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| Waldröschen I. Die Tochter des Granden
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Karl May
WALDRÖSCHEN I. DIE TOCHTER DES GRANDEN
1. Kapitel
»Oh, wende deine Strahlenaugen
Von meinem bleichen Angesicht;
Ich darf ja meinen Blick nicht tauchen
Zu tief in das verzehrend Licht. —
Wenn unter deiner Wimper Schatten
Der Liebe mächt‘ge Sonne winkt,
So muß mein armes Herz ermatten,
Bis es in Wonne untersinkt.«
Von den südlichen Ausläufern der Pyrenäen kommend, trabte ein Reiter auf die altberühmte Stadt Manresa zu. Er ritt ein ungewöhnlich starkes Maultier, und dies hatte seinen guten Grund, denn er selbst war von hoher, mächtiger Gestalt. Wer nur einen einzigen Blick auf ihn warf, der sah sofort, daß dieser riesige Reitersmann eine ganz ungewöhnliche Körperkraft besitzen mußte. Und wie die Erfahrung lehrt, daß gerade solche Kraftgestalten das friedfertigste Gemüt besitzen, so lag auch auf dem offenen und vertrauenerweckenden Gesicht dieses Mannes ein Ausdruck, der keinen Glauben an den Mißbrauch so außergewöhnlicher Körperstärke aufkommen ließ.
Sein blondes Haar und seine Züge berechtigten zu der Vermutung, daß er kein Südländer sei; doch war sein Gesicht von der Sonne tief gebräunt, und seine Augen hatten jenen scharfen, umfassenden und durchdringenden Blick, den man nur an Seeleuten, Präriejägern oder sehr weit gereisten Männern zu beobachten pflegt.
Er mochte vielleicht sechsundzwanzig Jahre zählen, doch sein ganzes Wesen atmete jene Ruhe, Erfahrung und Gewißheit, die den Menschen älter erscheinen lassen, als er ist. Seine nach französischem Schnitt gefertigte Kleidung war aus feinen Stoffen, aber bequem gearbeitet, und hinter dem Sattel war ein Reitfelleisen befestigt, das Dinge zu enthalten schien, die dem Reiter wertvoll waren, denn wie unwillkürlich griff er zuweilen danach, um sich zu überzeugen, ob es noch vorhanden sei.
Als er Manresa erreichte, war es bereits am späten Nachmittag. Er ritt durch die alten Mauern und engen Straßen, bis er die Plaza – den Marktplatz – erreichte, wo er ein neugebautes, hohes Haus bemerkte, über dessen Tür in goldenen Lettern zu lesen war,»Hotel Rodriganda«. Der Schärfe seines Rittes nach war zu vermuten, daß er gar nicht beabsichtigt hatte, in Manresa Einkehr zu halten; sobald er aber dieses Schild gelesen, lenkte er sein Tier in kurzem Trab nach dem Tor des Hotels und stieg ab.
Jetzt erst, als sein Fuß die Erde berührte, konnte man seine imposante Erscheinung voll bewundern. Wenn im ersten Augenblick das Herkulische seiner Figur außergewöhnlich erscheinen mußte, so war es doch sogleich die schöne Harmonie seines Gliederbaus, die jenen Eindruck milderte und neben der Bewunderung und Achtung eine freundliche Zuneigung erweckte.
Einige dienstbare Geister eilten herbei, um ihm behilflich zu sein. Er überließ ihnen sein Maultier und trat in den Raum, der für vornehmere Gäste reserviert zu sein schien. Dort befand sich nur ein einziger Mann, der sich bei seinem Eintritt höflich erhob.
»Buenas tardes – guten Abend!« grüßte der Fremde. – »Buenas tardes!« antwortete der Mann. »Ich bin der Wirt. Befehlen Eure Gnaden vielleicht eine Wohnung?« – »Nein, gebt einen Imbiß und eine Flasche Vinto regio.«
Der Wirt erteilte die betreffenden Befehle und fragte dann:
»So wollen Sie heute nicht in Manresa bleiben?« – »Ich reite noch bis Rodriganda. Wie weit ist es bis dahin?« – »Sie werden es in einer Stunde erreichen, Señor. Es sah aus, als ob Sie erst die Absicht hätten, an meinem Hotel vorüberzureiten.« – »Allerdings«, antwortete der Fremde. »Der Name Ihres Hotels hielt mich zurück. Warum nennen Sie Ihr Haus Rodriganda?« – »Weil ich längere Jahre Diener des Grafen war und es seiner Güte verdanke, daß ich mir dasselbe bauen konnte.« – »So kennen Sie die Verhältnisse des Grafen genau?« – »Sehr genau.« – »Ich bin Arzt und stehe im Begriff, mich ihm vorzustellen. Es wäre mir lieb, mich orientieren zu können. Wer sind die Personen, die man auf Schloß Rodriganda antrifft?«
Der Wirt schien, im Gegensatz zu seinen Landsleuten, ein menschenfreundlicher Mann zu sein. Vielleicht war es ihm auch lieb, in der einsamen Nachmittagsstunde eine Unterhaltung zu finden. Redselig antwortete er:
»Ich bin gern bereit, Ihnen jede Auskunft zu geben, Señor. Ich höre an Ihrer Aussprache des Spanischen, daß Sie ein Ausländer sind. Jedenfalls sind Sie von dem kranken Grafen herbeigerufen worden?«
Der Fremde wiegte den Kopf leise hin und her, als sei er zweifelhaft, welche Antwort er geben solle, dann meinte er:
»Es ist so ähnlich, wie Sie meinen. Ich bin ein Deutscher und heiße Sternau, war jedoch längere Zeit erster Assistenzarzt bei dem Professor Letourbier in Paris und wurde dort vor kurzem gebeten, schleunigst nach Rodriganda zu kommen.« – »Ach so! Vielleicht finden Sie den Grafen gar nicht mehr am Leben.« – »Warum?« – »Er ist seit längeren Jahren blind, unheilbar blind, wie die Ärzte sagen, und seit letzter Zeit hat sich auch ein arges Steinleiden bei ihm entwickelt, das neben seiner außerordentlichen Schmerzhaftigkeit schließlich lebensgefährlich wurde. Nur eine Operation kann ihm helfen. Er war bereit, sie vornehmen zu lassen, und rief zu diesem Zweck zwei der berühmtesten Chirurgen an sein Krankenbett, fand aber ganz unerwarteten Widerstand bei seiner einzigen Tochter, Condesa Rosa. Die Ärzte konnten jedoch nicht warten, und gestern hörte ich, daß heute der Schnitt vorgenommen werden sollte.« – »O wehe, so komme ich zu spät!« rief der Fremde, indem er emporsprang. »Ich muß schleunigst fort. Vielleicht ist es noch Zeit.« – »Schwerlich, Señor. Einen solchen Schnitt führt kein Arzt in der Stunde der Dämmerung aus. Übrigens ist es doch möglich, daß man noch gewartet hat, da die gnädige Condesa die Operation von Tag zu Tag verschieben ließ, obgleich die Ärzte, und besonders der Sohn des Grafen, keinen Aufschub gelten lassen wollten.« – »Der Graf Emanuel de Rodriganda-Sevilla hat einen Sohn?« – »Ja, einen einzigen; es ist Graf Alfonzo, der eine lange Reihe von Jahren in Mexiko gewesen ist, wo sein Vater höchst ausgedehnte und reiche Besitzungen hat. Er wurde jetzt nach Hause gerufen, um bei der Operation, die ja den Tod zur Folge haben kann, gegenwärtig zu sein. Graf Emanuel hat natürlich vorher sein Testament gemacht« – »Welche Personen sind außer dem Grafen und seinen beiden Kindern auf Schloß Rodriganda noch erwähnenswert?« – »Da ist zunächst Señora Clarissa, eine sehr entfernte Verwandte des Hauses. Sie ist Oberin des Stiftes der Karmeliterinnen zu Saragossa und zugleich die Duenja der jungen Gräfin, da dieselbe keine Mutter mehr besitzt. Schwester Clarissa ist sehr fromm, wird aber von Condesa Rosa nicht geliebt. Ferner ist da Señor Gasparino Cortejo, eigentlich Advokat und Notar hier in Manresa, der aber sehr viel auf Schloß Rodriganda verkehrt, weil er der Verwalter des gräflichen Vermögens ist. Auch er ist sehr fromm und dabei außerordentlich stolz. Ich könnte auch noch erwähnen den guten Kastellan Juan Alimpo und sein Frau Elvira, treue und brave Leute, die ich Ihnen empfehlen kann. Andere sind nicht zu nennen, da der Graf sehr einsam lebt.« – »Kennen Sie nicht den Namen Mindrello?« – »Oh, den kennt ein jedes Kind. Mindrello ist ein armer, ehrlicher Teufel, den man in Verdacht hat, daß er zuweilen ein wenig Schmuggel treibt; darum nennt man ihn gewöhnlich Mindrello, den Contrebandier. Aber Sie können ihm volles Vertrauen schenken. Er ist besser als mancher andere, der ihn verachtet.« – »Ich danke, Señor. Nach dem, was ich vernommen habe, darf ich mich nicht länger hier verweilen. Buenas noches – gute Nacht!« – »Buenas noches, Señor! Ich wünsche, daß Sie nicht zu spät kommen.«
Doktor Sternau bezahlte das Genossene, ließ sich sein Maultier vorführen, schwang sich hinauf und ritt im Galopp davon.
Der Tag neigte sich bereits zu Ende, so daß Rodriganda vor Einbruch der Dunkelheit schwerlich zu erreichen war. Während das Maultier leicht und flüchtig auf der Straße dahinjagte, griff der Reiter in die Tasche und zog ein zusammengefaltetes Papier hervor. Der Zustand desselben ließ vermuten, daß Sternau die darauf enthaltenen Zeilen bereits sehr oft gelesen habe, dennoch faltete er es jetzt während des Reitens wieder auseinander und las zum hundertsten Mal die von energischer Frauenhand geschriebenen Worte:
»Herrn Doktor Sternau, Paris, Rue Vaugirard 24. Mein Freund!
Wir nahmen voneinander Abschied für das ganze Leben, aber es sind Umstände eingetreten, die mich dringend wünschen lassen, Sie hier zu sehen. Sie sollen dem Grafen Rodriganda das Leben retten. Kommen Sie schnell, schnell, und bringen Sie Ihre Instrumente mit. Kehren Sie bei Mindrello, dem Contrebandier, ein und fragen Sie nach mir. Aber ich flehe Sie an, schnell, sehr schnell zu kommen!
Rosetta.«
Nachdem Sternau das Schreiben gelesen hatte, faltete er es zusammen und barg es wieder in der Tasche. Er ritt jetzt durch einen dichten Eichenwald, aber er sah nicht die Eichen und nicht den Weg, den sie besäumten. Er dachte zurück an Paris und an die Stunde, in der er die Schreiberin des Briefes zum ersten Mal gesehen hatte.
Das war im Jardin des Plantes gewesen, als er, um ein Boskett schreitend, um sich auf die daselbst stehende Bank niederzulassen, dieselbe bereits besetzt fand. Erstaunt und verwirrt von dem Liebreiz der jungen Dame, die er in ihrer Einsamkeit gestört hatte, war er zurückgewichen. Auch sie erhob sich, und nun sah er sich einer Schönheit gegenüber, wie er sie in dieser Vollendung bisher nicht für möglich gehalten hatte. Er, der erfahrene Mann, der Arzt, fühlte, daß seine Pulse stehenblieben, um ihm dann mit zehnfacher Geschwindigkeit das Blut aus dem Herzen nach den Schläfen und in die Wangen zu treiben. Jene Stunde entschied über ihn und auch – über sie. Sie liebten einander unaussprechlich, aber auch ebenso unglücklich. Er durfte sie nur in jenem Garten treffen und sehen. Sie war, wie sie ihm mitteilte, Gesellschafterin der Condesa Rosa de Rodriganda, die mit ihrem blinden Vater in Paris verweilte, und hatte aus Ursachen, die sie ihm nicht nennen konnte, das Gelübde getan, unverheiratet zu bleiben. Er fühlte sich hochbeglückt vor Wonne über ihre Gegenliebe, doch fast wahnsinnig vor Schmerz über ihren unerschütterlichen Entschluß, den er nicht zu fassen und zu begreifen vermochte. Er bat und flehte, er beschwor sie; sie weinte und blieb dennoch fest. Dann reiste sie ab, und er mußte ihr versprechen, sich niemals nach ihr zu erkundigen. Sie wollten für dieses Leben scheiden, um sich in einer anderen Welt als Selige wiederzufinden. Nur ein einziges Mal hatte er sie an sein Herz ziehen und seinen Mund auf ihre Lippen pressen dürfen, aber diese Wonne wurde von dem Schmerz der Trennung beeinträchtigt. Seit jener Zeit hatte er wie ein Riese mit dem Leid gerungen, das sein Herz durchwühlte und sein Leben umkrallte, und es zu keinem Sieg gebracht. Das herrliche Wesen, das er besessen hatte, nur um es wieder zu verlieren, war der Gedanke seiner Tage und der Traum seiner Nächte. Wenn er auch hoffte, daß sein Herz einst noch zur Ruhe kommen werde, so fühlte er doch, daß er diese späte Ruhe mit einem großen Teil seines Lebens bezahlen würde. Und wie sollte sich seine Ahnung erfüllen! Die unbeschreiblichen Gefahren, Leiden und Kämpfe, die seiner ob dieser Liebe harrten, vermochte nur ein Charakter und Held wie Sternau zu tragen und zu überwinden. – Da plötzlich erhielt er ihren Brief. Er las ihn und fühlte alle seine Nerven beben. Ohne zu fragen und zu zagen, packte er sofort das Nötige ein und folgte dem Ruf der Teuren. Obgleich nur eine Gesellschafterin, war sie ihm doch erschienen wie ein holdes, überirdisches Wesen, wie eine jener Feen, deren Augen zuweilen über das arme Leben des Sterblichen hinleuchten wie ein Blick aus Himmelsräumen. Als nun diese Fee gebot, da mußte er gehorchen. Er flog durch das ganze Frankreich; er eilte in rasender Hast über die Pyrenäen, und nun, nun endlich näherte er sich dem Ziel, wo er sie wiedersehen sollte, die Herrliche, die Unvergleichliche, der er zu eigen war mit Seele, Leib und Leben.
Der Galopp des Maultiers war ihm noch zu langsam; er trieb es zu vermehrter Eile, und eben als die Sonne hinter den westlichen Höhen niedertauchte, ritt er in das Dorf Rodriganda ein.
Es hatte ein weit besseres und freundlicheres Aussehen, als es gewöhnlich bei spanischen Dörfern der Fall zu sein pflegt. Die Straße war breit und sauber gehalten, die Häuser des Ortes lugten mit ihren funkelnden Fensterscheiben förmlich einladend aus den wohlgepflegten Blumengärten hervor. Dies war ein Zeichen, daß Graf Emanuel de Rodriganda-Sevilla nicht nur ein Herr, sondern vielmehr auch ein Vater seiner Untertanen sei, der alles tat, um ihr Glück und Wohl zu fördern.
Sternau fragte einen ihm Begegnenden nach der Wohnung Mindrellos und wurde nach dem letzten Häuschen des Dorfes gewiesen. Er sprang vor demselben von dem Tier und trat ein. Die Familie des Contrebandiers befand sich soeben bei einer frugalen Abendmahlzeit.
»Wohnt hier Mindrello?« fragte Sternau. – »Ja. Señor, ich bin es«, antwortete der Mann, indem er sich vom Stuhl erhob.
Er war eine kräftige, untersetzte Gestalt, die jeder Strapaze gewachsen zu sein schien, und sein offenes Gesicht konnte ihm als die beste und zuverlässigste Empfehlung dienen.
»Kennen Sie die Gesellschafterin der Condesa de Rodriganda?« – »Wie heißt sie?« forschte der Spanier mit gespannter Miene. – »Rosetta.« – »Heilige Madonna von Cordova, so sind Sie wohl Señor Sternau aus Paris?« – »Der bin ich.«
Da erhoben sich sämtliche Mitglieder der Familie und streckten Sternau mit einem freudigen Willkommen die Hände entgegen, und sogar die Kleinen wagten sich herbei, um mit lachenden Gesichtern dem Beispiel der Erwachsenen zu folgen.
»Willkommen, herzlich willkommen!« rief Mindrello. »Sie kommen gerade noch zur rechten Zeit. Die gnädige Condesa, ich wollte sagen, die gute Señorita Rosetta ist in großer Angst gewesen. Ich werde sogleich nach ihr senden.« – »Wurde der Graf heute operiert?« – »Nein, noch nicht; die Condesa hat so lange gebeten und gefleht, bis man es noch einmal verschoben hat; aber morgen wird es sicher geschehen. Die Condesa ist ganz überzeugt, daß Sie kommen werden, Señor.« – »So weiß sie von dem Brief, den mir die Gesellschafterin, Señorita Rosetta, geschrieben hat?« – »Ja, hm, natürlich weiß sie es«, antwortete der Spanier mit einer Verlegenheit. »Aber, Señor, wir haben Ihnen für heute ein kleines Zimmerchen fertig gemacht, da oben im Giebel, wo die Blumen vor dem Fenster stehen. Ich werde Sie hinaufführen und Ihnen zugleich ein Abendbrot geben, bevor die Señorita kommt« – »Und mein Maultier?« – »Das wird beim Nachbar einen Platz und auch Futter finden, bis Sie mit ihm in das Schloß ziehen. Wollen Sie mir folgen, Señor?«
Mindrello führte Sternau darauf eine kleine Treppe empor in ein niedriges Gemach, dessen Decke der Arzt mit dem Kopf erreichte, das aber höchst saubergehalten war, in Spanien eine sehr große Seltenheit. Bald wurde das Mahl gebracht, und während desselben konnte Sternau durch das Fenster die herrliche Aussicht auf das Schloß genießen.
Noch aus der Zeit der Mauren stammend, bildete es ein gewaltiges, durch malerisches Kuppelwerk gekröntes Viereck, das trotz der Massigkeit seiner hoch und langgestreckten Fronten so leicht und zierlich gegliedert zum Himmel strebte, als sei es aus leuchtenden Minaretts, mit Rosenblättern verziert gebildet. Von diesem weithin schimmernden Bau stachen die ihn umgebenden dunklen Korkeichenwaldungen außerordentlich effektvoll ab, und wer ihn jetzt betrachtete, als das verglimmende Abendrot seine zauberischen Tinten über ihn warf, der konnte sich in jene Gegenden des Morgenlands versetzt fühlen, wo aus dem ewigen Pflanzengrün die Bauwerke der Kalifen so weiß, rein und unbefleckt emporragen, als ob sie von den Händen der Engel und Seligen errichtet wären.
Der Tag schied aus dem Tal; die Dämmerung verschwand, und der Abend warf seine Schatten über Schloß und Dorf. Sternau brannte das Licht an und prüfte die Instrumente, die ihm Mindrello heraufgebracht hatte, ehe er das Maultier zum Nachbar schaffte. Da hörte er die Stiege leise knarren, und dann klopfte es.
»Herein«, antwortete er.
Die Tür wurde geöffnet, und – da stand sie unter derselben, von dem Licht hell bestrahlt, sie, nach der er sich gesehnt hatte mit jedem Schlag seines Herzens. Sternau öffnete die Arme und wollte der Geliebten entgegeneilen; aber es ging ihm wie damals in Paris. Sie, die einfache Gesellschafterin, stand vor ihm so stolz, so hoch und hehr wie eine Königin; sein Fuß stockte, er wagte es nicht einmal, ihre Hand zu erfassen.
»Rosetta…«
Dieses eine Wort war alles, was er zu sagen vermochte; aber es lag in seinem Ton eine ganze Welt voll Entzücken und – Herzeleid.
Sie stand vor ihm, ebenso ergriffen wie er. Sie sah ihn erbleichen, sie sah, daß er mit der Hand nach seinem Herzen fuhr, sie sah, daß sein Auge größer und dunkler wurde, wie unter einer aufsteigenden Tränenflut, und nun zitterte auch ihre Stimme, als sie fragte:
»Señor Carlos, Sie haben mich noch immer nicht vergessen?« – »Vergessen?« erwiderte er. »Verlangen Sie von mir alles, aber verlangen Sie nicht, daß ich Sie jemals vergessen soll. Sie sind mein Denken und Empfinden, mein Leben und Leiden, und Sie vergessen, das heißt nichts anderes als sterben.« – »Und dennoch muß es sein. Heute aber dürfen wir uns noch sehen, und so will ich Ihnen danken, daß Sie gekommen sind.« – »Oh, Señorita, ich glaube, ich wäre gekommen, und wenn ich auf dem Sterbebett gelegen hätte«, antwortete Sternau in tiefster Bewegung. – »Fast möchte ich Ihnen das glauben, denn auch ich habe erfahren, wie allmächtig die Liebe ist. Aber lassen Sie uns von dem sprechen, was mich veranlaßte, Sie hierher zu rufen.« – »Ihre Zeilen waren unbestimmt. Sie ließen mich vermuten, daß der Graf sich in einer Gefahr befindet. Ich habe dann in Manresa gehört, daß er eine Operation erleiden soll.« – »Allerdings, aber es gibt noch andere Gründe, die mir Besorgnis einflößen, Gründe, die ich nur gegen Sie erwähnen kann, da ich zu Ihnen ein so unendliches Vertrauen besitze. Ich weiß nicht, sondern ich ahne nur, daß der Graf sich auch noch in einer anderen Gefahr befindet, als diejenige ist, die seine Krankheit befürchten läßt; aber nun ich Sie hier bei uns weiß, bin ich ruhig. Es ist mir, als sei mit Ihrem Erscheinen jede Gefahr gewichen.«
Bei diesem Bekenntnis leuchtete sein Auge auf, er streckte ihr beide Hände entgegen und fragte mit bebender Stimme:
»So groß ist Ihr Vertrauen, Rosetta? Oh, dann ist es ja sicher, daß Sie mich noch lieben.«
Sie legte die Hände in die seinigen und antwortete:
»Ja, ich liebe Sie, Carlos, ich liebe Sie noch so innig, wie ich Sie bei unserem Scheiden liebte, und ich werde Sie so innig weiter lieben, bis ich einst diese Erde verlasse. Ich bin Ihnen bisher ein Rätsel gewesen, aber morgen werden Sie imstande sein, dieses Rätsel zu lösen, und dann werden Sie begreifen, daß die Trennung unser einziges Schicksal ist.« – »Warum erst morgen? Warum nicht jetzt?« hauchte er. – »Weil meinem Mund das Wort schwer wird, das Sie morgen erfahren sollen. Carlos, grollen wir dem Schicksal nicht, sondern suchen wir unser Glück in der reinen Freude darüber, daß unsere Herzen einander gehören, obgleich uns die Verhältnisse trennen. Lassen Sie uns ohne Leidenschaft sprechen und zu dem Thema übergehen, das mich zu Ihnen führt.«
Ohne Leidenschaft! Welch ein Verlangen für ihn, auf den die mächtigsten Gefühle einstürmten! Aber er zwang sich, ruhig zu sein, und führte sie zum Sessel.
»Sie sollen hören, was ich von Ihnen wünsche«, begann sie. »Sie wissen, daß der Graf unheilbar blind ist. Zu diesem Leiden ist ein neues und höchst schmerzhaftes getreten; er leidet an einer sehr ausgebildeten Steinkrankheit, und die Ärzte, die wir zu Rate zogen, behaupteten, daß nur die Operation sein Leben retten könne. Er hat sich für diese Operation entschieden und seinen Sohn, den Grafen Alfonzo, aus Mexiko kommen lassen, um ihn noch einmal zu sehen und damit der Erbe anwesend sei, wenn der Schnitt mißglücken sollte. Oh, das klingt so kalt und geschäftsmäßig, während es mir das Herz zerreißt! Ihr Männer spielt mit dem Tod und nennt dies Mut; mir aber schaudert vor einem solchen herzlosen Mut. Condesa liebt den Vater; er war ihr einziger Freund bisher, und sie war seine Hand, die ihn, den Erblindeten, durch das Leben leitete. Sie betet Tag und Nacht zu Gott, daß er gerettet werde, denn sie fühlte eine fürchterliche Angst, daß man den falschen Weg eingeschlagen habe. Die Ärzte sind finstere, kaltherzige Männer, denen sie kein Vertrauen schenkt. Der Notar und Schwester Clarissa, die den Grafen fast keinen Augenblick verlassen, gleichen unheilvollen Dämonen, die nach des Kranken Blut lechzen, und Graf Alfonzo, der Sohn – ach, wie unglücklich, wie sehr unglücklich ist die Condesa!«
Rosetta legte das bleiche Gesicht in die Hände und weinte. Es war nicht jenes laute Weinen, welches das Herz von seiner Last erlöst, sondern jenes stille, das keinen Laut, sondern nur Tränen und immer wieder Tränen hat. Sternau konnte dies nicht länger ansehen, er kniete vor ihr nieder, zog ihr die Hände von den überströmenden Augen und bat mit flehender Stimme:
»Weinen Sie nicht, Señorita. Blicken Sie auf mich: ich bin ein Riese, aber wenn ich weinen sehe, so muß ich vor Schmerz vergehen. Erleichtern Sie Ihr Herz, indem Sie mir alles mitteilen.« —
»Ich werde es tun«, antwortete sie, indem sie sich faßte und ihre Tränen trocknete. Dann fuhr sie fort: »Die Condesa war ein sehr kleines Mädchen, als sie den fortgehenden Bruder zum letzten Mal sah. Es vergingen fast sechzehn Jahre, und nun freute sie sich aus vollstem Herzen über seine Wiederkehr. Er kam, und sie eilte ihm entgegen, um an seine Brust zu fliegen; aber nur einen einzigen Schritt, dann blieb sie halten und vermochte es nicht, ihm ihre Arme entgegenzustrecken. Der vor ihr stand, den durfte sie nicht berühren, sie wußte nicht warum; aber eine innere Scheu sagte es ihr. Das war nicht das Auge oder die Stimme eines Bruders, sein Angesicht war hart, und seine Worte klangen herzlos. Und dann, als sie ihn von Tag zu Tag beobachtete, gewahrte sie die Blicke, die er auf seinen Vater warf. Ein jeder dieser Blicke sagte: Ich laure nur auf deinen Tod! Da wurde ihr Angst, sie ahnte ein Geheimnis, und in dieser Todesangst schrieb sie – bat sie mich, an Sie zu schreiben, damit Sie kommen und helfen möchten.« – »Was ich tun kann, soll geschehen«, versicherte Sternau. »Die Operation wird morgen stattfinden?« – »Ja. Man will sie auf keinen Fall länger hinausschieben.« – »Wann?« – »Ich hörte, daß sie um elf Uhr vorgenommen werden soll.« – »Werde ich vorher den Grafen sehen und sprechen dürfen?« – »Ja, wenn Sie sich bei der Condesa melden.« – »Wann wird sie mich empfangen?« – »Kommen Sie um neun Uhr! – Haben Sie bereits einmal den Stein operiert?«
Sternau lächelte ein wenig.
»Sehr oft, Señorita. Ich glaube sogar, daß man mich für eine Kapazität auf diesem Feld hält.« – »Ist die Operation sehr gefährlich?« – »Um dies sagen zu können, muß man den Fall untersucht haben. Warten wir, bis dies geschehen ist!« – »Ja, warten wir! Ich habe zu Ihnen ein unerschütterliches Vertrauen. Nur Sie allein werden Rettung bringen, wenn Rettung möglich ist.«
Sie erhob sich. Da fragte er traurig:
»Sie wollen gehen, Señorita?« – »Ja; ich werde sonst vermißt. Also um neun Uhr kommen Sie?« – »Ich komme! Darf ich Sie nicht begleiten, Señorita?«
Rosetta besann sich errötend und antwortete:
»Es ist dunkel, und man wird uns nicht sehen. Ja, kommen Sie bis zum Schloß mit!«
Sie verließen das Häuschen, und er reichte ihr den Arm. So hoch und stark er war, so war er doch kaum um einen halben Fuß größer als sie, und wer sie jetzt so nebeneinander dahin schreiten sah, der hätte sie jedenfalls für ein ganz auserlesenes Paar gehalten.
Sie legten ihren Weg unter tiefstem Schweigen zurück, aber desto lauter war die Stimme ihrer Herzen. Er fühlte ihren Arm auf dem seinigen, aber er hätte es nicht gewagt, ihn fester an sich zu ziehen. Es war ihm, als wandle ein überirdisches, unendlich höheres Wesen neben ihm her, ein Wesen, zu dem er anbetend emporschauen müsse. Und als sie endlich vor dem Parktor standen, um Abschied zu nehmen, da zuckte es ihm zwar heiß und verlangend durch die Seele, aber seine Arme blieben gesenkt, und als sie ihm die Hand entgegenstreckte, da zog er diese nur für eine ganz, ganz kurze Zeit an seine Brust, und wagte es nicht, sie mit seinen Lippen zu berühren.
»Gute Nacht, Carlos«, sagte sie.»Ruhen Sie aus von Ihrer Reise!« – »Ausruhen?« fragte er. »Meine Seele ist ruhelos, bis sie die Ruhe des Grabes finden wird. Gute Nacht, Señorita!«
Er wollte gehen, sie aber faßte ihn abermals bei der Hand, trat nahe, ganz nahe an ihn heran und lehnte ihr Köpfchen an seine Schulter. Dann fühlte er ihren Busen an seinem Herzen sich heben und senken und hörte ihre leise gesprochene Bitte:
»Mein Carlos, vergib mir, und sei nicht unglücklich!«
Da umfaßte er sie mit den Händen, zog sie innig an sich und flüsterte:
»Wie kann ich glücklich sein, wenn du mir nicht aufgehen darfst, mein Licht, mein Stern, meine Sonne!« – »Nur unsere Körper werden getrennt sein, unsere Seelen aber haben sich gefunden und werden einander nie verlieren, was auch kommen möge! Gott sei mit dir!«
Darauf trat Rosetta von ihm zurück und schlüpfte in den Park. Er aber stand und lauschte, bis ihre leichten Schritte verklungen waren, bewegungslos noch lange an derselben Stelle bleibend.
2. Kapitel
Gerade um die Zeit, als die Liebenden voneinander Abschied nahmen, wurde in einem Zimmer des Schlosses ein Gespräch geführt, für dessen Belauschung Sternau jedenfalls sehr viel gegeben hätte. Es wurde von einem der beiden Chirurgen bewohnt, die die Aufgabe hatten, unter Assistenz eines Arztes aus Manresa den Grafen von dem Stein zu befreien. Señor Gasparino Cortejo, der Advokat, befand sich bei ihm. Er hatte sich soeben erhoben, um sich zu verabschieden, und meinte mit seiner kalten, scharfen Stimme:
»Also Sie glauben, daß die Operation absolut tödlich ist?« – »Absolut!« – »Werden Ihre Kollegen nicht Einspruch erheben?« – »Sie werden nicht wagen, anderer Meinung als ich zu sein. Sie wissen, daß ich zu den Koryphäen der chirurgischen Wissenschaft gehöre«, war die stolze Antwort. – »Gut. Sie haben aber den Grafen glauben lassen, daß er gerettet werde?« – »Natürlich.« – »So bleibt es bei unserer Besprechung. Die Operation findet, ohne daß die Condesa darum weiß, bereits morgen früh acht Uhr statt. Ihr fürstliches Honorar erhalten Sie in meiner Wohnung in Manresa. Gute Nacht!« – »Gute Nacht!«
Die beiden Männer schüttelten sich mit einer Höflichkeit die Hände, als ob jeder den anderen für einen vollkommenen Ehrenmann halte, dann schieden sie. Der Advokat suchte aber sein Zimmer nicht auf, sondern ließ sich bei der Stiftsdame melden, die ihm so eilig in das Vorzimmer entgegenkam, daß er erkannte, wie sehnsuchtsvoll er von ihr erwartet worden war. Sie zogen sich in das Boudoir der frommen Dame zurück, dessen Tür sie verriegelten, um vor einem jeden Lauscher sicher zu sein.
Der Notar trug nicht die spanische Nationaltracht, sondern er war ganz schwarz in Frack und Pantalons gekleidet. Die Bewegungen seiner langen, hageren und weit nach vorn gebeugten Gestalt hatten etwas Schleichendes an sich, und die Züge seines scharfen, aus einer hohen, steifen Halsbinde hervorragenden Gesichts zeigten etwas Raubvogelartiges, daß es schwer hielt, diesen Mann nicht zu fürchten. Der Eindruck seines abstoßenden Gesichts wurde verstärkt durch den unsteten, lauernden Blick seiner Augen.
Die Stiftsdame trug gewöhnlich ihr schwarzes Ordenskleid, jetzt aber hatte sie ein duftiges Negligé angelegt, das einer Tänzerin alle Ehre gemacht haben würde. Ihre Gestalt war stark und voll, und die Gesichtszüge der beinahe Fünfzigjährigen waren grob und unweiblich, wozu noch der unschöne Umstand kam, daß das eine ihrer Augen etwas schielte.
»Willkommen, Señor«, meinte sie, indem sie sich mit widerlicher Koketterie in eine Samtottomane fallen ließ. »Ich habe lange auf Sie warten müssen. Wie steht es?« – »Sehr gut«, antwortete der Notar, indem er an ihrer Seite Platz nahm. »Der Chirurg ist auf meine Vorschläge eingegangen.« – »So hat Gott sein Herz gelenkt, damit wir die Früchte unserer langen Enthaltsamkeit endlich einmal genießen können. Wird der Schnitt tödlich sein?« – »Absolut.« – »So können wir es nicht ändern«, meinte sie mit einem frommen Augenaufschlag. »Es ist dem Grafen wohl zu gönnen, daß ihn der Herr von seinen Leiden erlöst. Aber wird die Condesa nicht abermals widerstreben?« – »Diesmal nicht, meine Liebe. Sie weiß nicht anders, als daß die Operation erst um elf Uhr vor sich gehen wird, während wir doch bereits um acht Uhr beginnen. Der Graf wird sein Leiden überstanden haben, wenn sie sich noch bei der Toilette befindet« – »Und Graf Alfonzo?« fragte sie mit einem sehr impertinenten Zwinkern ihrer schielenden Augen. – »Er ist ganz der Mann dazu, unser Meisterstück zu krönen.« – »Ja, es war ein Meisterstück von uns, ein Meisterstück, von dem diese böse Welt keine Ahnung hat und auch niemals eine haben wird. Wir hatten uns lieb, mein alter Gasparino, aber wir konnten uns nicht haben, denn ich war die Tochter eines stolzen Hidalgo, und du warst ein armer, brotloser Schlucker. Wir hätten unser Kind doch noch töten müssen, wenn du nicht auf den köstlichen Gedanken gekommen wärst, es an Stelle des kleinen Grafen Alfonzo mit dem Bruder des Grafen Emanuel nach Mexiko zu schicken. Nun sind wir die Eltern eines Grafen und werden bereits morgen über die Millionen der Familie Rodriganda gebieten. Komm, mache es dir bequem, und laß uns vergessen, daß ich nicht dein Weib werden konnte.«
In einer sehr frühen Stunde des nächsten Tages verließ Condesa Rosa de Rodriganda ihre Gemächer, um einige Zeit im Park zu lustwandeln. Sie trug weder die beengende Pariser Kleidung, noch irgendeine spanische Nationaltracht; die Gewandung, die ihren schönen Körper umgab, war das Produkt einer sehr glücklichen Phantasieeingebung, eine sinnreiche Verschmelzung des duftig Maurischen mit dem gediegen Nordischen.
Unter weiten, goldgestickten, weißseidenen Pantalons steckte ein zart gebildetes Füßchen in einem glänzenden Brokatschuh, dessen Länge keinesfalls über die berühmte und von den Frauen so heiß ersehnte Nummer Null hinauskam. Über diese Pantalons war ein faltiges, rostseidenes Röckchen geschürzt, dessen nach unten ausgeschnittenes Vorderteil den Schritt freigab und den herrlichen Gliederbau mehr ahnen als erblicken ließ. Dieses Röckchen wurde um die schlanke Taille von einem in Gold und Perlen reichverzierten Gürtel zusammengehalten, der die Weichheit und Rundung der Hüften trefflich hervorhob. Darüber schimmerte ein kurzer Rock von einer Farbe, die den duftenden Rosen von Schiras abgelauscht zu sein schien. Als Obergewand fiel von den Schultern ein oleanderblütenfarbiger Manteau, der am Boden eine wallende Schleppe bildete und der aus jenem schleierartigen, kostbaren Samt gearbeitet war, der nur von den zarten Fingern der Frauen von Derbidschan gewebt werden kann und zu dessen Anfertigung eine Arbeiterin für einen einzigen Meter ein Vierteljahr braucht. Dieser kostbare Manteau ließ die vollen, herrlichen Arme frei, deren Schnee durch den Perlmuttglanz der weiten Schorabakschleierärmel entzückend hindurchschimmerte. Und auf dem Kopf trug sie ein dunkles, polnisches Barett mit Kolibri– und Paradiesvogelfedern aufgeputzt, unter dem das dichte, rabenschwarze Haar in zwei langen, schweren Flechten fast bis über die Kniegegend herniedersank. Ein einziger, kostbarer Brillantring schmückte ihr zartes Kinderhändchen.
Die Züge dieses unvergleichlich schönen Wesens ließen sich weder mit dem Pinsel, noch mit Worten wiedergeben. In ihnen sprach sich die unentweihte Unschuld des Kindes ebenso, wie das ungestillte Sehnen der reifen Jungfrau aus; in ihnen vereinigte sich die reine Unberührtheit einer Raffaelischen Madonna mit der verheißungsvollen Glut eines Frauenkopfes von Correggio. Und wer in die großen, von dunklen Wimpern beschatteten Augen blickte, die in einem vollen, tiefen Blau erglänzten, der mußte aus dem frappanten Kontrast dieses Blaus mit der Rabenschwärze des Haares ahnen, daß diese hinreißende Schönheit aus einer innigen Vermählung des maurischen Blutes mit dem westgotischen entstanden ist.
Sternau hatte nicht schlafen können. Die Begegnung mit dem heißgeliebten Mädchen hatte sein Innerstes so aufgeregt, daß an Ruhe nicht zu denken war. Zwar kehrte er nach seinem Abschied von der Geliebten in seine Wohnung zurück, aber er wanderte während der ganzen Nacht in dem kleinen Stübchen auf und ab. Als er nach Anbruch des Tages bemerkte, daß sein Nachbar bereits munter sei, ging er zu diesem hinüber, um sich sein Maultier satteln zu lassen.
Er bestieg dasselbe und unternahm einen Morgenritt, ohne Richtung und Ziel, nur, um seinen Gedanken und Gefühlen Raum zu geben. Endlich sah er Manresa vor sich und bog in die nach Rodriganda führende Straße ein, die er gestern gekommen war.
Dort stand eine Venta, ein einsames Wirtshäuschen, vor dem ein gesatteltes Pferd angebunden war, ein Zeichen, daß sich schon ein Gast im Inneren befinde. Auch Sternau stieg ab. Er hatte seit gestern abend nichts zu sich genommen und wollte versuchen, ob er eine Tasse Kaffee erhalten könne. Als er eintrat, sah er einen nicht sehr fein gekleideten Herrn, vor dem ein chirurgisches Besteck lag, am Tisch sitzen. Es war, ohne daß Sternau es ahnte, der Manresaer Arzt, der bei der Operation des Grafen assistieren sollte.
Der Wirt, der neben ihm saß, setzte, als er der Bestellung Sternaus Gehör gegeben hatte, das durch den letzteren unterbrochene Gespräch fort:
»Also dem Grafen gilt Ihr Besuch, Señor Doktor?« – »Wie ich bereits sagte«, antwortete dieser. – »Wird es heute endlich zum Schnitt kommen?« – »Sicher.« – »Wann?« – »Schon um acht Uhr.« – »Aber die Condesa wird es wieder nicht zugeben!« – »Sie wird nicht gefragt. Es ist ihr gesagt worden, daß wir die Operation erst um elf Uhr beginnen.« – »Denken Sie, daß der arme Graf genesen wird?« – »Ja – und – nein – wer weiß es!«
Jetzt erhielt Sternau seinen Kaffee. Er hatte genug gehört. Er trank schleunigst aus, bezahlte und verließ die Stube, ohne mit einem Wort erkennen zu lassen, wie sehr er sich für die kurze Unterhaltung interessierte. In gestrecktem Galopp ritt er heim und langte eine halbe Stunde vor acht Uhr dort an.
Nachdem er sein Maultier dem Nachbarn wieder übergeben hatte, holte er seine Instrumente und eilte nach dem Schloß.
Es trieb ihn zu der Parkpforte, an der er gestern abend von der Geliebten Abschied genommen hatte. Jene stand offen, und er trat ein, wandte sich mit raschen Schritten der Richtung nach dem Schloß zu, eilte durch einen langen Laubengang und wollte nun einen kleinen freigelassenen Platz betreten, als er plötzlich in höchster Überraschung haltmachte. Vor ihm stand – Rosetta.
Sein erschrockenes Auge hing an ihr wie an dem Bild eines entzückenden Traums, aber sein Herz pochte wie unter einer unglückseligen Erkenntnis. Konnte diese Dame eine Gesellschafterin sein?
»Rosetta!« rief er, die Hände halb verlangend, halb abwehrend nach der Herrlichen ausstreckend. – »Señor Carlos!« antwortete sie. »Wie kommen Sie so früh in den Park?« – »Oh, mein Gott, träume ich? Ich ahne das Entsetzliche. Señorita, Dona, Sie sind nicht Rosetta, die Gesellschafterin, sondern…« – »Sondern?« fragte sie. »Fahren Sie fort, Señor.« – »Sie sind Condesa Rosa.« – »Ja, ich bin es; sie haben richtig geraten, Carlos«, erwiderte sie, indem sie ihm die Hände entgegenstreckte. »Können Sie mir vergeben?« – »Vergeben? O mein Gott, wie traurig ist das! Ja, nun weiß ich, warum wir scheiden müssen. Warum haben Sie mir das angetan, warum, Doña Rosa?«
Sie senkte die Lieder und gestand mit zitternder Stimme:
»Weil ich Sie liebte und einige Augenblicke glücklich sein wollte. Das ist nun aus, und um so härter ist die Strafe. Mein Vater – aber ich sehe Ihr Besteck, und Sie kommen so früh«, unterbrach sie sich erschrocken. »Hat dies einen Grund?« – »Einen Grund?« fragte er, immer noch wie halb im Traum. »Ach ja, ich vergesse fast das so furchtbar Wichtige. Gräfin, Ihr Vater befindet sich in höchster Gefahr!«
Über ihr schönes Antlitz zuckte ein tiefer Schreck.
»Mein Vater?« hauchte sie erbleichend. »Inwiefern?«
Er zog die Uhr, warf einen Blick auf dieselbe und antwortete:
»Mein Gott, die Zeit ist bereits da! Señora, man wird sogleich die Operation an Ihrem Vater beginnen.« – »Jetzt? Die wird ja erst um elf Uhr stattfinden!« – »Nein, man hat Sie getäuscht. Es ist ohne Ihr Wissen bestimmt worden, daß der Schnitt um acht Uhr vorgenommen wird. Ich traf auf meinem Morgenritt den Arzt aus Manresa, von dem ich es erlauschte, ohne mich zu erkennen zu geben.« – »Heilige Madonna! Man verfolgt böse Absichten, sonst würde man mich nicht zu hintergehen suchen. Kommen Sie, Señor, kommen Sie schnell, wir müssen diese Tat verhüten!«
Sie wandte sich und eilte in höchster Aufregung dem Schloß zu; er folgte ihr.
Als sie den Eingang erreichten, war man gerade beschäftigt, ein Pferd in den Stall zu ziehen. Sternau erkannte es als dasjenige des Arztes aus Manresa, der sich sehr gesputet haben mußte, um so schnell in Rodriganda sein zu können.
»Eilen Sie, Señorita!« mahnte der Deutsche. »Die Operateure sind bereits versammelt; wir haben nicht die mindeste Zeit zu verlieren.« – »Vorwärts! Schnell, schnell!« rief die Gräfin, indem sie die Freitreppe emporstieg und dann in einen mit kostbaren Teppichen belegten Korridor einbog, wo vor einer Tür ein Diener stand. »Ist der Graf erwacht?« fragte sie diesen. – »Ja, gnädige Condesa«, lautete die Antwort. – »Ist er allein?« – »Nein. Die Ärzte sind bei ihm.« – »Wie lange schon?« – »Zehn Minuten.« – »Ah, so kommen wir vielleicht noch nicht zu spät! Hinein, Señor!«
Sie wollte eintreten, doch der Diener schritt ihr entgegen und erklärte in einem zwar sehr höflichen, aber doch entschiedenen Ton:
»Verzeihung, Condesa, ich habe den strengen Befehl, jedermann bis auf weiteres den Zutritt zu verweigern.« – »Auch mir?« – »Besonders Ihnen.«
Ihr Gesicht nahm einen zornigen Ausdruck an. Sie warf das Köpfchen mit einer unnachahmlich stolzen Bewegung zurück und fragte:
»Wer hat Ihnen diesen Befehl erteilt?« – »Graf Alfonzo, der auch zugegen ist« – »Ah, also dieser! Machen Sie Platz!« – »Ich darf nicht! Verzeihung Condesa; ich kann nicht anders, denn ich habe den Befehl …«
Der Diener konnte nicht weitersprechen, denn Sternau faßte ihn beim Arm, schob ihn wortlos, aber mit unwiderstehlicher Gewalt beiseite und öffnete die Tür.
Diese führte in das Vorzimmer des Grafen, in das sie eintraten. Der Diener folgte ihnen, wagte aber kein weiteres Wort des Widerspruchs. Von hier aus ging eine Tür nach dem Empfangszimmer des Schloßherrn. Gräfin Rosa fand dieselbe verschlossen und klopfte infolgedessen daran.
»Wer ist draußen?« fragte nach Wiederholung des Klopfens endlich eine Stimme, die sie als diejenige des Bruders erkannte. »Ich selbst«, antwortete sie. »Öffne schnell!« – »Du, Rosa?« klang es mißmutig und überrascht zurück. »Wer hat dich eingelassen?« – »Ich selbst« – »War der Diener nicht auf seinem Posten?« – »Doch. Öffne schnell, Alfonzo!« – »Ich bitte dich, nach deinem Zimmer zurückzugehen. Die Ärzte haben die Gegenwart anderer streng verboten!« – »Die meinige lasse ich mir nicht verbieten, wenigstens jetzt nicht. Es ist noch lange nicht elf Uhr!« – »Papa hat befohlen, daß die Operation bereits jetzt vorgenommen werde, und eine solche ist nicht für Damenaugen.« – »Ich muß noch vorher mit ihm sprechen.« – »Es geht nicht. Man beginnt bereits …«
Diese letzten Worte hatten nicht mehr den rücksichtsvollen Klang wie die vorhergehenden. Sie hatten einen scharfen, ungeduldig-abweisenden Ton, als meine der Bruder, die Angelegenheit hiermit beendet zu haben. Dies regte, anstatt abzuschrecken, die Gräfin nur noch mehr auf.
»Alfonzo«, rief sie streng, »ich verlange Zutritt, und den darfst du mir nicht verwehren. Ich habe das Recht und die Pflicht, vorher den Vater zu sprechen!« – »Er wünscht es nicht. Übrigens habe ich jetzt keine weitere Zeit zu einer Unterhaltung bei verschlossener Tür. Gehe fort, denn dein Klopfen ist nutzlos.« – »So öffne ich selbst!« – »Versuche es!«
Diese beiden Worte wurden mit einem häßlichen Lachen gesprochen; dann hörte man, daß der Sprecher sich entfernte.
»Mein Gott, was soll ich tun?« fragte Rosa ihren Begleiter.
Dieser lächelte überlegen, zögerte aber zu antworten, da er auf etwas zu horchen schien, was jetzt in den verschlossenen Räumen vor sich ging.
»Gnädige Condesa«, meinte der Diener, indem er in demütiger Haltung näher trat, »ich bin überzeugt, daß man nicht öffnen wird. Haben Sie die Gnade, dieses Vorzimmer zu verlassen …« – »Schweigen Sie!« unterbrach sie ihn mit einer gebieterischen Handbewegung.
Sie hätte dieser Zurechtweisung des Lakaien vielleicht noch einige erregte Worte hinzugefügt, aber Sternau winkte ihr, das Ohr an die Tür zu halten. Sie tat es und hörte, wie aus der Ferne, die Stimme ihres Vaters in regelmäßigen Zwischenräumen zählen:
»Fünf – sechs – sieben – acht – neun – zehn – elf …« – »Was ist das?« fragte sie, noch mehr als vorhin erbleichend. »Sein Zählen soll das Fortschreiten der Betäubung markieren.« – »So wird man wirklich schneiden?« – »Allerdings.« – »Das darf nicht geschehen, das darf nicht geschehen!« rief sie in höchster, in entsetzlicher Angst. »Señor, helfen Sie mir!« – »Geben Sie mir Erlaubnis zur Gewalt?« – »Ja – aber handeln Sie sofort!«
Da schritt Sternau zu der Tür und erhob den Fuß, ein lautes Krachen erscholl, und der Eingang war frei. Der starke Mann hatte die feste, hohe Tür mit einem einzigen Fußtritt aus dem Schloß getreten. Jetzt stand er mit der Gräfin im Empfangszimmer des Grafen. Dieses war leer, aber weiterhin ertönten laute Stimmen, und der nebenanliegende Raum wurde geöffnet. Graf Alfonzo und einer der Ärzte traten ein.
»Was ist das?« rief der erstere. »Ich glaube gar, du wagst es, Gewalt anzuwenden!«
Er übersah es in seiner zornigen Überraschung, daß Rosa nicht allein vor ihm stand. Wer ihn jetzt so erblickte, mit den drohend blitzenden Augen und den stark angeschwollenen Zornesadern an der zwar niedrigen, aber sehr breiten Stirn, der konnte ihn recht gut auch einer gewaltsamen Tat für fähig halten.
Graf Alfonzo war nicht etwa ein häßlicher, abscheuerregender Mann, nein, ein jeder einzelne Teil seines Gesichts and ein jeder Zug desselben war im Zustand der Ruhe vielleicht schön zu nennen, doch jetzt, wo der Grimm ihn beherrschte, war der Eindruck, den er machte, nur ein abstoßender. Er glich einem jener Satansbilder, bei denen der Meister den Teufel nicht mit Pferdefuß und Hörnern darstellt, sondern das Diabolische dadurch zu erreichen sucht, daß er die an und für sich schönen Züge des bösen Geistes zueinander in Widerspruch bringt.
»Wagen?« fragte die Gräfin, indem sich ihr schönes Angesicht wieder vor Indignation über den unhöflichen Empfang ihres Bruders rötete. »Ich glaube, eine Gräfin Rodriganda-Sevilla hat zu jeder Zeit das Recht, sich den Zutritt in die Zimmer ihres Vaters zu verschaffen. Nicht auf meiner Seite liegt das Wagnis, sondern gerade ich selbst bin es, die Rechenschaft darüber verlangt, daß man es wagt, eine lebensgefährliche Operation an dem Vater ohne mein Wissen vorzunehmen.« – »Wir haben es so beschlossen, und dabei bleibt es. Entferne dich!« – »Nicht eher, als bis ich den Vater gesehen und gesprochen habe. Wo ist er?« – »Im Nebenzimmer. Dein unvorsichtiges Auftreten kann ihm das Leben kosten. Eine jede Aufregung, selbst die allergeringste, wird von unausbleiblichen Folgen für ihn sein. Ah, wer ist dieser Mensch hier?« – »Es ist Señor Sternau, ein berühmter Arzt, den ich aus Paris zu mir gebeten habe, um sein Gutachten über die Krankheit des Vaters zu vernehmen. Ich erwarte, daß seine Anwesenheit auch dir willkommen sein wird!«
Der mit eingetretene Arzt zog die Stirn in halb mißmutige und halb verächtliche Falten. Der Graf aber brauste auf:
»Ein Arzt? Wer hat dir das erlaubt? Dies ist eine Eigenmächtigkeit sondergleichen! Ich hoffe, meinen Willen respektiert zu sehen! Du hast dich augenblicklich zurückzuziehen und diesen Menschen zu entlassen!«
Bei dieser beleidigenden Rücksichtslosigkeit nahm das Angesicht der Gräfin die Blässe des Todes an, und sie mußte sich einige Augenblicke der Sammlung gönnen, ehe sie antworten konnte. Dann aber schien ihre herrliche Gestalt zu wachsen, sie streckte ihren Arm gebieterisch aus, und ihre Stimme klang hoheitsvoll, wie diejenige einer Königin, als sie entgegnete:
»Vergiß nicht, mit wem du sprichst! Hier hat nur der Graf de Rodriganda zu gebieten, und wenn er daran verhindert sein sollte, so besitze ich ganz dasselbe Recht wie du, an seiner Stelle zu befehlen. Die Operation wird nicht stattfinden, bevor dieser Señor den Kranken nicht genau untersucht hat; ich will es so und werde verstehen, diesem Willen Nachdruck zu verschaffen!«
Die Züge des jungen Grafen wurden schärfer; seine Stirnadern schwollen noch mehr, und seine Stimme erhielt einen geradezu heiseren Klang, als er, die Hand drohend erhoben, hart an die Schwester herantrat und ihr antwortete:
»Du, du willst hier befehlen? Du, ein Mädchen? Pah! Die Operation findet statt, und dich werde ich durch die Dienerschaft entfernen lassen, wenn du nicht freiwillig gehst, und zwar augenblicklich. Ich bin gewohnt, nur das zu tun, was mir beliebt, das merke dir!«
Dann wandte er sich an Sternau und fuhr diesen an:
»Wer hat diese Tür eingetreten?« – »Ich«, antwortete der Gefragte ruhig. – »Mit welchem Recht? Unverschämter!« – »Mit dem Recht, das mir die verehrte Condesa Rodriganda gab. Mein Gehorsam ist also nicht im mindesten eine Unverschämtheit gewesen, vielmehr erkläre ich sehr gern, sehr aufrichtig und zugleich auch sehr ernst, daß ich noch hundert Türen eintreten würde, wenn die Gräfin es wünschen sollte!« Sternaus hohe, breite Gestalt schien sich bei diesen Worten noch zu vergrößern, und seine großen, ehrlichen Augen maßen den Grafen mit einem so milden, nachsichtigen Blick, als habe es der riesige Deutsche mit einem Schulknaben zu tun, mit dem man lind verfahren müsse. Das aber brachte diesen nur in einen noch höheren Grimm, er wandte sich von der Schwester ab, trat auf Sternau zu und drohte:
»Fort, sage ich! Oder soll ich Sie vom Schloß hetzen lassen?«
Sternau lächelte überlegen.
»Ich bin auf den Ruf der Gräfin Rodriganda hier erschienen«, erwiderte er sehr gelassen, »um den Grafen, Ihren Herrn Vater, zu sehen. Das werde ich tun, trotz allen Widerspruchs und trotz aller Hunde, die man auf mich hetzen möchte. Ich verstehe ebenso gut mit Hunden, wie mit Menschen umzugehen, und lasse es darauf ankommen, ob man mich zwingen wird, mich gegen beide mit ganz der nämlichen Waffe zu verteidigen!« – »Elender!« brüllte Alfonzo, indem er seine Faust wie zum Schlag erhob. – »Señor de Rodriganda, sind Sie ein Graf, sind Sie ein Edelmann?«
Diese Frage des Deutschen klang plötzlich so voll und scharf aus seiner mächtigen Brust hervor, und seine Augen schossen dabei einen so unwiderstehlichen Blick auf seinen Gegner, daß dieser unwillkürlich zurückwich, als Sternau sich an die Gräfin wandte und sagte: »Señorita, ich bitte, mich diesem Herrn vorzustellen, der jedenfalls ein Kollege von mir ist.«
Er deutete dabei mit einem unverbindlichen Lächeln auf den spanischen Arzt, der sich während des heftiger werdenden Wortwechsels vorsichtig in eine Fensternische zurückgezogen hatte. Die Condesa nickte zustimmend mit dem Kopf and folgte seinem Wunsch mit den Worten:
»Señor Doktor Carlos Sternau, Oberarzt in der berühmten Klinik des Professors Letourbier in Paris – Doktor Francas aus Madrid – ah, da treten auch die anderen Herren herbei. Doktor Milanos aus Cordova – Cordoba – und Doktor Cielli aus Manresa.«
Wirklich traten jetzt die beiden anderen Ärzte langsam aus dem Nebenzimmer, herbeigerufen durch den überlauten Wortwechsel und die so ungewöhnliche Störung ihrer Vorbereitungen. Sie verbeugten sich mit großer Kälte vor dem Deutschen, und der zuerst anwesende Arzt, Doktor Francas aus Madrid, wechselte sogar die Farbe. Er war wohl der Begabteste und Unterrichtetste der drei und kannte jedenfalls den Namen des Professors Letourbier in Paris zu gut, um nicht zu wissen, daß er jetzt so ganz unerwartet und plötzlich einen Fachmann vor sich habe, dem vielleicht keiner von ihnen gewachsen sei. Er sah augenscheinlich ein, daß hierin eine ebenso große Gefahr für sie selbst, wie für ihr finsteres Unternehmen liege, der man nur durch die strenge und stolzeste Abwehr des Fremden begegnen konnte; darum erklärte er mit seiner harten, schnarrenden Stimme:
»Dieser Señor ist mir unbekannt. Unsere Vorbereitungen sind bereits beendet, wir bedürfen keiner anderen Beihilfe. Wir sind von unserem hohen Patienten beauftragt worden, die Operation an ihm vorzunehmen, und wenn ich zu derselben nicht sofort und ohne weitere unberufene Einmischung schreiten kann, so stehe ich für nichts.« – »Hörst du?« sagte Graf Alfonzo zu seiner Schwester. »Entferne dich augenblicklich und befreie uns zugleich von dem Anblick eines Menschen, dem ich nicht erlauben werde, auch nur eine Minute länger auf Rodriganda zu verweilen!«
Sie wollte antworten, aber Sternau winkte ihr zu schweigen.
»Bitte, verehrteste Condesa«, sagte er, »gestatten Sie mir das Wort! Es ist meine Gegenwart, um die es sich handelt und darum will ich auch derjenige sein, der die Antwort gibt. Ich bin Arzt und zugleich Ihr Gast Condesa, und darum würde es von seiten Ihres Herrn Bruders die einfachste Höflichkeit und Rücksicht von seiten der anderen Herren aber die gewöhnlichste Kollegialität gebieten, Ihren Wünschen Folge zu leisten. Man tut das aber nicht. So stehe ich also hier nicht als ein höflich Bittender, sondern als der Beauftragte und ärztlich Bevollmächtigte der Gräfin Rosa de Rodriganda-Sevilla und erkläre folgendes: Da man eine so hochgefährliche Operation unter so verdächtigen Umständen vorzunehmen beabsichtigt, so habe ich den triftigsten Grund, zu glauben, daß man damit eine Absicht verfolgt, die das Licht des Tages und das Auge ehrlicher Zeugen zu scheuen hat. Darum erhebe ich mein Veto dagegen. Ich erkläre einen jeden, der den Schnitt unternehmen sollte, ehe ich den Patienten gesehen und gesprochen habe, für einen leichtsinnigen oder gar vorbedachten Mörder und werde, falls man darauf besteht, mich mit Gewalt zu entfernen, sofort polizeiliche Unterstützung herbeirufen, die den Wünschen der Gräfin sicher den nötigen Nachdruck geben wird.«
Wie ein Fürst, wie ein König stand Sternau vor den Ärzten, mit hocherhobenem, stolzem Nacken und einem solchen machtvollen Blick in seinen Augen, als sei er nicht ein unbekannter Fremder, sondern der Besitzer des Schlosses.
Doktor Francas entfärbte sich zum zweiten Mal, und zwar noch tiefer als bisher, und seine beiden Kollegen senkten ihren Blick unter verlegenem Erröten zur Erde nieder. Auch der Graf fühlte sich wie von einem Keulenhieb getroffen, aber er war nicht der Mann, ein bereits begonnenes Spiel wieder aufzugeben. Er versuchte sich zu beherrschen, zuckte wie mitleidig mit der Schulter und meinte:
»Ein Wahnsinniger! Bei Gott, er ist nicht unverschämt, sondern nur wahnsinnig! Ich werde ihn den Dienern übergeben, damit sie ihn in das Irrenhaus bringen.«
Schnell trat er zum Glockenzug und klingelte.
»Das wirst du nicht tun!« rief die Gräfin, seine Hand erfassend.
Aber schon erschallte der laute Klang des Signals durch den Korridor, und da das ungewöhnliche Ereignis die Dienerschaft bereits vorher bis an die Tür des Vorzimmers herbeigezogen hatte, so stand diese jetzt sofort und zahlreich zur Verfügung.
»Schafft den Menschen fort!« gebot der Graf. »Er ist verrückt.«
Statt aller Antwort drehte sich Sternau nach den Domestiken um und schritt auf dieselben zu. Sie konnten nicht einmal dem bloßen Eindruck seiner Gestalt und seiner Augen widerstehen, sie wichen vor ihm zurück bis hinaus auf den Korridor, worauf er hinter ihnen die Tür verschloß, den Schlüssel zu sich steckte und lächelnd zu den Gegnern zurückkehrte.
»Graf, Ihre Leute versagen Ihnen den Gehorsam«, bemerkte er sehr gleichmütig. »Verlangen Sie es nicht anders von einem Fremden, den Sie ohne Grund zu beleidigen trachten, obgleich er nur in Ihrem eigenen Interesse an dieser Stelle steht und stets gewohnt gewesen ist, selbst von den höchsten Herrschaften mit Achtung behandelt zu werden.« – »Ich frage Sie, ob Sie mir gehorchen werden«, rief der Angeredete jetzt außer sich. »Geben Sie augenblicklich den Schlüssel heraus.« – »Gemach, er gehört einstweilen mir, denn ich bin gegenwärtig Herr der Situation.« – »Mensch, ich ohrfeige dich!« schrie Alfonzo da wütend.
Dabei sprang er auf den Arzt zu und hob die Hand zum Schlag, stieß aber sofort einen gräßlichen Schrei des Schmerzes aus, denn Sternau hatte diese Hand ergriffen und mit einer so fürchterlichen Kraft zusammengepreßt, daß die Knochen prasselten und das Blut hervorspritzte.
Auf diesen Schrei öffnete sich langsam die Stubentür, und es erschien eine Gestalt, die ganz wohl geeignet war, der Situation einen anderen Stempel aufzudrücken und Achtung und Mitleid zu erregen.
3. Kapitel
Der Eintretende war blind, das sah man auf den ersten Blick, aber seine lichtlosen Augen schienen dennoch das Vermögen zu besitzen, die Umgebung zu beherrschen. Seine lange, jetzt durch Leiden abgemagerte Gestalt war in ein weißes Tuch gehüllt, das wie ein Grabgewand von den Schultern bis auf den Boden herniederwallte. Sein edel gezeichnetes Angesicht war totenbleich, und seine an den Schläfen ergrauten Haare hingen wie gefesselte Schlangen in dichten Strähnen bis in den Nacken hernieder.
Es war, als sei ein Geist aus der Gruft gestiegen, um den ruhestörenden Streit der Sterblichen zu bannen.
Dieser Mann war der Graf Emanuel de Rodriganda-Sevilla. Die Chloroformierung war noch nicht vollendet gewesen.
Er hatte das Bewußtsein wiedererlangt und den Streit vernommen, darum war er, sich fest in das Tuch hüllend, vom Operationstisch herabgeglitten und hier eingetreten.
»Was gibt es da? Wer redet hier? Warum beginnt man nicht mit dem Werk?« fragte er, indem er seine toten Augen im Halbkreis herumgehen ließ. Rosa eilte auf ihn zu und schlang in überströmender Zärtlichkeit die Arme um ihn.
»Mein Vater, mein teurer, lieber Vater!« rief sie. »Der heiligen Jungfrau sei Dank, daß man noch nicht begonnen hat. Nun darf man dich nicht töten.« – »Töten? Wer wollte es denn tun, mein Kind?« – »Oh, du wärest gestorben, sicher und gewiß, ich weiß es, ich ahne es, ich fühle es.« – »Die kindliche Liebe und die Angst sprechen aus dir, meine liebe Tochter. Du hättest uns nicht stören sollen.« – »Recht so, Vater!« fiel hier der junge Graf ein. »Sie hat uns unterbrochen und zwar in welch unglaublich auffälliger Weise! Ich will dir nur sagen, daß sie sogar die Tür hat einbrechen lassen! Sage selbst, ob dies einer Gräfin Rodriganda würdig ist.« – »Hast du dies wirklich getan, mein liebes Kind?« fragte der Graf mit einem milden, ungläubigen Lächeln. – »Ja, ich habe es allerdings getan, Papa«, antwortete sie.
Und dann fuhr sie in edler Aufrichtigkeit fort:
»Dein Zustand erfordert die allerhöchste Vorsicht, und dein teures Leben ist mir viel zu kostbar, als daß ich diese Vorsicht verabsäumen sollte. Du darfst nur von solchen Männern behandelt werden, zu denen ich Vertrauen habe, ich bemerkte aber, daß man sich übereilt und dein Leben nicht mit der nötigen Sorgfalt behandelt. Ich starb fast vor Angst und Sorge. Ich schrieb nach Paris und erbat mir von Professor Letourbier einen Operateur, dem ich dich anvertrauen kann, und nun derselbe heute gekommen ist, wollte man ihn nicht zu dir lassen. Wirst du dich nun noch wundern, daß ich den Eintritt erzwungen habe?«
Er neigte lächelnd das müde Haupt und sagte:
»Meine Ärzte besitzen mein vollständiges Vertrauen, und wenn man dir die Stunde der Operation verheimlichte, so geschah dies nur, um dir und mir jede schädliche Aufregung zu ersparen. Wo befindet sich der Pariser Arzt?« – »Er steht hier. Es ist Doktor Carlos Sternau aus Magunzi – Mainz – in Deutschland.« – »Hier, in diesem Zimmer?« – »Ja«, antwortete Sternau jetzt selbst. »Ich bitte um Verzeihung, Herr Graf, daß ich dem Ruf Ihres Kindes Folge leistete. Wenn es sich um das Leben eines Menschen, eines teuren Vaters handelt, so kann nie genug geschehen.«
Diese Worte wurden mit einer festen Stimme gesprochen, deren Ton den Blinden sympathisch zu berühren schien.
»Haben Sie bereits einmal einer ähnlichen Operation beigewohnt, Señor?« fragte er. – »Ja.«
Dies war ein einziges, sehr einfaches Wort, aber der Graf erhob den Kopf und sagte:
»Señor, Sie haben einen sehr vielsagenden Ton. Sie sprachen da nur eine Silbe, aber ich höre aus derselben, daß Sie bereits sehr vielen Operationen beigewohnt und diese sogar vielleicht geleitet haben …« – »Erlaucht haben recht gehört. Ich bin Oberarzt beim Professor Letourbier.« – »Ah, da mußte man Vertrauen zu Ihnen haben und durfte Sie nicht zurückweisen! Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Señor! Wollen Sie meinen Zustand einer Prüfung unterwerfen?« – »Ich wünsche sehr, es tun zu dürfen, Erlaucht.« – »So treten Sie mit mir ein. Die Herren Ärzte werden uns begleiten, die anderen aber ersuche ich, zurückzubleiben.« – »Halt!« rief da Alfonzo. »Vater, ich teile dir mit, daß ich diesem Mann die Tür gewiesen habe. Willst du meinen Befehl dementieren?« – »Mein Sohn, du hast diesen Señor beleidigt, und ich bin ihm Genugtuung schuldig.« – »Er hat mir sogar die Hand verwundet.«
Da fiel Rosa ein:
»Alfonzo schlug nach Señor Sternau, und dieser hielt ihm nur die Hand fest, das ist alles!«
Der Graf erschrak förmlich, mit trauriger Miene erwiderte er:
»Ist es möglich, daß ein Graf Rodriganda einen Menschen schlägt, einen Gast seiner Schwester! Das mag Sitte bei den Vaqueros – Kuhhirten – von Mexiko oder Texas sein, nicht aber in der Familie eines Granden von Spanien. Mein Sohn, du hast mich sehr betrübt!«
Mit diesen Worten kehrte er in das andere Zimmer zurück. Sternau folgte ihm nebst den drei Ärzten.
Alfonzo, der zurückbleiben mußte, raunte währenddessen mit knirschenden Zähnen seiner Schwester entgegen:
»Das werde ich dir nicht vergessen! Diesen Kuhhirten sollst du mir bezahlen müssen!«
Er wollte nun die Gemächer seines Vaters verlassen, mußte aber bleiben, da Sternau vergessen hatte, die Schlüssel wieder abzugeben. So trat er an eins der Fenster; Rosa aber nahm in einem der Fauteuils Platz, ohne den Bruder weiter eines Blickes zu würdigen.
Das Zimmer, in das sich der Graf begeben hatte, zeigte alle Vorbereitungen, die zu der Operation nötig gewesen waren. Über eine lange Tafel war eine Matratze gebreitet, die dem Grafen hatte als Lager dienen sollen; daneben lagen allerlei Instrumente, und auf dem Boden standen Gefäße, um die Folgen des Schnittes aufzunehmen. Der Graf wandte sich an Sternau:
»Señor, seit mir das Licht meiner Augen geraubt wurde, pflege ich den Menschen nach dem Ton seiner Stimme zu beurteilen. Die Ihrige erweckt mein vollständiges Vertrauen. Bitte, untersuchen Sie mich!«
Der junge Mann hatte schon viele Patienten behandelt, nie aber mit den Empfindungen, die ihn jetzt beseelten, vor einem Kranken gestanden. Dieser Mann war der Vater der von ihm so heiß und hoffnungslos Geliebten; unwillkürlich drängten sich seine Gefühle in einem lauten und tiefen Atemzug nach oben. Der Graf vernahm denselben und fragte:
»Hegen Sie Sorge, Señor?«
»Nein, Erlaucht«, klang die Antwort. »Was Sie hörten, war nicht ein Seufzer der Schwäche, sondern ein Gebet zu Gott dem Allmächtigen und Allgütigen, daß er es mir gelingen lassen möge, die Erwartungen der Condesa Rosa zu erfüllen. Meine Erfahrung ist reich, und meine Hand ist sicher; aber ich erflehe mir immer auch Gottes Segen bei jedem Werk, das ich unternehme, einem Menschen das verlorene Glück zurückzugeben.«
Da streckte ihm der Graf beide Hände entgegen und sagte: »Señor, ich danke Ihnen. Diese Ihre Worte sind ganz danach angetan, mein Vertrauen zu Ihnen zu verzehnfachen. Wer trotz seiner Geschicklichkeit auch auf den Beistand Gottes rechnet, der wird leisten, was dem menschlichen Können nur möglich ist. Beginnen Sie!«
Sternau erkundigte sich nun in vielen und eingehenden Fragen nach allem, was das Übel betraf; dann mußte sich der Graf auf der Tafel ausstrecken, um auf das allersorgfältigste untersucht zu werden. Die Gewandtheit, mit der dies geschah, ließ die drei spanischen Ärzte zu der Erkenntnis kommen, daß sie es hier mit einem ihnen weit überlegenen Geist zu tun hatten.
Endlich durfte sich der Patient wieder erheben; er fragte den Deutschen nach dem Ergebnis der Untersuchung, aber statt die erwartete Antwort zu geben, sagte dieser:
»Erlaucht, Sie sind blind. Darf ich mir auch in Beziehung hierauf eine Erkundigung gestatten?« – »Fragen Sie getrost, Señor.«
Auch hier waren eine große Menge von Fragen zu beantworten; dann brachte Sternau verschiedene Instrumente hervor, mit denen er die Augen beleuchtete, berührte, bewegte und untersuchte. Endlich war er auch damit fertig und wandte sich an seine Kollegen:
»Señores, Doktor Francas aus Madrid hat vorhin erklärt, daß er keine fremde Einmischung dulden werde; ich muß also auf eine diskrete und kollegialische Konferenz Verzicht leisten und sehe mich gezwungen, meine Überzeugung mit aller Aufrichtigkeit auszusprechen, ohne auf jemand Rücksicht zu nehmen. Erlaucht, auf welche Weise sollte Ihnen der Stein entfernt werden?« – »Durch einen operativen Eingriff in das Mittelfleisch«, antwortete der Gefragte.
Sternau erschrak auf das heftigste.
»Das ist nicht möglich, Erlaucht«, rief er. »Entweder hat man Sie zu täuschen versucht, oder Sie haben falsch gehört! Aber zu einer Täuschung kann ich allerdings keine Veranlassung erkennen.« – »Es ist so, wie ich sagte«, erklärte der Graf. »Fragen Sie diese Señores!«
Sternau warf einen Blick auf die Ärzte, von denen nur Francas sich zu einer Erwiderung verstand und in trotzigem Ton erklärte:
»Wir halten die Rettung allerdings nur auf diese Weise für möglich.« – »Aber Señores«, meinte Sternau ganz erregt, »haben Sie den Stein gefühlt? Kennen Sie seine Größe und Lage? Halten Sie den Körper eines Mannes für denjenigen eines Weibes? Mein Gott, ich begreife das nicht! Hier ist ein jeder Schnitt höchst lebensgefährlich, ein Eingriff, wie Sie ihn beabsichtigten, aber absolut tödlich! Meine Herren, ich erkläre einen jeden Arzt, der auf diese Weise zum Messer greift, für einen Mörder, und nicht etwa für einen fahrlässigen Totschläger, sondern für einen Menschen, der mit aller Kaltblütigkeit und Vorüberlegung einen Mord begeht!« – »Señor!« drohte da der Madrider Operateur. – »Señor!« rief jedoch Sternau ihm mit blitzenden Augen zu: »Graf Rodriganda ist kein Arzt; er konnte nicht wissen, was mit ihm vorgenommen werden sollte. Aber ein jeder Anfänger, ein jeder chirurgische Dummkopf wußte, ja, mußte hier wissen, daß der Patient die Operation unmöglich überleben konnte. Meine Herren, was hat man Ihnen für den Mord an dem Grafen Rodriganda geboten?«
Die Wirkung dieser Frage war eine fürchterliche. Der Graf sank erschrocken in einen Sessel; Francas aber ergriff eines der Messer, um auf Sternau einzudringen, die anderen beiden machten Miene, ihn zu unterstützen.
»Bube! Schurke!« brüllte Francas. »Du willst uns Mörder nennen?« – »Ja, feige, ehrlose, gedungene Meuchelmörder!« antwortete der Deutsche furchtlos. »Wenigstens einer von euch ist es; dann aber sind die anderen beiden leichtsinnige Dummköpfe, die nicht wußten, was sie taten. Legen Sie das Messer weg, Señor, ich bin Ihnen überlegen! Wenn ich Sie anzeige und den Fall untersuchen lasse, werden Sie wegen versuchten Totschlags zur Verantwortung gezogen.«
Trotz dieser Drohung gelang es Francas, sich zu beherrschen.
»Ah«, schnarrte er voller Hohn, »Sie, ein Fremder, wollen uns drohen? Beim heiligen Pedrillo, das ist lächerlich! Dieser Mann spielt Theater, um vielleicht Leibarzt des Grafen zu werden; aber Seine Alteza – Hoheit – kennen uns. Unsere Namen sind rein von allem Makel und in der Wissenschaft hoch geachtet. Hören wir doch einmal, wie der Schwärmer den Stein entfernen will!« – »Das sollen Sie hören!« entgegnete Sternau gelassen. »Er ist nur durch Lithotripsie zu entfernen, und zwar vollständig gefahrlos.« – »Lithotripsie?« fragte der Arzt aus Manresa. »Was ist das? Was soll das sein?«
Sternau horchte erstaunt auf.
»Erlaucht, hören Sie, welchen Leuten Sie Ihr Leben und das Glück Ihres Kindes anvertrauten?« wandte er sich zu dem Grafen. »Dieser Mann hat noch nichts von Lithotripsie gehört, von der Zermalmung und Entfernung des Steins durch den Katheterbohrer! Wahrhaftig, ich beginne zu glauben, daß diese Ignoranten Ihnen nicht aus Vorbedacht, sondern aus Unwissenheit das Leben genommen hätten!«
Francas stieß ein verächtliches Lachen aus und antwortete:
»Sie irren, Señor! Das Märchen von der Katheterzange kannten wir bereits vor Ihnen, aber es ist eben ein Märchen, an welches nur ein vollständig Unfähiger zu glauben vermag. Mit einem Unfähigen aber streitet man sich nicht. Der Graf mag entscheiden, wer dieses Zimmer augenblicklich zu verlassen hat, er oder wir.« – »So lange ich zu handeln vermag, werde ich mich nur der Entscheidung meines Gewissens fügen«, meinte Sternau. »ich bemerkte bereits, daß Seine Erlaucht kein Arzt sind. Vielleicht entscheidet er sich für den Weg, der ihm das Leben kostet, und das werde ich nicht dulden, selbst wenn ich für meine Überzeugung mein eigenes Leben einsetzen müßte!«
Da erhob sich der Graf, winkte gebieterisch mit der Hand und sprach:
»Señores, es ist hier nicht der Ort zu einem solchen Streit; Sie können sich also entfernen, um später meine Entscheidung zu vernehmen. Ihre Ansichten kenne ich; ich habe nun auch noch diejenige von Señor Sternau zu prüfen. Er wird also hierbleiben, um mir dieselben darzulegen. Gehen Sie jetzt, Sie werden das weitere bald erfahren.« – »Das heißt, wir sind verabschiedet?« grollte Francas zornig. »Wir sind entlassen? Gut, wir gehen, aber dieser Fremde wird uns Genugtuung geben, und Sie, Erlaucht, bitten wir, sich vorher sehr zu bedenken, ehe Sie sich entscheiden.«
Sie packten ihre Instrumente zusammen und verließen das Zimmer. Sofort trat Rosa ein, warf sich ungestüm an den Hals des Grafen und jubelte:
»Gerettet! Mein Vater, ich danke dir!«
Er wehrte sie leise von sich ab, doch ohne sie ganz aus den Armen zu lassen, und meinte:
»Nicht so sanguinisch, mein Kind! Noch ist die Entscheidung nicht gefallen. Ich habe erst noch die Ansicht von Señor Sternau zu prüfen.« – »Oh, sie wird die einzig richtige sein!« rief sie.»Du darfst ihm all dein Vertrauen schenken.«
Ihre Augen strahlte dem Deutschen so voll und warm entgegen, daß ihm dieser Blick wie Sonnenlicht bis tief ins Herz drang und er mit bewegter Stimme bat:
»Erlaucht, haben Sie Vertrauen zu mir! Gott weiß es, wie wahr und ehrlich ich es mit Ihnen meine. Verzeihen Sie aber zugleich auch die Härte, mit der ich zu diesen Männern sprach. Ich war vollständig empört über den Leichtsinn, der Ihr teures Leben gefährdete. Wäre die Operation wirklich vorgenommen worden, so lebten Sie nicht mehr, das schwöre ich Ihnen bei Gott dem Allwissenden zu.«
Jetzt öffnete sich die Tür, und Graf Alfonzo kam hereingestürmt. Er hatte bis jetzt draußen mit den Ärzten verhandelt und kam nun, voller Ärger und Enttäuschung, um womöglich seinen finsteren Zweck doch noch zu erreichen.
