, in Gesellschaft von Männern, die ihnen unbekannt waren, deren Äußeres sie nicht einmal zu erkennen vermochten, in der Befürchtung, jeden Augenblick einen Messerstoß zu empfangen, waren sie keines klaren Denkens fähig gewesen.
   Ruhiger vermochten sie jetzt nach Beendigung der Fahrt ihre Lage ins Auge zu fassen und fragten sich, was Ursache und Zweck dieser gewaltsamen Behandlung sein könne.
   Hatten in Findlings Seele die letzten Worte des verkommenen Carsten, die genügend deutlich auf die Insel, an welcher der Schatz verborgen sein sollte, anzuspielen schienen, eine Flut von Vermutungen hervorgerufen, so dachte Henrik noch immer mit Schrecken an den Klang der ihm wohlbekannten Stimme seines Vetters. Er hatte sich also nicht getäuscht, als er ihn an Bord des englischen Dampfers zu sehen glaubte!
   Aber wie in aller Welt kam er hierher, und was bedeutete ihre Gefangennehmung? Die Worte Carstens waren für ihn unverständlich gewesen.
   Findling hingegen fragte sich, wie es möglich sein könne, daß außer ihm noch jemand Kenntnis von den Aussagen des Evers habe, und zugleich wußte, mit welcher Aufgabe der »Roland« betraut sei.
   So erging sich jeder der Gefangenen in allerlei Fragen und Vermutungen.
   Henrik stöhnte.
   »Leidest du sehr, Junge?«
   »Ja, Herr Findling, die Stricke schneiden ins Fleisch.«
   »Mir geht es ebenso. Aushalten!«
   Nach einer Weile fragte Henrik: »Was kann man mit uns beabsichtigen?«
   »Nun, Gutes gewiß nicht«, brummte der Kapitän, »aber auf unser Leben scheint es nicht abgesehen zu sein, sonst hätten sie uns längst abgetan.«
   Henrik schauderte.
   »Vielleicht hat man uns mit andern verwechselt?«
   »Nein«, sagte Findling erregt, »es galt mir, denn der betrunkene Schuft sprach von der Insel – jetzt werden mir auch seine Äußerungen bei unserer ersten Begegnung klar – es galt mir, und du, armer Schelm, bist in mein Los verwickelt worden.«
   Der Jüngling bat ihn um Aufklärung, und der Kapitän gab ihm nun von dem auf einer Insel des indischen Meeres verborgenen Schatz und dem Befehl der Reeder, die Aussagen des sterbenden Matrosen auf ihre Wahrheit hin zu prüfen, Kenntnis.
   Henrik krampfte sich das Herz in bitterm Schmerz zusammen, als er diese Mitteilungen mit der Anwesenheit Onnos, des im Vertrauen der Herren Oswald Hochstehenden Bediensteten des Hauses, in Zusammenhang brachte. »Mag die Geschichte des Evers«, so schloß Findling seine Mitteilungen, »von deren Wahrheit wir uns ja überzeugen sollen, auch in größern Kreisen bekannt gewesen sein, so ist es mir doch unerklärlich, wie dieses verkommene Subjekt, der Carsten, dazu kommt, zu wissen, daß der ›Roland‹ beordert ist, jene Insel anzulaufen. Selbst ich hätte erst bei den tatsächlichen Nachforschungen erfahren, mit welch absonderlicher Mission wir betraut waren, wenn nicht der Tod des Kapitäns mir die Pflicht auferlegt hätte, die Schiffspapiere nachzusehen. Rätselhafter noch ist mir, woher die Mittel stammen, welche unbedingt notwendig sind, um die Insel anzulaufen. Und frage ich mich, was hat man mit mir vor, warum hat man mich hierhergeschleppt, so habe ich nur die eine Antwort darauf: man will mir zuvorkommen, um die erhoffte reiche Beute einzustreichen. Aber diese Annahme ist wiederum so phantastisch, daß sie mir kaum stichhaltig erscheint. Wer löst das Rätsel?«
   Mit zitternder Stimme berichtete jetzt Henrik von der ihm zur Gewißheit gewordenen Anwesenheit seines Vetters Onno Steenberg in Point de Galle und dessen Stellung im Hause der Reeder.
   Widerstrebend und mit tiefem Schamgefühl gab er seine Erklärung ab, hinzufügend: »Und doch kann ich es nicht denken, daß Onno so verworfen sein kann, ein Geschäftsgeheimnis seines Hauses zu mißbrauchen; es muß hier noch etwas anderes vorliegen – jedes Gefühl in mir sträubt sich, so etwas von meinem Vetter zu glauben.«
   Staunend horchte Findling dem, was Henrik mit Anstrengung hervorbrachte.
   Nach einiger Zeit fragte er: »War dieser Vetter nicht der, der an der Brasse saß, welche dich vor der Elbe ins Meer schleuderte?«
   Mit Schmerz gedachte Henrik bei dieser Frage des von Fritz geäußerten Verdachtes, und zögernd entgegnete er: »Ja.«
   »So«, sagte Findling nach längerm Schweigen, »nun ist es mir klar. Dein würdiger Vetter ist der Unternehmer und Carsten sein dienstbarer Geist. Der so schlau dreinblickende Herr Spieß, dessen Speicher merkwürdigerweise leer sind, steckt auch mit dahinter. Nun ist es mir klar. Der von mir geäußerte Entschluß, in See zu gehen, hat dieses Attentat veranlaßt; man sperrt mich ein, um mich am Auslaufen zu verhindern, um mir zuvorzukommen. Nun weiß ich's.«
   Henrik war von dem Bewußtsein, daß Onno hier an einem Schurkenstreich teilnahm, so schmerzlich bewegt, daß er fast die festen Bande nicht mehr fühlte, die ihm die Glieder umschnürten. Endlos war die Nacht und unendlich qualvoll für die Gefangenen. Endlich zeigten sich schwache Spuren des anbrechenden Morgens. Bald drang durch Ritzen Licht genug in den Raum, daß sie erkennen konnten, wo sie sich befanden. Sie waren von Erdwänden umgeben und lagen jedenfalls in einer Art Keller, wie die Singalesen sie zur Aufbewahrung des Getreides anlegen. Eine aus Bambusstücken gefertigte Tür führte über einige Stufen nach oben ins Freie; durch deren Spalten drang Licht in den Raum.
   Nach einiger Zeit öffnete sich diese Tür und ein alter, halbnackter brauner Bursche mit einem Spitzbubengesicht trat ein; eine Frau, die ein Gefäß in der Hand trug, folgte ihm.
   Beim Eintritt der beiden erblickten die Gefangenen im hellen Tagesschein draußen Wald. Mit großer Ruhe machte sich der Mann daran, den Gefangenen Uhr, Geld, Börse und Manschettenknöpfe abzunehmen, was diese schweigend duldeten.
   Die Frau, deren Gesicht ebenso widerwärtig war, als das des Mannes, löste die Fessel um Henriks Handgelenke und bot ihm die mit Wasser gefüllte Kalebasse zum Trinken. Begierig löschte er den brennenden Durst. Der Mann machte auch Findlings Arme frei und reichte ihm das Gefäß.
   Als dieser getrunken hatte, sagte er mit viel Ruhe: »Wie ich vermute, Mensch, sprichst du englisch und verstehst, was ich sage?«
   Der Mann grinste als Antwort.
   »Weshalb habt ihr uns hierhergeschleppt?«
   »Er hat es so befohlen«, lautete die ganz verständlich gegebene Antwort.
   »So? Er hat es befohlen. Nun, mein Junge, wenn es dabei auf Geld abgesehen ist, dann sollt ihr solches bekommen.«
   Der Alte schüttelte den Kopf.
   »Sprechen wir vernünftig, Alter. Was kann es sonst für einen Zweck haben, uns gefangen zu nehmen? Also nimm Geld, bestimme die Summe und laß uns frei. Was meinst du zu zwanzig Pfund?«
   »Wo hast du sie?« fragte der Mann höhnisch.
   »Nun, ich gebe dir einen Zettel, und einer deiner Leute kann sie von Bord holen.«
   »Ja, damit er uns die Polizeireiter hierherbringt.«
   »Die werden uns noch viel wahrscheinlicher hier finden, wenn ihr uns nicht freilaßt.«
   Der Alte zog mit grimmiger Miene ein blinkendes Messer.
   »Vielleicht«, sagte er, »aber nicht lebendig.«
   Findling und nicht minder Henrik erschraken bei dieser drohenden Gebärde. Dennoch vermochte der erstere ruhig zu erwidern: »Sieh, das ist Torheit. Was kann euch das nützen? Nehmt deshalb Geld – nimm hundert Pfund.«
   Des Alten Augen funkelten begierig bei der für ihn so bedeutenden Summe, aber dennoch schüttelte er den Kopf: »Geht nicht – er will nicht.«
   »Aber was willst du denn mit uns beginnen?«
   »Wird er sagen, wenn er zurückkommt.«
   »So? Nun, so müssen wir uns so lange gedulden. Aber würdest du nicht die Güte haben und auch unsern Füßen die Fesseln abnehmen? Sie belästigen sehr.«
   Der Alte wechselte einige Worte mit der Frau in einer indischen Sprache.