»Sie gehen? Du jagst sie fort, Vater?« fragte er.»Ist das möglich?« – »Ich jage sie nicht fort, mein Sohn«, antwortete der Graf. »Ich habe sie gebeten, mir Zeit zur Prüfung zu lassen.« – »Ich hoffe, daß deine Entscheidung diese verdienten Männer berücksichtigt!« – »Meine Entscheidung wird eine gerechte sein. Für jetzt aber bitte ich, diesen unerquicklichen Gegenstand vollständig fallenzulassen.«
Alfonzo mußte gehorchen, und der Graf wandte sich an seine Tochter: »Denke dir, dieser Señor hat auch meine Augen untersucht.«
Sie blickte in schneller, freudiger Überraschung empor.
»Wirklich?« fragte sie. »Hatten Sie Grund zur Hoffnung? Hielten Sie die Erblindung noch einer Untersuchung für wert, Señor?« – »Allerdings, Señorita. Ich habe ungemein viel Blinde behandelt, und die Übung schärft das Auge, so daß man beinahe auf den ersten Blick ein vollständig hoffnungsloses Auge von einem solchen, das noch einer Besserung fähig ist, zu unterscheiden vermag.« – »Und was haben Sie bemerkt?« – »Daß auch hier die Ärzte unrecht hatten.«
Sie sprang auf. Auch der Blinde erhob mit einer freudig überraschten Bewegung den Kopf, während Graf Alfonzo einen giftigen Blick kaum zu verbergen vermochte.
»Wie meinen Sie das?« fragte der Graf. »O bitte, bitte, sprechen Sie!« – »Erlaucht, hat man Sie für unheilbar erklärt?« – »Allerdings. Und zwar waren es ganz entschieden Männer der Wissenschaft, die dieses Urteil fällten.« – »Welches ist das Übel, an dem Sie nach diesem Urteil leiden sollen?« – »Man schrieb die Krankheit dem Staphylom – einem dem Weinbeerkernchen ähnlichen Geschwür an der Augenhornhaut – zu.« – »Hm, man hatte unrecht! Ihre Krankheit besteht in dem grauen Star, in einer allerdings außerordentlich seltenen Verbindung mit derjenigen perlmutterartig glänzenden Trübung der Hornhaut, die wir Ärzte Leukom nennen.« – »Und ist dieser Zustand heilbar?« fragte der Graf fast atemlos. – »Bis vor kurzem wurde er allerdings für unheilbar gehalten; mir ist aber die Herstellung mehrerer Patienten bereits geglückt. Ich entfernte das Leukom mittels fortgesetzter Punktation mit der Starnadel und operierte dann den darunter befindlichen grauen Star. Wollen Sie sich mir anvertrauen, Erlaucht, so geben ich Ihnen mit dem besten Gewissen die Hoffnung, das Licht Ihrer Augen zwar nicht in seiner ganzen früheren Schärfe und Stärke, aber doch so weit wiederzugewinnen, daß Sie mittels der Brille sehen können!«
Der Graf streckte seine Arme zum Himmel empor und rief:
»O mein Gott, wenn dies möglich wäre!«
Und Rosa sank vor Entzücken weinend an seine Brust und bat mit Schluchzen:
»Vater, vertraue ihm! Es kann dir keiner helfen, nur er allein!« – »Ja, ich will deiner Stimme gehorchen; ich will mich ihm mit allem Vertrauen übergeben, meine Tochter!« entschied der Graf. »Hier, Señor, haben Sie meine Hand! Sie haben Ihr Werk heute so fromm mit Gott angefangen und werden es auch mit Gottes Hilfe vollenden. Alfonzo, mein Sohn, willst du dich nicht mit uns freuen?«
Der junge Graf versuchte, sein Gesicht zu beherrschen, und antwortete:
»Ich wäre ganz glücklich, dich wieder gesund und sehend zu wissen, aber ich bedenke auch, wie äußerst leichtsinnig und gefährlich es ist, Hoffnungen zu erwecken, die nicht in Erfüllung gehen. Der Kranke muß sich dann zehnfach unglücklich fühlen.« – »Gott wird gnädig sein! Wie lange Zeit wird die Behandlung in Anspruch nehmen, Señor?« – »Der Stein ist, da Sie erst an den Bohrer gewöhnt werden müssen, unter zwei Wochen nicht zu entfernen«, antwortete Sternau. »Erst dann, wenn Sie von dieser Operation vollständig gekräftigt sind und Ihr Allgemeinbefinden nichts befürchten läßt, können wir an die Behandlung des Auges gehen, die allerdings eine bedeutend längere Zeit in Anspruch nehmen wird.« – »Aber können Sie so lange hier verweilen, Señor?« – »Ich müßte mich von Professor Letourbier für längere Zeit beurlauben oder gar verabschieden lassen.« – »Verabschieden Sie sich! Ja, verabschieden Sie sich«, bat der Graf, »Sie sollen bei mir eine Heimat finden und reichlichen Ersatz für alles, was Sie in Paris verlassen!« – »Mein bester Lohn soll das Bewußtsein sein, Ihnen die Gesundheit Ihres Körpers und das Licht Ihrer Augen wiedergebracht zu haben, Erlaucht. Ich werde also noch heute dem Professor schreiben.« – »Tun Sie das! Sie wohnen natürlich bei mir, Señor. Rosa mag Ihnen Ihre Zimmer sogleich anweisen.« – »Dazu haben wir ja den Kastellan«, bemerkte Alfonzo hämisch. – »Ja, richtig«, meinte der Graf. »Ich dachte in meiner Freude nicht daran.« – »Auch ich bin Señor Alfonzo für seine Erinnerung dankbar«, sagte Sternau stolz, »da es nicht im mindesten meine Absicht ist, in den hiesigen Verhältnissen um meinetwillen eine Revolution hervorzubringen.« – »Und doch hat sie bereits begonnen«, entgegnete der junge Graf wegwerfend. »Unsere Ärzte können diese Wohnung nicht verlassen, weil es Ihnen beliebte, den Schlüssel zu sich zu nehmen.« – »Ah, wahrhaftig, das habe ich vergessen, ich werde sofort öffnen.«
Sternau verabschiedete sich von dem Grafen und eilte hinaus, wo er allerdings die drei Spanier fand, die ihn mit finsteren, haßerfüllten Blicken maßen.
»Señor«, raunte ihm Francas zu, »Sie haben den Kampf mit uns begonnen! Wir werden ihn fortsetzen, und zwar so kräftig und so lange, bis Sie unterliegen und uns um Gnade bitten. Sie werden kein Erbarmen finden!« – »Bah!«
Nur dieses eine Wort gab Sternau zurück, dann schob er den Sprecher beiseite und öffnete die Tür. Er selbst schritt voran, um sich direkt nach seiner bisherigen Wohnung zu begeben. Bei seiner späteren Rückkehr nach dem Schloß fand er jedenfalls sein Zimmer bereit.
Nur kurze Zeit später saßen in dem Gemach der frommen Schwester Clarissa wieder drei Männer hinter verschlossenen Türen: Graf Alfonzo, Doktor Francas und der Notar Gasparino. Die beiden ersteren bemühten sich, das außerordentliche Ereignis zu berichten.
»Oh, heilige Madonna von Segovia, ist das möglich!« rief Schwester Clarissa, als die Erzählung beendet war. »Wir waren so sicher; wir erwarteten das Gelingen unseres Plans so gewiß, und da kommt dieser fremde Antichrist dazwischen, um uns das gottgefällige Werk vollständig zu verderben!« – »Verderben?« fragte Alfonzo höhnisch. »Wer spricht davon! Hier kann es sich doch höchstens um einen kurzen Aufschub handeln.« – »Wird es mit dem Bohrer gelingen, Señor?« raunte der Notar dem Arzt zu. – »Ganz sicher«, antwortete dieser. »Aber wir werden diesen Doktor Sternau selbst so scharf anbohren, daß er zermalmt wird, ehe er es denkt.« – »Und diese Augenoperation?« – »Kann auch gelingen, wenn keine verderbliche Entzündung dazukommt. Ich traue diesem deutschen Riesen alles zu.« – »So sorgt man eben dafür, daß eine solche Entzündung eintritt«, bemerkte die fromme Schwester. »Gott hat dem Grafen das Licht der Augen genommen, um ihn zu prüfen, und es ist eine himmelschreiende Sünde, in diese Prüfung Gottes einzugreifen.« – »Ja, wir können dieses und jenes tun und auch noch vieles andere«, sagte der Notar, »aber wir müssen dabei vorsichtig sein. Wir dürfen nichts überstürzen; wir müssen jeden Verdacht vermeiden und außerordentlich vorsichtig sein. Man darf uns so wenig wie möglich beisammen sehen, und darum müssen wir auch die jetzige Unterhaltung bald beendigen. So viel steht fest: Der Graf darf nicht wieder gesund, am allerwenigsten aber wieder sehend werden, denn er darf das Gesicht Alfonzos niemals erblicken. Und dieser Deutsche muß unschädlich gemacht werden, er muß sterben oder doch für immer verschwinden.« – »Aber wie?« fragte die fromme Dame. – »Das laß nur meine Sorge sein! Ich habe da oben in den Bergen einige sehr gute Bekannte; von dummen Leuten werden sie Räuber genannt, gegen mich aber sind es die treuesten und ehrlichsten Verbündeten, die ich mir nur wünschen kann. Ich werde sie recht bald einmal besuchen und dabei anfragen, ob sie geneigt sind, uns von der Gesellschaft dieses Deutschen zu befreien.«
Derjenige, von dem hier die Rede war, ruhte unterdessen in seiner kleinen Wohnung von der durchwachten Nacht aus, und als er am Nachmittag zum Schloß kam, war Gräfin Rosa die erste, die ihm begegnete.
»Willkommen, Señor!« begrüßte sie ihn. »Mag uns Ihr Eintritt Heil und Segen bringen!« – »Zunächst wird er nur Kampf bringen, Señorita«, antwortete er. »Das hat mir dieser Doktor Francas heilig und teuer versprochen.« – »Er mag recht haben, Señor«, entgegnete sie mit leuchtenden Augen, »aber der Kampf, zu welchem wir uns verbinden, wird nicht nur ein Kampf gegen die Falschheit, die Lüge und das Verbrechen, sondern es wird auch ein Kampf um die Liebe sein, die uns verboten ist. Sie sollen in mir eine treue und tapfere Kameradin finden!«
4. Kapitel
»So liegt, die Qualen stolz verachtend,
Mit denen man ihn zwingen will,
Der Löwe, nach der Wüste schmachtend,
In seinem Käfig stumm und still.
Erstaunend ob der mächt‘gen Glieder,
Umstehet scheu die Menge ihn,
Und, tief gesenkt die Augenlider,
Träumt er von der Oase Grün.«
Hoch oben in den Bergen der Pyrenäen, da, wo westlich von Andorra der gewaltige Maladeta, »Der Verfluchte«, seine Spitzen in die Wolken reckt und seine finsteren Schluchten tief in die Erde gräbt, schlich ein Wanderer den wilden Pfad hinab.
Keine Quelle ließ ihre erfrischenden Wellen abwärts murmeln; kein Busch oder Strauch bot einigen Schatten. Heiß, glühend heiß brannte die südliche Sonne auf den nackten Felsen, auf die öden Gänge und die kahlen Bergstürze, und doch hätte der einsame Wandersmann gar sehr eines kühlen Trunks oder eines kühlen Ortes bedurft, wo er seine müden Glieder vor den verzehrenden Strahlen verbergen konnte.
Er schien alt, sehr alt zu sein. Sein Haar war ergraut und sein Gesicht eingefallen. Die Haut des letzteren und auch die seiner Hände war von Wind und Wetter lederhart gegerbt, die Kleidung hing ihm beinahe nur noch in Fetzen um den Leib, und die alten Sandalen, die er trug, waren so zerrissen, daß seine nackten Füße den glutgesättigten Boden berührten. Dabei schien er sehr krank zu sein, denn ein immerwährendes Hüsteln ließ seine eingefallene Brust erbeben.
So schlich er sich weiter und weiter, immer tiefer in die Schluchten hinein. Er konnte vor Erschöpfung kaum fort, aber immer wieder zwang er die brennenden Füße weiter, als werde er von einem mitleidlosen Verhängnis oder von einem grausamen Ruch über die Einöden getrieben.
Endlich, endlich machte er halt und warf den Blick forschend umher.
»Hier muß es sein«, murmelte er. »Hier ist es gewesen! Hier wurden die Knaben umgetauscht; von hier ging ich nach Mexiko, und von hier beginnt die Qual, die mir das Mark aus den Knochen und das Leben aus dem Herzen fraß. Hier werde ich ausruhen.«
Er ließ sich auf den glühendheißen Stein nieder und senkte den Kopf in die Hände. Es war kein Laut umher zu vernehmen. Nur das Keuchen und Husten seiner kranken Brust unterbrach die ringsum herrschende Stille.
»O santa mater dolorosa«, ließ er sich endlich wieder vernehmen. »Was habe ich gesündigt; wie wurde ich belohnt, und was hatte ich von dem Verbrechen! Jetzt habe ich mich über Länder und Meere gebettelt, um den Himmel zu versöhnen und meinen armen Kopf in das Grab zu legen. Herrgott im Himmel, vergib mir! Laß mich nicht umsonst suchen. Laß mich finden, damit ich nicht zur Hölle fahre!«
Wieder schwieg er, um eine geraume Weile hustend nachzugrübeln, und begann abermals:
»Aber, ob er noch lebt? Hätten sie ihn getötet, den schönen Knaben, der schlafend in meinem Schoß lag, wie das Heilandskind in den Armen der heiligen Madonna gloriosa? Es wäre schrecklich! Nein, ich halte diese Ungewißheit nicht aus! Ich muß auf und fort, da links hinüber, wo die Gegend ist, in der die Räuber ihr Versteck hatten. Aber keiner darf mich erkennen, keiner darf ahnen, wer ich bin und was ich hier bei ihnen will. Sie werden mich nicht von sich stoßen, sie werden mich, den Kranken, den Sterbenden, bei sich aufnehmen, und ich werde bald erforscht haben, ob er noch lebt, den ich suche. Vorwärts, ihr müden Füße! Noch einen Weg nur sollt ihr tun, und dann werdet ihr ausruhen für immerdar!«
Er erhob sich mühsam und setzte seine Wanderung weiter fort. Während er sich bisher möglichst gerade nach Süden gehalten hatte, wandte er sich jetzt einer mehr östlichen Richtung zu. Die Längstäler verloren sich; er hatte jetzt tiefe Steintäler und kurze, schroffe Felsenmauern zu überwinden; er hustete und keuchte, er ächzte und stöhnte, aber er gönnte sich keinen Augenblick Ruhe, bis er einen Streifen erfrischendes Grün vor sich erblickte. Nun hatte er die Grenzen der Öde hinter sich und gelangte zu Bergen, die zunächst von niederem Gestrüpp, bald aber auch von Büschen und endlich gar von einem dichten Baumwuchs bestanden waren.
Zwischen diesen Büschen und Bäumen kletterte er empor, bis er einen freien, rings von hohen Sträuchern eingefaßten Platz erreichte, auf dem er sich niederließ. Kaum aber hatte er dies getan, so vernahm er Schritte hinter sich, und noch ehe er Zeit gehabt hatte, sich umzudrehen, fühlte er eine feste Hand auf seiner Schulter, und eine barsche Stimme fragte:
»Was willst du hier, Alter?« – »Sterben!«
Nur dieses eine Wort antwortete er, dann ließ er den Kopf, den er erhoben hatte, wieder niedersinken.
»Sterben? Warum?«
Der Frager war ein junger, kräftiger Mann, der wegen der Waffen, die er trug, nicht gut für den friedlichen Bewohner einer Stadt oder eines Dorfes gehalten werden konnte.
»Weil ich nicht weiterkann«, antwortete der Kranke. – »Warum kommst du hierher? Was suchst du hier?« – »Ich suche schon viele, viele Tage lang in den Bergen nach einer Wurzel, die mein Leiden heilen kann, aber ich habe sie noch nicht gefunden.« – »Wo bist du daheim?« – »Weit von hier, bei Orense, nicht weit von Portugal.« – »So weit wagtest du dich fort mit deiner Krankheit? Hast du Brot bei dir?« – »Nein.« – »Nichts, gar nichts? Heilige Mutter Gottes, da wirst du ja verhungern, ehe du an der Auszehrung stirbst! Wart‘, ich werde fragen, ob ich dich bringen darf!«
Der junge Mann verschwand hinter den Büschen, kehrte aber bald wieder zurück.
»Wenn du dir die Augen verbinden lassen willst, so werde ich dich an einen Ort führen, wo du ausruhen und dich pflegen kannst, so lange du willst«, sagte er. – »Die Augen verbinden? Warum?« – »Es ist notwendig. Du darfst den Eingang zu uns nicht sehen.« – »Ah, wer seid ihr?« – »Wir sind Briganten, sonst aber ganz ehrliche Leute, Alter.« – »Briganten? Also Räuber? Ach, ich bin müde, und ich bin arm; ich brauche mich vor euch nicht zu fürchten. Verbinde mir getrost die Augen und führe mich, wohin du willst!«
Der Räuber nahm darauf ein Tuch vom Hals, band es dem Alten um die Augen und ergriff ihn bei der Hand, um ihn zu leiten. Es ging eine Strecke lang durch Büsche hin, dann, dem Klang der Schritte nach, in einen Gang hinein, bis sie haltmachten und dem Alten das Tuch wieder abgenommen wurde. Er befand sich in dem Inneren eines oben offenen Felsenkessels. Rundherum saßen gegen zwanzig wilde, bewaffnete Gestalten, die entweder aßen, tranken, rauchten und spielten oder sich mit ihren Gewehren zu tun machten. Man führte ihn vor einen starken, vollbärtigen Mann, der etwas abseits auf einer wollenen Decke lag und damit beschäftigt war, Geld in einen großen, ledernen Beutel zu zählen.
»Wie heißt du?« fragte dieser den Neuangekommenen ziemlich barsch. – »Mein Name ist Pedro, Señor.«
Der Frage, es war der Anführer dieser Leute, richtete einen scharfen Blick auf ihn und meinte, wie sich besinnend:
»Mir ist, als hätte ich dich schon einmal gesehen!« – »Ich weiß nichts davon.« – »Man sagt, daß du aus der Gegend von Orense bist?« – »So ist es.« – »Warum bleibst du nicht daheim, wenn du krank bist?« – »Gerade meine Krankheit trieb mich fort, Señor. Ich suche auf den Bergen eine Wurzel, die alle Krankheiten heilt.« – »Oho, die gibt es nicht!« – »Die gibt es, Herr; eine kluge Gitana – Zigeunerin – hat es mir gesagt.« – »Hast du keinen Sohn, der an deiner Stelle gehen konnte?« – »Ich habe weder Sohn noch Tochter; ich habe keinen einzigen Freund auf Erden.« – »So bleibe hier und ruhe dich aus. Du wirst es nicht mehr lange treiben, Mann. Brauchst du einen Pater zum Beichten, so sage es. Wir haben einen Pater Dominikaner unter uns. Hinaus aber darfst du ohne meine Erlaubnis nicht wieder. Und wenn du ein Verräter bist, so nimm dich wohl ich acht! Ich scherze mit solchen Leuten nicht.«
Es wurde dem Alten ein abgelegener Platz angewiesen, wo er Speise und Trank erhielt; und kein Mensch schien sich weiter um ihn zu bekümmern.
Nach einer geraumen Weile trat der Mann wieder ein, der draußen Wache hielt, und meldete dem Hauptmann, daß ihn ein Fremder zu sprechen begehre.
»Wer ist es?« lautete die Frage. – »Er will es nicht sagen. Er trägt eine schwarze Larve, damit man ihn nicht erkennen soll.« – »Ah, ich komme gleich!«
Der Hauptmann erhob sich, steckte noch ein Pistol zu sich und verließ das Felsenversteck. Draußen angekommen, erblickte er den Fremden, jedenfalls kannte er ihn, denn er eilte auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen und begrüßte ihn mit den Worten:
»Willkommen, Señor Gasparino, willkommen! Es sind ja Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben!« – »Pst!« warnte die lange, hagere Gestalt des Verhüllten. »Wer wird hier Namen nennen! Sind wir sicher und unbelauscht?« – »Vollständig! Die Wache ist dort rechts auf ihrem Posten; sie kann uns nicht hören, und sonst ist kein Mensch zugegen.« – »Wißt Ihr das genau?« – »Sehr genau, Señor. Ich hoffe, Ihr bringt mir eine gute Arbeit.« – »Möglich, wenn Ihr nicht zu viel verlangt.« – »Laßt hören.« – »Was kostet es, zwei Menschen verschwinden zu lassen?« – »Das richtet sich ganz danach, wer sie sind.« – »Es ist ein Graf und ein Arzt« – »Welcher Graf?« – »Der alte Emanuel de Rodriganda-Sevilla.« – »Euer Herr? Beim heiligen Sebastian, Ihr seid ein treuer Diener! Leider aber kann ich Euren Wunsch nicht erfüllen! Der Graf steht unter dem Schutz eines meiner Freunde. Ich darf ihm kein Haar krummen.« – »Pah, ich bezahle gut!« – »Das ändert nichts. Wir Briganten sind ehrlich gegen unsere Freunde. Ihr könnt mir zehntausend Dublonen geben, so würde ich Euch abweisen müssen. Betrachtet das als abgemacht! Wer ist der zweite?« – »Ein Arzt aus Deutschland!« – »Das wird besser gehen.« – »Und billiger?« – »Allerdings. Wo wohnt er?« – »Bei dem Grafen.« – »Ah, so wird es nicht sehr billig sein. Wenn er bei einem Beschützten wohnt, wird man sich nicht leicht an ihm vergreifen dürfen.« – »Dürfen, sagt Dir? Wer will Euch, dem Hauptmann, etwas verbieten?« – »Ich selbst. Ich kann die Gesetze nicht selbst übertreten, die ich gegeben habe. Warum soll dieser Mann verschwinden?« – »Er ist mir im Weg; das muß Euch genügen.« – »Gut. Soll er sterben oder nur verschwinden?« – »Das erstere ist sicherer.« – »So zahlt Ihr gerade tausend Dublonen.« – »Tausend Dublonen? Seid Dir des Teufels, Capitano?«
Der Hauptmann erhob sich und meinte sehr einfach:
»So könnt Ihr es lassen. Adios, Señor!« – »Nun gut! Also tausend Dublonen. Wann zahlbar?« – »Die Hälfte jetzt und das andere danach.« – »Und wenn es nicht gelingt?« – »Es muß gelingen! Wie ist ihm beizukommen?« – »Das läßt sich jetzt noch nicht sagen. Es mögen sechs bis acht Männer nötig sein. Diese laßt Ihr nach Rodriganda gehen, wo ich sie im Park treffen und ihnen meine Instruktionen erteilen werde. Hier habt Ihr Eure fünfhundert Dublonen, Capitano.«
Er zählte dem Hauptmann das Geld vor und erkundigte sich:
»Habt Ihr den kleinen Burschen von damals noch?« – »Ja. Er ist unter dieser Zeit ein großer Bursche geworden.« – »Warum stirbt er nicht?« – »Ihr bezahltet mich damals nur dafür, daß er verschwinden sollte. Aber sagt mir doch nun einmal, wer er denn eigentlich ist!« – »Das erfahrt Ihr später. Wofür hält er sich denn?« – »Für den Sohn eines verstorbenen Räubers.« – »Fast bin ich begierig, ihn einmal zu sehen.« – »Das laßt Euch vergehen, Señor! Ihr seid kein Mitglied. Ihr bezahlt mich für meine Arbeit und könnt gehen. Weiter als hierher kommt Ihr nicht.« – »So muß ich mich zufriedengeben. Wann werden Eure Leute in Rodriganda sein?« – »Morgen abend. Adios, Señor!« – »Adios!«
Die Männer gaben einander die Hände und trennten sich. Es war hier über das Leben eines Menschen verhandelt worden, wie über einen ganz zufälligen und geringfügigen Gegenstand. Doch es fragt sich, wer von den beiden der Schlimmere, der Gefährlichere war, der Räuberhauptmann oder der schleichende Notar, der zu seinen Taten die Kunst der Verstellung und die Maske des Geheimnisses zu Hilfe nahm.
Nachdem der Hauptmann in seine Höhle zurückgekehrt war, verhandelte er, in eine abgelegene Ecke zurückgezogen, sehr eifrig mit dreien seiner Leute, die den Auftrag erhielten, sich nach Rodriganda zu begeben, um die von dem Notar in Auftrag gegebene Tat auszuführen.
Als der Abend hereinbrach, nahte sich einer der Briganten dem kranken Bettler, gebot demselben, ihm zu folgen und führte ihn in einen dunklen Gang, der sich tief in das Innere des Berges hineinzog. Zu beiden Seiten dieses Ganges waren kleine Zellen in den Felsen eingehauen, die von den Bewohnern der Höhle als Schlafraum benutzt wurden. Einige derselben waren mit schweren, eisenbeschlagenen Türen versehen, so daß es schien, als ob sie den Zweck hätten, als Gefängnisse zu dienen.
Der Räuber war ein junger Mann, der vielleicht zweiundzwanzig Jahre zählen mochte. Er trug die malerische Kleidung der Provinz Katalonien, und bei dem Schein der kleinen Lampe, die er in der Hand hielt, konnte man die edlen Züge seines Gesichts erkennen, die durchaus nicht einen Räuber in ihm vermuten ließen. Er war schlank, aber sehr kräftig gebaut, und seine Bewegungen zeigten eine Eleganz und Gewandtheit, die jeden Beschauer für den jungen Mann einnehmen mußten.
»Hier ist deine Kammer, mein guter Alter«, sagte er, auf eine der offenen Zellen zeigend. »Du findest da ein gutes Lager. Soll ich dir das Licht hierlassen?« – »Ja«, antwortete der Bettler. »Wer weiß, ob ich diese Kammer jemals wieder verlasse!« – »Warum nicht? Der Mensch soll sich nicht von Ahnungen beherrschen lassen. Du bist wohl sehr krank, aber Gott kann auch die böseste Krankheit heilen. Du kannst also hoffen!« – »Ja, ich hoffe«, antwortete der Bettler unter einem qualvollen Hustenanfall, »aber nur auf den Tod. Er soll mir der Erlöser sein von allen meinen Leiden.« – »Hast du große Schmerzen?« fragte der Räuber, indem er sich mitleidig bückte, um dem Greis das Lager aufzuschütteln. – »Das Leben darf nicht schmerzlos fliehen; der Körper wehrt sich gegen den Tod. Aber was sind die Leiden des Körpers gegen die Qualen des Geistes! Diese sind fürchterlicher, mein Sohn. Hüte dich, sie jemals kennenzulernen.« – »Du leidest an der Seele? Wende dich an unseren guten Dominikaner. Er wird deine Beichte hören und dir die heilige Absolution erteilen.« – »Glaubst du wirklich, daß die Sünde vergeben werden kann? Durch einen Menschen? Durch einen Priester, der selbst sündhaft ist und sich unter Briganten und Mördern befindet? Das ist unmöglich, mein Sohn!« – »Höre, Alter, der Pater Dominikaner ist nicht zu uns gekommen, um teilzunehmen an dem, was wir tun, sondern damit auch die Briganten die Gnade Gottes finden sollen, wenn sie sich danach sehnen. Er ist ein sehr guter und frommer Mann und mein Lehrer, dem ich alles, was ich weiß, zu verdanken habe.«
Der Bettler horchte auf.
»Dein Lehrer? Ein Räuber erhält Unterricht?« – »Allerdings. Du mußt nämlich wissen, daß der Hauptmann mich nur zu solchen Unternehmungen verwendet, bei denen er eines Mannes bedarf, der es versteht, mit hochgestellten Señores zu verkehren. Darum habe ich alles lernen müssen, was ein Señor können und wissen muß.« – »Wie heißt du?« – »Mariano.« – »Und weiter? Du mußt doch den Namen deiner Familie tragen, mein Sohn.« – »Ich kenne sie nicht.« – »Ah! Wie bist du denn unter die Briganten gekommen?« – »Der Hauptmann hat mich in den Bergen gefunden. Ich bin ein Findling. Er hat mich zu sich genommen, aber all sein Forschen nach dem, der mich ausgesetzt hat, ist vergeblich gewesen.« – »Wie alt bist du?« – »Ich weiß es nicht.« – »Wie lange bist du bei den Briganten?« – »Es sind nun achtzehn Jahre gewesen.« – »Achtzehn Jahre?« fragte der Alte nachdenklich. »Oh, das ist dieselbe Zeit. Hast du keine Erinnerungen aus deiner Jugend mehr? Kannst du dich auf nichts, auf gar nichts mehr besinnen, mein lieber Sohn?« – »Nein. Ich weiß nichts mehr aus jener Zeit, obgleich ich oft von ihr geträumt habe.« – »Vielleicht hältst du für Traum, was Wirklichkeit gewesen ist. Was hat dir denn geträumt?« – »Ich träumte viel von einer kleinen Puppe. Sie lag in einem schönen, weißen Bettchen, an dessen Ecke eine goldene Krone zu sehen war, und sie war lebendig.« – »Weißt du vielleicht noch, wie sie hieß?« – »Ja«, antwortete er. »Ich weiß noch ganz genau, daß ich sie Rosita, Röschen, genannt habe. Auch hat mir von einem großen, hohen Mann geträumt, der mich Alfonzo nannte. Er nahm mich auf seinen Schoß und trug stets eine schöne, goldene Uniform. Bei uns war auch immer eine schöne, stolze Frau, die mich sehr lieb hatte und mich und die kleine Rosita herzte und küßte. Ich war klein, doch ich weiß, daß ich sie Papa und Mama nannte. Auch lag ich in einem Bett, das Kronen trug. Einmal kam ein fremder Mann, als ich schlief, da erwachte ich, und der Mund war mir verbunden. Aber ich hatte nicht auf unserem Schloß geschlafen, sondern in einer Stadt, wohin ich mit dem Papa und der Mama gefahren war. Ich wollte schreien, denn ich fürchtete mich vor dem Mann, aber er band das Tuch fester, und ich schlief vor Angst wieder ein. Als ich erwachte, lag ich im Wald. Das ist es, was mir geträumt hat.« – »Weiter nichts, weiter gar nichts?« – »Nein.« – »Weißt du nicht, wie der Mann hieß, der die Uniform trug?« – »Die Diener nannten ihn Graf oder auch wohl Exzellenz.« – »Ah! Nannten sie nicht zuweilen einen Namen?« – »Nein.« – »Höre, mein Sohn, das hat dir nicht geträumt, sondern das ist Wirklichkeit!« – »Ich habe es auch zuweilen gedacht; doch wenn ich es dem Capitano sagte, so wurde er sehr zornig und gebot mir zu schweigen. Von der Krone durfte ich gar nicht sprechen, obgleich ich mich ganz genau auf sie besinnen konnte. Er wollte mich schlagen, wenn ich sie beschrieb, und so habe ich immer darüber geschwiegen.« – »Kannst du dich noch jetzt auf sie besinnen?« – »Sehr genau. Sie hatte goldene Zacken mit Perlen, und darunter standen zwei silberne Zeichen.« – »Welche Zeichen waren das?« – »Ich wußte es erst nicht, aber als mich der Pater Dominikaner das Lesen lehrte, da lernte ich diese beiden Zeichen kennen. Es waren zwei Buchstaben, nämlich ein S und ein R.« – »Mein Sohn, das war eine Grafenkrone. Vergiß diese Zeichen niemals!« – »Ich werde dies alles nie vergessen, obgleich der gute Pater Dominikaner der einzige ist, mit dem ich darüber sprechen kann.« – »Du meinst, daß dieser Pater ein guter Mann ist?« – »Ja, er ist kein Brigant; er tut niemals etwas Böses, obgleich er treu zu den Briganten hält und sie nicht verrät. Man kann ihm alles Vertrauen schenken.« – »Und du sagst, daß er auch zur Beichte sitzt und die Absolution erteilt?« – »Ja.« – »Würde er dies auch bei mir tun?« – »Sicher.« – »Willst du ihn mir rufen?« – »Gern! Soll er gleich kommen?« – »Ich wünsche, daß du auch zugegen bist.« – »Ich? Oh, ich darf doch keine Beichte hören!« – »Doch, mein Sohn! Was ich zu beichten habe, wird dich vielleicht mehr angehen, als du denkst. Es ist ein glücklicher Umstand, daß gerade du es bist, der mir diese Kammer anweist. Doch wünsche ich, daß kein Mensch erfahre, daß du bei meiner Beichte zugegen bist. Darum soll der Pater erst dann kommen, wenn man dich nicht vermissen wird.« – »Das wird sein, wenn die anderen alle schlafen.« – »Und noch eins, mein Sohn. Weißt du nicht, ob sich unter euch vielleicht noch einer befindet, der seine Abkunft nicht kennt?« – »Kein einziger. Es sind lauter Flüchtlinge oder arme Teufel, die genau wissen, wer sie sind.« – »Und es hat auch niemals außer dir hier unter den Briganten ein Findelkind gegeben?« – »Niemals!« – »So bist du es, den ich suche.«
Mariano erstaunte und fragte:
»Gesucht hast du mich also? Warum?« – »Mein Sohn, wenn es Gottes Wille ist, so wirst du vielleicht einmal erfahren, wer du bist. Das, was du heute von mir hören wirst, soll dir den Weg zeigen, auf dem du es erfahren kannst.«
Das Gesicht des jungen Mannes nahm einen freudigen, glücklichen Ausdruck an. Er rief:
»Ist es wahr? Ist es möglich? Gelobt sei Gott für diese große Barmherzigkeit« – »Still, mein Sohn«, warnte der Bettler. »Es darf kein Mensch wissen, daß ich über diese Sache mit dir reden will. Wenn es der Hauptmann erführe, würdest du verloren sein. Eigentlich solltest du getötet werden, aber der Capitano tat es nicht, sollte er jedoch merken, was ich dir mitteilen will, so müßte er dir das Leben nehmen, damit das Geheimnis nicht verraten wird. Also sei klug und schweige.« – »Ich werde schweigen«, versicherte Mariano. »Und wenn sie alle schlafen, so bringe ich dir den Pater.« – »Sage ihm, er solle Papier, Feder und Tinte mitbringen, denn er wird etwas zu schreiben haben. Auch mehr Licht wirst du besorgen müssen, da das Schreiben eine lange Zeit erfordert.«
Mariano ging, und der Alte blieb allein zurück.
»Habe Dank, Madonna«, murmelte er, »daß du mir Kraft gegeben hast, diesen Ort noch zu erreichen. Vielleicht wird Gott mir vergeben, wenn ich gutzumachen suche, was ich im Leichtsinn verbrochen habe.«
Ein neuer Hustenanfall raubte ihm den Atem, und ein Strom roten Bluts brach aus seinem Mund, es war klar, daß dieser Mann hart am Rand des Grabes stand und vielleicht nur noch Minuten zu leben hatte.
Bald zog sich einer der Räuber nach dem anderen zum Schlaf zurück. Einige blieben auch gleich in dem offenen Felsenkessel liegen, und es war noch nicht um Mitternacht, als auch der letzte sich in seine Decke hüllte, um die Ruhe zu suchen.
Dann schlief alles, und nur der Posten draußen am Berg war munter und lauschte in die dunkle Nacht hinaus, um die Kameraden vor jedem Unglück zu bewahren.
Da verließ Mariano seine kleine Zelle. Er hatte seine Aufregung kaum zu beherrschen gewußt. Endlich, endlich sollte der Schleier gelüftet werden, der seine Vergangenheit bedeckte! Seine Träume sollten nicht Träume, sondern Wirklichkeit gewesen sein! War dies möglich? Seine Pulse gingen unruhig, und er fühlte das schnelle Klopfen seines Herzens, als er sich nach dem Seitengang schlich, in dem die Zelle des Paters lag. Dieser saß noch beim Licht über seinen Büchern und war überrascht, als er den Eintretenden erkannte.
»Du, Mariano?« fragte er. »Was führt dich zu so ungewöhnlicher Stunde zu mir, mein Sohn?« – »Sprich leise, frommer Vater!« bat der Jüngling. »Es darf niemand wissen, was ich dir zu sagen habe.« – »So ist es ein Geheimnis?« – »Ja, du sollst zu dem alten Bettler kommen, den wir heute bei uns aufgenommen haben. Er will beichten.« – »Zu diesem? Ich sah es ihm an, daß der Engel des Todes bereits die kalte Hand nach ihm ausstreckt. Aber warum tust du dabei so geheimnisvoll? Ist es mir denn hier verboten, die Beichte eines Sterbenden zu hören?« – »Nein, aber ich soll bei dieser Beichte zugegen sein, was niemand wissen darf, frommer Vater.« – »Du? Warum?« – »Weil es sich dabei um meine Herkunft handelt«, bemerkte Mariano mit leuchtenden Augen.
Der Pater erhob sich von seinem Sitz und fragte mit der Miene des allergrößten Erstaunens:
»Um deine Herkunft? Mein Gott, dann müssen wir allerdings sehr heimlich tun, denn was ich vermute, das bringt mich zu der Überzeugung, daß der Capitano nicht will, daß du erfährst, wer du eigentlich bist. In welcher Zelle befindet sich der Kranke?« – »In der letzten. Ich habe sie ihm angewiesen, damit er durch seinen Husten die anderen nicht störe.« – »So komm!«
Sie schlichen sich im Dunkeln zu dem Bettler, dessen Husten sie bereits von weitem hörten. Der Priester bat Mariano, außen zu warten, und trat zuerst allein zu dem Kranken. Nach einiger Zeit kam er wieder und sagte, daß sie sich eine Zelle nehmen müßten, die verschlossen sei, weil hier in diesem offenen Gemach nichts zu sprechen sei, was nicht im dunklen Gang belauscht werden könne. Sie begaben sich also alle drei in eine der Gefängniszellen, deren Tür den Schall des Gesprächs dämpfte, obgleich sie von innen nicht verschlossen werden konnte. Dort nahm der Bettler auf dem Lager Platz und begann, nachdem sich die beiden anderen in seine Nähe gesetzt hatten:
»Mein frommer Vater, ich fühle, daß ich sterben muß, und möchte vorher gern mein Herz von einer Schuld erleichtern, die bereits über achtzehn Jahre lang mit mir durch das Leben gegangen ist.« – »Dem Reuigen gibt Gott Gnade«, bemerkte der Pater. »Erzähle mir, was dein Herz bedrückt.« – »Es sind zwei sehr schwere Sünden, die ich begangen habe, einen Meineid und eine Kindesverwechselung.« – »Das sind allerdings zwei sehr schwere Sünden! An wem hast du sie begangen?« – »Die erste habe ich an dem Capitano begangen.« – »An welchem Capitano? An dem unsrigen?« – »Ja. Ihr müßt nämlich wissen, ehrwürdiger Vater, daß ich einst Mitglied der Briganten war.« – »Du? Ah! Der hiesigen Briganten?« – »Ja. Der Capitano war mein Hauptmann. Ich war ein armer Schiffer und schaffte zuweilen einige Ellen seidenes Zeug von Frankreich über die Grenze herein. Da wurde ich einst ertappt. Man konfiszierte mir mein Boot und die Ware und steckte mich ins Gefängnis. Ich aber entfloh, und da ich nun nirgend sicher war, so ging ich unter die Briganten. Meine erste Tat die ich verrichten mußte, war die Vertauschung eines Kindes. Ein kleiner Schmuggel hatte mein Gewissen nicht beschwert, diese Tat aber machte mir bange, ich konnte des Nachts nicht mehr schlafen, und als dann der Capitano gar von mir verlangte, einen Menschen zu töten, da brach ich den Eid der Treue, den ich ihm geleistet hatte, und ging davon.« – »Erzähle mir die Geschichte von der Vertauschung des Kindes«, sagte der Dominikaner. – »Es war, wie ich bereits bemerkte, meine erste Tat. Der Hauptmann ging, um ganz sicher zu sein, selbst mit. Er führte mich in einen Gasthof der Stadt Barcelona, wo wir einkehrten und über Nacht blieben. Um Mitternacht trat ein Mann zu uns herein, der ein Paket auf den Tisch legte. Als er das Tuch auseinanderschlug, enthielt es einen etwa vier Jahre alten Knaben. Das Tuch roch sehr nach Äther, und daraus schloß ich, daß man das Kind besinnungslos gemacht hatte. Ich mußte diesen Knaben mit einem anderen verwechseln, der in einem zweiten Gastzimmer lag und schlief. Das Zimmer war nicht verschlossen, und ich bekam ein Ätherfläschchen mit, um erst die Wärterin und dann auch den Knaben bewußtlos zu machen. Nachdem ich die Kleidung der beiden Kinder verwechselt hatte, kehrte ich mit dem fremden Kind zurück, das der Hauptmann nun mit hierher nach der Höhle nahm.« – »Weißt du dies genau?« – »Ja. Ich ging ja mit und mußte den Knaben tragen. Es ist kein anderer als dieser Jüngling hier.« – »Auch das weißt du genau?« – »Ich möchte es beschwören! Dieser Jüngling glaubt, geträumt zu haben, aber er irrt sich, denn sein Traum ist Wahrheit gewesen. Als ich die Kleider verwechselte, sah ich auf den Kleidern des fremden Knaben die Grafenkrone mit den beiden Buchstaben S und R. Ich kann mich noch ganz genau besinnen, daß es am ersten Oktober des Jahres 18** gewesen ist, nämlich in der Nacht vom ersten auf den zweiten Oktober.« – »Die Wege des Herrn sind unerforschlich, aber er führt alles herrlich hinaus«, meinte der Pater. »Vielleicht bist du das Werkzeug eines göttlichen Ratschlusses gewesen, mein Sohn. Hast du den Mann nicht erkannt, der euch den Knaben brachte? Dies zu erfahren, muß für uns von der allergrößten Bedeutung sein.« – »Ich kannte ihn nicht, aber seinen Namen habe ich gehört. Der Hauptmann vergaß sich einmal und nannte ihn Señor Gasparino, und beim Abschied draußen an der Treppe, als sie sich unbeobachtet glaubten, sprach er diesen Namen abermals aus, die Tür stand offen, und so hörte ich ihn deutlich. Ich würde den Mann sofort wiedererkennen, wenn ich ihn noch einmal zu sehen bekäme.« – »Wie war seine Gestalt?« – »Lang und hager. Er hatte eine schnarrende Stimme und sprach in sehr frommen Worten und Ausdrücken.« – »Also Ihr habt den fremden Knaben in fremden Kleidern hierher gebracht. Was wurde dann mit ihm?« – »Er blieb in der Höhle und wurde gut gepflegt. Er sprach immer von seiner Mama, von seinem Papa, von der kleinen Rosita, von dem guten Alimpo und von der guten Elvira. Endlich verbot ihm der Capitano, diese Namen zu nennen, und dann mag er sie wohl ganz und gar vergessen haben.« – »Nein«, fiel Mariano ein. »Ich habe sie nicht vergessen. Die beiden letzteren Namen waren mir allerdings entfallen, aber jetzt entsinne ich mich ihrer genau. Der gute Alimpo trug mich viel auf seinen Armen. Was er im Schloß war, das weiß ich nicht. Er hatte ein wunderbares Bärtchen unter der Nase. Die Spitzen dieses Schnurrbarts waren fortrasiert, und nur gerade unter der Nase hingen ihm zwei lange Haarflocken weit über den Mund herab. Ich litt es deshalb nicht, daß er mich küßte. Die Elvira war seine Frau. Sie war sehr dick und sagte immer, wenn sie etwas behauptete: ›Das sagt mein Alimpo auch!‹ Sie steht so lebhaft vor meinem Gedächtnis, daß ich sie sofort erkennen würde, wenn ich ihr einmal begegnete.« – »Das ist wunderbar, mein Sohn«, meinte der Pater. »Nun bin ich allerdings vollständig überzeugt, daß du der Knabe bist, den dieser Mann verwechselt hat«, und sich zu dem Kranken wendend, fragte er »Wie ist dein wirklicher Name, und wo bist du her?« – Ich heiße eigentlich Manuel Sertano, wurde aber hier nur Manuel genannt und bin aus Mataro.« – »Das wird uns vielleicht von einiger Bedeutung sein. Erzähle jetzt weiter, mein Freund.«
Nachdem der Kranke einen erneuten Hustenanfall überwunden, fuhr er fort:
»Einige Wochen nach der Umwechselung des Kindes sollte ich einen Reisenden töten. Ich weigerte mich. Der Capitano drang darauf und drohte mir mit der Todesstrafe, wenn ich seine Befehle nicht erfüllen würde. Ich tat, als ob ich gehorchen wolle, und ging; aber ich bin nicht wiedergekommen.« – »Das ist also der Meineid, den du begangen hast?« – »Ja. Ich hatte geschworen, alle Befehle des Capitanos zu erfüllen. Ich habe also meinen Eid gebrochen.« – »Mein Sohn, wenn dir nur das dein Gewissen beschwert, so kannst du ruhig sein. Ich bin hier zwar unter Briganten, denn diese verlorenen Schafe sollen nicht ohne Trost und Gottes Hilfe sein, und niemals werde ich einen dieser Männer in Schaden bringen; aber dennoch sage ich dir, daß du ganz recht gehandelt hast, indem du den Reisenden nicht tötetest. Kraft meines Amtes, als Diener der heiligen Kirche entbinde ich dich deines Schwurs und gewähre dir Verzeihung dafür, daß du ihn nicht gehalten hast!« – »Oh, mein frommer Vater, wie danke ich Euch!« sagte da der Kranke. »Ihr nehmt mir eine große Last vom Herzen. Könnte die andere Sünde mir doch auch vergeben werden, damit ich ruhig zu sterben vermag!« – »Laß mich erst deine Erzählung vollständig hören.« – »Als ich von hier floh, ging ich nach Jean de Luz in Frankreich und kam als Matrose auf ein Schiff. Wir fuhren nach den Antillen, und von da an diente ich auf verschiedenen amerikanischen Küstenfahrern, bis ich einst in San Juan de Callao erkrankte. Ich genas und trat in den Dienst eines reichen Mexikaners, der mich mit in die Hauptstadt Mexiko nahm. Bei ihm diente ich viele Jahre, bis er starb. Von da an ist es mir sehr traurig gegangen. Meine kleinen Ersparnisse gingen zu Ende, und die Auszehrung ergriff meine Brust. Ich fühlte, daß ich dem Tod nicht entgehen könne, und da ergriff mich die Sehnsucht nach Vergebung meiner Sünden, und ich fühlte das Verlangen, den geraubten Knaben aufzusuchen und ihn um Gnade und Verzeihung zu bitten. Ich bettelte mir die Überfahrtgelder zusammen und kehrte nach Spanien zurück. Die Krankheit hat meinen Körper verheert, und niemand kann mich erkennen. So konnte ich es wagen, die Höhle aufzusuchen, um mich nach dem Knaben zu erkundigen. Gott hat es gefügt, daß ich ihn gleich am ersten Tag treffe, und das ist gut, denn ich weiß nicht, ob ich den morgigen Tag noch erleben werde.«
Ein fürchterlicher Hustenanfall ergriff den Alten, nachdem er seine Erzählung beendet hatte. Da hörte man plötzlich, als derselbe ausgetobt hatte, leise Schritte sich der Zelle nähern. Mariano trat sofort in den vorderen dunklen Winkel des Raumes, während der Pater sich so stellte, das ihn das Licht der Lampe nicht bescheinen konnte.
Nun wurde die Tür geöffnet und – der Hauptmann stand vor derselben.
»Was geht hier vor?« fragte er. – »Tritt nicht ein, Capitano«, bat der Pater. »Du unterbrichst die Beichte dieses sterbenden Mannes!« – »Ach so!« entgegnete der Hauptmann, indem er, der Weisung des Paters folgend, vor der Tür stehenblieb. »Doch warum blieb der Alte nicht in der Zelle, die ich ihm durch Mariano anweisen ließ?« – »Darf die Beichte eines Sterbenden von Unberufenen gehört werden, Hauptmann? Hier sichert die Tür davor, daß wir belauscht werden.« – »Ihr seid sehr vorsichtig, Pater! Ich hoffe aber, daß die Beichte nichts enthält, was unserer Gesellschaft Schaden bringt.« – »Die Beichte eines Bettlers? Geh, Capitano, ich glaube, du treibst mit dem Sakrament Scherz!«
Der Hauptmann entfernte sich auch jetzt gehorsam, ohne Mariano bemerkt zu haben. So war eine große Gefahr glücklich vorübergegangen. Dennoch horchte der Pater sorgfältig, bis die Schritte des Capitano vollständig verklungen waren, ehe er fortfuhr:
»Mein Sohn, du hast eine sehr große Sünde begangen. Du hast ein Kind seinen Eltern geraubt und bist schuld daran, daß es ein Räuber geworden ist. Diese Sünde ist viel größer, als du denkst, aber noch größer ist Gottes Gnade; er wird dir verzeihen, wenn dir derjenige vergibt an dem du gesündigt hast«
Da erhob der Kranke die Hände und richtete einen bittenden Blick auf Mariano, der nun näher trat und, ihm die Hand entgegenstreckend, sagte:
»Manuel Sertano, ich vergebe dir. Ich ersehe die ganze Größe deines Vergehens, aber auch ich bin ein Sünder, und Gott mag mir vergeben, wie ich dir vergeben habe.«
Der Bettler ließ darauf sein Haupt nach rückwärts sinken, seine Augen schlossen sich, und über seine Züge breitete sich der Ausdruck eines tiefen Friedens.
»Oh, wie leicht und wohl wird es mir!« flüsterte er. »Mein Gott ich danke dir, denn nun kann ich ruhig sterben!« – »Ja«, sagte der Pater. »Ich entbinde dich kraft meines Amtes nochmals von deinen Sünden. Du hast sie bereut und sie sind dir vergeben!« – »Doch nun laßt mich auch noch das tun, was notwendig ist, um das von mir gestörte Glück einer vornehmen Familie wiederherzustellen«, bat der Sterbende. »Ich sehe, daß Ihr Papier und Feder bei Euch führt, frommer Vater. Schreibt alles auf, und ich will Euch meine Unterschrift geben, um diesen Jüngling als denjenigen anzuerkennen, der geraubt wurde.« – »Ja, das wollen wir tun«, entgegnete der Pater, indem er die Schreibutensilien hervorzog. »Zwar ist das, was wir von dir erfahren haben, noch nicht ausreichend, aber Gott wird erforschen, wo jener fremde Mann ist, der Señor Gasparino genannt wurde, und diejenigen Leute, denen ihr Kind vertauscht wurde.« – »Der Capitano weiß sicherlich alles«, meinte Mariano. »Ich werde ihn zwingen, es mir zu sagen.« – »Um Gottes willen, tue das nicht«, warnte der Pater. »Er wird sich niemals zwingen lassen, sondern dich ganz sicher töten, sobald er sein Geheimnis in Gefahr sieht. Wir müssen ohne Falsch sein wie die Tauben, aber auch klug wie die Schlangen, mein Sohn. Die List wird uns viel leichter zum Ziel führen als die Gewalt. Wie hieß das Gasthaus, in dem die Verwechslung geschah?« – »Es war der Gasthof ›L‘Hombre grand‹«, antwortete der Bettler. – »Und in welchem Zimmer war es?« – »Ich holte den Knaben aus dem hintersten eine Treppe hoch gelegenen Gemach. Wir aber befanden uns von der Treppe an gerechnet im zweiten Zimmer.« – »Haben die Fremden von der Verwechslung etwas gemerkt?« – »Ich weiß es nicht, denn wir verließen das Haus noch vor Anbruch des Morgens, während man noch schlief.«
Jetzt begann der Pater die Anfertigung des Dokuments, das alles enthielt, was wichtig war. Als er es beendet hatte, wurde es von dem Bettler unterzeichnet, und dann setzte der Dominikaner zur Beglaubigung seine Signatur darunter.
»So«, sagte er, »diese Schrift werde ich auf das sorgfältigste aufbewahren, denn bei mir ist sie sicherer als an jedem anderen Ort. Wir gehen jetzt; ich aber werde gleich wieder zurückkehren, um dich zu pflegen und dir in deinen schweren Anfällen beizustehen. Das ist die Pflicht eines Mannes, der der Religion angehört.«
Nachdem der Pater sich verabschiedet hatte, kehrte Mariano zwar in seine Zelle zurück, aber er fand während der ganzen Nacht keine Ruhe. Was er erfahren hatte, war so unendlich wichtig für ihn und war gerade in der Hauptsache noch in ein so geheimnisvolles Dunkel gehüllt, daß es sein ganzes Nachdenken in Anspruch nahm.
Er hatte bisher den Hauptmann als seinen Wohltäter betrachtet, nun aber hatte er ihn als den Urheber eines Verbrechens kennengelernt, das ihn, den unschuldigen Knaben, aus den Armen liebevoller und vornehmer Eltern gerissen und unter eine Bande geächteter Menschen gebracht hatte. Die Zuneigung für den Capitano verwandelte sich in einem Augenblick in Haß; auf ihn fiel der ganze Zorn des Mannes, denn der Bettler war ja nur ein Werkzeug gewesen, er hatte gehorchen müssen und dann gebüßt; er stand außerdem am Rand des Grabes, und dies machte auf den weichherzigen Mariano einen solchen Eindruck, daß er dem alten Mann nicht zu zürnen vermochte. Er beschloß, seine Abneigung den Hauptmann nicht merken zu lassen, im stillen sich aber alle Mühe zu geben, das Geheimnis seiner Geburt und Abstammung aufzuklären.
Es gab in der Brigantenhöhle noch einen, der erst spät zur Ruhe kam, und das war der Hauptmann.
Er saß in seiner Zelle, deren Wände von kostbaren Waffen behangen waren, hatte den Kopf schwer in die Hand gestützt und war in ein tiefes, grübelndes Nachdenken versunken, aus dem er zuweilen auffuhr, um einige halblaute Worte zu murmeln.
»Dieser Gasparino Cortejo ist ein großer Schurke, viel schlimmer als der schlechteste Brigant!« sagte er leise vor sich hin. »Warum will er diesen Doktor töten lassen? Hm, ich habe eigentlich gar nichts danach zu fragen; aber ich möchte es doch wissen. Er zahlt gut, ein Dummkopf ist, wer eine Zitrone nicht so sehr ausquetscht, daß auch der letzte Safttropfen herauskommt.«
Wieder sann er nach. Sein Gedankengang schien, wie aus dem Spiel seiner Mienen zu ersehen war, ein sehr unruhiger zu sein. Er erhob sich sogar, ging einige Schritte auf und ab, blieb wieder stehen, wiegte seinen Kopf hin und her, dann nickte er langsam und murmelte weiten
»Auch die Geschichte mit dem Mariano soll mir noch manches Sümmchen einbringen. Ich sollte den Jungen töten, aber ich wäre doch ganz ohne Verstand gewesen, wenn ich es getan hätte. Ist er mir doch dem Advokaten gegenüber für immer eine Geisel. Jetzt habe ich den Jungen sogar liebgewonnen, und es sollte mir leid tun, wenn ich noch gezwungen würde, ihn ganz verschwinden zu lassen. Vielleicht brächte ich das gar nicht mehr fertig!«
Der Hauptmann schritt abermals eine kleine Weile in dem engen Raum auf und ab. Dann stieß er ein kurzes, höhnisches Lachen aus, trat an die Felsenwand seines Gemaches, und als er an einer Stelle derselben drückte, gab ein kleines, viereckiges Stück des Steins nach, und es kam ein Raum zum Vorschein, in den der Hauptmann hineingelangte, um ein sichtlich sehr altes und zusammengelegtes Papier daraus hervorzubringen.
»Wie sich der Elende weigerte, wie er sich wand und krümmte, als ich diesen Schein von ihm verlangte«, murmelte er vergnügt. »Aber er mußte, denn ich hatte ihn in der Hand! Und ich durfte nicht genannt werden, denn da dieser Schurke Manuel den Jungen geholt hatte, war er es, dessen Name niedergeschrieben wurde.«
Er schlug das Papier auseinander, trat näher an das Licht der Lampe heran und las:
»Ich erkläre hiermit der Wahrheit gemäß, daß der Fischer Manuel Sertano aus Mataro am ersten Oktober 18** in dem Gasthof ›L‘Hombre grand‹ in Barcelona auf meine Veranlassung und gegen Bezahlung von tausend Silberpiastern einen Knaben gegen einen anderen umgetauscht hat. Der umgetauschte Knabe lebt unter dem Namen Mariano unter sicherem Schutz in einer Höhle des Gebirges.
Manresa, Notar.«
Gasparino Cortejo, den 15. November 18**
Der Capitano faltete das Papier wieder zusammen, legte es in das Versteck zurück, strich sich mit sehr zufriedener Miene den Bart und sagte:
»So habe ich den Alten fest in der Hand, und sein Beutel wird bluten müssen. Schade nur, daß er sich so hartnäckig weigert, mir zu sagen, wer die beiden umgetauschten Knaben gewesen sind. Allerdings, eine schwache Vermutung habe ich ja. Er ist Geschäftsführer des Grafen Emanuel de Rodriganda. Ich werde nachforschen! Der junge Graf soll zurückkehren oder ist vielleicht sogar schon da. Soll ich ihn beobachten? Soll ich die Familienverhältnisse des Grafen ausforschen lassen? Ja, das wäre das sicherste Mittel. Aber durch wen?«
Seine nachdenkliche Miene erheiterte sich plötzlich, und er stieß ein kurzes Lachen aus, um darauf in seinem Selbstgespräch fortzufahren:
»Das ist allerdings ein lustiger Gedanke! Schicke ich vielleicht Mariano, um das Nötige zu erfahren? Ja, er ist der einzige, der dazu fähig ist. Er ist der einzige von uns, der sich unter solchen Leuten fehlerlos bewegen kann. Ich habe ihm ja alles lehren lassen, was ein vornehmer Señor wissen muß; er reitet wie ein Kavalier, kann fechten, schießen, schwimmen, ist stark und tapfer, treu und anhänglich, dabei klug und listig – ja, ich werde es tun! Der Notar hat ihn nie gesehen; er wird ihn also nicht erkennen, er wird gar nicht ahnen, daß dieser junge, liebenswürdige und gewandte Mann der Knabe ist, den er einst töten lassen wollte. Per Dios, das ist ein wirkliches Abenteuer! Das ist ein Coup, der meinem Kopf die größte Ehre macht!«
Er schritt noch einige Zeit in der Zelle auf und ab und begab sich dann in den Nebenraum, um sich schlafen zu legen.
Als er am Morgen erwacht war, trat der Pater Dominikaner bei ihm ein und meldete:
»Capitano, der fremde Mann, dessen Beichte ich heute nacht hörte, ist soeben gestorben.« – »Gut, so sind wir ihn los. Man werfe ihn in die Schlucht!« – »Das werde ich nicht zugeben, Capitano! Er ist als ein reuiger Christ gestorben und soll als ein solcher auch begraben werden.« – »Mir gleich. Tut, was Ihr wollt, nur laßt mich dabei aus dem Spiel! Ist Mariano schon wach?« – »Ja.« – »Er soll gleich zu mir kommen!«
Der Pater entfernte sich, und kurze Zeit später trat Mariano ein. Er grüßte freundlich, und zwar mit der vertraulichen Untertänigkeit, die er sich für den Umgang mit dem Hauptmann angeeignet hatte, und ließ sich nichts von der Gesinnung merken, die zu verbergen er sich vorgenommen.
Der Capitano bot ihm einen Sitz an und begann:
»Mariano, wie befindet sich dein Rapphengst?«
In den Zügen des Jünglings ward es hell, und in sein Gesicht stieg eine leise Röte. Es war augenscheinlich, daß die Erwähnung des Pferdes ihm angenehm war.
»Er wird kaum zu bändigen sein«, antwortete er. »Er steht nun über einen Monat drüben in der Pferdehöhle, und ich habe ihn von den anderen Tieren fortnehmen müssen, weil er sie sonst zu Schanden schlägt.« – »So nimm dich heute in acht, daß es kein Unglück gibt. Wenn so ein edles und mutiges Pferd vier Wochen lang den Reiter nicht getragen hat, so ist es schwer zu bändigen.« – »Ah! Soll ich ausreiten, Capitano?« – »Ja.« – »Wohin?« – »Nach Manresa und Schloß Rodriganda.« – »Das ist sehr weit, Hauptmann!« – »Du hast viel Zeit zu diesem Ausflug. Es ist möglich, daß du wochenlang dort verweilen wirst.«
Das Gesicht des Jünglings hellte sich immer mehr auf. Der Gedanke, auf eine lange Zeit von der jetzigen düsteren Umgebung erlöst zu sein, war ihm der angenehmste, den er haben konnte.
»In einem Auftrag?« fragte er. – »Ja, und noch dazu in einem sehr schwierigen«, antwortete der Capitano. »Ist deine Garderobe instand?« – »Vollständig.« – »Auch die Uniformen?« – »Ja. Soll ich mich als Offizier verkleiden?« – »Als französischer Offizier. Du bist ja des Französischen vollständig mächtig. Ich werde dir einen Urlaubspaß geben, der auf den Husarenleutnant Alfred de Lautreville lautet.« – »Und was ist meine Aufgabe, Capitano?« – »Du hast auf irgendeine Weise auf Schloß Rodriganda Zutritt zu suchen und dich dabei so zu verhalten, daß man dich veranlaßt, längere Zeit als Gast zu bleiben. Während dieser Zeit studierst du die Verhältnisse der Bewohnerschaft auf das sorgfältigste und speziellste. Ich werde dir darüber einen eingehenden Bericht abverlangen. Du bist klug genug zur Lösung einer solchen Aufgabe.« – »Willst du mir vielleicht einzelne Anhaltspunkte mitteilen, Hauptmann? Es wäre mir das lieb.« – »Ich kann dir nicht viel sagen. Aber da ist besonders ein Notar, ein gewisser Cortejo, der der Geschäftsführer des Grafen ist, und den du am aufmerksamsten beobachten sollst. Ich möchte gern genau wissen, wie er zu den Gliedern der gräflichen Familie steht. Dann ist da der junge Graf Alfonzo, der in Mexiko gewesen ist. Sieh einmal zu, wie er sich gegen den Grafen und dessen Geschäftsführer verhält. Es liegt mir besonders daran, zu wissen, ob er diesem letzteren vielleicht ähnlich sieht. Gehe und mache dich fertig. Das Geld, welches du brauchst, werde ich dir mit dem Paß aushändigen. Du mußt fein auftreten und als ein wohlhabender Offizier gelten; darum wird die Summe nicht unbedeutend sein. Ich werde dafür sorgen, daß du einen tüchtigen Mann als Diener erhältst, den du als Bote verwendest, wenn du mir etwas mitzuteilen hast.«
Mariano ging. Es war ihm noch niemals ein Auftrag so willkommen gewesen, wie der gegenwärtige, und er hatte ganz das Gefühl, als ob er kurz vor dem Beginn neuer und wichtiger Ereignisse stünde.
5. Kapitel
An dem Ort, von dem hier die Rede war, nämlich in Schloß Rodriganda, herrschte heute eine tiefe Stille. Der Graf hatte befohlen, daß sich jedermann der möglichsten Ruhe befleißigen sollte, da er sich sehr angegriffen fühle.
Niemand befolgte diesen Befehl so genau wie der alte Kastellan Juan Alimpo. Er schlich auf den Fußzehen wie eine Katze die Treppen auf und ab, er huschte unhörbar wie ein Schatten über die Korridore, und selbst in seiner Wohnung, die von der des Grafen so entfernt lag, daß selbst der größte Lärm nicht zu dem Gebieter hätte dringen können, schwebte er so lautlos hin und her, als verstehe er die Kunst, den Boden nicht zu berühren.
Dieser großen Kunst befleißigte sich auch seine Gattin Elvira, aber mit nicht so großem Erfolg. Denn während der Kastellan ein sehr kleines und dürres Männlein war, besaß Frau Elvira eine geradezu erstaunliche Körperfülle. Ihr Umfang war wohl ebenso groß wie ihre Höhe, und sie, allein auf einer Waagschale, hätte sicher fünf Alimpos emporgeschnellt. Ihr Vollmondgesicht glänzte vor Zufriedenheit; ihr Auge lachte vor Güte; ihr Mund war stets zu einem guten Wort bereit, und da ihr teurer Juan trotz aller körperlichen Verschiedenheit ganz dieselben seelischen Eigenschaften besaß wie sie, so lebten sie wie Tauber und Täubchen, und es hatte noch kein Mensch ein einziges schroffes Wort gehört, das zwischen ihnen gefallen wäre.
Jetzt aber war der Kastellan mit der Zusammensetzung eines kostbaren Schreibzeugs beschäftigt, und seine Ehefrau besserte die aufgedrehte Troddel eines prächtigen Teppichs aus. Dabei unterhielten sie sich so leise, als ob der kranke Graf sich in ihrer unmittelbaren Nähe befinde.
»Meinst du wohl, Elvira, daß dieses Schreibzeug ihm gefallen wird?« fragte der Kastellan. – »Sehr gut! Und was, Alimpo, glaubst du, daß er zu diesem Teppich sagt?« – »Sehr schön, wird er sagen!« – »Ja, wir suchen für ihn das Beste hervor!« – »Er ist‘s auch wert, Elvira!« – »Natürlich! Er ist so gut!« – »So bescheiden!« – »So klug und gelehrt!« – »Und so schön, Alimpo!« – »Das mag wohl sein. Euch Frauen fällt das gleich auf, ich aber verstehe mich darauf nicht. Aber das weiß ich, daß ich ihn lieb habe und doch zugleich einen gewaltigen Respekt vor ihm empfinde. Nicht, Elvira?« – »Ja. Mir geht es ebenso. Ich möchte ihm alles an den Augen absehen, und doch kommt er mir so hoch, so stolz und vornehm vor, als ob er ein Graf, ein Prinz oder gar ein Herzog sei.« – »Der gnädige Herr hat ihn auch gar lieb.« – »Ebenso die gnädige Condesa. Aber diese anderen, die Ärzte, oh, Alimpo, die gefallen mir gar nicht.« – »Mir noch weniger. Ich wünsche keinem Menschen, daß ihn der Teufel holen möge, diese drei Kerle aber könnte er immer einmal holen. Meinst du nicht auch, Elvira?« – »Ja, gewiß bin ich deiner Ansicht Sie hätten den gnädigen Herrn totgemacht, wenn unser Señor nicht dazugekommen wäre; darauf kannst du dich verlassen, Alimpo!« – »Und was sagst du zu dem jungen Herrn, Elvira?« – »Hm, da muß man vorsichtig sein! Welche Meinung hast denn du?« – »Ja, da muß man sehr vorsichtig sein. Ich meine – hm, ich meine – daß ihn der Teufel – hm ja, daß ihn der Teufel auch so einmal holen könne, gerade wie die Ärzte!« – »Ei, ei, Alimpo!« drohte die Kastellanin. »So darf man nicht von dem jungen Herrn Grafen sprechen! Das ist sehr respektlos, obgleich auch ich nicht das mindeste dagegen hätte. Dieser junge Graf Alfonzo gefällt mir ganz und gar nicht Er sieht gar nicht aus wie ein richtiger Graf!« – »Nein. Er sieht seinem Vater, unserem gnädigen Herrn, nicht ähnlich. Hast du das nicht auch bereits bemerkt?« – »O ja! Und weißt du, wem er ähnlich sieht?« – »Nun?« – »Diesem alten Señor Cortejo, dem Notar.« – »Ich dachte, du würdest sagen, daß er der Schwester Clarissa ähnlich sieht«
Die gute Elvira machte zuerst ein sehr erstauntes Gesicht; dann sann sie ein wenig nach und entgegnete:
»Wahrhaftig, du hast recht, Alimpo! Auch dieser frommen Schwester Clarissa sieht er ähnlich. Es ist gerade, als wenn der Notar und die Schwester seine Eltern wären! Ist das nicht sehr merkwürdig, mein lieber Alimpo?« – »Ja, allerdings«, stimmte er bei. »Aber ich bin mit meinem Schreibzeug nun fertig geworden.« – »Und ich mit dem Teppich auch. Wollen wir die Sachen jetzt in das Zimmer unseres Doktors tragen?« – »Ich denke, ja.« – »Nun, so komm!«
Sie traten hinaus auf den Korridor und kamen gerade zur rechten Zeit, um die drei spanischen Ärzte zu sehen, die den Weg nach den Gemächern des Grafen Emanuel eingeschlagen hatten.
Diese drei Herren zeigten sehr ernste, feierliche Mienen. Als sie das Vorzimmer erreichten, fragte Doktor Francas den daselbst anwesenden Diener:
»Wir hören, daß Seine Erlaucht, der gnädige Graf, unwohl sind?« – »Allerdings«, antwortete der Gefragte. – »Wir wünschen ihn zu sprechen.« – »Der gnädige Herr haben jeden Besuch streng untersagt.« – »Auch den unsrigen?« – »Es ist ein Name überhaupt nicht genannt worden.« – »Nun, so melden Sie uns.« – »Ich möchte es nicht wagen.« – »Warum nicht? Wenn Seine Erlaucht krank sind, so sind wir als Ärzte doch da, ihm unsere Hilfe zu bringen.« – »Ich möchte dennoch von einer Meldung absehen«, versetzte der Diener mit höflichem Ton. »Ich habe den Befehl des gnädigen Herrn zu respektieren.« – »Und den unsrigen auch!« bemerkte der Arzt in strengem Ton. »Wo es einen Kranken gibt, da ist stets der Arzt der Befehlende.« – »Das habe ich auch geglaubt, Señor; aber ich bin eines Besseren belehrt.« – »Wie denn? Durch wen?« – »Zunächst durch Herrn Doktor Sternau und dann durch den gnädigen Herrn selbst. Sie gaben mir, als Sie die Operation vornehmen wollten, den Befehl, keinen Menschen und auch die gnädige Condesa nicht einzulassen, ich gehorchte Ihnen und habe einen Verweis erhalten, wie er mir noch niemals gegeben wurde.« – »Daran sind Sie selbst schuld; hätten Sie die Condesa und diesen brutalen Fremden mit Gewalt abgewehrt, so wäre der ganze unangenehme Fall nicht passiert. Also, melden Sie uns oder nicht?«
Der Diener zögerte einige Sekunden, dann antwortete er: »Nun wohl, ich will es wagen!«
Er trat in das Gemach nebenan und kehrte bald darauf mit dem Bescheid zurück, daß die Señores eintreten dürften.
»Sehen Sie!« meinte Francas triumphierend, »Ich ersuche Sie also, in Zukunft höflicher mit uns zu sein!«
Der Diener öffnete ihnen die Tür und machte, als sie eingetreten waren, hinter ihnen eine Pantomime, die nichts weniger als Achtung und Höflichkeit ausdrückte.
Der Graf befand sich in demselben Zimmer, in dem einige Tage vorher die Operation hatte vorgenommen werden sollen. Er lag in einem mit Samt gepolsterten Ruhestuhl und trug ein bequemes Morgenhabit. Sein Aussehen war allerdings ein angegriffenes, keineswegs aber ein leidendes zu nennen.
Die drei Herren verbeugten sich tief vor ihm, obgleich er von dieser Verbeugung nichts sehen konnte. Der Graf winkte ihnen leicht zu, deutete ihnen durch eine Handbewegung an, sich zu setzen, und begann:
»Señores, Ihr habt wohl gehört, daß ich Ruhe begehre. Wenn ich Euch trotzdem hier empfange, so mag Euch das ein Beweis meiner freundschaftlichen Gesinnung sein. Was wünscht Ihr, mir zu sagen?«
Francas erhob sich von seinem Sitz und entgegnete:
»Erlauchtester Graf, es treibt uns nichts als die Sorge um Ihr Wohlbefinden zu Ihnen. Wir hörten allerdings, daß Sie die äußerste Stille anbefohlen hätten, und da wir daraus auf eine Verschlimmerung Ihres so besorgniserregenden Zustands schließen mußten, so eilten wir herbei, um, wie es uns die Pflicht gebietet Ihnen mit unserem ärztlichen Rat zur Seite zu stehen.« – »Ich danke Euch!« erwiderte der Graf in seinem höflichsten Ton. »Ich fühle mich zwar matt, sonst aber scheint mir ein Grund zu wirklicher Besorgnis nicht vorhanden zu sein.« – »Gnädigster Herr«, fiel da Doktor Milanos aus Cordova ein, »oft hält der Leidende seinen Zustand für ungefährlich, während doch gerade das Gegenteil davon der Fall ist. Nur der Arzt erkennt, welcher Art das Befinden seines Patienten ist« – »Ihr mögt recht haben«, antwortete der Graf mit einem leisen Lächeln. »Auch ich enthalte mich aller eigenmächtigen Beurteilung meines Zustands und akzeptiere nur die ärztliche Ansicht. Señor Doktor Sternau aber hat mir versichert, daß ich nichts zu befürchten habe, und nach Eurer eigenen Meinung muß ich ihm als Arzt doch Glauben schenken.«
Die drei Herren wechselten miteinander einen Blick, der die allergrößte Indignation ausdrückte, und Francas sagte mit finsterem Stirnrunzeln:
»Dieser fremde Señor Sternau? Erlaucht, mein werter Kollege, Señor Cielli hier, hat die Ehre gehabt, viele Jahre lang Ihr Hausarzt zu sein und während dieser Zeit Ihr vollständiges Vertrauen zu genießen. Auch wir beiden anderen sind Ihrem ebenso ehren– wie vertrauensvollen Ruf gefolgt, um Sie von einem Leiden zu befreien, das Ihnen den sicheren Tod bringt, wenn es nicht durch schnellste Anwendung energischer Maßregeln gehoben wird. Wir vertreten die ärztliche Kunst und Geschicklichkeit unseres Vaterlands; wir sind bereit, Ihnen das Leben zu retten, und wenn ein vollständig fremder, obskurer Medikaster zu Ihnen kommt, vertrauen Sie ihm mehr als uns und beachten es nicht, daß Sie dieses Verhalten mit Ihrem kostbaren Leben bezahlen werden. Bedenken Sie, Erlaucht, daß in uns alle Vertreter der ärztlichen Wissenschaft in Spanien beleidigt werden!« – »Señores«, erklärte der Graf, »Ihr geht zu weit! Doktor Sternau ist hier allerdings ein Fremder, doch einen obskuren Medikaster darf ihn niemand nennen. Er ist einer der hervorragendsten Jünger seiner Kunst, wie ich mich vollständig überzeugt habe. Er hat die berühmtesten Universitäten seines Vaterlands mit Ehren absolviert und bei den geachtetsten Ärzten assistiert. Dann hat er mehrere Erdteile bereist, um die Schätze seines Wissens zu vermehren, und ist nach seiner Rückkehr bei Professor Letourbier in Paris, den alle Welt als den bedeutendsten Chirurgen Frankreichs anerkennt, eingetreten, um seine Anschauungen und Erfahrungen zu verwerten.« – »Das hat er wohl selbst erzählt?« meinte Cielli in wegwerfendem Ton. – »Ihr irrt Euch! Señor Sternau besitzt zu viel wahre Bildung, als daß er von sich redet. Meine Tochter hat in der ärztlichen Abteilung Bücher gefunden, die er geschrieben hat, und eine ganze Reihe von ärztlichen Zeitschriften, in denen von seinen Kenntnissen und Erfolgen in der lobendsten Weise die Rede ist. Ein jeder Arzt, der sich bemüht, der Entwicklung seiner Wissenschaft zu folgen, muß den Namen Sternau kennen. Wer allerdings bequem und gegen seine Patienten gewissenlos genug ist, auf dem alten, fehlervollen Standpunkt zu beharren, wer sich für so untrüglich hält, daß er es verschmäht, die Literatur zu studieren, in der die segensreichen und oft staunenswerten Erfolge der neueren Forschung niedergelegt sind, der wird die Namen wissenschaftlicher Kapazitäten und Heroen niemals kennenlernen.«
Bei diesen Worten konnte keiner der drei Ärzte eine Bewegung des Zornes unterdrücken, und Doktor Francas fragte:
»Erlaucht, haben wir die Worte ›bequem‹ und ›gewissenlos‹ vielleicht auf uns zu beziehen?« – »Nein«, antwortete der Graf mit höflicher Gelassenheit. »Ich spreche im allgemeinen und hielt allerdings Euch gegenüber es für meine Pflicht, den Ausdruck ›obskurer Medikaster‹ zu berichtigen, da Señor Sternau nicht anwesend ist und sich also nicht selbst verteidigen kann.« – »So stellen wir uns mit dieser Erklärung zufrieden, Don Emanuel«, bemerkte Milanos. »Wir wissen sehr genau, daß nicht ein jeder, der ein ärztliches Buch verfaßt, ein ärztlicher Heros sein muß, und beziehen dies gerade ganz strikt auf diesen Doktor Sternau. Wir dürfen uns rühmen, durch ganz Spanien einen Ruf zu besitzen, an dem niemand, am allerwenigsten ein Fremder, zu rütteln vermag. Wenn wir uns demnach herabgelassen haben, die fehlerhafte Prognose des Señor Sternau zu kritisieren, so geschah dies aus Teilnahme für Eure Erlaucht, nicht aber etwa, weil wir meinen, daß er auf derselben wissenschaftlichen Stufe stehe wie wir. Wir erklären nochmals mit aller Überzeugung und Entschiedenheit, daß Ihr Leben nur durch einen schleunigen Schnitt gerettet werden kann, daß aber die Operation mittels des Zangenbohrers Ihren augenblicklichen Tod zur Folge haben muß.« – »Ist das Eure feste Überzeugung, Señores?« fragte der Graf sehr ernst. – »Ja«, antworteten alle drei.