   Sie deutete wiederholt auf die Tür und nach oben und schien eine Ansicht auszusprechen, welcher der Mann endlich zustimmte.
   Er rief, und zwei andere banditenmäßig aussehende braune Kerls traten ein. Man löste den Gefangenen die Stricke von den Knöcheln; aber vergeblich versuchten sie aufzustehen, die Füße versagten den Dienst.
   Man riß die beiden empor, warf ihnen Tücher über den Kopf und schob die Wankenden vor sich her ins Freie, endlich eine Treppe hinauf, wo sie, nachdem die Verhüllung entfernt war, sich in einem kleinen Gemach wiederfanden, dessen Boden mit Matten bedeckt war. Licht fiel durch eine hoch angebrachte Luke herein. Dort legten die drei Eingeborenen den Gefangenen eine ziemlich lange Kette an, indem sie den rechten Fuß Findlings mit dem linken Henriks verbanden, so daß sie aneinander gefesselt waren. Die Hände ließen sie frei. Mit drohendem Ernst sagte der Alte dann: »Macht ihr den geringsten Lärm, oder sucht ihr zu entfliehen, so werdet ihr unfehlbar getötet.«
   Damit gingen die Leute hinaus und verriegelten von außen die Tür.
   Findling und Henrik hatten sich auf den Boden niedergelassen, da ihre Füße sie immer noch nicht tragen wollten. Sie sahen sich an und der Kapitän sagte: »Da hätten wir nicht nur den schönsten Räuberroman, sondern auch eine gurgelabschneidende Spitzbubensorte um uns, die nichts zu wünschen übrig läßt.«
   Henrik, welchem bei dem allem sehr übel zumut war, vermochte auf den Ton Findlings nicht einzugehen und fragte nur: »Was beginnen wir jetzt?«
   »Vor allem behalten wir den Kopf oben, Henrik! Ich müßte mich sehr irren, wenn mit dem ›er‹ nicht der malaiische Schurke Amea gemeint ist, und dann haben wir zum Handeln Zeit, wenn auch der Schatz unterdes in seine Hände fällt. Sei munter. Junge! Wäre übel, wenn zwei lustige Teerjacken diesem braunen Gelichter nicht eine Nase drehen sollten. Wir können ja nicht weit von Point de Galle entfernt sein, und einmal draußen, wollen wir es schon erreichen.«
   »So denken Sie an Flucht?«
   »Selbstverständlich.«
   »Aber wie?«
   »Darüber müssen die nähern Umstände bestimmen. Wollen uns einmal die Umgebung ansehen.«
   Sie hoben die Kette auf, damit sie nicht rasselte, lauschten an der Tür, und als sie nichts Verdächtiges vernahmen, schritten sie langsam an den Wänden hin.
   Diese waren zwar nur aus Bambus gefertigt, erwiesen sich aber bei näherer Untersuchung als sehr fest. Der ganze Bau war zwar leicht, aber von großer Zähigkeit. Die Luke, welche Licht und Luft einließ, war so hoch angebracht, daß sie Findling nicht einmal mit der Hand erreichen konnte.
   »Ich könnte dich zwar zu dem Loch emporheben, damit du Umschau hieltest, doch möchte dich jemand draußen sehen. Wir wollen es aufsparen.«
   Sie hörten Schritte und kauerten sich nieder. Die Frau brachte ihnen eine Schüssel nach Landesart gewürzten Reises, dem sie wohl oder übel zusprechen mußten. Später untersuchten sie aufmerksam die Kette, aber die war stark und die Schellen saßen fest um ihre Fußgelenke. Langsam verging der Tag und traurig, so sehr Findling auch durch gutgemeinte Äußerungen und Erzählungen eine heitere Stimmung zu erwecken suchte.
   Ein Fluchtversuch am Tag erschien ganz aussichtslos, sie mußten die Nacht abwarten. Und dann? Wie sollten sie sich der Kette entledigen? Als die Nacht kam, hob Findling seinen Leidensgeführten zur Luke empor. Vorsichtig schaute sich dieser beim Sternenlicht um. Herabgelassen, berichtete er: »Niedrige Gebäude stehen ringsum, umgeben von einem Bambuszaun, nach allen Seiten zeigt sich Wald.«
   Nach kurzer Zeit hörten sie draußen Geräusch und vernahmen deutlich genug, daß sich vor ihrer Tür Leute niederließen. Das war also die Nachtwache. Damit war jeder Fluchtversuch vereitelt.
   Endlich ließen sie sich auf dem in einer Ecke aufgehäuften Maisstroh nieder und versuchten zu schlafen, was ihnen erst spät gelang.
   Am andern Morgen kam der Alte, um sich zu überzeugen, daß die Fessel in Ordnung sei, und wies wieder jede Geldanerbietung mit dem Bemerken zurück: »Er dürfe ›ihm‹ nicht ungehorsam sein, er wolle sein Leben nicht auf das Spiel setzen.«
   Man brachte ihnen Wasser und Speise, und der endlose Tag verging ihnen in trüber, hoffnungsloser Stimmung.
   Wieder kam die Nacht und Henrik war der Verzweiflung nahe – wie früher lag vor der Tür die Wache.
   Es mochte schon gegen Morgen sein. Henrik wälzte sich wachend und unruhig umher, während Findling fest schlief. Da – plötzlich horchte er auf – drang durch die Luke der Klang einer bekannten Melodie, wenn auch schwach, herein; draußen pfiff jemand ganz munter: »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben«, gleich darauf war es wieder still.
   Henrik stieß Findling an. Dieser erwachte; vor der Tür und außen hörte man Geräusch, ihre Nachtwache mußte sich entfernen. Henrik erzählte dem Kapitän, was er gehört hatte. Zweifelnd nahm es dieser entgegen. »Du hast geträumt!« Kaum hatte er ausgesprochen, als draußen von neuem das Pfeifen erklang, atemlos lauschend hörten sie jetzt die Melodie von: »O du lieber Augustin –«
   »Es ist der Berliner, der Fritze.«
   Wunderbar genug war es, in diesen Wäldern diese Melodien zu hören.
   »Es werden sich ein paar deutsche Matrosen verlaufen haben.«
   »In solcher Nacht? Nein, das ist Fritze! Vergessen Sie nicht Karl Steffen, der mit dem Instinkt des Wildes und der Geschicklichkeit des Waldmenschen im Dunkel einherschleicht. Sie suchen uns. Wir müssen ihnen antworten.«
   »Das ist gefährlich.«
   »Ich fürchte, wir sind verloren, wenn diese Gelegenheit, Hilfe zu erlangen, verloren geht.«
   »Dann los, antworte.«
   Er hob ihn zur Luke empor; noch war es ganz dunkel, und Henrik, den Kopf über das Dach erhebend, pfiff: »O du lieber Augustin, alles ist hin.«
   Schnell ließ ihn Findling herab und beide suchten ihr Lager.
   Nach einiger Zeit wurde die Tür aufgerissen und hereingeleuchtet, Findling und Henrik stellten sich schlafend. Drei Männer traten ein. Der Alte rüttelte die Gefangenen auf, ließ vor ihren Augen sein Messer blitzen und sagte: »Wenn das eure Freunde sind, hütet euch; gebt ihr ihnen ein Zeichen, so steche ich euch nieder.«
   Beide stellten sich erstaunt.
   Henriks Pfiff mußten die Wächter gar nicht gehört oder, wenn dies geschehen, den Fremden draußen zugeschrieben haben. Das Benehmen der Gefangenen schien den Verdacht des Malaien einzuschläfern.
   Hell klang jetzt die Melodie des Dessauer Marsches: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage –«
   Die Malaien stürzten hinaus, in der Eile vergessend die Tür zuzuschließen.
   Erregt blickten Findling und Henrik bei dem aufdämmernden Tageslicht sich an.
   »Jetzt glaube ich wirklich, daß es unsere tapfere Schneiderseele ist – aber, um des Himmels willen – wenn die Malaien ihn erblicken, ist er ein Kind des Todes.«
   »Sie vergessen unsern Waldmenschen; der band waffenlos mit dem Tiger an, der wird auch mit dem Gesindel hier fertig werden.«
   In großer Aufregung lauschten sie.
   »Lassen Sie mich durch die Luke schauen.«
   Findling hob ihn empor, es war jetzt schon bedeutend heller.
   »Was siehst du?«
   »Am Waldrand sitzt ein Inder mit einem Buch und scheint zu beten.«
   »Siehst du etwas von unsern Kerkermeistern?«
   »Nein – Himmel – !«
   »Was gibt's?«
   »Diese aufgestülpte Nase erkenne ich unter tausenden – der Inder ist der Schneider in seinem Balinesenanzug.«
   »Nicht möglich.«
   »Sicher, Herr.«
   »Was soll das bedeuten? Siehst du ihn noch?«
   »Ja – er sitzt ganz ruhig und ahmt die Gebärden eines betenden Hindu nach.«
   Findlings, der nichts sehen konnte, bemächtigte sich eine große Aufregung.
   »Was jetzt?«
   »Einige Malaien stehen vor ihm und starren ihn an.«
   »Und er?«
   »Er beugt sich auf sein Buch.«
   »Nun?«
   »Einer tritt zu ihm und reißt ihm das Kopftuch ab – es ist – es ist Fritz, ich sehe sein Flachshaar.«
   »Töten Sie ihn?« fragte Findling erschreckt.