Da tastete er nach einem kleinen Schächtelchen, das neben ihm auf dem Tisch lag, öffnete es und reichte es ihnen hin.
»Dann, bitte, nehmen Sie einen Einblick in den Inhalt dieses Etuis«, sagte er lächelnd.
Francas griff darnach, unterwarf den Gegenstand einer kurzen, oberflächlichen Untersuchung und gab das Etui an Cielli weiten
»Ein Pulver«, sagte er wegwerfend. »Wenn Señor Sternau glaubt, Ihr Leiden durch eine innerliche Behandlung mit Pulvern und Tinkturen zu heben, so hat er sich damit selbst sein Urteil gesprochen.« – »Ihr irrt! Dieses Pulver soll nicht in das Innere meines Körpers kommen, sondern es ist aus demselben herausgenommen worden.« – »Ah!« rief Francas. – »Ja, Señores! Heute in der Frühe hat Doktor Sternau mit der Zermalmung des Steins begonnen, und dieses Pulver ist der sichtbare Erfolg seiner Bemühung. Ihr seht übrigens, daß ich nicht tot bin.«
Die drei Männer machten verlegene Gesichter, was der Graf aber infolge seiner Blindheit nicht bemerken konnte. Francas faßte sich schnell und fragte:
»Sind Eure Erlaucht auch wirklich überzeugt, daß dieses Pulver einen zermalmten Stein darstellt?«
Da machte der Graf eine Bewegung größten Unmuts und rief: »Señor, glaubt Ihr etwa, Doktor Sternau sei ein Betrüger, ein Escamoteur? Das wäre ein unwürdiges Verhalten, mit dem Ihr nur Euch selbst schaden würdet! Ich habe gefühlt, wie er den Stein packte. Ich habe das Knirschen desselben gehört, als der Bohrer sich zu drehen begann, und ich fühle selbst jetzt die Reste des Pulvers von mir weichen.« – »Aber die Schmerzen, die Eure Durchlaucht auszustehen haben!« lenkte Francas ein. – »Schmerzen? Sie sind nicht von Bedeutung! Die Applikation des Bohrers war bereits vorbereitet und hat mir nur das Gefühl einer nicht angenehmen Ausdehnung verursacht; die Anbohrung des Steins war sehr wenig schmerzhaft, und die einzigen, wirklichen Schmerzen, die ich erst jetzt empfinde, bestehen nur in jenem einfachen Weg, das man bei jeder Affektion der Wasserwege empfindet!« – »Aber die anhaltende Dauer dieser Schmerzen!« – »Ich fühle und bin überzeugt, daß ich sie ertragen werde. Señor Sternau besitzt mein vollständiges Vertrauen! Er hat mir heute bewiesen, daß seine Art zu operieren bei weitem nicht die Gefahr in sich schließt, wie diejenige, die mir von Euch vorgeschlagen wurde. Ich glaube nun auch seiner Versicherung, daß die Blindheit meiner Augen heilbar sei. Señores, laßt Euch ein Wort sagen! Doktor Sternau hatte die Absicht, nur unter Eurem Beirat zu handeln, ist aber durch Eure Schroffheit zurückgestoßen worden. Er ist trotz seiner Jugend der Mann, von dem selbst erfahrene Männer lernen können. Schließt ihm Euch an, und dann soll es mir lieb sein, auf Euren Rat hören und ihn berücksichtigen zu können.«
Da streckte Francas beide Hände wie zur Abwehr aus und sagte:
»Ich danke, Erlaucht! Es kann nicht meine Absicht sein, zu einem Mann in die Schule zu gehen, der selbst der Schule noch nicht entwachsen ist. Schenken Sie ihm mehr Vertrauen als uns, so können wir ja nichts dagegen tun, aber entgehen wenigstens können wir der Zumutung, uns als Schüler betrachten zu lassen. Ich bitte um die Erlaubnis, nach Madrid zurückkehren zu können.« – »Auch ich werde noch heute wieder nach Cordova gehen, wo man mich kennt und mir vertraut«, bemerkte Milanos in stolzem, selbstbewußtem Ton. – »Und ich«, fügte Cielli bei, »bitte Eure Erlaucht, mich von meiner Stellung als Hausarzt zu entheben. Vielleicht ist Señor Sternau bereit, die dadurch entstehende Lücke auszufüllen.« – »Das ist ja eine Attacke, der ich als einzelner, so überlegenen Kräften gegenüber, gar nicht widerstehen kann«, meinte der Graf mit seinem ruhigen Lächeln. »Schloß Rodriganda steht Euch jederzeit gastlich offen; wenn Ihr aber so stürmisch fort verlangt, so darf ich Euch allerdings denen nicht entziehen, die Euren Rat und Eure Hilfe nicht entbehren können. Legt meinem Rentmeister Eure Rechnungen vor und nehmt meinen herzlichsten Dank für das Wohlwollen, mit dem Ihr Euch meiner Krankheit angenommen habt« – »Den Dank haben wir bereits erhalten, Don Emanuel«, sagte Francas scharf. »Werden Sie die Güte haben, diesen Besuch gleich auch als Abschiedsvisite gelten zu lassen?« – »Dieser Wunsch ist auch mir genehm«, antwortete der Graf.»Reist mit Gott, Señores!«
Die Ärzte verbeugten sich und schritten hinaus. Draußen im Nebenzimmer aber blieben sie ganz unwillkürlich stehen, um sich anzublicken.
»Es ist aus!« meinte Francas. – »Leider«, fügte Milanos hinzu. – »Geschlagen!« zürnte Cielli. »Geschlagen von einem solchen Menschen!« – »Pah, noch nicht!« sagte Francas. »Wir reisen zwar ab, aber ich bin überzeugt daß wir zurückgerufen werden!«
Sie schritten durch das Vorzimmer mit einer keineswegs siegesstolzen Miene an dem Diener vorüber und trennten sich draußen, um sich in ihre Zimmer zu begeben.
Als Francas sein Zimmer betrat, fand er es nicht leer. Graf Alfonzo nebst dem Notar und der frommen Schwester hatten ihn hier erwartet.
»Nun, gelungen?« fragte der erstere. – »Ja«, antwortete der Gefragte barsch. – »Gott sei Dank!« – »Spart Euren Dank für spätere Zeit, Graf!« meinte der Arzt »Gelungen ist es allerdings, aber nicht uns!« – »Ah!« – »Nein, sondern diesem Sternau.« – »Wirklich?« fuhr der Notar auf. »Der Teufel soll ihn holen!« – »Aber sehr bald, sonst bin ich nicht mehr da!« lachte der Doktor ergrimmt. – »Ihr wollt abreisen?« fragte die Schwester erschrocken. – »Ja. Wir haben den Abschied erhalten und sollen dem Rentmeister unsere Rechnungen vorlegen.« – »Das ist ja außerordentlich! Das ist ja mehr als unhöflich! Das ist ja förmlich zur Tür hinausgeworfen!« meinte der Notar. »Ihr werdet nicht gehen!« – »Nicht? Meint Ihr? Da befindet Ihr Euch im Irrtum. Doktor Francas hat nicht nötig, einem halsstarrigen Patienten seine Hilfe aufzuzwingen.« – »Ihr sollt sie nicht aufzwingen, Señor, sondern der Graf selbst wird Euch ersuchen, noch länger hierzubleiben.« – »Möglich. Aber wie wollt Ihr ihn dazu veranlassen?« – »Es wird Euch das nur einen kleinen Wink kosten. Aber vor allen Dingen erzählt uns Euer Gespräch mit dem Grafen.« – »Das war kurz und bündig. Es ist aus allem zu ersehen, daß er uns den Abschied erteilt hätte, falls wir nicht so klug gewesen wären, ihn zu fordern.«
Er erzählte.
Graf Alfonzo hatte bis jetzt kein Wort weiter gesagt. Er stand mit finsterer Miene am Fenster. Aber als der Arzt geendet hatte, wandte er sich zu den anderen herum und rief:
»Die Operation hat also begonnen? Wirklich?« – »Ja, ohne unser Vorwissen! Dieser Sternau zahlt uns mit unserer eigenen Münze.« – »Ihr glaubt, daß die Entfernung des Steins gelingt, Señor Francas?« – »Ich bin überzeugt davon.« – »Das darf nicht geschehen, das muß verhindert werden!« – »Wie wollen Sie es verhindern, Don Alfonzo?« fragte der Arzt mit einem lauernden Blick. – »Señor Cortejo wird es übernehmen.« – »Ja, ich werde es übernehmen, und es wird mir gelingen«, antwortete dieser mit entschlossener Miene. – »Ja, unser guter Señor Gasparino wird dies besorgen«, meinte zustimmend Schwester Clarissa. »Dieser fremde Eindringling wird uns keinen weiteren Schaden bereiten. Er darf die Wege der Vorsehung nicht kreuzen, und der Zorn Gottes wird sein freches Haupt zerschmettern!« – »Doktor, wollt Ihr Euch entschließen, nur noch einen Tag auf Rodriganda zu verweilen?« – »Warum?« fragte Francas den Notar, der diese Frage ausgesprochen hatte. – »Weil ich überzeugt bin, daß der Graf morgen froh sein wird, wenn er erfährt, daß Ihr noch anwesend seid.« – »Könnt Ihr mir dies versprechen?« – »Ja.« – »Nun wohl, ich bleibe, aber nur bis morgen früh. Bin ich dann noch nicht zum längeren Verweilen aufgefordert worden, so reise ich ab.« – »Habt keine Sorge und verlaßt Euch ganz auf mich!« meinte Cortejo. »Jetzt aber muß ich gehen.«
Er verließ das Zimmer und auch das Schloß und wandte sich dem Park zu. Als er denjenigen Teil desselben, der an den Wald stieß, erreicht hatte, trat er hinter ein Gebüsch und stieß einen scharfen Pfiff aus.
Nur einige Augenblicke später raschelte es in den Zweigen, und es trat ein Mann zu ihm, der in die Tracht der dortigen Gegend gekleidet war, über dem Arm aber eine schwarze Kapuze hängen hatte.
»Ihr seid es, Señor?« meinte dieser. »Habt Ihr endlich einen Auftrag? Es ist ganz außerordentlich langweilig, so vergeblich im Wald zu liegen!« – »Ja, ich habe den Auftrag«, meinte Cortejo. »Heute muß es geschehen.« – »Ah – endlich! Aber wann?« – »Sobald es paßt. Der Kerl ist jetzt nicht im Schloß.« – »Ich weiß es, ich sah ihn in den Wald gehen. Ich schickte ihm einen meiner Leute nach, und dieser meldete mir, daß er mit dem alten Förster nach den Bergen sei.« – »Also auf die Jagd! Könnte es nicht während derselben geschehen?« – »Nein, denn wir werden ihn schwerlich finden.« – »Dann also bei seiner Rückkehr in den Park.« – »Gut. Und wenn er von der anderen Seite kommt?« – »So wartet Ihr bis später. Er scheint die Gewohnheit zu haben, während der Dämmerung zu promenieren, dabei bietet sich Euch die beste Gelegenheit. Ich hoffe, daß es gelingen wird!« – »Ohne Zweifel, Señor! Unsere Kugeln treffen sicher.« – »Nein, Kugeln nicht. Es muß mit dem Messer geschehen. Der Schuß würde Alarm machen, den ich vermeiden will. Wenn Ihr ihm das Messer dann in die Hand drückt wird er als Selbstmörder gelten.« – »Ich muß Euch gehorchen, aber ein Schuß wäre sicherer. Dieser Mann scheint sehr stark zu sein, und es wird vielleicht einen Kampf geben.« – »Ach so, Ihr fürchtet Euch!« spottete Cortejo verächtlich. – »Das fällt uns gar nicht ein! Euer Auftrag wird auf jeden Fall erfüllt. Aber, wie steht es mit dem Geld? Der Hauptmann hat mich beauftragt, es in Empfang zu nehmen.« – »Kommt heute Punkt Mitternacht wieder hierher an dieselbe Stelle; da werde ich Euch die Summe ehrlich auszahlen. Ihr habt Kapuzen mit? Wozu?« – »Haltet Ihr uns für Anfänger?« lachte der Brigant. »Man muß alle Fälle überlegen. Wie leicht könnte man uns sehen und wiedererkennen. Die Kapuze ist das beste und sicherste Mittel, unentdeckt zu bleiben, Señor!« – »So macht Eure Sache gut!« ermahnte der Notar, indem er sich umdrehte, um nach dem Schloß zurückzugelangen.
6. Kapitel
Der Brigant gehörte zu den Leuten, die der Capitano dem Advokaten zur Ermordung Sternaus nach Rodriganda gesandt. Er hatte die Wahrheit gesagt. Sternau war mit einem der gräflichen Förster in den Wald gegangen, weniger um ein Wild zu erlegen, als vielmehr die frische, reine Berg– und Waldesluft zu genießen und die zu Rodriganda gehörenden Forste kennenzulernen.
Diese Streiferei dauerte länger, als er zuerst beabsichtigt hatte, und es war bereits am späten Nachmittag, als er zurückkehrte.
Er trug die Büchse in der Hand, die er von dem Grafen entliehen hatte, der eine ihrer Läufe war mit Schrot und der andere mit einer Kugel geladen, denn er hatte keine Gelegenheit gefunden oder benutzt, einen Schuß zu tun. Irgendeiner romantischen Stimmung zufolge kehrte er nicht auf einem der gebahnten Wege zurück, sondern zog es vor, durch den dichten, unwegsamen Wald zu streifen. Er befand sich allein, denn der Förster hatte sich von ihm verabschiedet, um nach seiner im Wald gelegenen Wohnung zu gehen.
So näherte er sich, in Gedanken versunken, mit langsamen Schritten dem Park. Da sah er plötzlich einen lichten, glänzenden Punkt vor sich. Ein Waldweg führte vorüber, und auf demselben ging Rosa, deren weißes Gewand hell durch die Baumgruppen schimmerte.
Es war, als ob sie jemand suche oder erwarte, denn sie blieb zuweilen stehen und horchte in die Tiefe des Forstes hinein. Sie wußte, daß Sternau in den Wald gegangen war, und da er nicht zurückkehrte, trieb sie eine ihr fremde und unerklärliche Unruhe, nach dem Park zu gehen.
Er sah sie näher kommen. Sie war unendlich schön in dem einfachen, weißen Gewand, das sich eng und innig an die vollen Formen ihres Körpers schmiegte. Sie trug nicht den mindesten Schmuck; der einzige, der als ein solcher gelten konnte, bestand aus zwei dunkelglühenden Nelken, die aus der Fülle ihres prächtigen Haares blickte.
Da raschelte es vor ihr in den Büschen. Sie blickte auf und stand vor Sternau, der aus dem Dickicht getreten war, um sie zu begrüßen.
Sie streckte, wie in froher Überraschung, die Arme aus, zog sie aber sogleich wieder zurück, während eine tiefe, glühende Röte ihre Wangen färbte.
»Señor«, sagte sie, als ob sie sich entschuldigen wolle. »Ihr Erscheinen war so plötzlich – ich hatte Sie nicht erwartet!« – »Verzeihung, Doña Rosa!« antwortete er. »Ich kam durch den Wald und erblickte Sie. Da hielt ich es für meine Schuldigkeit, Ihnen zu zeigen, daß Sie nicht allein sind.« – »Der Notar hat nach Ihnen gefragt.« – »Ich ahnte es. Ich habe mich verspätet und werde mich nun beeilen.« – »Wollen Sie mich mitnehmen?« fragte sie, abermals errötend. – »Gern!«
Er warf die Büchse über den Rücken und bot ihr seinen Arm. Sie legte ihre Hand auf denselben, und so schritten sie dem Park und dem Schloß zu.
»Wissen Sie, daß die drei Ärzte abreisen werden?« fragte sie, in dem Bemühen, ein unverfängliches Gespräch zu beginnen. – »Ah!« antwortete er. »Das ist mir nicht lieb. Ich hege keine Feindseligkeit gegen sie und habe sehr gewünscht, ihnen zeigen zu können, daß Don Emanuel gesund und sehen wird.« – »Glauben Sie wirklich, daß der Vater das Licht der Augen wiedererhält?« – »Ich bin beinahe überzeugt davon!« – »Und diese Männer haben es noch heute bestritten. O Señor, geben Sie dem Vater die Gesundheit und das Augenlicht zurück, und mein Herz wird niemals aufhören, Ihnen zu danken!« – »Vertrauen Sie auf Gottes Hilfe. Er wird mich leiten, das Richtige zu treffen!« – »Er wird mich … o mein Gott, was ist das?«
Diese letzten Worte rief die Condesa im höchsten Schreck aus, denn gleich vor ihnen zerteilten sich die Büsche, und zwischen ihnen kam ein in eine schwarze Kapuze gehüllter Kopf zum Vorschein, dessen dunkle Blicke wild aus den runden Augenöffnungen der Verhüllung hervorglühten.
Gleich darauf erklangen die Worte »Drauf! Tötet ihn!«, und im nächsten Augenblick warfen sich mehrere Gestalten, die aus den Büschen brachen und ebenso verhüllt waren wie die anderen, mit gezückten Messern auf Sternau.
Dieser befand sich glücklicherweise nicht zum ersten Mal in einer solchen Lage. Während seiner Wanderungen durch fremde Erdteile hatte er mit den wilden Indianern Nordamerikas, den Beduinen der Wüste, den Malaien des ostindischen Archipels und mit den Papuas Neuhollands gekämpft. Er hatte sich dabei jene Geistesgegenwart angeeignet, die kein Erschrecken kennt, keinen Augenblick zaudert und in jeder Lage sofort das Richtige ergreift
»Holla, das gilt mir!« rief er.
Bei diesen Worten ließ er den Arm seiner Begleiterin fahren und sprang mit Blitzesschnelle einige Schritte seitwärts. Ebenso rasch hatte er die Büchse heruntergerissen und angelegt; zwei Schüsse krachten, und zwei der Vermummten stürzten zu Boden. Im Nu drehte er nun die Büchse um, und ihr Kolben sauste auf den Kopf des dritten der Angreifer nieder, so daß dieser lautlos zusammenbrach. In demselben Augenblick erhielt er von dem vierten einen Stich in den Oberarm, aber mit einer raschen Wendung packte er den Mann bei der Gurgel, ließ die Büchse fallen, da diese zu einem Hieb jetzt zu lang war, und schlug dem Gegner die geballte Faust mit solcher Kraft an die Schläfe, daß derselbe besinnungslos niedersank. Als er sich nach dem nächsten Angreifer umsah, war dieser entflohen.
Nun konnte er sich zu Rosa wenden. Der Schreck hatte ihr die Bewegung geraubt. Sie lehnte an einem Baum, dessen Stamm sie umschlungen hielt. Ihr Antlitz hatte die Blässe des Todes, und ihre Augen waren geschlossen, als trauten sie sich nicht, den Kampf des Geliebten gegen eine solche Überzahl mit anzusehen.
Dieser Kampf hatte kaum mehr als eine Minute in Anspruch genommen. Einen solchen Gegner hatten die Briganten doch nicht vermutet, er wog ein volles Dutzend solcher Leute auf, wie sie waren.
»Condesa«, sagte Sternau, indem er seine Hand auf den Arm Rosas legte, »Ist Ihnen unwohl?«
Der Klang seiner Stimme brachte sie wieder zu sich. Sie schlug die Augen auf, und als sie ihn vor sich stehen sah, kehrte die Röte des Lebens in ihre Wangen zurück.
»Carlos!« rief sie, beinahe jauchzend.
Der Übergang vom tiefsten Schreck zu einer solchen Freude war zu schnell und gewaltig. Sie dachte an keine Rücksicht, an keine Scheu, sie dachte nur daran, daß er getötet werden sollte und doch noch lebend war, und warf sich an seine Brust, schlang die Arme um ihn und legte mit lautem Schluchzen des Entzückens ihr Köpfchen an sein Herz.
»Rosa!«
Dieses Wort sagte er leise, beinahe unhörbar, aber es klang eine ganze Welt voll Liebe und Glück aus den beiden Silben heraus.
»Rosa, beruhigen Sie sich. Diese Menschen sind zurückgewiesen worden.«
Da fiel ihr Blick auf seinen blutenden Arm; erschrocken fuhr sie zurück und rief:
»Heilige Madonna, Sie bluten! Sie sind verwundet! O mein Gott, was soll ich tun!« – »Tragen Sie keine Sorge«, bat er. »ich fühle, daß es nur eine kleine unbedeutende Fleischwunde ist. Der Stich galt meinem Herzen.« – »Diese bösen, fürchterlichen Menschen!« sagte sie schaudernd, während sie einen furchtsamen Blick auf die am Boden Liegenden warf. »Wer sind sie? Und was haben Sie ihnen getan? Vier Mörder, Carlos, Sie starker, mutiger Mann, Sie sind ein Held!«
Sie lehnte sich abermals an seine Brust, und als sie ihre herrlichen Augen zu ihm erhob, strahlte aus ihnen ein solcher Blick von Liebe, Hingebung und Bewunderung, daß er nicht widerstehen konnte; er beugte sich zu ihr hernieder und legte seine Lippen zu einem langen, innigen Kuß auf ihren Mund.
Da fuhr sie zurück.
»Man kommt!«
Es ertönten wirklich soeben eilige Schritte, die sich vom Schloß her nahten, und gleich darauf kamen drei Männer herbei. Es waren zwei Gehilfen des Gärtners und der kleine Kastellan, Señor Juan Alimpo. Dieser letztere war in den Garten gegangen, um einen Blumenstrauß für das Zimmer Sternaus zu holen. Während des Abschneidens der Blumen hatte man die beiden so kurz aufeinanderfolgenden Schüsse gehört. Das war im Park auffällig; darum vermuteten die drei ein ungewöhnliches, vielleicht gar unglückliches Ereignis und eilten der Gegend zu, in der die Schüsse gefallen waren.
Als der Blick des Kastellans auf die Szene fiel, blieb er erschrocken stehen.
»Gnädige Condesa! Señor Sternau! Was ist geschehen?« rief er. – »Man hat den Señor töten wollen«, antwortete Rosa in noch immer großer Erregung. – »Töten?« fragte der Kleine. »O Gott, wie ist das möglich? Das muß ich meiner Elvira sagen!«
Damit schlug er die Hände zusammen und blickte sich um, als erwarte er, daß seine Elvira in der Nähe sei.
»Aber der Señor hat gesiegt«, fuhr Rosa fort. »Er hat die vier getötet« – »Vier? Oh! Ah!« rief Alimpo erstaunt »Vier Männer auf einmal!« – »Wohl nur drei«, verbesserte Sternau. »Diesen hier traf ich mit der Faust. Er wird nur betäubt sein. Kommt, helft mir, den Leuten die Kapuzen abzunehmen. Wir wollen einmal sehen, ob jemand sie kennt« – »Aber, Señor, wollen Sie sich nicht vor allen Dingen verbinden lassen?« fragte Rosa. – »Das hat Zeit, Dona Rosa«, antwortete er.»Der Stich ist wirklich nicht gefährlich.« – »Einen Stich! Einen richtigen, wirklichen Stich!« rief Alimpo. »Oh, mein Gott, das ist schrecklich. Das Blut läuft ja zur Erde nieder! Ach, wenn doch nur gleich meine Elvira da wäre, sie würde Euch verbinden! Kommt her, Señor, ich will Euch wenigstens einstweilen das Taschentuch um den Arm binden!«
Sternau streckte ihm lächelnd denselben entgegen, und der brave Kastellan band sein Tuch so fest darum, daß das Blut nicht mehr hindurchdringen konnte.
»So, das war das Notwendigste«, meinte er. »Oh, heiliger Sebastiano, ein Mordanfall auf dem Schloß Rodriganda!«
Er bückte sich nieder, und die beiden Gärtner halfen ihm, von den Gefallenen die Kapuzen zu entfernen. Es stellte sich heraus, daß man die vier Männer nicht kannte. Drei von ihnen waren wirklich tot. Zweien waren die Schüsse aus unmittelbarer Nähe gerade durch das Herz gedrungen, und dem dritten war durch den Kolbenschlag der Schädel vollständig zerschmettert worden. Rosa wandte sich schaudernd von diesem Anblick ab.
»Welch ein Hieb!« meinte Alimpo. »Wie mit einem Dampfhammer! Señor, Ihr habt mehr Körperstärke als zehn andere Männer zusammen.« – »Hat jemand eine Schnur oder dem ähnliches bei sich?« fragte Sternau, der soeben den vierten untersuchte. »Dieser ist wirklich nur besinnungslos. Wir müssen ihn binden. Er wird uns sagen, wer er ist und weshalb mich seine Gefährten töten wollten.« – »Ja, das wird er sagen müssen«, beteuerte Alimpo; »sonst, ja sonst zerreiße ich ihn! Ja, Señor, ich bin ein grimmiger Mensch, wenn ich einmal in Wut gerate!«
Sternau lächelte und fragte:
»Seid Ihr denn schon einmal in Wut gewesen, Señor Alimpo?« – »Nein, noch niemals; aber ich ahne, daß ich dann ganz schrecklich bin, ungefähr so wie ein Tiger oder ein Krokodil oder gar wie eine – Fledermaus.«
Dem guten Juan Alimpo schienen die Fledermäuse also die allergrimmigsten Tiere zu sein. Übrigens zog er jetzt eine Schnur aus der Tasche und band dem Besinnungslosen die Hände so fest auf dem Rücken zusammen, daß dieser sie sicher nicht zu rühren vermochte, falls er wieder zum Bewußtsein kam.
»So, der ist gebunden«, meinte er. »Was befehlt Ihr noch, Señor?« – »Ich werde jetzt mit der gnädigen Condesa zum Schloß gehen, um Euch Leute zu senden«, antwortete Sternau. »Dieser eine wird sofort, nachdem er erwacht ist, in ein sicheres Gewahrsam gebracht, die anderen aber müssen wir liegenlassen, bis der Alkalde kommt, um den Tatbestand aufzunehmen.« – »Ein sicheres Gewahrsam haben wir, Señor, ein Gewahrsam, aus dem er mir nicht entkommen soll!« – »Schön! Das ist sehr notwendig! Aber nehmt Euch jetzt hier noch sehr in acht! Es sind Mörder entkommen. Wir wissen nicht, wie viele es ihrer sind, und es ist also möglich, daß sie zurückkehren, um den Gefesselten zu befreien.« – »Wiederkommen? Befreien?« fragte der Kastellan erschrocken. »Und da soll ich hier bleiben?« – »Ja.« – »Aber, wenn sie nun gar stechen oder schießen, Señor? Das ist sehr gefährlich! Oh, wenn das meine Elvira wüßte!« – »Ich halte Euch für einen sehr mutigen Mann, Señor Juan Alimpo!« sagte Sternau lächelnd. – »Mutig? Oh, das ist noch nichts!« antwortete der Kleine. »Ich bin nicht nur mutig, sondern sogar tapfer und verwegen, ja, über alle Maßen verwegen, und zwar ganz besonders in Gefahren! Aber ein Stich ist eine böse Sache, und ein Schuß kann noch viel schlimmer sein!« – »Nun gut! Ich werde Euch meine Büchse laden und zurücklassen, und außerdem sind ja die Messer dieser Toten da. Das ist genug, sich zu verteidigen.«
Sternau lud die Büchse und reichte sie dem Kastellan hin, dieser aber trat drei Schritt zurück und sagte mit einer abwehrenden Gebärde:
»Mir nicht, Señor! Ich mag das Gewehr nicht! Wenn man es falsch hält, und es geht los, so kann man sich ganz leicht selbst treffen. Gebt es diesen beiden Gärtnern! Es sind zwei Läufe geladen, und da kann jeder von den beiden einen Schuß tun, wenn wir überfallen werden, ich aber will die Messer dieser vier Besiegten nehmen. Damit kann ich unter Umständen vier Feinde stechen und vollständig töten.«
Es geschah so, wie Alimpo verlangte, worauf Sternau der Gräfin von neuem den Arm bot und sie dem Schloß entgegenführte. Dort angekommen, bat er sie, den Grafen Emanuel aufzusuchen und dafür zu sorgen, daß ihn die Kunde von dem Überfall nicht unvorbereitet finde und vielleicht in eine schädliche Aufregung versetze. Dann sorgte er dafür, daß sofort eine Anzahl Schloßarbeiter nach dem Tatort gingen, und erst jetzt begab er sich nach seinem Zimmer, um sich zu verbinden.
Auf der Freitreppe begegnete ihm die fromme Schwester Clarissa, die einen Spaziergang unternehmen zu wollen schien. Als sie das Tuch um seinen Arm erblickte, fragte sie sogleich:
»Señor, was sehe ich! Ihr tragt ein Tuch um den Arm, und Eure Kleidung ist blutig! Um Gott, was ist geschehen?«
Sternau wunderte sich ein wenig, daß die Dame, die von ihm nicht die geringste Notiz genommen hatte und stets an ihm vorübergerauscht war, ohne ihn bemerken zu wollen, ihn jetzt anredete. Doch antwortete er in höflichem Ton:
»Ich bin verwundet, Señora.« – »Verwundet? Mein Gott! Ist das möglich? Wer ist es, der Euch verwundet hat, Señor?« – »Man kennt die Leute nicht Es war ein Mordanfall.« – »Heilige Lauretta, ist man seines Lebens hier auf Rodriganda nicht mehr sicher? Aber«, fügte sie mit einem forschenden Seitenblick hinzu, »Ihr sagtet daß man sie nicht kenne. So sind also diese Mörder auch außer Euch von jemand gesehen worden?« – »Von dem Kastellan und zwei Gärtnern.« – »Und dann sind sie geflohen?« – »Einer oder einige sind entkommen, drei habe ich getötet, und der vierte ist unser Gefangener. Der Kastellan wird ihn sogleich bringen.«
Das Gesicht der frommen Dame wurde leichenblaß. Sie konnte sich vor Schreck kaum halten und sagte mit zitternder Stimme:
»Verzeiht, Señor, diese Nachricht erschreckt mit so, daß mir ganz schwach und übel wird! Ein Mordanfall! Möge Gott die Tat an das Tageslicht ziehen und die Anstifter derselben bestrafen! Ich fühle mich so angegriffen, daß ich meinen Spaziergang, den ich beabsichtigte, gar nicht unternehmen kann.« – »Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten, Señora, um Sie nach Ihren Gemächern zu geleiten?« fragte er.
Sie nickte und stützte sich auf ihn, was sie unter anderen Umständen sicherlich nicht getan hätte. Aber die Angst, entdeckt zu werden, raubte ihr wirklich alle Kräfte, so daß sie schwer am Arm des Arztes hing.
Dieser geleitete sie bis an ihre Tür und verabschiedete sich von ihr durch eine tiefe Verneigung. Er war froh, von ihr fort zu können, denn es gab in ihm etwas, was sich gegen diese alte, fromme Dame sträubte. Schwester Clarissa trat in ihr Zimmer und sank dort ganz kraftlos in einen Diwan. Bald aber klingelte sie nach ihrem Mädchen und befahl demselben, Señor Gasparino Cortejo sofort zu ihr zu bescheiden.
Es dauerte nicht lange, so trat derselbe ein, außerordentlich verwundert über die Eile, die seine Verbündete hatte, ihn bei sich zu sehen.
»Ihr schickt nach mir, Clarissa. Was gibt es so Eiliges?« fragte er. – »Ein Unglück, ein sehr großes Unglück, Señor!« rief sie. – »Welches Unglück?« – »Oh, ich bin so schwach, daß ich es kaum erzählen kann!« jammerte sie. – »Bah!« meinte er ruhig. »Ihr könnt sprechen, und folglich wird es Euch auch möglich sein, zu erzählen, was Euch so außerordentlich übermannt.« – »Aber, es ist zu schrecklich! Es kann um uns geschehen sein, Señor!« – »Alle Teufel, jammert nicht, sondern redet! Ihr erschreckt mich ganz unnütz mit Eurer Fassungslosigkeit. Ist ein Unglück geschehen, nun, heraus damit!« – »So hört! Dieser Doktor Sternau ist im Park überfallen worden.«
Über die raubvogelartigen Züge des Notars glitt ein befriedigtes Lächeln. Er wähnte, daß sein Anschlag glücklich ausgeführt worden sei, und sagte daher in einem verweisenden Ton:
»Nun, was ist da weiter? Ich sehe darin kein Unglück! Wer hat zu Euch von diesem Überfall gesprochen?« – »Das ist es ja eben! Hätte ich es von einer anderen Person erfahren, so hätte ich in aller Ruhe meine Hände gefaltet und Gottes Gerechtigkeit gepriesen, so aber…« – »Nun, was denn aber? Redet doch, zum Teufel!« – »Er, dieser Doktor Sternau, hat es mir selbst erzählt.«
Der Notar fuhr erschrocken zurück.
»Doktor Sternau? Nicht möglich!« meinte er mit unsicherer Stimme. – »Nicht möglich, sagt Ihr? Oh, es ist nicht nur möglich, sondern sogar wirklich, Señor. Ich war von der Nachricht so erschrocken und betroffen, daß ich es mir gefallen lassen mußte, von diesem verhaßten Menschen nach meinem Zimmer geführt zu werden.« – »Alle Teufel«, knirschte der Notar. »So ist er entkommen?« – »Er war nur leicht am Arm verwundet.« – »O diese Schufte! Ich werde sie lehren müssen, ein Messer richtig zu führen.« – »Ihr werdet es leider nicht lehren können, denn drei von ihnen hat er getötet, und der vierte ist gefangen.« – »Teufel!« fluchte der Advokat durch die Zähne. »Das ist schlimm! Die Toten können nicht reden, aber dieser Gefangene, der kann gefährlich werden.« – »Kann er etwas verraten?« – »Das versteht sich! Diese Burschen haben mich ja gesehen, sie kennen mich, denn ich habe mit ihnen sprechen müssen.« – »O wehe! Señor, Ihr seid unvorsichtig gewesen.« – »Laßt das Schreien und Klagen! Ich habe keine Lust, in dieser fatalen Lage noch Vorwürfe anzuhören. Es muß ein Ausweg gefunden werden.« – »Ja, ja! Es gibt einen solchen, aber auch nur einen einzigen!« rief sie schnell und von neuem belebt. »Man muß diesen Gefangenen befreien.« – »Das geht. Aber man wird da bis zur geeigneten Stunde warten müssen, und es fragt sich, ob der Mann bis dahin schweigen kann. Da die gerichtliche Kommission, die zur Aufnahme des Sachverhalts eintreffen muß, erst morgen hier sein kann und auch erst dann den Gefangenen mitnehmen wird, so bleibt er für die Nacht jedenfalls im Schloß eingesperrt. Da wird es leicht sein, ihm die Freiheit zu geben. Aber bis dahin kann er bereits alles verraten haben.« – »So muß ihm ein Wink gegeben werden.« – »Ja, richtig! Diese Geschichte hat mich ganz kopflos gemacht. Es ist ja gar nichts Gewagtes dabei, wenn ich in den Park gehe, um mir den Ort des Überfalls anzusehen. Beim Teufel! Dieser Deutsche ist mir heute entkommen, zum zweiten Mal jedoch soll es ihm nicht gelingen. Er gegen so viele! Der Kerl muß eine wahre Elefantenstärke besitzen. Aber daraus lernt man, daß ihm nur mit List beizukommen ist.« – »Und wie wollt Ihr es beginnen, um den verhaßten Deutschen endlich zu beseitigen?« fragte die fromme Dame eifrig. – »Über das ›Wie?‹ bin ich mit mir noch nicht zu Rate gegangen«, erwiderte der Bundesgenosse Clarissas. – »Sterben muß dieser Doktor Sternau, wenn wir unseren Plan nicht aufgeben wollen«, bemerkte die Dame entschieden. – »In keinem Fall dürfen wir unser Vorhaben außer acht lassen«, pflichtete der Notar bei, »darum werde ich jedes Mittel für recht halten, das uns zum Ziel führt.«
Clarissa nickte zustimmend, und der Notar fuhr fort:
»Ich gehe jetzt, um den Platz zu besichtigen, wo das Treffen stattgefunden hat.«
Damit eilte er nach dem Park, wo sich bereits ein großer Teil der Schloßbewohner versammelt hatte, herbeigeführt von einem Ereignis, wie es in Rodriganda noch nicht vorgekommen war.
7. Kapitel
Es geschah ganz so, wie Señor Gasparino Cortejo zu seiner Verbündeten gesagt hatte. Während die drei Leichen im Park unter Bewachung liegenblieben, wurde der Gefangene in das Schloß geschafft. Es war derselbe, dem der Notar seine Verhaltungsmaßregeln erteilt hatte. Sie begegneten einander kurz vor dem Schloß. Es gelang Cortejo, unbeobachtet von anderen, seine Finger auf den Mund zu legen, so daß der Brigant es bemerkte. Dieser nickte als Antwort leicht vor sich hin, während ein Lächeln der Freude über sein finsteres Gesicht huschte. Dieser Mann konnte es sich denken, daß Cortejo ihn nicht verlassen werde, wenn nur er selbst sich der Hilfe würdig erweise.
Der Graf geriet bei der Kunde, daß sein Gast und Arzt hatte ermordet werden sollen, in eine ganz ungewöhnliche Aufregung, und es gelang Rosa nur schwer, ihn zu beruhigen, doch befahl er, daß die Untersuchung mit aller Strenge geführt werden solle.
Die drei Ärzte reisten noch am Abend ab. Sie ahnten, wer der Auftraggeber der Mörder sei, und glaubten nach dem Mißerfolg nun für die erste Zeit keine Chancen mehr zu haben.
Sternau hatte seine Vermutung, daß seine Wunde nicht bedeutend sei, bestätigt gefunden. Er sah sich von ihr nicht im mindesten behindert und konnte sich also ohne Unterbrechung dem Grafen widmen. Er war bei allen Bediensteten des Grafen trotz der Kürze seiner Anwesenheit im Schloß bereits außerordentlich beliebt, und darum war man gespannt, zu hören, wer ihm nach dem Leben getrachtet habe. Leider verweigerte der Gefangene jedwede Auskunft. Er verschwieg hartnäckig, wer er sei und wer ihn veranlaßt habe, Sternau zu überfallen. Man mußte sich also auf den späteren Verlauf der Untersuchung vertrösten.
Am eingehendsten wurde das Ereignis in der Wohnung des Kastellans besprochen. Es dürfte gewiß ein ungewöhnlicher Genuß sein, den beiden braven Eheleuten zuzuhören.
»Also, liebe Elvira, ich werde dir es genau erklären«, sagte Alimpo. – »Ja bitte, sehr genau, lieber Alimpo«, erwiderte Elvira.
Der Kastellan nahm einen Borstenbesen in die Hand, blickte sich ernsthaft und forschend in der Stube um und meinte dann:
»Also fünf werden es gewesen sein. Denke dir, der erste sei dort der Uhrkasten, der zweite der Kleiderschrank, der dritte der Blumentisch, der vierte die Astrallampe hier und der fünfte der Koffer dort in der Ecke. Verstanden?« – »Sehr gut, lieber Alimpo.« – »Schön! Also die fünf Mörder haben wir. Wir brauchen also nur noch den Doktor Sternau, den sie ermorden wollen, und die gnädige Condesa. Señor Sternau bin ich, und Condesa Rosa bist du, meine gute Elvira. Verstanden?« – »Gut! Die gnädige Condesa Rosa bin ich!«
Bei diesen Worten richtete sich die dicke Kastellanin möglichst empor und gab sich Mühe, sich in eine gräfliche Positur zu werfen.
»Nun gehe ich, Doktor Sternau, auf die Jagd«, fuhr der Kastellan fort, »und komme jetzt wieder zurück, indem ich die Doppelbüchse auf der Schulter habe.«
Bei diesen Worten legte er den Borstenbesen über die Schulter und erklärte weiten
»Da treffe ich im Park dich, meine liebe Elvira, nämlich unsere gnädige Gräfin Rosa. Ich mache ihr natürlich eine Verbeugung und sie mir auch.«
Bei dieser Erklärung machte er seiner Frau ein sehr tiefes und ehrfurchtsvolles Kompliment, und sie versuchte, ihren starken Körper ebenfalls zu einer Verneigung zu zwingen. Dann fuhr er fort:
»Indem wir uns verneigen, werde ich von fünf Mördern angefallen. Der erste, also der Uhrkasten, kommt auf mich zugesprungen, ich aber reiße mein Gewehr von der Schulter und schieße ihn mit dem einen Lauf tot – puff!«
Bei diesen Worten nahm er den Besen von der Schulter, legte ihn an, zielte und schoß mit dem Mund. Darauf erklärte er weiter:
»Jetzt kommt der zweite, also der Kleiderschrank, mit dem Messer auf mich zu. Ich aber schieße ihn nieder – puff. Nun kommt der dritte, der Blumentisch, auf mich zu. Ich habe keinen Schuß mehr und muß ihn also mit dem Kolben erschlagen.«
Er drehte den Besen um und versetzte dem Tisch einen Hieb.
»Jetzt kommt der vierte, nämlich die Astrallampe. Ich habe keinen Schuß mehr, und die Lampe ist mir bereits so nahe, daß ich mit dem Kolben gar nicht ausholen kann, ich muß ihr also mit der Faust so eins versetzen, daß sie in Ohnmacht fällt, ungefähr so…«
Alimpo faßte die Lampe mit der Linken, holte mit der Rechten aus und schlug zu – klirr prasselten die Scherben zur Erde nieder. Der gute Kastellan war durch seine Phantasie verleitet worden, aus dem Gebiet des Figürlichen auf dasjenige des Wirklichen überzugehen.
»Aber, lieber Alimpo«, meinte die Kastellanin, »was machst du denn da für Dummheiten?« – »Sei still, meine gute Elvira«, antwortete er. »Du bist jetzt die gnädige Condesa Rosa, und die hat über diese Lampe gar nichts zu sagen. Ich mußte ja den vierten erschlagen, weil er mich mit dem Messer in den Arm gestochen hat.« – »Recht hast du eigentlich«, gab sie zu, »aber schade ist es dennoch um die schöne Lampe. Und weil du sie für unseren lieben Señor Sternau erschlagen hast, so mag es für dieses Mal hingehen.« – »Ja, Elvira, nur für ihn habe ich sie erschlagen. Und für ihn würde ich noch ganz andere Dinge erschlagen. Ich hatte ja im Park mich bereits mit vier Messern bewaffnet, um die Kerle zu erstechen.« – »Du?« fragte sie ganz erstaunt. – »Ja, ich, dein Alimpo!« antwortete er stolz. – »Heilige Madonna! Vier Messer! Wen wolltest du denn erstechen?« – »Die entflohenen Mörder, wenn sie zurückgekommen wären.« – »Mein Gott!« rief sie, die Hände zusammenschlagend. »Mensch! Mann! Alimpo! Du bist ja der reine Wüterich. Du dürstest nach Blut! Höre, ich darf dich nicht mehr aus den Augen lassen, denn dein Temperament wird mir zu tapfer und verwegen.« – »Ja, das braucht man auch!« antwortete er, indem er sich mit einer sehr martialischen Gebärde die beiden Bartflocken strich, die gerade unter der Nase über seinen Mund herabhingen. Die Spitzen des Schnurrbarts trug er abrasiert. »Gehe einmal hinauf in die Rüstkammer, liebe Elvira, und hole mir das Schwert des alten Ritters Arbicault de Rodriganda herunter.« – »Das Schwert? Das große, ungeheure Schwert?« fragte sie erstaunt. »Warum denn?« – »Weil ich heute nacht den Gefangenen zu bewachen habe.« – »Bist du toll?« rief sie. »Den Gefangenen willst du bewachen? An seine Tür willst du dich stellen, mit dem Schwert in der Hand? Wenn er nun ausbricht! Willst du denn geradezu in den Tod gehen? Willst du dich denn mit aller Gewalt für die anderen aufopfern, mein guter Alimpo?« – »Nein, das fällt mir nicht ein. Aber hole nur das Schwert herab! Ich werde den Gefangenen unten im Gewölbe mit dem Schwert hier in meiner Stube bewachen. Bricht er ja aus, so sieht er mich nicht Und kommt er ja in die Stube, so wird er das Schwert erblicken und entfliehen, wenn er nicht ganz und gar blutdürstig ist. Übrigens werde ich jetzt in Begleitung der Knechte einmal hinabgehen, um nachzusehen, ob die Riegel fest vorgeschoben sind.«
Alimpo ging und ahnte nicht daß es Leute gab, vor denen diese Riegel nicht sicher waren.
Um dieselbe Stunde kam Condesa Rosa ganz atemlos vor freudiger Überraschung zum Grafen, bei dem sich Sternau befand.
»Mein Vater, ich habe dir eine rechte frohe Kunde zu bringen«, sagte sie. »Soeben empfing ich einen Brief, den ich dir vorlesen muß.« – »So lies, wenn es Señor Sternau erlaubt«, sagte er freundlich lächelnd. »Oh, Señor erlaubt es. Höre also!« antwortete sie und las folgende Zeilen:
»Meine teure Rosita!
Gleich nach meinem gestrigen Brief muß ich dir diese Zeilen senden. Vater ist als Konsul nach Mexiko designiert. Er muß schleunigst hinüber, und ich begleite ihn natürlich. Vorher aber muß ich dich noch einmal sehen. Ich komme nach Rodriganda und werde übermorgen da eintreffen. Kannst du, so hole mich in Pons ab, wo ich eine halbe Stunde ruhen werde. Vermelde dem gnädigen Grafen meinen Respekt und sei herzlich gegrüßt von deiner Amy Lindsay.
Ist das nicht eine große und angenehme Überraschung, mein Vater?« fragte die Vorleserin. – »Allerdings, mein Kind«, antwortete er. Und sich an den Arzt wendend, sagte en »Miß Amy Lindsay ist nämlich die Tochter von Sir Henry Lindsay, Graf von Nothingwell, der längere Jahre in Madrid lebte, wo sich die Damen kennenlernten.« – »Erlaubst du, daß ich morgen früh nach Pons fahre, um sie abzuholen?« fragte Rosa den Grafen. – »Gern!« antwortete dieser. »Habe ich recht gehört, so ist morgen Jahrmarkt in Pons. Es wird gut sein, den Kastellan mitzunehmen, mein Kind.« – »Das wird ein sehr mutiger Kavalier und Beschützer sein«, lachte sie.
Gern hätte Sternau seine Begleitung angeboten, doch einesteils hätte das nicht mit dem gesellschaftlichen Verhältnis im Einklang gestanden, und andernteils konnte er seinen Patienten nicht verlassen; darum blieben seine Worte, die ihm bereits auf den Lippen schwebten, unausgesprochen.
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Kurze Zeit später, als alles sich zur Ruhe begeben hatte, schlichen sich zwei Männer hinab nach dem Gewölbe, in das man den Gefangenen eingesperrt hatte. Es waren der Graf Alfonzo und der Notar Cortejo. Vor der Tür des Gewölbes standen zwei Diener, denen die Aufgabe zugefallen war, den Räuber zu bewachen. Unten angekommen, blieb der Notar zurück, während der Graf einen lauten Schritt annahm, so daß die Wächter sein Kommen hörten. Sie saßen mürrisch am Boden und hatten eine Laterne brennen. Als sie ihren jungen Herrn erkannten, erhoben sie sich ehrfurchtsvoll.
»Hier hinter dieser Tür steckt der Kerl?« fragte Alfonzo. – »Ja«, antwortete der eine. – »Ich hoffe, daß ihr gute Wache haltet! Laßt ihr ihn entkommen, so dürft ihr auf keine Nachsicht rechnen! Gebt einmal die Laterne her!«
Er tat, als ob er sich seine verlöschte Zigarette anbrennen wolle, griff jedoch absichtlich nicht richtig zu und stieß dem Diener die Laterne aus der Hand, so daß diese zur Erde fiel und zerbrach.
»Ungeschickter!« zürnte er. »Hebe die Laterne auf, ich werde Licht machen.«
Dabei aber bückte er sich schnell zu Boden und hob die Laterne unbemerkt auf. Während die Diener nun vergeblich umhertasteten und er laut mit ihnen zankte, schlich der Notar herbei, öffnete geräuschlos die Tür des Gewölbes und trat hinein. Graf Alfonzo stellte sich so, daß die Diener nichts bemerken konnten, und als er einige Augenblicke später die Hand des Notars auf seiner Schulter fühlte, zum Zeichen, daß ihr Vorhaben gelungen sei, setzte er die Laterne leise auf den Boden nieder und trat zurück.
»Nun, soll ich vielleicht selbst mit suchen helfen?« zürnte er. – »Hier ist sie, Don Alfonzo«, meinte da der eine der Leute. »Aber das Öl ist verschüttet.« – »So holt anderes. Bis dahin brennt der Docht wohl noch.«
Alfonzo zog ein Zündholz hervor und steckte das Lämpchen in Brand. Dann öffnete er die Tür des Gewölbes, deren Riegel der Notar leise wieder vorgeschoben hatte, und leuchtete hinein. Das geschah jedoch in der Weise, daß die Diener keinen Blick in das Innere werfen konnten.
»Der Mensch schläft, oder er stellt sich nur so!« sagte er, die Tür wieder schließend. »Es ist am besten, man stört ihn nicht.«
Mit diesen Worten drehte er sich langsam um und stieg die Treppe empor.
Unterdessen hatte sich der Notar mit dem Gefangenen fortgeschlichen. Sie gelangten unbemerkt aus dem Schloß und schritten leise und wortlos in das Dunkel der Nacht hinein. Endlich, als sie keine Überraschung mehr zu befürchten hatten, blieb der Advokat stehen und sagte mit harter Stimme:
»Du hast deinen Auftrag ausgezeichnet ausgeführt mein Bursche. Soll ich dir den Preis auszahlen?« – »Verzeihung, Señor!« antwortete der andere. »Man kann auch einmal unglücklich sein in einem Unternehmen.« – »Aber in keinem so wichtigen. Der Capitano scheint mir lauter Feiglinge geschickt zu haben.«
Da trat der Brigant um einen Schritt näher heran und sagte mit flüsternder, aber dennoch sehr scharfer Stimme:
»Wollt Ihr mich beleidigen, Herr?« – »Bah! Wenn so viele gegen einen stehen und ihn doch nicht niedermachen, so sind sie Feiglinge!« – »Oho, Señor! So schlagt ihn doch selbst nieder! Wenn einer mit einem anderen den ganzen Tag zusammenlebt und täglich zehnmal Gelegenheit hat, sich seiner zu entledigen, und sich dennoch an andere wendet, so ist er ein Feigling. Merkt Euch das, Señor! Dir seid weder ein Capitano noch sonst ein Mann, von dem ich ein Wort, das mir nicht paßt, anhören muß. Ihr seid nichts Besseres als ich; wenn ich Euch verrate, so seid Dir verloren, und darum solltet Ihr vorsichtig sein, mich zu beleidigen. Es gibt nicht einen einzigen Feigling unter meinen Kameraden.« – »Warum habt ihr diesen Menschen dann nicht überwältigt?« – »Wer konnte es ahnen, daß er eine solche Stärke besitzt und ein solcher Teufel ist, Señor!« – »Ihr waret ja in der Mehrzahl.« – »Aber wir sollten ihn nur mit dem Messer angreifen, so hattet Ihr uns geboten. Ein guter Schuß war das sicherste, das aber habt Dir nicht gewollt, und so tragt nur Ihr allein die Schuld an dem Mißlingen des Unternehmens.« – »Ach so!« lachte der Notar. »Du wirst mir wohl gar die Bezahlung abverlangen, gerade so, als ob ihr eure Schuldigkeit getan hättet.« – »Allerdings tue ich das! Ihr tragt allein die Schuld, und meine Kameraden sind getötet. Ihr werdet zahlen müssen.« – »Nicht eher, als bis dieser deutsche Doktor tot ist!« – »So versucht es selbst, ihn zu töten – wenn es Euch gelingt!« – »Dazu seid ihr da!« zürnte der Notar. – »Jetzt nicht mehr, Señor! Wir haben nach Eurer Anweisung gehandelt. Daß diese Anweisung schlecht war und uns die Sache verdarb, dafür können wir nicht. Ich fordere das Geld. Gebt Ihr es nicht, so werdet Ihr noch viel mehr bezahlen müssen, denn der Hauptmann wird dann für unsere Toten eine Entschädigung verlangen.« – »Geht zum Teufel, ihr Schurken!« – »Gut, ich gehorche und gehe!« lachte der Räuber höhnisch und war im nächsten Augenblick im Dunkel der Nacht verschwunden.
Das hatte der Advokat nicht erwartet. Er rief so laut, als es die Vorsicht ihm gestattete, erhielt aber keine Antwort. Dies brachte ihn in die größte Verlegenheit. Wie nun, wenn er von den Briganten verraten wurde? Dann war mit ihm selbst auch sein groß angelegter Plan verloren, an dem er seit so vielen Jahren mit allen Kräften gearbeitet hatte.
Er kehrte mit sorgenvollem Herzen nach dem Schloß zurück, wo er sich schlafen legte, aber keine Ruhe fand. Es war nicht das böse Gewissen, das ihn peinigte, denn ein Gewissen hatte dieser Mann nicht, sondern er schlug sich mit wirren Gedanken, wie er jedem ihm drohenden Unheil begegnen könne.
So hatte er noch kein Auge geschlossen, als am anderen Morgen sich im Schloß ein unruhiges Hin– und Herlaufen bemerkbar machte. Cortejo vernahm untermischte Ausrufe, die darauf schließen ließen, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sei, und erhob sich. Das war kaum geschehen, so klopfte es an die Tür seines Schlafzimmers, und der Domestike, der ihn zu bedienen hatte, fragte von außen:
»Ruht Ihr noch, Señor Cortejo?« – »Ja«, antwortete er aus Vorsicht. – »So erhebt Euch schnell. Don Emanuel verlangt, mit Euch zu sprechen.« – »So früh? Weshalb?« – »Es ist etwas Unangenehmes geschehen. Der Räuber ist während der Nacht entflohen.« – »Nicht möglich!« rief der Advokat mit künstlichem Staunen in seinem Ton. »Ich werde sogleich kommen.«
Kaum zwei Minuten später verließ er sein Zimmer und begab sich zum Grafen. Er fand bei demselben die Gräfin Rosa, die fromme Schwester Clarissa und den jungen Grafen Alfonzo.
»Señor, habt Ihr bereits gehört, um was es sich handelt?« wurde er von Don Emanuel gefragt. – »Ja«, antwortete er. »Aber ich halte die Sache für einen Irrtum!« – »Es ist kein Irrtum; der Brigant ist wirklich entkommen!« – »Das ist ja gar nicht möglich! Er wurde ja von zwei Männern scharf bewacht.« – »Dennoch ist er entkommen, oder vielmehr, er ist spurlos verschwunden, auf eine so unbegreifliche Weise, daß wir uns den Fall nicht erklären können.« – »Hm!« brummte der Notar mit einer Miene des allerhöchsten Erstaunens. »Hat Ihnen Don Alfonzo gesagt daß er selbst sich noch während der Nacht von der Sicherheit des Gefängnisses überzeugt hat?« – »Allerdings. Mein Sohn hat das Gefängnis inspiziert und dabei bemerkt daß der Gefangene schlafend am Boden lag. – »So müssen die Diener ihm zur Freiheit verholten haben. Es ist kein anderer Fall denkbar.« – »Das bezweifle ich. Diese beiden Männer waren so ganz außerordentlich bestürzt, daß ich an ihrer Unschuld gar nicht zweifeln kann.« – »Auch ich bin überzeugt, daß nicht die mindeste Schuld sie trifft«, bemerkte Rosa mit warmem Nachdruck. »Diese Leute sind treu, das kann ich behaupten!« – »Aber, meine gnädigste Condesa, wie hat dann der Räuber ohne ihr Wissen oder gar ohne ihre Hilfe das Gefängnis verlassen können?« fragte der Advokat. – »Das wird wohl die Untersuchung ergeben. Der Vater hat Euch rufen lassen, um Euch an derselben zu beteiligen.« – »So wollen wir hoffen, daß sie nicht erfolglos ist. Ich werde mich sofort an Ort und Stelle begeben.«
Was sich voraussehen ließ, geschah. Die Nachforschung hatte nicht das mindeste Ergebnis.
Auch Sternau wurde durch die im Schloß herrschende Unruhe aus dem Schlaf geweckt. Als er später den Korridor betrat, stieß er auf den kleinen Kastellan, dessen Gesicht ein einziger Ausdruck der höchsten Bestürzung war.
»Señor, wißt Ihr es schon«, fragte er hastig, »daß dieser Spitzbube, dieser Mörder, ausgerissen ist?« – »Unmöglich!« rief der Arzt erschrocken. – »Oh, sehr möglich, Señor!« antwortete der Kastellan. »Er ist fort, über alle Berge; das sagt meine Elvira auch!« – »Aber wie denn? Wie konnte es ihm gelingen, zu entkommen?« – »Das weiß kein Mensch, sogar meine Elvira nicht Señor!« – »Ist er denn nicht bewacht worden?« – »Sogar sehr! Ich habe ja zwei Knechte an seine Tür gestellt. Auch der gnädige Graf Alfonzo ist bei ihnen gewesen, um sich von ihrer Wachsamkeit zu überzeugen. Er hat gesehen, daß der Gefangene sich in dem Gefängnis befand. Heute früh aber, als die Knechte öffneten, um dem Menschen Wasser zu geben, war er fort.« – »Das ist ja erstaunlich! Das muß untersucht werden! Ist der Mann entwischt, so ist mit ihm auch die Hoffnung verschwunden, über den gestrigen Mordanfall eine Aufklärung zu erlangen!« – »Leider, Señor! Nun werden die Gerichte kommen, um die Untersuchung zu beginnen, und die Hauptperson, der Mörder, ist fort. Das ist fatal; das ist sogar blamierend für uns; das sagt meine Elvira auch. Aber ich stehe hier und habe doch zu tun! Ich muß mich sputen, denn der Wagen wird angespannt, und ich habe die gute Condesa Rosa nach Pons zu begleiten.«
Alimpo eilte weiter, denn er hatte jetzt vor allen Dingen eine sehr ehrenvolle Pflicht zu erfüllen, er mußte seine junge Herrin unter seinen starken Schutz nehmen, damit ihr unterwegs kein Leid widerfahre. Das machte ihn stolz; das schwellte die Muskeln seines kleinen Körpers und gab ihm den Mut eines Löwen. Und wenn er auch nicht gerade das Schwert des alten Urahn-Ritters umschnallte, so fühlte er sich doch ganz und gar als der treueste und tapferste Ritter der schönsten Doña im schönen Spanien. Übrigens, was das Schwert betrifft, so wäre es ihm gar nicht gut möglich gewesen, seine Hüften damit zu umgürten, da es sonst ebensolang war wie er selbst.
8. Kapitel
»Ich suche dich, o Vaterhaus,
Von dem mich finstere Mächte trennen.
Ich kämpfte gern manch‘ heißen Strauß,
Zu finden dich und zu erkennen!
Ich suche dich, o Mutterherz,
Und hör‘ kein Echo meiner Klagen.
Ich trüge gern den größten Schmerz,
Um dir mein Leid und Weh zu sagen!
Ich suche dich, o Vaterhand,
Der man mich mit Gewalt entrissen,
Und werde wohl von Land zu Land
Fremd und erfolglos wandern müssen!«
In Pons war heute Jahrmarkt, und darum durfte man sich nicht wundern, daß auf den Straßen und Wegen, durch die dieser Ort mit der Umgegend verbunden war, bereits am frühen Morgen ein reges Leben herrschte. Der Spanier ist ernst, doch wenn sich ihm Gelegenheit bietet, das Leben von der heiteren Seite zu nehmen, so gibt er sich dem Genuß um so nachdrücklicher hin.
Zwei Männer schritten von Osten her der Stadt entgegen. Sie hielten sich der Straße fern und benutzten nur Wege, auf denen sie keine häufigen Begegnungen zu erwarten hatten. Sie trugen lange Pyrenäenbüchsen auf der Schulter und Messer und Pistolen im Gürtel und hatten auch sonst nicht das Aussehen friedlich gesinnter Leute. An einer Schnur hing jedem von ihnen eine schwarze Tuchrolle von der Schulter hernieder. Hätte man dieselbe aufgerollt, so hätte man sie als eine schwarze Kapuze erkannt, die vorn wie eine Maske mit ausgeschnittenen Augenlöchern gebaut war. Solche Kapuzen hatten die Briganten bei dem Überfall im Park von Rodriganda getragen, darum war es nicht schwer, diese Männer mit ihnen in Verbindung zu bringen.
Und in der Tat, der eine war jener Räuber, den der Notar hatte entkommen lassen, und der andere war derjenige, der bei dem Angriff auf den Doktor in die Büsche entsprungen war. Als der erstere sein Gespräch mit dem Notar so schnell abgebrochen hatte, war er weiter in das Feld gegangen, hatte Rodriganda, das Dorf, zur Seite liegen lassen und war in den nach Pons führenden Weg eingebogen. Dies war nicht die Richtung, in die das Gebirge führte, und so war er hier wohl sicher, da die Verfolgung, wenn sie ja unternommen wurde, sich jedenfalls hinauf nach den Bergen zog.
So schritt er denn ziemlich unbesorgt weiter, als sich plötzlich vor ihm die Gestalt eines Mannes in der Dunkelheit der Nacht erhob.
»Halt!« rief ihm eine Stimme entgegen, indem zugleich der Hahn eines Gewehrs knackte. »Bleib stehen und lege deine Waffen ab!«
Der Brigant war im ersten Augenblick überrascht, im nächsten aber erkannte er die Stimme. Es war diejenige seines Gefährten, der vor den Hieben Sternaus geflohen war. Darum antwortete er:
»Mach keinen Spaß, Juanito! Bei mir findest du weder Gold noch Silber, ja nicht einmal den zehnten Teil eines armen Maravedi, denn diese Schufte da drüben auf dem Schloß haben mir alles abgenommen.« – »Henrico, du bist es?« rief der andere, und man hörte es dem Ton seiner Stimme an, daß er freudig überrascht war. »Alle Teufel, wie kommst du denn hierher an diesen Ort?« – »Auf meinen Beinen, denke ich!« – »Ja, sie werden dich nicht mit einem Sechsgespann herbeigefahren haben!« lachte Juanito. »Aber ich denke, du steckst im Loch und sollst morgen transportiert werden?« – »Sie hatten es allerdings so vor, aber ich habe ihnen das Spiel verdorben.« – »Du bist entflohen?« – »Natürlich! Oder meinst du vielleicht, daß sie mich freiwillig entlassen haben, he?« – »So dumm bin ich nicht ganz. Aber erzähle, wie es gekommen ist!«
Henrico erzählte, was er von seiner Gefangennahme an bis jetzt erlebt hatte, und fragte sodann:
»Aber nun sage auch du, wie du hierherkommst! Was tust du hier?« – »Das hast du ja gesehen! Ich lauere auf einen kleinen Fang.« – »Unvorsichtiger! Warum bist du nicht zum Capitano zurückgekehrt?« – »Warum? Und das fragst du? Meinst du, daß ich dich verlassen sollte?« – »Ach, wirklich? Du bist bloß meinetwegen zurückgeblieben?« – »Ja; bei San Jago, es ist wahr! Als dieser deutsche Elefant so unsinnig auf uns losstampfte und ihr wie Grashalme von ihm niedergetreten wurdet, da machte ich mich in die Büsche und suchte zunächst den Ort auf, an dem wir unsere Büchsen und die übriggebliebenen Kapuzen versteckt hatten. Dann raffte ich das Zeug zusammen und floh weiter. Später ging ich lauschen. Da erfuhr ich, daß man dich gefangengenommen habe und daß die anderen tot seien; morgen würde man dich weitertransportieren. Deshalb nahm ich mir vor, dich zu befreien. Ich wollte mich in den Hinterhalt stellen. Ich habe ja unsere fünf Büchsen und kann also zehn Schüsse abgeben. Für die Nacht hatte ich mich hier am Weg schlafen gelegt, als ich dich plötzlich kommen hörte und dachte, es sei irgendeiner von den reichen Bauern in Rodriganda, dem ich die Goldstücke aus der Tasche heben und die silbernen Knöpfe von der Weste und Jacke schneiden könne. Na, ich hatte mich verrechnet, aber es ist mir so doch noch lieber. Was gedenkst du nun zu tun?« – »Ich kehre zum Capitano zurück.« – »Das fällt mir nicht ein!« meinte Juanito. »Er wird ohne mich auch auskommen.« – »Ja, aber du gehörst doch zu ihm.« – »Jetzt nicht mehr. Ich habe keine Lust, mich wegen des Mißlingens unseres Auftrags bestrafen zu lassen. Er entzieht uns wenigstens zehnmal unseren Beuteanteil.« – »Hm, wenn er es nicht gar noch anders macht!« brummte Henrico. »Recht hast du, Juanito; aber wir müssen gehorchen.« – »Ich sehe keinen Grund dazu.« – »Wir haben ihm Treue geschworen.« – »Bah! Einem Räuberhauptmann braucht man keinen Schwur zu halten. Ich tue das, was die Kaufleute sagen: ich separiere mich.« – »Das heißt, du willst unser Geschäft von jetzt an auf eigene Faust betreiben?« – »Ja. Ganz allein! Außer, du machst mit!« – »Ich? Hm!« – »Überlege es dir, Henrico! Der Capitano nimmt von allem, was wir bringen, den Löwenanteil; er behält alle Geheimnisse, alle Schliche und Kniffe für sich; wir plagen uns; wir riskieren das Zuchthaus und den Galgen, er aber bleibt daheim und spielt den Gebieter. Du weißt, wieviel er für den Tod dieses Deutschen erhalten hat. Wieviel wird er wohl uns davon geben?« – »Einige lumpige Dukaten. Ja, das ist wahr!« – »Sind wir nicht die Kerle dazu, die Summe uns ganz allein zu verdienen? Können wir zum Beispiel uns nicht auch einen reichen Edelmann fangen, der uns ein so großes Lösegeld geben muß, daß wir die Herren spielen können?« – »Alle Teufel, du hast recht, Juanito! Aber dann müssen wir diese Gegend verlassen. Wenn uns der Capitano erwischt, ist es um uns geschehen.« – »Wir gehen über den Ebro. Vorher aber müssen wir uns Reisegeld holen. Da ist heute in Pons Jahrmarkt, und wir werden manchen sehen, dessen Tasche für uns besser paßt als für ihn. Gehst du mit?« – »Ja, es mag so beschlossen sein! Also Gewehre hast du?« – »Die Gewehre und Pistolen, die wir ablegen mußten, da wir den Deutschen nur mit den Messern angreifen durften. Zufälligerweise habe ich zwei Messer bei mir; du kannst eins davon bekommen.« – »Aber mit all den Büchsen und Pistolen sehen wir zu auffällig aus!« – »Narr! Was wir nicht brauchen, das wird versteckt bis zu einer gelegeneren Zeit. Jetzt aber wollen wir uns zunächst selbst in Sicherheit bringen und einen Ort suchen, wo wir die Nacht ungestört verschlafen können.«
Auf diese Weise hatten sich die beiden zusammengefunden. Sie schliefen während der Nacht im Wald, vergruben am Morgen alles Überflüssige und machten sich dann auf den Weg nach Pons.
Sie hatten nicht die Absicht, in die Stadt zu gehen, denn das war zu gefährlich für sie; sondern sie wollten sich vor dem Ort in den Hinterhalt legen, um irgend jemandem eine genügende Summe Geldes abzunehmen, mit der sie eine Zeitlang zu leben vermochten.
So lagen sie hinter einigen Sträuchern verborgen und sahen manchen vorübergehen, ohne daß sie sich von der Stelle bewegt hätten, denn die Passierenden machten nicht den Eindruck, als ob sie größere Summen bei sich führten.
Da vernahmen sie nahenden Hufschlag und das weiche Rollen von Wagenrädern; Henrico lugte mit vorgestrecktem Hals durch die Büsche und zog sich augenblicklich mit einer Bewegung des Schrecks wieder zurück.
»Was hast du? Wer ist es?« fragte Juanito. – »Alle Wetter, bin ich erschrocken!« antwortete der Gefragte. »Das ist die Señorita!« – »Welche Señorita?« – »Aus Rodriganda. Die, welche bei dem Deutschen war, als wir ihn überfielen.« – »Wirklich? Alle Teufel, die müssen wir haben!«
Juanito hob die Büchse und blickte nun seinerseits auch durch die Büsche, zog sich aber mit einer Miene der Enttäuschung augenblicklich wieder zurück.
»Ja, sie war es!« meinte er. »Aber das ging ja so schnell vorbei, daß man gar nicht zum Schuß kommen konnte.« – »Zum Schuß, Juanito?« fragte Henrico. »Du wolltest sie doch nicht etwa erschießen?« – »Narr! Die Pferde wollte ich erschießen. Dann mußten sie halten und waren in unsere Hand gegeben.« – »Das lasse ich mir eher gefallen! Bei der heiligen Madonna, es ist etwas verdammt Armseliges, ein so schönes, wehrloses Frauenzimmer zu erschießen! Wir wären mit diesen paar Leuten schnell fertig geworden. Der Kutscher sah nicht aus wie ein Held, und der andere, den hörte ich gestern Señor Kastellan nennen. Er ist ein Kerl, den eine Mücke in die Flucht treibt. Die Señorita hat sicherlich mehr Geld bei sich, als jeder andere, der hier vorüberkommt. Wollen wir hier auf ihre Rückkehr warten?« – »Ja«, nickte Juanito zustimmend. »Einen besseren Fang können wir ja gar nicht machen. Wir schießen die Pferde nieder, du das Hand– und ich das Sattelpferd. Das Weitere wird der Augenblick ergeben.«
Während dieser Plan hier besprochen wurde, rollte die Equipage der Gräfin Rodriganda der Stadt im Galopp entgegen. Rosa wußte, daß die Freundin mit der Post kommen werde, und da die Zeit der Ankunft derselben noch nicht gekommen war, so gab sie dem Kutscher Befehl, nach der Locanda zu fahren, die sie als das anständigste Gasthaus des Städtchens kannte.
Dort angekommen, überließ sie dem Kastellan und dem Kutscher die Sorge für die Pferde und begab sich in das Zimmer, in dem sie bei ihrer jedesmaligen Anwesenheit in Pons abzusteigen pflegte. Es war heute zwar bereits besetzt, aber der Wirt machte es der Gräfin möglich, es für die kurze Zeit des Wartens zu erhalten.
Als nach einer halben Stunde die mit sechs Maultieren bespannte Post-Diligence in das Städtchen rollte, stand der Kastellan mit dem Kutscher in der Posthalterei bereit, den Gast zu empfangen und seiner Herrin zuzuführen.
Der große Kasten der Post-Arche entleerte sich nach und nach seines Inhaltes, und ganz zuletzt entstieg ihm auch eine Dame, die so in Schleier und Reisemantel eingehüllt war, daß man von ihr nur erkennen konnte, daß sie von mittelgroßer Figur und gewandtem, selbstbewußtem Benehmen sei. Der Kastellan hatte alle Aussteigenden vergeblich gemustert, jetzt aber trat er mit seiner tiefsten Verbeugung zu der Dame heran und sagte:
»Guten Tag – willkommen! Nicht wahr, Ihr seid Miß Amy, Señorita Lady Lindsay?«
Ein ganz kurzes, aber goldig helles Lachen drang durch den Schleier, gerade, als ob ein Rotkehlchen einen abgerissenen Jubelton getrillert hätte, und dann erklang die Antwort auf die seltsame Frage des Kastellans:
»Ja, mein Freund, ich bin Amy Lindsay. Und wer seid Ihr?« – »Oh, Doña Lady Señorita, ich bin Señor Juan Alimpo, der Kastellan auf Schloß Rodriganda. Das sagt meine Elvira auch.«
Wieder erklang der kurze, melodische Triller, denn der Nachsatz des wackeren Kastellans war ja ganz geeignet, die Heiterkeit der Dame zu erregen, und sie fragte:
»Und wer ist diese gute Elvira?« – »Diese Elvira ist meine Frau, Miß Amy Señorita Lindsay.« – »Ach so! Und wollt Ihr mir nun wohl sagen, ob Dir allein hier seid, um mich abzuholen?« – »O nein, Lady Lindsay Doña! Meine gnädige Condesa ist da. Sie ist in einer der ersten Locandas abgestiegen und erwartet Euch dort zum Gruß.« – »So führt mich hin, Señor Alimpo.«
Der Kastellan gab dem Kutscher einen Wink, sich des Gepäcks anzunehmen, und schritt in stolzer Haltung vor der Engländerin her, um ihr den Weg zu zeigen. Der gute Alimpo war sich bereits jetzt bewußt, daß diese »Miß Lady Amy Señorita Lindsay« seine ganze Verehrung erlangen werde. Sie war gar nicht so stolz wie so manche spanische Dame; ihr Lachen war süß wie das Gezirpe eines Heimchens, und ihre Stimme klang so eigentümlich voll und rein, als sei sie von einem großen Musikmeister partout dazu gestimmt worden, recht tief in alle Herzen zu dringen.
Rosa stand am Fenster ihres Zimmer und sah die Freundin kommen. Sie eilte ihr entgegen. Draußen vor der Zimmertür trafen sie sich. Die Fremde schlug den Schleier zurück, und nun blickte Alimpo in ein so zauberisch mildes, blondes Mädchenangesicht, daß er ganz vergaß, sich zu entfernen, um nicht Zeuge des Bewillkommnungskusses zu sein. Erst ein fragender Blick aus dem dunklen Auge seiner Herrin machte ihn auf seine Unhöflichkeit aufmerksam. Er drehte sich also schleunigst um und kehrte nach dem Hausflur zurück, wo er auf den Kutscher stieß, der soeben unter der Last des Gepäcks dahergekeucht kam.
»O heilige Madonna! War das ein Gesicht!« rief der Kastellan ganz enthusiastisch. »Und dieses Haar! Nein, so ein Haar! Wie Gold! Nein, noch viel goldener als Gold! Und dieser Kuß! Donnerwetter, ich wollte, den hätte ich bekommen an der Stelle der – hm! Ja! Was stehst du denn da und gaffst mich an? Schaffe Koffer und Schachteln nach dem Wagen und kümmere dich nicht um Dinge, für die du keinen Geschmack haben kannst.«
Der gute Alimpo hatte erst jetzt bemerkt, daß der Rosselenker mit weit aufgerissenem Mund bereitstand, seine zarten Gefühlsgeheimnisse zu verschlingen. Er schleuderte ihm einen vollständig vernichtenden Blick zu und wandte sich, um in der Nähe des Zimmers seiner Herrin auf die Befehle der letzteren zu warten.
Wer die beiden Mädchen jetzt hätte belauschen können, hätte wahrlich nicht gewußt, welchem von ihnen er den Preis der Schönheit zuerteilen sollte. Die Engländerin gehörte keineswegs in die Kategorie jener langen, dünnen, starkknochigen und langzähnigen Ladies, die den Kontinent unsicher zu machen pflegen. Sie hatte Schleier und Mantel abgelegt und stand nun da wie ein verkörpertes Märchenbild, wie eine Melusine, die geschaffen ist, ohne es selbst zu wissen alle Herzen gefangenzunehmen. Sie war eine Schönheit, an der sich der Pinsel des Malers und die Feder des Dichters vergebens versucht hätten.
Die Begrüßung war vorüber und die nötigen ersten Fragen und Antworten ausgetauscht. Nun standen die jungen Damen am Fenster, in heiterem Geplauder das rege Leben musternd, das der Jahrmarktsmorgen vor ihren Augen entfaltete. Da erhob die Engländerin den Finger und sagte, hinauszeigend:
»Sieh, Rosa, wer ist das?« – »Ah, ein Offizier! Ein Husar!« – »Kennst du ihn?« – »Nein. Es ist kein Spanier; der Uniform nach muß es ein Franzose sein.«
Es war Mariano, der auf seinem Weg nach Rodriganda jetzt durch Pons kam. Wer ihn in der kleidsamen Husarentracht und in so stolzer, sicherer Haltung auf seinem feurigen Hengst sitzen sah, hätte nie vermutet, daß dieser junge Mann das Ziehkind einer Räuberbande sei. Ein als Diener verkleideter Brigant folgte ihm in vorgeschriebener Entfernung.