   »Ha! Wie vom Blitz getroffen sinkt der eine Malaie nieder – der zweite – der dritte –«
   Unten erhob sich gellendes Rufen.
   »Und nun, ums Himmels willen?«
   »Fritz ist weg, in den Wald zurück – da – da springt Steffen aus den Büschen.«
   Eilende Schritte draußen. Findling vernimmt sie trotz seiner Aufregung – er läßt Henrik zu Boden gleiten und zieht ihn zur Tür – sie stellen sich daneben, an die Seite, wo sie aufgeht – sie öffnet sich – des alten Malaien Kopf erscheint – ein Faustschlag Findlings streckt ihn nieder – das blinkende Messer entfällt des Mannes Hand, Findling ergreift es.
   Schüsse erschallen von außen und Fritzens gellende Stimme: »Wo bist du, Hamburger?«
   »Hier! Hierher!« rufen Henrik und Findling.
   Wiederum ertönen hastige Schritte.
   »Hamburger!«
   »Hier! Hier!«
   Ein Malaie stiegt zur Tür herein, wie von unwiderstehlicher Kraft geschleudert, und liegt am Boden. In der Öffnung erscheint Karl Steffen, nach Art der Singalesen nackt bis auf die kurzen Beinkleider, eine Keule in der Hand. Ganz der Waldmensch, wie Henrik ihn auf der Insel erblickte. Zwei Schläge führt er nach dem Malaien – sie sind tödlich.
   Herein stürmt Fritze, das semmelblonde Haar hängt verwirrt um das braun angestrichene Gesicht, und mit dem Ruf: »Hamburger, haben wir dir?« umarmt er Henrik, vor Rührung schluchzend. In der Hand trägt er einen Revolver.
   Findling nimmt ihm die Waffe. Bei der Aufregung des Schneiders konnte sie gefährlich werden.
   »Fort!« ruft Steffen.
   Jetzt erst gewahrte er die Fessel.
   Er faßt sie, verschränkt einige Glieder, ein Ruck der starken Hände, und sie bricht wie ein Holzstäbchen. »Fort!«
   Die Gefangenen fassen, so voneinander gelöst, jeder das an seinem Knöchel befestigte Stück und folgen ihm.
   Sie treten in einen Hofraum, der von niedrigen Gebäuden umgeben ist – eilen durch einen breiten Torweg – vor ihnen liegt der Wald.
   Wildes Geschrei und Hundegebell klingt von rechts her, in eiligem Lauf erreichen sie die deckenden Büsche.
   Während Findling, Henrik und Fritz sich durch das Unterholz drängen, bleibt Karl am Rand des Waldes stehen. Zwei Hunde nehmen hier die Spur der Flüchtlinge auf, Keulenschläge strecken sie nieder. Ein eilig folgender Malaie teilt ihr Schicksal. Karl hebt den leblosen Körper empor und scheudert ihn mit Aufbietung seiner ganzen Kraft den Nachdrängenden entgegen und springt den Freunden nach.
   Vor dem Wald erhebt sich Klagegeheul. Steffen gibt die Richtung des weitern Marsches an und bleibt selbst hinten, um den Rückzug zu decken. Von Zeit zu Zeit lauscht er, aber sein scharfes Ohr vernimmt nichts von Verfolgern.
   Eine Stunde haben sich die Flüchtlinge mit Aufbietung aller Kraft durch den verschlungenen Wald gearbeitet, sie sind erschöpft – doch schon stehen Bäume und Büsche lichter, sie sehen einen Weg vor sich, Karl heißt sie halten und ruhen. Alle bis auf ihn triefen von Schweiß und atmen nur mühsam, ermattet lassen sie sich nieder. Die braune Farbe ist zur Hälfte von Fritzens Angesicht verschwunden, es zeigt nur noch helle und dunkle Flecke, aber die wasserblauen Augen blicken so ehrlich und treuherzig in die Welt, wie nur je.
   Als er endlich zu Atem gekommen, sagte er: »Ne, Hamburger, wat ick mir freue.«
   »Mein guter Fritz!« erwiderte dieser und schüttelte ihm gerührt die Hände. »Mein teurer Freund! Und du, mein guter Waldmensch, mein lieber Karl!« auch ihm sagte der herzliche Händedruck von inniger Dankbarkeit, »welche Freunde, welche Helden seid ihr!«
   »Na, det war nischt Besonderes; wie ick uff det Schiff die sieben Insulaner abmurkste, hinterher die vier Kerls in die Höhle jefangen nahm un endlich eene richtige Schlacht mit Schießerei und Attacke jewann, det war anders!«
   Henrik mußte trotz seiner Erregung und tiefen Rührung doch über Fritzens grausame Aufschneidereien lächeln. Der Schneider berichtete seine Heldentaten so oft, daß, wie Henrik annahm, er endlich selbst daran glaubte. Findling dankte jetzt ebenfalls den beiden, Karl und Fritz, in männlichen, von Herzen kommenden Worten für ihre kühne Hilfeleistung. Dann ging es an ein Erklären. Als die Gefangennahme des Kapitäns und Henriks bekannt geworden war, zögerte Steffen nicht einen Augenblick, ihre Spur aufzunehmen. Er hatte damals Amea verfolgt und glaubte, auch die Davongeführten in der Richtung suchen zu müssen, in welcher jener damals entflohen war, denn er nahm mit Sicherheit an, daß der Schurke an dem Überfall beteiligt sei. Steffen beschloß, die spärliche Tracht des gemeinen Singalesen anzulegen, Beinkleid und Kopftuch, und konnte in dieser, bei seiner braunen Hautfarbe, recht gut für einen Eingeborenen gelten. Fritz, den der Verlust seines »Hamburgers« fast außer sich brachte, wollte unter keinen Umständen zurückbleiben, und da Karls Absichten durch sein europäisches Kostüm und Äußeres durchkreuzt worden wären, suchte er sein Balinesengewand hervor und ließ sich in der Apotheke Gesicht und Hände braun färben. Dann bewaffnete er sich mit einem Revolver, der ihm gefährlicher war als den Gegnern, während Karl nach seiner langjährigen Gewohnheit nur seine Keule und einige Steine als Wurfgeschosse bei sich führte, und nun zogen sie aus. Karls ausgebildeter Ortssinn brachte sie in der Richtung der Flucht des Malaien vor das Gehöft, welches die Gefangenen barg. Er umschlich es und überzeugte sich, daß nicht viel Männer anwesend sein konnten. Da es ihm nicht gelang, die Anwesenheit der Gefangenen festzustellen, kam Fritz auf die Idee, dies mit musikalischen Leistungen zu versuchen. Groß war die Freude, als der Versuch gelang. Fritz mußte sich dann, den frommen Hindu spielend, am Waldrand niederlassen, um die durch das Pfeifen bereits erregten Malaien durch seine Erscheinung herauszulocken, während Karl zu seinem Schutz im Hinterhalt lag. Der tapfere Schneider, der dem Waldmenschen blindlings vertraute, tat es, und so wurde, nachdem er später noch mit einigen Schüssen, wenn sie auch niemand schadeten, die Malaien wenigstens erschreckt hatte, die Rettung vollendet.
   Während sie noch ihre gegenseitigen Erlebnisse austauschten, vernahmen sie Pferdegetrappel, und durch die Büsche lugend, gewahrten sie einen Truppeingeborener Polizeireiter, welcher von einem Engländer angeführt wurde.
   Findling trat auf den Weg und sprach den Offizier an, sich ihm nennend und seine Erlebnisse mitteilend.
   Dieser war höchst erfreut, nicht nur über die Rettung der Gefangenen, sondern auch darüber, daß er nun Kenntnis hatte, wo das malaiische Raubnest, welches die Behörde als den Schlupfwinkel gefürchteter Diebe und den Aufbewahrungsort ihres Raubes schon lange suchte, zu finden war.
   Einer der Reiter führte glücklicherweise die Werkzeuge bei sich, die Ketten von den Füßen Findlings und Henriks zu lösen. Der Offizier gab ihnen einige seiner Leute zur Begleitung und zum Schutz und jagte mit den andern eilig davon.
   Findling und seine Gefährten setzten ihren Weg jetzt auf der Straße fort, erbaten sich im nächsten europäischen Landhaus einen Wagen, der ihnen bereitwilligst gewährt wurde, und erreichten rasch die Stadt und den »Roland«.
   Die Mannschaft schrie ein Hurra über das andere, als die lebhaft Betrauerten samt ihren Rettern an Bord kamen. Martin vor allen war überglücklich.
   Findling wurde von großer Sorge gequält um den Schatz, den er heben sollte und durch den er noch Aufschlüsse zu erhalten hoffte, die vielleicht sein ferneres Lebensschicksal bestimmten. Er ging in seine Kajüte, um sich umzukleiden. Als er wieder an Deck erschien, erteilte er zum Erstaunen aller Befehl, das Schiff segelfertig zu machen, und begab sich ans Land.
   Während er unten weilte, waren Henrik und Fritze von der Mannschaft umringt und mußten von ihren Abenteuern berichten. Karl hatte sich ins Takelwerk begeben. Henrik schilderte schlicht und kurz alles Vorgefallene, die Verdienste Steffens und Fritzes um ihre endliche Rettung nach Gebühr hervorhebend.