Er ritt auf die Locanda zu, um sich und dem Pferd hier eine Erholung zu gönnen; aber gerade quer vor seiner Richtung stand ein ziemlich hoher Karren, auf dem der Besitzer desselben Apfelsinen verkaufte. Anstatt auszubiegen, nahm Mariano seinen Hengst empor und flog so graziös über den Karren hinweg, als sei dieser nur ein wenige Zoll hohes Hindernis gewesen.
»Herrlich!« rief Rosa, in die Hände klatschend. – »Welch ein Reiter!« meinte auch Amy, während ihre Augen bewundernd auf dem Jüngling ruhten.
Dieser musterte das Haus, in dem er einzukehren gedachte, und dabei schweifte sein Blick über das Fenster, an dem die beiden Mädchen standen. Sie sahen, wie er zusammenzuckte, als sei er auf das freudigste überrascht worden, sie sahen sogar, daß er ganz unwillkürlich den Zügel anzog, als ob er halten wollte, sich aber sofort zusammenraffte. Aber noch einen zweiten, blitzschnellen Blick warf er hinauf, und dann sprang er vom Pferd.
»Hast du gesehen«, fragte Amy, deren Wangen sich gefärbt hatten, »daß er nach dir blickte?« – »Nach mir? O nein. Dieser Blick galt dir. Ich habe es ganz genau gesehen.« – »Das ist unmöglich!« lächelte die Engländerin, beinahe ein wenig befangen. »Du bist so schön, so stolz, auf dich muß jedes Auge fallen.« – »Weißt du, meine gute Amy, daß du noch viel schöner bist als ich? Du glaubst es nicht? Nun gut, so werde ich es dir beweisen.« – »Womit, Rosa? Du machst mich neugierig.« – »Durch einen Schiedsrichter.« – »Ach, das ist ja herrlich!« lachte die Engländerin. »Wer soll dieser Schiedsrichter sein? Doch nicht etwa dieser gute Señor Alimpo, der mich Miß Señorita Amy Doña Lady Lindsay nennt?« – »Nein, dieser nicht, meine Liebe. Unser Alimpo ist ein sehr treuer Diener, den ich deiner Freundlichkeit empfehle, aber für das schwierige Amt eines Schiedsrichters ist er nicht geschaffen, er hat ohne ›seine Elvira‹ kein Urteil. Aber wir haben jetzt jemand auf Schloß Rodriganda, der dir sagen wird, daß du schöner bist als ich.« – »Wer ist das?« – »Unser Arzt.« – »Ein Arzt? Ach, was versteht ein Arzt von Schönheit? Er hat seine Tinkturen, Mixturen und Salben. An ihnen übt er sein Urteil.«
Amy sagte das mit einem so hübsch gelungenen, allerliebsten Rümpfen ihres feinen, zartbeflügelten Näschens, daß Rosa lachen mußte, dann aber schnell entgegnete:
»Oh, ein Arzt braucht nicht stets an seine Salben zu denken; Doktor Sternau ist …« – »Sternau?« wurde sie von der Freundin unterbrochen. »Sternau ist ja ein deutscher Name. Hast du mir nicht einmal erzählt, daß euer Arzt Cielli heißt? – »Allerdings; aber dieser Cielli ist verabschiedet worden. Denke dir, meine liebe Amy; mein Vater wird wieder sehend werden.«
Die Engländerin blickte schnell empor und sah einen Strahl aus dem Auge der Freundin leuchten, der mehr als Freude, der Begeisterung bedeutete.
»Wäre es möglich?« fragte sie. »Oh, welch ein Glück! Erzähle, erzähle mir schnell, Rosa!« – »Ja, ich erzähle es dir, aber nicht hier, sondern während der Fahrt im Wagen. Wir dürfen Vater nicht warten lassen, er freut sich sehr, dich begrüßen zu können.«
Rosa gab Alimpo den Befehl, anzuspannen, und nur wenige Minuten später verließen sie das Zimmer, um einzusteigen.
Draußen vor der Einfahrt standen die beiden Pferde des Husaren. Mariano war in die Gaststube getreten und hatte sich Wein geben lassen; aber er trank ihn nicht, er dachte gar nicht an das Trinken, denn er sah nur die beiden wunderbaren blauen Augen vor sich, die so voll offener Bewunderung auf ihn niedergeleuchtet hatten. Sie hatten ihn so verwirrt, daß er nicht einmal die herrschaftliche Equipage bemerkte, die draußen stand.
Jetzt hörte er Pferdegetrappel vor der Tür. Er erhob sich leicht und warf einen Blick durch das Fenster. Da sah er die Equipage, vor welche der Kutscher soeben die Pferde spannte. Es war ihm, als ob ein elektrischer Schlag seinen Körper durchbebe, und mit zwei raschen Schritten stand er unmittelbar am Fenster, um mit weitgeöffneten Augen den Wagenschlag anzustarren, an dem er die Gold in Weiß gemalte Grafenkrone und darunter die beiden Buchstaben R und S erblickte.
Er fuhr sich mit der Hand an die Schläfe, wo er den Puls laut hämmern fühlte. Da sah er ja das verkörperte Bild seiner Träume! Und diese Träume waren doch nicht Träume, sondern Wirklichkeit gewesen. Es wogte und wallte in ihm wie ein unendliches Entzücken; aber er faßte sich und winkte den Wirt herbei.
»Wem gehört dieser Wagen?« fragte er denselben. – »Das ist die Equipage des Grafen Emanuel de Rodriganda«, lautete die Antwort. – »Rodriganda?« erklang es langsam und leise. »Und was bedeutet das S?« – »Der Graf heißt Emanuel von Rodriganda-Sevilla. Die Dame, die soeben einsteigt, ist seine Tochter Condesa Rosa.« – »Ah! Und die andere?« – »Eine Fremde. Der Kastellan, Señor Juan Alimpo, hat mir gesagt, daß sie eine Freundin der Condesa sei, eine Engländerin, die nach Rodriganda zu Besuch kommt.«
Der Wirt trat zurück; Mariano blieb stehen. Er wußte nicht, worauf er seinen Blick richten sollte, auf das jetzt noch unverschleierte Gesicht der Engländerin oder auf das Wappen, dessen Züge ihm wie die Schriftzeichen eines Evangeliums entgegenglänzten. Jetzt hatten die Damen im Wagen Platz genommen; und eben war der Wirt hinausgeeilt, um sich zu empfehlen, da traf Amys Auge das Fenster, an dem der Husar stand. Eine tiefe Glut zog über ihre wunderbaren Züge. Die Pferde zogen an, und der Wagen rollte davon.
Mariano griff sich abermals an den Kopf. Wachte oder träumte er? Nein, er wachte, und nun wollte er auch nicht träumen und säumen. Er warf ein Geldstück auf den Usch und eilte hinaus.
»Vorwärts!« sagte er, sich auf den Rappen schwingend. – »Schon?« fragte der Diener, sich über die Eile wundernd.
Er bekam keine Antwort und mußte sich sputen, den Leutnant, der im Galopp die Gasse hinunterjagte, nicht aus den Augen zu verlieren.
Erst dann, als Mariano die Stadt weit hinter sich hatte und die Equipage in einiger Entfernung vor sich erblickte, zügelte er den Lauf seines Pferdes. Die Aufwallung seines Bluts legte sich, und er begann ruhiger nachzudenken. Konnte diese Begegnung nicht ein einfacher, ganz und gar bedeutungsloser Zufall sein? Konnte es nicht mehrere Familien geben, welche die Buchstaben R und S in ihrem Wappen trugen? Warum jagte er wie unsinnig hinter dem Wagen her? Rodriganda war doch sein Ziel, und er sah die beiden Damen jedenfalls wieder, auch wenn er sie jetzt hier aus den Augen verlor!
Er ritt also langsamer und sah die Equipage hinter einer Krümmung der Straße verschwinden. Im nächsten Augenblick aber horchte er erschrocken auf; es war ein Schuß gefallen und noch einer! Gerade hinter jener Krümmung kräuselten sich zwei Rauchwölkchen empor. Hatte man auf die Equipage geschossen?
Mariano gab dem Pferd die Sporen und sauste vorwärts. Kaum eine Minute nach den beiden Schüssen hatte er die Krümmung erreicht und sah nun, was geschehen war.
Der Wagen der Gräfin hielt mitten auf der Straße, und vor jenem lagen die beiden Pferde, die durch die Köpfe geschossen waren. Hinter dem Wagen kauerte der Kutscher, vor Angst an allen Gliedern zitternd, und von dem tapferen Kastellan Juan Alimpo war keine Spur zu sehen. Auf dem Tritt des Wagens aber stand ein mit einer Kapuze verhüllter Mann, der den beiden Damen ein Pistol entgegenstreckte, und neben ihm am Boden stand ein zweiter, der das Gewehr angelegt hielt.
Bei den lauten Hufschlägen seines Pferdes drehten sich die beiden Vermummten herum.
»Verdammt!« murmelte Henrico, der Mariano sofort erkannte. – »Was geht der uns an!« rief Juanito. »Herunter vom Pferd mit ihm.«
Darauf legte er seine Büchse auf Mariano an und drückte los. Der junge Mann war aber vorsichtig gewesen. Als der Schuß krachte, warf er seinen Leib zur Seite, und die Kugel flog an ihm vorüber. Im nächsten Augenblick riß er den Säbel aus der Scheide.
»Fahre dahin, Schurke!«
Zugleich als er diese Worte rief, hieb er den Räuber mitten über den Kopf, daß jener zusammenbrach. Der Hieb war so furchtbar, daß der Säbel zerbrach; daher zog Mariano das Pistol, sprang vom Pferd und hielt es dem anderen Räuber entgegen. Dieser, anstatt sich zu ergeben, erhob die eigene Waffe, da krachte Marianos Schuß, und Henrico stürzte zu Boden. Die Kugel war ihm in die Stirn gedrungen.
»So, diese haben ihren Lohn«, meinte der Jüngling, indem er mit einer tiefen Verbeugung sich zu den Damen wandte. »Sind Sie verletzt, meine Damen?«
Er stand wie ein junger Kriegsgott vor ihnen, das Pistol noch in der Hand. Amy schwieg, aber eine tiefe Röte zog über ihr Angesicht. Rosa hatte sich am schnellsten gefaßt und antwortete:
»Nein, wir sind glücklicherweise unbeschädigt, denn Sie kamen gerade zur rechten Zeit, um das Schlimmste zu verhüten. Nehmen Sie unseren innigsten Dank. Señor. Ich bin die Condesa Rodriganda, und diese Dame ist Amy Lindsay, meine Freundin.«
Mariano verneigte sich auf das höflichste und antwortete:
»Ich nenne mich Alfred de Lautreville, meine Damen. Darf ich so glücklich sein, Ihnen meine Dienste anzubieten?« – »Wir scheinen leider auf dieselben angewiesen zu sein«, lächelte Rosa, »denn meine Diener sind ja spurlos verschwunden.« – »Oh«, lachte er, »der eine steckt da hinter dem Wagen. Komme doch einmal her, Bursche!«
Der Kutscher stand vom Boden auf, wo er sich zusammengekauert hatte, und kam in höchster Verlegenheit herbeigehinkt.
»Warum versteckst du dich, anstatt den Herrschaften beizustehen?« fragte Mariano. – »Ach, Señor, ich lag ja hinter dem Wagen«, lautete die Antwort – »Ja, aber warum lagst du da? Ein so starker Kerl wie du muß es doch mit zehn solchen Strauchdieben aufnehmen!« – »Señor, das kann ich auch, aber ich dachte mir nur, sie würden mich ein wenig erschießen. Übrigens hat es Señor Juan, der Kastellan, ebenso gemacht.« – »Wo ist er?« – »Er steckt da drüben hinter dem Busch.«
Der Kutscher deutete nach einem Strauchwerk, hinter dem sich allerdings eben jetzt der wackere Kastellan langsam erhob. Er hatte mit dem Gesicht auf der Erde gelegen, um von dem ganzen Unglück gar nichts zu sehen. Als er jetzt vorsichtig herüberblickte und erkannte, daß die Gefahr vorbei sei, sprang er vollends auf, machte zwei Fäuste und kam herbei.
»Ach, Condesa«, rief er, »ich glaube gar, man will uns überfallen! Wo sind die Schufte? Ich werde sie zerquetschen und zermalmen!«
Mariano wollte antworten, doch blieb ihm das Wort bei dem Anblick Alimpos auf der Zunge stecken. Wo hatte er diesen Mann bereits gesehen? Dieser kleine Kerl, dieses furchtsame Gesichtchen, dieses eigentümliche Bärtchen!
Rosa antwortete an seiner Stelle:
»Zum Zermalmen kommst du zu spät. Du hättest vorher nicht fliehen dürfen.« – »Fliehen? Bin ich geflohen, meine gnädige Condesa?« fragte er verlegen. – »Natürlich! Und versteckt hast du dich!« – »Versteckt? Ja, allerdings, das mußte ich doch. Ich ließ mich nicht erschießen, sondern entfloh und versteckte mich, um Euch dann später beistehen zu können.« – »So hast du eine wunderbare Methode, uns zu retten«, lächelte sie. »übrigens kommt deine berühmte Hilfe nun leider zu spät. Da liegen die beiden Menschen. Wer sind sie?«
Der Diener Marianos war vom Pferd gestiegen und hatte sich darüber gemacht, die beiden Toten von ihren Kapuzen zu befreien. Das infolge des Säbelhiebs stark blutende Gesicht des einen Banditen war nicht zu erkennen; aber als er die Umhüllung des anderen entfernt hatte, rief der Kastellan:
»Heilige Lauretta, das ist ja unser Flüchtling! Erkennt Ihr ihn, Doña Rosita?« – »Wahrhaftig!« stimmte die Gräfin bei. »Oh, ihn hat die Strafe schnell ereilt!«
Es war gut, daß sie zu sehr mit dieser Entdeckung beschäftigt war und so keine Zeit fand, die beiden Husaren zu beobachten. Diese hatten sich über den Toten gebeugt, und der Diener flüsterte:
»Alle Teufel, das ist ja Henrico.« – »Pst! Laß dir ja nichts merken!« warnte Mariano. Dann richtete er sich wieder empor und fragte die Gräfin: »Sie kennen diesen Menschen, Doña?« – »Ja. Er gehörte zu einer Mörderbande, die einen Bewohner des Schlosses überfiel. Er wurde gefangengenommen. Vier wurden getötet, und nur einer entkam.«
Der Jüngling warf einen warnenden Blick auf seinen Diener und meinte nachlässig:
»So ist dieser hier vielleicht der Entkommene. Man muß die Sache sofort in Pons anzeigen, denn diese Stelle gehört noch zum Gebiet der Stadt.« – »Und wir? Was geschieht mit meinem Wagen und den armen Pferden?« – »Sie dürfen mit dieser unangenehmen Sache nicht länger belästigt werden. Ich bitte um die Erlaubnis, Sie nach Rodriganda führen zu dürfen.« – »O gern, Señor! Aber wir haben keine Pferde!« – »Nun, so spannen wir das meine und das meines Dieners vor und verlassen diesen Ort, während mein Diener und Ihre Leute hier zurückbleiben, um Anzeige zu machen und die Leichen zu bewachen, bis dieselben aufgehoben werden. Sie können ja dann in einem Mietwagen nachkommen.« – »Dieser Vorschlag wird der beste sein, Señor«, stimmte Rosa bei. »Schnell, ihr Leute, nehmt den toten Pferden das Geschirr ab! Mir graut es vor dieser Stätte.«
In kurzer Zeit waren die beiden Pferde vorgespannt, und der Leutnant schwang sich auf den Bock. Da trat der Kastellan an den Wagenschlag und bat:
»Meine gnädigste Condesa, wollt Ihr mir eine große Gnade erweisen?« – »Welche?« – »Sagt meiner Elvira, daß ich nicht erschossen worden bin, sondern daß wir gesiegt haben!« – »Ja, das werde ich tun, Alimpo«, versprach sie ihm.
Fast wäre dem Leutnant der Zügel aus den Händen gefallen. Elvira, Alimpo, das waren die Namen, die ihm stets im Gedächtnis geblieben waren. Sollte er sich wirklich so ganz unerwartet auf der richtigen Fährte befinden?
»Und die Anzeige werde ich sogleich erstatten«, meinte der Kastellan. »Einen solchen Raubanfall muß man der Obrigkeit melden.«
Bei den letzten Worten fiel es Mariano wie Schuppen von den Augen. Ja, dieser Alimpo war der Mann, der ihn so oft auf den Händen getragen und auf den Knien geschaukelt hatte! Aber er konnte diesen Gedanken jetzt nicht auf sich einwirken lassen, denn die Gräfin gab das Zeichen zur Weiterfahrt.
Der Kastellan blickte dem dahinrollenden Wagen so lange nach, wie er ihn sah, darauf wandte er sich an den Husaren:
»Nicht wahr, Ihr seid der Diener dieses Offiziers?« – »Ja.« – »Darf man erfahren, wie er heißt?« – »Er ist der Leutnant Alfred de Lautreville.« – »Also ein Franzose?« – »Ja! Unser Regiment steht in Paris.« – »Aber dennoch sprecht Ihr das Katalonische so gut, als ob Ihr hier geboren wäret. Was tut Ihr in Spanien?« – »Hm, das läßt sich nicht sagen«, antwortete der Diener in stolzem Ton. »Wir sind nämlich wegen einer diplomatischen Mission hier.« – »Ah!« rief Alimpo. »So ist Euer Leutnant also ein Diplomat!« – »Allerdings.« – »Donnerwetter, ein ganzer Kerl! So jung und schon ein Diplomat! Und dabei ein Offizier, vor dem man alle Hochachtung haben muß. Seht nur, wie er diesem Menschen den Kopf zugerichtet hat!« Zum Kutscher gewandt, fuhr er fort »Hast du dir diesen Señor Leutnant de Lautreville genau angesehen?« – »Ja.« – »Was hast du bemerkt?« – »Nichts!« – »Ach, du mußt doch etwas bemerkt haben! Wie lange dienst du unserem gnädigen Grafen?« – »Über dreißig Jahre.« – »So hast du ihn also auch in seinen jüngeren Jahren gekannt.« – »Das versteht sich!« – »Nun gut. Denke einmal an jene Zeit zurück und vergleiche unseren Grafen mit diesem Leutnant de Lautreville. Merkst du etwas?« – »Nein!« antwortete der Kutscher kopfschüttelnd. – »Du bist ein Esel! Verstanden?« – »Ja«, antwortete der Kutscher gleichmütig und machte dabei ein so selbstzufriedenes Gesicht, als ob ihm die größte Höflichkeit gesagt worden wäre.
Unterdessen rollte der Wagen gegen Rodriganda zu.
Rosa dachte über die Frage nach, wer die Räuber wohl zu dem Überfall gedungen haben möge. Amy hingegen hing mit ihrem Blick an dem jungen Mann, der vor ihr auf dem Bock saß. Wie blitzschnell war er Meister der beiden Räuber geworden! Wie hatten seine Augen dabei geleuchtet! Sie schloß die ihrigen, um sich dieses Bild recht deutlich zu vergegenwärtigen.
So verhielten sie sich wortlos, bis der Wagen durch das Dorf rollte und das Schloß erreichte. Vor dem hohen Portal desselben stand ein langer, dürrer Mann, der mit verwundertem Blick die Kommenden betrachtete.
»Wer ist dieser Mann?« fragte Amy. – »Es ist Señor Gasparino, unser Sachwalter«, antwortete Rosa.
Mariano hörte diesen Namen, Gasparino war ja der Mann genannt worden, auf dessen Befehl er umgewechselt worden war. Und hier oben, gerade über dem Portal des Schlosses, erblickte er ein großes, in Stein gehauenes Wappen mit der Grafenkrone und den Initialen R und S. Der große, reiche Bau des Schlosses machte einen unerklärlichen Eindruck auf ihn, es war ihm, als sei er hier an den Ort gelangt, wo alle seine Jugendträume ihre Wurzeln schlugen, und er sprang vom Bock mit der Empfindung herab, daß sein Leben hier eine vollständig neue Gestaltung finden müsse.
9. Kapitel
Als der Wagen vor der Rampe des Schlosses angehalten hatte und der Leutnant vom Bock gesprungen war, um den Damen die Hand zum Aussteigen zu bieten, da ein Diener zufälligerweise nicht zugegen war, ruhte das Auge des Notars, der unter dem Eingang stand, mit finsterem Erstaunen auf der Gestalt des jungen Mannes.
»Was ist das?« murmelte er. »Wer ist dieser Mensch? Welche Ähnlichkeit! Das ist ja ganz genau Graf Emanuel wie er vor dreißig Jahren aussah! Ist das Zufall, oder ist es etwas anderes?«
Er sah nur einen einzigen Augenblick lang den scharfen, forschenden Blick des Offiziers auf sich ruhen, aber es war ihm doch, als sei dieser Blick der Ausdruck einer Frage, die eine Gefahr enthielt.
Die Damen waren ausgestiegen und kamen die große Freitreppe empor. Der Notar trat ihnen mit einem verbindlichen Lächeln entgegen, verneigte sich tief vor ihnen und sagte zur Gräfin:
»Ich bin ganz glücklich, Sie als die erste begrüßen zu können. Darf ich bitten Condesa, mich den Herrschaften vorzustellen?« – »Gern«, antwortete Rosa.
Als sie zunächst den Namen Gasparino Cortejo nannte, fiel abermals ein eigentümlich forschender Blick aus dem Auge des Leutnants auf den Notar. Und als dieser letztere den Namen Alfred de Lautreville hörte, glitt es wie ein Zug der Beruhigung über sein scharfes Vogelgesicht. Der Offizier war ein Franzose – die Ähnlichkeit konnte also nur ein Zufall sein.
Jetzt war die Ankunft der Equipage im Schloß bemerkt worden, und es kamen Graf Alfonzo, Doktor Sternau und die Schwester Clarissa herbei, um die Gäste zu begrüßen. Man bemerkte natürlich die fremden Pferde vor dem Wagen, und Alfonzo fragte nach der Ursache dieses auffälligen Umstands.
»Señor des Lautreville hat die Güte gehabt, uns seine Pferde zu leihen, da die unsrigen erschossen worden sind«, erklärte Rosa. – »Erschossen?« fragte der Advokat erstaunt. »Wieso? Von wem?« – »Von demselben Mann, der uns heute nacht entflohen ist«
Sie erzählte den Vorgang, der bei den Zuhörern die größte Teilnahme erweckte. Dem jungen Offizier dankte man lebhaft für seine Tapferkeit und auch Cortejo reichte ihm die Hand. Er war sehr erfreut durch den Tod der beiden Briganten, denn nun hatte er keine Zeugen seiner Schuld mehr zu befürchten und bemerkte:
»Dieser Überfall wird sehr streng und auch wohl augenblicklich untersucht werden, denn es ist die Untersuchungskommission hier angekommen, an ihrer Spitze der öffentliche Ankläger aus Barcelona, der sich jetzt bei dem Grafen befindet. Die Herren haben nur noch die Condesa zu vernehmen, dann sind sie mit der Untersuchung des gestrigen Raubanfalls fertig und können sogleich nach Pons fahren.«
Man begab sich nun zu dem Grafen, bei dem man den Oberrichter fand. Graf Emanuel bewillkommnete die Freundin seiner Tochter mit Herzlichkeit und bedankte sich bei dem Leutnant mit großer Wärme für die Rettung der beiden Damen.
»O bitte«, wehrte Mariano ab, »es handelt sich hier keineswegs um eine so außerordentliche Heldentat. Wenn ich ja etwas gerettet habe, so ist es nur die Börse, nicht aber das Leben der Damen.« – »Nein«, fiel Rosa ein, »es ist in Wirklichkeit unser Leben, das wir Ihnen zu verdanken haben, denn wir wollten das Geld nicht hergeben, und die beiden Menschen legten bereits auf uns an, um uns zu erschießen. Sehen Sie unser Haus als das Ihrige an, Señor. Wir werden Sie auf keinen Fall so bald von Rodriganda fortgehen lassen.«
Mariano machte eine abwehrende Handbewegung und entgegnete:
»Ich tat meine Pflicht, als ich Sie nach Rodriganda geleitete, darf aber nicht wagen, Ihre Güte zu mißbrauchen.« – »Dies ist kein Mißbrauch«, fiel der Graf schnell ein. »Sie werden uns nur zu erhöhter Dankbarkeit verpflichten, wenn Sie unsere Einladung annehmen. Ich erwarte ganz bestimmt, daß Sie sich bei uns von Ihrer Reise ausruhen. Rosa wird Ihnen sofort Ihr Zimmer anweisen lassen.«
Es war nicht bloß die Höflichkeit, die den Grafen diese Worte sprechen ließ. Er war blind und konnte den Offizier nicht sehen, aber er hörte die Stimme desselben, und in dieser Stimme lag ein unerklärliches Etwas, das den Blinden mit süßer Gewalt fesselte.
Der Notar stand dabei und verglich die Züge der beiden Männer. Er mußte sich innerlich sagen, daß die Ähnlichkeit eine ganz ungewöhnliche sei, und so beschloß er im stillen, auf seiner Hut zu sein.
Als sich nach einiger Zeit die Herrschaften trennten, wurde der Leutnant von einem Diener nach den für ihn bestimmten Gemächern geleitet. Er erhielt drei Räume, ein Vorzimmer, ein Wohn– und ein Schlafzimmer. Er legte in dem Wohnzimmer seinen Degen ab und trat in den Schlafraum, um sich der Waschtoilette zu bedienen. Dort stand die Kastellanin, die nachgesehen hatte, ob sich alles in Ordnung befinde, und nun von ihm überrumpelt wurde.
Bei dem Schall seiner Schritte drehte sie sich nach der Tür. Sie wußte, daß der Gast ein französischer Offizier sei, und wollte ihn als solchen mit einem recht höflichen Knicks begrüßen. Da fiel ihr Auge auf sein Gesicht und – sie vergaß den Knicks. Mit großen, weitgeöffneten Augen starrte sie ihn an und rief:
»Herr, mein Gott, stehe mir bei! Graf Emanuel!«
Dieser Ausruf machte einen solchen Eindruck auf Mariano, daß er einen Schritt zurücktrat. Die Frau, die hier vor ihm stand, kannte er. In ihrem Schoß hatte er gelegen und oft in ihr gutes, fettglänzendes Gesicht geblickt.
»Elvira! Nicht wahr, Ihr seid die Kastellanin Elvira?« – »Ja«, antwortete sie, tief aufatmend. »Ihr kennt mich, Señor?« – »Ja.« – »Woher?« – »Ich hörte Euren Mann von Euch sprechen. Aber sagt, warum nanntet Ihr mich soeben Graf Emanuel?« – »Señor, das ist wunderbar! Ihr seht gerade und leibhaftig so wie der alte Graf Emanuel aus, als er zwanzig Jahre zählte.« – »Wirklich? Das ist ein Naturspiel, das zuweilen vorkommt.« – »Aber so genau, wie aus den Augen geschnitten. Wenn das mein Alimpo sähe!« – »Er hat mich ja bereits gesehen.« – »Ach ja, Ihr sagtet ja, daß er von mir gesprochen habe.« – »Hat Condesa Rosa seinen Gruß ausgerichtet?« – »Seinen Gruß? Nein. Hat er mich grüßen lassen?« – »Ja.«
Da zog sich ihr Gesicht ganz entzückt noch mehr in die Breite, und sie sagte mit strahlenden Augen:
»Ja, so ist er. Er läßt mich grüßen! Oh, wie schön von ihm! Aber was läßt er mir denn sagen?« – »Daß er nicht erschossen worden sei.« – »Mein Gott, ja, ich hörte von dem Diener, daß er mit angefallen worden ist. Wie gut für unsere gnädige Condesa, daß sie sich unter seinem Schutz befunden hat.« – »Allerdings«, lächelte Mariano, »er läßt Euch sagen, daß er sehr tapfer gesiegt hat.« – »Das glaube ich, ja, das glaube ich! Mein Alimpo ist tapfer, er ist sogar zuweilen ganz und gar verwegen und tollkühn, ich muß ihn mehr im Zaum halten! Euch aber, Señor, will ich nach der Bildergalerie führen, wo das Porträt des Grafen hängt. Er ließ es gerade in dem Jahr anfertigen, in dem der kleine Don Alfonzo geboren wurde. Ihr werdet sehen, daß Ihr diesem Bild genau gleicht wie ein Ei dem anderen. Vorher jedoch ruht Euch aus. Ihr habt mit Räubern gekämpft und werdet gar erschrecklich müde sein.«
Sie wollte sich zurückziehen, er aber hielt sie zurück und sagte:
»Bleibt, Señora, oder habt Ihr keine Zeit, mir einige Fragen zu beantworten?« – »Für Euch habe ich immer Zeit, Señor«, antwortete sie. »Euch und Señor Sternau könnte ich keine Bitte abschlagen.« – »Ihr meintet den deutschen Arzt? Was ist das für ein Mann?« – »Oh, ein Mann, ein Mann – ja, beinahe so brav und tüchtig wie mein Alimpo. Er ist aus Paris gekommen und wird unseren Grafen sehend machen. Die berühmtesten Ärzte haben vor ihm weichen müssen. Gestern wurde er von Räubern angefallen.« – »Das hörte ich vorhin. Kennt man keinen Grund, weshalb er getötet werden sollte? Hat er vielleicht einen Feind?« – »Der? Einen Feind? Nein, sicher nicht! Den müssen ja alle Menschen liebhaben.«
Der Angriff auf den Arzt gab Mariano viel zu denken. Es war ganz außer allem Zweifel, daß der Capitano die Hand dabei im Spiel hatte; dann aber mußte es jemand geben, der den Tod des Arztes wollte und den Capitano dafür bezahlt hatte. Dieses Schloß Rodriganda steckte voll finsterer Geheimnisse, die aufgeklärt werden mußten.
»Ich werde, wie es scheint, einige Zeit hier verweilen«, fuhr Mariano fort, »Und darum wird es zu entschuldigen sein, wenn ich mich über die Bewohner des Schlosses zu unterrichten wünsche. Darf ich mich bei Euch erkundigen?« – »Tut es immerhin, Señor. Ich werde Euch gern Auskunft erteilen.« – »Schön! Da ist zunächst dieser Señor Gasparino Cortejo. Was ist das für ein Mann?« – »Wenn ich aufrichtig sein soll, Señor Leutnant, so kann kein Mensch diesen Cortejo leiden. Er steht seit langer Zeit als Sachwalter im Dienst des Grafen und ist in geschäftlichen Dingen seine rechte Hand. Er ist stolz und finster, und man hält ihn für einen Mann, der das Vertrauen des Grafen zu seinem eigenen Vorteil benutzt. Das sagt mein Alimpo auch.« – »Sodann diese Doña Clarissa?« fragte Mariano. – »Sie ist eine Stiftsdame und seit einiger Zeit als Duenja der Condesa hier. Sie ist sehr fromm und verkehrt am liebsten mit Gasparino. Man liebt sie nicht.« – »Und der junge Graf?« – »Dieser ist erst seit einigen Tagen anwesend. Er war in Mexiko.« – »Wie lange?« – »Er war noch Knabe, als er hier abgeholt wurde.« – »Ah, das ist sonderbar! Ein Graf gibt seinen Stammhalter als Kind über die See hinüber in ein Land, wo die unsichersten Zustände herrschen und das Leben eines Menschen nichts gilt.« – »Oh, Señor, es gab Umstände, die den Grafen veranlaßten, es zu tun.« – »Darf man diese Umstände erfahren?« – »Gewiß, Señor, sie sind ja allbekannt, das sagt mein Alimpo auch. Der Oheim des gnädigen Grafen, der Don Ferdinando hieß, war als jüngerer Sohn von der Nachfolge ausgeschlossen; er nahm sein Erbteil und ging nach Mexiko, wo er sich ankaufte und nach und nach ein steinreicher Mann wurde, daß er sein Vermögen gar nicht kannte. Er war unverheiratet geblieben und wollte den zweiten Sohn unseres Grafen, der damals zwei Söhne hatte, zum Erben einsetzen. Dabei aber stellte er die Bedingung, daß dieser Sohn ihm zur Erziehung übergeben werde. Don Emanuel ging darauf ein, weil es sich um ein ganz außerordentliches Vermögen handelte.« – »Der Knabe wurde also nach Mexiko gebracht?« – »Ja.« – »Wann?« – »Oh, ich erinnere mich noch ganz genau, denn es war gerade der Geburtstag meines guten Alimpo, als der Knabe abgeholt wurde, nämlich im Jahr 18**, den ersten Oktober.«
Marianos Augen wurden immer größer, und sein Puls schlug doppelt schnell, aber er beherrschte sich und fragte:
»Der Knabe hieß also Alfonzo?« – »Ja.« – »Er wurde abgeholt?« – »Ja.« – »Von wem?« – »Von dem Inspektor Don Ferdinandos, der zu diesem Zweck herübergekommen war.« – »Wie hieß er?« – »Pedro Arbellez. Ich habe mir diesen Namen ganz genau gemerkt, weil er so spaßhaft klingt.« – »War noch jemand bei dem Kind?« – »Nur die Frau, die seine Amme gewesen war.« – »Wie hieß diese?« – »Maria Hermoyes.« – »Wo schiffte sich Pedro Arbellez ein?« – »In Barcelona. Der Graf und die Gräfin begleiteten das Kind bis dahin; ich war auch dabei.« – »Begleiteten sie den Knaben bis an das Schiff?« – »Nein. Es lief wegen eines Sturmes nicht aus; darum blieb der Mexikaner noch zwei Nächte in einem Gasthof.« – »Wie hieß dieser Gasthof?« – »Zum großen Mann.«
Das stimmte ja ganz genau mit der Erzählung des toten Bettlers überein. Mariano hatte alle Mühe, seine Aufregung zu verbergen. Er nahm eine Miene an, als ob er an diesen Dingen ein ganz gewöhnliches Interesse finde, und fragte so gleichmütig wie möglich.
»Stand Señor Cortejo damals bereits im Dienst des Grafen?« – »Ja.« – »Ist er verheiratet?« – »Gewesen, ja.« – »Hat er Kinder?« – »Nein.« – »Hm, wißt Ihr nicht, ob er sehr nahe Verwandte hat, die Kinder besitzen?« – »Er hat weder Verwandte noch Freunde.« – »Lebt Don Ferdinando in Mexiko noch?« – »Nein. Er ist seit zwei Jahren tot.« – »Und Alfonzo hat ihn beerbt?« – »Ja, Señor. Er ist ungeheuer reich geworden.« – »Ihr sagtet, daß Don Emanuel zwei Söhne gehabt habe?« – »So ist es. Aber der Älteste starb bald darauf, als Alfonzo nach Mexiko gegangen war. Er war in Madrid, um Offizier zu werden, und bekam das Fieber, dem er erlag. Darum ist nun Alfonzo der einzige Sohn und wird die Grafenkrone erben.« – »Mir scheint, dieser Alfonzo sehe dem Señor Gasparino und der Doña Clarissa recht ähnlich.« – »Ach, Señor, habt Ihr dies auch bemerkt?« – »Die Ähnlichkeit ist beinahe auffallend.« – »Ja, das sagt mein Alimpo auch.« – »Ist Don Alfonzo beliebt?« – »Nein. Er war ein so lieber Knabe, und ich hab‘ ihn sehr viel auf diesen meinen Händen getragen, aber in Mexiko scheint er ganz anders geworden zu sein. Er verkehrt mehr mit Cortejo und Clarissa als mit seinem Vater und seiner Schwester.« – »Hm! Und nun diese Doña Amy Lindsay?« – »Dies ist eine Engländerin, die von unserer Condesa geliebt wird. Ihr Vater soll sehr reich sein. Weiter weiß ich nichts.« – »So bin ich also mit meinen Fragen zu Ende. Ich danke Euch, Señora.« – »So erlaubt, daß ich Euch auch eine Frage vorlege, Señor.« – »Tut es!« – »Seid Ihr vielleicht mit den Rodrigandas verwandt?« – »Nein. Mein Name ist Lautreville.« – »Oder sind die Lautrevilles mit den Cordobillas verwandt? Die gnädige Gräfin, unserer Condesa Mutter, war nämlich eine Cordobilla.« – »Nein, wir sind nicht mit ihnen verwandt.« – »Dann ist Eure Ähnlichkeit ganz unbegreiflich!« meinte die Kastellanin. »Und nun sagt mir noch, ob mein Alimpo bald wiederkommen wird.« – »Ganz sicher noch heute.« – »Ich danke Euch, Señor! Ich werde jetzt gehen. Wenn Ihr mich oder die Bedienung braucht, so dürft Ihr nur klingeln.«
Sie ging. Mariano schritt in tiefer Erregung in seinem Zimmer auf und ab. Was er erfahren hatte, war genug, jeden Tropfen seines Blutes in Wallung zu versetzen. Wenn seine Ahnung sich erfüllte, so war er der richtige, echte Erbe von Rodriganda, der Sohn des Grafen Emanuel, der Bruder der herrlichen Gräfin Rosa. Und dieser Alfonzo war ein untergeschobenes Kind, dessen Herkunft man nur bei dem Advokaten erfahren konnte. Vielleicht wußte doch auch der Capitano etwas davon.
Aber welchen Grund hatte dieser letztere, ihn nach Rodriganda zu senden? Das konnte Mariano nicht begreifen. Wenn er wirklich der Sohn des Grafen war, so war es doch gefährlich, ihn in die Nähe desselben zu bringen, da irgendein ganz zufälliger Umstand das Geheimnis entdecken konnte.
Während Mariano sich mit diesen Gedanken beschäftigte, saßen zwei zusammen, die sich von demselben Thema unterhielten, nämlich Gasparino Cortejo und Schwester Clarissa.
»Ja, es ist mir ein Stein vom Herzen«, gestand der erstere, »seit ich weiß, daß die Räuber tot sind. Dieser Leutnant konnte mir keinen größeren Gefallen tun, als sie erschlagen.« – »Desto bedenklicher ist aber seine Ähnlichkeit«, meinte die Schwester. – »Sie ist geradezu auffällig! Ich erschrak gewaltig, als ich ihn erblickte.« – »Ich ebenso! Wer ihn und Alfonzo neben dem Grafen sieht, hält ihn ganz sicher für den Sohn desselben.« – »Es ist mir ein Rätsel. Als Naturspiel ist die Ähnlichkeit denn doch zu bedeutend.« – »Hat vielleicht der Capitano …« – »Wo denkt Ihr hin, Señora! Ein Räuber ist niemals so unvorsichtig. Ich kann mir nur einen einzigen Grund denken.« – »Welchen?« – »Der Knabe, den wir den Briganten überließen, ist auch umgetauscht worden. Nun denkt der Capitano, er hat den meinigen noch, während es doch nicht der Fall ist.« – »Und der zweimal Umgetauschte wäre dann dieser Leutnant?« – »Ja.« – »Wie käme dieses Kind nach Frankreich zu den Lautrevilles?« – »Wer weiß das! In der Welt passiert gar vieles, was man für unmöglich hält.« – »Man muß schlau sein und diesen Leutnant ausforschen. Gott der Herr hat uns ja die List dazu gegeben, über unsere Gegner zu triumphieren«, meinte die Schwester salbungsvoll. – »Pah! Dazu bedarf es keiner großen List. Ein junger und unerfahrener Mensch ist leicht auszuholen. Ich werde sein Vertrauen sehr bald gewinnen und dann alles leicht erfahren können.« – »Weiß der Capitano, wessen Sohn damals umgewechselt wurde?« – »Nein.« – »Nun, dann ist es ja sehr leicht möglich, daß der Leutnant doch der richtige Rodriganda ist. Es kann ja Gründe geben, die den Räuber veranlaßten, diesen Menschen unter der Maske eines Leutnants nach Rodriganda zu schicken.« – »Das ist falsch. Der Leutnant ist nicht bei den Räubern aufgewachsen; das sieht man doch gleich bei dem ersten Blick. Dieses Äußere, diese Eleganz und Tournüre eignet man sich nicht unter Briganten an. Er scheint nicht eine gewöhnliche Bildung zu besitzen, wie aus den Worten hervorging, die ich ihn sprechen hörte. Nein, er ist kein Brigant.« – »Bei klarerem Nachdenken scheint es mir allerdings ebenso. Wäre er das Kind, das wir dem Capitano überließen, so würde er heute seine Kameraden nicht getötet haben!« – »Das ist der Umstand, der auch mich beruhigt. Aber dennoch war es eine Schwachheit von uns, darauf einzugehen, daß der Knabe nicht getötet werden sollte. Wer tot ist, der ist stumm und kann nicht mehr schaden.« – »Eine noch größere Schwäche war es von Euch, Señor, dem Capitano jenen Zettel zu unterschreiben. Man hält es für unglaublich, daß ein Jurist eine solche Dummheit begehen kann.« – »Ich befand mich ja in seiner Hand, meine teure Clarissa.« – »Das will mir nicht einleuchten! Ein Räuber tritt nicht vor den Richter, um jemand anzuklagen.« – »Nein, aber ein Räuber geht zum Grafen und bringt ihm seinen richtigen Sohn zurück. Das Dokument wird mir keinen Schaden tun. Der Hauptmann bezweckt mit demselben jedenfalls nur eine Gelderpressung.« – »Wie könnte er dem Grafen das Kind zurückbringen, da er ja gar nicht weiß, ob es dessen Sohn ist!« – »Er weiß es allerdings nicht; das heißt ich habe es ihm verschwiegen. Aber ein Bandit ist scharfsinnig. Er kann nachgeforscht haben. Und der Umstand, daß er sich weigerte, den Knaben zu töten, läßt mich vermuten, daß er von der Abstammung desselben eine Ahnung hat. Übrigens ist die Sache jetzt einfach: wenn er sich einbildet, mir gefährlich zu werden, so schieße ich ihn nieder.« – »Ja, mein Teurer«, sagte die Schwester mit einem frommen Augenaufschlag, »Es ist die Pflicht der Kinder Gottes, die Welt von dem Ungeziefer zu befreien, das im Staub kriecht. Was denkt Ihr nun von dieser englischen Lady? Ist sie nicht eine Schönheit?« – »Eine Schönheit ersten Ranges.« – »Und das sagt Ihr in einem so begeisterten Ton. Ich hoffe nicht, daß die Miß mir gefährlich wird.« – »Das hast du nicht zu befürchten. Du weißt, daß du die einzige bist, die mich von meiner schwächsten Seite kennengelernt hat.« – »Und ich bin die, welche mit deiner Schwachheit Nachsicht hatte. Gott hat uns die Liebe zur Verschönerung dieser sündhaften Erde gegeben, und es ist Ungehorsam gegen seinen väterlichen Willen, wenn man ihm widerstrebt.«
Die beiden frommen Seelen trösteten sich in inniger Umarmung über die Sündhaftigkeit der Erde. Hätten sie gewußt, daß Mariano ihren Schlichen so scharf auf der Fährte war, so wäre ihnen wohl die Lust vergangen, dem »väterlichen Willen Gottes« in dieser Weise gehorsam zu sein.
10. Kapitel
»In deiner Liebe ruht mein Glauben,
Ruht all mein inniges Vertrau‘n,
Will das Geschick dich mir auch rauben,
Ich werde doch den Himmel schau‘n.
In deiner Liebe ruht mein Hoffen,
Ruht meiner Zukunft Heil und Licht.
Steht solch ein Paradies mir offen,
So tret‘ ich ein und zaud‘re nicht.
In deiner Liebe ruht mein Leben,
Ruht meine ganze Seligkeit.
O laß, o laß nach dir mich streben,
Und sei mein Eigen allezeit!«
Die Anwesenheit der beiden Gäste brachte in das einsame Leben auf Rodriganda etwas mehr Bewegung und Abwechslung.
Was den Grafen Emanuel betraf, so freute er sich, wenn die jungen Leute auf eine halbe Stunde sein Krankenzimmer teilten, um ihn zu erheitern. Er fühlte sich auf eine ganz unerklärliche Weise zu dem Leutnant hingezogen; auch das stille, sinnige Wesen der Engländerin mutete ihn sympathisch an, und der Umgang mit solchen Personen konnte gar nicht anders als von vorteilhafter Wirkung auf seinen angegriffenen Zustand sein.
Da die drei Ärzte Rodriganda verlassen hatten, so befand er sich unter der alleinigen Behandlung Sternaus, und die Kunst desselben hatte solche Erfolge, daß der Arzt bereits nach einigen Tagen erklärte, daß der Stein entfernt sei. Nachdem der angegriffene Körper sich gekräftigt habe, könne man daran denken, sich auch mit den erblindeten Augen zu beschäftigen.
Das war eine Botschaft, die alle Bewohner des Schlosses in Freude versetzte – die beiden Frommen und Alfonzo ausgenommen, die äußerlich Freude zeigten, innerlich aber zürnten und miteinander Pläne schmiedeten, die Heilung zu verhindern.
Es war eigentümlich, daß die regelmäßig im Park unternommenen Spaziergänge stets zu vieren begonnen wurden und doch zu zweien endeten. Wahrend der Graf auf der Veranda die balsamische Luft genoß, lustwandelten die anderen zwischen Blumen. Da fand sich dann stets der Arzt zu Rosa und der Leutnant zu Amy, ein Umstand, dessen sogar der Graf mit einem liebenswürdigen Scherz gedachte. Mariano fühlte, daß die Liebe mächtig in ihm emporflammte, so daß er sie unmöglich bewältigen konnte, und Amy sah in dem ritterlichen Jüngling die Verwirklichung ihres Ideales, ohne weiter und tiefer über die Gefühle nachzudenken, die ihr Herz beseelten.
So verging über eine Woche, ohne daß irgendein Ereignis von außen her das Stilleben unterbrochen hätte. Man las, man promenierte, man fuhr zuweilen aus, man musizierte, und überall zeigte sich Mariano als ein vollendeter Kavalier. Nur bei der Musik schloß er sich von jeder Beteiligung aus. Er gestand aufrichtig, daß er nicht Klavier spielen könne.
Es war eines Abends, zur Zeit der Dämmerung, der Arzt befand sich bei dem Grafen in dessen Zimmer, Rosa war mit dem Bruder ausgefahren, und der Leutnant hatte wieder, wie oft, in der Galerie vor dem Bild gestanden, das ihm so ähnlich war, da trat er aus der Galerie in die an dieselbe stoßende Bibliothek, in der es bereits ziemlich dunkel war, so daß er nicht bemerkte, daß Amy sich dort befand.
Sie hatte, in einer Fensternische sitzend, vorher in einem Buch gelesen und genoß jetzt die stille Dunkelstunde in jenem Hinträumen, für welche die Dämmerung so sehr geeignet ist. Als sie ihn eintreten hörte, verhielt sie sich ruhig, weil sie glaubte, daß er nur hindurchzugehen beabsichtige. Er aber tat dies nicht, sondern trat an eins der anderen Fenster und blickte hinaus in die Landschaft, von der das scheidende Tageslicht Abschied nahm.
So vergingen einige Minuten in tiefer Stille, dann wandte er sich um, vielleicht um zu gehen, und sein Blick fiel dabei auf eine spanische Gitarre, die in der Nähe des Fensters an der Wand hing. Er nahm sie herab und fand, daß sie gestimmt sei. Rosa liebte dieses Instrument und hatte es am Nachmittag gespielt Er griff einige Akkorde und begann endlich einen spanischen Tanz, bei dessen rauschenden Klängen sich Amy unwillkürlich erhob.
Die Gitarre ist in Spanien ein sehr beliebtes Instrument; sie ist fast in jeder Familie zu finden, und man trifft nicht selten Leute, die eine wirkliche Virtuosität darauf erlangt haben. Auch Amy hatte solche Spieler gehört, so aber, wie der Leutnant, hatte noch keiner gespielt. Darum schlug sie, als das Spiel zu Ende war, die Hände zusammen und rief:
»Bravo! Señor! Das war ja ein Meisterstück! Und Sie sagen, daß Sie nicht spielen können!«
Er war anfangs erschrocken, trat aber doch näher und erwiderte:
»Ah, Señorita, ich wußte nicht, daß Sie anwesend waren. Übrigens habe ich nur gesagt, daß ich nicht Klavier zu spielen verstehe.« – »Aber warum ließen Sie uns nicht wissen, daß Sie ein solcher Künstler auf der Gitarre sind?« – »Weil ich meine eigene Ansicht über die Musik habe.« – »Und welche Ansicht ist dies, Señor?« – »Die Musik ist vorzugsweise die Kunst des Gefühls, des Herzens, und niemand gibt seine Gefühle gern der Öffentlichkeit preis. Ich kann ein Konzert anhören und mich daran erfreuen, aber ich kann nicht meine eigenen Gedanken spielen, um sie hören zu lassen.« – »So sprechen Sie von Ihren eigenen Kompositionen?« – »Ich habe niemals den Namen einer Note lernen mögen. Ich spiele, was mir meine eigene Phantasie eingibt, und das spiele ich nur für mich und nicht für andere.« – »Oh, Sie sind egoistisch. Singen Sie auch?« – »Ja. Was mir der Augenblick eingibt.« – »Sie sind also ein Improvisator! Und niemand darf Sie hören?« – »Gar niemand.« – »Auch – ich nicht, Señor?«
Er schwieg. Da trat sie nahe an ihn heran, legte ihm das kleine Händchen auf den Arm und versetzte:
»Ich möchte Ihnen etwas sagen, was ich sonst keinem sagen würde.« – »Bitte, sprechen Sie!«
Sie zögerte einige Augenblicke und entgegnete mit leiser Stimme:
»Sie können alles, Sie wissen alles; ich habe Sie beobachtet und bin stolz auf Sie gewesen. Aber eine Lücke fand ich doch, und das hat – ja, das hat mich geärgert.« – »Welche Lücke ist das, Señorita?« fragte er lächelnd. – »Sie waren nicht musikalisch. Ein Mann ohne Sinn für Töne kann kein Herz, kein Gemüt haben. Das ist es, was mich ärgerte. Ich wollte Sie so gern fehlerfrei sehen. Und nun ich jetzt bemerkte, daß ich mich geirrt habe, sagen Sie, daß niemand, gar niemand Sie hören dürfe! Señor, lassen Sie mich Ihre Vertraute sein, lassen Sie mich in dem Bild, das ich von Ihnen habe, jene Lücke ausfüllen, die mich so schmerzte!«
Mariano hätte bei diesen Worten laut aufjubeln mögen. Sie gestand ihm, daß sie sich so viel mit seinem Bild beschäftige; es hatte sie geärgert und geschmerzt, daß es etwas geben sollte, worin ihm andere überlegen seien; das machte ihn so glücklich, daß er antwortete:
»Nun wohl, Señorita, ich werde Ihnen etwas vorsingen. Aber was?« – »Was singen Sie am liebsten?« – »Nichts und alles. Ich lerne niemals ein Lied; ich improvisiere nur.« – »Nun, so singen Sie ein – Liebeslied.« – »Dann aber bin ich ja gezwungen, mir eine Dame zu denken, der ich diese Liebe und dieses Lied widme!« – »Natürlich!« meinte sie in heiterem Ton. – »Aber wenn ich nun keine solche Dame kenne?« – »Gibt es wirklich keine, der Sie ein Lied widmen könnten, Señor?«
Er schwieg eine Weile, endlich antwortete er:
»Ja, es gibt eine, und an diese will ich jetzt denken, wenn ich singe.«
Damit führte er sie zu dem Sessel, auf dem sie vorhin gesessen hatte, und schritt ganz in den Hintergrund des Raumes zurück, wo er sich auf einen Diwan niederließ. Dort herrschte bereits ein solches Dunkel, daß sie ihn nicht erkennen konnte.
Es verging eine Weile, und sie ahnte, daß er jetzt an keine andere, als nur an sie allein denke. Nun hörte sie die Saiten klingen, leise und mild, dann stärker, in einzelnen Akkorden und Tönen, die sich suchten und schließlich zu einer Melodie zusammenfanden. Und jetzt hörte sie seine Stimme:
»In deiner Liebe ruht mein Glauben,
Ruht all mein inniges Vertrau‘n.
Will das Geschick dich mir auch rauben,
Ich werde doch den Himmel schau‘n,
In welchem deines Auges Sonne
Mich grüßt so klar, so hell, so rein,
Voll Prophezeiung süßer Wonne,
Daß du mein Eigen werdest sein.«
Als der erste Ton seines Liedes erschollen war, war Amy erschrocken zusammengezuckt. Das klang ja so süß, so unbeschreiblich mild, das konnte unmöglich die Stimme eines Mannes sein! So blieb es während des ganzes Verses. Nun aber leitete ein kurzes Zwischenspiel nach Moll hinüber, und es erklang lauter und bewegter die nächste Strophe:
»In deiner Liebe ruht mein Hoffen,
Ruht meiner Zukunft Heil und Licht.
Steht solch ein Paradies mir offen,
So tret‘ ich ein und zaud‘re nicht.
Das Leid und Weh vergang‘ner Zeiten
Sinkt in Vergessenheit zurück.
Und Gottes Segen wird uns leiten
Zu dieses Lebens höchstem Glück.«
Jetzt leitete ein abermaliges Zwischenspiel nach der Durtonart zurück, die Akkorde wurden voller und kräftiger, die Melodie setzte sich aus festen, sicheren Tonmotiven zusammen, und auch die Stimme des Sängers erklang im vollen Brustton:
»In deiner Liebe ruht mein Leben,
Ruht meine ganze Seligkeit!
O laß, o laß nach dir mich streben,
Und sei mein Eigen allezeit.
Trau meines Herzens sich‘rem Schlage
Und meines Pulses heil‘ger Macht,
Du bist die Sonne meiner Tage,
Und ohne dich ist‘s um mich Nacht!«
Das Lied war verklungen, und lange Zeit herrschte in dem jetzt dunklen Raum das tiefste Schweigen. Dann aber kam Mariano langsam aus dem Hintergrund herbei, um das Instrument an seinen Platz zu hängen.
»Ist nun die böse Lücke verschwunden, Señorita?« fragte er. – »Oh, vollständig!« meinte sie. »Und dieses Lied gab es vorher nicht? Dieses Lied haben Sie erst jetzt gedichtet und improvisiert?« – »Ja.« – »Und die Melodie auch?« – »Ebenso.« – »Aber, Señor, da sind Sie ja ein wirklicher, ein wahrhaftiger Dichter! Darf ich nun nur eins noch erfahren? An wen war das Lied gerichtet?« – »An – Sie!«
Kaum war das Wort verklungen, so fühlte sie sich von ihm umschlungen, und er zog sie an sich, legte ihr die Hand auf das schöne Köpfchen und sagte:
»Gott segne Sie, Miß Amy! Ich liebe Sie unendlich, aber ich darf jetzt noch nicht davon sprechen. Doch später werde ich Sie in Mexiko oder in jedem anderen Winkel der Erde aufsuchen, um mir das Glück zu holen, das ich nur bei Ihnen finden kann!«
Ein langer, inniger Kuß glühte auf ihren Lippen, die sich nicht sträubten, und dann verließ er die Bibliothek. Sie hörte seine verhallenden Schritte und sank in den Stuhl, wo sie noch lange saß, vor Glück und Freude weinend und die glühenden Wangen in den Händen verbergend.
Später hörte sie das Rasseln eines Wagens. Rosa kehrte mit ihrem Bruder zurück. Sie hatten unterwegs den Briefboten gefunden und von ihm mehrere Briefe und Zeitungen erhalten. Diese wurden an die Adressaten verteilt. Auch an den Advokaten fand sich ein Schreiben vor. Es trug den Poststempel Barcelona und lautete:
»Señor!
Soeben bin ich mit meiner ›Pendola‹ hier eingelaufen. Die Reise hat viel Geld gebracht Ich erwarte Euch baldigst, denn ich möchte die Jahreszeit benutzen und bald wieder in See stechen.
Henrico Landola,
Seekapitän.«
Dieser Brief brachte einen sehr freudigen Eindruck auf den Advokaten hervor. Er ging sofort zu seiner Verbündeten, der Stiftsdame, und rief, als er kaum die Tür hinter sich geschlossen hatte:
»Clarissa, eine frohe Nachricht!«
Sie erhob sich aus der Chaiselongue, in der sie gesessen hatte, und meinte:
»Froh? Das läßt sich hören. Wir haben lange Zeit hindurch nur lauter Betrübnis erfahren müssen. Was ist es, was du bringst?« – »Landola ist da!« – »Der Seekapitän?« – »Ja, er ist glücklich in Barcelona eingelaufen und meldet mir, daß er gute Geschäfte gemacht habe.« – »Hat er auch Mexiko angelaufen?« – »Jedenfalls.« – »Er war in Afrika?« – »Ja, wie vorher.« – »Hat er vielleicht diesen alten Don Ferdinando de Rodriganda getroffen, den wir sterben ließen, damit Alfonzo ihn beerben konnte?« – »Ich weiß es nicht; ich werde es erst erfahren, wenn ich mit ihm spreche.« – »So gehst du nach Barcelona?« – »Nein, ich werde den Kapitän benachrichtigen, nach Rodriganda zu kommen. Unsere Stellung hier ist jetzt so sehr gefährdet, daß ich keinen Tag abkommen kann. Übrigens habe ich auch bereits das Zeichen erhalten, daß der Capitano hier ist. Er will mit mir sprechen.« – »Wann?« – »Wie gewöhnlich, gerade um Mitternacht.« – »Ah«, rief da die Stiftsdame, »da kommt mir ein Gedanke. Wir können jetzt erfahren, ob dieser Leutnant zu dem Capitano in Beziehung steht. Gehört er zu den Briganten, so wird der Capitano die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, mit ihm zu sprechen. Wir müssen ihn beobachten, ob er heute noch nach dem Park geht.« – »Das ist richtig! Dieser Einfall ist ganz vortrefflich!« – »Nicht wahr? Gott sorgt dafür, daß die Seinen nicht zu Schanden werden. Gehe hinab, mein Freund, und sieh nach, wo der Leutnant ist.« – »Ich werde zunächst nach seinem Diener sehen, denn es läßt sich ja denken, daß der Capitano sich an diesen wenden wird und nicht direkt an den Leutnant,« was doch auffällig sein könnte.«
Cortejo ging und konnte keinen besseren Augenblick gewählt haben, denn gerade als er die Treppe niederstieg, kam der Husar sehr eilfertig dieselbe empor und verschwand in dem Zimmer des Leutnants.
»Ah, das ist genug«, murmelte der Advokat. »So einen Eifer legt man nur bei etwas Ungewöhnlichem an den Tag. Ich werde mich fortschleichen und aufpassen.«
Er trat durch das Portal und schritt die von zwei großen Laternen erleuchtete Freitreppe hinab. Zu beiden Seiten derselben gab es dichte Bosketts, in denen sich ein Mensch sehr leicht verbergen konnte. Gasparino Cortejo kroch zwischen die Büsche hinein und legte sich lang zur Erde nieder, so daß er nicht gesehen werden konnte.
Von hier aus war es ihm leicht, jede Person zu erkennen, die das Schloß nach derjenigen Seite, auf der der Park und der Wald lagen, verließ.
11. Kapitel
Cortejo mochte wohl über eine halbe Stunde gelegen haben, als er sporenklirrende Schritte hörte. Der Leutnant de Lautreville trat unter das Portal, blickte sich vorsichtig um, schritt darauf schnell die Freitreppe hinunter und wandte sich dem Park zu.
»Ah!« entfuhr es den Lippen des Advokaten. »Also doch! Ich muß zunächst sehen, wo sie sich treffen.«
Er verließ sein Versteck, umging den Kreis, der von dem Licht der Laternen beschienen wurde, und huschte dem Leutnant nach. Dieser letztere gab sich keine Mühe, den Schall seiner Schritte zu dämpfen; er hatte hier den Offizier zu spielen und durfte von keinem, der zufälligerweise im Park anwesend sein konnte, für einen Schleicher gehalten werden. Aus diesem Grund war es dem Advokaten leicht, ihm zu folgen.
Nach einer Weile lenkte der Leutnant in einen Seitenweg ein, der direkt nach einer einsamen Birkenhütte führte.
»Richtig!« brummte der Notar. »Dort im Birkenhäuschen treffen sie sich. Zufälligerweise kenne ich den Platz besser als sie und werde sie belauschen.«
Er folgte dem Offizier nicht direkt, sondern huschte über einen offenen Grasplatz, gelangte dann durch eine Birkenpflanzung, wand sich nachher durch ein nicht sehr dichtes Buschwerk und sah nun endlich das Häuschen vor sich. Es lehnte dicht an dem Buschwerk, war klein und nur von dünnen Stämmchen errichtet – infolgedessen konnte man ein jedes nicht allzu leise gesprochenes Wort hören.
Der Advokat kroch ganz an die hintere Seite des Häuschens heran und lauschte. Ah, wirklich, er hörte sprechen. Zunächst vernahm er ganz deutlich die Stimme des Capitano in den halblauten Worten:
»Und du wohnst also auf dem Schloß?« – »Ja«, antwortete die unverkennbare Stimme des Leutnants. – »Wie ist dies so günstig und schnell gekommen?« – »Ich hatte Glück – oder es ist für dich, Capitano, ein Unglück —, die Condesa nebst einer Freundin von zwei Männern zu befreien, welche die beiden Damen angefallen hatten.« – »Ah! Wer waren diese? Gibt es außer uns hier noch andere Briganten? Ich würde ihnen schleunigst das Handwerk legen.« – »Dies ist aus zwei Gründen nicht notwendig. Erstens habe ich ihnen bereits das Handwerk gelegt, und zweitens waren sie nicht fremd, sondern sie gehörten zu uns.« – »Alle Teufel! Wer war es?« – »Henrico und Juanito.« – »Unmöglich! Wie könnten diese es wagen, die Condesa zu beleidigen?« – »Das ist deine oder vielleicht auch nur ihre Sache.« – »Was hast du mit ihnen getan?« – »Den einen erschossen und dem anderen den Schädel gespalten. Sie sind beide tot.« – »Mensch, ist das wahr?« – »Ja.«
Es trat eine kleine Pause ein, bis der Hauptmann in zornigem Ton sagte:
»So hast du also zwei deiner Kameraden getötet! Weißt du, welche Strafe darauf steht?« – »Der Tod«, antwortete Mariano sehr ruhig. »Ich aber habe ihn nicht zu befürchten.« – »Warum nicht? Ah, meinst du vielleicht, daß ich dich schonen werde, weil ich stets nachsichtig gegen dich gewesen bin?« – »Ich verlange keine Schonung, sondern nur Gerechtigkeit. Hast du den beiden Männern befohlen, die Condesa anzufallen?« – »Nein.« – »Nun, so habe ich sie nicht getötet, sondern einfach bestraft.« – »Hast du das Recht dazu? Nur ich als Hauptmann habe Strafen zu verhängen.« – »Ich kannte sie nicht; sie hatten sich mit schwarzen Kapuzen vermummt.« – »So mußtest du trotz dieser Verhüllung denken, daß es Kameraden seien.«
Wieder trat eine kurze Pause ein. Endlich ließ der Leutnant ein ungeduldiges Räuspern vernehmen und sagte in entschiedenem Ton:
»Sie waren auf keinen Fall meine Kameraden. Ich bin kein Mitglied deiner Bande. Du hast mich aufgenommen und erzogen. Ich bin stets bei euch gewesen, aber du hast vergessen, mir den Schwur abzunehmen. Ich habe also euch gegenüber nicht die mindeste Verantwortlichkeit.« – »Gut, so wirst du mir den Schwur baldigst ablegen müssen.« – »Ich zweifle sehr, ob ich es tun werde.« – »Knabe!« dieses Wort kam langsam und pfeifend aus dem Mund des Capitano, der sehr erstaunt war, hier eine solche Widersetzlichkeit zu finden. »Ist dies der Dank für die ungeheuren Wohltaten, die ich dir erwiesen habe?« – »Schweige von der Ungeheuerlichkeit deiner Wohltaten!« stieß der Leutnant in bitterem Ton hervor. »Nennst du es ein Glück, wenn ein Kind seinen Eltern mit Gewalt entrissen und unter Räuber gesteckt wird?«
Der verborgene Lauscher horchte auf.
Ah, er ist‘s! Und er weiß es auch, daß er geraubt wurde, dachte er.
Auch der Capitano war überrascht. Er schien, wie deutlich zu hören war, vor Erstaunen einen Schritt zurückzutreten und fragte zornig:
»Den Eltern entrissen? Mit Gewalt? Auf wen beziehst du das?«
Mariano sah ein, daß es nicht klug gewesen war, sich so fortreißen zu lassen. Die Vorsicht hätte ihm geboten, gar nicht ahnen zu lassen, daß er jenem Ereignis auf die Spur gekommen sei; da er sich aber von seiner Erbitterung hatte hinreißen lassen, so ging er auch weiter und antwortete:
»Auf mich, auf keinen anderen sonst!« – »Hm, so meinst du also, daß du geraubt worden seist?« fragte der Capitano vorsichtig. – »Geraubt und vertauscht!« – »Ja, das ist möglich. Aber was habe ich dabei zu schaffen? Ich fand dich im Freien und habe bis heute keine Ahnung, wer dich ausgesetzt hat.« – »Lüge nicht, Capitano! Du selbst warst es, der mich raubte!« rief der junge Mann zornig. – »Ich? Beweise es! Ich schwöre es dir, daß ich es nicht war, der dich deinen Eltern nahm!« – »Ja, das kannst du allerdings beschwören, denn ein anderer war es, der mich stahl; aber es geschah in deinem Auftrag.« – »Ich wiederhole: Beweise es!« – »Kennst du nicht einen Mann, der Manuel Sertano hieß? Er stammte aus Mataro.« – »Alle Teufel! Wer hat dir diesen Namen genannt?« – »Ferner: Kennst du das Gasthaus ›L‘Hombre grand‘‹ in Barcelona? In demselben wurde in der Nacht vom ersten zum zweiten Oktober 18** ein Knabe umgetauscht.« – »Teufel! Wer hat dir dies weisgemacht?« – »Das ist mein Geheimnis!« – »Ich verlange, daß du mir Antwort gibst! Ich habe dich nach Rodriganda gesandt, um diesen Gasparino Cortejo und andere zu überwachen, nicht aber, um Ränke gegen mich zu spinnen, die jeden Grundes entbehren. Ich verlange zu wissen, wer dir diese Lüge gesagt hat!« – »Du wirst es nicht erfahren!« – »Ich werde es erfahren, denn ich habe die Macht, dich zu zwingen!« – »Pah!« Der Leutnant sprach nur diese eine Silbe, aber es lag in ihr eine solche Verachtung und Geringschätzung, daß der Hauptmann zornig rief:
»Glaubst du etwa, mir widerstehen zu können?« – »Das glaube ich allerdings.« – »So werde ich dir das Gegenteil beweisen.« – »Versuche es!« – »Ich befehle dir, sofort nach der Höhle zurückzukehren!«
Der junge Mann ließ ein leises, kurzes Lachen hören und antwortete:
»Das werde ich bleibenlassen!« – »Ah, also offenbare Widersetzlichkeit!« zischte der Capitano. – »Ja, offene!« lachte Mariano abermals. »Ich werde bleiben. Was soll der Graf Rodriganda von dem Herrn de Lautreville denken, wenn dieser wie ein Spitzbube bei Nacht und Nebel verschwindet? Übrigens gefällt es mir in Rodriganda ganz ausgezeichnet und« – fügte er mit Nachdruck hinzu – »es ist mir ganz, als ob ich zur gräflichen Familie gehöre.« – »Mensch, soll ich dich zwingen? Entweder du erklärst augenblicklich, daß du gehorchen wirst, oder ich steche dich nieder!« – »Höre vorher, was ich dir zu sagen habe!« – »Nun?« – »Capitano, ich hege keinen Groll gegen dich«, begann Mariano in ruhigem Ton; »du hast mich zwar dem Boden entrissen, wo der Baum meines Lebens Wurzel zu schlagen begonnen, aber mit deiner Erlaubnis habe ich mir durch den Pater Dominikaner alles aneignen können, was nötig ist, die mir gehörige Stelle wieder einzunehmen und auszufüllen, darum will ich nicht rachsüchtig sein, sondern ich sage: Wir sind quitt! Was ich beginnen werde, weiß ich noch nicht, aber das eine weiß ich, nämlich, daß ich zu euch nicht zurückkehre. Zwingen kannst du mich nicht. Ich bin dir an Geschicklichkeit und Stärke überlegen, und auch die List wird dir nichts helfen.« – »Wirklich?« höhnte der Hauptmann. »Wenn ich nun den Grafen Rodriganda wissen lasse, daß du ein Räuber bist?« – »So wird er mich vor allen Dingen fragen, wo meine Kameraden zu finden sind, und ich würde sie verraten.« – »Mensch!« brauste der Hauptmann auf. – »Bleibe ruhig, Capitano! So lange mir von eurer Seite nichts Böses droht, werde ich schweigen. Du kennst mich und weißt, daß du dich auf mein Wort verlassen kannst. Aber ich habe euch den Schwur der Treue nicht geleistet, und wenn ihr mich mit List oder Gewalt dazu zwingen wollt, so seid ihr meine Feinde, und ich werde mich zu verteidigen wissen. Das ist es, was ich dir zu sagen habe.« – »Dies ist dein fester Entschluß?« – »Mein fester! Pah, Capitano! Meine Augen sind gut, ich sehe trotz der Dunkelheit sehr deutlich, daß du das Messer ziehst, du aber siehst nicht, daß ich bereits während unserer langen Unterhaltung den gespannten Revolver in der Hand gehabt habe. Ehe dein Messer mich erreichen könnte, würdest du eine Leiche sein. Das laß dir auch für später zur Warnung dienen! Der Knabe ist plötzlich zum Mann geworden, und ich sage dir, daß er auch als Mann handeln wird. Lebe wohl, Capitano!«
Der Lauscher hörte, daß der Sprecher sich schnell entfernte. »Mariano!« rief der Hauptmann in befehlendem Ton. Es erfolgte keine Antwort.
»Mariano!« rief er abermals, jetzt aber war der Ton kein befehlender, sondern beinahe ein ängstlicher.
Auch jetzt erfolgte keine Antwort, und man hörte die Schritte des sich Entfernenden verklingen.
»Bei Gott, er geht!« murmelte der Capitano. »Er will sich frei machen, aber es soll ihm doch nicht gelingen. Wen ich einmal habe, den halte ich auch fest. Verdammter Gedanke, gerade ihn nach Rodriganda zu schicken! Wer mag ihn aufmerksam gemacht haben? Ich muß das erfahren!«
Er verließ mit langsamen Schritten das Birkenhäuschen und verschwand hinter dem Gesträuch des Parks.
Jetzt konnte der Advokat ohne Gefahr, gehört zu werden, sein Versteck verlassen. Er kehrte vorsichtig nach dem Schloß zurück und begab sich wieder zu seiner frommen Freundin, die ihn mit Spannung erwartet hatte. Graf Alfonzo hatte sich bei ihr eingefunden, und beide erschraken, als sie hörten, daß dieser Husarenleutnant in Wirklichkeit jener geraubte Knabe sei.
»Mein Gott, was ist zu tun?« fragte Clarissa. »Dieser Mensch ahnt also bereits, wer er ist?« – »Er ahnt es, wie ich aus seinen Andeutungen entnehme«, antwortete der Advokat. – »So stehen wir auf einem Vulkan, der in jedem Augenblick explodieren kann. Der Allbarmherzige und Allgütige wird die Seinen nicht verderben lassen, wie ich hoffe!« – »Pah! Was hilft das fromme Wimmern! Hier muß gehandelt werden«, meinte Alfonzo. »Dieser Mensch muß augenblicklich unschädlich gemacht werden.« – »Was verstehst du unter unschädlich, mein Sohn?« fragte der Notar. – »Den Tod! Nur der Tote schweigt, und es steht für uns so viel auf dem Spiel, daß es eine Schwachheit wäre, einen Menschen zu schonen, der uns so gefährlich ist. Übrigens ist er ja nichts als ein Bandit und so muß seine Beseitigung geradezu als ein Verdienst bezeichnet werden, das wir uns an der von ihm bedrohten Menschheit erwerben.«
Schwester Clarissa nickte beifällig und sehr energisch mit dem Kopf; der Advokat aber sagte langsam und nachdenklich:
»Es versteht sich allerdings ganz von selbst, daß er unschädlich gemacht werden muß; ob dies durch seinen Tod oder eine andere Art der Beseitigung geschehen wird, das soll meine Unterredung mit dem Capitano entscheiden. Ich werde um Mitternacht erfahren, was wir von ihm zu befürchten oder zu hoffen haben.«
Mit dieser Entscheidung mußten sich Mutter und Sohn beruhigen.
Kurz vor dem Schlag der Mitternachtsstunde suchte der Notar den Park wieder auf. Es gab da ein sehr verborgenes Plätzchen, wo er sich mit dem Capitano zu treffen pflegte, falls dieser einmal mit ihm zu sprechen hatte. Er fand ihn, bereits seiner harrend.
»Ihr habt mir das Zeichen gegeben, zu Euch zu kommen«, sagte er. »Das ist mir lieb, denn Ihr erspart mir einen Weg nach den Bergen. Ich hätte Euch aufsuchen müssen.« – »In welcher Angelegenheit?« fragte der Hauptmann zurückhaltend. – »Das fragt Ihr noch?« sagte der Notar mit scheinbarer Verwunderung. »Ich habe Euch eine Aufgabe erteilt, die bis jetzt noch nicht gelöst worden ist.« – »Und warum wurde sie nicht gelöst, Señor?« – »Weil Ihr mir keine Männer, sondern Feiglinge schicktet.« – »Das ist ein Vorwurf, dessen Berechtigung ich nicht anerkenne«, antwortete der Hauptmann. »Wir wollen nicht Versteckens miteinander spielen, Señor, sondern diese Angelegenheit in aller Kürze erledigen.« – »Das ist auch meine Meinung. Also sprecht!« – »Wollt Ihr, daß der Auftrag, den Ihr mir gabt, noch ausgeführt wird?« – »Das versteht sich! Ich verlange sogar, daß dies in aller Eile geschieht.« – »Gut, so will ich Euch meine Bedingungen sagen.« – »Bedingungen? Ich denke, über die Bedingungen haben wir uns bereits bei meinem letzten Besuch geeinigt.« – »Die Verhältnisse haben sich seitdem geändert. Ich habe natürlich erfahren, was geschehen ist, und obgleich ich nicht dabeigewesen bin, kenne ich doch meine Leute gut genug, um alles richtig zu erraten. Der Arzt ist mit Messern angegriffen worden?« – »Ja.« – »Auf Euren ausdrücklichen Befehl?«
Der Notar zögerte ein wenig und antwortete:
»Nein. Dies hat Henrico so arrangiert.« – »Lügt nicht!« meinte der Hauptmann streng. »Meine Leute kennen den Unterschied zwischen einer Kugel und einer Messerklinge zu genau, um freiwillig die Dummheit zu begehen, einen so starken Menschen nur mit der letzteren anzugreifen. Ihr habt alles Geräusch vermeiden wollen und den Leuten verboten zu schießen. Habe ich recht oder nicht?« – »Ihr habt unrecht.« – »Pah! Ich weiß, was ich sage, und lasse mich nicht täuschen. Henrico und Juanito sind bei einer anderen Gelegenheit gefallen. Was sie vermocht hat, die Condesa anzugreifen, das ist mir ein Rätsel, doch will ich annehmen, daß nicht Ihr die Schuld daran tragt. Aber an dem Tod der anderen, deren Leichen hier im Park gerichtlich aufgehoben wurden, seid Ihr schuld. Ihr zahlt mir für einen jeden Mann tausend Ducatos, und dann wollen wir über die Angelegenheit weiter verhandeln.« – »Daß ich ein Esel wäre!« – »Ah, Ihr wollt nicht?« – »Nein. Ich kann nicht dafür, daß diese Unvorsichtigen so dumm waren, sich töten zu lassen.« – »Ich habe Euch bereits gesagt, wem ich die Schuld zumesse, und dabei bleibt es! Wollt Ihr zahlen oder nicht?« – »Keinen Pfennig!« – »Gut. Lebt wohl, Señor!«
Der Hauptmann wandte sich, um zu gehen; der andere hielt ihn jedoch fest und fragte:
»Was habt Ihr vor?« – »Das werdet Ihr bald erfahren, Señor!« – »Ihr verlangt das Unmögliche!« – »Ihr sollt sehen, daß es sehr gut möglich ist. Die Männer sind in Eurem Dienst gestorben, und Ihr habt zu zahlen. Ich schwöre es Euch, daß mich nichts von dieser Forderung bringen wird. Ihr kennt mich, und jeder Einwand wird nur die Folge haben, daß ich meine Forderung erhöhe.«
Der Notar schien nachzudenken. Endlich sagte er langsam und lauernd:
»Vielleicht würde ich auf diese Forderung eingehen, wenn ich auch von Euch eine Gefälligkeit erlangen könnte. Es gibt außer dem Arzt noch einen, der mir im Wege ist.« – »Ah! Der verschwinden soll? Wer ist es?« – »Ein Offizier.« – »Donnerwetter, das scheint interessant zu werden! In welcher Garnison steht der Señor?« – »Er steht in keiner Garnison, sondern befindet sich jetzt auf Urlaub. Auch ist er kein Spanier, sondern ein Franzose.« – »Alle Wetter«, meinte der Hauptmann überrascht und es war dem Ton seiner Stimme anzuhören, daß er zu ahnen begann, um wen es sich handelte. »Ein Franzose? Was habt Ihr mit so einem Ausländer zu schaffen?« – »Verschiedenes! Es ist ein Husarenleutnant« – »Wo ist er zu finden?« – »Hier auf Rodriganda.« – »Und wie heißt er?« – »Alfred de Lautreville.« – »Alfred de … hm!« brummte der Hauptmann. »Diesen Mann kenne ich nicht!« – »Das glaube ich«, bemerkte der Notar sarkastisch. »Übrigens habt Ihr, trotzdem er Euch unbekannt sein muß, doch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen.« – »Inwiefern?« – »Er ist derselbe, der Henrico und Juanito ermordet hat. Wollt Ihr ihn laufenlassen?« – »Laufenlassen? Fällt mir nicht ein!« sagte der Capitano zögernd. »Aber was ist es, was Ihr mit ihm zu schaffen habt?« – »Ich sagte es Euch ja bereits. Er ist mir im Wege. Wollt Ihr dieses Geschäft übernehmen?« – »Hm, das muß überlegt werden.« – »So überlegt es schnell! Wenn ich mich nicht auf Euch verlassen kann, so werde ich mich an einen anderen wenden, der mich besser bedienen wird, als Ihr und Eure Leute.« – »Den möchte ich kennen! Ich dulde keine Konkurrenz; das sage ich Euch, Señor! Übrigens gehört dieser Franzose bereits mir, da er zwei meiner Männer getötet hat, und wer mir hier in das Handwerk pfuscht, der hat es mit mir zu tun. Das könnt Ihr Euch merken!« – »Gemach! Heißt das etwa, daß dieser Kerl sich unter Eurem Schutz befindet?« – »Nein«, antwortete der Hauptmann; »es heißt im Gegenteil, daß er meiner Rache verfallen ist, und diese lasse ich mir nicht nehmen. Er soll verschwinden!« – »Das heißt mit anderen Worten, er soll sterben?« – »Sterben? Nein, auf keinen Fall. Ich habe mit ihm anderes vor, aber ich gebe Euch mein Wort, daß er Euch nicht lästig fallen soll.«
Der Notar wußte jetzt, woran er war, aber er ließ nicht merken, daß er den Hauptmann durchschaute, und erwiderte:
»Ich will Euch vertrauen, Capitano. Ich werde Euch also tausend Ducatos für jeden der Toten geben, verlange aber dafür, daß der Deutsche stirbt und der Franzose verschwindet.« – »Ihr sollt Euren Willen haben, habt aber dann für den Deutschen die betreffenden fünfhundert nachzuzahlen und für den Franzosen ebensoviel zu entrichten.« – »Ihr seid ein Gauner!« – »Pah!« lachte der Brigant. »Man will ja leben und muß auch andere leben lassen!« – »Gut, Ihr sollt sie nach getaner Arbeit haben!« – »Ich brauche sogleich Geld. Ihr zahlt die Hälfte!« – »Ich habe jetzt kein Geld. Tut Eure Pflicht, dann erhaltet Ihr sogleich das Ganze. Ist Euch dies nicht recht, so muß ich von dem Geschäft absehen.« – »Wenn es so steht, so muß ich Rücksicht nehmen«, meinte der Hauptmann zögernd. »Aber glaubt nicht, daß Ihr mich um einen einzigen Ducato betrügen könnt!« – »Wann wird es geschehen?« – »Bald; der Tag läßt sich nicht so leicht bestimmen. Habt Ihr noch etwas zu bemerken?« – »Nein.« – »So sind wir für heute fertig. Lebt wohl, Señor!« – »Gute Nacht!«
Der Bandit verschwand, und der Notar schritt langsam dem Schloß zu.