   Der Schneider, der in seinem von Dornen zerfetzten indischen Gewand und mit seinem braun und weiß gestreiften Gesicht einen überaus komischen Anblick bot, war sehr aufgeblasen.
   »Die Kerls liefen, als sie mir sahen, mit Siebenmeilenstiefeln, aber so 'n Stücker drei hab' ick et doch noch beigebracht; dem eenen von die jelben Onkels hab' ick eene Knallschote jejeben, det er 'ne zweete nich verlangen wird. Die imponieren mir noch lange nich.«
   Die Matrosen lauschten mit dem größten Vergnügen diesem Bericht seiner Heldentaten, bis der Befehl des zurückkehrenden Kapitäns sie an die Arbeit rief.
   Findling hatte zunächst den Konsul aufgesucht und dann in dessen Begleitung die Behörde von allem in Kenntnis gesetzt, was ihm widerfahren war. Jetzt gab er Befehl, das Schiff klarzumachen, und ließ Segel setzen.
   In großer Eile und augenscheinlich bestürzt kam Herr Spieß an Bord.
   »Wie, Sie wollen wirklich segeln? Doch zunächst meinen Glückwunsch zu Ihrer Rettung aus drohender Gefahr, Herr Kapitän. Sie böser Mann hätten mich, der ich so viel Teilnahme für Sie hege, übrigens auch von Ihrer Befreiung in Kenntnis setzen dürfen, um meine ernste Besorgnis zu verscheuchen.«
   Mit kalter Ruhe entgegnete Findling: »Ich werde Ihnen nach meiner Rückkehr einen Besuch abstatten, Herr Agent, der Sie wohl noch weiterer Besorgnisse entheben wird.« Er machte ihm eine kurze Verbeugung und wandte sich hinweg. Spieß entfernte sich bleichen Angesichts.
   Eine Stunde später segelte der »Roland« vor einem frischen Nordost gen Westen.


   Der Letzte vom »Admiral«

   Am fünften Tag nach der Ausfahrt trieb der »Roland« vor einem leichten Luftzug mit kaum zwei Knoten Geschwindigkeit. Den Bug nach Westen gerichtet, schaukelte er sanft auf den Wellen des Indischen Ozeans. Im Ausguck saß ein Jungmann, der mit scharfen Augen den Horizont absuchte.
   Am Hinterdeck, im Schatten des Sonnensegels, hatte sich, in tiefes Nachdenken versunken, Findling niedergelassen.
   Unaufhörlich beschäftigten ihn alle Vorgänge der letzten Zeit, namentlich insoweit sie sich auf Konsul Isenhoit bezogen. Sollte sich das Rätsel seines Lebens endlich lösen? Sollte er das heiß ersehnte Glück genießen, eine Mutter in seine Arme zu schließen? Freudig hoffte er, aber zuweilen stiegen nagende Zweifel in ihm auf. Wo war er gefunden worden? Wenn der Kapitän, der ihn nach Hamburg brachte, auch Mitteilungen über die Auffindung gemacht hatte, weder das Waisenhaus noch das Seeamt bewahrten Aufzeichnungen darüber. Und die Aussagen des Evers, beruhten sie auf Wahrheit? Bald mußte er Gewißheit darüber erlangen, denn nach der Mittagsberechnung mußten sie heute noch die Insel, von der jener ausgesagt hatte, anlaufen, wenn sie nicht allein in seiner Phantasie existiert hatte. Von Zeit zu Zeit horchte er nach dem Fock, ob der Matrose nicht das Deck anrief. Er erhob sich und sah nach vorn. Da saß am Mast der Berliner und stickte, so gut es ging, an seinem durch den Waldmarsch arg mitgenommenen indischen Anzug.
   Neben ihm stand Henrik und beobachtete die flinken Finger des Schneiders; auch er schaute oft nach vorn, denn er wußte, was Findling bewegte und was dieser von der gesuchten Insel hoffte.
   »Ick trage ihm doch noch bei Pinkerts uff 'n Maskenball«, sagte Fritz, auf den Anzug anspielend, welchen er ausbesserte, »ick kriege ihm wieder in Ordnung, und dann soll die janze Reezenjasse vor Neid platzen. An wenn ick meinen Orden jut versilbere, dann koof' ick die jute Olle un Line seidene Kledaschen un Hüte mit wat druff, un denn jeht et aber nach 'n Jrunewald! Aber fein, sage ick dir, Hamburger!«
   Henrik freute sich der bescheidenen Zukunftsträume des Schneiders, die so viel des Glückes bargen.
   Unweit von beiden standen Martin und Karl Steffen, der letztere, wie alle übrigen, in einfacher Matrosentracht. Er war viel gesprächiger geworden in dieser Zeit, besonders wenn er sich mit Martin, seinem alten Schiffskameraden, unterhielt, und sah viel jugendlicher aus als zu der Zeit, da er an Bord kam. Im allgemeinen aber hielt er sich entfernt von allen, saß oft stundenlang oben und blickte sinnend über das unendliche Meer. Sein Auge sowohl wie seine Züge trugen die Zeichen des wiedererwachten Geisteslebens, und es war zu hoffen, daß er die dunkle Periode seines Lebens ganz überwinden werde – daß sie dann, einem wüsten Traum gleich, hinter ihm liegen und er wieder der werden würde, der er einstmals war.
   »Sieh, Karl«, sagte Martin, »in diesem Meer tat ich meine erste Fahrt auf dem ›Nautilus‹, und hier, südwärts von Ostindien, erlebte ich mein erstes Abenteuer.«
   »Wie war das?« fragte Steffen.
   »Wir steuerten von Bombay auf das Kapzu, es war ein Wetter wie heute; ich hatte oben zu tun, als ich plötzlich ein treibendes Boot erblickte. Ich rief das Deck an, und der Kapitän ließ die Jolle aussetzen, um zu erfahren, welchem Schiff das Boot angehören möchte. Ich gehörte zur Jolle. Wie wir an das fremde Fahrzeug herankamen, hatten wir einen schrecklichen Anblick. In dem Boot lag eine tote Malaiin, die ein kleines Kind, ein weißes, nettes Ding, das uns aus blauen Augen anstarrte, neben sich hatte. In meinem ganzen Leben habe ich keinen so rührenden Anblick mehr gehabt. Das Wurm war munter, aber die gelbe Frau war mausetot. Wir sahen nach dem Schiffsstempel, fanden aber keinen, nahmen das Kind und brachten es dem höchlichst erstaunten Kapitän, der, wie wir, tief gerührt war.«
   Ein Geräusch machte sie umschauen – und sie sahen beide in des Kapitäns sehr bleiches Angesicht. Als er sich bemerkt fühlte, wandte er sich weg und ging langsam wieder nach vorn.
   Martin war hiervon in höchstem Grade betroffen.
   »Was wurde aus dem Kind?« fragte Steffen.
   »Oh«, antwortete der Alte leise, »wir brachten es glücklich durch und nahmen es mit nach Hamburg.«
   »Und dann?«
   »Wie ich später erfahren, ist es ins Waisenhaus gekommen, und«, setzte er noch leiser hinzu, »weißt du, daß ich manchmal den Gedanken habe, der Kapitän sei eben jenes Kind gewesen, welches wir damals fanden? Er ist nämlich aus dem Waisenhaus zur See gegangen und hat, wie ich weiß, keine Angehörigen; er ist ein Findelkind; ich habe mich bisher nur gescheut, ihn nach weiterm zu befragen.«
   »Es geschehen immer noch Wunder«, sagte Steffen und blickte sinnend in die Ferne.
   Findling, welcher genügend von Martins Äußerungen vernommen hatte, um das lebhafteste Interesse dafür zu gewinnen, ging wieder nach hinten und verschwand in seiner Kajüte. Nach einiger Zeit wurde Martin zu ihm berufen.
   Zu des letztern größtem Erstaunen sagte der Kapitän mit tiefem Ernst: »Ich habe etwas von deiner Unterredung mit Steffen gehört, Martin, und möchte dir einige Fragen vorlegen, die du mir, bei deinem Seelenheil, wahr beantworten wirst.«
   »Das soll so sein, Kapitän.«
   »Wo fandet ihr das Kind mit der toten Malaiin?«
   »Ganz genau, Kapitän, weiß ich das nicht.«
   »Aber es war in diesen Gewässern?«
   »Sicher, Herr, auf der Route von Bombay nach dem Kap.«
   »Wann war das?«
   »Das ist jetzt genau fünfundzwanzig Jahre her; es war meine erste Reise.«
   »Wie sah das Kind aus? War es ein Knabe?«
   »Es war ein netter, flachsköpsiger Junge.«
   »Was wurde aus dem Kind?«
   »Nun, später habe ich gehört, daß der Kapitän, der selbst ein halbes Dutzend Kinder hatte, den Jungen ins Waisenhaus gegeben hat. Angehörige waren nicht ausfindig zu machen.«
   »Besinnst du dich noch, wann ihr damals nach Hamburg zurückkehrtet?«
   »Genau, Kapitän, denn es war an meinem fünfzehnten Geburtstag; wir hatten ungewöhnlich gute Fahrt gehabt.«
   »Und auf welchen Tag fällt dein Geburtsfest?«
   »Auf den vierten September.«
   »An welchem Tag fandet ihr das Kind?«
   »Es war im Juni, Herr, den Tag weiß ich nicht.«
   Am 4. September konnte man in Hamburg noch keine Kunde von dem Untergang der »Elisabeth« haben, erwog Findling bei sich; der Konsul und sein Kind konnten noch nicht vermißt werden, als der im Indischen Ozean aufgefundene Knabe in Kamburg anlangte. Das erklärte, warum alle Nachforschungen vergebens waren. Das Zugrundegehen der »Elisabeth« verschleierte alles noch mehr.
   Martin hatte eine Frage auf der Lippe, wagte aber doch nicht, sie zu äußern.
   »Und«, wandte sich der Kapitän wieder an ihn, »was du mir eben gesagt hast, kannst du beschwören, wenn es nötig sein sollte?«
   »Sicher, das kann ich.«
   »Es ist gut, ich danke dir.«
   »Bestimmt ist Findling der kleine Junge von damals, gewesen!« sagte sich Martin, als er hinausging.
   »Ho, Deck!« schallte es vom Fock.
   »Was da?«
   »Land nach vorn.«
   »Wo da?«
   »Zwei Strich über Steuerbord.«
   Man benachrichtigte Findling; dieser stieg selbst mit dem Glas nach oben und hielt in angegebener Richtung Ausschau. Er sah wirklich Land.
   Die Richtung des Schiffes wurde geändert, und der »Roland« lief bei etwas aufgefrischtem Wind auf das angesprochene Land zu.
   Nach einer Stunde konnte man die Insel – nur von einer solchen konnte in dieser Breite die Rede sein – schon von Deck aus erkennen.
   Am Nachmittag lag eine seltsam gestaltete Felseninsel vor den Schiffern, die von ausgedehnten Riffen und Kanälen umgeben war.
   Findling, aufs freudigste bewegt, daß die Angabe des Evers über die Lage des Eilands sich bewahrheitet hatte, holte die von jenem entworfene Karte hervor, auf welcher auch die Landmarken, selbst die das Riff durchziehenden Kanäle angegeben waren. Nach dieser Skizze führte ein breiter, tiefer Wasserstreifen von Südost nach West direkt zu einer geräumigen Bucht, in welche hinein der »Gallego« einst von der Strömung getrieben worden war.
   Bald sah Findling den ganz richtig angegebenen Kanal vor sich.
   Die Insel, welche nur spärliche Vegetation aufwies, erhob sich an einigen Stellen hoch empor in grotesken, nackten Felsformationen, deren zwei hervorragende Spitzen einst dem Zeichner als Landmarken gedient hatten. Evers erwies sich also durch seine topographische Aufnahme als erfahrener Schiffer.
   Der »Roland« trieb langsam den Kanal entlang; gelegentliches Loten ergab beträchtliche Wassertiefe.
   Findling suchte mit dem Glas die Küste ab, konnte aber ein lebendes Wesen nicht entdecken.
   Endlich trat der »Roland« in die geräumige Bucht, die von braunen, zerrissenen Felsen, zu deren Füßen sich ein flacher Strand hinzog, eingefaßt war. Die Leinwand wurde geborgen und ein Buganker fallen gelassen. Der Ankergrund war gut, der »Roland« lag in sicherm Hafen. Zu der Leute Verwunderung ließ Findling die Waffenkammer öffnen und Gewehre und Patronen verteilen.
   »Wir sind in einem Teil der Welt, den häufig malaiische Räuber unsicher machen«, erklärte er der Mannschaft, »wir wollen uns nicht überraschen lassen.« Dann stellte er Wachen aus.
   Wenn auch die Matrosen sich verwundert fragten, was der »Roland« an dieser wüsten, räuberischen Anfällen ausgesetzten Insel zu suchen habe, war ihr Vertrauen zu dem Führer doch groß genug, um sie, die Büchse in der Hand, mit gelassener Ruhe der kommenden Dinge harren zu lassen.
   Henrik hatte Findling erklärt: wenn, woran er nicht zweifle, die Insel auch von denen aufgesucht werde, welche zufällig oder durch List in den Besitz des Geheimnisses gekommen waren, so würden jedenfalls Malaien unter Führung des schuftigen Amea dabei beteiligt sein; dadurch sei jede Vorsichtsmaßregel geboten.
   Bei der Erwähnung des Malaien stieg in Henrik der tiefe, grimmige Zorn auf, der ihn immer befiel, wenn er des Todfeindes gedachte.
   Sehr ernst fuhr Findling fort: »Carsten ist ein trefflicher Seemann, wenn er nüchtern ist. Falls er mit deinem Vetter nach hier ausgelaufen ist, woran ich nach allem Vorgefallenen keinen Zweifel hege, so müßte er bei dem weiten Vorsprung, den er hatte, trotz der Überlegenheit des ›Roland‹ im Segeln, entweder jetzt noch hier sein, oder«, setzte er tief traurig hinzu, »er ist nach vollbrachtem Werk bereits wieder in See gegangen. Wir werden sehen. Der Abend kommt, und für heute ist es zu spät, nach dem Versteck zu suchen!«
   Findling ließ die ganze Nacht Bewaffnete Wache an Deck halten und erschien selbst mehrmals bei ihnen, um sich zu überzeugen, daß sie auf dem Posten waren.
   Einer Feuerkugel gleich stieg endlich der Sonnenball aus der Flut empor und übergoß die Felsgebilde der Insel, die Masten des »Roland«, die leicht rollenden Wogen des Meeres und die in regelmäßigen Zeiträumen sich brechenden Brandungswellen des sich weithin erstreckenden Riffes mit rötlichem Licht.
   Findling ließ Henrik, der unruhig geschlafen hatte, zu sich in die Kajüte entbieten. Er zeigte ihm die unbehilflich entworfenen Zeichnungen mit den hinzugefügten Notizen, welche die Lage des Schatzes angeben sollten.
   Die Strandlinie war ziemlich richtig eingetragen. Zwischen zwei Felsen sollte von dort der Weg aufwärts führen zu einem Plateau, welches in einem engen Tal endete.
   Von da aus war durch Linien, unter Angabe der Entfernungen, der weitere Weg bezeichnet und eine kurze Beschreibung des Verstecks beigefügt.
   »Der Landungsplatz liegt erkennbar uns gegenüber«, meinte Findling, und fuhr mit leicht bebender Stimme fort: »Komm, laß uns unser Heil als Schatzgräber versuchen.«
   Er gab Befehl, die Jolle, ein neues, treffliches Boot, auf das Wasser zu bringen und zu bemannen.
   Als dies geschehen war, empfahl er Marholm und Martin die größte Wachsamkeit, rief Steffen an und begab sich mit ihm und Henrik in die Jolle, in welcher zwei junge Matrosen die Riemen handhabten. Alle waren nach Findlings Anordnung bewaffnet; Karl nur mit der Keule, welche er als Waldmensch geführt hatte. Auch waren im Boot Hacke, Schippe und Brecheisen.
   In wenigen Minuten waren sie am Land, unzweifelhaft an der von Evers bezeichneten Stelle. Hier zog sich zwischen Felsen eine enge Schlucht hinauf, welche, obgleich sie jetzt trocken war, offenbar zuzeiten ein Wasserrinnsal bildete.
   Sie gingen an Land, die beiden Matrosen mußten die Werkzeuge tragen, und stiegen in der Schlucht hinauf. Voran eilte mit der Sicherheit und Geschicklichkeit des geübten Bergsteigers Karl, der den auf dem beschwerlichen Weg langsamer Folgenden bald aus dem Gesicht verschwunden war.
   Nach mühevollem Anstieg erreichten sie das auf der Karte angegebene Plateau und blickten in das durch einengende Felsen beschattete, mit Büschen durchsetzte Tal.
   Hier zog Findling die Karte hervor, um mit ihrer Hilfe den weitern Weg zu suchen.
   Ein steiniger Pfad führte sie zunächst in das Tal selbst. Nach etwa hundert Schritten zeigte sich zu ihrer Linken eine Felsspalte, in welche das Licht von oben hell hineinfiel. In dieser kletterten sie aufwärts, bis sie an ihrem Ende auf einem kleinen, fast runden Platz anlangten, der, mit gewichtigen Felsblöcken übersät, an einer Seite den dunkeln Eingang einer Höhle deutlich zeigte.
   Die Zeichnung Evers' stimmte ganz genau, in dieser Höhle mußte der Schatz ruhen!
   Sie traten ein; ein hochgewölbter Raum, in welchem Dämmerlicht verbreitet war, umfing sie.
   Vorspringende Felswände schienen das Ganze in einzelne Abteilungen abzugrenzen. Der Karte nach mußte der Schatz in der Felskammer zur Linken unter einem Stein ruhen. Die beiden Matrosen hatten ihn gut verborgen.
   Vorsichtig schritten sie hinein. Findling wollte eben Licht anzünden, als von draußen rauhe Stimmen streitender Männer zu ihren Ohren drangen.
   In jäher Überraschung lauschten sie bewegungslos.