»Hahaha!« lachte er leise und höhnisch vor sich hin; »du glaubst, mich betrügen zu können, alter Heuchler, aber es soll dir nicht gelingen. Ich werde dir zuvorkommen und die Sache selbst in die Hand nehmen!«
12. Kapitel
Am anderen Morgen trat die Kastellanin in das Zimmer Sternaus, um ihm den Kaffee zu bringen.
»Ich danke Euch, Señora«, sagte er. »Gebt mir ein Glas Milch; ich darf keinen Kaffee trinken.« – »Keinen Kaffee?« fragte sie verwundert. »Fühlt Ihr Euch vielleicht krank, lieber Señor?« – »Nein. Es ist etwas anderes. Ich habe etwas zu tun, wobei die außerordentliche Ruhe aller Nerven erforderlich ist, und Ihr wißt ja, daß der Kaffee das Blut erregt.« – »Das muß etwas sehr Wichtiges sein!« – »Allerdings, bittet Gott, daß es mir gelingen möge, Señora! Ich werde die Augen unseres guten Grafen Emanuel operieren.«
Da ließ Elvira das Kaffeebrett zur Erde fallen und schlug erschrocken die Hände zusammen.
»Die Augen operieren!« rief sie. »O Gott! Ist es wahr?« – »Ja. Aber was hat dies mit dem Kaffeebrett zu tun?« – »Ich kann doch das Kaffeebrett nicht mit den Händen über dem Kopf zusammenschlagen! Das sagt Alimpo auch; darum habe ich es fallen lassen.« – »Ihr konntet es ja vorher auf den Tisch stellen. Übrigens ersuche ich Euch, den Kastellan dafür sorgen zu lassen, daß unbedingte Ruhe und Stille im Schloß herrscht. Die Fenster im Krankenzimmer werden nach der Operation sofort verhängt. Wendet Euch in dieser Angelegenheit an die Condesa, die das Nötige veranlassen wird. Und jetzt bitte ich um meine Milch!« – »Ja, ja, die sollt Ihr sofort erhalten, Señor. Oh, was wird mein Alimpo sagen, wenn er von der Operation hört! Ich eile, ich laufe, ich fliege bereits! Gott gebe Gelingen und Segen!«
Sie ließ das zerbrochene Geschirr einstweilen liegen und verließ das Zimmer mit einer Bewegung, die sie »Fliegen« nannte, die aber mehr einem »Kugeln« glich.
Als der Arzt nach einiger Zeit den Salon betrat, wurde er von den Anwesenden mit lauten, stürmischen Fragen empfangen.
»Ist es wahr, Señor, daß der gnädige Graf heute operiert wird?« rief Señor Gasparino Cortejo. – »Wirklich!« antwortete Sternau.
Da trat der junge Graf an ihn heran und sagte mit finsterer Miene und strengem Ton:
»Señor, ich fordere Euch auf, die Sache noch zu überlegen. Seid Ihr überzeugt daß Euch die Operation gelingen wird?« – »Nein, aber ich hoffe es.« – »Hoffe es! Also auf Grund einer vagen Hoffnung tretet Ihr an ein so hochwichtiges Unternehmen. Könnt Ihr dies vor Gott und Eurem Gewissen verantworten?« – »Ja«, lautete die ernste und bestimmte Antwort. – »So fordere ich als Sohn des Kranken, daß Ihr Euch wenigstens durch einige hervorragende Operateure assistieren laßt!«
Sternau blickte ihm mit einem Lächeln, das die Gewalt eines Lanzenstoßes hatte, in das Gesicht und antwortete:
»Ich habe nicht die mindeste Lust, Szenen zu wiederholen, die glücklicherweise vorübergegangen sind. Übrigens ist mir der Wunsch Seiner Erlaucht so vollständig maßgebend, daß ich die Ansicht eines zweiten nicht berücksichtigen kann.« – »Ah, soll das eine Beleidigung sein?« zischte der Graf. – »Eine Beleidigung kann nicht in meiner Absicht liegen«, antwortete Sternau sehr gleichmütig. – »Auch ich bestehe darauf, daß noch weitere chirurgische Kräfte herbeigezogen werden!« rief der Notar. »Ich ebenso!« stimmte die fromme Schwester bei. – »Meine Entscheidung ist gefallen, und ich habe keine Veranlassung, das Geringste an ihr zu ändern«, erklärte Sternau. – »Oho! Wer hat hier zu befehlen?« fragte Alfonzo. »Ich meine doch, hier mehr zu gelten, als jeder andere!« – »Und ich als Sachwalter Seiner Erlaucht bin auch nicht gewöhnt, überhört zu werden!« fügte Cortejo hinzu.
Sternau machte eine abwehrende Handbewegung und erwiderte sehr ernst und nachdrücklich:
»Señores, ich gebe Ihnen zu bedenken, daß nur der Arzt zu befehlen hat, kein anderer! Die Operation wird in zehn Minuten beginnen. Ich werde jede Störung energisch zurückweisen.« – »Das wollen wir sehen!« rief Alfonzo. – »Ja, das werden wir sehen!« erklang die scharfe Antwort. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die kleinste Aufregung dem Grafen gefährlich werden muß, ich mache Sie verantwortlich für alles, was geschehen könnte!« – »Wir werden der Operation beiwohnen!« meinte der Graf Alfonzo. – »Ich werde einiger Handreichungen bedürfen; wer dieselben zu leisten hat, habe nur ich zu bestimmen. Ich erkläre mit Aufrichtigkeit, daß es mir scheint, als ob es hier Personen gebe, die an einer Wiederherstellung Seiner Erlaucht keinen Gefallen finden, und werde demnach meine Maßregeln treffen. Condesa Rosa, darf ich Sie bitten, mir bei der Operation behilflich zu sein?« – »Oh, wie gern werde ich dies tun, wenn es in meinen Kräften steht«, antwortete sie. – »Es wird nicht über Ihre Kräfte und Gefühle gehen. Damenhilfe ist notwendig. Vielleicht ist Miß Amy so freundlich, sich Ihnen anzuschließen?« – »Ich danke Ihnen, daß Sie mir dieses Vertrauen schenken!« antwortete die Engländerin zustimmend. – »Und ich?« fragte die Schwester Clarissa. – »Sie darf ich nicht bemühen, Señora!« antwortete Sternau kurz und kalt. – »Warum nicht?« fragte sie scharf. – »Ihre Nerven entbehren der notwendigen Festigkeit.« – »Wie wollen Sie mir dies beweisen?« fragte Clarissa in einem geradezu herausfordernden Ton. – »Sie wurden beim Anblick meiner kleinen Wunde so schwach, daß ich Sie stützen mußte. Wie wollen Sie bei einer lange Zeit in Anspruch nehmenden Operation aushalten!« – »Aber ich muß ganz entschieden darauf dringen, dabeizusein!« sagte Alfonzo. – »Und ich muß es Ihnen ganz entschieden verweigern. Ich brauche keine Herren. Nur einen einzigen werde ich um eine kleine Gefälligkeit ersuchen. Señor de Lautreville, darf ich mich an Sie wenden?« – »Ich stelle mich zur Verfügung!« antwortete Mariano schnell.« – »Ich habe Ihnen eine Bitte vorzutragen, aber ich bin überzeugt, daß Sie mir dieselbe erfüllen werden.« – »Sprechen Sie!« – »Sie kennen die Fenster, die zu den Zimmern Seiner Erlaucht führen!« – »Ja.« – »Dann bitte, richten Sie es ein, unter diesen Fenstern während der Operation einen kleinen Spaziergang zu machen. Ihre Anwesenheit wird mir die beste Bürgschaft sein, daß jede gefährliche Störung von dieser Seite abgehalten wird.«
Der Leutnant verneigte sich mit einem verständnisvollen Blick und sagte:
»Ich errate, was Sie meinen, und stelle mich gern zur Verfügung, denn es kann nur eine Ehre für mich sein, einen Vorgang in Schutz zu nehmen, der einem edlen Mann das kostbare Gut des Augenlichts wiedergeben soll.« – »Eine Ehre?« fragte Alfonzo höhnisch. »Eine Schande ist es vielmehr, ja geradezu eine Schande, sich als Kettenhund eines Arztes brauchen zu lassen.«
Da trat Mariano mit zwei raschen Schritten auf ihn zu und fragte:
»Werden Sie dieses Wort augenblicklich zurücknehmen?« – »Nein!« lautete die zornige Antwort. »Ich wiederhole es sogar!« – »Wohl, so werden Sie mir diejenige Antwort geben, die unter Kavalieren gebräuchlich ist!« – »Sie? Ein Kavalier!« rief Alfonzo. »Sie sind ja …«
Er konnte nicht weiterreden, denn der Notar trat auf ihn zu und legte ihm die Hand fest auf den Mund.
»Halt, Graf!« warnte er. »Wir haben weder die richtige Zeit, noch den rechten Ort zu einem solchen Gespräch.« – »Das ist auch meine Meinung«, erklärte der Arzt. »Übrigens, Señor de Lautreville, wenn Sie eines Sekundanten bedürfen, so stelle ich mich Ihnen gern zur Verfügung. Ich ersuche Sie und die Damen, mir zu folgen.«
Die beiden Mädchen waren so bestürzt und erschrocken, daß sie ihm wortlos folgten; auch der Leutnant ging, ohne einen einzigen Blick auf die Zurückbleibenden zu richten. Diese warteten lautlos, bis die Schritte der sich Entfernenden verklungen waren, dann sagte der Notar:
»Unvorsichtiger! Fast hättest du alles verraten!« – »Was hätte dies geschadet!« grollte Alfonzo. »Welche Wonne, die Gesichter dieser Menschen zu sehen, wenn sie erfahren hätten, daß der Kerl ein Räuber ist.« – »Und welche Wonne, wenn er ihnen dann gesagt hätte, daß er an deine Stelle gehört. Er ahnt dies nicht bloß, sondern er weiß es sogar und scheint nur noch entdecken zu wollen, welcher Abstammung du bist. Ich werde dafür sorgen, daß er uns nicht mehr belästigen kann.« – »Und dieser Mensch, dieser Arzt!« zürnte Schwester Clarissa. »Trat er nicht auf, als ob er Herr von Rodriganda seit? Ja, diese Sünder gehen in der Welt umher wie brüllende Löwen. Aber der Gerechte wird seines Glaubens leben und sie alle besiegen.« – »Wie er dafür sorgte, daß keine Störung eintreten kann!« grollte der Notar. »Und doch, dennoch soll die Heilung gestört werden. Er hat selbst gesagt, daß jede Aufregung dem Kranken schädlich werden könne. Oh, wir werden bemüht sein, eine Aufregung hervorzubringen, die groß genug ist, die Operation wieder auszugleichen.«
Während im Salon diese feindseligen Worte fielen, trat der Arzt mit den beiden Damen bei dem Grafen ein. Er postierte zwei Diener vor die Tür des Vorzimmers und verschloß dieselbe. Der Graf hatte ihn bereits erwartet und erwiderte seinen Gruß mit Freundlichkeit.
»Wen bringen Sie mit, Señor?« fragte er, als er den Schritt der Damen hörte. – »Condesa Rosa und Miß Amy Lindsay, auf deren zarte Hände ich mich mehr verlassen kann als auf andere Hilfe.« – »Ich danke Ihnen, Doktor! Sie sind meinem Herzenswunsch entgegengekommen. Wo ist mein Sohn?« – »Er befindet sich im Salon und läßt sich entschuldigen. Ich mußte mir seine Begleitung verbitten.« – »Werden die Damen standhaft genug sein, Señor?« – »Ich glaube, Sie darüber beruhigen zu können, Don Emanuel. Diese Operation ist keine Amputation, die die Nerven des Zuschauers beängstigt. Die Damen haben mir nur kleine Handreichungen zu leisten. Gestatten Sie mir aber die Frage, in welcher Stimmung Sie sich befinden.«
Über das Gesicht des Grafen ging ein helles, vertrauensvolles Lächeln, und er antwortete, indem er die Hände faltete:
»Ich bin mit mir und meinem Gott zu Rate gegangen und lege mein Schicksal ohne Zagen in Ihre Hände. Der Schlaf bemächtigt sich des Körpers, aber der Geist beschäftigt sich im Traum mit allem, was man im Wachen fühlt, denkt und tut. Es träumte mir, daß Sie mir die Augen öffneten. Ich sah die schöne Gotteswelt; ich erblickte das Angesicht meines guten Kindes; ich sah auch Sie und den Leutnant – aber«, setzte er seufzend hinzu, »ich sah nicht meinen Sohn, sondern einen Fremden, dessen Angesicht und Rede ich nicht verstand. Was haben Sie da? Ich höre es klirren.« – »Es sind meine Instrumente.« – »Darf ich sie befühlen?« – »Ich gehöre nicht zu den Ärzten, die den Patienten stets für schwächer halten, als er ist. Sie dürfen diese Instrumente getrost kennenlernen, bevor ich sie anwende.«
Er überreichte dem Grafen die Werkzeuge einzeln. Dieser betastete nacheinander Augenspiegel, Nadeln, Messer, Schnepper, Augenhalter, Liderhaken, Scheren, Pinzetten und die übrigen Instrumente und sagte ruhig:
»Diese Instrumente erschrecken mich nicht. Sie sind Gehilfen Ihres Geistes und Ihrer Geschicklichkeit, die ich liebhaben muß und denen ich mich gern anvertraue. Wann können wir beginnen?« – »Sogleich. Doch erlauben Sie mir vorher eine Probe!«
Sternau zog sich ein Haar aus dem Kopf und hielt es gegen die silberweiße Tapete des Gemaches, um zu sehen, ob seine Hand fest sei oder zittere. Das Experiment hatte ein befriedigendes Resultat, und darum gab er dem Ruhebett, das der Graf einnehmen sollte, die richtige Lage, legte sich die Instrumente handlich zurecht und erklärte den Damen, worin die Hilfeleistungen bestanden, die er von ihnen erwartete. Als er sich nun nochmals überzeugt hatte, daß nicht das Geringste vergessen sei, trat er an das Fenster und richtete seine Augen hinauf zum Himmelsblau. Er sagte kein hörbares Wort; seine Lippen bewegten sich nicht, aber dennoch stieg es den beiden Mädchen siedendheiß aus dem Herzen in die Augen herauf, und Rosa umarmte leise den Vater und flüsterte ihm zu, während einige schwere Tränentropfen aus ihrem Auge auf seine Wangen fielen:
»Vater, er betet.« – »Ich ahnte es«, antwortete er ebenso leise. »Er wird mich retten oder keiner!«
Außer den drei Verschworenen gab es in diesem Augenblick wohl keinen Menschen im Schloß, der nicht aus tiefstem Herzensgrund gebetet hätte, daß das schwere Werk gelingen möge.
Auch der Leutnant, der mit leisen Schritten unter den Fenstern promenierte, hatte unwillkürlich die Hände gefaltet.
»Herr, mein Gott«, flüsterte er inbrünstig, »sei barmherzig und höre auch den Räuber an! Gib dem Kranken den Anblick des Sonnenlichts wieder, und ich will dich preisen in alle Ewigkeit. Amen!«
Eine halbe Stunde war bereits vergangen, seit Mariano sich auf seinem Posten befand, da trat der junge Graf aus dem Portal. Er hatte sich zur Jagd gerüstet und führte zwei Hunde an der Leine. Die Diener schüttelten die Köpfe, daß dieser Mann es über sein Herz brachte, auf die Jagd zu gehen, während das Schicksal seines Vaters entschieden wurde.
Eben als er in der Nähe des Leutnants vorüberging, erblickte er auf dem Gipfel eines Baumes eine Krähe. Rasch riß er das Doppelgewehr von der Schulter und legte an.
»Ein schönes Ziel! Paßt auf den Vogel, Pluto, Pollux! Apport!«
Er wollte losdrücken, kam aber nicht dazu.
»Schurke!« klang nämlich eine Stimme an sein Ohr. Weiter hörte er nichts, sondern es brauste und rauschte um ihn; es wurde ihm blutrot vor den Augen, und der Atem verging ihm.
Mariano war herbeigesprungen, hatte ihm die Hand um die Gurgel gelegt und mit der anderen das Gewehr ergriffen. Unter dem gewaltigen Druck der Faust des Jünglings sank der junge Graf laut– und leblos zu Boden. Nicht einmal die beiden Hunde hatten eine Bewegung zu seiner Verteidigung unternommen, er war sogar den Tieren verhaßt und zuwider.
Einige der Diener hatten es gesehen und kamen herbei. Unter ihnen befand sich auch der Kastellan.
»Oh, heilige Madonna, er wollte schießen!« wehklagte der brave Alimpo. »Er wollte den Señor Doktor stören! Das sagt auch meine Elvira! Was sollen wir mit ihm tun?« – »Nichts«, antwortete der Leutnant. »Wenn Ihr Euch an ihm vergreift, so wird er sich an Euch rächen!« – »So ist er noch nicht ganz tot?« – »Nein. Es fehlt ihm nur der Atem.« – »Ah, wenn er tot wäre – ah – ah – das wäre – das wäre jammerschade um den jungen Herrn!«
Man sah es dem guten Kastellan an, daß er eigentlich das Gegenteil hatte sagen wollen.
»Bekümmert Euch nicht um ihn. Ich werde ihn dahin bringen, wo er nicht schaden kann.«
Der Leutnant hob Alfonzo auf, trug ihn in das Schloß, stieg eine Treppe hinab, legte ihn in eins der dort befindlichen Kellergewölbe, das er verschloß, zog den Schlüssel ab und begab sich wieder auf seinen Posten.
Nur wenige Augenblicke später wurde die Kastellanin zur Condesa in die Zimmer des Grafen beordert. Als sie die Krankenstube mit unhörbaren Schritten betrat, saß der Graf in einem tiefen Polsterstuhl, und der Arzt war beschäftigt, ihm die Binde zurechtzurücken.
»Nun alles verhängen«, sagte der letztere. »Ich brauchte bisher das Licht; jetzt aber müssen sogar die hellen Wände verdeckt werden – aber ohne Geräusch, bitte ich!«
Es herrschte noch der eigentümliche Geruch des Chloroforms in dem Raum. Das Gesicht des Grafen war, so weit man es sehen konnte, leichenblaß, seine Stimme klang leise zwar, aber doch fest, als er fragte:
»Doktor, werden Sie aufrichtig sein?« – »Ja, Don Emanuel«, antwortete Sternau, indem seine Augen leuchteten. – »Ist – ist es – ist es gelungen?« – »Werden Sie stark genug sein, die Wahrheit zu hören?« – »Ja, Señor. Aber Ihre Frage sagt mir bereits, daß ich nichts zu hoffen habe!« – »Nein, Don Emanuel, das sagt sie nicht; aber auch die Freude ist schädlich!« – »Oh, mein Gott, also darf ich hoffen?« – »Hm, ja. – »Ein wenig?« – »Ganz, nachdem Sie sich verhalten, gar nichts, ein wenig oder auch sehr viel. Ich bitte Sie, recht ruhig zu sein. Morgen werde ich mehr sagen können.«
Der Graf seufzte leise. Aber Rosa faßte die Hand des Arztes und flüsterte, dem Vater unhörbar.
»Bitte, mir gegenüber aufrichtig zu sein!«
Da leuchtete es wie eine hohe, stolze Freude aus dem männlich schönen Angesicht des Arztes; seine Brust hob sich unter einem tiefen, erlösenden Atemzug, und er antwortete, ebenso flüsternd:
»Es ist gelungen!« – »Oh, mein Gott, er wird sehen lernen?« – »Ja, aber pst, leise! Die Freude ist ebenso gefährlich wie jeder andere Affekt.«
Da konnte sie sich nicht halten. Trotz der Gegenwart der Freundin und der Kastellanin legte sie ihre Arme um ihn und bot ihm ihre vollen, blühenden Lippen zum leisen, leisen Kuß.
Die gute Elvira hätte, als sie dieses sah, beinahe vor Überraschung laut aufgeschrien; sie bezwang sie jedoch glücklicherweise noch und tröstete sich mit dem Gedanken:
»Das soll mein Alimpo erfahren. Oh, heilige Lauretta, wie wird er sich wundern und freuen!«
Auch Miß Amy war erstaunt, konnte aber nicht umhin, der Freundin recht zu geben. Sie zog dieselbe an sich und küßte sie wortlos auf die Lippen, die einige Augenblicke zuvor der Mund des Arztes berührt hatte. Dieser letztere verließ das Zimmer auf einige Augenblicke, um den Leutnant abzulösen.
»Ah, fertig, Señor?« fragte dieser, als er ihn erblickte. – »Ja.« – »Und wie ist … ach, ich brauche nicht zu fragen, Eure Augen sagen deutlich, daß Ihr nicht unglücklich gewesen seid.« – »Nein, bei Gott nicht. Die Operation ist noch besser gelungen, als ich erwartete; dies muß jedoch dem Kranken noch verschwiegen bleiben. Was ist dies für ein Gewehr?« – »Es gehört Don Alfonzo, den ich arretiert habe«, antwortete Mariano finster. – »Arretiert? Weshalb? Wieso?«
Der Leutnant erzählte das Vorkommnis, und der Arzt hörte mit wachsendem Zorn zu. Als der erstere geendet hatte, sagte letzterer:
»Welch ein Mensch! Welch eine Schändlichkeit! Ohne Absicht kann dies gar nicht geschehen sein! Und das will der Sohn seines Vaters sein?«
Mariano hätte jetzt eine Bemerkung machen können, aber er hielt an sich und schwieg. Der Arzt fuhr fort:
»Was beabsichtigen Sie nun mit ihm zu tun?« – »Das zu bestimmen, überlasse ich Ihnen, Señor. Sie müssen am besten wissen, ob er schädlich ist.« – »Hätte er vorhin geschossen, so war es sehr leicht möglich, daß der Graf aus der Betäubung erwachte und die Operation gefährdet wurde. Jetzt aber – hm, führen Sie mich zu ihm. Ich werde mit ihm sprechen.«
Sie gingen nach dem Gewölbe, das der Leutnant öffnete. Graf Alfonzo hatte ihr Kommen gehört und stand hinter der Tür. Er wollte sich mit beiden Fäusten auf Mariano stürzen, aber in demselben Augenblick faßte ihn der Arzt bei den Armen und hielt ihn so fest, daß er sich kaum regen konnte.
»Räuber! Banditen!« knirschte er. – »Schimpft so viel Ihr wollt, Señor!« sagte Sternau. »Was so ein Mensch sagt, wie Ihr seid, berührt uns keinen Pfifferling. Wir werden Euch wieder freilassen, vorher aber habe ich noch ein Wort mit Euch zu reden.« – »Packt Euch fort, Ihr Schurken! Ich lasse Euch aus der Tür werfen!« – »Nur ruhig, mein Lieber! Ich lasse Euch nicht eher los, als bis Ihr mich ruhig angehört habt.« – »So redet!« herrschte Alfonzo den Arzt an. – »Ich habe Euch zu sagen, daß Euer Verhalten mir außerordentlich verdächtig vorkommt. Ich kann zwar die Ursache nicht ergründen, aber wenn Ihr Euch Eurem Vater naht, ehe ich es erlaube, oder wenn Ihr das Geringste unternehmt, was ihm schaden könnte, so mache ich Euer Verhalten in den Blättern öffentlich bekannt und übergebe Euch den Gerichten!« – »Tut es doch, tut es!« rief er. »Ich werde Euch beide dann dafür auspeitschen lassen!«
Das war dem Leutnant denn doch zu viel. Er hatte sein Geheimnis auf das strengste bewahren wollen, jetzt aber konnte er sich doch nicht ganz beherrschen. Er legte Alfonzo die Faust auf die Schulter und sagte:
»Mensch, wage noch eine solche Drohung, so schlage ich dich zu Boden! Meinst du etwa, die Gerichte nicht fürchten zu müssen, du und deine sauberen Eltern? Der Staatsankläger mag entscheiden, ob du wirklich ein geborener Graf de Rodriganda-Sevilla bist! Packe dich, Kanaille!«
Er gab Alfonzo einen so fürchterlichen Hieb, daß der Getroffene aus den Händen des Arztes, trotzdem ihn diese so fest gepackt hielten, an die Mauer flog. Er taumelte zurück, raffte sich jedoch schnell auf und sprang die Treppe empor.
»Mein Gott, was war das?« fragte der Arzt. »Der Mensch ist nicht der Sohn des Grafen Emanuel?«
Jetzt erst merkte der junge Mann den Fehler, den er begangen hatte. Er fuhr sich mit der Hand nach der glühenden Stirn und sagte:
»Señor, könnt Ihr schweigen?« – »Ja«, sagte Sternau einfach und herzlich. – »Ich habe Euch lieb; Ihr seid ein ganzer Mann. Wollt Ihr mein Freund sein?« – »Gern, sehr gern, denn auch ich habe Euch lieb, Señor. Hier ist meine Hand!« – »So erfüllt mir eine Bitte!« bat Mariano, in die Rechte des Arztes einschlagend. – »Welche?« – »Schweigt jetzt noch von dem, was Ihr gehört habt!« – »Sagt mir vorher, ob Ihr die Wahrheit sprachet.« – »Ich glaube, daß es die Wahrheit ist. Ich muß noch Zeit haben, diese schwierige Angelegenheit zu untersuchen. Bis dahin aber ist unbedingte Verschwiegenheit notwendig.« – »Gut, ich werde schweigen, doch unter der Bedingung, daß ich als Freund dann später auf Euer Vertrauen rechnen kann!« – »Das könnt Ihr, ja, bei Gott, das könnt Ihr, Señor.« – »So mag diese Angelegenheit einstweilen ruhen, obgleich ich mich in Gedanken sehr mit ihr beschäftigen werde. Jetzt aber muß ich schleunigst zum Grafen, denn ich muß gewärtig sein, daß dieser Alfonzo zu ihm gegangen ist, um meine Erfolge zunichtezumachen.«
Sternau fand glücklicherweise, daß Alfonzo diesen Weg nicht eingeschlagen hatte, er war vielmehr sogleich zu der Schwester Clarissa geeilt.
»Mutter«, rief er beim Eintreten, »schicke sofort zum Vater! Es ist etwas ganz und gar Unerhörtes geschehen.«
Die fromme Schwester fuhr erschrocken von ihrem Sitz auf.
»Oh, du gütiger Himmel, welche Unvorsichtigkeit!« zürnte sie. »Du schreist ja, als ob dich niemand hören könnte. Was ist geschehen?« – »Eine Ruchlosigkeit, wie es keine zweite gibt, eine Nichtswürdigkeit sondergleichen. Dein Mädchen war nicht im Vorzimmer, ich werde den Vater gleich selbst holen.«
Alfonzo eilte fort und kehrte in kurzer Zeit mit dem Notar zurück, um zu erzählen, was ihm widerfahren war. Die beiden Alten erschraken auf das äußerste.
»Was tue ich? Sagt es mir!« rief Alfonzo noch immer ganz erregt.
Da erhob sich der Notar und sprach in strengstem Ton: »Schweigen, ja schweigen sollst du! Du hast einen fürchterlichen Fehler begangen. Wer hat dir befohlen, unter dem Fenster des Grafen zu schießen, he? Du bringst dich, uns und unseren ganzen Plan in Gefahr. Hier gibt es keine andere Hilfe, ich muß sofort nach Barcelona zum Kapitän Landola. Ich habe soeben eine Depesche erhalten, daß er nicht kommen kann, da er das Ausladen seiner Güter überwachen muß. Der Steuermann, dem diese Arbeit eigentlich zufällt, ist krank geworden.« – »Wann reist du?« fragte die fromme Schwester. – »Bereits in einer halben Stunde. Aber ich verlange unbedingten Gehorsam. Höre ich von einer weiteren Unvorsichtigkeit, so ziehe ich meine Hand von dir ab. Verstanden, Bursche? Jetzt gehe!«
Das hatte Alfonzo nicht erwartet. So hatte sein Vater noch nie mit ihm gesprochen, und er verließ das Gemach, ohne ein Wort der Entgegnung zu wagen.
//-- * * * --//
Es war drei Tage später, als in der frühen Morgenstunde Sternau mit dem Leutnant im Park spazierenging. Er hatte während dieser Tage den Grafen keinen Augenblick verlassen und jetzt zum ersten Mal einen Mund voll Gartenluft haben wollen. Sie trafen vor einem Blumenboskett die Kastellanin, die Blüten pflückte.
»Guten Morgen, Señores!« rief sie ihnen bereits von weitem entgegen. »Seht diese prachtvollen Rosen! Ja, am heutigen Tag muß man die schönsten pflücken, das sagt mein Alimpo auch.« – »Was ist‘s mit dem heutigen Tag?« fragte Sternau. – »Wie? Das wißt Ihr nicht?« fragte sie ganz erstaunt. – »Nein.« – »Daß der Geburtstag unserer lieben, gnädigen Condesa ist?« – »Ah! Wirklich? Oh, da muß man ja gratulieren.« – »Natürlich! Sie ist bereits längst munter. Auch der gnädige Herr sind wach und haben mich eben in den Garten geschickt. Er will ihr in seinem Zimmer bescheren.« – »Davon hat er mir ja nicht das mindeste gesagt!« meinte der Arzt. – »Vielleicht hat er auch Euch überraschen wollen. Die Geschenke sind gestern angekommen. Geht hinauf, Señor, Ihr könnt mit Blumen legen helfen.«
Fünf Minuten später befand sich Sternau bei dem Grafen und war beschäftigt, den letzteren und die Kastellanin beim Ordnen und Dekorieren der reichen Geschenke zu unterstützen. Dann ging Frau Elvira, um Rosa zu holen. Sternau wollte sich zurückziehen, aber der Graf gab es nicht zu.
»Bleiben Sie, Doktor«, bat er. »Ihre Gegenwart macht mir die Freude zu einer doppelten.«
Die Condesa erschien. Sie trug ein einfaches, weißes Halbnegligé, das die schönen Formen ihrer königlichen Gestalt auf das entzückendste hervorhob. Sie reichte beiden Männern das Händchen, freute sich kindlich über die Überraschung und dankte dem Vater durch eine innige Umarmung.
»Elvira sagte mir, daß auch Sie besorgt gewesen seien, mich zu erfreuen. Ich danke Ihnen«, wandte sie sich jetzt zu Sternau.
Dieser zog die Hand, die sie ihm nochmals reichte, innig an die Lippen und antwortete:
»Was ich tat, ist nur eine Kleinigkeit, aber wenn Sie es mir gestatten, so würde ich es wagen, diesen Tag mit einer wirklichen Gabe zu feiern. Darf ich?«
Sie errötete, sagte aber:
»Aus Ihrer Hand ist mir jede Gabe, auch die kleinste, wert.« – »So wollen wir es wagen. Gott gebe seinen Segen.«
Damit trat Sternau zu dem Grafen und nahm ihm die Binde von den Augen.
»Wenden Sie sich vom Fenster ab, Erlaucht!« bat er, zitternd vor Erwartung. »Sehen Sie Ihr Kind?«
Das war so rasch gekommen, daß der Graf die Augen geschlossen hielt, als die Binde bereits entfernt war. Er stand an dem mit Blumen bedeckten Tisch, auf den er sich mit der Hand stützte, und wußte nicht, wie ihm geschah. Doch endlich faßte er sich und flüsterte:
»Welch großer Tag! Welch heiliger Augenblick! Mein Jesus und mein Gott, laß es gelingen!«
Zitternd am ganzen Körper schlug er langsam die Augen auf. Sternau stand hinter ihm und konnte sein Angesicht nicht beobachten, aber er sah, daß sich die Arme des Grafen voll Sehnsucht und Entzücken erhoben, daß er einige Schritte vorwärts tat, der Tochter entgegen, und mit inniger Genugtuung hörte er ihn rufen:
»Heiliger Himmel! Ist es wahr? Ist es kein Traum? Ich sehe! Ich sehe einen Engel, einen Engel, so schön, so licht, so rein und so herrlich! Señor, Doktor, ist dies Wirklichkeit?« – »Es ist Wirklichkeit!« antwortete Sternau mit tiefer, bebender Stimme, indem sein Auge feucht wurde. – »Oh, du hochgelobte Dreieinigkeit, ist es wahr? Dieser Engel, wer ist es?« – »Vater, du meinst doch mich! Du siehst mich! Ich sehe es deinen Augen an!« jubelte Rosa.
Sie warf sich in die Arme ihres Vaters. Diesen übermannte das Entzücken so, daß er in das Polster des Diwans sank und die Augen schloß.
»Um Gott«, rief da Rosa, »er ist ohnmächtig, es wird ihm und seinen Augen schaden.« – »Haben Sie keine Sorge, Condesa!« bat jedoch Sternau. »Er ist nur erschüttert, aber nicht ohnmächtig. Und seine Augen sind gesund, sie halten diese Freude sicher aus.« – »Ja, sie halten sie aus!« flüsterte der Graf mit seligem Lächeln. »Ich fühle es. Ich darf sie öffnen.«
Und wiederum schlug er die Augen langsam auf und trank die Seligkeit aus dem entzückten Blick seines Kindes. Rosa wechselte mit Jubeln und Weinen, sie küßte mit Inbrunst die erstarkten Augen ihres Vaters, sie sprang von demselben weg und warf sich unbesorgt in die Arme Sternaus, sie eilte zurück, um mit lauten Ausrufen den Vater abermals zu umfangen. Dieser konnte den Blick nicht von ihren Zügen wenden. Er drückte sie an sich, er herzte sie, er nannte sie bei den süßesten Namen. Dazwischen faltete er zehn– und zwanzigmal die Hände, um Gott zu danken für die unbeschreibliche Freude dieser Stunde. Und endlich rief er, sich auf seine jetzt so naheliegende Pflicht besinnend:
»Aber Señor, Sie vergesse ich ja ganz und gar! Bitte, treten Sie näher, daß ich den Mann sehe, dem ich dies alles zu verdanken habe!«
Sternau trat zu ihm und reichte ihm die Hand. Noch standen die schweren Tränentropfen in seinen Augen. Der Graf aber nahm die ausgestreckte Rechte des Arztes liebevoll zwischen seine Hände und blickte ihm lange, lange Zeit wortlos in das Angesicht.
»Ja«, sagte er endlich. »So habe ich Sie mir gedacht, so hoch und stark, so stolz und mild, so wahr und klar, so offen und freundlich, Señor, ich kann Ihnen nicht danken, aber ich gehöre Ihnen, so lange ich lebe!«
Damit zog er Sternau an sich und küßte ihn, als ob er einen Sohn vor sich habe.
»Und nun die anderen, Señor!« bat er – »Don Emanuel, lassen Sie es einstweilen genug sein«, antwortete der Arzt. »Schonen Sie sich und warten Sie bis zum Nachmittag. Diese Entsagung wird sich belohnen.« – »Auch meinen Sohn nicht?« – »Auch diesen nicht!« bat Sternau, dem plötzlich ein Gedanke durch den Kopf ging. »Condesa Rosa gehört ja Ihnen, die anderen sehen Sie in der Dunkelstunde, wenn die Sonnenstrahlen ihre Schärfe verloren haben. Bitte, gehorchen Sie mir nur noch dieses Mal!« – »Ich gehorche«, sagte der Graf. »Aber ich will mich nicht allein freuen. Rosa, sorge dafür, daß ganz Rodriganda sich freut. Man soll ein Fest feiern, ein großes Fest, und wer eine Bitte hat, der soll sie dir sagen, nicht Señor Gasparino oder Alfonzo, sondern dir, und wenn es möglich ist, so werde ich sie erfüllen. Alle meine Beamten sollen heute ein Monatsgehalt gratis bekommen. Oh, ich werde – ich werde …«
Er sann nach und wandte sich an Sternau:
»Señor, haben Sie Verwandte?« – »Eine Mutter und eine Schwester«, lautete die Antwort. – »In Deutschland?« – »Ja, in Mainz.« – »Glauben Sie, daß ich lesen kann?« – »Sie können es, aber Sie dürfen es noch nicht.« – »Auch nicht ein paar Worte?« – »Das kann ich gestatten.« – »Oder schreiben? Nur eine Zeile oder zwei, mehr nicht!« – »Ist es sehr notwendig?« – »Ja.« – »So schreiben Sie, aber nicht gegen das Fenster gewandt.«
Der Graf trat an seinen Schreibtisch, zog ein Blankett hervor und füllte es aus. Dann legte er es zusammen und reichte es seiner Tochter.
»Hier, Rosa, mein Kind«, sagte er, »bitte ihn, daß er diese Worte als eine Erinnerung an den heutigen Tag annehme, nicht von mir, sondern von dir, und nicht für sich, sondern für seine Mutter und Schwester. Was er getan hat, muß unvergolten bleiben, aber seiner Mutter und Schwester dürfen wir sagen, wie lieb wir ihn haben, und wie unvergeßlich er uns sein wird!«
Sie nahm den Zettel und überreichte ihn Sternau, der zwei Schritt zurücktrat und die Hand abwehrend ausstreckte.
»Ich wußte es«, sagte sie errötend, »aber verstehen Sie mich recht, nicht Ihnen soll eine Gabe werden, sondern Sie sollen uns eine Freundlichkeit erweisen, und Sie haben nicht das Recht, etwas zurückzuweisen, was nicht Ihnen, sondern anderen gehören soll.« Und als er in seiner Haltung verharrte, trat sie ganz nahe an ihn heran, legte ihm das Papier in die Hand und hauchte fast unhörbar:
»Carlos, bitte, nimm es!«
Da konnte er nicht widerstehen. Er gab den beiden eine Hand des Dankes, aber er ging, und erst als er auf sein Zimmer kam, sah er, daß er eine Anweisung auf zweimal hunderttausend Silberpiaster in den Händen hielt, ein wahrhaft fürstliches Honorar, das ihn sofort zum selbständigen Mann machte.
Rosa meinte, da er den Grafen so schnell verlassen hatte, daß er beleidigt sei.
»Weißt du, Vater«, sagte sie, »daß du ihn gekränkt hast?« – »Ich glaube nicht, mein Kind. Er soll nicht das Geld, sondern die Gesinnung beachten. Mein Herz ist zum Zerspringen, und ich konnte nicht anders. Es soll kein Honorar, keine Bezahlung sein, es ist ja alles sein, was mir gehört, sage ihm dies noch extra, Rosa! Jetzt aber eile und sorge dafür, daß man sich mit mir freue!«
13. Kapitel
Was Señor Gasparino Cortejo betraf, so hatte der Graf sich in Beziehung auf diesen einer kleinen Vergeßlichkeit schuldig gemacht. Der Notar hätte heute gar keine Bitte entgegennehmen können, denn er war ja vor bereits drei Tagen nach Barcelona gereist.
Im Hafen dieser Stadt lag zwischen anderen Schiffen ein Dreimaster, der am Bug und Stern den Namen »La Pendola« führte. Dieses Wort heißt zu deutsch »Feder« oder »Pendel«. Dies war für den Nichtkenner vielleicht ein sonderbarer Name für ein großes, schweres Kauffahrteischiff von drei Masten und mehreren Decks; aber ein Seemann hätte sich über diesen Namen nicht gewundert. Man sah es zwar, daß die »Feder« nicht auf einer amerikanischen Werft gebaut sei, aber sie war doch nach amerikanischem Muster modelliert. Ihr Bug stieg kühn am Vorderdeck empor, und der Kiel lag lang und scharf im Wasser; dazu war die Takelung eine beinahe klipperartige, so daß sich vermuten ließ, die »Feder« sei ein außerordentlich schneller Segler und fliege »federleicht« über die Wogen dahin. Freilich sind solche Schiffe auch leicht zum Kentern geneigt; sie »brechen oft das Rückgrat«, wie der Seemann sich ausdrückt, und es gehört ein mehr als gewöhnlicher Seemann dazu, ein derartiges Fahrzeug zu kommandieren.
Nun, ein nicht ganz gewöhnlicher Seemann war Kapitän Henrico Landola; das wußten alle, die ihn kannten. Und diese sagten einstimmig, daß er trotz seines spanischen Namens ein Amerikaner sei, ein echter Yankee, der sich vor dem Teufel nicht fürchte und, wenn es sein müsse, vorn zur Hölle hinein und hinten wieder hinaus segeln werde, ohne eine Spiere oder Stenge zu beschädigen. Er kannte alle Meere und alle Häfen und galt für einen Mann, dem jede Fracht recht sei, wenn er nur Geld verdiene. Ja, man munkelte sogar, daß er auch eine Ladung Neger nicht verschmähe, obgleich die Sklaverei, auf dem Papier wenigstens, abgeschafft ist und man sich vor den »Kreuzern« sehr in acht zu nehmen hat.
Dieser Mann also lag mit der »Pendola« im Hafen von Barcelona vor Anker und hatte sich heute mit dem Notar Gasparino Cortejo in die Kajüte eingeschlossen, um ungestört über Geschäfte sprechen zu können.
Cortejo saß vor einem großen Stoß von Papieren, die er durchgerechnet hatte. Er legte soeben die Feder weg und sagte:
»Ich bin mit Euch zufrieden, Landola. Mein Part beträgt dreißigtausend Duros, und soviel gedachte ich für dieses Mal nicht zu gewinnen.«
In dem Gesicht des Kapitäns zuckte keine Miene. Er fragte kalt: »Und wie steht es? Soll ich zahlen, oder laßt Ihr das Geld im Geschäft, weil ich es brauche?« – »Behaltet es.« – »Gut, abgemacht. Habt Ihr sonst noch etwas?« – »Ich denke.« – »So schießt los!« – »Hm! Könnt Ihr keinen Matrosen gebrauchen?« – »Brauche immer welche. Was für einen?« – »Den man einmal verliert.« – »Aha! Im Wasser?« fragte Landola mit einem bezeichnenden Lächeln. – »Meinetwegen auch auf dem Land. Nur wiederkommen darf er nicht.« – »Wie damals Don Ferdinando de Rodriganda-Sevilla. Nicht wahr?« – »Pst!« meinte der Notar erschrocken. »Wenn man Euch hörte! Nennt diesen Namen ja nicht wieder!« – »Warum?« – »Don Ferdinando ist ja tot!« – »Ja, schlimmer als tot – verloren – das kann ich beschwören! Wer ist der neue Matrose?« – »Einer, der sich für einen Offizier ausgibt, aber ein Abenteurer ist« – »Freut mich! Sind mir die liebsten! Wo ist er zu finden?« – »Auf Rodriganda.« – »Ah! Wie bringt Ihr ihn her?« – »Ihr sollt ihn Euch holen.« – »Auch schön. Ist er stark?« – »Sehr.« – »Tapfer?« – »Noch mehr!« – »Jung?« – »Anfangs Zwanziger.« – »Das ist gut! Er wird sich wehren?« – »Jedenfalls!« – »Das wollen wir ihm verbieten! Wieviel zahlt Ihr, Señor?« – »Wieviel verlangt Ihr, Capitano?« – »Dreihundert Duros für alles: Unbemerktes Abholen, ohne Geräusch, spurloses Verschwinden und niemalige Wiederkehr.« – »Ich gehe darauf ein, obgleich ich weiß, daß er Euch beim Verkauf eine tüchtige Summe einbringt. Schreibt Euch also die dreihundert über. Wohin werdet Ihr ihn bringen?« – »Hm, weiß noch nicht. Vielleicht nach Borneo oder Celebes. Die Malaien geben dort gern Gold oder gar Edelsteine für Weiße, die sie ihren Göttern oder Toten zu Ehren schlachten.« – »Ihr seid ein verdammt feiner Pfiffikus, Capitano!«
Der Seemann lachte boshaft und meinte:
»Euch fehlt es auch nicht an dieser verdammten Pfiffigkeit. Wann soll ich den Jungen holen?« – »Könnt Ihr morgen abend eintreffen?« – »In Rodriganda? Ja. Werde einen hübschen Wagen mitbringen. Wo soll ich halten?« – »Ich werde Euch entgegenkommen. Richtet es ein, daß ich Euch Punkt zehn Uhr an der Grenze der Besitzung treffe.« – »Schön. Die Einleitungen überlasse ich natürlich Euch. Es muß wohl ein ungewöhnlicher Kerl sein!« – »Warum?« – »Sonst gebt Ihr Euch nicht solche Mühe. Ein Schlückchen Gift, hm, würde viel rascher sein.« – »Ich hasse das Gift. Es ist unzuverlässig und verräterisch.« – »Unzuverlässig? Hahahaha! Habe eine Art neues Gift entdeckt, prachtvoll!« – »Wo?« – »In einer alten Scharteke. Will sie Euch einmal zeigen!«
Der Kapitän schloß ein in der Kajütenwand eingelassenes Schränkchen auf, schob eine Menge schwerer Geldrollen zur Seite und zog ein Heft hervor, dessen Schrift erkennen ließ, daß es mehrere hundert Jahre alt sei. Der Einband und das Titelblatt fehlten. Er legte es vor sich hin und schlug es auf.
»Herrliches Buch!« meinte er. »Habe es einem alten deutschen Steuermann abgekauft, der es weiß Gott wo aufgegabelt hatte. Stehen alle möglichen Rezepte und Mittel drin, und hier auch das Gift:
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Item eyn herrlich Gifft für Tott und Wahnsinn.
Man nimbt eyn Töpfleyn Safft von Antiaris toxicaria, welches genannt ißt Antschaar, eyn halbes Töpfleyn Safft des Strychnos Tieuté, so man nennt javanische Brechnuß, eyn vierteyl Töpfleyn Safft von Alpinia galanga, welches ißt indischer Galgant und ebenso vill Safft des Zingiber cassamumar, genannt gifftiger Ingwär. Das siedet man auff die Hälfften eyn und hebt es in eyn Flaschen auff. Fünff Tropffen davon machen eyn starken Menschen tott; zwey Tropffen awer gäben ihm in Wahnsinn, so er nicht mehr weiß, wer er gewesen ißt.
Diesser Wahnsinn wierd wieder geheylt durch folgenden Trankk:
Man zerstößt eyn Tassenkopff Capsium, welches heyßt die strauchigte Beißbeeren und thut darauff eyn halben Tassenkopff Speichel von eyn Menschen, welchen man zu Totte gekietzelt hat, läßt stehen eyn Wochen und thut darauff eyn Löffel scharpfen Essieg, gießt ab und hebt in eyn Flaschen auff. Zwei Tropffen von dieser feynen Artzeneyen nimbt den Wahnsinn wieder hinfort binnen dreyen Tagen.
Notabene: Kann nur im Landte Asien gemacht werden und ißt erprobt von viellen Menschen, so man Neger, Malays‘s oder Wildte nennet.‹«
»Könnt Ihr denn diese Schrift lesen?« fragte der Advokat. – »Ja«, antwortete der Kapitän. »Ich verstehe Deutsch.« – »So verdolmetscht mir doch einmal das Zeug!«
Der Kapitän tat es. Als er fertig war, fragte der Notar:
»Und dieses Gift habt Ihr?« – »Ja.« – »Hm! Könnte man wohl einige Tropfen davon bekommen?« – »Für wen?« – »Das geht Euch nichts an.« – »Für den Jungen etwa, den ich mir holen sollte?« – »Nein.« – »So, das ist etwas anderes. Aber das Zeug ist verteufelt teuer. Der Tropfen kostet fünf Duros.« – »Alle Wetter! Aber es wirkt zuverlässig?« – »Auf mein Wort!« – »Kann ich zehn Tropfen haben?« – »Ja. Macht fünfzig Duros!« – »Gebt her, und schreibt Euch die fünfzig über!«
Der Kapitän griff in dasselbe Schränkchen, nahm eine Arzneiflasche und ein kleines, leeres Fläschchen heraus, in das er aus der ersteren genau zehn Tropfen abzählte.
»Hier, Señor! Das ist gerade genug, um zwei tot oder fünf wahnsinnig zu machen. Ich hoffe, Ihr werdet mit mir zufrieden sein!«
Diese Unterredung geschah am zweiten Tag nach der Abreise des Advokaten von Rodriganda. Am dritten, also an dem Tag des Festes, kehrte er dorthin zurück. Als er durch das Dorf fuhr, war er nicht wenig überrascht, den ganzen Ort im Festkleid zu erblicken. Die Häuser waren mit Kränzen geschmückt, und die Bewohner trugen ihre Festtagskleider. Erst auf dem Schloß erfuhr er, was geschehen sei, und ging sofort zu seiner Verbündeten, um sich alles ausführlich erzählen zu lassen.
Als die Dämmerung hereinzubrechen begann und der Arzt mit Rosa sich abermals bei dem Grafen befand, bestand dieser darauf, nunmehr seinen Sohn zu sehen. Sternau blieb so nichts anderes übrig, als sich dem Willen Don Emanuels zu fügen. Dieser fragte, ob er nun seinen Sohn sehen könne.
»Ich werde nach ihm schicken«, meinte er, indem er nach dem Vorzimmer ging. Dann befahl er dem Diener: »Der Graf Alfonzo und der Leutnant Lautreville sollen kommen. Sie dürfen aber nur zugleich eintreten!«
Mariano hatte keine Ahnung von der Intrige des Arztes. Er trug heute nicht die Uniform, sondern ein kleidsames Zivil und stieß unten im Vorzimmer mit Alfonzo zusammen, der ihn gar nicht beachtete. Der Graf hatte bereits die Binde wieder abgelegt und erwartete mit Ungeduld den Sohn. Als die beiden eintraten, fiel sein Auge zunächst auf Alfonzo, glitt aber schnell von diesem ab und auf den Leutnant hinüber. Da erhob er sich, schritt auf den letzteren zu, öffnete die Arme und rief:
»Mein Sohn, ich bin sehend! O komm und freue dich!«
Bei dieser Szene stieg dem Leutnant das Blut siedend heiß empor, aber er mußte sich beherrschen. Wie gern hätte er sich an die Brust dieses Mannes geworfen! Es war ihm unmöglich, eine Antwort zu geben, aber er hatte es auch nicht nötig zu sprechen, denn Alfonzo antwortete an seiner Stelle:
»Das ist ein Irrtum, Vater, Graf Alfonzo bin ich!«
Der sehend Gewordene heftete seinen Blick jetzt schärfer auf den Sprecher und entgegnete:
»Wer treibt hier Scherz mit mir? Ihr seid nicht mein Sohn!« – »Und doch bin ich es«, antwortete Alfonzo. »Erkennst du mich nicht an der Stimme?«
Don Emanuel starrte den Sprecher an.
»Diese Stimme, oh, diese Stimme!« rief er. »Ja, ich kenne sie, aber als ich sie zuerst hörte, dachte ich nicht, daß sie meinem Sohn gehören könne. Aber wer ist der andere?« – »Es ist Leutnant de Lautreville«, antwortete Sternau. – »Der Leutnant! Oh, Señor de Lautreville, sagt, ob dies wahr ist!«
Mariano wollte das Herz brechen, aber er antwortete:
»Erlaucht, es ist so!«
Da stieß der Graf einen Laut aus, von dem man nicht sagen konnte, ob es ein Seufzer oder ein Schluchzen sei. Er berührte keinen von den beiden, sondern drehte sich langsam um, sank auf seinen Sitz und sagte:
»Rosa, teile den Herren mit, daß sie gehen sollen. Nur Señor Sternau bleibt hier!«
Alfonzo und Mariano gingen. Sie erfuhren nicht, was in des Grafen Zimmer noch gesprochen wurde.
Als der erstere das Zimmer der frommen Schwester erreichte, fand er den Advokaten dort. Sie beide hatten seine Rückkehr mit allergrößter Spannung erwartet.
»Nun?« fragte Cortejo. – »Er mag nichts von mir wissen!« lautete die Antwort. – »Ah, ich ahnte es! Weiter!« – »Er wollte den Leutnant umarmen.« – »Dieser war zugegen?« – »Er trat mit mir ein.« – »Alle Teufel, das sieht ja aus wie Berechnung! Was sagte der Graf zu ihm?« – »Er hielt ihn für seinen Sohn.« – »Und als du den Irrtum natürlich aufklärtest?« – »Da gebot er uns beiden, uns zu entfernen. Jetzt sitzt jener Sternau wieder bei ihm.« – »Sollte dieser etwas ahnen oder gar wissen? Es ist ein Glück, daß es heute anders wird. Morgen wäre es vielleicht zu spät dazu!« – »Heute? Was soll geschehen, mein Lieber?« fragte die fromme Schwester. – »Das werdet ihr später erfahren. Je weniger heute davon wissen, desto besser ist es für uns. Geht bei Zeiten schlafen und bekümmert euch um nichts.«
Auch er begab sich nach seinem Zimmer; bald jedoch verließ er dasselbe, und es schien, als ob er sich noch im Park ergehen wolle, denn er verschwand mit den langsamen, ziellosen Schritten eines Spaziergängers nach dieser Richtung hin.
Da Sternau und Rosa bei dem Grafen waren, so waren Amy und der Leutnant aufeinander angewiesen. Die erstere war auch auf eine Viertelstunde zu Don Emanuel gerufen worden, hatte sich aber bald wieder zurückgezogen, da das Gemüt des Grafen sehr gedrückt zu sein schien.
Um der Langeweile zu entgehen, hatte Amy dem Leutnant vorgeschlagen, einen Gang ins Dorf zu machen. Sie hatten die Venta – das Wirtshaus – besucht, wo beim Klang der Pfeifen und Zithern getanzt wurde, und kehrten nun nach dem Schloß zurück. Unweit desselben blieb die Engländerin stehen und fragte in leisem Ton:
»Señor, Sie leiden an einem Geheimnis?« – »Ja«, antwortete er nach einer kleinen Pause. – »Darf man es nicht erfahren?« – »Jetzt nicht.« – »Sie haben kein Vertrauen zu mir, Señor?« – »O doch, welch unendliches Vertrauen!« antwortete er. »Aber es gibt Dinge, die man kaum sich selbst sagen darf.« – »Aber später, darf ich es da erfahren?« – »Miß Amy, Sie werden es sicher erfahren, ganz sicher, wenn …«
Er stockte.
»Wenn …? Was wollten Sie sagen, Señor?« – »Wenn ich – wenn ich Sie wiedersehen darf!«
Da nahm sie seine Hand, blickte ihm treu und offen ins Gesicht und entgegnete:
»Sie dürfen! Ich werde auf Sie warten.« – »Wie lange? Oh, wie lange? Sagen Sie es mir, Miß Amy!«
Sie legte ihr Köpfchen an seine Brust und antwortete:
»So lange ich lebe, denn wenn du nicht kommst, sterbe ich.«
Er antwortete nicht, er sagte kein Wort, aber er hielt sie umschlungen lange, lange Zeit, bis sie ihn selbst bat, den Weg fortzusetzen. Er brachte sie noch bis vor die Tür zu ihren Gemächern und begab sich dann direkt nach seiner Wohnung. Er fühlte sich so glücklich, so selig. Er wollte niemand treffen, sondern in der Einsamkeit seines Zimmers mit seinen Gefühlen allein sein.
Inzwischen verdoppelte der Notar, als er den Park erreicht, seine Schritte und gelangte lange vor zehn Uhr zur Grenze. Landola erschien sehr pünktlich. Er hatte einen zweispännigen Wagen und sechs kräftige Matrosen bei sich. Der Wagen wurde unter Bäumen, die ihn verbargen, in die Obhut eines der Leute gestellt, und die anderen marschierten auf Rodriganda zu.
»Wie wird es gehen?« fragte der Kapitän. – »Sehr leicht«, antwortete der Notar. »Es ist Tanz im Dorf, wo sich fast die ganze Dienerschaft befindet. Er ist auch hier, ich habe ihn beobachtet. Eine der hinteren Treppen ist frei. Auf ihr führe ich Euch nach dem Korridor und in seine Zimmer, die unverschlossen sind. Ihr postiert Euch in die Schlafstube, und wenn er kommt, so nehmt Ihr ihn fest.« – »Das klingt leicht. Aber wie kommen wir wieder fort?« – »Auf demselben Weg. Ihr wartet, bis ich erscheine, denn ich hole Euch wieder ab, wenn alles sicher ist.«
Es geschah, wie der Advokat gesagt hatte. Sie erreichten vollständig unbemerkt den hinteren Teil des Schlosses und gelangten von der Treppe, auf der sie die Fußbekleidungen auszogen, auf den erleuchteten Korridor, der verlassen lag, in die Wohnung des Leutnants, in der kein Licht brannte. Dort versteckten sie sich.
Als Mariano ahnungslos aus dem Dorf zurückkehrte, trat er in das Zimmer, daß ihm als Wohnraum diente, und machte Licht. Er riegelte die Tür zu, die nach dem Korridor führte, und begab sich dann in das Schlafzimmer, um sich seiner Oberkleider zu entledigen. Kaum jedoch hatte er den ersten Schritt in den dunklen Raum getan, so erhielt er einen Faustschlag an die Schläfe und darauf einen ebenso wohlgezielten zweiten, daß er die Besinnung verlor, ehe er einen Laut auszustoßen vermochte.
»Holt das Licht heraus«, gebot der Kapitän. »Wir wollen uns den Burschen einmal ansehen.«
Das Licht wurde gebracht, und man beleuchtete Mariano.
»Ah, ein feiner Bursche!« meinte Henrico Landola. »Hm, er sieht irgendeinem ähnlich, den ich kenne. Werde mich wohl noch darauf besinnen. Knebelt ihn, wickelt ihn in das Segeltuch und bindet die Taue fest, daß es ein hübsches, steifes, ruhiges Bündel ist, mit dem wir keine Not haben.«
Das Licht wurde ausgelöscht, und noch war nicht lange Zeit seitdem vergangen, als es leise an die vordere Tür klopfte, die geöffnet wurde, worauf der Notar hereingehuscht kam.
»Habt Ihr ihn?« fragte er. – »Ja.« – »Hat er sich gewehrt?« – »Pah! Das werden wir uns verbitten! Eine Seemannshand weiß gut zu treffen.« – »Er ist wohl noch ohne Besinnung?« – »Das wird sich finden. Kann es fortgehen? Draußen ist es geheurer als hier.« – »So kommt!«
Cortejo führte nun die Seeleute auf demselben Weg zurück, den sie gekommen waren, und sie erreichten den Wagen, ohne von irgendeinem Menschen bemerkt worden zu sein. Zwei Männer hatten den Geraubten bis hierher getragen. Er wurde von ihnen zunächst auf die Erde geworfen. Der Advokat zog darauf eine Blendlaterne hervor, die er ansteckte. Er konnte es sich nicht versagen, sein Opfer noch einmal anzusehen und ihm ein peinigendes Wort mit auf den Weg zu geben. Das Licht der Laterne fiel auf das Gesicht des Gefangenen. Er hatte die Augen offen.
»Ah, Bursche, du bist munter«, grinste der Notar ihn an. »Deine Rechnung mit Rodriganda ist gemacht Du wirst keinem Menschen mehr schaden. Lebe wohl und vergiß mich nicht.«
Mit diesen Worten schlug er dem Wehrlosen mit der geballten Faust einige Male in das Gesicht und gab das Zeichen, ihn in den Wagen zu heben. Während dies geschah, wurde er von dem Kapitän auf die Seite genommen und gefragt:
»Also wie, Señor? Soll er sterben oder …« – »Hm, tot ist am besten!« – »Dann verliere ich aber ein Bedeutendes!« – »So schreibt Euch zweihundert Duros mehr auf Euer Konto.« – »Das ist etwas anderes! Für diesen Preis kann man es machen. Da sind die Jungens ja fertig. Gute Nacht, Señor! Ihr laßt Euch doch noch sehen, ehe ich in See steche?« – »Einmal noch, ja.« – »Adieu!« – »Adieu!«
Der Wagen rasselte davon, und der Advokat kehrte nach Rodriganda zurück.
Er nahm dorthin nun die feste Überzeugung mit daß sein Spiel jetzt gar nicht mehr zu verlieren sei.
14. Kapitel
Am anderen Morgen hatte sich Miß Amy Lindsay bereits zu einer sehr frühen Stunde erhoben. Oft hat das Glück ganz dieselbe Wirkung auf die Nachtruhe wie das Unglück; es verscheucht den Schlaf. Es trieb sie, hinauszugehen in den kühlen, taufrischen Morgen. Als sie aus ihrem Zimmer trat, sah sie Frau Elvira von oben kommen, ein Körbchen im Arm. Sie grüßte mit einem tiefen Knicks, und Amy dankte ihr auf das freundlichste.
»Wie es scheint, ist unsere gute Señora Elvira schon sehr in Geschäften«, sagte sie. – »Jawohl, meine verehrte Doña Amy Lady«, antwortete die Kastellanin, die von ihrem guten Alimpo gelernt haben mochte, die spanische Titulatur mit der englischen zu vereinigen. »Ich habe nämlich einen großen Fehler auszugleichen.« – »Darf man ihn kennenlernen?« – »Warum nicht? Denkt Euch, Doña Lindsay Miß, wir haben gestern überall Blumen und Kränze gehabt, und gerade dem, der den Tag zum Fest machte, dem hat man nicht eine einzige Blüte auf sein Zimmer gestellt. Das ist höchst undankbar! Das sagt mein Alimpo auch.« – »Ah, Sie meinen Señor Sternau?« – »Ja, ihn und keinen anderen. Denkt Euch, Miß Lady, daß er den gnädigen Grafen nicht nur sehend gemacht, sondern auch von einer sehr lebensgefährlichen Krankheit geheilt hat. Man muß ihm dankbar sein. Darum sagte Doña Rosa, ich solle heute früh für Rosen sorgen.« – »Er hat bisher bei Don Emanuel stets gewacht?« – »Ja, es scheint, er traut gewissen Leuten zu, daß sie die Heilung des gnädigen Herrn verhindern wollen. Er ist ein sehr energischer Mann, das sagt mein Alimpo auch. Selbst heute hat er beim gnädigen Grafen gewacht; jetzt aber ist er in den Park gegangen.« – »So werden wir ihn vielleicht treffen. Ich werde Ihnen helfen, Blumen brechen.« – »Oh, wie gütig Ihr seid, teure Señorita Miß Amy Doña. Ich nehme diese große Ehre an.«
Amy hatte richtig vermutet. Sie waren noch nicht lange beschäftigt, so sahen sie den Arzt herbeikommen. Er zog den Hut grüßend, und die Engländerin trat auf ihn zu.
»Darf ich mich Ihnen anschließen, Señor Sternau, oder sind Ihre Gedanken mit etwas Besserem beschäftigt, als ich Ihnen bieten kann?« fragte sie. – »Sie sind mir herzlich willkommen, Miß«, antwortete er, »denn Sie bieten mir die Wirklichkeit dessen, womit sich meine Gedanken beschäftigen. Ich dachte nämlich an Sie.« – »An mich?« fragte sie mit scherzhaftem Erstaunen. – »Ja, und der Gedanke an Sie führte mich im Geist nach dem fernen Land, das Ihnen bald zur Heimat werden soll.« – »Sie meinen Mexiko? Kennen Sie es?« – »Sehr gut. Ich bin von den Prärien Nordamerikas durch Texas und Neumexiko geritten, kam dann durch die Wüste Mapimi nach der Hauptstadt des Landes, wo ich einige Monate verweilte, und ging hierauf nach Kalifornien, um das Leben und Treiben in den Minenregionen näher kennenzulernen«. – »Ah, Sie waren wirklich in Mexiko? Oh, das befreundet mich mit diesem Land!« rief sie. »Sie werden mir von ihm erzählen müssen, Sir. Ich muß Ihnen nämlich gestehen, daß ich eine ganz entsetzliche Angst vor Mexiko habe, welches das Land der Grausamkeiten und der Gewalttätigkeit ist. Denken Sie an seine Geschichte.« – »Ja, diese Geschichte ist allerdings mit Blut geschrieben, und die Verhältnisse sind selbst heute noch immer keine geordneten, aber so schlimm, wie es Ihnen zu sein scheint, ist es doch nicht. Mexiko ist eines der schönsten Länder der Erde; es bietet die seltensten Genüsse und Annehmlichkeiten, und besonders wird das Leben und Treiben der Hauptstadt Ihnen die größte Befriedigung gewähren.« – »Aber das Leben und Treiben der Provinzen, Sir. Man spricht sogar von Räuber– und Mörderbanden, die es dort geben soll!« – »Nun«, lächelte der Arzt, »man möchte freilich fast behaupten, daß ein jeder Mexikaner so ein wenig Räuber, Mörder oder Freibeuter ist, aber man wird sehr bald daran gewöhnt« – »Gewöhnt!« rief sie. »Wie kann man gewöhnt werden, mit Räubern, Mördern und Freibeutern zusammenzusein!« – »Sehr leicht, Miß Amy. Diese Räuber sind die feinsten Kavaliere, die es geben kann. Sie machen die Bekanntschaft eines hohen Offiziers, der Sie bezaubert, eines Richters, dessen Gerechtigkeit Ihnen imponiert, eines Gelehrten, dessen Wissen Sie anstaunen, eines Geistlichen, dessen Frömmigkeit Sie bis ins tiefste Herz erquickt; dann werden Sie eines schönen Tages von Räubern angefallen und erkennen in dem Anführer derselben Ihren Offizier oder Richter, Ihren Gelehrten oder Geistlichen. Das ist dort gar nicht auffällig, obgleich es Ihnen ungewöhnlich vorkommen und ein kleines Lösegeld kosten wird. Sie werden von den Leuten mit aller Höflichkeit behandelt und wenn der Anführer Ihnen späterhin in irgendeinem Salon wieder begegnen sollte, so wird er Ihnen mit aller Courtoisie den Arm bieten und nichts verlangen, als daß Ihnen das kleine Abenteuer nicht mehr erinnerlich ist.« – »Das ist ja ganz erstaunlich romantisch! Es ist in diesen Fällen also bloß auf die Kasse und nicht auf das Leben abgesehen?« – »Meist. In den entfernten Provinzen ist es allerdings etwas gefährlicher. Wer sich da nicht jeder Gegenwehr enthält, der kann seinen Mut leicht mit dem Tod büßen. Man reist in diesen Gegenden deshalb nur unter militärischer Bedeckung. Doch sind solche Kleinigkeiten keineswegs mit den Gefahren der wilden Savanne zu vergleichen. Dort ist jeder wider jeden; man schwebt in jedem Augenblick in Todesgefahr, und wer da nicht gut beritten und ebenso gut bewaffnet ist, Körperstärke und Erfahrung besitzt, der soll lieber daheim bleiben.« – »Ja, ich habe davon gelesen. Ist es wahr, daß solche Leute, die diese Wildnis durchziehen, die Spur eines jeden Menschen, eines jeden Tieres zu entdecken vermögen?« – »Allerdings. Es gehört dazu nicht nur Übung, sondern vor allen Dingen ein Scharfsinn, den man sich nicht anzueignen vermag; er muß angeboren sein. Man muß jedes Sandkörnchen, jeden Grashalm, jeden Zweig befragen können, muß tausend Umstände berücksichtigen, an die kein anderer denken würde.« – »Haben Sie das auch getan?« – »Ich war ja dazu gezwungen«, antwortete Sternau leichthin. – »Ah, da sind Sie also einer jener berühmten Pfadfinder gewesen, die ein so romantisches Leben führen?«
Er verbeugte sich mit komischem Stolz und entgegnete:
»Zu dienen, Miß Amy.« – »Könnte man doch einmal ein Beispiel erleben, um den Scharfsinn eines solchen Präriejägers bewundern zu können!« – »Dieser Wunsch wird Ihnen in Mexiko sehr leicht zu erfüllen sein, hier aber, mein teure Miß – ah, vielleicht ist es auch hier bereits möglich, denn ich sehe hier eine Fährte, die uns als Beispiel dienen kann.«
Sie hatten sich im Verlauf ihres Gesprächs von den Blumen und von der Kastellanin entfernt und waren nach demjenigen Teil des Parks gekommen, der an die hintere Seite des Schlosses grenzte. Kein gewöhnliches Auge hätte in dem Sand des Weges den Eindruck von Füßen entdecken können, aber der geübte Blick Sternaus, angeregt und geschärft durch den Gegenstand des Gesprächs, erkannte sofort, daß hier mehrere Personen gegangen waren.
»Eine Fährte?« fragte die schöne Engländerin, indem sie den Boden musterte. »Ich sehe ja nichts!« – »Das glaube ich Ihnen gern, Miß Amy«, antwortete Sternau. »Es gehört allerdings das Auge eines wilden Indianers oder eines erfahrenen Präriejägers dazu, aus der Lage der Sandkörnchen zu schließen, daß dieser wenig gangbare Pfad während der Nacht betreten worden ist.« – »Während der Nacht? Mein teurer Sir, das klingt ja nach irgendeinem heimlichen Abenteuer!« – »Oh, wir brauchen nicht sogleich an einen Roman zu denken«, lächelte er. Und indem er ihren Arm ergriff, um sie zurückzuhalten, fuhr er fort: »Bitte, bleiben Sie zunächst hier stehen, damit Ihr Fuß die Spuren nicht verwischt!« Dann bückte er sich nieder, um den Sand zu untersuchen und sagte: »Jetzt blicken Sie her, Miß Lindsay! Sehen Sie, daß hier die Körner niedergedrückt worden sind?«
Sie folgte seiner Aufforderung, betrachtete den Boden genau und entgegnete überrascht:
»Wirklich, ich sehe einen Eindruck! Und Sie denken, daß er von einem Fuß herrührt?« – »Allerdings. Er rührt von einem großen Stiefel her, von einem Stiefel, der einen sehr breiten und niedrigen Absatz hat, ungefähr so, als wenn er derjenige eines Wasserstiefels wäre, wie ihn die Fischer und Schiffer tragen. Und hier ist die Spur des zweiten Stiefels, ganz derjenigen des ersten entsprechend. Und weiter; hier rechts haben Sie noch mehrere Spuren; es sind also hier mehrere Männer gegangen. Und betrachtet man den Rand der Fußeindrücke genau, so sieht man, daß derselbe bereits vollständig eingefallen ist, denn er ist nicht mehr scharf abgegrenzt; wie es der Fall sein würde, wenn die Leute erst vor kurzer Zeit hier gegangen wären. Sie sind also zur frühen Nachtzeit hier gewesen.« – »Aber solche Stiefel trägt im Schloß keiner«, bemerkte das Mädchen, das sich für diese eigentümliche Angelegenheit zu interessieren begann.
»Das läßt also vermuten, daß diese Männer hier fremd waren«, antwortete er. Ich beginne fast, einen kleinen Verdacht zu hegen.« – »Ah, wirklich?« fragte sie ängstlich. – »Ja. Sie sind vom Schloß her gekommen. Lassen Sie uns sehen, aus welcher Tür!«
Sie verfolgten nun die Spur nach dem Schloß zurück und kamen an den hinteren Eingang, den die Seeleute als Passage benutzt hatten.
»Ah!« rief Sternau. »Sehen Sie, man hat auf dem Herweg eine andere Richtung eingeschlagen als auf dem Rückweg. Diese Männer sind hier links zwischen den Sträuchern herausgekommen, dann aber rechts durch den Park gegangen. Es waren also wirklich Fremde. Die Sache wird in der Tat bedenklich. Lassen Sie uns eilen! Wir müssen schnell sehen, wohin sie gegangen sind.«
Sie verfolgten die Spur nach dem Park. Amy Lindsay wurde von Minute zu Minute aufgeregter. Sie sah, mit welchem Scharfblick ihr Begleiter die geringste Kleinigkeit berücksichtigte, mit welcher Sicherheit er die Richtung bestimmte, und erstaunte fast, als er, an einer Stelle angekommen, wo der Pfad breiter wurde und der Sand vom Tau noch feucht war, den Boden mit noch größerer Sorgfalt als bisher untersuchte und sagte:
»Miß, das ist sonderbar. Es ist ein Schloßbewohner bei den Fremden gewesen. Sehen Sie, dieser Eindruck rührt von einem feinen Herrenstiefel her. Ich werde ihn mir genau abzeichnen.«
Mit diesen Worten zog er ein Zeitungsblatt, das er zufällig bei sich trug, und einen Bleistift hervor und zeichnete die Umrisse des Stiefels so genau nach der Spur, daß die Konturen der Zeichnung streng an die Sohle des Stiefels passen mußten.
»So, das ist das eine«, sagte er. »Das andere ist fast noch merkwürdiger. Hier sind zwei Männer gerade hintereinander gegangen. Bemerken Sie, daß die Absätze ihrer Stiefel tiefer in den Sand eingedrungen sind als die Sohle?« – »Ja, Sir!« – »Sie sind also fester und schwerer aufgetreten als die anderen, sie haben eine Last zu tragen gehabt, die nicht leicht gewesen ist. Kommen Sie, Miß Amy, gehen wir jetzt noch weiter!«
Sternau verfolgte die Spur noch längere Zeit, ohne ein Wort zu sagen; endlich aber blieb er stehen und meinte ganz erstaunt:
»Ah, hier hat ein Wagen gestanden!« – »Wirklich?« fragte sie. »Was tut ein Wagen hier zwischen den Büschen?« – »Diese Frage werfe auch ich auf. Es ist hier die Grenze des Parks. Sehen Sie die Gleise? Es waren zwei Pferde vorgespannt. Hier hat man die Last niedergelegt, hier neben dem Wagen.«
Er bückte sich nieder, um den Eindruck, den die Last im weichen Moos gemacht hatte, sorgfältig zu betrachten. Das Moos hatte sich fast vollständig wieder erhoben, und es schien, als ob Sternau nicht mit sich ins klare kommen könne; da aber fiel sein Blick auf einen niedrigen Schlehdorn, rasch griff seine Hand danach, zog etwas vorsichtig von dem Dorn weg, und dann schnellte er empor. Sein Gesicht war bleich geworden, und erschrocken rief er aus:
»Wissen Sie, was für eine Last es war, die man vom Schloß holte und in den Wagen warf?« – »Mein Gott, Sir, Sie erschrecken mich!« antwortete Amy Lindsay. »Was war es denn?« – »Ein Mensch.« – »Ein Mensch?« wiederholte sie. »Nicht möglich!« – »Doch! Sehen Sie hier diese wenigen Haare, die ich an dem Dorn gefunden habe! Sie sind hängengeblieben, als man ihn niederlegte. Sie sind schwarz und lang, fast so, wie Señor de Lautreville sie trägt. Sie gehörten keiner Dame, sondern einem Herrn.«
Jetzt kam die Reihe zu erbleichen an die Engländerin.