   »Ich habe es satt«, klang eine heisere Stimme zu ihnen, »in diesem Steinhaufen herumzuklettern; das Ganze ist Schwindel oder Wahnsinn. Jetzt steigen wir schon seit zwei Tagen in diesen höllischen Felsen auf und nieder, kriechen in Löcher und Höhlen und suchen vergebens nach dem Dorado. Gebt einen Schluck Rum her oder ich gehe keinen Schritt mehr.«
   »Ich habe es Ihnen gleich gesagt, Carsten«, erwiderte, wie Henrik mit Schrecken erkannte, Onno, »daß wir an der falschen Stelle gelandet sind, von der unrichtigen Seite in die Felsen gestiegen sind.«
   »Dann ist die Karte, ist Ihr Plan ja ganz falsch«, brummte der Seemann unwirsch.
   »Sie sind so gut, als sie in der Eile, mit welcher ich sie kopieren mußte, sein konnten. Lassen Sie uns diese Höhle doch einmal genauer untersuchen.«
   Beide gewahrten nicht, daß, während sie auf den Eingang zugingen, sich der Kopf des Malaien Amea vorsichtig über einem höher liegenden Felsen erhob, wie seine funkelnden Augen gleich denen eines Raubtieres in das Tal niederstarrten.
   Findling und seine Begleiter standen schweigend im Dunkel hinter der Felsenwand.
   »Hier muß es sein!« sagte Onno Steenberg frohlockend. »In einer dieser Seitenhöhlen müssen Gold und Diamanten liegen!« Dem Klang der Stimme nach ging er, während er so sprach, auf die Stelle zu, wo die Leute vom »Roland« standen.
   Einer plötzlichen Eingebung folgend, trat Henrik hinter der Felswand rasch hervor und stand im Dämmerlicht vor Onno.
   Ein gellender Schrei, der namenloses Entsetzen ausdrückte, hallte in dem Raum wieder – Onno Steenberg stürzte wie von Furien gepeitscht zur Höhle hinaus.
   Fluchend, aber durch seines Begleiters Benehmen erschreckt, eilte ihm Carsten nach; der hatte Henrik im Halbdunkel mit seinen durch häufigen Rumgenuß getrübten Augen gar nicht gewahrt.
   Findling begriff die Ursache von Onnos Flucht wohl. Er ging zum Eingang der Höhle, um den Davoneilenden, deren mutmaßliche Begleitung er mehr fürchtete als sie selbst, nachzueilen. Sie waren bereits zwischen den Felsen verschwunden; Carstens scheltende Stimme war noch hörbar. Eben wollte Findling sich an Henrik, der von der Begegnung mit Onno sehr bewegt war, wenden, als ein markerschütternder Schrei von oben herunter ertönte.
   Auf dem Fels, der die Höhle deckte, stand Karl Steffen und stierte mit einem Ausdruck furchtbaren Hasses nach der Seite hin, wo vorher des Malaien Kopf aufgetaucht war. Ein breiter Abgrund trennte ihn von der Felspartie, wo jener geweilt hatte.
   »Der Mörder, Horsa!« schrie er gellend und verschwand.
   Leidenschaftliche Erregung erfaßte den Jüngling bei diesen Worten, er wußte, wen der Mann vom »Admiral« meinte.
   Betroffen standen die andern bei diesen sich drängenden, überraschenden Begegnungen.
   Schon kletterte mit außerordentlicher Behendigkeit Karl Steffen, der sich an Fußbekleidung noch nicht hatte gewöhnen können, am Felsen herab. Gleich darauf stand er zornig funkelnden Auges neben Henrik und Findling.
   »Was gibt's, Mann?«
   »Dort Schiff – Prau!« stieß er hervor, und deutete nach Norden, der »Roland« ankerte südlich der Insel. »Dort«, er deutete nach Süd, »Boot, Malaie – John Devil. Kapitän«, sagte er zu Findling, »du ihm nach von oben«, er wies auf die Felsen, »ich, Henrik hinab – Jolle nehmen – folgen.«
   Damit stürzte er davon, den Weg hinunter, den sie heraufgekommen waren. Henrik eilte ihm nach, Findling rief ihm zu, aber er achtete des Rufes nicht und verschwand hinter den Felsen.
   So rasch er konnte, stieg Findling die Schlucht hinan, durch welche Onno und Carsten sich entfernt hatten. Oben gewann er einen Aussichtspunkt nach Süden hin. Weit unten lag ein Boot, in welchem zwei Eingeborene saßen; nur durch einen Felsvorsprung war das Fahrzeug vom »Roland« getrennt, aber dieser lag, die Aussicht für das Auge hemmend, zwischen Bank und Boot. Findling sah den Malaien die Felsen hinabklettern und vor ihm Onno und Carsten auftauchen. Vom »Roland« erblickte er die Mastspitzen, Henrik und Steffen waren nicht sichtbar. So rasch er vermochte, eilte er zurück.
   »Hinab, Leute«, rief er den Matrosen zu, »oder es gibt ein Unglück!« und in beschleunigter Eile suchte er den Weg zum Strand, den Spuren Henriks folgend.
   Mit Sprüngen eines Raubtieres setzte Karl Steffen, in dem all die wilden Instinkte erwacht waren, welche sich während seines Insellebens ausgebildet hatten, hinab zur Tiefe. Mit Erstaunen sahen die auf dem »Roland« ihn kommen, in die Jolle springen und sie in großer Hast segelfertig machen; Mast und Segel waren wie immer darin. In kürzester Zeit war er damit fertig, angstvoll blickte er nach oben – da kam Henrik, gleichfalls wie ein Toller laufend. Auch er sprang ins Boot – es war Wind genug – und sie segelten davon.
   »Hamburger«, rief Fritz, der an Deck stand, »wat jiebt et? Wohin?« Aber Henrik hörte ihn nicht mehr.
   Kaum war die Jolle um den nächsten Felsvorsprung verschwunden, da erschien Findling. Vom Ufer aus rief er den »Roland« an: »Das Langboot heraus! Hurtig!« Die bestürzten Matrosen arbeiteten mit Aufbietung aller ihrer Kräfte, um das schwere Boot auf das Wasser zu bringen. In zehn Minuten war es flott und trieb dem Land zu. Auf der Fahrt wurden der Mast gesetzt und die Segel entfaltet.
   Findling stieg ein, hinter ihm die beiden Matrosen, welche mit ihm in den Felsen gewesen waren.
   Er setzte sich an das Steuer – außer ihm waren noch sechs Leute im Boot – und segelte der Jolle nach.
   Marholm rief er zu, als sie am »Roland« vorbeikamen: »Wachsam, malaiische Räuber sind in der Nähe!« Das Langboot trieb flott vorüber.
   »Ach Jotte doch, wat wird det jeben? Da is ja det Ende von weg«, jammerte Fritz und lief unruhig an Deck hin und her.
   Als Karl und Findling den Felsvorsprung umsegelt hatten, sahen sie, kaum zweihundert Faden entfernt, das Boot des Malaien, welches eilig durch die Wellen jagte, vor sich.
   Am Steuer saß Amea, in seiner Nähe zwei stämmige Burschen; weiter vorn, teilweise durch das braune Segel gedeckt, befanden sich Onno und Carsten.
   Zornig kämpfte sich Henriks Herz zusammen, als er den Mörder seines Vaters erblickte; sein Grimm übertönte in diesem Augenblick selbst den Schmerz über Onnos Anwesenheit in jenem Boot.
   Die Jolle zog gut durch das Wasser, der Bug schäumte, aber sie kamen den Verfolgten nicht näher.
   »Der Wind steht Nord«, sagte Steffen mit grimmiger Freude, »er kann nicht zurück, wir haben ihn.«
   Ein gewaltiger Kampf tobte in Henriks Seele: der heiße Wunsch, den Mörder seines Vaters zu strafen, mit dem schweren aber bessern Entschluß, die Vergeltung dem Himmel zu überlassen.
   Der Malaie war ein geschickter Bootführer und man mußte annehmen, daß er das Fahrwasser genau kannte; aber auch Karl Steffen zeigte sich jetzt als ein Mann, der ein Boot mit vollendeter Geschicklichkeit zu handhaben verstand.
   Noch immer jagten sie geradeaus nach Westen zu.
   Jetzt hatte das Boot der Prau die Insel nicht mehr in Luv, und bekam den Wind voll von Nord. Es neigte sich stark zur Seite.
   Amea legte nach Süden um, er mußte einen Kanal vor sich haben, und kam vor den Wind.
   Einen Augenblick machte man in dem verfolgten Boot Miene, beizulegen und die zwei Verfolger zu erwarten.
   »Mach dich fertig!« sagte Steffen. Henrik führte auf Findlings Befehl einen Revolver bei sich. »Sie müssen keine Schußwaffen haben, sonst wären sie nicht vor uns davongelaufen.«
   Jetzt kam auch die Jolle in den Wind und legte nach Süden um.
   Bald zeigte sich's, daß sie nun, vor dem Wind ablaufend, bei weitem bessere Fahrt machten als das Boot der Verfolgten.
   »Es ist zu schwer beladen«, sagte Henrik, »bald sind wir an ihnen – Karl, schone den jungen Europäer, er ist mein Vetter. Wir haben es nur mit dem Mörder zu tun.«
   »Der Schurke wird schon bald Ballast auswerfen, gib acht«, sagte finster Steffen.
   Das durch das Gewicht von fünf Menschen belastete Boot nahm, vor einer frischen Brise segelnd, Wasser auf.
   Die Jolle kam näher und näher – blieb der Malaie vor dem Wind, so mußte sie ihn binnen einer halben Stunde erreichen.
   Da bog er schon nach Westen um und lief am Wind. Bei der Wendung stürzte Carsten, der sich erhoben hatte, über Bord und verschwand in den Wellen. Die Gefährten Ameas hatten ihn über Bord gestoßen.
   »Rette ihn!« stöhnte Henrik.
   »Nichts mehr zu retten«, sagte lakonisch Steffen.
   Jetzt kam der Malaie wieder rascher nach vorn, dennoch machte die Jolle sichtbar bessere Fahrt.
   Henrik sah mit Schaudern, wie auch Onno plötzlich im Boot emporschnellte. Der Stoß eines Malaien traf ihn hinterrücks, und er flog wie Carsten über Bord.
   »Am Gottes willen«, schrie Henrik, »rette ihn, rette meinen Vetter – rette ihn!«
   »Später«, sagte Steffen mit demselben finster« Ernst; »erst zum Mörder deines Vaters, meiner Schiffskameraden. Laß die Hand von der Schote«, schrie er, als Henrik den Klüver fliegen lassen wollte, »oder ich steuere in die Brandung und wir gehen beide zugrunde! Ich bin der Letzte vom ›Admiral‹ und Gott hat mich zum Rächer meiner Kameraden bestellt.«
   Totenbleich suchte Henriks Auge nach Onno, ohne ihn zu erspähen.
   Da sie fortwährend nach vorn aussahen, gewahrten sie nicht das Langboot, welches ihnen schäumend nachjagte.
   »Ha!« schrie Karl mit Donnerstimme, »er ist in der Falle, er kann nicht weiter.«
   Der Malaie hatte in eine Sackgasse eingelenkt.
   »So, jetzt Bord an Bord«, jubelte er, »nun kommt die Stunde der Vergeltung. Mach dich fertig zu feuern, Horsa, aber nicht auf den Mörder, der ist mein.«
   Das verfolgte Boot hatte in der Unmöglichkeit, weiter zu segeln, das Segel flattern lassen und schaukelte steuerlos auf den Wellen des breiten Kanals. Die Malaien hatten sich erhoben und standen, die Messer in den Händen, bereit, um ihr Leben zu kämpfen.
   Wie ein Renner kam die Jolle heran. Zehn Schritt vor den Malaien warf Karl das Boot herum und ließ die Segel flattern; zugleich erhob er sich.
   »Rache für den ›Admiral‹, John Devil!«
   Da verließ mit dem Sprung eines zur Verzweiflung getriebenen Raubtieres der Malaie sein Boot, flog über das Wasser und erreichte Steffen.
   Von dem gewaltigen Abstoß schlug das Boot der Prau um, und die beiden braunen Gefährten Ameas zappelten im Wasser, sich am Kiel des Fahrzeugs anklammernd.
   Aber der Waldmensch war der Mann, auch einem solchen tigerhaften Angriff zu begegnen. Seine unnahbaren Hände empfingen den Gegner, in dessen Faust das Messer blinkte. Beide stürzten in die Flut. Fast hätte die Jolle das Schicksal des andern Bootes geteilt, doch nahm sie nur etwas Wasser auf und blieb flott. Angstvoll schaute Henrik auf das Wasser, in dem die beiden Todfeinde verschwunden waren. Sekunden – lange Sekunden vergingen – endlich tauchte neben der Jolle das triefende Haupt Karl Steffens auf. Gleich darauf erschien der Kopf des Malaien, sein Gesicht war starr und glanzlos die Augen, er war tot.
   Karl kletterte in die Jolle.
   »Dein Vater ist gerächt!« sagte er und zeigte auf den Leichnam, in dessen Herz ein Messer bis zum Heft begraben war.
   Henrik schlug beide Hände vors Gesicht, um dem schrecklichen Anblick zu entgehen. Er war tief erschüttert. Als er, endlich ruhiger geworden, wieder um sich blickte, war nichts mehr zu gewahren, der Leichnam des Mörders war gesunken.
   Mit Staunen sahen sie jetzt das Langboot mit Findling nahen, der aus der Ferne die wilde Jagd und deren Ende mit angesehen hatte.
   »Gott sei Dank, Junge, daß du gerettet bist. Deinen würdigen Vetter habe ich aus dem Wasser gezogen, wie einst dich –«
   »Gott sei gepriesen!« rief Henrik bei dieser Nachricht »Mein ganzes Leben wäre ein unglückliches gewesen, wenn er vor meinen Augen ertrunken wäre, aber ich konnte ihm nicht beistehen.«
   »Die furchtbare Tragödie auf jener einsamen Insel, die deines Vaters Grab birgt«, sagte Findling mit feierlichem Ernst, »hat ihren Abschluß gefunden; Gottes Hand hat den Mörder getroffen.«
   Mit wildem Stolz lauschte Steffen diesen Worten; die heiße, grimmige Sehnsucht seiner Seele war befriedigt.
   Das Langboot legte neben die Jolle, und Henrik ging hinüber zu dem bewußtlos im Stern liegenden Onno, dessen Gesicht und Hände entsetzlich aussahen.
   Auf Befehl Findlings fischte Steffen die beiden Malaien auf, die glücklich waren, dem fast unvermeidlichen Tod entronnen zu sein.
   Henrik hielt Onno ergriffen im Arm.
   »Die Brandungswellen und die Felskanten haben ihm bös mitgespielt, und nur mit dem Langboot konnte ich es wagen, ihn an Bord zu holen.«
   Onno schlug die Augen auf und blickte wie ein Träumender lange in Henriks Gesicht.
   »Henrik! Bist du's? Ist es möglich? Du lebst? Du bist nicht durch meine Schuld ertrunken?«
   »Gott hat damals mich gerettet, wie heute dich!«
   Leise seufzte der Kranke vor sich hin und sagte dabei: »Welches Glück, daß er lebt, jetzt wird der Wurm aufhören, mir am Herzen zu nagen.« Laut setzte er hinzu, Henrik antwortend: »Ich bin zwar gerettet, aber nicht für lange, ich werde diesen Tag nicht überleben.«
   »Das verhüte der Himmel!«
   In Onnos Gesicht, in seinem sonst so stechenden Auge spiegelte sich eine ungewohnte Weichheit wider, als er in Henriks teilnahmsvolles Antlitz sah.
   »Du bist rein und gut – ich wollte, ich wäre wie du.« Nach einiger Zeit sagte er wieder und schauderte: »Welch furchtbare Stunde – welche Todesangst – vergib mir, Henrik – ich kann sonst nicht sterben –«
   »Tu wirst nicht sterben, Onno, und ich habe dir nichts zu vergeben. Fasse Mut, du wirst genesen.«
   Onno sank wieder in Ohnmacht.
   In Eile wurde jetzt die Rückfahrt angetreten, erschüttert von den Vorgängen saßen alle da.
   An Bord angekommen, zeigte es sich bei näherer Untersuchung, daß Onno zwar schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt war; Arm und Rippen waren gebrochen.
   Fritze Fischer war seelenfroh, als sein Hamburger glücklich wieder da war. »Na, da is aber det Ende von weg«, sagte er mehrmals, als er alle Vorgänge kennenlernte.
   Am Nachmittag noch stieg Findling wieder mit Karl und einigen Leuten in die Felsen und suchte die Höhle auf, während Henrik bei Onno blieb, der in heftigem Fieber lag. An der von Evers bezeichneten Stelle fand man nach Wegräumen eines Steines und Lockerung der Erde drei Mahagonikästchen, von denen zwei sehr schwer waren, das dritte leichter. Sie wurden nicht ohne Mühe hinabgeschafft und in des Kapitäns Kajüte gebracht.
   Mit Beklemmung öffnete Findling die Kästchen. Er fand in dem einen Goldbarren mit genauer Gewichtsbezeichnung auf einem Papier, welches mit Isenhoit unterfertigt war. Das zweite enthielt Goldstücke und Banknoten, das dritte, kleine Kästchen eine funkelnde Juwelensammlung von großem Wert und ein Päckchen zusammengebundener Schriftstücke, welche Findling alsbald zu lesen begann.
   Da waren zärtliche Briefe einer Gattin und Mutter aus Hamburg, eines edlen Frauenherzens, das sich nach Mann und Kind sehnte, die sie aus Liebe zur eigenen, dem Tod geweihten Mutter für einige Zeit verlassen hatte. Sie beschwor den Gatten, so rasch als es der Zustand des Kleinen erlaubte, nach Hamburg nachzueilen.
   Da stieß er auf eine Stelle – totenbleich wurde er dabei – »es ist ein ganz abscheuliches Verbrechen von dem Chinesen, das Kind zeitlebens mit seinen widerlichen Schrift– und Zauberzeichen zu verunstalten, und er sollte gestraft werden«, so lauteten die Worte.
   O Schicksal! Er selber trug ja auf dem linken Oberarm diese unvertilgbaren chinesischen Tätowierungen. Er hatte sie früher schon einmal einem gebildeten Chinesen gezeigt, und der hatte ihm gesagt, diese Zeichen seien ihm nur aus Wohlwollen eingeätzt, sie sollten nach dem Glauben seiner Landsleute vor Unheil schützen.