»Señor de Lautreville?« fragte sie erschrocken. »Sir, es ist ein Unglück, ein Verbrechen geschehen! Lassen Sie uns eilen. Wir müssen fragen, wer von den Schloßbewohnern fehlt.« – »Hm!« antwortete er nachdenklich. »Ungewöhnlich erscheint mir diese Sache, sehr ungewöhnlich; aber auf ein Unglück oder gar ein Verbrechen möchte ich denn doch nicht so schnell schließen. Wir befinden uns nicht in einem amerikanischen Urwald; wir leben hier in geordneten Verhältnissen, und unser Spursuchen à la Savanne hat unsere Phantasie erhitzt.« – »Nennen Sie es auch geordnete Verhältnisse, daß man Sie hier im Park töten wollte und daß ich mit Rosa überfallen wurde?« fragte sie ängstlich. – »Das ist allerdings wahr«, antwortete er. »Kommen Sie, Miß, wir wollen eiligst umkehren!«
Sie gingen nun mit schnellen Schritten dem Schloß zu, dessen Bewohner sich unterdessen von ihrer Ruhe erhoben hatten.
»Bitte, Miß Amy, sagen Sie jetzt niemandem etwas«, bat Sternau. »Überlassen Sie die Angelegenheit einstweilen noch mir. Vor allen Dingen müssen wir den Grafen schonen. Er ist noch Patient und darf nicht aufgeregt werden. Begeben Sie sich nach dem Salon und schweigen Sie so lange, bis ich Sie wieder gesprochen habe.«
Amy versprach es ihm und schritt nach oben, während sich Sternau in die Wohnung des Portiers begab, wo, wie er wußte, um diese Zeit das Schuhwerk sämtlicher Bewohner des Schlosses gereinigt wurde. Er fand den Portier nebst dessen Gehilfen bei dieser Beschäftigung und zog wortlos und ohne ihnen eine Erklärung zu geben, das Zeitungsblatt hervor. Er fand sehr bald einen Herrenstiefel, der ganz genau zu der Zeichnung paßte, die er sich von dem Fußabdruck gemacht hatte.
»Wem gehört dieser Stiefel?« fragte er den Portier, der ganz erstaunt diesem ihm unerklärlichen Beginnen zugesehen hatte.
»Er gehört Señor Gasparino Cortejo«, lautete die Antwort
Hierauf begab sich der Arzt zum Kastellan, um weitere Erkundigungen einzuziehen. Er erfuhr hier, daß alle Bewohner von Rodriganda bereits wach seien, den Leutnant ausgenommen, den Alimpo noch nicht gesehen hatte.
»Kommt, Señor Castellano, wir wollen ihn wecken!« gebot er. – »Wecken?« fragte Alimpo ganz erstaunt. »Wird er es nicht übelnehmen, wenn wir ihn jetzt in seiner Ruhe stören?« – »Nein.«
Sie fanden die Wohnung des Leutnants unverschlossen und leer. In dem Schlafzimmer war das Bett noch unberührt, und verschiedene Anzeichen deuteten darauf hin, daß, wenn auch nicht ein Kampf hier stattgefunden hatte, sich doch etwas Ungewöhnliches ereignet haben müsse. Ein Stück starke Schnur lag am Boden; es schien das Ende einer alten Logleine zu sein, wie man sie braucht, um auszumessen, mit welcher Schnelligkeit ein Schiff segelt. Die Kopfbedeckung, die der Leutnant am gestrigen Abend getragen hatte, war vorhanden, aber sie lag auf der Diele.
Jetzt schien es dem Arzt als gewiß, daß Señor de Lautreville etwas zugestoßen sei. Er erkundigte sich im Schloß sehr genau und erfuhr, daß ihn heute noch niemand gesehen hatte. Kurz entschlossen begab er sich nach der Wohnung Cortejos. Er ließ sich nicht anmelden, sondern trat nach kurzem Klopfen sogleich ein. Der Sachwalter war beschäftigt, seine Morgenzigarette zu rauchen, er schien sehr erstaunt über den frühen Besuch zu sein und fragte, als ein kurzer Gruß gewechselt war:
»Ah, Señor Sternau! Womit kann ich dienen?« – »Mit einer Auskunft, die ich mir erbitten möchte«, antwortete der Gefragte. – »So redet; aber macht es kurz! Ich bin nicht gewöhnt, mich zu einer so ungewöhnlichen Stunde stören zu lassen.«
Cortejo sagte diese Worte in strengem Ton und mit einer Miene, die kaum feindseliger sein konnte. Sternau ließ sich dadurch keineswegs beirren, er trat hart an den Sachwalter heran, faßte denselben scharf und fest in die Augen und erwiderte:
»Ich werde gewiß nicht weitschweifig sein, Señor, sobald eure Antwort so kurz und aufrichtig ist, wie meine Frage: Wo ist der Leutnant Señor de Lautreville?«
Diese Frage hatte der Sachwalter nicht erwartet. Er erbleichte sichtlich, und es dauerte eine Zeit, ehe er sich zusammenraffte. Dann jedoch meinte er mit desto größerem Nachdruck:
»Señor Sternau, ich glaube, Ihr seid in ein unrechtes Zimmer gekommen. Was geht mich dieser Lautreville an!« – »Jedenfalls ebensoviel als jeden anderen Bewohner Rodrigandas. Der Leutnant ist nämlich verschwunden und nicht aufzufinden.« – »Ah! Verschwunden? So sucht ihn, Señor. Wenn er sich wirklich salviert hat, so wundere ich mich nicht darüber. Ich habe ihn sogleich für einen Abenteurer gehalten.« – »Ah, pah, es gibt hier andere Abenteurer als den Leutnant«, antwortete Sternau ruhig. »Wer waren die Männer, mit denen Ihr den Verschwundenen überfallen und nach dem Wagen geschafft habt, der an der Grenze des Parkes wartete?«
Wäre ein Blitz vor ihm niedergeschlagen, so hätte der Sachwalter nicht mehr erschrecken können als jetzt bei dieser Frage. Er hatte geglaubt, daß alles vollständig unbemerkt geschehen sei, und mußte nach der Frage Sternaus nun vermuten, daß es einen Lauscher gegeben habe. Er zuckte erschreckt zusammen und griff mit der Hand nach der Lehne des neben ihm stehenden Stuhls, um sich darauf zu stützen. Im nächsten Augenblick aber dachte er daran, daß man doch jedenfalls versucht haben würde, die Tat zu verhindern; dies war nicht geschehen, folglich hatte es keinen Beobachter gegeben, und die Frage Sternaus gründete sich jedenfalls auf eine bloße Vermutung, deren Veranlassung wohl noch zu erfahren war. Dies gab dem Advokaten seine Fassung wieder, und er antwortete mit möglichster Kaltblütigkeit.
»Seid Ihr verrückt, Señor, oder wandelt Ihr mondsüchtig am hellen, lichten Tag? Macht Euch von dannen, sonst helfe ich mir, wie ich kann!«
Sternau lächelte bei dieser Drohung und antwortete:
»Señor Cortejo, wir wollen aufrichtig sein. Bereits seit ich Euch zum ersten Mal sah, habe ich Euch unendlich liebgewonnen. Ich habe Euch daher im stillen beobachtet und bin zu der Überzeugung gekommen, daß Ihr diese Liebe vollständig verdient. Ich will Euch mit derselben jetzt nicht länger beschwerlich fallen, besonders da es nur meine Absicht war, Euch zu zeigen, daß ich Euren wirklichen Wert erkenne. Wenn jedoch meine Liebe zu Euch zu groß werden sollte, daß ich mich nicht mehr beherrschen kann, dann nehmt es mir nicht übel, wenn ich Euch vor lauter Zuneigung umarme und – erdrücke. Bei Gott, Señor!«
Nach einer kurzen und ironischen Verneigung verließ er das Zimmer.
Der Advokat blieb in einer sehr unangenehmen Stimmung zurück.
»Was war das?« fragte er sich. »Welch ein Hohn! Dieser Mensch durchschaut mich, er blickt mir in die Karte. Ich muß ihn unschädlich machen. Woher weiß er, daß Fremde hier gewesen sind, die den Leutnant nach dem Wagen geschafft haben, und daß ich dabei war? Ah, er soll noch heute so viel von dem fremden Gift bekommen, daß er genug hat. Es ziehen sich überhaupt finstere Wolken über mir zusammen; aber ich werde sie zerteilen. Auch der Graf soll einige Tropfen des Gifts haben. Eigentlich sollte ich ihn töten, aber ich muß mich überzeugen, ob das Gift wirklich wahnsinnig macht, und der Wahnsinn ist ebenso schlimm wie der Tod. Der Wahnsinnige kommt unter Kuratel, und Alfonzo wird dann den ungeheuren Besitz antreten, gerade so, als ob der Graf gestorben wäre. Bei Gott, ich werde siegen, trotzdem sich Feinde auf allen Seiten gegen mich erheben!«
Während Cortejo auf diese Weise monologisierte, rief Sternau die hervorragendsten Bewohner des Schlosses, den Grafen Emanuel ausgenommen, zusammen und teilte ihnen mit, daß der Leutnant de Lautreville verschwunden sei. Diese Kunde brachte eine außerordentliche Aufregung hervor, besonders als er erwähnte, daß er im Park Spuren entdeckt habe, die auf eine gewaltsame Entführung schließen ließen. Seinen Verdacht gegen den Advokaten verschwieg er einstweilen noch.
Am tiefsten ergriffen war die Engländerin. Sie beschwor den Arzt, doch alles anzuwenden, um das Dunkel aufzuklären. Er hingegen bat die Anwesenden, den Grafen ja nichts von der Angelegenheit merken zu lassen. Man beriet sich über die geeignetsten Mittel, den Leutnant wieder aufzufinden, und gab zu, daß die Möglichkeit doch immerhin vorhanden sei, daß Lautreville sich freiwillig entfernt habe. Ja, es konnte sogar angenommen werden, daß er sich auf einem Morgenspaziergang befinde, während man sich in dieser Weise um ihn sorgte. Die Spuren im Park konnten sich ja auf ein ganz anderes und ganz gewöhnliches Ereignis beziehen. Darum wurde beschlossen, den heutigen Tag noch abzuwarten und erst nachher über den Verschwunden zunächst in Paris, welche Stadt er als seine Garnison angegeben hatte, Erkundigungen einzuziehen.
Sternau war mit diesem Entschluß einverstanden, nahm sich jedoch im stillen vor, nichts zu versäumen, was Licht in das Dunkel bringen könne. Darum erbat er sich von dem Grafen unter dem Vorgeben, daß er in einer unaufschiebbaren Angelegenheit nach Barcelona müsse, einen Urlaub und ließ sich ein Pferd satteln. Nachdem er sich von dem Diener des Leutnants nochmals hatte versichern lassen, daß auch diesem das unbegreifliche Verschwinden seines Herrn ein Rätsel sei, stieg er in den Sattel und verließ das Schloß.
15. Kapitel
»Kennst du die Nacht, die auf die Erde sinkt
Bei hohlem Wind und scheuem Regenfall,
Die Nacht, in der kein Stern am Himmel blinkt,
Kein Aug‘ durchdringt des Nebels dichten Wall?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen,
Oh, lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!
Kennst du die Nacht, die auf das Leben sinkt,
Wenn dich der Tod aufs letzte Lager streckt,
Und nah‘ der Ruf der Ewigkeit erklingt,
Daß dir der Puls in allen Adern schreckt?
So finster diese Nacht, sie hat doch einen Morgen,
Oh, lege dich zur Ruhe und sei ohne Sorgen!
Kennst du die Nacht, die auf den Geist dir sinkt,
Daß er vergebens laut um Hilfe schreit.
Die schlangengleich sich ums Gedächtnis schlingt
Und tausend Teufel ins Gehirn dir speit?
Oh, sei vor ihr ja stets in wachen Sorgen,
Denn diese Nacht allein hat keinen Morgen!«
Auch der Advokat hatte mit Alfonzo und der Schwester Clarissa der Beratung im Schloß beigewohnt Er hatte da erfahren, warum der Verdacht Sternaus gerade auf ihn gefallen sei, und nahm sich desto fester vor, den Arzt unschädlich zu machen. Als er hörte, daß für den letzteren ein Pferd gesattelt werde, vermutete er sofort, daß der Ritt Sternaus mit dem Verschwinden des Leutnants im Zusammenhang stehe. Vielleicht wollte der Arzt die aufgefundene Spur weiter verfolgen; darum verließ der Advokat noch vor ihm das Schloß und eilte auf einem Umweg nach der Stelle, wo während der Nacht der Wagen gestanden hatte. Er brauchte nicht lange zu warten, so sah er seinen Gegner kommen.
Sternau hatte geahnt, daß er beobachtet werde und deshalb den Weg nach dem Dorf eingeschlagen, dann jedoch war er zur Seite abgebogen und kam nun zu der erwähnten Stelle, um die Spur von neuem aufzunehmen. Er brauchte, um das Wagengleis zu erkennen, gar nicht vom Pferd zu steigen und ritt der Fährte nach, ohne den verborgenen Lauscher zu bemerken. Dieser ließ ihn fortreiten und kehrte nach dem Schloß zurück.
»Es ist so, wie ich dachte«, murmelte er ergrimmt in sich hinein. »Er geht der Spur nach, wird sie aber auf der nächsten Straße, wo so viele Gleise zusammenfuhren, sicher bald verlieren. Dennoch aber darf ich nicht langsam sein, ich muß schnell handeln, um allen Eventualitäten zuvorzukommen.«
Als Cortejo das Schloß wieder betreten hatte, begegnete er einem Diener, der die Morgenschokolade nach dem Zimmer des Grafen Emanuel trug, und zugleich bemerkte er, daß Gräfin Rosa zu dem Kastellan ging, jedenfalls um mit Frau Elvira die wirtschaftlichen Vorkommnisse des laufenden Tages zu besprechen.
Ah, dachte er, jetzt ist der Graf allein; also jetzt oder nie!
Er eilte nach seiner Wohnung, um das Fläschchen, das Kapitän Landola ihm gegeben hatte, zu sich zu stecken. Sodann nahm er ein kleines Aktenheft zur Hand und begab sich damit zu seinem Gebieter.
Der Graf saß ganz allein an seinem Frühstückstisch, und da nur ein Gedeck aufgelegt war, so ließ sich vermuten, daß seine Tochter nicht so bald zurückerwartet werde. Er trug zwar einen Schirm über den Augen, um sie noch einige Zeit zu schonen, doch war sein Aussehen ein recht befriedigendes, und der freundliche Zug um seinen Mund gab die Gewißheit, daß er sich in einer recht guten Stimmung befinde.
»Guten Morgen, Cortejo, Ihr kommt mir wie gerufen«, begrüßte er den Advokaten bei seinem Eintritt. »Ich wollte nach dem Frühstück Euch zu mir rufen lassen.« – »Ich stehe Eurer Erlaucht zu jeder Zeit und mit allen Kräften zu Diensten«, antwortete der Sachwalter im Ton der tiefsten Ergebenheit. – »Ich weiß es, Cortejo. Ihr habt mir lange Jahre treu und ehrlich gedient, und ich hoffe, daß die Zeit kommt, wo ich Euch dankbar sein kann. Ich mag zuweilen einmal unleidlich gewesen sein, das muß auf Rechnung meiner Krankheit geschrieben werden, sonst aber bin ich Euch stets wohl gewogen gewesen. Und heute, da mir das kostbare Licht meiner Augen wiedergegeben ist, fühle ich, wie schön es ist, die Seinen alle glücklich zu sehen. Habt Ihr vielleicht eine Bitte?« – »Ja, Erlaucht.« – »So sprecht sie aus. Ich bin gern bereit, Euch eine Freude zu bereiten.« – »Don Emanuel, ich spreche niemals einen Wunsch aus, der mich selbst betrifft«, meinte der Notar mit stolzem Nachdruck. »Meine Bitte betrifft eine rein geschäftliche Angelegenheit. Darf ich den Entwurf zum neuen Kontrakt für den Pächter Antonio Firenza vorlesen?« – »Vorlesen? Hm, ich möchte doch einmal versuchen, ob ich ihn selbst lesen kann. Doktor Sternau ist nicht da, er ist nach Barcelona geritten und wird mich also nicht überraschen, wenn ich seinem Befehl einmal ungehorsam bin. Gebt den Kontrakt her!«
Cortejo überreichte das Aktenheft. Warum zitterte seine Hand dabei? Die Worte des Grafen waren schuld an der Schwäche, die sich seiner für einen kurzen Augenblick bemächtigte. Also der Arzt war nach Barcelona gegangen. Warum? Wußte er bereits, daß der Geraubte dorthin transportiert worden war? Dieser Sternau war ein höchst gefährlicher Mensch. Cortejo beschloß im stillen, ihm nachzureisen und ihn in Barcelona zu beobachten, vielleicht auch ganz zu beseitigen.
Der Graf hatte inzwischen das Papier zur Hand genommen und war mit demselben an den Schreibtisch getreten, wo er sich niederließ. Er gab dem Notar mit der Hand ein Zeichen, auch Platz zu nehmen, und begann dann die Lektüre des Kontrakts. Seiner schwachen Augen wegen war das Fenster noch immer von einem Vorhang verhüllt, so daß in dem Zimmer ein magisches Halbdunkel herrschte. Aus der Freude darüber, seine Augen nach so langer Blindheit wieder gebrauchen zu können, las er laut, wie um seine eigene Stimme zu hören.
Cortejo hatte sich zum Sitz einen Sessel gewählt, der ganz nahe am Frühstückstisch stand, so daß er mit der Hand die Tasse des Grafen erreichen konnte. Während die laute Stimme des Grafen jedes andere leise Geräusch unhörbar machte, zog er das Fläschchen hervor und öffnete es. Der Graf kehrte ihm den Rücken zu. Cortejo erhob sich ein wenig und streckte den Arm mit dem Fläschchen aus. Wurde er entdeckt, so war sehr leicht eine Ausrede gefunden. Er hielt das Fläschchen über die Tasse, hob es vorsichtig und zählte zwei Tropfen ab, die in die Schokolade fielen. In diesem Augenblick hatte Don Emanuel einen größeren Satz beendet und drehte sich herum, ganz unwillkürlich, als ob er sehen wolle, ob Cortejo ihm auch aufmerksam zuhöre. Er sah die Hand des Sachwalters über der Tasse schweben.
»Señor, was tut Ihr?« fragte er überrascht. – »Verzeihung, Erlaucht; es war nur eine Fliege, die ich verjagte!« antwortete der Giftmischer gefaßt. Er hatte das Fläschchen so in der hohlen Hand, daß der Graf es mit seinen ohnehin schwachen Augen nicht zu sehen vermochte. Darum drehte sich dieser befriedigt wieder um, las weiter und sagte, als er geendet hatte:
»Der Kontrakt ist ganz nach meinem Wunsch. Ich werde ihn unterschreiben. Besorgt ihn zu dem Pächter, damit auch dieser seine Unterschrift gibt.«
Dann trat er an den Tisch und griff zur Tasse. Cortejo hatte sich erhoben und folgte mit gespanntem Auge den Bewegungen des Grafen. In seinem Blick lag kein Erbarmen, keine milde Regung und keine Reue, sondern nur die kalte, gefühllose Gier des Raubtiers. Jetzt hob der Graf die Tasse zum Mund, setzte sie an, trank und leerte sie bis zum letzten Tropfen, um sie dann wieder abzusetzen. Ein Seufzer der Erleichterung, der Befriedigung klang leise durch das Zimmer, er kam aus dem Mund des Advokaten, der nun mit dem demütigen Ton eines Dieners den Grafen fragte, ob er noch etwas zu befehlen habe. Dieser antwortete:
»Ich habe allerdings eine kleine Arbeit für Euch, Señor Cortejo. Ich beabsichtige nämlich, den Doktor Sternau länger an mein Haus zu fesseln. Setzt doch einmal eine Bestallung auf, ähnlich wie sie dem Doktor Cielli vorgelegt wurde, aber bemerkt dabei ein jährliches Gehalt von dreitausend Duros. Ich werde sie dem Doktor Sternau vorlegen, um zu sehen, ob er sie akzeptiert.« – »Ich werde mich noch heute an die Arbeit machen, Erlaucht. Dürfte ich mir die Frage erlauben, ob zu diesem Gehalt außerdem noch vollständig freie Station auf Rodriganda kommt?« – »Das versteht sich! Haltet Ihr diese Stellung für zu glänzend? Señor Sternau hat sie verdient. Leider ist es noch sehr die Frage, ob er sie annehmen wird. Für jetzt sind wir fertig. Lebt wohl!«
Der Notar entfernte sich nach einer tiefen Verbeugung. In seinem Zimmer angekommen, warf er den wieder mit zurückgebrachten Kontrakt mit einem höhnischen Lachen auf den Tisch und sagte grollend: »Dreitausend Duros! Da könnte dieser Mensch leben wie ein Baron. Aber es soll ihm nicht so wohl werden. Die Bestallung wird nicht ausgearbeitet. Ich werde ihm jetzt sofort nach Barcelona folgen. Während meiner Abwesenheit wirkt die Medizin, und auf mich wird kein Verdacht fallen, da ich ja nicht hiergewesen bin.«
Kaum eine halbe Stunde später ritt er auf der Straße dahin, die vor ihm Sternau eingeschlagen hatte. Es begann mit diesem Ritt eine neue Episode im Kampf des Bösen gegen das Gute.
Und abermals eine halbe Stunde später kam der Kastellan aus seiner hochgelegenen Wohnung herab, um sich für heute die Befehle des Grafen zu erbitten. Er gehörte zu denjenigen, die sich nicht anmelden zu lassen brauchten, und trat daher wie gewöhnlich, ohne den Diener voran zu senden, in das Zimmer. Doch er wäre vor Schreck beinahe sofort aus demselben entflohen, denn der Graf kauerte wie ein Tier in der äußersten Ecke und stieß ein klägliches Wimmern aus.
»Oh, tut mir nichts – nichts – nichts!« bat er jammernd. »Ich weiß ja nicht, wer – wer – wer ich bin!«
Der Kastellan war kein Held, aber die Liebe zu seinem guten Herrn gab ihm Mut zu bleiben.
»Erlaucht! Don Emanuel!« rief er. »Ich komme, um zu fragen …« – »Oh, fragt doch nicht!« bat der Graf, ihn unterbrechend. »Ich weiß – weiß – weiß es ja nicht mehr!« – »Mein Gott!« rief der Kastellan. »Was ist hier geschehen! Mein lieber, teurer Don Emanuel, steht doch auf! Erlaubt, daß ich Euch aufrichte!«
Damit näherte er sich dem Grafen; dieser drückte sich jedoch noch tiefer in die Ecke hinein, streckte seine Hände abwehrend aus und schrie:
»Bleibt fort von mir! Tut mir nichts – nichts, nichts! Ich weiß es ja nicht – nicht – nicht!« – »Aber Erlaucht, kennt Ihr mich denn nicht mehr? Ich bin ja Euer treuer Alimpo!« – »Alimpo? A-limpo?« fragte der Graf sinnend, richtete sich dann langsam empor, trat einen Schritt vor und fügte hinzu: »Alimpo, ja richtig! Ich bin der treue Alimpo. O ja, jetzt weiß – weiß – weiß ich es. Ich bin Alimpo!«
Seine starren Augen erhielten einen belebteren Ausdruck. Er schritt leise im Zimmer auf und ab, ohne den Kastellan weiter zu beachten, und murmelte bald mit freudigem, bald aber auch mit schmerzlichem Ausdruck:
»Ja, ja, ich bin der treue Alimpo, ja, ja, jetzt weiß ich es. Mein Name ist Alimpo!«
Jetzt geriet der Kastellan in solche Angst, daß er schleunigst fortlief, und zwar zu seiner Elvira. Es gab ja niemand, dem er das, was er gesehen hatte, besser anvertrauen konnte als ihr. Sie befand sich gerade beim Plätten eines Wäschestücks, als er bei ihr eintrat.
»Elvira!« rief er, vom schnellen Laufen ganz außer Atem. – »Was gibt es?« fragte sie. – »Oh, meine Elvira!«
Jetzt erhob sie die Augen von ihrer Arbeit und ließ bei dem Besorgnis erregenden Anblick ihres Mannes die glühendheiße Plättglocke mit einem lauten Krach zu Boden fallen.
»Heilige Madonna!« jammerte sie. »Was ist geschehen? Du siehst ja ganz verzweifelt aus, mein Alimpo!« – »Ja, ja, ganz verzweifelt!« ächzte er, nach Luft schnappend. »Über den Grafen. Er ist – o ach! Er ist – er ist verrückt geworden!«
Elvira trat einen Schritt zurück und öffnete den Mund, um etwas zu sagen; aber das Wort kam nicht heraus, und der Mund blieb offenstehen.
»Ja, ja, verrückt geworden, vollständig verrückt!« ergänzte der Kastellan.
Erst jetzt bei der Wiederholung des Schrecklichen, fand Elvira die Sprache wieder, aber es war kein Klagelaut, den sie ausstieß, sondern sie sagte in einem strengen, entrüsteten Ton:
»Mein teurer Alimpo, du selbst bist verrückt!« – »Ich?!« fragte er beinahe zornig. »Höre, liebe Elvira, solche Anzüglichkeiten muß ich mir verbitten! Der Graf ist in der Tat verrückt!« – »So! Und wer hat dir dies weisgemacht?« fragte sie mit examinatorischer Miene und Stimme.
»Niemand. Ich habe es selbst gesehen.« – »Unmöglich! Wer weiß, was du gesehen hast, mein teurer Alimpo!«
Ein solcher Zweifel war zu viel für ihn. Er faßte seine dicke Gattin am Arm, um sie aus dem Zimmer zu ziehen, und sagte:
»Komm mit, Elvira, du sollst sehen, daß ich recht habe.« – »Ja, gleich!« antwortete sie. »Laß mich nur erst den Plättstahl aufheben!«
Dann nahm sie die Plättglocke vom Boden auf, in den dieselbe bereits einen schwarzen Fleck gesengt hatte, brachte sie in Sicherheit und folgte ihrem Mann nach dem Zimmer des Grafen. Dort angekommen, fanden sie denselben noch immer mit leisen, heimlichen Schritten in dem Raum auf und ab gehend und dabei vor sich hinsagend:
»Ja, ja, tut mir nichts, denn jetzt weiß – weiß – weiß ich es, ich bin der treue Alimpo!«
Der Graf sah so verstört aus, daß gar kein Zweifel möglich war, daß plötzlicher Wahnsinn aus ihm redete.
Die Kastellanin hatte kaum den ersten Blick auf ihn geworfen, so schlug sie die Hände zusammen und schrie:
»Oh, heilige Madonna, es ist wahr; er ist wahnsinnig!«
Darauf sank sie, keiner Bewegung fähig, in einen Stuhl. Der Graf hatte ihre Stimme gehört; er wandte sich mit einem unheimlichen, gläsernen Blick um.
»Wahnsinnig?« fragte er. »Wer? Ich bin Alimpo – Alimpo – Alimpo – ja, der treue Alimpo!«
Dann setzte er sein Hin– und Hergehen wieder fort.
»Laufe, laufe, Alimpo!« stöhnte die Kastellanin. »Hole schnell die gnädige Condesa herbei!«
Alimpo folgte diesem Gebot und fand nach einigem Suchen Rosa in dem Zimmer der Engländerin. Auch sie sah es ihm sogleich an, daß etwas Böses geschehen sein müsse, und fragte ihn:
»Welche Eile, Alimpo! Was gibt es?« – »Oh, meine gnädige Condesa, erschreckt ja nicht!« bat er, beinahe zitternd. – »Mein Gott, das klingt ja höchst beunruhigend! Rede schnell, Alimpo; was ist geschehen?« – »Etwas Fürchterliches, etwas ganz Fürchterliches!«
Rosa war von ihrem Sitz aufgesprungen und faßte den Kastellan bei der Schulter. »Es ist – es ist jemand – verrückt geworden!« stammelte er. – »Verrückt? Meinst du wahnsinnig?« fragte sie im Ton des Unglaubens. – »Ja, wahnsinnig!« nickte er. – »Unmöglich! Der Wahnsinn kommt nicht wie ein Dieb in der Nacht« – »Und doch ist er wahnsinnig«, behauptete der Kastellan. »Meine Elvira sagt das auch.« – »Aber wer denn?« – »Oh, meine teure Condesa, verzeiht mir, daß ich es Euch sagen muß! Es wird Euch großen Schmerz bereiten. Ich spreche von Don Emanuel.« – »Mein Vater?« fragte Rosa, ganz starr vor Erstaunen. – »Ja.« Da lächelte sie und antwortete:
»Mein guter Alimpo, da liegt jedenfalls ein gewaltiger Irrtum vor.« – »Nein, nein«, beteuerte er. »Don Emanuel ist wirklich wahnsinnig. Meine Elvira hat ihn auch gesehen. Sie ist sogar noch jetzt bei ihm.« – »Wie zeigt sich denn sein Wahnsinn?« fragte Rosa, noch immer lächelnd. – »Er knurrte wie ein Hund in der hintersten Ecke, als ich zu ihm kam. Er hatte starre, angstvolle Augen; er wimmerte und bat mich, ihm ja nichts zu tun. Er hatte vergessen, wer er ist, jetzt aber hält er sich für mich, für den Kastellan Alimpo.«
Rosa blickte den Sprecher ungläubig an, plötzlich jedoch ergriff sie wortlos den Arm der Freundin und zog diese im eiligsten Lauf mit sich fort. Der Kastellan folgte. Als sie die Wohnung des Unglücklichen betraten, saß die Kastellanin noch immer händeringend auf dem Stuhl; der Graf aber schritt katzengleich im Zimmer auf und ab und wiederholte fortwährend dieselben Worte.
Rosa hatte bis zu diesem Augenblick an irgendeinen drolligen Irrtum geglaubt desto größer aber war der Schlag, der sie beim Anblick ihres Vaters traf. Es wurde ihr schwarz vor den Augen, sie griff mit den Händen in die Luft, um einen Halt zu suchen, und sank in die Arme Amy Lindsays. Die Ohnmacht wollte sich ihrer Sinne bemächtigen, aber sie raffte sich zusammen, machte sich von der Freundin los und stürzte auf den Grafen zu.
»Vater, um Gottes willen, was hast du, was ist mit dir?« rief sie.
Der Graf blieb stehen und blickte sie mit seinen stieren, ausdruckslosen Augen an.
»Was mit dir ist?« fragte er. »Ich weiß es nicht Du brauchst mir nichts zu tun, denn ich bin ja der treue Alimpo!«
Er sprach diese Worte langsam und monoton, ohne allen Ausdruck.
»Vater, Vater!« jammerte sie, die Arme um ihn schlingend. »Was ist geschehen? Du bist krank. Kennst mich nicht?« – »Kennen?« fragte er, leise mit dem Kopf schüttelnd. »Ich kenne niemand. Ich bin Alimpo.« – »Nein, du bist nicht Alimpo«, rief sie. »Du bist mein Vater, mein lieber, lieber Vater. Komm und besinne dich!«
Mit lautem, herzzerbrechendem Weinen warf sie sich an seine Brust; sie streichelte ihm die Wangen und das wirre Haar, sie küßte ihm den Mund und die erkaltete Hand, sie drängte sich mit ihrer ganzen Liebe und ihrem ganzen Schmerz an ihn. Er aber blieb teilnahmslos in ihren Armen, wehrte sie endlich von sich ab und sagte:
»Du brauchst mich nicht zu erdrücken, du brauchst mir nichts zu tun, denn ich weiß nun, wer ich bin. Ich bin Alimpo, ja, der treue Alimpo!«
Das war zu viel. Mit einem stöhnenden Schluchzen sank Rosa auf den Diwan; ihre Freundin eilte herbei und schlang laut weinend die Arme um sie, und auch der Kastellan nebst seiner Frau weinten trostlos, als ob sie beide Kinder seien. Der Graf aber stand vor ihnen, blickte sie mit gläsernen, geistlosen Augen an und sagte:
»Weint nicht! Ich habe euch ja nichts getan. Ich bin der treue Alimpo.« – »Oh, mein Gott, was sollen wir tun?« jammerte Rosa, vor Schmerz ganz fassungslos. – »Ist Señor Sternau denn nicht da?« fragte Amy unter Tränen.
Da sprang Condesa Rosa auf.
»Sternau!« rief sie. »Oh, wie konnte ich den vergessen! Ja, nur er allein kann helfen, er allein wird helfen. Aber er ist nach Barcelona. Alimpo, rasch einen Boten ihm nach! Er soll sofort umkehren.« – »Nach Barcelona?« fragte der Kastellan, bereits auf dem Sprung. »Wo ist er da zu finden?« – »Ach Gott, das weiß ich nicht! Schicke drei, vier, fünf Boten. Sie mögen jagen, sie mögen die Pferde totreiten, wenn sie ihn nur finden. Schnell, schnell! Hier ist jede Minute kostbar.«
Rosa dachte nicht an ihren Bruder, sie dachte an niemand, als nur an den Geliebten. Der Kastellan stürzte förmlich nach den Ställen, und nach kaum zwei Minuten jagten drei Boten auf den schnellsten Pferden aus Rodriganda fort.
Graf Alfonzo stand in dem Zimmer der Schwester Clarissa am Fenster. Als er die Reiter sah, wandte er sich an die fromme Dame mit der Bemerkung:
»Es muß etwas Ungewöhnliches geschehen sein, Mutter. Der Graf sendet soeben drei Expresse ab.« – »Ah! Wohin?« – »Das läßt sich nicht sagen. Sie eilten rechts nach der Straße von Mataro oder Barcelona hinüber.« – »Ich könnte mir keine Veranlassung denken. Willst du dich nicht einmal erkundigen, mein Sohn? In unserer Lage ist alles von Bedeutung, zumal ein so ungewöhnliches Ereignis wie die Absendung von drei Boten zugleich. Wer unter so sündhaften Menschen lebt, kann nicht vorsichtig genug sein.«
Alfonzo öffnete ein Fenster und winkte den Kastellan herauf, der in diesem Augenblick aus den Ställen heimkehrte.
»Wer hat die drei Reiter abgesandt?« fragte er, als Alimpo eingetreten war. – »Ich, gnädiger Herr«, antwortete Alimpo. – »Wohin?« – »Nach Barcelona.« – »In welchem Auftrag?« – »Die gnädige Condesa hat es befohlen.« – »Ah! Was sollen diese Leute denn in Barcelona? Drei zu gleicher Zeit!« – »Sie sollen Señor Sternau suchen.«
Der Kastellan hatte nicht die mindeste Sympathie für Alfonzo; darum ließ er sich seine kurzen Antworten von ihm förmlich abkaufen.
»Warum soll der Arzt gesucht werden?« fragte der junge Graf weiter. – »Seine Erlaucht, Don Emanuel, sind plötzlich erkrankt Ich glaube, daß er wahnsinnig geworden ist.« – »Wahnsinnig? Donnerwetter!« Diesen Fluch stieß Alfonzo im Ton des Schrecks aus, ein aufmerksamer Beobachter aber hätte sehr leicht bemerken können, daß sein Auge wie unter einer unerwarteten Freude aufleuchtete. Dann sagte er zu dem Kastellan: »Es ist gut. Ich werde sofort erscheinen!«
Kaum hatte der sich entfernende Alimpo die Tür hinter sich geschlossen, so sprang die fromme Schwester auf, faßte den jungen Grafen bei der Hand und jauchzte:
»Gewonnen, Alfonzo, gewonnen! Der Herr erhört das Gebet der Seinigen. Weißt du, wer diesen Wahnsinn hervorgebracht hat?« – »Nun, wer?« – »Dein Vater.« – »Ah! Nicht möglich! Kann man Menschen wahnsinnig machen, die vor einer Stunde noch gesund waren?« – »Jawohl. Dein Vater hat mir die Einzelheiten nicht mitgeteilt, aber er sagte mir noch gestern abend, daß heute mit dem Grafen etwas passieren werde.« – »Alle Teufel, das ist klug! Es ist kein Mord, und doch bin ich der Erbe!«
Alfonzo begab sich nach dem Zimmer des Grafen. Er fand denselben, wie vorher, ruhelos auf und ab schreitend. Rosa hatte ihre Fassung wiedererlangt und gab sich Mühe, dem Vater ein vernünftiges Wort, einen Aufblitzen des Verstandes zu entlocken. Amy unterstützte sie dabei, und auch die Kastellanin war zugegen, um die Flut ihrer Tränen unversiegt zu erhalten.
»Was geht hier vor?« fragte Alfonzo, als er eingetreten war. – »Denke dir, mein Bruder, der Vater ist plötzlich so krank geworden, daß er irre redet«, versetzte Rosa, indem sie Alfonzo entgegenging. – »Das ist allerdings ein höchst unglückliches Ereignis«, sagte er in einem Ton, der sein kindliches Bedauern ausdrücken sollte, aber dennoch so kalt und gefühllos klang, daß die Gräfin ihre bereits nach ihm ausgestreckte Hand wieder zurückzog. »Und da sendet man reitende Boten nach diesem Sternau, während man den Sohn und Bruder ohne Nachricht läßt!« – »Sternau ist der Arzt«, entschuldigte sich Rosa, »und der Arzt ist in solchen Fällen wünschenswerter und notwendiger als jeder andere.« – »Ah, wirklich?« fragte er mit einem impertinenten Lächeln. »Ich denke im Gegenteil, daß nur der Sohn es ist, der die nötigen Schritte zu tun und zu veranlassen hat, er also muß zuerst und vor allen Dingen benachrichtigt werden. Ich denke, Doktor Sternau ist Chirurg?«
»Allerdings.« – »Auch Irrenarzt?« – »Ich habe ihn darüber noch nicht gefragt, glaube aber, daß man ihm die nötige Kenntnis und Erfahrung, den Vater zu behandeln, zutrauen darf.« – »Von glauben ist hier keine Rede. Sternau wird den Vater nicht behandeln, ich werde vielmehr nach Manresa zu Doktor Cielli senden.«
Da streckte Rosa die Hand abwehrend aus und sagte:
»Doktor Cielli wird den Vater nicht behandeln, das gebe ich nicht zu. Der Vater hatte kein Vertrauen zu ihm.« – »Desto größer ist das meinige. Ich bin der Erbe, ich habe hier zu befehlen.« – »Ah, du denkst angesichts dieses fürchterlichen Falles bereits an das Erbe. Gut. Warte einen Augenblick!«
Es schien auf einmal alles mädchenhaft Schüchterne von Rosa gewichen zu sein. Sie trat mit festen Schritten in das Nebengemach, wo sich der Waffenschrank des Grafen befand, entnahm demselben einen gezogenen Revolver, kehrte mit demselben zurück, verschloß die Tür und steckte den Schlüssel zu sich. Dann fuhr sie in drohendem Ton fort:
»Wer Erbe ist und hier zu befehlen hat, das wird sich finden. Zunächst werde ich den armen Vater bis zur Rückkehr Doktor Sternaus unter meine Obhut nehmen.« – »Und ich erkläre, daß dieser obskure Sternau nicht über diese Schwelle kommen soll«, antwortete Alfonzo. »Was soll dieser Revolver?« – »Ich werde jeden niederschießen, der es wagt, dieses Gemach ohne meine Erlaubnis zu betreten.« – »Ah! Ein Scherz!« – »Pah! Versuche ja nicht, zu sehen, ob es Ernst wird.« – »Soll etwa auch ich erschossen werden?« lachte er. – »Auch du!« drohte sie mit ernster Stimme. – »Sei keine Närrin. Gib die Waffe her!«
Er trat auf sie zu, sie aber erhob den Revolver und rief:
»Zurück, Mensch! Ich schieße dich sonst nieder. Bei Gott, ich scherze nicht! Señora Elvira, eilen Sie hinaus und rufen Sie die Dienerschaft herbei!«
Als sich die Kastellanin erhob, gebot ihr Alfonzo:
»Ihr bleibt! Wir brauchen keine Dienerschaft«
Da aber antwortete die wackere Kastellanin mit großer Entschiedenheit:
»Ich habe meiner lieben Condesa zu gehorchen, nicht aber Euch!«
Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Der junge Graf wandte sich jetzt an die Engländerin, die ihre Freundin bisher schweigend, aber mit blitzenden Augen beobachtet hatte:
»Ist ein solches Verhalten nicht wahrhaft kindisch, Miß Amy?«
Die Angeredete errötete vor Zorn und antwortete:
»Don Rodriganda, ich finde nichts Kindisches, sondern vielmehr viel wahrhaft Kindliches in dem mutigen Verhalten meiner wackeren Freundin, auf die ich stolz bin. Sie verteidigt den kranken, beklagenswerten Vater gegen die Herzlosigkeit, die ihm gefährlich werden will. Übrigens habe ich Euch noch nie Erlaubnis gegeben, mich bei meinem Taufnamen zu rufen. Für Euch bin ich nicht Miß Amy, sondern Señorita Lindsay und werde es wohl auch für immer bleiben.« – »Ah!« zischte er grimmig. »Sie vergessen, daß Sie hier nur Gast sind.« – »Nicht der Ihrige, Señor, das tröstet und beruhigt mich.« – »Von jetzt an aber doch der meinige. Ein Wahnsinniger steht unter Kuratel!«
In diesem Augenblick trat Elvira ein und meldete, daß die Dienerschaft sich im Vorzimmer befinde. Da wandte Rosa sich an Alfonzo und sagte:
»Nun wirst du uns allein lassen, oder soll ich zeigen, wem man hier lieber gehorcht, dir oder mir?«
Alfonzo sah sich rettungslos in die Enge getrieben und daß er für den Augenblick sein Spiel aufgeben müsse, und antwortete daher mit Hohn:
»Der neue Graf de Rodriganda-Sevilla hat nicht notwendig, mit seinem Gesinde zu verhandeln, er wird sich auf anständige Weise Gehorsam verschaffen. Auf Wiedersehen.«
Darauf verließ er das Gemach.
»Bitte, liebe Elvira, ich wünsche, daß die Leute jetzt mir gehorchen, das Weitere müssen wir abwarten«, sagte nun die Gräfin mit Ruhe zu der Kastellanin. – »Ich werde es den Leuten sogleich mitteilen«, erklärte diese. »Gibt es sonst noch etwas?« – »Ja. Diese Zimmer bleiben verschlossen. Ich werde versuchen, den Vater zur Ruhe zu bringen. Schlaf und eine kalte Kompresse werden ihm wohltun.«
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Während dies in Rodriganda geschah, ritt der Advokat auf der Straße nach Barcelona. Aber nicht lange, so bog er auf einen Fußweg ein. Dieser führte über Dörfer und Meierhöfe. Sternau war hier unbekannt, er hatte, wie der Wagen, dessen Spur er folgte, die Straße einhalten müssen. Schlug nun der Advokat diesen Weg ein, so kam er dem Arzt um eine geraume Zeit zuvor und konnte sorgen, daß es diesem nicht gelang, etwas zu erfahren.
Der Wagen war von dem Wirt des Gasthauses ›L‘Hombre grand‹ geborgt worden. Zu diesem ritt der Advokat, als er in Barcelona angekommen war, und sagte ihm, daß er keine Auskunft geben solle, wenn er gefragt werde, an wen er den Wagen verliehen habe. Dann begab er sich nach dem Hafen, um Kapitän Landola aufzusuchen, den er an Bord anwesend fand.
»Ah, Señor Cortejo«, begrüßte ihn dieser. »Ich habe Euch nicht so bald erwartet, aber doch ist es mir lieb, daß Ihr kommt. Ich bin nämlich fertig und habe auch meine Papiere alle in Ordnung gebracht. Ich kann also absegeln.« – »Das ist gut, sehr gut.« – »Sehr gut? Ich hoffe nicht, daß etwas Unangenehmes passiert ist.« – »Nein. Ich habe Euch nur zu sagen, daß man Euren Wagen bemerkt hat und auch vermutet, wen Ihr aufgeladen habt. Es kommt in vielleicht einer Stunde einer nach Barcelona, der Eurer Fährte folgt.« – »Schön. Er mag in das Wasser springen und mir nachschwimmen. Habt Ihr Zeit zum endgültigen Abschluß?« – »Ja.« – »Nun, der ist in einer Viertelstunde beendet, und dann stechen wir sofort in See. Die Flut ist bereits eingetreten.« – »Und Euer Gefangener?« – »Befindet sich sehr wohl. Er liegt unten im Kielraum und hat bis jetzt weder sprechen noch essen oder trinken dürfen.« – »Ihr nehmt ihn also wirklich mit nach dem ostindischen Archipel?« – »Ich verkaufe ihn auf Borneo, dabei bleibt es. Kommt herab zur Kajüte, Señor!«
Eine halbe Stunde später befand sich Cortejo wieder an Land, und das Schiff »La Pendola« lichtete den Anker, um seine Reise anzutreten, eine Reise, auf der sich das Schicksal des armen Mariano entscheiden sollte.
16. Kapitel
Als Doktor Sternau Rodriganda verlassen hatte, führte ihn die Spur des Wagens, der er folgte, nach der großen Heerstraße, die Lerida mit Barcelona verbindet. Hier verlor sich diese Spur unter den vielen Gleisen der Straßen, so daß ein Verfolgen im wörtlichen Sinn nicht denkbar war.
Es gab für Sternau nur einen Anhaltspunkt, er kannte aus den Fußtapsen, die er im Park beobachtet hatte, die ungefähre Anzahl der Leute, die auf dem Wagen Platz genommen hatten. Doch war dies auch sehr unsicher.
Glücklicherweise hielt da, wo der Weg von Rodriganda her in die Heerstraße einbog, ein Schäfer, der seine Merinoschafe auf dem abgebauten Acker weidete. Er hatte eine Karrenhütte bei sich, und so ließ sich vermuten, daß er auch während der Nacht auf dem Feld gewesen sei. Sternau ritt zu ihm hin und fragte nach einem kurzen Gruß:
»Hast du in vergangener Nacht hier geschlafen?« – »Ja, Señor«, lautete die Antwort.
Der Arzt hielt ihm ein Silberstück entgegen und fragte weiter:
»War es hier während der Nacht sehr belebt?« – »Nein. Nur ein einziger Wagen passierte. Da von der Straße her.« – »Und wohin?« – »Nach Rodriganda zu.« – »Wieviel Uhr?« – »Eine Stunde vor Mitternacht, vielleicht auch bereits früher.« – »Kehrte er zurück oder nicht?« – »Ja. Vielleicht zwei Stunden später.« – »Wer saß darin?« – »Es waren mehrere.« – »Kanntest du einen?« – »Nein.« – »Was waren für Tier angespannt? Maultiere?« – »Nein, Pferde, ein Brauner und ein Schimmel.« – »Weißt du dies genau?« – »Ja. Ich hatte mir hart an der Straße ein Feuer angebrannt, um mir Kastanien zu rösten, als sie vorüberfuhren. Ich habe die Pferde ganz genau erkannt.« – »Hast du nicht gesehen, wie die Männer gekleidet waren?« – »Sie fuhren schnell vorüber, aber ich denke, sie hatten Jacken an und Mützen auf, wie man sie bei den Seeleuten sieht.« – »Gut, ich danke dir. Mit Gott.«
Sternau ritt weiter. Was er gehört hatte, gab ihm doch einigen Anhalt. Er hielt nun bei allen an der Straße liegenden Einkehrhäusern an und erkundigte sich, ob der Wagen hier vorübergefahren sei, konnte aber nichts Genaues erfahren. Auf diese Weise kam er sehr langsam vorwärts. Endlich, als er vielleicht drei Stunden weit geritten war, gelangte er an eine einsam liegende Venta, vor der mehrere Krippen standen, zum Zeichen, daß man hier mit Pferd und Geschirr Obdach erhalten könne, stieg ab, band sein Pferd außen an und trat in die niedrige Stube, in der er sich ein Glas Wein geben ließ.
Der Wirt schien ein alter, freundlicher und sehr gesprächiger Mann zu sein, denn er begann sofort mit Sternau eine Unterhaltung über das Wetter und tausend Dinge, für die sich der Arzt kaum interessieren konnte. Endlich fragte der Alte:
»Wohin will der Señor reiten?« – »Nach Barcelona vielleicht.« – »Aha! Geschäfte unterwegs?« – »Eigentliche Geschäfte allerdings nicht, ich suche einen Wagen, der hier vorübergefahren sein muß.« – »Einen Wagen? Hm! Vielleicht habe ich ihn gesehen. Ich bin alt, kann nicht mehr viel verrichten und sitze daher stets hier am Fenster. Was war es für ein Wagen?« – »Es waren ein Brauner und ein Schimmel vorgespannt, und mehrere Männer saßen darauf, die wie Seeleute gekleidet gewesen sind.« – »Aha!« nickte der Alte. »Wann ist dies geschehen?« – »Vielleicht drei Stunden vor Mitternacht sind sie hier aufwärts und ungefähr vier Stunden später wieder abwärts vorübergekommen.« – »Stimmt!« nickte der Wirt. – »Habt Ihr sie gesehen?« – »Nein, Señor, es war beide Male, als sie vorüberkamen, finster, ich hätte sie also nicht sehen können. Aber das erste Mal, als sie abwärts fuhren, sind sie bei mir eingekehrt.« – »Ah! Ich würde Euch dieses Goldstück geben, wenn Ihr mir sagen könntet, wem der Wagen gehört.«
Die Augen des alten Mannes leuchteten vor Freude auf. Seine Venta war ein kleines, armseliges Häuschen, er schien nicht wohlhabend zu sein, und das Goldstück mußte ihm daher wohl recht willkommen sein.
»Gebt her, Señor!« sagte er schmunzelnd., für dieses Goldstück werdet Ihr wohl noch mehr erfahren, als Ihr verlangt habt. Der Wagen gehört einem Wirt in Barcelona. Ich kann es beschwören.« – »War er selbst mit dabei?« – »Wird sich hüten. Mit dem Landola ist nicht gut Kirschen essen.« – »Wer ist dieser Landola?« – »Ein Seekapitän, dessen Schiff ›La Pendola‹ heißt.« – »Was hat dieser Mann mit dem Wagen zu tun, den ich meine?« – »Heilige Madonna! Er saß ja darauf, er machte den Kutscher. Er wird wohl nach Rodriganda zu Señor Gasparino Cortejo gefahren sein.« – »Alle Wetter! Kennen diese beiden einander?« – »Das versteht sich. Sie machen sogar zusammen Geschäfte, wie sich die Leute so in die Ohren flüstern. Dieser Henrico ist ein ganz verzweifelter Mensch. Ein Menschenleben gilt ihm nichts. Er soll ein halber Pirat sein, vielleicht auch ein ganzer, auch sagt man sich, daß er zuweilen eine Ladung Ebenholz – Neger – mit verhandelt.« – »Und dabei soll Cortejo beteiligt sein?« – »Ja«, nickte der Alte. »Ich werde das Euch erklären, Señor. Kennt Ihr den Grafen von Rodriganda?« – »Ein wenig.« – »Er ist blind.« – »Ja, oder vielmehr, er war blind.« – »Heilige Madonna, so ist es also wahr! Ich habe gehört, daß seine Tochter einen furchtbar klugen und geschickten Arzt hat kommen lassen, der hat ihm zuerst den Blasenstein aus dem Leib gebohrt und ihm sodann gar die Augen aufgeschnitten, so daß er nun sehen kann. Das ist also keine Lüge?« – »Nein«, lächelte Sternau. – »Das muß ja ein Ausbund von Kunst und Klugheit sein. Vielleicht hat er gar den Teufel, behüte mich der liebe Gott vor ihm! Ich will doch lieber sterben, als mir einen Blasenstein, der so groß ist wie hier dieser Fenstersims, aus dem Leib herausbohren lassen! Also dieser Graf Emanuel von Rodriganda war blind und mußte sich ganz und gar auf seinen Sachwalter verlassen.« – »Das läßt sich leicht erklären.« – »Der Graf ist unermeßlich reich. Und der Sachwalter, nämlich dieser Cortejo, ist ein Schurke.« – »Könnt Ihr das beschwören?« Jedermann beschwört es, Señor. Nun aber passen dieser Reichtum und dieser Schurke so gut zusammen, wie das Lamm zum Geier, von dem es zerrissen und gefressen wird. Verstanden?« – »Sehr gut!« – »Damit nun niemand merken soll, wie reich Cortejo mit dem Reichtum des Grafen geworden ist, hat er seinen Raub auf dem Seehandel angelegt. Er und Kapitän Landola besitzen das Schiff gemeinsam und teilen den Gewinn.« – »Wißt Ihr das genau?« – »Man sagt es. Aber ich habe auch gestern davon pfeifen hören, als die Matrosen hier bei uns einkehrten. Sie flüsterten so einiges, was ich recht gut verstanden habe, obgleich es nicht für mein Ohr bestimmt war.« – »Habt Ihr nicht gehört, wem die gestrige Fahrt gegolten hat?« – »Nein. Aber zu wem sollte Landola gefahren sein, wenn nicht zu Cortejo?« – »Gut Hier ist das Goldstück, mein Lieber. Ihr habt es ehrlich verdient«
Der Wirt steckte das Geld mit freudig glänzender Miene ein. Sternau bezahlte außerdem seine kleine Zeche und stand eben im Begriff aufzubrechen, als sich draußen eiliger Hufschlag vernehmen ließ. Sternau schaute hinaus und erkannte einen Reitknecht aus Rodriganda, der auf schweißbedecktem Pferd dahergesprengt kam und sofort anhielt, als er das Pferd erblickte, das Sternau draußen angebunden hatte. Dann sprang er ab und kam herein.
»Oh, welch ein Glück, daß ich Euch finde, Señor Doktor!« rief er, als er den Arzt sah. »Die gnädige Condesa sendet mich. Wir sind zu dreien ausgeritten und haben uns geteilt, um Euch ja nicht zu verfehlen.« – »Dann muß die Angelegenheit höchst wichtig sein. Was ist es?« – »Don Emanuel ist plötzlich sehr erkrankt.« – »Nicht möglich! Auf den Augen?« fragte Sternau erschrocken. – »Nein. Hier!« Der Knecht deutete nach dem Kopf, so daß der Wirt es nicht bemerkte.
»Da? Nicht möglich, nicht möglich! Das muß ein Irrtum sein!« – »Es ist so, Señor!« – »Trinken Sie schnell ein Glas Wein, dann geht es nach Rodriganda zurück.«
Als sie aufgestiegen waren und vom Wirt also nicht gehört werden konnten, fragte Sternau den Reitknecht nach den Einzelheiten und erfuhr da auch, daß der Advokat das Schloß zu Pferde verlassen habe. Da hielt er sein Pferd an und fragte:
»Können Sie auf Rodriganda entbehrt werden?« – »Jetzt? Ja.« – »Wollen Sie für mich einmal nach Barcelona reiten?« – »Sehr gern, Señor.« – »So reiten Sie! Sie sollen nämlich im Hafen nachsehen oder sich erkundigen, an welchem Tag das Kauffahrteischiff ›La Pendola‹, Kapitän Henrico Landola, in See geht. Werden Sie dies erfahren können?« – »Oh, sicher!« – »Aber Gasparino Cortejo kann auch in Barcelona sein, und er darf keineswegs erfahren, wonach Sie sich erkundigen sollen.« – »Keine Sorge, Señor!« – »So reiten Sie! Ich werde Sie gut belohnen, wenn Sie mir eine sichere Nachricht bringen.«
Der Reitknecht drehte sein Pferd um und ritt davon; der Arzt aber sprengte in gestrecktem Galopp auf Rodriganda zu.
Er legte die drei Wegstunden in kaum einer zurück. Als er an der Rampe vor seinem Tier stand, kam der Kastellan in eigener Person herbei, um das Pferd in Empfang zu nehmen.
»Oh, Señor, wie so etwas passieren kann!« klagte er. »Verrückt, vollständig verrückt!« – »Es ist nicht glaublich!« – »Und doch ist es wahr; Elvira sagt es auch.« – »Wo befindet er sich?« – »In seinem Schlafzimmer. Die gnädige Condesa hat sich da eingeschlossen und läßt keinen Unberufenen eintreten! Graf Alfonzo erklärte sich bereits zum Herrn von Rodriganda und wollte einen Irrenarzt kommen lassen; sie aber hat es nicht zugegeben.«
Sternau nickte nur und eilte die Treppe empor. An der Vorzimmertür standen zwei Diener Wache, die ihn sofort einließen. Als er leise in das Krankenzimmer trat, sah er den Grafen mit verbundenem Kopf im Bett liegen. An dem letzteren saß Rosa, in Tränen gebadet, und in ihrer Nähe die Engländerin, die liebevoll teil an ihrem Schmerz nahm.
Als Rosa den Geliebten erblickte, erhob sie sich und warf sich stürmisch an seine Brust. Sie sagte kein Wort, aber er fühlte ihren Busen konvulsivisch wogen; ihre ganze Gestalt zitterte unter dem Schmerz, den sie mit Gewalt zu beherrschen versuchte.
Sternau drückte sie an sich und küßte sie innig auf die Stirn.
»Laß mich jetzt meine Liebe«, bat er leise. »Es ist jede Sekunde kostbar!« – »Ja, ach ja!« antwortete sie, von ihm zurücktretend, »o Gott, Carlos, sage, ob er verloren ist!«
Sternau schritt zu dem Kranken, und von diesem Augenblick an war sein Antlitz kalt, sein Auge scharf und forschend; er schien nur Arzt zu sein. Er nahm die Kompresse von der Stirn des Grafen, befühlte dessen Puls und ließ sich dann von den beiden Damen den Hergang erzählen, soweit sie ihn kannten. Dies geschah mit leiser Stimme, unterdessen aber bat der Graf immerfort:
»Tut mir nichts, ich weiß ja, wer ich bin. Ich bin – ich bin – ich bin der treue Alimpo!«
Nun untersuchte Sternau das Atmen und die Augen des Kranken, und keine Bewegung, kein Kopfschütteln, kein Zucken seiner Mienen deutete die Gedanken an, die er hatte. Schließlich trat er an das untere Ende des Bettes, so daß der Kranke ihn vollständig erkennen konnte, und fragte:
»Wer sind Sie?« – »Ich bin – bin – bin Alimpo«, antwortete der Graf nachdenklich. – »Das ist nicht wahr!« sagte Sternau streng. »Besinnen Sie sich! Sie sind – Sie sind – nun?« – »Ich bin – bin bin Alimpo!« lautete in kläglichem Ton die Antwort. – »Schweig, Schurke! Du lügst!« donnerte da der Arzt den Kranken mit der ganzen Macht seiner Stimme an. »Du bist nicht Alimpo! Gestehe, wer du bist!«
Dabei schlug Sternau mit der Faust auf den Pfosten des Bettes, so daß das letztere krachte. Die beiden Damen waren erschrocken zusammengefahren; der Kranke versuchte, sich mit dem Kopf unter der Decke zu verbergen; Sternau jedoch zog ihm die letztere hinweg und gebot ihm nunmehr mit wahrhaft brüllender Stimme:
»Nun, wird‘s bald? Ich will wissen, wer du bist!« – »O Gott, mir bricht das Herz!« flüsterte Rosa.
Der Arzt machte ihr eine strenge, gebieterische Bewegung und ließ den Kranken nicht aus dem drohenden Auge. Da wandte dieser sich herüber und hinüber und wimmerte endlich die Antwort:
»Tut, tut, tut mir nichts, denn ich bin ja wirklich der treue Alimpo!«
Erst jetzt wandte sich Sternau wieder vom Bett ab und den beiden Damen zu:
»Verzeihung; ich konnte nicht anders! Bitte schnellstens Wasser, Tücher und Gefäße zum Aderlassen und Erbrechen.« – »Ist es gefährlich?« fragte Rosa angstvoll.
Aber sie erhielt keine Antwort, sondern er schob sie rasch zur Seite und eilte hinaus.
»O mein Gott, es ist keine Rettung!« hauchte sie. »Señor Carlos würde den Vater nicht so angedonnert und mich nicht so zur Seite geschoben haben! Er will keine Sekunde versäumen, keine einzige; das ist der Beweis, daß keine Rettung ist.«
Aber trotz ihrer Verzweiflung gab sie Befehl zum schleunigen Herbeischaffen des Nötigen, und als Sternau nach zwei Minuten wiederkehrte, lag alles bereit. Er hatte eine kleine Hausapotheke, das Verbandszeug und mehreres andere geholt.
»Was hat der Graf heute genossen?« fragte er. – »Eine einzige Tasse Schokolade«, antwortete Rosa. – »Nichts weiter?« – »Nein.« – »Wer hat diese Schokolade bereitet?« —»Ich selbst.« – »Wer brachte sie ihm?« – »Ein Diener.« – »Don Emanuel ist vergiftet worden!«
Sternau sagte dies mit solcher Bestimmtheit, daß die Gräfin in einen Sessel sank.
»Herr, mein Heiland!« stöhnte sie. – »Und zwar mit dem Pohon Upas, dem fürchterlichsten der Gifte. Ich kenne seine Wirkung. Ich sollte es Ihnen verschweigen. Daß ich es Ihnen aufrichtig sage, mag Ihnen beweisen, daß ich noch Hoffnung habe. Besorgen Sie schnell Diener her, zum Aderlassen!«
Als der Graf die vielen Vorbereitungen um sich her erblickte, wurde er vor Angst still und ließ alles mit sich geschehen. Er erhielt zunächst ein Brechmittel, das sofort wirkte, aber ihn sehr anstrengte, ohne etwas von der Schokolade zurückzubringen.
»Ich dachte es«, sagte Sternau. »Es sind fünf Stunden seit dem Genuß des Getränkes vergangen.«
Hierauf ließ er den Patienten zur Ader, und zwar nahm er dem Grafen das höchste Maß von Blut, bis zu dem er nach den gegenwärtigen Umständen gehen konnte. Sodann befahl er, einige Fliegen zu fangen. Als dies unter einiger Verwunderung über diese sonderbare Forderung geschehen war, tat er die Fliegen in ein Glasgefäß, auf dessen Boden er von dem Blut des Grafen getröpfelt hatte, und lud die Damen ein, die kleinen Tiere zu beobachten. Die Fliegen naschten von dem Blut, begannen zu beben und zu zittern, krümmten sich und starben.
»Ich habe mich nicht getäuscht, es ist Pohon Upas. Es gibt verschiedene Bereitungen und Zusammensetzungen dieses Giftes, und es kommt darauf an, das richtige Mittel zu treffen. In der Zusammensetzung, an die ich jetzt denke und die ich auf Java kennenlernte, macht es, wenn man zwei bis drei Tropfen genießt, wahnsinnig; fünf bis sechs Tropfen aber geben den Tod. Der Graf hat wohl nur zwei Tropfen erhalten, und ich bin überzeugt, daß man beabsichtigte, ihn wahnsinnig zu machen.«
Diese Worte brachten einen allgemeinen Schreck hervor, und es dauerte lange, ehe sich die Aufregung legte, besonders da niemand wußte, daß außer dem Diener jemand, den man in Verdacht nehmen konnte, bei dem Grafen gewesen war.
»Und Sie glauben, daß der Vater noch zu retten ist?« fragte Rosa ängstlich. – »Ja«, antwortete Sternau mit Zuversicht. »Dieses Gift hat in kleinen Gaben die Eigenschaft, daß es wahnsinnig macht, indem es das Gedächtnis suspendiert. Als der Kastellan den Grafen getroffen hat, befand sich Don Emanuel gerade in dem Moment, wo das Gedächtnis schwindet. Er hat nur die letzte menschliche Erscheinung, die ihm vor Augen kam, festgehalten und glaubt daher, daß er der Kastellan sei. Einen anderen Namen, eine andere Existenz kennt er nicht. Ich mußte sehen, ob die Erinnerung vollständig, ohne eine kleine Spur zurückzulassen, geschwunden sei, darum sprach ich so streng zu ihm, um auch die Angst wirken zu lassen. Es war jedoch vergeblich. Die zwei unendlich fein zerteilten Tropfen des Giftes sind bereits vollständig in sein Blut und Hirn übergegangen. Ich entlaste das letztere nun durch spanische Fliegen und Senfteige und entgifte das erstere teilweise durch eine möglichst große Blutentziehung. Das nun noch in dem Körper befindliche Gift werde ich durch ein Gegengift bekämpfen, das ich leider noch nicht besitze, denn ich kann mich nur dann in den Besitz desselben setzen, wenn jemand bereit ist, sich für Don Emanuel aufzuopfern.« – »Aufzuopfern?« fragte Rosa. »Oh, es wird mir nichts zu teuer sein, um es für den Vater hinzugeben, selbst das Leben nicht!« – »Gnädige Condesa, ich verlange nicht das Leben eines Menschen, und doch ist das, was ich haben will, selbst von der opferfreudigsten Dame nicht zu haben, sondern höchstens von einem robusten Menschen, der allerdings eine Lebensgefahr, einen ungewöhnlichen Schmerz nicht scheut und sich mir anvertraut!« – »Suchen Sie ihn, suchen Sie ihn!« rief Rosa. »Ich werde ihn reich belohnen. Welches Mittel meinen Sie?« – »Don Emanuel kann nur durch den Schaum eines zu Tode gekitzelten Menschen gerettet werden. Dieser Schaum ist eines der stärksten Gifte und gibt, mit Kapsikum vermischt, das einzige Gegenmittel zu Pohon Upas. Zu Ihrer Beruhigung bemerke ich, daß es auch genügt, einen Menschen so lange zu kitzeln, bis die ersten Zeichen der Tollwut eintreten. Befände sich ein Sachverständiger hier, der den Vorgang zu leiten und die Medizin zu bereiten versteht, so würde ich keinen Augenblick zaudern, mich selbst zur Verfügung zu stellen. Da dies aber nicht der Fall ist und ich vielmehr als Arzt unentbehrlich bin, so müssen wir uns nach einem mutigen Menschen umsehen, der es wagt, die Qualen einer so fürchterlichen Folter zu ertragen.« – »Ach, wer wird das tun?« klagte Rosa. – »Lassen Sie es unter den Bewohnern des Schlosses und Dorfes bekanntmachen. Wir müssen den Grafen heilen, um seiner selbst willen und um den Giftmischer zu entdecken. Ich zweifle gar nicht, wenn Don Emanuels Gedächtnis wiederkehrt, so wird er sich auf irgendeinen Umstand besinnen können, der zur Entdeckung des Täters führen wird.« – »Auch ich befürchte, daß kein Mensch sich melden wird, da das Mittel so schrecklich ist«, bemerkte Amy.
Da trat der Kastellan, der einige Handreichungen getan hatte, zu seiner Frau, die mit zugegen war.
»Elvira«, fragte er, »nicht wahr, du hast den gnädigen Grafen lieb?« – »Ja, sehr!« antwortete sie. – »Und die liebe gute Condesa auch?« – »Oh, sehr! Das weißt du ja, mein lieber Alimpo!« – »Und du würdest gern alles tun, um sie zu erfreuen?« – »Ja, das versteht sich!« – »Nun gut, meine liebe Elvira; ich werde mich melden!«
Alle waren erstaunt über diese Heldenmütigkeit des sonst keineswegs sehr tapferen Mannes. Aller Augen ruhten auf der Kastellanin, und alle waren begierig, ihre Antwort zu hören. Als sie dies bemerkte, wandte sie sich mit einem stolzen Blick zu ihrem Mann und sagte:
»Alimpo, ich weiß, daß du kühn und verwegen bist. Ich habe oft um dich gezittert und deinen Mut mit aller Gewalt in den Schranken gehalten; hier aber habe ich nichts dagegen. Laß dich immerhin auf die Folter legen, du wirst Don Emanuel retten, und ich werde stolz auf dich sein.«
Das war weit mehr, als man diesen beiden guten Leuten hätte zutrauen können. Hätte man nicht Rücksicht auf den Kranken zu nehmen gehabt, so hätte man ihren Entschluß mit lautem Jubel belohnt. Aller Hände streckten sich ihnen entgegen, der Arzt aber, der es vermied, sich hinreißen zu lassen, meinte besonnen:
»Mein treuer Señor Alimpo, wißt Ihr auch, was Ihr tun wollt?« – »Ja, vollständig.« – »Habt Ihr eine Ahnung der Qualen, die Euch bevorstehen?« – »Ich habe einmal in einem Buch davon gelesen.« – »Und dennoch wollt Ihr sie auf Euch nehmen?« – »Ja. Das sagt meine Elvira auch.« – »Gut, so werde ich es mir überlegen. Zunächst muß ich jedoch bemerken, daß ich dieses schreckliche Gegengift keineswegs heute oder morgen schon brauche! Der Graf muß sich erst von dem Aderlaß erholen. Wir werden die Bekanntmachung doch noch erlassen und dann unter den sich Meldenden die Auswahl treffen. Für jetzt bitte ich um Schonung des Patienten, er scheint zu schlafen.«
17. Kapitel
Am Spätnachmittag desselben Tages kehrte der Notar Gasparino Cortejo von Barcelona zurück. Es begann bereits zu dunkeln, und er war kaum noch eine Stunde weit von Rodriganda entfernt, als er plötzlich sein Pferd anhielt, denn auf einem freien Waldplatz, über den die Straße führte, erblickte er eine Anzahl Hütten und Zelte, die um ein großes Feuer standen, über dem ein eiserner Kessel brodelte. Es herrschte ein reges Leben auf dem Platz, da die Zelte und Hütten ein Zigeunerlager bildeten.
»Sollte das Mutter Zarba sein?« fragte er sich, als er ein altes Weib erblickte, das hart neben dem Feuer hockte. »Das wäre ja ein sehr glückliches Zusammentreffen!«
Mittlerweile war auch er bemerkt worden, und im nächsten Augenblick wurde er von schreienden und lärmenden Männern, Burschen, Weibern und Kindern umringt.
»Soll ich Euch weissagen, Señor?« fragte ein Mädchen. – »Nein, ich kann es besser!« rief ein altes Weib. – »Herr, eine kleine Gabe!« brüllten fünf oder sechs Kinder, indem sie sich an Cortejos Pferd hingen.
Dieser lächelte nur auf den wüsten Lärm herab und nickte einem alten Burschen freundlich zu:
»Ist das nicht der wackere Garbo, der mich doch kennen sollte?« fragte er.
Der Angeredete trat näher und blickte dem Sprecher unter den breitrandigen Hut.
»Ah, Señor Cortejo!« rief er. »Willkommen! Ich erkannte Euch nicht sogleich; habt Ihr nicht ein Pfeifchen Tabak für einen armen Burschen?« – »Das und noch viel mehr, wenn du es dir verdienen willst!« – »Warum nicht! Ihr habt mir doch schon manch schönen Duro zu verdienen gegeben. Gibt es vielleicht etwas, Señor?« – »Möglich. Ist Mutter Zarba hier?« – »Ja. Sie sitzt dort am Feuer.« – »So will ich einmal absteigen. Haltet mein Pferd.«
Gasparino Cortejo stieg vom Pferd und begab sich an das Feuer. In dem Kessel kochten ein paar Hühner, ein Kaninchen, ein Kürbis und einige Heringe.
»Guten Abend!« grüßte er die Alte.
Diese rührte mit einem Stock in dem Kessel, blickte sich gar nicht nach ihm um und fragte:
»Wer ist‘s?« – »Ein alter Freund.« – »Wie heißt er?« – »Das wirst du sehen, wenn du dir ihn einmal anschaust. Oder ist die einstige Rose der Gitanos so stolz geworden, daß sie ihre alten Bewunderer nicht mehr anblicken will?«
Jetzt endlich drehte sich die Alte langsam um. Es ist schwer, ja fast unmöglich, die Jahre einer alten Zigeunerin zu erraten, ebenso konnte man auch das Alter dieses Weibes nicht bestimmen, aber das sah man noch heute: schön, sehr schön mußte sie in ihrer Jugend gewesen sein.
»Ah, Cortejo!« grüßte sie vertraut, indem sie sich mit dem Stock stützte, der ihr jetzt als Rührlöffel gedient hatte, und sich vom Boden erhob. Ihr Gewand bestand nur aus Fetzen, aber ihre Haltung war stolz und gebieterisch. – »Ihr lebt also noch, Señor?« fragte sie, den Advokaten mit ihren blitzenden Augen messend. »Ich dachte, Ihr wäret längst schon zum Teufel!« – »Ah«, lachte er, »ich sehe, daß du noch immer die Alte bist.« – »Zarba bleibt ewig, wie sie ist«, antwortete sie. – »Wie lange bis du hier?« fragte er. – »Hier? Seit Mittag erst.« – »Ich sah euch früh noch nicht. Aber sag, Zarba, sind wir noch die alten Freunde?« – »Ja«, antwortete sie mit einem lauernden Blick. »Oder haben wir uns etwa beleidigt?« – »Ich weiß nichts davon.« – »Ich auch nicht. Es müßte denn deswegen sein, daß Ihr uns das letzte Mal so schlecht bezahltet!« – »Du bist bei guter Laune, Alte«, lachte er. »Gasparino zahlt stets gut.« – »Ich weiß es«, nickte sie; »aber er verlangt auch rüstige und verschwiegene Arbeit.« – »Ja, wie zum Beispiel jetzt«, stimmte er bei. – »Ah, Ihr habt einen Auftrag?« – »Vielleicht, wenn wir einig werden. Wie sind jetzt eure Preise?« – »Hm, fast noch die alten«, antwortete sie. – »Ein Toter?« – »Tausend Duros.« – »Ein Verschwundener?« – »Fünfhundert Duros.« – »Eine Kasse, die ihr holt, ohne sie zu öffnen?« – »Fünfhundert.« – »Ein Junge oder ein Mädchen, euch zur Aufbewahrung übergeben?« – »Dreihundert« – »Ein Grab öffnen?« – »Hundert« – »Das sind allerdings die alten Preise. Seit wir uns nicht sahen, habe ich mit einem anderen hantieren müssen.« – »Ich weiß es«, nickte sie. »Mit dem Capitano. Seid Ihr zufrieden?« – »Nein. Ich wollte, ich hätte euch vor kurzer Zeit gehabt!« – »So versucht es doch jetzt« – »Wir wollen sehen. Also, ein Toter kostet tausend Duros?« – »Ja, ein Gewöhnlicher nämlich.« – »Und ein Ungewöhnlicher?« – »Da richte ich mich ganz nach dem Stand und Reichtum.« – »Ein Graf zum Beispiel?« – »Der Tausend! Ihr wollt doch nicht…«
Zarba sprach nicht weiter, deutete jedoch mit der Hand hinter sich nach Rodriganda zu.
»Hm! Möglich!« antwortete er. – »Tot oder verschwinden?« – »Das ist noch unentschieden. Wie würde der Preis sein?« – »Das ist auch noch unentschieden«, lachte sie. »Wir kommen aus der Gegend…« – »Von Rodriganda her?« – »Ja.« – »War eins von euch auf dem Schloß?« – »Ja, ich selbst« – »Ah! Wie steht es dort? Gab es nichts Neues?« – »O doch, der Graf hat einen Anfall gehabt.« – »Was für einen?« – »Das konnte ich nicht erfahren, doch hieß es, daß ihn Doktor Sternau herstellen werde.« – »Das soll ihm schwerfallen.« – »Aha, ich ahne. Ihr scheint mit diesem Anfall sehr vertraut zu sein!« – »Pah! Merke dir einmal diesen Namen Sternau. Du wirst den Mann vielleicht bald kennenlernen. Hast du heute abend Zeit?« – »Ja.« – »Kannst du einmal nach dem Park kommen?« – »Gern. Nach welchem Ort?« – »An die große Korkeiche.« – »Die ich von früher her kenne? Gut ich komme!« – »Ich verlasse mich darauf. Mit Gott!«
Diese Unterredung hatte unter vier Augen stattgefunden, denn die Zigeuner respektierten ihre Anführerin, so daß sie dieselbe bei dergleichen Verhandlungen niemals zu belästigen wagten. Jetzt aber, als der Advokat wieder zu seinem Pferd zurückkehrte, drängte sich die ganze vagabundierende Gesellschaft an ihn heran. Er aber teilte seinen Tabak und seine Zigaretten aus, warf einige kleine Münzen unter die Kinder und ritt davon.
Das Zusammentreffen mit den Gitanos war ihm ein außerordentlich erwünschtes. Er hatte mit diesen Leuten, besonders aber mit ihrer Anführerin, bereits früher in Verbindung gestanden und hoffte, von ihrer jetzigen Gegenwart einen nicht geringen Nutzen zu ziehen.
Als er Rodriganda erreichte, herrschte dort wieder einmal eine tiefe Stille. Cortejo übergab sein Pferd einem Diener und ging darauf nach seinem Zimmer, verließ dasselbe aber sehr bald, um seine fromme Freundin aufzusuchen, von der er alles erfuhr, was geschehen war.
»Bei allen Teufeln!« fluchte er. »Dieser Sternau sitzt in jedem Sattel fest. Also den Schaum eines Gekitzelten verlangt er?« – »Ja.« – »Dann wird er den Grafen allerdings herstellen.« – »Ist dies das richtige Mittel?« – »Ja.« – »Er hat gehofft, daß der Graf, wenn ihm die Besinnung zurückkehrt, denjenigen kennen werde, dem er das Gift verdankt. Willst du nicht aufrichtig mit mir sein?« – »Pah!« antwortete er. »Ihr Weiber dürft nicht alles wissen. Aber, hm, ja, dieser Graf darf seine Besinnung eben nicht wiedererlangen!« – »Wie wolltest du dies anfangen?« – »Beim richtigen Zipfel!« antwortete er kurz und verließ seine Gefährtin, um, in seinem Zimmer angelangt, ruhelos auf und ab zu schreiten, bis er zu einem Anschlag kam, den er fest entschlossen war, ausführen zu lassen.
Einige Zeit vor Mitternacht kehrte der Reitknecht von Barcelona zurück, der dem Arzt die Nachricht brachte, daß das Schiff den Hafen heute verlassen habe. Nur wenige Minuten später schlich sich der Advokat hinaus nach dem Park. Er war heute um eine Erfahrung reicher geworden und benutzte diese, indem er sich bemühte, keine Spuren zurückzulassen. Er traf Zarba an der Eiche, seiner wartend. Sie versicherten sich erst, daß sie unbelauscht seien, und dann begannen sie ihr Gespräch, von dem das Wohl und Wehe der besten Menschen abhing.