   Sollte es möglich sein? War er der Sohn des Konsuls? Hatte er noch eine Mutter unter den Lebenden? Sah er dem Vater so ähnlich, wie das Benehmen der Singalesen ihn glauben ließ, so würde auch die Mutter ihn erkennen. Er rief Henrik, damit er teil an seinem Glück nehme, und nicht genug konnte er ihm von Frau Konsul Isenhoit erzählen.
   Am andern Tag ging der »Roland« unter Segel, nachdem man die beiden Malaien an Land geschickt hatte, um ihr Fahrzeug aufzusuchen.
   Nach rascher Fahrt erreichte er am vierten Tag Point de Galle. Der herbeigerufene Arzt erklärte Onnos Zustand für nicht gefährlich; er wurde zu weiterer Pflege ins Krankenhaus gebracht.
   Eine Überraschung bereitete Findling das geheimnisvolle Verschwinden des Herrn Spieß, der die Geschäfte des Hauses in grenzenloser Unordnung zurückgelassen hatte.
   Eine andere, angenehmere Überraschung hatte Konsul Peters für ihn.
   »Jetzt haben wir einen klassischen Zeugen für Isenhoits Abreise«, sagte er ihm. »Mr. Brakenbird, der seit Jahren in den Bergen hier wohnt, war mit Isenhoit sehr befreundet und hat ihn auch an Bord des ›Gallego‹ begleitet, ihn und seinen kleinen Jungen. Kommen Sie heute abend mit zu Johnson hinaus, bei denen ist er zu Gast.«
   Am Abend fuhren sie hin. Als Brakenbird Findlings ansichtig wurde, rief er höchst überrascht: »Mein Gott, was ist denn das – Sie sind ja Isenhoit wie aus dem Gesicht geschnitten.« Er erzählte dann, wie er, damals auf Reisen befindlich, erst sehr spät erfahren habe, daß der Konsul auf dem Meer mit dem Kind sein Ende gefunden hatte. Er ließ von Findling kein Auge, nur sagte er manchmal: »Sonderbar! Merkwürdig!«
   Die beiden Singalesen drängten sich ins Zimmer, unterwürfig grüßend.
   Sadil wandte sich an den Kapitän und sagte: »Alte Hami meint, du kleiner Sohn von Konsul, du kleiner Henry, du ihm zu sehr ähnlich.«
   »Und wenn du, Herr, kleiner Henry«, sagte sie, »du auf den linken Arm chinesisch Zauberzeichen tragen, das böser Chinese heimlich machen – Konsul sehr böse.«
   Da streifte Findling den Ärmel zurück und zeigte den überraschten Männern das blaue eingeätzte Zeichen.
   Die alten Diener jubelten und schlugen die Hände zusammen: »Das kleine Henry, das Sohn von Konsul, ihn an Gesicht kennen, ihn an Zeichen kennen.«
   »Es grenzt ans Unglaubliche!« sagte Mr. Brakenbird, als Findling von seinem Lebenslauf und schließlich von den Briefen seiner Mutter erzählte. »Wenn je ein Sohn seinem Vater ähnlich war, so sind Sie es. Und Mrs. Isenhoit lebt noch? Welches Glück, welches Glück!«
   Trotzdem unter den Anwesenden über Findlings Abstammung kein Zweifel herrschte, ließ der Konsul doch später alle notwendig erscheinenden gerichtlichen Schritte unternehmen, um seine Identität zu beweisen.
   Findling war unendlich glücklich, und Henrik freute sich der wunderbaren Fügung aufrichtig, nicht minder Martin, der als Zeuge herangezogen worden war.
   Der Kapitän vernachlässigte indessen seine Pflichten gegenüber den Reedern nicht. Bereitwillig half ihm der Konsul die Geschäfte abwickeln, auch Onno, der sich hierbei als vorzüglicher Geschäftsmann zeigte, gab wertvolle Ratschläge.
   Einige Tage später traf ein direkt von Hamburg kommender neuer Bevollmächtigter des Hauses Oswald ein, der Onno seiner Verpflichtungen enthob; die Herren waren nämlich mißtrauisch geworden, als sie nachträglich von seinen Schulden erfuhren. Der neue Ankömmling nahm sofort die Leitung der Geschäfte in die Hand.
   Kurze Zeit darauf hatte Onno, den Henrik bei seinen häufigen Besuchen, ganz gegen seine sonstige Art, still und ergeben gefunden hatte, das Krankenhaus verlassen, ohne zu sagen, wohin er sich gewendet habe. Henrik fand einige an ihn gerichtete Zeilen vor. In diesen sagte Onno, nur mit Scham könne er auf sein vergangenes Leben zurückblicken – aber durch eine Stunde namenlosen Entsetzens geläutert, fühle er noch die Kraft in sich, ein neues, würdigeres Dasein zu beginnen. In tiefgefühlten Worten sagte er Henrik Lebewohl, seinem fernern Leben alles Glück wünschend.
   »Deiner Liebe und Treue bin ich nicht würdig«, schloß er, »aber bete für mich.«
   Henrik war von diesen Zeilen sehr ergriffen und hoffte von ganzer Seele, daß es Onno gelingen möge, eine neue Existenz zu gründen. Findling versprach ihm, über Onnos vergeblichen Versuch, sich das Vermögen des Konsuls anzueignen, zu schweigen.
   Durch des neuen Bevollmächtigten energische Tätigkeit konnte der »Roland« bald in See gehen. Nach einer raschen Reise, die freilich jetzt durch den Kanal von Suez zurückgelegt wurde, langte der »Roland« vor der Elbe an.
   Henrik begrüßte jedes Haus am Ufer, als sie den Strom hinaufsegelten, nur Karl Steffen stand still und stumm, als ob er Wunder sähe. Sie langten in Hamburg an. Groß war die Freude, als die Mutter, als Onkel Asmus Henrik ans Herz schlossen.
   Aber da war noch eine andere Mutter, eine alte, würdige Dame. Briefe waren dem »Roland« vorangeeilt, und man hatte sie vorbereitet auf den wiedergefundenen Sohn, der kommen sollte.
   Und vor der Tür in dem bescheidenen Häuschen, in welchem Frau Konsul Isenhoit wohnte, stand der reckenhafte Seemann. Er mußte erst minutenlang warten, bis das ungestüme Pochen seines Herzens sich etwas gelegt hatte. Endlich klopfte er an.
   »Herein!« rief eine weiche Stimme. Er öffnete, und vor ihm stand eine hochgewachsene Dame mit schneeweißem Haar; er schaute in ein edles, verhärmtes Gesicht.
   Findling erschrak, als er die Veränderung wahrnahm, welche sein Anblick in diesen Zügen hervorrief. Als ob er eine Erscheinung aus einer andern Welt sei, schaute sie ihn an, in fast schreckenvollem Staunen. Sie streckte die magern Hände nach ihm und flüsterte: »Eduard, mein Eduard!«
   »Nein, nein, nicht der Vater, dein Sohn Heinrich steht vor dir, liebe, liebe Mutter!« Er schlang den Arm um ihre Schulter und weinte wie ein Kind.
   »Mein Heinrich – meines Eduards Ebenbild!« Es waren glückliche Menschen, die hier nach schwerer Prüfung Herz an Herz lagen.
   Fritzens Kummer, von seinem »Hamburger« scheiden zu müssen, war groß. Einigermaßen wurde sein Leid dadurch gemildert, daß ihm der Senator zu einem vorteilhaften Verkauf seines Lombokschen Ringordens verhalf; Fritz erhielt siebenhundertfünfzig Taler dafür, was ihm ein Vermögen dünkte.
   Als er aber nach Berlin abreiste und Henrik ihn zum Bahnhof brachte, sagte er mit Tränen in den Augen: »Hamburger, wenn du mir nur een bisken ästimierst, denn kommst du nach Berlin, Reezenjasse 17, ins zweete Hinterhaus, vier Treppen, da werden wir uns unbändig über freuen un die jute Olle wird dir eenen Mokka vorsetzen – da is det Ende von weg.« Er brachte in der Tat reiches Glück nach der Reezengasse und daneben umfangreiche Mitteilungen von seinen heroischen Taten. Henrik hatte recht geahnt, die Zahl von Fritzens Opfern war auf dem Weg nach Berlin außerordentlich gewachsen.
   Findling und Henrik nahmen sich ihres Waldmenschen, Karl Steffens, soweit es nur irgend möglich war, an, doch war ein tägliches Beisammensein wie früher an Bord ausgeschlossen. Karl, der nur noch einige entfernte Verwandte besaß, fühlte sich in Hamburg unglücklich. So erschien er eines Tages bei Heinrich Isenhoit, ebenso bei Henrik, und erklärte ihnen seine Absicht, nach Indien zurückzukehren und wenn möglich bei dem Radscha von Lombok Dienste zu nehmen. Er sehnte sich nach der Tropenwelt zurück, in der er so lange gelebt hatte, das europäische Klima bekam ihm nicht. Sie beschenkten ihn reich, gaben ihm Empfehlungen mit und förderten seine Reise. Noch lange lebte der Letzte vom »Admiral« in Diensten Anak Madés als Steuermann und genoß unter der Obhut des Fürsten ein zufriedenes Alter.