»Habt Ihr Euch nach dem Befinden des Grafen erkundigt?« fragte Zarba. – »Ja. Er muß sterben.« – »Wie habe ich das zu verstehen? Muß er infolge seiner Krankheit sterben?« – »Nein. Durch euch.« – »Ah! Das wird sehr viel kosten.« – »Wieviel verlangst du?« Die Zigeunerin tat, als ob sie sich besinne, und erwiderte dann: »Wieviel bietet Ihr?« – »Ich biete nichts. Du hast zu fordern.« – »Die Bezahlung hängt von der Schwierigkeit der Arbeit ab.« – »Das weiß ich«, meinte der Advokat, »ich habe mir alles sehr reiflich überlegt. Don Emanuel muß zerschmettert werden.« – »Zerschmettert? Beim Himmel, das ist ein sonderbares Verlangen. Warum denn gerade das?« – »Weil er wahnsinnig ist.« – »Ah, ich verstehe! Er wird als Wahnsinniger bewacht; es gelingt ihm aber, seine Wächter zu täuschen; er entkommt und stürzt von irgendeinem Felsen. Ist es so richtig?« – »Gerade so denke ich es mir«, antwortete der Notar. – »Wie aber kommen wir zu ihm, wenn er bewacht wird?« – »Eigentliche Wächter hat er nicht. Nur der Arzt oder seine Tochter sind bei ihm. Sie befinden sich meist im Nebenzimmer. An die andere Seite des Krankenzimmers stößt die Bibliothek, zu der ich den Nachschlüssel besitze. Ich lasse euch ein, und das Weitere ist dann Sache deiner Leute.« – »Garbo wird sie anführen.« – »Er ist allerdings befähigt zu solchen Streichen. Also was kostet die Sache, wenn sie gelingt?« – »Zehntausend Duros.« – »Wie? Du bist zehntausendmal verrückt!« – »Señor, Ihr kennt mich! Ich bin teuer, aber ich arbeite gut und sorgfältig. Ferner müßt Ihr bedenken, welchen Wert der Tod des Grafen für Euch hat, Don Gasparino!« – »Hm! Und wie soll diese Summe bezahlt werden?« – »Ich hole sie mir von Euch erst nach gelungener Tat. Seht Ihr nun, daß ich ehrlich bin?« – »Ja, ja, du arbeitest allerdings anders, als der Capitano, der sich die Hälfte vorauszahlen läßt und dann den Auftrag nicht ausführt.« – »Er sollte sich schämen. Aber sagtet Ihr nicht, daß ich mir den Namen Sternau merken solle?« – »Ja.« – »Ist es der Arzt?« – »Kein anderer.« – »Was ist‘s mit ihm?« – »Auch er muß fort! Allerdings nicht sogleich, denn zwei Todesfälle würden zu auffallend sein.« – »Und wie soll er sterben?« – »Das werden wir später noch besprechen.« – »Also handelt es sich jetzt nur um Don Emanuel. Wann soll dies geschehen, Señor Cortejo?« – »Morgen.« – »Wo treffen wir uns?« – »Gerade hier wieder.« – »Zu welcher Stunde?« – »Auch gerade zu jetzigen Zeit, um Mitternacht. Bist du vielleicht selbst mit dabei?« – »Nein«, antwortete sie. »Solche Aufgaben sind nur für Männer. Ist Euch Garbo nicht sicher genug?« – »O ja.« – »So schlaft wohl, Señor!« – »Gute Nacht!«
Sie schieden. Der Advokat schlich sich nach dem Schloß zurück, das er auch unbemerkt erreichte, und die Zigeunerin suchte ihr Lager zu erreichen, aber nicht allein. Kaum hatte sich nämlich der Notar entfernt, so erhob sich hinter dem Stamm der Eiche eine dunkle Gestalt.
»Hast du alles gehört, Garbo?« fragte die Zigeunermutter. – »Ja, alles.« – »Also dieser Señor Sternau, unser Schützling, soll sterben!« höhnte sie. – »Hahaha!« lachte der Gitano in sich hinein. – »Und der Graf! Möchtest du ihn töten?« – »Nein, Zarba.« – »Aber zehntausend Duros!« – »Ich habe darüber nachgedacht…« flüsterte der Zigeuner geheimnisvoll. – »Ah, du hast einen Gedanken?« – »Einen vortrefflichen!« – »So laß ihn hören!« – »Als ich heute drüben in Loriba war, hörte ich, daß morgen der Bäcker begraben wird.« – »Ah! Ich verstehe bereits«, meinte die schlaue Alte. – »Den Bäcker graben wir aus…« – »Ziehen ihm die Kleidung des Grafen an…« – »Und stürzen ihn vom Felsen.« – »So wird es gehen, Garbo. Was aber tun wir mit dem Grafen?« – »Den verbergen wir. Er kann uns später eine große Summe Geldes einbringen.« – »Verbergen, ja; aber wo?« – »Bei meinem Freund Gabrillon auf dem Leuchtturm.« – »Wirklich, das geht! Da hinauf kommt kein Mensch, da wird ihn niemals jemand suchen.« – »Also du stimmst bei, Zarba?« – »Vollständig! Dieser Advokat Cortejo soll uns noch manche Summe zahlen müssen! Jetzt komm!«
18. Kapitel
Als am nächsten Morgen der Leutnant de Lautreville noch nicht wieder zurückgekehrt war, hegte man in Rodriganda nun die feste Überzeugung, daß ihm ein Leid geschehen sei. Sternau hielt es für das beste, über seine Vermutungen noch zu schweigen, als beschlossen wurde, nach Paris zu schreiben. Er hatte jetzt seine ganze Sorgfalt auf Don Emanuel zu verwenden.
Dieser befand sich in einer tiefen Schwäche. Er genoß die ihm dargereichten Lebensmittel und flüsterte den Namen Alimpo vor sich hin; das waren die einzigen Lebenszeichen, die er gab.
Graf Alfonzo ließ sich im Krankenzimmer nicht sehen, Cortejo und die fromme Schwester auch nicht. Diese drei saßen immer zusammen und hielten Beratung. Alfonzo wollte sich an die Gerichte wenden, um seine Ansprüche geltend zu machen, doch Cortejo veranlaßte ihn zu dem Versprechen, wenigstens noch einen Tag zu warten, ehe er diesen Entschluß zur Ausführung brachte.
So verging der Tag, und der Abend brach herein.
Ungefähr drei Viertelstunden im Nordosten von Rodriganda liegt ein nicht gar zu kleines Dorf, das Loriba heißt. Dort war der Bäcker, ein reicher Mann, gestorben und heute begraben worden. Der Totengräber, der im Dorf, nicht aber in der Nähe des vor dem Ort liegenden Kirchhofs wohnte, hatte es nicht für nötig gehalten, das Grab sofort fertig zu machen, sondern es nur so weit zugeworfen, daß es der Erde gleich war.
Es mochte um die elfte Stunde sein. Es schien kein Mond vom Himmel, aber die Sterne verbreiteten einen genügenden Schimmer, daß man zwei oder drei Schritte sehen konnte, da kam eine kleine Truppe phantastisch gekleideter Leute leise über die Felder gestiegen und schritt auf den Kirchhof zu. Es waren fünf erwachsene Zigeuner und drei Knaben. Diese Knaben wurden als Wächter ausgestellt, die anderen fünf aber schwangen sich über die Mauer.
»Hast du richtig aufgepaßt, Lorro? Weißt du das Grab?« fragte der eine von ihnen. – »Ich weiß es«, antwortete der Gefragte. »Kommt!«
Dabei schritt er mit Sicherheit zwischen den alten Gräbern hindurch, denn er war heute während des Begräbnisses Zuschauer gewesen und führte sie zur richtigen Stelle. Dort angekommen, begannen sie sogleich ihre Arbeit. Die dazu gehörigen Hacken und Schaufeln hatten sie sich mit Leichtigkeit im Dorf zusammengesucht.
Da die Erde sich noch nicht gesenkt hatte, sondern locker war, ging ihre Arbeit nicht nur schnell, sondern auch ziemlich unhörbar vonstatten, so daß sie bereits nach fünfzehn Minuten auf den Sarg stießen. Nach kurzer Zeit schon gelang es ihnen, denselben im jetzt offenen Grab so aufzurichten, daß das Kopfende oben am Rand lehnte; dann erbrachen sie ihn.
Derjenige, der Lorro genannt worden war, öffnete eine bisher versteckt gehaltene Blendlaterne und leuchtete der Leiche in das starre Angesicht
»Komm heraus, Alter!« sagte er. »Du sollst mit uns spazierengehen!«
Der in seiner Grabesruhe gestörte Bäcker wurde darauf herausgenommen und neben das Grab gelegt. Den Sarg aber brachte man wieder in seine vorige Lage, und nun wurde das Grab zugefüllt und gerade so hergerichtet wie sie es gefunden hatten. Mit Hilfe der Blendlaterne gelang es den Zigeunern leicht alle Spuren ihrer Anwesenheit zu beseitigen.
Hierauf nahmen zwei der Männer die Leiche auf die Schulter und verschwanden mit ihr im Dunkel der Nacht; die Knaben kehrten nach ihrem Lager zurück, die übrigen drei Männer aber sputeten sich, noch zur rechten Zeit nach Rodriganda zu kommen.
Dort traf im Park gerade um die Mitternachtsstunde der Advokat bei der Eiche ein und fand die Gitanos versammelt
»Garbo?« fragte er. – »Hier bin ich«, antwortete der Gerufene. – »Sind alle da, oder müssen wir noch warten?« – »Wir sind vollzählig.« – »So kommt!«
Cortejo schritt nun den Zigeunern voran und führte sie über Stellen, wo ihre Füße keine auffälligen Eindrücke hinterlassen konnten., Dann geleitete er sie durch dieselbe Tür, durch die er mit den Seeleuten eingedrungen war, in das Schloß. Hier brannte keine Lampe mehr, und es wurde also die Blendlaterne hervorgezogen. Es ging darauf mehrere Stiegen empor und wieder hinab, durch eine ganze Reihe von unbewohnten Zimmer hindurch bis in einen Raum, in dem viele Bücherregale standen. Es war die Bibliothek.
»Wartet!« sagte jetzt der Advokat. »Ich werde rekognoszieren«, und trat zu einer Tür, die er geräuschlos ein Spältchen breit aufzog, so daß er in das nebenanliegende Gemach blicken konnte. Dann winkte er Garbo herbei und sagte flüsternd:
»Blicke hinein! Getraust du dich?«
Der Gitano trat an den Türspalt, warf einen Blick in das Nebenzimmer und erwiderte leise:
»Ja, sofort.« – »Aber ohne bemerkt zu werden und die Mädchen zu wecken!« – »Jawohl! Ihr könnt uns vollständig trauen!« – »So holt ihn heraus.«
In der Nebenstube lag der kranke Graf. Er hatte ganz das Aussehen einer Leiche und regte sich nicht. Auf einem Diwan saßen Rosa und Amy, beide in einen festen Schlaf versunken. Das Herzeleid des heutigen Tages hatte beide so ermattet, daß sie nicht erwachten, als der Zigeuner hinüberhuschte und zunächst die Lampe verlöschte, die das Krankenzimmer erleuchtete.
Sofort folgten ihm die anderen. Der Advokat blieb zurück und lauschte. Er hörte nicht das geringste Geräusch, nicht einmal das leise Rauschen einer Falte des Bettes. In der nächsten Minute schon kehrten die Zigeuner zurück, eine regungslose Last in den Händen.
»Schließt wieder zu, Señor«, bat Garbo, »und leuchtet dann.«
Man verfolgte nun denselben Weg, den man gekommen war, und gelangte unangefochten bis zur Eiche zurück. Der Advokat, der weder einen Atemzug noch irgendeine Bewegung des Grafen bemerkt hatte, fragte jetzt:
»Ist er bereits tot?« – »Ich glaube«, erwiderte Garbo. »Um ihn ruhig zu erhalten, mußte ich ihn ein wenig fest anfassen. Ich denke, es ist eins. Nicht, Señor?« – »Ja«, antwortete der Advokat, indem er sich eines leisen Schauders doch nicht erwehren konnte. »Also, ihr wißt, wohin ihr ihn zu schaffen habt?« – »Versteht sich.« – »Und wenn die Belohnung darauf ausgesetzt wird, meldest du dich, Garbo?« – »Tragt keine Sorge, Señor! Seid Ihr mit uns bisher zufrieden?« – »Vollständig.« – »So bitte ich mir das Geld aus.« – »Hier ist es. Wenn ich mit euch zu sprechen habe, werde ich euch aufsuchen. Gute Nacht.« – »Gute Nacht Señor.«
Die Zigeuner entfernten sich darauf mit ihrer Last und fanden am Ende des Parks einen kleinen Handwagen, den sie hier versteckt hatten. Der Graf wurde auf denselben gelegt und vorsichtig weitertransportiert, bis die Zigeuner die Nähe ihres Lagers erreichten.
Dort stießen sie auf eine Gruppe stiller Gestalten, deren eine sich bei ihrer Annäherung erhob. Es war die alte Zigeunermutter.
»Ist es gelungen?« fragte sie. – »Vollständig«, antwortete Garbo. – »Und der Graf?« – »Er ist ohnmächtig.« – »Hier sind Kleider für ihn. Zieht sie ihm an. Dann kommt er auf deinen Wagen, Garbo, und du bringst ihn sofort aus dem Land hinaus. Aber ich binde dir sein Leben auf die Seele. Und hier liegt die Leiche. Wir haben sie bereits ausgezogen. Legt ihr die Wäsche und alles an, was Don Emanuel jetzt trägt und dann fort mit ihr.«
Unterdessen war auch der Advokat nach dem Schloß zurückgekehrt, aber sehr, sehr langsam und vorsichtig. Er war gewitzigt worden und hatte in der Nähe der Eiche einen Federbesen versteckt gehabt, den er jetzt benützte, die Spuren seiner Schritte zu verwischen. So erreichte er sein Zimmer, ohne von jemand bemerkt zu werden, legte sich aber nicht zum Schlaf nieder, da er in jedem Augenblick den Hilferuf der beiden Damen erwarten konnte.
Aber es blieb alles still, und als der Morgen tagte, hatte er sogar nun Zeit in dem Park nachzusehen, ob die Vertilgung seiner Spuren ihm auch wirklich gelungen sei.
Doktor Sternau hatte darauf bestanden, die Nacht bei dem Kranken zuzubringen, aber Rosa hatte ihm seinen Wunsch nicht erfüllt, sondern mit der Freundin die Nachtwache übernommen. Wie bereits bemerkt, waren sie zu ermüdet gewesen und so fest eingeschlafen, daß sie erst erwachten, als die Sonne bereits über den Horizont getreten war.
Auch Sternau war erwacht. Die Sorge um seinen Patienten hatte ihm keine Ruhe gelassen. Er erhob sich von seinem Lager, kleidete sich an und begab sich zu Graf Emanuel. Das Vorzimmer war von innen nicht verschlossen. Er trat ein. Doch in demselben Augenblick hörte er aus dem Krankenzimmer einen angstvollen Doppelschrei.
Sogleich etwas Ungewöhnliches ahnend, eilte er hinzu und fand die beiden Mädchen vor dem leeren Krankenbett stehend.
»Ah! Wo ist der Graf?« fragte er. – »Ja, mein Gott, wo ist der Vater?« rief Rosa. – »Sie haben geschlafen?« – »Leider«, gestand sie, tief errötend. – »Wir beide zu gleicher Zeit«, ergänzte Amy.
Sternau unterließ es, ein rügendes Wort auszusprechen, er bemerkte nur einfach:
»Er kann nicht weit fort sein. Er war zu schwach zum Gehen!« – »War er nicht in einem der vorderen Zimmer?« fragte Rosa. – »Nein.« – »So ist er in der Bibliothek!«
Sternau öffnete die Tür zu derselben, fand aber den Vermißten nicht, auch als er in und unter den Möbeln suchte.
»Ich begreife nicht, daß er das Bett und das Zimmer verlassen haben soll«, sagte er kopfschüttelnd. »Er war so schwach und litt an keinerlei körperlicher oder geistiger Aufregung. Auch die Fenster sind alle von innen verschlossen, also ein Sturz oder Sprung durch dieselben hinab ist gar nicht möglich. Man muß sofort im ganzen Schloß nachsuchen.«
Jetzt begann sich eine Szene zu entwickeln, die ganz unmöglich beschrieben werden kann. Sämtliche Bewohner des Schlosses wurden alarmiert und ausgefragt. Keiner hatte den Grafen gesehen und keiner eine Spur von ihm bemerkt. Es wurde selbst der kleinste und entfernteste Winkel des Schlosses durchsucht und durchforscht, aber ohne allen Erfolg. Während der dadurch hervorgebrachten Aufregung blieben nur drei vollständig ruhig und scheinbar unberührt – der Advokat, die Schwester Clarissa und Alfonzo. Sie saßen allein im Salon und ließen die anderen suchen.
»Wo mag er nur sein?« fragte die Schwester.
Der Advokat lächelte überlegen und antwortete:
»Sagte ich gestern unserem Alfonzo nicht, daß er nur bis heute warten soll?« – »Ah, ist es so?« rief sie, ganz begeistert. »Hast du eine Ahnung, wo er sich befinden kann?« – »Hm! Er war verrückt, man hat ihn schlecht bewacht, und so ist er im Delirium darauf gekommen, das Schloß zu verlassen. Ich befürchte sehr, daß ihm ein arger Unfall geschehen ist.« – »Ha, dann siegen die Gerechten endlich, und die Ungerechten müssen unterliegen. Gottes Langmut ist groß, nimmt aber endlich doch einmal ein Ende. Sollte er verunglückt sein, mein teurer Freund?« – »Das ist sehr leicht möglich.« – »Dann wäre unser Alfonzo ja augenblicklich unbestrittener Besitzer der ganzen Grafschaft.« – »Allerdings.« – »So darf er jetzt nicht länger zaudern. Geh, mein Alfonzo, geh, und nimm die Leitung der Nachforschung in deine Hände.«
Der Angeredete wollte sich erheben, um diesen Worten Folge zu leisten, aber der Advokat hielt ihn zurück.
»Warte noch, mein Sohn!« sagte er. »Dieser Doktor Sternau hat sich zum Beherrscher der hiesigen Verhältnisse aufgeworfen. Er hat deine Anordnungen zurückgewiesen und mag nun die Folgen tragen. Man wird schon kommen, um auch uns zu fragen.«
Mit dieser Voraussetzung hatte er sehr recht, denn es dauerte nicht lange, so trat Rosa in der allerhöchsten Aufregung herein und rief:
»Aber, Alfonzo, der Vater ist verschwunden, und du sitzt so ruhig hier?«
Der Angeredete zuckte einfach die Schultern und antwortete sehr gleichmütig:
»Ich muß mich leider bescheiden, man hat mir ja das Recht, mit zu denken, mit zu reden und mit zu handeln, gewalttätig abgesprochen.« – »Das ist in der Weise, wie du es zu meinen scheinst, ja keinem Menschen eingefallen.« – »Streiten wir uns nicht abermals! Ihr habt getan, was euch beliebte, und müßt nun auch die Konsequenzen tragen. Wenn meinem Vater ein Unglück passiert sein sollte, so habt nur ihr es zu verantworten, ich kann meine Hände in Unschuld waschen.« – »Aber der Vater muß sich doch irgendwo befinden!« – »Ist er denn nicht im Schloß?« – »Nein.« – »So ist er also außerhalb des Schlosses zu suchen. Señor Cortejo, Ihr seid der Sachwalter meines armen Vaters, nehmt Euch doch seiner und auch meiner an und veranlaßt die nötigen Schritte, daß er gefunden wird.«
Der Advokat erhob sich jetzt mit Würde und fragte die Gräfin:
»Wie war Don Emanuel gekleidet, Doña Rosa?« – »O mein Gott, fast gar nicht. Er lag ja krank und war so schwach, daß an ein Erheben von dem Lager gar nicht gedacht werden konnte.« – »Das mag die Ansicht Señor Sternaus gewesen sein, ich aber weiß, daß ein geistig Gestörter selbst bei schwächstem Körper zu fast riesenhaften Anstrengungen fähig ist Ich werde Don Emanuel in der ganzen Umgegend suchen lassen und empfehle Ihnen, demjenigen, der ihn findet, eine Belohnung ausschreiben zu lassen. Wir feuern damit die Tatkraft all derer an, die imstande sind, uns zu nützen.« – »Ja, tun Sie das!« antwortete Rosa, dann eilte sie wieder fort. – »Nun, hatte ich nicht recht?« fragte Cortejo die beiden anderen Komplizen. »Jetzt trete ich als Sachwalter des Grafen auf, und ich will denjenigen sehen, der mich nicht als solchen respektiert.«
Sternau hatte sich gar bald von den anderen getrennt. Ihm schien es unmöglich, daß der durch den Aderlaß sehr geschwächte Graf auch nur das Bett und Zimmer, viel weniger aber das Schloß verlassen haben solle. Für viel wahrscheinlicher hielt er eine gewaltsame Entführung. Darum ging er hinaus und umkreiste das Schloß, um nach Spuren zu suchen. Er fand jedoch nicht den geringsten Anhaltspunkt und mußte schließlich unverrichteter Dinge zurückkehren, um Rosa zu überwachen, die sich in einer außerordentlichen, fieberhaften Aufregung befand.
Mittlerweile hatte der Advokat die Nachforschung in die Hand genommen. Laufende und reitende Boten durcheilten die ganze Umgegend, um die Bewohner zu Hilfe zu rufen und demjenigen, der den Aufenthaltsort des Vermißten nachweisen könne, eine Belohnung von fünfhundert Duros zu versprechen. Doch schien auch diese Maßregel ohne Erfolg zu sein.
So verging der Tag, und der Abend brach herein, auch die Nacht verging, ohne daß sich eine Spur gefunden hatte, obgleich Hunderte von Menschen sich auf den Beinen befanden, um womöglich die Belohnung zu verdienen. Am Morgen saß man im Speisesaal beim gemeinsamen Frühstück, aber keiner rührte die Speisen an. Das Unglück schien die Feindseligkeiten der Parteien ausgeglichen zu haben, denn es hatten sich alle eingefunden, die in letzter Zeit sich schroff begegnet waren. Da trat ein Diener ein und meldete einen Zigeuner, der den Herrschaften etwas zeigen wolle. Er wurde natürlich sofort eingelassen, daß die Vermutung nahelag, daß er in der Angelegenheit komme; mit der sie sich alle so außerordentlich beschäftigten.
Er trat ein. Es war Garbo. Er trug Sandalen, die mit Riemen um die nackten Füße und Waden befestigt waren, eine kurze, zerrissene Hose, eine ebensolche Jacke, und drehte den hohen, spitzen Hut sehr eifrig zwischen den Fingern, als wolle er mit dieser Beschäftigung gegen die Verlegenheit ankämpfen, die er in einer so vornehmen Gesellschaft empfinden mußte.
»Wer bist du?« fragte ihn der Advokat. – »O nichts, als nur ein armer Gitano, Señor«, antwortete er. – »Was willst du hier bei uns?« – »Ich wollte Euch etwas zeigen.« – »Was ist es?« – »Erlaubt, daß ich es Euch erzähle.« – »So rede.«
Der Gitano spielte seine Rolle ganz vortrefflich. Sein Gesicht war so ehrlich und bieder, als ob niemals ein falscher Zug auf demselben Platz gehabt habe. Er räusperte sich und begann:
»Ich bin ein armer Gitano und verdiene mir mein Brot mit der Heilung aller Krankheiten der Menschen und Tiere. Daher gehe ich viel in die Berge, um Kräuter zu suchen. Dies tat ich auch heute morgen. So kam ich an eine sehr steile Felsenwand, und da hing an einem Dorn ein Stückchen feiner Leinwand, wie ich noch gar keine gesehen habe. Es war eine Krone darauf, und darunter stand ein R und ein S …« – »Mein Gott, unser Wappen!« rief Rosa. »Mann, hast du das Leinwandstück mitgenommen?« – »Ja, ich hörte, daß ein reicher Don gesucht wird, und nahm den Fetzen von dem Zweig hinweg. Dann stieg ich in die schauerliche Tiefe hinab, und da – und da fand ich – fand ich …«
Der Zigeuner schüttelte sich, als ob er noch jetzt ein Grausen fühle, so daß er die Worte nicht aussprechen könne, aber Rosa war aufgesprungen, auf ihn zugetreten und befahl ihm:
»Sprich weiter, Mann! Was fandest du?« – »Halt!« sagte da Sternau, indem er näher trat. »Ich bitte die Damen, sich zu entfernen, ehe dieser Mann weitererzählt!« – »Nein, ich bleibe, ich muß hören, was er spricht!« antwortete die Gräfin und stand so entschlossen da und ihre Stimme klang so entschieden, daß Sternau jeden weiteren Einwand unterließ. – »Soll ich weitererzählen?« fragte der Gitano. – »Ja, ich befehle es sogar!« antwortete sie. – »Ganz unten in der Tiefe lag – eine Leiche.« – »Eine Leiche!« rief sie, die Hände in Verzweiflung aneinanderschlagend. »O mein Vater, mein lieber, lieber, teurer Vater!«
Da legte ihr Sternau die Hand auf den Arm und sagte:
»Doña Rosa, fassen Sie sich! Noch ist nicht jede Hoffnung verloren. Die Leiche kann die eines Fremden sein, oder der scheinbare Tote hat noch Leben in sich.« – »Nein, lebendig ist er nicht mehr, denn er ist ganz zerschmettert«, sagte der Gitano. – »Hast du den Leinwandfetzen?« fragte Graf Alfonzo. – »Ja.« – »Wo?« – »Hier ist er.«
Der Zigeuner zog aus der Tasche ein dreieckig gerissenes Stück feinster französischer Leinwand hervor und gab es dem jungen Grafen. Dieser warf einen Blick darauf und entschied sogleich:
»Unser Wappen! Ja, das ist es!« – »Zeig her!«
Mit diesen beiden Worten sprang Rosa auf ihn zu, zog die Leinwand aus seiner Hand und betrachtete das Wappen.
»Tot! Wirklich tot! O mein Gott, mein Gott!« hauchte sie, indem sie, um nicht zusammenzubrechen, sich auf den Tisch stützen mußte. – »Können Sie das genau sagen?« fragte Sternau mit tiefster Bewegung. – »Ja«, klang es matt zwischen ihren erbleichten Lippen hervor. »Es ist ein Stück des Oberhemds, das ich selbst ihm zuletzt noch anlegte, als der Aderlaß vorüber war. Ich erkenne es an der Nummer.« Und sich an den Zigeuner wendend, fuhr sie fort: »Sage schnell, wo er liegt!« – »Er liegt tief unten in dem Abgrund, den man die Bateria nennt.«
Das spanische Wort Bateria bedeutet einen Mauer– oder Felsenbruch, also eine wilde, gefährliche Stelle. Als die Anwesenden dies Wort hörten, wußten sie, daß von einem noch Lebendigsein gar keine Rede sein könne, denn die Bateria war eine mehrere hundert Fuß tiefe Schlucht, die einen fürchterlichen Abgrund bildete, dessen Wände fast lotrecht hinabfielen. Wer in diesen Schlund stürzte; der war sicher vollständig zerschmettert und zermalmt.
»Ich weiß genug«, jammerte Rosa. »O mein Gott, ich bin seine Mörderin. Ich habe geschlafen, während er starb. Nie werde ich dies vergessen und überwinden können! Mein Vater! Mein Vater!«
Sie verließ, den Leinwandfetzen in der Hand, den Saal, und Amy Lindsay folgte ihr, um ihr in dieser schweren Stunde beizustehen.
»Kann man ohne Lebensgefahr zu der Leiche kommen?« fragte der Advokat den Zigeuner. – »Ja, wenn man die Felsen kennt.« – »Du kennst sie?« – »Ja.« – »Willst du uns führen?« – »Ich werde es tun. Aber, Señor, ich bin ein armer Zigeuner.« – »Schon gut, du wirst fünfhundert Duros erhalten, wenn es wirklich die Leiche dessen ist, den wir suchen. Don Alfonzo, Sie werden mitgehen müssen, um Ihren Vater zu rekognoszieren.«
Der Angeredete nickte schweigend. An Sternau erging keine Aufforderung, sich anzuschließen, er hatte dies auch nicht anders erwartet, obwohl es sich ganz von selbst verstand, daß er nicht zurückbleiben werde. Die Kunde, daß die Leiche des Grafen gefunden worden sei, verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch das Schloß. Ein jeder wollte mitgehen, sie aufzusuchen, und als sich endlich der Sachwalter nebst Alfonzo auf den Weg begaben, schlossen sich aus Schloß und Dorf so viele Begleiter an, als ob ein Wallfahrtszug gebildet werden sollte.
19. Kapitel
Sternau hatte erst noch bei Rosa angeklopft. Es war ihm, als könne das, was er jetzt erfahren hatte, nicht wahr sein, und er wollte der Geliebten so gern ein Wort des Trostes sagen, wurde aber gebeten, später wiederzukommen, wenn der erste, niederschmetternde Eindruck der Trauerbotschaft aberwunden sei. So machte also auch er sich zu dem schweren Gang fertig, aber er schloß sich nicht dem Advokaten und dessen Begleitern an, sondern er zog es vor, den Weg unter der alleinigen Begleitung des braven Kastellans zurückzulegen.
Die Bateria lag ungefähr eine halbe Stunde weit in der Richtung nach Manresa von Rodriganda entfernt Auf ihrem dunklen Grund floß ein dunkler Bach, dessen kaltes Wasser aber nur wenig Vegetation zu befeuchten hatte, da die Sonne niemals bis zum Boden der engen Schlucht dringen konnte. Es kam da selten ein Mensch hinab, die Schlucht war schwer zugänglich, aber Alimpo erklärte dem Arzt, daß er in früherer Zeit öfters unten gewesen sei und einen Zugang kenne, von dem der Zigeuner wohl nichts wissen werde.
Der Advokat hatte einen Boten nach Manresa zu Doktor Cielli geschickt und auch den Alkalden von Rodriganda mitgenommen, so daß also die Besichtigung der Leiche einen obrigkeitlichen Charakter bekam. Auch mit einer Tragbahre hatte man sich versehen, um den Verunglückten gleich aufheben und mitnehmen zu können.
Alimpo war kein großer Läufer, und so kam Sternau mit ihm später an der Bateria an, als der Advokat mit seinem Gefolge. Da aber der Zugang, den der Kastellan kannte, bequemer war als der beschwerliche Abstieg, auf dem der Gitano die anderen zur Tiefe führte, so erreichte Sternau zu gleicher Zeit mit der anderen Partei den Grund der Schlucht
Hier bot sich ihnen ein entsetzlicher Anblick. Hart am Ufer des Wassers lag die Leiche des Herabgestürzten. Sie war während des Sturzes auf den Felsenkanten und emporragenden Spitzen aufgeschlagen und dadurch so zerrissen worden, daß sie keine menschliche Form mehr besaß, sondern eine wirre, breiartige Masse bildete, deren Anblick schaudern machte. Der Kopf war so zerschmettert, daß man nicht die Gesichtszüge erkennen konnte.
Der gute Alimpo schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen und brach in Tränen aus.
»Oh, die liebe, gute Erlaucht! Welch ein Tod, welch ein fürchterlicher Tod! Diesen Anblick werde ich niemals, niemals vergessen können.«
Auch die anderen brachen in Tränen und laute Klagen aus. Der Advokat stand wortlos dabei, während Graf Alfonzo sich den Überresten seines Vaters näherte und versuchte, vor denselben niederzuknien. Er fuhr aber schaudernd zurück.
Sternau warf einen ernsten Blick auf ihn, trat zu dem formlosen Klumpen und bückte sich, um ihn in Augenschein zu nehmen und zu untersuchen.
»Halt«, sagte da der Advokat mit einer abwehrenden Handbewegung. »Ich verbitte mir jede Berührung des Toten, bevor Señor Cielli aus Manresa herbeigekommen ist!«
Sternau trat zurück und antwortete im Ton tiefster Verachtung:
»Ich will nicht untersuchen, ob Ihr das Recht habt, hier einen solchen Befehl auszusprechen, aber Doktor Cielli ist Gerichtsarzt, und so mag er der erste sein, der diese Leiche berührt.« – »Ich habe als Sachwalter des seligen Grafen nicht nur das Recht, sondern sogar die Verpflichtung, darauf zu sehen, daß hier alles nach Form des Gesetzes vorgenommen wird«, antwortete der Notar. »Ich habe erklärt, daß der Graf wahnsinnig ist, ich habe darauf gedrungen, ihn streng bewachen zu lassen, Ihr habt mir widerstanden und ihn entspringen lassen. Ihr seid allein schuld an seinem schrecklichen Tod und dürft nicht erwarten, daß man auch fernerhin ruhig zusieht, wie Ihr Unglück anrichtet an einem Ort, wo Ihr nicht hingehört.«
Sternau zuckte nur verächtlich die Schultern, einer wörtlichen Entgegnung hielt er den Notar nicht wert.
Es dauerte eine geraume Weile, bis der Manresaer Arzt kam. Während dieser Zeit hatten die Anwesenden Gelegenheit, über das Verhalten Sternaus sich zu verwundern. Er durchschritt nämlich die ganze Sohle des Tales und untersuchte jeden Fußbreit desselben. Er betrachtete jeden Stein, jede Felskante. Er stieg sogar unter Lebensgefahr an den steilen Felsen empor und untersuchte diejenige Stelle des Schluchtrandes, von der der Tote mutmaßlich herabgestürzt war.
Der Advokat beobachtete dieses mit höhnischen Blicken, es war ersichtlich, daß er sich darüber ärgerte, aber er konnte nichts dagegen tun.
Endlich kam Cielli. Er hatte, um rascher sein zu können, ein Pferd genommen, ließ dasselbe oben und stieg in den Abgrund hinab.
»Willkommen, Señor!« rief ihm Cortejo entgegen. »Ich habe mit Schmerzen auf Euch gewartet.« – »Konnte nicht schneller, Don Gasparino«, lautete die Antwort. – »Ihr habt bereits gehört, um was es sich handelt?« – »Ja, Euer Bote erzählte es. Der arme Graf! So ein Ende! Ah, wer ist denn das, der da oben herumklettert, als ob er Hals und Beine brechen wollte?«
Cielli deutete nach oben, wo Sternau noch zwischen den Felsen und Steinen suchte.
»Es ist Euer berühmter Herr Kollege«, antwortete der Advokat. »Er scheint an der Wand dort oben Eiderdunen auszunehmen oder indianische Vogelnester zu suchen.«
Jetzt bemerkte Sternau, daß Cielli angekommen war. Er stieg sofort hernieder, und zwar mit einer Schnelligkeit, daß den Zuschauern schwindlig wurde.
»Der Kerl klettert wie eine Katze«, meinte Cortejo. – »Schon mehr wie ein Affe, der er ja auch ist«, fügte Cielli bei. »Er will nichts versäumen.« – »Ich hoffe nicht, daß Ihr ihm eine Bemerkung erlaubt, Señor Doktor!« – Fällt mir nicht ein«, antwortete Cielli. »Ich bin Gerichtsarzt und kenne meine Obliegenheiten. Übrigens hat dieser Mann sich kein Verdienst um mich erworben, so daß ich zu irgendeiner Freundlichkeit gegen ihn verpflichtet wäre. Wollen wir beginnen?« – »Ja.«
Diese Unterredung war mit halblauter Stimme geführt worden, so daß niemand etwas davon hören konnte, desto deutlicher aber sprachen die Blicke, mit denen Sternau, der jetzt herbeikam, empfangen wurde.
Der Alkalde erhielt einen Wink und trat mit dem Advokaten und Cielli zur Leiche.
»Ihr habt zunächst zu erklären, ob noch Leben in diesem Körper ist, Señor«, sagte Gasparino Cortejo zu dem Arzt.
Dieser warf einen Blick auf die zermalmten Überreste und meinte:
»Leben? Unmöglich! Der Zerschmetterte ist vollständig tot!« – Nehmt dies zu Protokoll, Alkalde!« gebot Cortejo. »Hierauf gilt es zu bestimmen, wodurch der Tod herbeigeführt worden ist« – »Durch einen Sturz in den Abgrund«, antwortete der Arzt. – »Nehmt es zu Protokoll, Alkalde! Die Hauptsache ist jedoch, den Verunglückten zu rekognoszieren. Er hat das Negligeé des Grafen Emanuel de Rodriganda an, er ist barfuß gewesen, wie dieser im Bett gelegen hat Der Graf ist in einem Anfall von Wahnsinn entsprungen – es ist kein Zweifel, dieser Tote ist der Graf. Stimmt Ihr bei, Doktor?« – »Ja.«
Cortejo wandte sich jetzt an den Kastellan:
»Señor Alimpo, wißt Ihr, welches Gewand der Graf während der letzten Nacht getragen hat?« – »Ja; ich sah es, als meine Elvira es holte«, lautete die Antwort. – »Ist es dieses?«
Der Kastellan trat näher und bückte sich über den Toten.
»Ja«, sagte er, »es ist das Nachtgewand des Grafen.«
Da deutete Cortejo nach einer bestimmten Stelle und sagte:
»Dieser Gitano hat oben am Felsen einen Fetzen des Gewandes gefunden, wir haben das Stück zwar nicht mitgebracht, aber es hat augenscheinlich hier an diese Stelle gehört. Es trägt das Wappen des Grafen. Er ist es also. Die Anwesenden, die Don Emanuel alle gekannt haben, mögen herbeitreten und sagen, ob sie glauben, daß es der Graf oder ein anderer ist.«
Sie taten es schaudernd, und alle ohne Ausnahme erklärten, daß es Don Emanuel sei. Alimpo machte sogar eine nicht unwichtige Entdeckung:
»Señores«, rief er, »seht hier die Hand! An dem Finger befindet sich der Ring des gnädigen Herrn. Es ist sein Trauring; er hat niemals einen anderen getragen.«
Es war so, wie er sagte. Die Zigeuner hatten die Klugheit gehabt, dem Grafen den Ring abzuziehen und ihn der Leiche anzustecken.
»So ist kein Zweifel mehr vorhanden, daß es der Graf ist«, meinte Cortejo. »Alkalde, nehmt es zu Protokoll!«
Der Alkalde, der in Spanien so ziemlich die Stelle einnimmt, wie in Deutschland der Ortsrichter oder Bürgermeister, ließ sich von Cortejo das Protokoll diktieren, das nach einigen weiteren Bemerkungen und Hinzufügungen unterschrieben wurde.
»Nun ladet ihn auf die Bahre«, befahl der Notar. »Wir schaffen ihn nach dem Schloß.«
Die Träger nahten sich; da aber trat Sternau herzu, der den Vorgang bisher nur von weitem beobachtet hatte.
»Halt!« sagte er. »Ich protestiere gegen das Fortschaffen der Leiche. Sie gehört nicht auf das Schloß!« – »Ah!« machte Cortejo. »Glaubt Ihr, daß Ihr hier auch mitzusprechen habt?« – »Sicher!« – »Aus welchem Grund oder in welcher Eigenschaft?« – »Weil ich der Arzt des Grafen bin.« – »Jetzt nicht mehr!« – »Nun gut, so protestiere ich gegen das Fortschaffen der Leiche in meiner Eigenschaft als Mensch; das ist genug. In einem Fall, wie der gegenwärtige ist, haben die Vertreter des Gesetzes die Verpflichtung, einen jeden anzuhören, der eine wesentliche Bemerkung zur Sache zu machen hat.« – »Zugegeben, Señor! Aber Eure Bemerkung schien mir keine wesentliche, sondern eine sehr sonderbare oder geradezu lächerliche zu sein. Weshalb gehört diese Leiche nicht auf das Schloß?«
Aller Augen richteten sich auf Sternau. Der Notar hatte in einem stolzen, wegwerfenden Ton gesprochen, und Doktor Cielli gab sich die größte Mühe, ein höhnisches Lächeln hervorzubringen; auch der junge Graf schüttelte maliziös und beleidigend mit dem Kopf; aber die anderen waren alle dem deutschen Arzt gewogen und warteten mit Spannung auf seine Erklärung. Er sagte sehr ruhig:
»Dieser Verunglückte gehört nicht auf das Schloß, weil er nicht Graf Emanuel, sondern ein vollständig Fremder ist«
Während den anderen ein Ausruf der Verwunderung entfuhr, ließen die Gegner Sternaus ein heiteres Gelächter hören.
»Ah! Wie köstlich!« rief der Notar. »Diese Leiche soll nicht die des Dons Emanuel sein! Ich glaube, dieser Señor Sternau leidet an derselben Krankheit, an der der gnädige Herr leider zugrunde gegangen ist. Nehmt die Leiche auf und fort damit!« – »Halt!« protestierte da Sternau. »Diese Leiche bleibt liegen, bis ich meine Gründe zu Protokoll gegeben habe. Dann könnt Ihr tun, was Euch beliebt.« – »Eure Gründe brauchen wir nicht. Vorwärts, Dir Leute!« – »Verzeiht, Señor Cortejo«, gebot aber jetzt der Alkalde. »Ich stehe hier an Stelle des Gesetzes und weiß, daß Señor Sternau gehört werden muß! Eigentlich dürfte die Leiche nicht eher aufgehoben werden, als bis der Corregidor zugegen ist. So war es mit den Räubern, die Señor Sternau im Park und Señor de Lautreville bei Pons erschlug; sie mußten liegenbleiben. Hier glaubte ich, eine Ausnahme machen zu können, weil nicht ein Verbrechen, sondern nur ein Unglücksfall vorzuliegen schien, und weil diese Leiche mit größer Bestimmtheit als die des Grafen rekognosziert wurde. Das liegt jetzt anders, und nun hat kein anderer Mensch zu befehlen, als nur ich. Señor Sternau, sprecht!«
Dieser nickte befriedigt und begann:
»Ich frage Euch, Alkalde, wie lange Don Emanuel vermißt wird.« – »Seit gestern früh«, antwortete der Beamte. – »Wie lange kann er also höchstens tot sein?« – »Nicht viel über einen Tag.« – »Nun wohl, seht Euch diese Leiche an! Sie ist bereits so von der Verwesung ergriffen, daß sie wenigstens vier Tage lang der Fäulnis verfallen ist. Seht diese Eingeweide! Sie sind bereits schwarzblau und zersprungen. Man braucht gar nicht Arzt zu sein; man braucht nur die Augen zu öffnen, um zu sehen, daß dieser Tote nicht vor erst vierundzwanzig Stunden gestorben sein kann. Dazu kommt, daß es hier unten feucht und kalt ist; kein Sonnenstrahl dringt herab. Eine Leiche in diesem Zustand müßte wenigstens zwei Wochen hier gelegen haben. Ich wende mich an das Denkvermögen der braven Bewohner von Rodriganda, sie werden sich von keiner verbrecherischen Gaukelei täuschen lassen …« – »Halt!« unterbrach hier der Notar den Sprecher. »Ich verlange, daß dieser Mann zum Schweigen gebracht wird!«
Der Alkalde antwortete:
»Señor Cortejo, ich werde Señor Sternau vollständig anhören und dann selbst wissen, was ich zu tun habe!« Und sich zu Sternau wendend, sagte er: »Fahrt fort, Señor!« – »Ich habe gesagt, daß ich mich an Euer Denkvermögen wende. Schlachtet eine Ziege, Alkalde, und legt sie hierher. In welcher Zeit wird sie wohl von der Fäulnis so angegriffen sein wie diese Leiche?« – »Ihr habt recht; in wenigstens zwei Wochen«, antwortete der Beamte. – »Hört!« lächelte Cielli. »Einen Menschen mit einer Ziege zu vergleichen!«
Sternau wandte sich mit größter Kaltblütigkeit an ihn.
»Ich gebrauchte dieses Beispiel, um mich diesen braven Leuten verständlich zu machen. Bei ihnen hat es hingereicht, wie ich an ihren Mienen sehe, bei Euch aber nicht, der Ihr ein Arzt sein wollt. Das ist traurig genug!« – »Ich hoffe nicht, daß Ihr es wagen wollt, meiner zu spotten!« brauste Cielli auf. – »Ich bin der Wichtigkeit des Augenblicks so überzeugt, daß ich nur im allerheiligsten Ernst spreche, Señor. Und ich möchte Euch ersuchen, ebenso wie ich, unsere Verhandlungen nicht leichtzunehmen! Den ersten Grund meiner Vermutung habe ich angegeben. Jetzt kommt der zweite: Man messe hier den rechten Fuß der Leiche. Er ist noch vollständig erhalten. Ich habe den Fuß des Grafen entblößt gesehen. Dieser gehört einem anderen Mann an. Er ist breiter und größer als derjenige des Grafen und hat eine dicke, zerrissene Sohle und eine so hornartige Ferse, wie es bei einem Edelmann, der nie barfuß geht und seine Füße pflegt, gar nicht vorkommen kann. Blickt her, Alkalde, und sagt, ob ich nicht recht habe!«
Die Leute aus Rodriganda traten herzu und gaben dem Deutschen recht. Seine drei Feinde konnten nichts bemerken. Nur indirekt entgegnete der Notar:
»Und das Gewand des Grafen?« – »Man wird es diesem Mann angelegt haben.« – »Und den Ring?« – »Hat man ihm angesteckt.« – »Ah, Dir vermutet also ein Verbrechen?« – »Allerdings! Seht Euch die Leiche genau an! Sie ist zwar aus einer schrecklichen Höhe herabgestürzt und dabei wiederholt auf dem Felsen aufgeschlagen, trotzdem aber kann sie dadurch nicht so ganz und gar zu Brei zermalmt werden, wie man es hier sieht. Ich behaupte, man hat diesen Mann aus der Höhe herabgestürzt, ist ihm dann nachgestiegen und hat diejenigen Teile des Körpers, die noch unverletzt waren und also verraten konnten, daß es der Graf nicht ist, vollends zerstört.« – »Ah! Eine wirklich wahnwitzige Idee!« rief Alfonzo. – »Er ist nicht zu heilen!« bestätigte der Notar.
Der Zigeuner war erbleicht, aber noch hielten die anderen alle die Ansicht des Deutschen für eine unbegründete und irrige. Dieser fuhr fort:
»Ich werde den Beweis meiner Behauptung sofort antreten.«
Dann entfernte er sich eine Strecke weit, hob dort einen Stein auf, brachte denselben dem Alkalden und fragte:
»Was seht Ihr an diesem Stein?« – »Blut.« – »Nein. Es ist kein Blut. Zeigt ihn dem Señor Cielli. Er wird sagen, was es ist«
Der Alkalde hielt dem Doktor den Stein entgegen. Dieser konnte nicht anders, er betrachtete ihn und sagte:
»Es ist kein Blut. Es ist Gehirn. Der Tote wird mit dem oberen Teil des Kopfes darauf gefallen sein.« – »Nein«, antwortete der Deutsche. »Ich werde das Gegenteil beweisen. Folgt mir, Señores!«
Damit schritt er der Seite zu, die derjenigen, wo der Stein gelegen hatte, entgegengesetzt war, und deutete auf eine Vertiefung im Boden, in die der Stein genau paßte.
»Seht, Señores, hier hat der Stein ziemlich fest in der Erde gelegen; er ist dann mit Anwendung von einiger Gewalt hinweggenommen worden. Da drüben habe ich ihn gefunden, und dazwischen liegt die Leiche. Man hat ihn also aufgehoben, der Leiche mit ihm den Kopf zerschmettert, so daß noch jetzt das Gehirn an ihm zu sehen ist, und ihn dann fortgeworfen. Derjenige, der dies getan hat, ist sehr unvorsichtig gewesen.« – »Wahrhaftig, es ist so!« rief der Alkalde erstaunt. – »Unmöglich! Das ist alles nur Phantasie!« meinte Graf Alfonzo. – »Folgt mir nach oben, Señores; ich will Euch noch etwas zeigen!« rief Sternau.
Darauf stieg er voran, und die anderen alle folgten unwillkürlich hinter ihm drein. Oben am Rand der Bateria angekommen, wandte er sich rechts und blieb an der Kante des steilsten Felsenabsatzes stehen.
»Seht her, Señores!« sagte er. »Dies ist der Ort, von dem die Leiche hinuntergefallen ist. Hier hat sie gelegen. Das Gras ist hoch und fett; es hat sich noch nicht wieder aufgerichtet. Der Eindruck hat ganz die Gestalt eines liegenden Menschen. Und um diesen Eindruck rundherum haben wir die Tapfen verschiedener Füße. Es ist kein Zweifel; hier sind mehrere Männer gewesen; die Leiche hat hier gelegen und ist dann hinabgeworfen worden. Und dies ist heute in der Nacht geschehen, wie die Deutlichkeit der Spur beweist.« – »Welch ein Scharfsinn!« rief der Alkalde. – »Verdammter Kerl!« brummte der Notar vor sich hin.
Der Zigeuner aber war noch blässer geworden als vorher. Sternau, der alle Anwesenden scharf beobachtete, hatte es wohl bemerkt und fuhr, gegen den Alkalden gewandt, nun unerbittlich fort:
»Ich werde gleich sehen, ob auch Ihr ein wenig Scharfsinn besitzt, Señor. Könnt Ihr wohl erraten, durch wen man am sichersten erfahren kann, wer hier gewesen ist?«
Der Gefragte dachte eine Weile nach und antwortete:
»Nein.« – »So will ich es Euch sagen.« Damit trat er zum Zigeuner, legte ihm die Hand auf die Schulter und versetzte: »Durch diesen hier. Er hat die Leiche gefunden; er wird wohl auch Auskunft geben können. Komm mit, Bursche!«
Mit diesen Worten faßte Sternau ihn am Arm und zog ihn fort, dahin, wo die Spuren herkamen. Da gab es eine lehmige Stelle, in der die Fußeindrücke sehr deutlich zu erkennen waren.
»Seht Ihr, daß seine Sandalen noch lehmig sind?« fragte Sternau. – »Wahrhaftig!« meinte der Richter. – »Und daß sein Fuß ganz genau in diese Spur hier paßt?«
Er zwang Garbo, in die Spur zu treten.
»Auch das ist wahr!« konstatierte der Alkalde. – »Nun, Gitano, rede, wenn du dich verteidigen kannst!«
Garbo hatte sich gefaßt; er antwortete:
»Señor, das alles läßt sich sehr leicht erklären.« – »Nun?« – »Ich ging mit zwei Kameraden Kräuter sammeln. Wir kamen bis an den Schluchtrand. Dort ruhte ich aus, während sie links weitergingen. Der Eindruck im Gras ist von mir, Señor.« – »Ah, du bist ein kluger Kerl. Und den Zipfel des Hemdes hast du an einem Dorn hängend gefunden?« – »Ja«, antwortete Garbo mit erneuter Verlegenheit. – »Zeige uns diesen Dorn!« – »Kommt!«
Garbo schritt an der Schlucht zurück und suchte, aber vergebens.
»Ich finde ihn nicht«, sagte er. – »Das dachte ich mir!« meinte Sternau. »Wenn ein fallender Mensch mit seinem Hemd an einem Dorn hängenbleibt, wird das Hemd zerschlitzt oder es reißt ein unregelmäßiges und vielfach zerfetztes Stück ab; das Stück aber, daß du gefunden hast, hat eine so glatte und saubere Rißkante, daß ich sicher glaube, du hast es selbst abgerissen. Man braucht nicht sehr klug zu sein, um zu sehen, was mit der Hand oder was durch einen dornigen Strauch zerrissen wurde.« – »Das ist wahr!« bemerkte der Alkalde. – »Ich erkläre also«, fuhr Sternau fort, »daß wir es nicht mit der Leiche des Grafen de Rodriganda zu tun haben, daß vielmehr das Verbrechen einer betrügerischen Verwechslung vorliegt Ich bitte, alle meine Aussagen zu Protokoll zu nehmen, verlange, daß die Spuren, die ich Euch zeigte, unversehrt erhalten bleiben, und hoffe, daß die Leiche bleibt, wo sie liegt, bis der Corregidor kommt um diese Angelegenheit genauer zu untersuchen.« – »Das soll geschehen, Señor«, erwiderte der Alkalde. – »Ihr werdet die Schlucht mit der Leiche bewachen lassen?« – »Ja.« – »Und diesen Gitano, der mir sehr verdächtig vorkommt, gefangennehmen?« – »Wenn Ihr es wünscht, ja.«
Da trat Graf Alfonzo vor, um Einspruch zu erheben. Auf dem Weg nach der Schlucht hatte nämlich der Advokat ihm mitgeteilt daß der Zigeuner in seinen Diensten stehe, und nun befürchtete er, daß dieser, wenn er gefangengenommen würde, das ganze Komplott verraten werde.
»Halt, ich dulde das nicht!« rief er. »Wollt Ihr Euch nach den Wünschen dieses Fremden richten, Alkalde? Wißt Ihr, wer nach dem Tod meines Vaters hier Amts– und Gerichtsherr ist?«
Sternau zuckte die Schultern und sagte:
»Nach dem Tod des Grafen? Beweist erst, daß Don Emanuel tot ist!« – »Pah, da unten liegt er!« rief Alfonzo. – »Es soll eben erst erwiesen werden, daß er es ist« – »Ich rekognosziere ihn, Señor. Verstanden?« rief Alfonzo drohend.
Sternau zuckte abermals die Schultern und meinte stolz:
»Das ist jeder andere geschickter dazu, die Leiche des Grafen zu rekognoszieren. Wie lange kennt Ihr ihn? Einige Tage!«
Da trat Alfonzo hart an den Deutschen heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und fuhr ihn drohend an:
»Señor, was wagt Dir? Soll ich Euch zermalmen? Wer soll den Grafen kennt wenn nicht ich, sein Sohn?«
Sternau schüttelte die Hand von sich ab und antwortete mit kalter, unerschütterlicher Ruhe:
»Ihr habt erst zu beweisen, daß Ihr der Sohn des Grafen seid. Der echte Graf Alfonzo ist mit dem Kapitän Landola in See gegangen. Man hat ihn gewaltsam entführt.«
Er sprach hier nur seine Vermutung aus, aber seine Worte machten einen gewaltigen Eindruck.
»Ah! Hört!« rief es im Kreis.
Der Advokat taumelte förmlich zurück; Alfonzo aber sprang auf Sternau zu, um ihn zu packen.
»Schurke!« rief er. »Verleumder, ich erwürge dich!«
Da richtete Sternau sich zu seiner vollen Höhe empor, faßte den Grafen bei den Hüften, trat mit ihm bis an die äußerste Kante des Abgrunds heran und hielt ihn über die gähnende Tiefe hinaus. Ein Schrei des Schreckens erscholl rundum.
»Du mich erwürgen, Knabe!« lachte er. »Soll ich dich hinunterschmettern zu dem Popanz Eurer Betrügereien? Nein, es ist keine Ehre, einen so unwürdigen Burschen zu besiegen und zu töten. Du magst im Schlamm deiner eigenen Armseligkeit ersticken. Fahre hin, Fliege!«
Damit trat er von dem Abgrund zurück und schleuderte Alfonzo über sich selbst hinweg, so daß dieser weit fortflog und zur Erde stürzte. Hierauf wandte er sich an den Alkalden:
»Ich hoffe, daß Ihr Eure Pflicht tut, Señor. Das Gegenteil könnte Euch gefährlich werden. Kommt, Señor Kastellano! Ich habe hier meine Pflicht getan, und Ihr könnt mich begleiten.«
Dann ging er mit Alimpo fort, ohne daß ihn jemand gehindert hätte.
20. Kapitel
Alfonzo erhob sich vom Boden. Er schäumte vor Wut, getraute sich aber nicht, diese an dem eisenstarken Deutschen auszulassen. Er war blamiert vor den vielen Leuten, die ihn als Herrn und Gebieter betrachten sollten, und wandte sich, vor Grimm zitternd, jetzt an den Alkalden, den er förmlich anbrüllte:
»Señor, an diesem Attentat seid nur Ihr allein schuld. Ich werde es Euch gedenken. Darauf verlaßt Euch!« – »Ich habe nur meine Pflicht getan!« entschuldigte sich der Beamte.
Er war ein gewöhnlicher Dorfbewohner, ein Untertan des Grafen. Er hatte nach dem Recht gehandelt, weil er unter dem Einfluß der körperlich und geistig mächtigen Persönlichkeit Sternaus stand. Dieser letztere hatte sich jetzt entfernt, und nun sank dem Mann dem jungen Grafen gegenüber der Mut, zumal auch der Notar das Wort ergriff, ihm entgegentrat und mit zürnender Miene die Frage aussprach:
»Señor, sagt einmal, ob Ihr mich kennt!« – »Ja«, antwortete er. – »Nun, wer bin ich?« – »Der Sachwalter Seiner Erlaucht« – »Gut Was heißt das, Sachwalter?« – »Ihr habt ihn schriftlich und rechtlich in allen Stücken zu vertreten.« – »Sehr schön! Nun ist aber mein Mandat noch keineswegs erloschen; was ich also tue, das ist gerade so, als ob es der Graf selbst tut. Wollt Ihr diesen Gitano wirklich unschuldigerweise verhaften?«
Der Alkalde befand sich in keiner geringen Verlegenheit; er schwieg. Da wandte sich Cortejo an den Zigeuner und sagte:
»Wir brauchen dich nicht mehr, du kannst gehen, und ich will denjenigen sehen, der dich zu halten wagt!«
Garbos Augen leuchteten vor Freude. Er machte eine tiefe Verneigung vor Cortejo und erwiderte:
»Señor, ich danke! Ich bin wirklich unschuldig!«
Er entfernte sich, ohne daß der Alkalde ihn zurückhielt. Jetzt wandte sich der Advokat an die Männer, die die Bahre zu tragen hatten, und gebot ihnen:
»Ihr geht da hinab, ladet den armen, gnädigen Herrn auf und tragt ihn nach dem Schloß. Wer sich weigert, der wird augenblicklich entlassen!«
Die Leute gehorchten ohne Widerrede, und die Furcht vor dem strengen Notar war so groß, daß die sämtlichen Auseinandersetzungen des Deutschen erfolglos blieben. Der Alkalde fügte sich schweigend, und es dauerte nicht lange, so setzte sich der Zug nach Rodriganda zu in Bewegung. Der Doktor aus Manresa ging in der Nähe der Leiche, wahrend Cortejo mit Alfonzo in einer solchen Entfernung hinter dem Zug herschritten, daß sie miteinander sprechen konnten, ohne gehört zu werden.
»Aber Sternau wird den Corregidor rufen«, sagte der letztere. – »Fürchtest du dich?« – »Nein. Aber er ist ein Mensch, dem alles zuzutrauen ist!« – »Ich werde mich nicht beugen!« – »Aber, wie kam er dazu, mir zu sagen, ich sei nicht der echte Sohn des Grafen Emanuel de Rodriganda?« – »Das weiß der Teufel!« – »Und wie kam er weiter dazu, zu behaupten, daß der wirkliche junge Graf in See gegangen seit?« – »Das weiß des Teufels Großmutter! Er ist ein ganz gefährlicher Halunke, den ich uns vom Hals schaffen muß. Er ist der einzige Gegner, den wir noch besitzen; er muß unschädlich gemacht werden, und zwar bald.« – »Und Rosa?« – »Pah! Sie ist ein Mädchen. Ich habe nicht gelernt, ein Weib zu fürchten!«
Auch die Bewohner von Rodriganda, die mit in der Schlucht gewesen waren, tauschten unterwegs ihre Bemerkungen aus. Sternau war beliebt, die anderen aber haßte oder fürchtete man. Ein jeder hatte die Worte des Deutschen gehört, und nun wurden leise Vermutungen ausgesprochen, die dem jungen Grafen keineswegs zur Ehre gereichten.
Jetzt gelangte man zu dem Schloß, und der Notar ließ die Leiche in das Gewölbe eines Nebengebäudes niederlegen, dann begab er sich auf sein Zimmer. Hier fanden sich Briefschaften vor, die während seiner Abwesenheit von der Post abgegeben worden waren. Er öffnete sie, um sie durchzugehen.
Die erste, die er zur Hand nahm, enthielt nur eine kurze Notiz. Kaum jedoch hatte er dieselbe überflogen, so nahm sein Angesicht zunächst einen überraschten und dann einen förmlich diabolischen Ausdruck an.
»Ah, wie herrlich sich das trifft!« rief er. »Ah, besser kann ich es mir ja gar nicht wünschen!«
Mit dem Brief in der Hand eilte er zu seiner frommen Verbündeten. Er fand dort Alfonzo, der beschäftigt war, ihr das Ereignis in der Bateria zu erzählen.
»Gasparino, ist das alles wahr, was ich höre?« fragte Clarissa. »Wir befinden uns in großer Gefahr?« – »Befanden, meinst du, nicht aber befinden«, antwortete er. – »Ich sehe keine Veranlassung zu einem so frohen Gesicht, wie du es zeigst«, bemerkte sie. – »Ich desto mehr«, antwortete er. – »Wieso?« – »Weil die Gefahr vorüber ist.« – »Wirklich?« fragte Alfonzo.
Der freudige Ton seiner Stimme war der beste Beweis, daß die Sorge nicht leicht auf ihm gelastet hatte.
»Hier, hier ist unsere Rettung!« frohlockte der Notar, den Brief in die Höhe haltend. – »Was ist es, Vater?« fragte Alfonzo. – »Eine Bemerkung des Bankiers in Barcelona. Ratet einmal, was sie enthält!« – »Wer soll raten! Sage es!« – »Der Graf hat diesem Sternau ein Honorar ausgezahlt.« – »Weiter gibt es nichts?« fragte die fromme Schwester enttäuscht. »Das ließ sich ja erwarten!« – »Aber er liefert ihn uns damit in die Hände!« – »Wieso?« – »Das Honorar wurde nicht bar, sondern per Anweisung ausgezahlt, und Sternau hat diese Anweisung dem Bankier geschickt, der die Summe nach Deutschland besorgen soll. Dieser hat es sofort getan und benachrichtigt den Grafen davon.«
Alfonzo schüttelte den Kopf.
»Ich begreife aber noch immer nicht«, meinte er, »wie diese Angelegenheit den Doktor uns in die Hände liefern soll. Erkläre dich deutlicher!« – »Die Höhe der Summe ist es, die ihm den Hals bricht. Da, lest einmal!«
Die beiden hatten kaum einen Blick auf das Papier geworfen, so brachen sie in einen Ausruf des Erstaunens aus.
»Unmöglich!« rief Clarissa. – »Das ist ja ein Vermögen!« rief Alfonzo. – »Nicht wahr?« fragte Cortejo. »Ein fürstliches, nein, sogar ein wahrhaft königliches Honorar!« – »Das ist ja geradezu unglaublich!« meinte die fromme Schwester, die sehr geizig war. – »Ist es Zeit noch zu redressieren?« fragte Alfonzo. – »Also ihr haltet es für unglaublich?« fragte Cortejo. – »Ganz bestimmt!« erklärte die Dame. – »Ha«, meinte Alfonzo, »möglich ist es schon, wenn man sich alles richtig bedenkt und überlegt« – »Ja, ich zweifle nicht im mindesten daran«, versetzte der Notar. »Das Augenlicht ist etwas wert, der Deutsche hatte den Grafen vollständig in seinem Netz; Don Emanuel war unendlich reich, und im ersten Augenblick des Glücks, wieder sehen zu können, wurde er verschwenderisch.« – »So dargestellt, ist es allerdings zu glauben«, meinte die fromme Clarissa bedächtig. – »Aber«, sagte Alfonzo, »ich begreife noch immer nicht …« – »Du sollst es sofort hören. Der Graf war blind …« – »Nun?« – »Er schrieb niemals ein Wort …« – »Weiter.« – »Sämtliche schriftliche Arbeiten hatte nur ich allein zu besorgen. Selbst die Unterschrift war mir überlassen. Da kommt nun von seiner eigenen Hand die Anweisung …« – »Ah, ich beginne zu begreifen!« rief Alfonzo. – »Von der ich nicht das geringste weiß.« – »Nicht? Wirklich nicht?« – »Nein; die auch in keinem der Bücher bemerkt worden ist« – »Auch das nicht?« – »Nein. Ich habe seit Tagen vergessen, meine Einträge zu machen, und werde nachholen, daß mir der Graf befohlen hat dem Doktor Sternau tausend Duros Honorar auszuzahlen. Das ist ein Beweis gegen den Deutschen.« – »Herrlich!« rief Clarissa. »Der Herr hat dich mit großem Scharfsinn begnadigt, Gasparino. Wir werden endlich siegen.« – »Ich werde dies sofort besorgen. Du aber, Alfonzo, reitest schnell nach Manresa.« – »Was soll ich dort?« – »Pah! Du fragst noch? Anzeige machen natürlich und Polizei holen. Er muß noch heute arretiert werden.« – »Ich habe noch niemals etwas so gern getan wie das!« meinte Alfonzo. »Ich werde sofort reiten. Aber bist du auch sicher, daß es gelingt?« – »Es muß gelingen, es muß!« sagte der alte Schurke mit großer Bestimmtheit. »Ich stehe dafür!« – »Und Rosa! Wenn sie davon weiß? In diesem Fall würde sie ihm als Zeugin dienen.« – »Das ist allerdings ein Umstand, den wir berücksichtigen müssen. Ich werde sehen, was zu tun ist. Übrigens kommt es uns ja gar nicht darauf an, das Geld zurückzuerhalten und diesen Deutschen wegen Fälschung bestrafen zu lassen; es genügt vollständig, daß er für den Augenblick unschädlich gemacht wird. Und dafür wird mein Freund, der Corregidor, sorgen.« – »Ah, du denkst, daß der Deutsche nicht nach Manresa, sondern nach Barcelona geschafft wird?« – »Freilich, da es sich um einen so hohen Betrag handelt. Während du nach Manresa reitest, werde ich den Brief für den Corregidor schreiben. Der Deutsche sitzt gefangen; der Graf wird begraben, du trittst das Erbe an und stellst dich bei Hofe vor, und sollte Rosa uns Schwierigkeiten bereiten, so gibt es ein sehr gutes Mittel, sie gefügig zu machen.« – »Welches?« – »Wir stecken sie in das Stift, dessen treue Vorsteherin hier deine gute Mutter ist.« – »Ah, das wird schwerwerden!« meinte Schwester Clarissa. »Sie wird sich weigern. Ein verlorenes Schäflein läßt sich niemals gern von dem guten Hirten ergreifen, um gerettet zu werden.« – »Sie wird sich nicht weigern. Es gibt ein ausgezeichnetes Mittel, allen Widerstand zu brechen.« – »Welches?« fragte Alfonzo. Der Advokat sah ihn bedeutungsvoll an und erwiderte: »Der Wahnsinn, wie bei dem Grafen.« – »Der Wahnsinn, ja, den Sternau heilen wird!« entgegnete der junge Mensch sarkastisch. – »Unsere fromme Stiftsdame würde dafür sorgen, daß kein Sternau Zutritt erhält! Also eile, mein Sohn; ich werde indessen die nötigen schriftlichen Arbeiten vornehmen und beendigen.«
21. Kapitel
Diejenigen, gegen die diese teuflischen Anschläge gerichtet waren, saßen jetzt mit der Engländerin zusammen, um über das ihnen jetzt Wichtigste zu verhandeln. Als Sternau mit dem Kastellan von der Bateria zurückkehrte, hatte er sich sogleich bei Rosa anmelden lassen. Er wurde angenommen und fand die Engländerin bei ihr. Rosa erhob sich. Sie war totenbleich und fragte, indem ihr die Augen überflössen:
»O bitte, Señor, macht es kurz, denn ich leide entsetzlich, fürchterlich! Er ist tot, nicht wahr?«
Sternau trat auf sie zu, faßte ihre Hand, die er an seine Lippen zog, und erwiderte in mildem Ton:
»Weinen Sie nicht, Doña Rosa. Ich bringe Trost.« – »Trost?« fragte sie, während ihre Wangen sich wieder belebten. – »Er lebt, er ist nicht tot!« – »Nicht? O mein Gott, wo ist dann mein Vater?« – »Ich weiß es nicht; ich weiß nur das, daß der Tote da draußen nicht Don Emanuel ist.«
Damit führte er Rosa zum Fauteuil und bat:
»Setzen Sie sich, und sagen Sie mir, ob Sie stark genug sind, mich ohne Aufregung anzuhören.« – »Oh, Carlos, fragen Sie nicht An Ihrer Seite bin ich immer stark, denn ich vertraue Ihnen.« – »So hören Sie! Als Sie mich von Paris herbeiriefen, kannte ich von den Bewohnern Rodrigandas nur Sie. Ich hatte keinem ein Leid getan, niemand beleidigt und wurde bereits in der ersten Zeit meiner Anwesenheit hier überfallen.« – »Von Räubern?« – »Nein, sondern von gedungenen Mördern. Ich erkannte sogleich, daß es nicht auf meine geringe Habe, sondern auf mein Leben abgesehen sei. Welchen Grund konnte dies haben, Doña Rosa?« – Ich weiß es nicht Sie hatten doch keinen Feind hier.« – »Das ist richtig. Aber da meine Person hier keinen Feind besaß, so mußte die Angelegenheit, in der ich nach Rodriganda kam, mir diesen Feind erweckt haben. Ich kam nur aus dem einen Grund, Ihren Vater zu retten; es mußte also jemanden geben, der wünschte, daß der Graf nicht gerettet werde.«
Rosa zuckte vor Schreck zusammen.
»Das ist ja ganz unmöglich! Mein Vater war so gut!« – »Ja, er war gut, aber er war der Herr und Besitzer einer Grafschaft und vieler Millionen.« – »Was sagen Sie da? Ich verstehe Sie nicht.« – »Es ging Don Emanuel gerade so wie mir: Seine Person hat keinen Feind. Daraus schloß ich, daß dieser Feind es auf Rodriganda abgesehen haben müsse.« – »Auf Rodriganda? Das kann doch nur mein Bruder erhalten.« – »Auch das sagte ich mir. Aber dieses Wort Bruder, und der Umstand, daß Ihr Bruder seit den Tagen seiner Kindheit in Mexiko gewesen war, brachte mich auf einen kühnen Gedanken. Ich beobachtete scharf und unausgesetzt. Ihr Vater wurde von drei unfähigen Ärzten behandelt, die ihn zu Tode kuriert hätten; diese Ärzte wieder wurden ganz ausschließlich von nur drei Personen in einen ebenso fortgesetzten wie leidenschaftlichen Schutz genommen.« – »Sie meinen den Notar?« – Ja.« – »Die Schwester Clarissa?« – »Ja.« – »Und wer ist der dritte?« – »Ihr Bruder selbst.« – »Alfonzo! Ah! Sie sagen schreckliche Dinge, Señor; aber Sie haben recht. Mein Bruder ist stets Ihr Feind gewesen, er hat nie gut von Ihnen gesprochen; er hat stets gegen Sie gekämpft.« – »Dies sah ich. Ich beobachtete diese drei. Sie waren wenig bei Don Emanuel, sie waren stets beisammen, sie waren es – ich sage es frei und offen —, die den Tod Ihres Vaters wünschten.« – »O mein Gott! Welch eine Kluft öffnen Sie vor meinen Augen!«
Rosa dachte jetzt nicht mehr daran, daß ihr Vater in der Bateria liegen solle; ihre Gedanken wurden nur von dem Gegenstand ihres gegenwärtigen Gesprächs in Anspruch genommen.
»Ja, es ist eine tiefe, finstere, schaudervolle Kluft«, fuhr Sternau fort, »aber ich habe auf den Grund dieser Kluft sehen müssen, um gegen das Verbrechen ankämpfen zu können. Gott gab mir die Gnade, Ihren Vater vom Tod zu erretten, aber er wurde wieder krank, er wurde wahnsinnig. Dieser Wahnsinn war künstlich durch ein Gift herbeigeführt worden. Wer hatte ihm dieses Gift gegeben? Sie nicht, ich nicht, Lady Lindsay nicht, der Diener nicht. Wer war noch sonst bei ihm gewesen? Ich weiß es nicht. Ich ritt nach Barcelona; Sie waren bei dem Kastellan beschäftigt; und der Graf befand sich allein. Es kann jemand während dieser Zeit bei ihm gewesen sein. Das Gift ist ihm durch Schokolade beigebracht worden. Nun war mir zufällig ein Gegenmittel bekannt. Ich gab es ihm zwar noch nicht, aber die Vorkur wirkte bereits günstig. Man erkannte, daß ich den Wahnsinn heilen würde, und traf eine Vorkehrung, die radikal wirkte: man ließ Ihren Vater verschwinden.« – »Oh, Sie glauben, daß er nicht selbst gegangen ist?« fragte Rosa voll Angst. – »Er konnte nicht gehen; er war zu schwach dazu.« – »So hat man ihn getötet! Oh, mein Gott, mein Gott! – »Man entfernte ihn, aber man tötete ihn nicht.« – »Glauben Sie?« – »Ich bin überzeugt davon.« – »So lebt er noch?« rief sie aufspringend. – »Er lebt!« – »Wo?« – »Das weiß ich nicht; aber wir werden es erfahren. Hören Sie meine Gründe, Doña Rosa.« – »O schnell, schnell, sagen Sie dieselben!« – »Wenn der Graf nur verschwand, so konnte Ihr Bruder das Erbe nicht antreten, der Graf mußte also sterben. Der Tote da draußen aber ist der Graf nicht, folglich lebt Don Emanuel noch, und man hat ihm einen anderen untergeschoben, und dieser andere ist bereits seit vier Tagen eine Leiche gewesen.« – »Das ist ja eine Reihenfolge von Verbrechen, die man ganz unglaublich finden muß! Sind Sie überzeugt, daß jene Leiche ein anderer ist, Señor?« – »Ja. Hören Sie!«
Er berichtete nunmehr den Damen das ganze Ereignis in der Bateria, und als er geendet hatte, gaben sie ihm vollständig recht
»Welch ein Trost daß es der Vater nicht ist!« rief Rosa. »Oh, nun bin ich wieder froh und stark. Ich weiß, wir werden dieses Komplott durchschauen und besiegen. Oder wollen Sie mich verlassen, Señor?«
Er streckte ihr beide Hände entgegen.
»Doña Rosa, mein Leben gehört Ihnen, und ich werde es der Aufgabe widmen, Ihren Vater aufzufinden!«
Sie ergriff seine Hände, blickte ihm innig in die treuen Augen und lag im nächsten Augenblick an seiner Brust Amy weinte vor Mitgefühl und Freude und sagte:
»Ihr verdient es, einander zu gehören! Oh, könnte ich doch auch helfen, Euch glücklich zu machen!«
Sternau reichte ihr dankend die Hand und erwiderte langsam:
»Miß Amy, Sie werden uns helfen, Sie werden unsere Schwester sein.« – »Ja, die bin ich, Ihr lieben, guten Menschen!«
Er schüttelte lächelnd den Kopf und meinte:
»Ich meine das Wort ›Schwester‹ doch noch anders.« – »Wie denn?« – »Darf ich kühn sein und aufrichtig sprechen, Miß Amy?« – »Ja. Reden Sie!« – »Sie sollen unsere Schwester sein, indem sie Gräfin de Rodriganda werden.«
Die beiden Mädchen blickten erstaunt in sein männlich schönes Angesicht
»Gräfin Rodriganda?« fragte Amy. »Ich verstehe Sie nicht. Inwiefern?« – »Indem Sie die Gemahlin des Grafen Alfonzo de Rodriganda von Sevilla werden.«
Da bedeckte eine tiefe Glut das zarte Angesicht der Engländerin, und sie antwortete zurückweisend:
»Sir, haben ich Ihnen eine Veranlassung zu dieser Behauptung gegeben?« – »Ja«, antwortete er ruhig. – »Wodurch?« fragte sie, jetzt vor Zorn noch mehr erglühend. – »Sie lieben ihn!«
Da erhob sie sich.
»Sir«, sagte sie im schärfsten Ton, »ich glaube nicht verdient zu haben, dies hören zu müssen.« – »O doch, Miß Amy, denn diese Liebe ist Ihr größtes Glück und auch das seinige. Sie zürnen, aber Sie werden mir sofort vergeben, wenn ich Ihnen erkläre, daß der Graf Alfonzo de Rodriganda sich nicht hier befindet«
Sie hatte im Begriff gestanden, das Zimmer zu verlassen, jetzt aber blieb sie stehen und fragte:
»Nicht hier? Wo sonst?« – »Er ist zur See.« – »Mein Gott, Sie sprechen in Rätseln!« – »Sie haben ihn aber hier gesehen«, fuhr er unbeirrt fort. – »Ich begreife Sie nicht!« – »Und zwar als Husarenleutnant.«
Jetzt vermochte Amy gar nicht zu antworten. Sie blickte Sternau nur in größtem Erstaunen; auch Rosa schien vor Verwunderung keine Antwort zu finden. Er aber erhob sich und fragte:
»Meine Damen, glauben Sie, daß ein Sohn den Tod seines Vaters wünschen oder gar ihn wahnsinnig machen kann?« – »Nein!« antwortete Rosa. – »Nun, Señor Alfonzo hat dies getan, er ist also gar nicht der Sohn Don Emanuels!«
Da fuhr auch Rosa empor und rief:
»Was – was sagen Sie da! Er nicht meines Vaters Sohn, nicht mein Bruder?« – »Nein.« – »Was sonst? Oh, welch ein Tag! Señor, ich stehe auf der Folter. Sprechen Sie, sprechen Sie schnell!« – »Er kann nicht der Sohn Don Emanuels sein, denn ich und Sie beide, wir haben den echten Alfonzo gesehen.« – »Wann, wo?« – »Hier, Doña Rosa, treten Sie in Ihre Bildergalerie und vergleichen Sie das Jugendporträt des Grafen Emanuel mit dem Leutnant de Lautreville!«
Jetzt kam die Reihe zu erstaunen auch an Miß Amy.
»Alfred de Lautreville!« rief sie. »Señor, was sagen Sie, was wissen Sie von ihm? Er gestand mir, daß auf seinem Leben ein Geheimnis liege, das er erst aufklären müsse!« – »Er hat Ihnen die Wahrheit gesagt. Er ist der richtige Graf Rodriganda, und der jetzige Alfonzo ist ein untergeschobener Betrüger. Darum mußte der Leutnant verschwinden; daher hat man ihn geraubt und auf das Schiff geschafft!« – »Geraubt!« rief die Engländerin, indem sie die kleinen Fäuste ballte und einen schnellen Schritt auf Sternau zu tat. Wie eine gereizte Löwin stand sie vor ihm, gar nicht das schöne, zarte Geschöpf, als welches er sie bis jetzt gesehen hatte. »Geraubt? Auf das Schiff geschafft?« wiederholte sie. »Das soll man wagen! Ich werde sie alle vernichten! Alle, alle, alle!«
Sternau nickte lächelnd und fragte:
»Geben Sie nun zu, daß Sie den Grafen Alfonzo lieben, Miß Amy?« – »Ja«, antwortete sie aufrichtig. »Ich liebe ihn; ich werde ihn suchen und finden. Und wehe denen, die seine Feinde sind und unrecht an ihm handeln! Zwar hat mir mein Vater geschrieben, daß ich kommen soll, und ich werde auch heute noch abreisen, bald, in einer Stunde bereits, aber ich werde doch zu handeln wissen. Erzählen Sie, Señor!«
Sternau erzählte nun, wie er die Spuren weiter verfolgt und dann alles übrige in Erfahrung gebracht habe. Sie durchschauten die Machinationen, obgleich sie nichts genau beweisen konnten. Endlich mußten sie sich trennen, denn Amy war wirklich ganz plötzlich abberufen worden. Derselbe Briefträger, der dem Notar das Schreiben des Bankiers überbracht hatte, war auch der Überbringer eines Briefes von ihrem Vater gewesen. Sie versprach, ihrem Vater alles zu gestehen und für sich und die Freundin seine Hilfe zu erbitten. Dann nahm sie Abschied von dem Deutschen, dem sie ihre vollste und wärmste Freundschaft zusicherte. Kurze Zeit später fuhr sie mit Rosa, die sie bis Pons begleitete, von Rodriganda fort, eine weitere Begleitung hatte sie abgelehnt.
Diese Unterredung und dann die schleunige Abreise der Freundin waren schuld, daß weder Sternau noch Rosa sich nach der Leiche erkundigt hatten. Der erstere glaubte, daß der Alkalde ganz nach seiner Anordnung gehandelt habe, denn im Eifer des Gesprächs hatten sie gar nicht bemerkt, daß der Tote hereingebracht worden war.
22. Kapitel
»Und der Priester legt die Hände
Segnend auf des Toten Haupt:
Selig ist, wer bis ans Ende
An die ew‘ge Liebe glaubt.
Selig, wer aus Herzensgrunde
Nach der Lebensquelle strebt
Und noch in der letzten Stunde
Seinen Blick zum Himmel hebt.
Suchtest du noch im Verscheiden
Droben den Versöhnungsstern,
Wird er dich zur Wahrheit leiten
Und zur Herrlichkeit des Herrn.
Darum gilt auch dir die Freude,
Die uns widerfahren ist.
Denn geboren wurde heute
Auch dein Heiland, Jesus Christ!«
Sternau saß in seinem Zimmer. Er wollte arbeiten, aber es ging nicht, er mußte immer und immer wieder an die letzten Ereignisse denken, und diese Gedanken beschäftigten ihn so sehr, daß er ein Klopfen an seiner Tür überhörte und auf dasselbe erst dann aufmerksam wurde, als es sich wiederholte.
»Herein!« rief er.
Die Tür öffnete sich, und der Arzt wunderte sich, einen fremden Mann zu sehen, der es vergessen zu haben schien, sich vorher anmelden zu lassen.
»Wer sind Sie?« fragte er den Eingetretenen. – »Sie sind Señor Sternau, der Arzt des Grafen Emanuel?« fragte der Fremde anstatt der Antwort. – »Ja.« – »Die Gräfin Rosa de Rodriganda sendet mich.« – »Oh! Wunderbar! Sie ist nach Pons.« – »Allerdings. Sie ist bei mir eingekehrt und schickt mich, um Sie zu bitten, nachzukommen.« – »Weshalb?« – »Das sagte sie nicht. Es war noch eine Dame bei ihr.« – »Das ist richtig. Sie sind ein Gastwirt?« – »Ja. In Elbrida, zwischen hier und Manresa.« – »Sind Sie mit dem Geschirr der Gräfin gefahren?« – »Nein. Sie wollte ihre Pferde nicht unnütz ermüden.« – »Setzen Sie sich. Ich bin sogleich fertig.«
Sternau war hier gewöhnt worden, vorsichtig zu handeln, aber es konnte der Gräfin unterwegs ein Gedanke gekommen oder etwas begegnet sein, daß sie seine Gegenwart wünschte. Er legte also andere Kleider an, schloß seine Möbel zu und ging mit dem Fremden vor das Portal, wo eine zugemachte zweispännige Kutsche hielt. Dann stiegen sie ein und fuhren ab.
Droben am Fenster stand der Advokat mit seinen beiden Verbündeten. – »Er steigt ein«, sagte er hohnlächelnd. – »Jetzt geht es fort«, bemerkte Alfonzo. – »Er ist gefangen«, fügte die fromme Schwester bei. »Gott gab dir den prächtigen Gedanken, daß der Corregidor sich für einen Wirt ausgeben sollte, mein teurer Gasparino.« – »Ich möchte das Gesicht sehen, das er macht, wenn er die Wahrheit erfährt«, lachte Alfonzo.
Unterdessen fuhr die Kutsche eine Strecke auf der Straße nach Manresa dahin, dann aber bog sie nach rechts ein und lenkte nach der Barcelonaer Chaussee hinüber.
»Der Kutscher fährt falsch!« bemerkte Sternau. – »Er fährt richtig«, entgegnete der Fremde. – »Nach Manresa?« – »Nach Barcelona.« – »Ah! Ich denke, daß wir nach Elbrida fahren.« – »Nein. Wir fahren nach Barcelona.« – »Señor, wer sind Sie? Was wollen Sie mit mir?« – »Wer ich bin? Ich bin der Corregidor von Manresa. Was ich will? Sie nach Barcelona bringen.« – »Ah, ein Polizist sind Sie! Was soll ich in Barcelona?« – »Ich weiß es nicht. Der Delegados will mit Ihnen sprechen.« – »Der Präfekt? Worüber?« – »Ich weiß es nicht. Sie werden es hören.« – »Sie haben mich belogen, Señor.« – »Nur eine kleine List, die wir sehr oft anwenden, um Weitläufigkeiten zu vermeiden.« – »Und wenn ich mich weigere, Ihnen zu folgen?« – »Das hilft Ihnen nichts. Blicken Sie durch das Wagenfenster nach rückwärts, so werden Sie sehen, daß uns vier berittene Gendarmen mit geladenen Gewehren auf dem Fuß folgen.« – »Alle Teufel! Das sieht ja aus, als ob Sie einen schweren Verbrecher transportieren.« – »O nein. Das ist nur eine kleine Formalität, Señor. Ich weiß bestimmt, daß Sie heute wieder zurückkehren, aber Sie sind ein Ausländer, und ich muß Sie bringen, daher die Begleitung.« – »Ich selbst würde mich vor dieser Begleitung nicht fürchten, Señor Corregidor, aber ich habe ein gutes Gewissen und gehe also mit, ohne an eine Widersetzlichkeit zu denken.« – »Das ist das beste, Señor. Man darf seine Lage niemals falsch beurteilen oder gar verschlimmern. Vielleicht fahren Sie gleich wieder mit mir zurück. Ich würde mich freuen, Ihre Gesellschaft auch auf dem Rückweg zu genießen.«
Der Beamte war überzeugt, daß sein Gefangener einer langen Haft entgegengehe, aber er mußte so sprechen, um sich die Ausübung seines Amtes möglichst leicht zu machen.
»Weiß man in Rodriganda, wohin Sie mich führen?« fragte Sternau. – »Ja.« – »Wem haben Sie es gemeldet?« – »Einigen Dienern.«
Auch dies war nicht wahr, denn außer den drei Verbündeten wußte kein Mensch, wohin der Wagen gefahren war. Übrigens hatte hiermit das kurze Gespräch ein Ende. Sternau versank in allerlei Vermutungen, und der Beamte schien keine Lust zu haben, eine neue Unterhaltung zu beginnen.
Am späten Nachmittag kam man in Barcelona an, und die Kutsche hielt vor einem düsteren, altertümlichen Gebäude, dessen wenige Vorderfenster mit dicken Eisenstäben vergittert waren.
»Steigen Sie hier aus!« sagte der Beamte.
Als Sternau den Wagen verlassen hatte, bemerkte er zum ersten Mal die vier Gendarmen, die demselben gefolgt waren. Er wurde von ihnen durch einen Torgang in einen düsteren Flur begleitet, dann eine enge, schmale Wendeltreppe emporgeführt und trat darauf in ein großes, ödes Zimmer, das nur ein Fenster, aber viele Seitentüren hatte.
»Warten Sie!« sagte der Corregidor.
Dabei klopfte er an eine der Türen und verschwand hinter derselben, während die Gendarmen zurückblieben, ohne ein Wort unter sich oder mit Sternau zu sprechen. Es dauerte lange, sehr lange, ehe der Beamte wieder erschien.
»Treten Sie hier ein!« sagte er kurz, auf die Tür deutend, aus der er gekommen war, und dieselbe dann hinter Sternau verschließend.
Jetzt befand sich der Arzt in einem Zimmer, dessen zwei Fenster ebenfalls vergittert waren. An drei Wänden standen große Aktenrepositorien, und vor dem einen Fenster erblickte er einen mächtigen Schreibtisch, an dem ein kleines, zusammengetrocknetes Männchen saß, das ihn über eine mächtige Hornbrille hinweg mit giftigem Blick fixierte.
Nach einiger Zeit nahm dieses Männchen einen Bogen Papier und eine Feder zur Hand und fragte:
»Wie heißt Ihr?« – »Sternau.« – »Vorname?« – »Karl Sternau.« – »Aus?« – »Mainz.« – »Wo liegt das?« – »In Deutschland.« – »Ah! Also ein Deutscher! Was seid Ihr?« – »Ich bin Arzt. Aber gestattet mir doch auch eine Frage! Wer seid Ihr, und was soll ich hier?« – »Ich bin Corregidor, so habt Ihr mich zu nennen, und was Ihr hier sollt, das werdet Ihr im Verlauf des Verhörs erfahren.« – »Ein Verhör! Das klingt ja, als ob ich mich in Untersuchung befände!« – »Das klingt nicht nur so, sondern das ist sogar wirklich so«, antwortete das Männchen, ihm mit den Augen schadenfroh zublinzelnd. »Übrigens glaubt nur nicht, daß Ihr hier seid, um Fragen zu stellen. Ich bin es, der fragt, und Ihr seid es, der zu antworten hat. Also Ihr seid Arzt?« – »Ja«, antwortete Sternau, der sich vornahm, sich möglichst fügsam zu stellen. – »Wie alt seid Ihr?« – »Sechsundzwanzig.« – »Seid Ihr bereits einmal bestraft?« – »Nein.« – »Ist das auch wahr?« – »Ja – außer …« – »Außer? Nun, heraus damit!« – »Außer einer kleinen Ohrfeige, die ich von meiner Mama bekam, als ich noch ein Knabe war.«
Der Corregidor fuhr empor.
»Mann, denkt Ihr etwa, Euren Spaß mit mir treiben zu können? Ich lasse Euch auf der Stelle krumm schließen!« – »Krumm schließen? Pah!« antwortete Sternau, der die Antwort wirklich nur zum Scherz gegeben hatte. – »Pah? Was heißt Pah! Antwortet! Das übrige wird sich finden! Seid Ihr verheiratet?« – »Nein.« – »Habt Ihr Vermögen?« – »Nein.« – »Ah! Wirklich nicht?« fragte der Corregidor lauernd. – »Nein.« – »Wie groß ist Eure Barschaft?« – »Vielleicht dreißig Duros.« – »Gebt einmal her.«
Sternau gab seine Börse hin, und der Corregidor zählte ihren Inhalt durch, dann notierte er die Summe, wie er auch jede Antwort Sternaus aufgeschrieben hatte.
»Wo war in der letzten Zeit Euer Aufenthalt?« fragte er darauf. – »Auf Rodriganda.« – »Und vorher?« – »In Paris.« – »Warum bliebt Ihr nicht in Paris?« – »Weil ich nach Rodriganda gerufen wurde, um Don Emanuel in seiner Krankheit zu behandeln.« – »Habt Ihr ihn behandelt?« – »Ja.« – »Dürft Ihr das?« – »Wer sollte es mir wehren?« – »Ich!« sagte der kleine Mann mit Nachdruck. »Wäret Ihr als Arzt in Rodriganda angestellt? Hattet Ihr eine Vokation?« – »Nein.« – »In Spanien ein Examen bestanden?« – »Nein.« – »In Spanien Einkommensteuer bezahlt?« – »Nein.« – »Und dennoch kuriert, mediziniert und Kranke behandelt! Ah, das erste Verbrechen ist bereits beim ersten Verhör zur Evidenz erwiesen. Ihr könnt jetzt abtreten.« – »Ah, Señor, Ihr sprecht vom ersten Verhör? Soll es vielleicht mehrere geben?« – »Versteht sich! Viele, sehr viele!« – »Und ich? Wo bleibe ich einstweilen?« – »Bleiben? Närrische Frage! Ihr bleibt hier bei mir! Im Korridor zwei, Nummer vier. Das ist bestimmt und ausgemacht.« – »Soll das etwa heißen, daß ich Gefangener bin?« – »Versteht sich!« blinzelte der Kleine. – »Aus welchem Grund?« fragte Sternau, jetzt wirklich erregt. – »Das werdet Ihr später erfahren.« – »Auf wessen Anzeige oder Anklage?« – »Auch das werdet Ihr erfahren.« – »Alle Teufel, Señor, ich habe das Recht eine Antwort zu fordern!« brauste Sternau auf.
Das Männchen krümmte sich vor Vergnügen noch mehr zusammen und antwortete blinzelnd:
»Ja, das Recht habt Dir, aber ich dagegen habe das Recht die Antwort zu verweigern.« – »Ihr habt gehört und auch aufgeschrieben, daß ich ein Deutscher bin. Ich verlange, mit dem deutschen Konsul zu sprechen!« – »Gut, gut! Werde es besorgen!« – »Sofort, Señor!« – »Schön! Schön!«
Der Corregidor blinzelte den Gefangenen höchst vergnügt an und gab mit einer Klingel ein Zeichen. Darauf erschien ein finsterer, robuster Kerl, der sich Sternau sehr genau betrachtete. Er hatte eine Art Uniform an.
»Dieser Señor will mit dem deutschen Konsul sprechen«, sagte der Corregidor zu ihm. »Führe ihn zum Konsul! Aber schnell, schnell.«
Der Kerl grinste wie ein Walroß, zeigte nach der Tür und sagte:
»Vorwärts! Marsch!«
Das war Sternau denn doch zu kurz und bündig. Er sah sich den Mann an, besann sich jedoch eines Besseren und wandte sich an den Corregidor:
»Darf ich um meine Börse bitten, Señor?« – »Ja«, blinzelte der Gefragte, »bitten dürft Ihr, aber bekommen werdet Ihr sie nicht. Hier darf niemand eine Börse führen. Wir sind nicht auf dem Jahrmarkt. Geht zum Konsul!«
Es war klar, dieser Mensch machte sich über Sternau lustig. Jener sah ein, daß es das beste sei, es zu ignorieren und sich zu fügen. Er war Gefangener, konnte es aber doch nicht ewig bleiben. Er folgte daher ohne fernere Einrede dem Schließer, der ihn abermals eine Treppe emporführte. Sie traten in einen düsteren Korridor, der die Nummer zwei über seinem Eingang führte. Rechts und links waren Gefängniszellen. Bei einer mit vier bezeichneten Tür blieb der Schließer stehen, um aus einem großen Schlüsselbund den betreffenden Schlüssel herauszusuchen. Dann öffnete er zwei hintereinander befindliche Türen, die auf beiden Seiten mit Eisen beschlagen waren.
»Vorwärts! Marsch!«
Dies schienen die einzigen Worte zu sein, die der Schließer reden konnte. Als Sternau gehorchte und eintrat, fielen die beiden Türen hinter ihm ins Schloß. Er war gefangen.
Es war ein eigentümliches Gefühl, das ihn überkam, ein Gefühl, ganz ähnlich demjenigen, das ein Mensch empfindet, der in das Wasser steigt und dabei bemerkt, daß die Flut über ihm zusammenschlägt. Er ist von Luft und Licht abgeschlossen, er ist kein Mensch mehr, kein freies, selbstbestimmendes Wesen, er hat keinen Namen mehr, er wird nach der Nummer derjenigen Zelle gerufen, in der er sich befindet. Er mag sterben oder verderben, ohne sich wehren zu können.
Es war außerordentlich düster in der Zelle, denn sie erhielt ihr Licht durch eine winzig kleine Öffnung, die man mit der Hand kaum erlangen konnte, und die zunächst mit einem engen Eisengitter und dann auch mit einem starken Drahtseil verschlossen war. Sie war sechs Schritt lang und vier Schritt breit. Zwei kleine Matratzen lagen auf dem Boden, die einen ungewöhnlichen Dunst ausströmten. Die eine derselben war leer, auf der anderen aber lag eine menschliche Gestalt, die sich bei dem Eintritt des Doktors erhob.
»Ah, neuer Zuwachs!« hörte er eine schwache Stimme. »Guten Abend!« – »Guten Abend!« dankte Sternau. – »Bist du neu?« fragte der bisherige Besitzer der Zelle.
Sternau hatte einmal gehört, daß Gefangene sich stets mit du anreden. Er beschloß, seinen Kameraden nicht zu erzürnen und antwortete:
»Ja.« – »Weshalb bist du da?« – »Ich weiß es nicht.« – »Ach, mache mir nichts vor.« – »Es ist so!« —»Na ja. So sagt ein jeder. Setz dich!« – »Wohin?« – »Auf die Matratze.« – »Ist sie rein?« – »Hm!«
Diese Antwort sagte Sternau alles, aber er sah ein, daß er mit Zurückhaltung nicht weit kommen werde, und setzte sich daher nieder.
»Was bist du?« fragte der andere. – »Ein Arzt« – »Ein Arzt?« klang die freudige Frage. »Oh, da bitte ich um Verzeihung, Señor, daß ich ›du‹ gesagt habe. Nun glaube ich auch, daß Sie nicht wissen, weshalb Sie hier sind. Wer verhörte Sie? Der Corregidor?« – »Ja.« – »Ein verdammter Kerl! Wissen Sie, wann Sie das Verhör haben werden?« – »Nun?« – »In zwei oder drei Monaten.« – »Das wäre ja fürchterlich!« – »Er tut es nicht anders. Haben Sie Hunger?« – »Nein.« – »Durst?« – »Nein.« – »Der Schließer brachte vorhin doppeltes Abendbrot, und daraus ersah ich, daß ich einen Kameraden bekommen würde.« – »Worin besteht das Abendbrot?« – »Aus trockenem Brot und fauligem Wasser.« – »Das Morgenbrot?« – »Aus nichts.« – »Das Mittagessen?« – »Aus einem Nösel heißen Wassers mit zwölf Erbsen, Graupen oder Linsen darinnen.« – »Was bekommt man sonst?« – »Was noch? Nichts, gar nichts.« – »Wie lange sind Sie bereits hier?« – »Drei Jahre.« – »Alle Teufel! Bei dieser Kost?« – Ja. Diese Kost wird mich auch das Leben kosten. Ich bin krank, todkrank, und darum freue ich mich herzlich, daß Sie Arzt sind, zwar helfen können Sie mir nicht, aber sagen können Sie mir doch wohl, wie lange ich noch leben werde. Gott gebe, daß es bald zu Ende sein möge!«
Sternau war überzeugt, keinen bösen Menschen vor sich zu haben, obgleich er ihn der Dunkelheit wegen nicht zu sehen vermochte. Er fühlte Mitleid mit dem Mann und fragte:
»Wie lange dauert Ihre Strafzeit?« – »Acht Jahre.« – »Oh, ist dies denn auszuhalten! Darf ich fragen, weshalb Sie diese Strafe bekamen?« – »Warum nicht! Ich habe drei volle Jahre hier allein vertrauert, ich bin froh, endlich einmal einen Menschen bei mir zu haben, und werde Ihnen gewiß die Wahrheit sagen: Ich habe im Zorn einen Menschen niedergeschlagen.« – »Tot?« – »Nein. Wollte Gott, er wäre tot gewesen, so gäbe es doch einen großen Schurken weniger.« – »An welcher Krankheit leiden Sie?« – »Jetzt liegt es mir im Rückenmark, vorher war es nur die Seemannskrankheit, das Heimweh nach dem Meer, das alle Kräfte verzehrt und alle Säfte austrocknet, Señor.« – »Sie sind Seemann?« – »Ja. Ich war zuletzt Steuermann.« – »Welch ein Gegensatz! Die freie, offene See und dieses teuflische Loch!« – »Ja, Señor, ich habe geweint und geseufzt, ich habe gewütet und getobt, ich bin mit dem Kopf gegen diese nassen Mauern gerannt, aber es hat nichts geholfen. Und als die Kraft fort war und der Hunger mich mürbe gemacht hatte, da bin ich ruhig geworden, und so werde ich täglich ruhiger werden, bis man mich hinausschleppt und in eine Ecke scharrt, fern von der Stelle, an der die sogenannten ehrlichen Leute begraben werden. Und dies alles habe ich einem Advokaten zu verdanken!« – »Dann sind wir Leidensgefährten. Ich weiß zwar nicht, wessen man mich beschuldigen wird, aber ich irre mich sicherlich nicht, wenn ich annehme, daß an meiner Gefangenschaft auch ein Advokat schuld ist.« – »Von woher wurden Sie eingeliefert?« – »Von Rodriganda.« – »Herr des Himmels, wäre es möglich! Dort wurde auch ich gefangengenommen!« – »Wirklich?« fragte Sternau überrascht. »Wie heißt der Advokat, den Sie meinen?« – »Gasparino Cortejo.« – »Alle Wetter, das ist auch der meinige. Sie haben dort jemand niedergeschlagen, sagten Sie? Etwa diesen Cortejo?« – »Ja. Vielleicht erzähle ich es Ihnen, jetzt kann ich nicht länger mehr sprechen, ich bin zu schwach dazu. Dort in der vorderen Ecke steht der Wassertopf, und daneben liegt Ihr Brot. Gute Nacht!«
Dieser Mann mußte wirklich sehr schwach sein, daß er trotz seiner Freude, nach drei Jahren einen Menschen bei sich zu haben, auf die Unterhaltung verzichtete. Sternau machte es sich auf seiner Matratze so bequem wie möglich; er hatte auf offener Prärie und im Sand der Sahara geschlummert; er hatte zudem ein gutes Gewissen und schlief bald ein.
Als er am Morgen erwachte, fiel das Tageslicht schon in die Zelle, zwar matt, aber dennoch stark genug, die Gegenstände erkennen zu lassen. Sein Kamerad saß bereits aufrecht und wünschte ihm einen guten Morgen.
»Ich habe sie schon längst betrachtet«, sagte er, »und gesehen, daß Sie nicht an einen solchen Ort gehören. Sie möchten vielleicht lieber allein sein, aber ich bitte Sie, mich nicht zu verlassen.« – »Es liegt ja gar nicht in meiner Macht, Sie zu verlassen.« – »Doch. Hier sind alle Gefangenen isoliert, nur ich habe einen zweiten erhalten, weil ich ein Todeskandidat bin. Wenn Sie sich fort melden, werden Sie eine andere Zelle bekommen.« – »Ich werde mich nicht fort melden, sondern gern bei Ihnen bleiben.« – »Ich danke Ihnen. Vielleicht bereuen Sie es nicht.« – »Wann wird die Tür geöffnet?« – »Des Mittags.« – »Da kann man sagen, was man wünscht?« – »Ja, aber man erhält keine Antwort. Ihr Schicksal ist bereits entschieden; es hilft Ihnen weder Bitten noch Drohen, weder List noch Gewalt dagegen.« – »Ich bin Ausländer; ich werde meinen Konsul kommen lassen!« – »Sie werden Ihren Konsul nie zu sehen bekommen. Glauben Sie es mir! Cortejo hat Sie hierhergebracht; der Corregidor ist sein treuer Freund, und beide sind die größten Schurken der Erde.« – »Sie machen mir angst!« – »Ich sage Ihnen die Wahrheit. Ich war ein starker Mensch, voller Lebensmut und Gesundheit. Sehen Sie mich jetzt an. Was ich bin, das haben diese beiden Buben aus mir gemacht!«
Der Gefangene lehnte sich an die Mauer und schloß die Augen. Er war zum Skelett abgemagert. Sternau brauchte ihn gar nicht genauer zu untersuchen, um zu wissen, daß er nur noch wenige Wochen zu leben habe. Sollte dies ein Bild seines eigenen Schicksals sein? Nein, nein und abermals nein! Das nahm er sich vor.
Am Mittag öffnete sich ein Schieber in der Tür, und es wurden zwei Suppentöpfe hereingegeben. Sie enthielten die von dem Gefangenen beschriebene Brühe und mit zwölf Erbsen.
»Schließer!« sagte Sternau, »wollt Ihr nicht die Güte haben …« – »Vorwärts! Marsch!« donnerte es vor der Tür, der Schieber wurde geschlossen, und Sternau brauchte seinen Satz gar nicht zu beenden.
»So wird es Ihnen täglich gehen, Señor«, sagte der Kamerad, »bis Sie keinen Versuch mehr machen und das werden, was ich geworden bin.«
Am Abend erhielten die beiden wieder Wasser und trockenes Brot. So verging eine Woche und auch die zweite, ohne daß die geringste Änderung eingetreten wäre. Sternau hatte seine Ruhe verloren. Wie stand es auf Rodriganda; wie ging es Rosa? Diese Fragen nagten an ihm. Er konnte nicht essen und trinken, noch schlafen. Der Schließer hörte auf keine Frage. An Flucht war nicht zu denken, die Mauern waren zu dick und das Fenster zu hoch und zu klein.
Und abermals verging eine Woche und wieder eine. Ein Monat war vergangen, und der Christmonat brach an. Da lagen die beiden Leidensgefährten auf ihren Matratzen und sprachen vom schönen Christfest. Dann kamen sie von diesem Thema auf ihre gegenwärtige Lage und auf die Ursache derselben.
»Herr«, sagte Sternaus Unglücksgefährte, »ich bin ein strammer, zuweilen auch wilder Kerl gewesen, ich möchte diesen Cortejo einmal zwischen den Fäusten wissen, die ich früher hatte. Er wäre verloren!« – »Vielleicht kommt er zwischen die meinigen.« – »Ich will es ihm gönnen, denn Sie sind ein wahrer Goliath! Sie sind eigentlich zu einem Seemann gewachsen. Sie, mit einer tüchtigen Handspeiche in der Faust, würden es mit zwanzig Niggers oder zehn Englishmen aufnehmen.« – »Wie kommen Sie auf die Niggers und Engländer?« – »Hm, wollen Sie es wissen, Señor?« – »Ja.« – »Sie werden schlecht von mir denken, aber meinetwegen, ich habe es verdient. Es hat mir längst auf dem Herzen gelegen, und ich wollte es Ihnen erzählen. So mag es denn laufen!« – »Erzählen Sie mir getrost. Es hat ein jeder Mensch seine Fehler.« – »Aber solche nicht. Wissen Sie, was ich gewesen bin?« – »Nun?« – »Zuerst ein braver Seemann, dann aber ein Niggerhändler und endlich gar ein – Seeräuber.« – »Unmöglich!« – »Ja, nicht wahr, Sie glauben nicht, daß der Schwächling, der hier liegt, solch ein Bursche gewesen sein kann? Mein Name ist Jacques Garbilot, und ich war guter Leute Kind. Ich wurde ein wackerer Seemann und blieb es auch, bis ich in schlechte Hände kam. Das war auf dem ›Lion‹, Kapitän Grandeprise. Ich hatte keine Ahnung davon, daß letzterer ein Pirat und Sklavenhändler sei, und erst am zweiten Tag bemerkte ich es, als es schon zu spät war, denn wir befanden uns bereits auf hoher See. Kapitän Grandeprise war ein Amerikaner und ein Teufel, und er verstand es, aus mir ein Teufelchen zu machen. Ich habe manchen Nigger vor Verzweiflung und Heimweh über Bord springen sehen, ich habe den Englishmen, die uns immer aufpaßten, manch Gefecht geliefert; ich habe manchem armen Teufel einen schlimmen Hieb geben müssen; aber die Strafe ist gekommen; Sie sehen mich hier liegen.«
Er schwieg eine Weile, um auszuruhen, und fuhr dann fort:
»Der Kapitän machte Geschäfte mit dem Notar…« – »Mit Cortejo?« – »Ja. Welcher Art diese Geschäfte waren, das wußte ich nicht; aber wenn wir in Barcelona einliefen, so kam der Notar stets an Bord, und dann saßen sie stundenlang über den Büchern.« – »Sonderbar!« sagte Sternau nachdenklich. »Kennen Sie vielleicht einen Kapitän namens Henrico Landola?« – »Nein.« – »Oder ein Schiff namens ›La Pendolo‹?« – »Auch nicht. Was ist mit ihnen?« – »Mit diesem Landola treibt der Advokat auch Geschäfte.«
Sternau hatte keine Ahnung davon, daß Grandeprise und Landola ein und derselbe Kapitän und der »Lion« und die »Pendola« ein und dasselbe Schiff sei. Diese Art von Seeleuten nämlich versteckt sich und ihre Fahrzeuge hinter einer ganzen Reihe verschiedener Namen.
»Das kann sein«, sagte der Gefangene. »Er scheint viel Geld zu haben. Eines Tages hatten wir in Mexiko für ihn ein Geschäft zu machen, und …« – »In Mexiko?« unterbrach ihn Sternau. »Wo da?« – »In Verakruz. Warum?« – »Weil ich mich für Mexiko interessiere.« – »So! Es galt da nämlich, einen Gefangenen aufzunehmen.« – »Um ihm zur Flucht zu verhelfen?« – »Nein. Wir mußten ihn zum Gefangenen machen.« – »Warum?« – »Weiß es nicht; das war des Kapitäns Sache. Er wurde an Bord gebracht und hinter die Kapitänskajüte eingesperrt, so daß ihn keiner zu sehen bekam.« – »Auch Sie nicht?« – »O doch, Ich fing ihn ja mit. Er war ein schöner, starker Mann mit einer Lanzennarbe in der rechten Wange. Ich glaube, der Kapitän nannte ihn einmal Ferdinand. Er segelte mit uns um das Kap herum und an der Küste von Ostafrika hinauf bis Zeila, wo wir ihn ausschifften und nach Harrar verkauften.« – »Einen Weißen?« – »Ja.« – »Aber das ist ja fürchterlich!« – »Nicht fürchterlicher, als wenn man einen Schwarzen verkauft. Übrigens konnte ich nichts dagegen tun, obgleich das Ding mir später viele Gewissensbisse gemacht hat. Als bei unserer Heimkehr der Kapitän abgehalten wurde, mußte ich an seiner Stelle nach Rodriganda gehen, um Cortejo zu melden, daß jener Mexikaner aufgehoben sei. Er hatte gewollt, daß er getötet werden oder am Fieber sterben sollte, und fuhr mich fürchterlich an. Mir lief auch ein Wort über den Mund, und so schlug er nach mir. Natürlich gab ich ihm einen guten Matrosenhieb zurück. Er stürzte wie ein Sack zur Erde, und ich ging fort. Am anderen Tag kam er nach Barcelona an Bord, und die Sache schien vergessen zu sein. Einen Tag später aber gab mir der Kapitän einen Brief, den ich dem Corregidor bringen und auf Antwort warten sollte. Ich wurde sehr freundlich aufgenommen und dann dem Schließer übergeben, der mich in diese Zelle brachte. Ich habe sie nicht wieder verlassen, denn eines Tages kam der Corregidor an die offene Klappe und verkündete mir mein Urteil. Dies, Señor, ist mein Schicksal!«
Garbilot hatte in jenem leichten Ton gesprochen, der Matrosen selbst bei ernsten Veranlassungen eigen zu sein pflegt. Jetzt schwieg er und legte sich ermüdet nieder. Sternau ahnte nicht, wie nötig ihm die Erinnerung an diese Erzählung sein würde.
Jacques Garbilot wurde jetzt von Tag zu Tag schwächer, und mit seiner Schwäche wuchsen auch der Ernst und die Reue über sein vergangenes Leben. Er gedachte der Ewigkeit und wünschte, seine Rechnung mit Gott auszugleichen.
Der Schließer sah, daß er sich nicht mehr erheben konnte, und tat, was noch niemals getan hatte: er sprach einige Worte mit ihm. Ja, er versprach sogar, ihm einen Priester zu senden.
So verging noch einige Zeit, und das Weihnachtsfest kam heran.
Es war der heilige Christabend. Garbilot lag dem Verlöschen nahe auf seiner Matratze, und Sternau saß bei ihm, um ihn zu trösten und zu beruhigen. Da hörten beide das Geläute der Kirchenglocken. Es brach die Stunde an, wo sich diejenigen, die sich lieben, beschenken. Sternau dachte der Seinen; er dachte an Rodriganda und – er weinte, weinte wie ein Kind.
Plötzlich rasselte draußen der Schlüssel im Schloß, die Tür öffnete sich und der Schließer trat, gefolgt von einem Mönch, ein und sagte zu dem Sterbenden:
»Beichte!« Dann drehte er sich zu Sternau herum und gebot ihm: »Vorwärts! Marsch!« indem er nach der Tür zeigte.
Da erhob sich Garbilot mühsam und bat:
»Laßt mir ihn da! Er ist mein Trost gewesen bisher; er kann auch meine Beichte hören!«
Der Schließer sah den Mönch fragend an; dieser nickte zustimmend mit dem Kopf, und so gab er schweigend seine Einwilligung, indem er ging und die Zelle verschloß.
Der Mönch aber setzte sich auf den Rand der Matratze nieder und betrachtete die beiden Gefangenen im Schein der Laterne, die der Schließer zurückgelassen hatte. Dann begann er mit dumpfer Stimme:
»Ich verkünde große Freude,
Die Euch widerfahren ist;
Denn geboren wurde heute
Euer Heiland, Jesus Christ!«
Bei dem Wort »Heiland« warf er einen bedeutungsvollen Blick nach der Tür, so daß Sternau eine Ahnung bekam, daß er nicht nur allein um des Sterbenden willen hier sei, und fuhr fort:
»Das Volk, so im Finsteren wandelt, siehet ein großes Licht, und über die, die da wohnen im finsteren Land, scheinet es helle!«
Dabei warf er, von Garbilot unbemerkt, einen Gegenstand zwischen die ausgestreckten Füße Sternaus auf dessen Matratze. Dieser griff zu und fühlte – einen großen, schweren Schlüssel, gewiß den Torschlüssel. Ein Gefühl unendlicher Freude durchzuckte ihn, aber er beherrschte sich, denn der Blick des Mönchs hatte ihm gesagt, daß sie beobachtet würden. Nun fuhr der Mönch fort, über die Bedeutung des heutigen Tages zu sprechen, hörte die Beichte des Sterbenden und gab ihm die Absolution. Ein tiefer Frieden breitete sich über Garbilots abgemagertes Gesicht.
»Ich lebe keine Stunde mehr, Gott sei Dank!« flüsterte er. »Bleibt bis dahin bei mir, frommer Vater, und laßt auch meinen Freund nicht fort!« – »Wir bleiben«, antwortete der Mönch, indem er sich tief über ihn niederbog. Dabei brachte er seine der Tür entgegengesetzte Hand in die Nähe von Sternaus Hand und schob ihm etwas zu. Es war eine gefüllte Brieftasche. Sternau steckte sie langsam zu sich, aber so, daß es von der Tür aus nicht bemerkt werden konnte. Er glaubte zu sehen, daß der Schieber um eines Haares Breite geöffnet worden sei. Jedenfalls stand der Schließer dort und lauschte.
Nach einer kurzen Weile begannen die Züge des Sterbenden sich zu verändern, und der Priester griff zum Öl, um ihm die letzte Ölung zu geben. Als diese vollbracht war, streckte Garbilot Sternau die Hand entgegen und sagte:
»Leben Sie wohl! Ich danke Ihnen! Werden sie – frei – und glücklich!«
Es waren seine letzten Worte. Ein konvulsivisches Zittern überflog seinen Körper; ein leiser, leiser Seufzer erklang durch den Raum; und es war vorüber.
Der Mönch betete ein Weilchen bei der Leiche, dann erhob er sich und sprach laut:
»Ja, es galt auch ihm die Freude,
Die uns widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
Auch sein Heiland, Jesus Christ!«
Er sprach noch den Segen über den Verstorbenen, trat an die Tür und klopfte laut. Der Schließer öffnete ihm, und beide entfernten sich. Bald aber erklang der Schlüssel wieder im Schloß und der schweigsame Wächter trat abermals herein. Als er die Leiche sah, fragte er:
»Tot?« – »Ja«, antwortete Sternau. – »Nicht liegenbleiben! Fortschaffen!«
Hierauf betrachtete der Wärter die Riesengestalt Sternaus mit Aufmerksamkeit und fuhr fort:
»Ihn tragen?« – »Meinetwegen«, antwortete der Gefragte so gleichgültig wie möglich, obgleich ihm vor Aufregung alle Pulse hämmerten. – »Aufsacken. Kommen!«
Sternau nahm die Leiche auf die Arme und schritt dem Schließer nach, der langsam voranging. Ihre Schritte hallten laut in dem großen, öden Gebäude wider. Die Beamten, die am Tag hier arbeiteten, waren jetzt daheim bei den Ihrigen, um Weihnacht zu feiern. Der Weg führte über mehrere Treppen nach einem kleinen Hof. Dieser mündete in den finsteren Flur, durch den Sternau vor zwei Monaten in das Gefängnis gekommen war. Der Schließer nahm seinen Schlüsselbund zu Hand und schloß ein schmales, tiefes Steingewölbe auf, in dem neben einem langen Tisch zwei Bahren standen.
»Leichengewölbe«, sagte er. »Tisch legen!«
Es war ein düsterer Anblick, der sich hier den Augen Sternaus bot.
Als Arzt hatte er oft dem Tod das Leben abgerungen, aber auch gesehen, wie dieser Sieger geblieben, wie der Kranke eine Beute desselben geworden war.
Hier aber, im Kerker, im fremden Land, in der Gewalt der Intrige, gegen die die Kraft des Mannes oft nur schwer anzustreben vermag, konnte Sternau sich eines leisen Schauers nicht erwehren.
Bald aber hatte er die Gefühle des Grauens niedergedrückt und die Oberhand über dieselben gewonnen.
»Nun, vorwärts. Die Leiche auf den Tisch!« gebot der Schließer noch einmal mit scharfer Stimme.
Sternau gehorchte, und der Schließer trat selbst mit hinzu, um den Toten auf dem Tisch in die rechte Lage zu bringen. Er hatte den Schlüsselbund im Schloß hängenlassen.
»Vorwärts! Marsch!« kommandierte er, als alles getan war. – »Nein, rückwärts! Marsch!« antwortete Sternau, und seine Faust fuhr wie der Blitz empor und wieder auf die Schläfe des Schließers nieder, der sogleich zu Boden stürzte und besinnungslos liegenblieb.
»Ah, Gott sei Dank. Die alte Kraft ist noch da!« jubelte der Gefangene in sich hinein, ließ den Schließer neben der erloschenen Laterne liegen, verschloß das Gewölbe von außen und eilte durch den dunklen Flur. Glücklich erreichte er das Tor und zog den Schlüssel hervor, zitternd vor Erwartung, ob er passen werde … Er paßte, Sternau schloß auf und stand auf der Straße. Aus allen Fenstern der umstehenden Häuser strömte ihm Licht entgegen, er war frei. Er war im Dunkel gewandelt, und nun wurde es hell. Sie, die beiden Gefangenen, hatten heute zur Weihnacht ihre Erlösung gefunden, der eine durch den Tod und der andere durch die Freiheit!
23. Kapitel
Als Gräfin Rosa ihre Freundin in Pons der Diligence übergeben hatte, kehrte sie in Eile nach Rodriganda zurück. Es war ihr, als ob ihr etwas Schlimmes passieren könne, so lange sie sich nicht unter dem starken und energischen Schutz Sternaus befinde. Es lag wie eine Ahnung in ihr, daß ihr ein schweres Unglück bevorstehe. Darum befahl sie dem Kutscher, die Pferde ausgreifen zu lassen, die nun im schnellsten Galopp auf der Straße dahinflogen.
Als sie auf Rodriganda ankam und sich schnell umgekleidet hatte, stieg sie zunächst zum Kastellan empor. Sie fand die beiden braven Leute bei ihrem Lieblingsthema, das heißt im Gespräch über Doktor Sternau, begriffen.
»Ist er daheim?« fragte sie. – »Nein«, antwortete Alimpo. »Er ist ausgefahren, gnädige Condesa, meine Elvira sagt es auch.« – »Wohin?« – »Wir wissen es nicht«, meinte die Kastellanin. – »Hat er es euch nicht gesagt?« – »Leider nein.« – »Ist er allein fort?« – »Nein. Er fuhr in einer fremden Kutsche; mein Alimpo sagt es auch.« – »Und wem gehörte die Kutsche?« – »Dem Corregidor von Manresa.« – »Ah!« rief Rosa erschrocken und sogleich Unheil ahnend. – »Elvira, erzählt, wie es gewesen ist!« – »Das war so«, begann die Kastellanin. »Es kam eine Kutsche gefahren, aus welcher der Corregidor stieg. Er ging hinauf zu Señor Gasparino und dann zu Señor Sternau; nach kurzer Zeit fuhr er mit Señor Sternau fort.« – »Wohin?« – »Auf der Straße nach Manresa; mein Alimpo sagt es auch.« – »Gut! Alimpo, es sollen sofort zwei frische Pferde vorgespannt werden!« – »Ihr wollt wieder ausfahren, gnädige Condesa?« – »Höchstwahrscheinlich!«
Rosa ging, und zwar geradewegs nach dem Zimmer des Advokaten. Dieser saß bei seinen Akten. Die Gräfin war nur selten einmal bei ihm eingetreten, darum erstaunte er, sie jetzt bei sich zu sehen.
»Ah, Doña Rosa, Ihr kommt zur mir! Habt die Güte, Platz zu nehmen!« sagte er, sich erhebend und ihr einen Stuhl bietend. – »Ich werde mich nicht setzen«, entgegnete sie in energischer Eile. »Ich komme nur, um eine Frage zu tun. Habt Ihr Señor Sternau gesehen?« – »Jetzt nicht.« – »Er ist ausgefahren.« – »Ich weiß nichts davon.« – »Mit dem Corregidor von Manresa?« – »Ist mir unbekannt«, antwortete er, verwundert mit dem Kopf schüttelnd. – »So wißt Ihr gar nicht, daß der Corregidor in Rodriganda war?« – »Nein.« – »Auch nicht, daß er bei Euch gewesen ist?« – »Nein.« – »Ihr lügt, Señor!« rief Rosa leidenschaftlich. »Ihr lügt sogar unverschämt, Señor!« – »Condesa!« antwortete er in beinahe drohendem Ton. – »Ah, welchen Ton erlaubt Ihr Euch gegen mich! Ich werde jetzt zu dem Corregidor fahren und mich erkundigen. Finde ich, daß eine neue Teufelei angezettelt ist, bei der Ihr wieder die Hand im Spiel habt, so werde ich Euch das Handwerk legen, Euch und den beiden anderen. Adios.«
Rosa rauschte hinaus, während er vor Erstaunen über diese Energie ganz fassungslos zurückblieb und an das Fenster trat. Als er sie einsteigen und fortfahren sah, begab er sich sofort zu seiner Verbündeten, der frommen Schwester Clarissa. Auch diese hatte vom Fenster aus Rosa beobachtet.
»Sie fährt wieder fort«, sagte sie. »Weißt du vielleicht wohin?« – »Ja. Nach Manresa zum Corregidor.« – »Ah! Was will sie da?« – »Sich erkundigen, wohin dieser Sternau ist.« – »Höre, Gasparino, auch sie beginnt gefährlich zu werden!« – »Ich sehe es und werde meine Maßregeln danach treffen. Weißt du nicht, auf welche Weise man ihr einige Tropfen beibringen könnte?« – »Es ginge schon, wenn ich die Tropfen hätte.« – »Wann?« – »Beim Abendtee.« – »Und wenn sie ihn auf ihrem Zimmer trinkt?« – »Sie trinkt stets nur eine Tasse, die ihr die Kastellanin bereitet. Laß mich nur sorgen!« – »Gut, du sollst die Tropfen haben!« – »Und mein Honorar?« fragte sie lauernd. Der Advokat machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand und antwortete:
»Nun ja, dein alter Wunsch soll erfüllt werden!« – »Sie tritt in mein Stift?« – »Ja, und zwar mit der Hälfte ihres Vermögens.« – »Mit der Hälfte nur? Was soll mit der anderen Hälfte geschehen?« – »Die bekomme ich. Alfonzo darf nicht verkürzt werden, folglich teilen wir beide uns in Rosas Vermögen.« – »Zugestanden! Also lasse mich die Tropfen bald haben!«
Der Advokat kehrte in sein Zimmer zurück, füllte ein kleines Flakon mit Wasser und träufelte zwei Tropfen des Giftes hinein. Nachdem er diese Verdünnung gut durchgeschüttelt hatte, brachte er sie zu Clarissa und erteilte ihr die nötige Instruktion, wie die Tropfen zu handhaben seien.
Unterdessen fuhr Rosa auf Manresa zu. Dort angekommen, ließ sie vor dem Haus des Corregidors halten. Die Frau desselben kam heraus und führte, erstaunt über den vornehmen Besuch, diesen in ihr bestes Zimmer.
»Ist der Señor zu sprechen?« fragte die Gräfin. – »Leider nein. Er ist nicht daheim.« – »Verreist?« – »Ja.« – »In Geschäften?« – »Jedenfalls, denn er ließ sich von vier bewaffneten Gendarmen begleiten.« – »Ah!« hauchte Rosa erbleichend. »Wohin ging die Reise?« – »Das weiß ich leider nicht. Der Señor ist in Beziehung auf Geschäftssachen sehr verschwiegen.« – »Und wissen Sie nicht wer oder was ihn zu dieser Reise veranlaßt haben könnte?« – »Jedenfalls Ihr gnädiger Bruder Don Alfonzo.« – »Alfonzo? War er hier?« – »Ja. Er kam geritten und hatte es sehr eilig. Mein Mann sandte sofort nach den Gendarmen.« – »Hat er nicht gesagt wann er zurückkehren wird?« – »Nein.« – »So werde ich morgen wiederkommen.«
Rosa ging. Sie hatte genug gehört, um zu wissen, daß etwas im Werk sei und kehrte im vollen Galopp nach Rodriganda zurück. Dort ließ sie den Bruder zu sich bitten. Dieser war von dem Notar verständigt worden und ging der Unterredung mit großer Ruhe entgegen.
»Du warst heute in Manresa?« fragte sie ihn. – »Ja«, antwortete er gleichgültig. – »In welcher Angelegenheit?« – »Mein Gott, in welcher Angelegenheit soll es gewesen sein! In der heutigen!« – »Was verstehst du unter der heutigen?« fragte sie scharf. – »Nun, das Auffinden der Leiche!« – »Ah! Ist das wahr?« – »Was sonst? Du kommst mir sehr sonderbar vor. Es scheint dich etwas aufgeregt zu haben.« – »Allerdings. Warum requirierte der Corregidor in deiner Angelegenheit vier Gendarmen?« – »Es soll sich doch noch herausgestellt haben, daß die Leiche in die Schlucht geworfen worden ist«, log Alfonzo mit dreister Miene. »Die Gendarmen sind hinter dem mutmaßlichen Täter her.«
Rosa ließ sich täuschen.
»Ha! Ist es so? Apropos, hast du Sternau gesehen?« – »Nein.« – »Ich suche ihn.« – »Ich niemals.« – »Es ist gut. Du kannst gehen!«
Alfonzo machte Rosa eine ironische Verbeugung und sagte:
»Der Graf Alfonzo de Rodriganda geruhen nicht, sich von allerhöchst seiner Schwester wie einen Domestiken verabschieden zu lassen. Ich werde bleiben!«
Sie blickte ihn erstaunt an.
»Unverschämter!« – »Pah! Ich weiß nicht, was du gegen mich hast. Ist dies eine Einbildung oder ein wirklicher Widerwille? Ich vermisse die ruhige Zärtlichkeit, die man zwischen Geschwistern voraussetzt, und will mit einem Kuß den Anfang machen, diese Kluft zu überbrücken.«
Alfonzo näherte sich der Gräfin, um seine Worte wahr zu machen, und wollte den Arm um sie schlingen, sie aber holte aus und gab ihm einen schallenden Schlag ins Gesicht.
»Weiche von mir!« rief sie. »Ich hasse, ich verabscheue dich! Wenn ich es nicht bereits wüßte, so würde dein Verhalten es mich lehren!« – »Was?« fragte er zornig, die Hand an die getroffene Stelle legend. – »Daß du nicht mein Bruder, sondern ein Betrüger, ein elender Fälscher bist!« – »Oh, nicht dein Bruder? Was denn sonst?« – »Das wird sich zeigen, sobald Sternau zurückkehrt. Und kehrt er nicht zurück, so macht euch nur gefaßt auf eine Entlarvung, die das ganze Land in Zorn und Aufruhr versetzen soll.« – »So also ist es?« meinte er zischend. »Einen Betrüger, einen Fälscher nennst du mich! Die Ohrfeige nehme ich hin, denn du bist ein Weib, das andere aber sollst du mir teuer bezahlen müssen.«
Dann schritt er mit dem Trotz eines schlechten Menschen hinaus, der eine Niederlage zu rächen weiß, während Rosa zu der Kastellanin schickte, um nicht allein zu sein, sondern sich von ihr Gesellschaft leisten zu lassen.
»Haben Sie Señor Sternau gesehen, meine gnädige, liebe Condesa?« fragte diese sofort, als die Gräfin kam. – »Nein.« – »Ach, irgendwo muß er sein!« – »Er ist arretiert worden.«
Frau Elvira machte eine Bewegung des Schrecks und rief:
»Arretiert! Mein Gott! Weshalb?« – »Ich habe es nicht erfahren können.« – »Arretiert! Oh, heilige Madonna, diesen braven, guten Señor arretiert! Er hat gewiß nichts getan, gar nichts, denn er ist der beste und bravste Mann, den es geben kann. Und so fest und treu, so stolz und stark! Sie hätten ihn nur sehen sollen, als er draußen an der Bateria den Grafen Alfonzo packte und über den Abgrund hinaushielt. Das ist prächtig gewesen; mein Alimpo sagt es auch.« – »Davon weiß ich ja gar nichts. Er hat mir nur erzählt, wie er sich um die Leiche bemüht hat.« – »Ja, Señor Sternau prahlt nicht; er ist kein Aufschneider. Graf Alfonzo hat ihn schlagen wollen, da aber hat er es gemacht wie jener August der Starke von Sachsen, der den Trompeter vom Turm heraushielt, er hat den jungen Grafen gefaßt und über den Abgrund gehalten und ihn dann mit solcher Force über sich hinweggeworfen, daß er eine große Strecke fortgeschleudert wurde.«
Rosas Augen leuchteten vor Stolz.
»Er ist nicht zu besiegen!« sagte sie.»Das habe ich gesehen, als er im Park überfallen wurde. Er hätte es mit dreimal so viel Männern aufgenommen, als zugegen waren.« – »Ja, er hat sogar gesagt«, fügte Elvira zögernd hinzu, »daß Alfonzo erst beweisen solle, daß er der Sohn des Grafen Emanuel sei; mein Alimpo hat es auch gehört« – »Ach, er hat das gesagt? Da muß er allerdings ganz außerordentlich beleidigt worden sein.« – »Und die Leute alle haben sich schon längst so etwas gedacht. Der Señor Leutnant …« – »Nun, was ist mit ihm?« fragte Rosa die Stockende. – »Er sah dem gnädigen Grafen so sehr ähnlich, hatte ganz dieselben Augen und ganz seine Stimme. Haben Sie das nicht auch bemerkt?« – »Ja, und der Vater, als er ihn erblickte, hielt ihn auch sofort für seinen Sohn.« – »Ob er es wohl sein mag?« fragte Elvira sehr angelegentlich. – »Señor Sternau glaubt es ganz bestimmt. Er weiß auch, daß man ihn auf ein Schiff entführt hat« – »Entführt! Auf ein Schiff!« rief die Kastellanin, die Hände zusammenschlagend. – »Weshalb denn?« – »Damit er die Betrüger nicht entlarven kann. Aber davon können wir später sprechen, meine gute Elvira. Du sollst nämlich den ganzen Abend bei mir bleiben und mir auch meinen Tee besorgen.«
//-- * * * --//
Mehrere Stunden später, als es bereits dunkel geworden war, hielt ein einsamer Reiter am Rand des Waldes. Hier sprang er vom Pferd und führte dasselbe in das Dickicht hinein, wo er es anband. Dann schritt er auf das Schloß zu, stieg die Treppe empor und bat einen der Diener, ihn bei Señor Gasparino Cortejo anzumelden.
»Wer seid Ihr?« fragte der Diener. – »Ein Freund des Señor, der ihn überraschen will«, lautete die etwas barsche Antwort. Der Fremde wurde angemeldet und trat ein. Cortejo befand sich allein in seinem Zimmer.
»Ihr habt Euch als einen Freund von mir melden lassen?« fragte er den Ankömmling, den er nicht kannte. – »Ja.« – »Ich kenne Euch doch nicht.« – »Nicht? So werde ich nachhelfen.«
Der Mann nahm den falschen Bart vom Gesicht und die Perücke vom Kopf und wurde nun allerdings erkannt.
»Der Capitano!« rief Cortejo. – »Ja, der Capitano, der Euch eine Frage vorlegen will. Wo ist der Leutnant de Lautreville?« – »Weiß ich es!« – »Ihr wißt es! Ihr mögt andere täuschen, mich aber nicht. Der Leutnant ist verschwunden.« – »Das geht mich nichts an.« – »O viel, sehr viel! Ich habe mir unsere letzte Unterredung später überlegt. Ihr wolltet ihn getötet wissen, Ihr habt ihn erkannt.« – »Nicht ihn allein, sondern auch diesen deutschen Arzt. Warum habt Ihr Euer Wort nicht gehalten?« – »Weil ich erst wissen wollte, ob Ihr das Eurige bezüglich des Leutnants halten würdet.« – »Gut, spielen wir nicht Versteckens. Gebt Ihr zu, daß jener Leutnant der eigentliche Graf Alfonzo de Rodriganda war?« – »Ja.« – »Warum schicktet Ihr ihn hierher?« – »Das ist meine Sache.« – »Wußte er, wer er ist?« – »Nein. Wo ist er?« – »Tot.«
Der Räuber trat einen Schritt zurück; dabei entfiel ihm der Mantel, und nun bemerkte man die reiche Garnitur der Waffen, die in seinem Gürtel steckten.
»Tot!« rief er. »Ah, das werdet Ihr mir büßen.« – »Ich fürchte Euch nicht.« – »Ich werde aufdecken, was Ihr für ein Schurke seid!« – »Pah! Ihr selbst habt dann alles zu fürchten; denn Ihr waret ja mein Werkzeug.« – »Ich werde den Schein, den Ihr unterschriebt, beim Gericht deponieren. Ich brachte ihn mit, um den Leutnant gegen denselben auszuwechseln. Sagt, ob derselbe in Wirklichkeit tot ist.«
Über das Stößergesicht des Advokaten glitt ein blitzschnelles, freudiges Lächeln. Er antwortete:
»Ihr habt den Schein wirklich mit?« – »Ja. Ist der Leutnant tot?« – »Ich werde Euch den Brief zeigen, den ich in dieser Angelegenheit erhalten habe. Wartet ein wenig.«
Der Advokat trat in das anstoßende Gemach, wo er eine geladene Pistole und einen Brief zu sich nahm. »Er kommt mir gerade recht«, flüsterte er höhnisch in sich hinein. »Jetzt erhalte ich meine Unterschrift zurück und werde den gefährlichsten Zeugen los. Ich bin nun Sieger auf der ganzen Schlachtlinie!«
Dann kam er wieder zurück, den Brief in der Hand.
»Aber ich muß überzeugt sein, daß Ihr das Papier wirklich bei Euch habt«, sagte mit forschendem Blick auf den Räuber. – »Hier steckt es«, antwortete dieser, auf seine Brust klopfend. – »So lest!«
Cortejo reichte dem Capitano den Brief. Dieser öffnete das Schreiben und sah sofort, daß es ein ganz gewöhnlicher Geschäftsbrief war, der gar nichts den Leutnant Betreffendes enthielt. Als er, erstaunt über eine solche Täuschung, aufblickte, fiel sein Auge auf die Mündung einer auf ihn gerichteten Pistole.
»Schach und matt! Stirb, Hund!« rief der Notar, darauf krachte ein Schuß, und der Räuber stürzte augenblicklich zu Boden. Die Kugel war ihm gerade in die Stirn gedrungen. Sofort verriegelte der Notar die Tür und riß dem Toten den Rock auf. Die Taschen waren leer. Auch die übrigen Kleidungsstücke enthielten nicht die Spureines Papiers. – »Betrogen!« murmelte der Notar. »Elend betrogen! Bei ihm war das Papier sicher. Wenn es seine Leute finden, so bin ich verloren!«
Jetzt ertönten Schritte auf dem Korridor. Man hatte den Schuß gehört und kam herbei, um nachzusehen, was vorgefallen sei. In fieberhafter Eile brachte der Advokat die Kleidung des Räubers wieder in Ordnung, riß ihm ein Pistol aus dem Gürtel, das er zu Boden legte, und öffnete die Tür.
»Hierher!« gebot er. »Ich bin überfallen worden.«
Die Dienerschaft stürzte herbei. Auch Graf Alfonzo, Schwester Clarissa und der Kastellan kamen.
»Seht diesen Menschen«, sagte Cortejo. »Er ließ sich als meinen Freund anmelden, und als wir allein waren, drohte er mit dem Tod, wenn ich ihm nicht mein Geld aushändige. Ich tat, als ob ich es ihm geben wolle, griff aber nicht nach dem Geld, sondern nach der Pistole und schoß ihn nieder.« – »O Gott, ein Räuber, ein richtiger Räuber!« rief Clarissa entsetzt. »Seht hier die Perücke und den falschen Bart. Aber Gott hat ihn gefällt durch einen Stärkeren, als er war, und ihn in seinen Sünden zu sich genommen. Er wird für seine Missetaten büßen müssen in alle Ewigkeit!« – »Durchsucht ihn, aber genau!« gebot Cortejo in der Hoffnung, auf diese Weise das Schreiben doch noch in die Hände zu bekommen, wenn es sich unerwarteterweise irgendwo vorfinden sollte. Aber es wurde nichts gefunden als die Waffen und eine gefüllte Börse. – »Schafft ihn hinunter in eines der Gewölbe; ich werde morgen Anzeige machen. Dieses Zimmer wird natürlich sofort gereinigt.«
Man folgte seiner Anordnung. – Als die Dienerschaft sich entfernt hatte und die drei allein waren, fragte Alfonzo:
»Kanntest du ihn?« – »Nein.« – »Hm, es war möglich, daß es dein ›Capitano‹ war, von dem du zuweilen sprichst. Ich dachte, in diesem Fall hättest du ein kleines Renkontre mit ihm gehabt und dich von ihm befreit.« – »Ich kenne ihn nicht. Aber wie ist es, trinken wir heute den Tee mit Rosa?« – »Nein«, antwortete Clarissa. »Sie trinkt ihn bereits auf ihrem Zimmer.«
Aus denn Ton, in dem diese Worte gesprochen waren, und dem Blick, der dieselben begleitete, ersah der Notar, daß die Tropfen in den Tee gekommen seien.
Als der Schuß fiel, saß Rosa mit der Kastellanin im Gespräch beisammen. Die letztere hatte soeben den Tee aus der Küche geholt und der Gräfin serviert. Da erscholl über ihnen ein lauter Knall.
»Was war das?« rief Elvira. – »Ein Schuß!« antwortete Rosa. »Was ist vorgefallen? Ich werde gehen, nachzusehen.« – »O nein, nein, meine teure Condesa. Bleiben Sie. Es gibt hier täglich immer neues und größeres Unglück; ich lasse Sie nicht fort!« – »Aber wer soll mir etwas tun? Der Schuß fiel, wie es scheint, in der Wohnung Cortejos. Hörst du die Schritte und die Stimmen?« – »Ja, aber wir bleiben. Mein Alimpo ist sehr ruhig; er wird hingehen, um zu sehen, was es ist, und es uns melden.«
Diese Voraussage erwies sich als richtig, denn der Kastellan kam wirklich bald und meldete, daß der Notar von einem Räuber überfallen worden sei, denselben aber erschossen habe. Dieser Gegenstand bildete das Objekt des abendlichen Gesprächs. Als dann Rosa ihren Tee getrunken hatte, erklärte sie, schlafen gehen zu wollen, da sie von all der Aufregung des heutigen Tages ein schmerzliches Brennen im Kopf fühle, und legte sich zur Ruhe.
Am anderen Morgen kam das Kammermädchen der Condesa in höchster Aufregung zu der Kastellanin und bat diese weinend:
»Meine gute Frau Elvira, kommen Sie doch schnell mit zur Condesa. Es ist etwas mit ihr passiert. Sie muß krank sein.« – »Heilige Madonna, ist es wahr? Sie klagte bereits gestern abend über Kopfschmerzen. Ich komme!«
Elvira ließ alles liegen und folgte der Zofe. Als sie in Rosas Schlafzimmer trat, kniete diese vor dem Bett und schien zu beten, hatte ein wachsbleiches Antlitz und sah wie eine Statue aus.
»Liebe Condesa, stehen Sie doch auf.« bat das Mädchen.
Rosa bewegte sich nicht.
»Sehen Sie«, klagte das Mädchen, »so fand ich sie, als ich kam, um sie zu wecken. Ich hob sie auf und setzte sie auf den Stuhl, aber immer wieder kniet sie nieder. Helfen Sie mir!«
Die Frauen faßten die Gräfin an und zogen sie empor; kaum aber hatten sie dieselbe auf den Diwan gesetzt, so glitt sie wieder herab und faltete die Hände, als ob sie abermals beten wolle.
»Ja, sie ist krank, sie ist sehr krank!« schluchzte die Kastellanin. »Wenn doch nur Señor Sternau hier wäre! Sie scheint ganz ohne Besinnung zu sein.« – »Was ist zu tun? Was tun wir, Señora Elvira?« fragte die Zofe, gleichfalls weinend. – »Ja, ich weiß es nicht. Mein Gott, ich kann nichts tun, als meinen Alimpo fragen. Holen Sie ihn!«
Das Mädchen rannte fort und brachte den Kastellan herbei, der ein erschrockenes Aussehen hatte. Die Kranke kniete mit halb geschlossenen Augen und gefalteten Händen vor dem Diwan, und auch als der Kastellan sie wieder aufrecht setzen half, sank sie sogleich in ihre betende Lage zurück.
»Legt sie ins Bett und macht kalte Umschläge; das wird vielleicht helfen«, gebot er mit Tränen in den Augen den beiden Frauen und entfernte sich dann, während sie seinen Worten folgten, betrübt. Draußen traf er die fromme Schwester, die lauernd in der Nähe verweilt hatte.
»Waren Sie bei der Gräfin?« fragte sie. – »Ja.« – »So ist sie bereits munter?« – »Sie ist krank«, antwortete er. – »Was fehlt ihr?« – »Ich weiß es nicht.« – »So muß ich sie besuchen, um ihr Gottes Wort zu bringen, den besten Trost der Leidenden.«
Clarissa ging in das Zimmer der Condesa, kam aber bereits nach einer Minute wieder herausgeschossen und flog förmlich nach der Wohnung des Notars. Als dieser sie in so heftiger Weise eintreten sah, fragte en
»Nun? Gelungen, ich sehe es dir an.« – »Ja, sie ist verrückt.« – »Was tut sie?« – »Sie betet.« – »Ah, sonderbar. Laut?« – »Nein. Wenn man sie stellt oder setzt oder legt, so bleibt sie nicht in dieser Stellung, sondern kniet und faltet die Hände, als wolle sie beten. Dabei aber bewegt sie weder die Lippen noch ein anderes Glied. Es ist sicher, daß ihr kein Rest des Verstandes geblieben ist.« – »Ah, der Wahnsinn ist während des Gebets über sie gekommen, und nun hat sie nur noch den einen Gedanken des Betens. Ich werde sogleich die nötigen Schritte tun. Komm mit!«
Cortejo ging hierauf mit Clarissa nach Rosas Wohnung und erklärte der Zofe und der Kastellanin, daß die fromme Schwester die Pflege der kranken Gräfin übernehmen werde. Von jetzt an wurde jedermann von Rosa abgeschlossen. Man sah und hörte nichts mehr von ihr; sie war so gut wie gar nicht mehr vorhanden.
24. Kapitel
Einen Tag später kam ein Mönch auf der Straße von Manresa nach Rodriganda daher. Als er das Dorf erreichte, trat er in die Venta und ließ sich ein Glas Wein reichen. Er wollte es sofort bezahlen, aber der Wirt nahm kein Geld.
»Ich nehme nichts«, sagte er. »Trinkt noch eins oder zwei, mein frommer Vater, und betet dafür einige Ave Marias und Paternoster für eine Kranke, die Gott uns erhalten wolle.« – »Wer ist es?« – »Unsere Gräfin Rosa de Rodriganda.« – »Was fehlt ihr?« – »Es soll Wahnsinn sein.« – »Himmlischer Vater, das wäre ja schrecklich!« – »Ja, mein frommer Vater, Ihr habt recht. Dieses Haus Rodriganda wird jetzt wahrhaft entsetzlich heimgesucht. Zunächst wurde der Graf blind; als er hergestellt war, wurde er wahnsinnig; dann stürzte er sich gar vom Felsen herab. Nun ist seine Tochter über seinen Tod selbst wahnsinnig geworden. Es ist, als ob der Teufel in und um Rodriganda wohne. Zuerst überfällt man im Park den guten Doktor Sternau, der jetzt ganz plötzlich verschwunden ist, sodann überfällt man den Notar in seinem eigenen Zimmer. Der Täter hat aber sofort seinen Lohn erhalten.« – »Wie heißt der Notar?« – »Gasparino Cortejo.« – »Und wer war der Täter, der seinen Lohn erhielt?« – »Ein fremder Räuber. Er trug einen falschen Bart und eine Perücke. Er liegt in einem Gewölbe des Schlosses und soll morgen eingescharrt werden, heute aber findet die Beisetzung des verunglückten Grafen statt, zu der alle in der Umgebung wohnenden adligen Herrschaften und auch die obersten Spitzen der Behörden kommen werden.« – »Wo wird er beigesetzt?« – »In der Schloßkapelle.« – »So wird nun wohl der junge Graf Alfonzo Euer neuer Herr?« – »Ja.« – »Ist er beliebt?«
Der Wirt zauderte ein wenig mit der Antwort, dann sagte er:
»Eigentlich sollte man darüber gar nichts sagen, Ihr jedoch, frommer Vater, werdet mich nicht verraten. Graf Alfonzo ist nicht gern gesehen. Viele lieben ihn nicht, und die anderen hassen ihn sogar. Das Glück ist von Rodriganda geschwunden, und ich glaube nicht, daß es wieder einkehren wird. Die Dienerschaft wird es nicht lange auf dem Schloß aushalten; sie wird sich zerstreuen; dann werden neue Leute engagiert, deren Charakter zu dem des Grafen und des Sachwalters paßt Wir sehen böse Tage herbeikommen.« – »Bei welchem der Diener könnte man sich wohl am besten erkundigen, wenn man über die Ereignisse der letzten Tage Näheres wissen will?« – »Geht zu Señor Alimpo, dem Kastellan. Er ist der treueste und ehrlichste Mann unter allen.« – »Wird er mir Auskunft geben?« – Gewiß, denn ein so frommer Mann, wie Ihr seid, hat keine bösen Absichten, wenn er nach etwas fragt« – »So will ich aufbrechen. Lebt wohl, und habt vielen Dank für den Trunk, den ich von Euch erhalten habe!«
Er verließ die Venta und pilgerte langsam dem Schloß zu.
Dort herrschte ein reges, aber geräuschloses Leben. Die Leute huschten eilig über die Gänge und Korridore, um die Vorbereitungen zur Bewirtung der erwarteten Gäste zu treffen, und mit ihren lautlosen Schritten, bleichen Gesichtern und ernsten Mienen glichen sie eher Gespenstern als lebenden Wesen, durch deren Adern rotes, warmes Blut pulsiert. Der Pater Dominikaner fragte nach dem Kastellan und wurde nach dessen Wohnung gewiesen.
Der gute Alimpo saß mit Elvira in seiner Stube und schien ganz außerordentlich betrübt zu sein.
»Ich halte das nicht aus!« seufzte er. – »Ich auch nicht!« antwortete sie wehklagend. – »Es ist am besten, wir nehmen unsere kleinen Ersparnisse und gehen damit in die weite Welt« – »Nur nicht zu weit!« warf sie ein. – »Gerade recht weit recht recht weit!« sagte er zornig. »Zu den Kaffern und Hottentotten oder zu den Lappländern. Was sollen wir noch hier? Warum willst du nicht weit fortgehen?« – »Hast du denn nicht gehört, daß die gnädige Condesa fortgeschafft werden soll?« – »Ja.« – »Nun gut ich werde sie nicht verlassen, ich werde mit ihr gehen, meinetwegen bis an das Ende der Welt.« – »Wird man dir die Erlaubnis dazu erteilen?« – »O weh! Das wird man nicht, wie ich vermute. Höre, mein lieber Alimpo, es ist ein Kreuz und ein Elend!« – »Ja, ein Kreuz und eine Elend!« stimmte er bei.
Da klopfte es bescheiden an die Tür, und der Pater trat ein.
»Seid Ihr Señor Alimpo, der Kastellan?« fragte er, nachdem er höflich gegrüßt hatte. – »Ja«, antwortete der Gefragte, indem er sich erhob.
Auch Frau Elvira stand ehrerbietig von ihrem Stuhl auf, und nun der Pater die beiden gutmütigen Leute erblickte, sah er sofort, daß er brave Menschen vor sich habe. Er nahm den angebotenen Sessel an und begann mit ernster, mitleidsvoller Stimme:
»Es ist eine schwere Trübsal eingezogen in dieses Haus. Ich bin der Bote des Erlösers, der sagt: ›Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken!‹ Ich biete Euch von ganzem Herzen die Tröstung an, die unser heiliger Glaube bietet, und bin vielleicht imstande, auch in anderer Weise Euren erregten Herzen Erleichterung und Beruhigung zu bringen.« – »Seid uns willkommen, frommer Vater!« entgegnete Alimpo. »Wir sind sehr betrübt. Es ist ein Unglück nach dem anderen über uns hereingebrochen, und es scheint auch nicht, daß es ein Ende nehmen will.« – »Gott ist in dem Schwachen mächtig!« antwortete der Pater. »Und er sendet die Hilfe sehr oft gerade dann, wenn wir es am wenigsten erwarten. Vielleicht bin ich eine Bote seiner Hilfe. Wollt Ihr mir vertrauen?« – »Gern!« meinte die Kastellanin. »Wir befinden uns in großer Not; nicht wahr, Alimpo?« – »Ja, meine Elvira.« – »Aber ihr habt doch Kameraden hier im Schloß, die mit Euch fühlen werden«, meinte der Pater. – »Ja, die haben wir«, erklärte der Kastellan. »Aber sie sprechen nicht mehr mit uns.« – »Warum nicht?« – »Sie fürchten sich vor dem jungen Grafen und vor Señor Cortejo.« – »Haben sie es ihnen denn verboten, mit Euch zu verkehren?« – »Direkt nicht; aber ich bin in Ungnade gefallen, und so ziehen sich die anderen von selbst von uns zurück.« – »In Ungnade? Warum?« – »Weil wir, meine Elvira und ich, die gnädige Condesa nicht fremden Händen überlassen, sondern sie in ihrer Krankheit bedienen wollten, und als wir abgewiesen wurden, es dennoch versuchten, zu ihr zu kommen; deshalb bin ich vorhin von meinem Amt suspendiert worden. Ich habe hier nichts mehr zu tun; ich soll das Schloß baldigst verlassen, und nun mögen auch die nichts mehr von uns wissen, die wir für unsere Freunde gehalten haben.« – »Sie werden sich Eurer recht gut erinnern, wenn erst die arbeitsvollen Tage vorüber sind. Ich höre, daß der verstorbene Graf heute beigesetzt werden soll?« – »So sagt man, ich aber glaube es nicht«, meinte Alimpo in trotzigem Ton. – »Ihr glaubt es nicht?« fragte der Pater erstaunt. »Aber was sollen sie denn mit ihm tun?« – »Ah, er ist es ja gar nicht! Der Tote ist nicht der Graf, sondern ein anderer.« – »Wer sagt das?« – »Señor Sternau.« – »Wer ist das?« – »Der deutsche Arzt, der den Grafen behandelte. Ich habe an seiner Seite gestanden, als er behauptete, daß die Leiche ein anderer sei als der Graf.« – »Ah! Erzählt mir doch von diesem Arzt!«
Das Ehepaar war froh, jemanden zu haben, dem es sich ohne Gefahr anvertrauen konnte, und so erzählten sie dem Pater alles, was in der jüngst vergangenen Zeit sich zugetragen hatte. Er hörte ihnen aufmerksam zu und fragte, als sie zu Ende waren:
»Ihr glaubt also, daß sich jener Leutnant de Lautreville nicht freiwillig entfernt hat?« – »Wir glauben das, was Señor Sternau und die Condesa gesagt haben. Der Leutnant ist geraubt und nach dem Schiff geschafft worden.« – »Ich kannte ihn.« – »Ihr? Ihr kanntet ihn?« fragte Alimpo erstaunt – »Ja. Ich habe ihn erzogen. Ich liebe ihn wie meinen Sohn und werde alles tun, um zu erfahren, wo er sich befindet. Und dieser Sternau ist auch verschwunden?« – »Ja, ganz plötzlich.« – »Und niemand weiß, wohin?« – »Kein Mensch.« – »Aber bei dem Richter in Manresa muß es doch zu erfahren sein.« – »Dieser wird es keinem Menschen sagen. Also Ihr kennt den Señor de Lautreville! Er war wirklich ein Franzose und Offizier?« – »Fragt mich nicht nach ihm! Sein Leben war ein geheimnisvolles. Es wird sich einst aufklären, so Gott will.« – »Sternau hält ihn für den richtigen Grafen Alfonzo.« – »Ah, dieser Sternau muß ein außerordentlicher Mensch sein! Wer die Geheimnisse von Rodriganda aufklären will, der muß sich zunächst seiner Hilfe versichern. Er soll aufgefunden werden; ich werde ihn suchen!« – »Tut das, o tut das, frommer Vater!« bat die Kastellanin. »Nur er allein kann der Condesa und uns anderen Hilfe bringen.« – »Ich werde mir alle Mühe geben. Kann man den Räuber sehen, den Señor Gasparino erschossen hat?« – »Ja. Er liegt unten im Gewölbe«, erwiderte Alimpo. – »Führt mich zu ihm!«
Die beiden Männer begaben sich nun hinab nach dem Gewölbe, in dem der Tote lag. Der Kastellan stand eben im Begriff, die Tür zu öffnen, als Cortejo vorüberkam. Er blieb stehen und fragte:
»Was wollt Ihr hier?« – »Dieser fromme Vater will den Räuber sehen«, entschuldige sich Alimpo. – »Was hast du damit zu tun!« rief der Notar zornig. »Du bist nicht mehr Kastellan, du darfst keinen Raum des Schlosses mehr betreten. Übrigens soll der Tote in Ruhe gelassen werden.« – »Entschuldigt, Señor«, sagte da der Mönch in einem höflichen, aber sehr bestimmten Ton. »Ich bin ein Diener der heiligen Kirche und bitte um die Erlaubnis, die Leiche sehen zu dürfen.« – »Was habt Ihr davon? Geht weiter!« – »Ich stehe hier anstelle der heiligen Kirche; ich habe die letzte Verfügung eines Sterbenden zu erfüllen und verlange unbedingt, dieses Gewölbe betreten zu können!« – »Was? Ihr verlangt? Ihr wagt, hier gebieten zu wollen?«
Cortejo sagte diese Worte in einem drohenden Ton und trat einen Schritt näher heran.
»Ja, ich verlange!« antwortete der Mönch ruhig. »Ihr seid Señor Cortejo?« – »Ja.« – »Nun gut; Ihr habt mir nichts zu befehlen; ich trete ein, ohne Euch zu befragen!«
Damit öffnete der Mönch die Tür und betrat das Gewölbe, während der Notar folgte. Das Gewölbe war leer, nur in der Mitte sah man einige schmutzige Bretter am Boden liegen und auf denselben die Leiche, die nicht einmal zugedeckt worden war. Das unerschrockene Auftreten des Mönchs hatte seinen Eindruck auf Cortejo nicht verfehlt. Mißtrauisch betrachtete er den Dominikaner und fragte:
»Wer war der Sterbende, dessen letzte Verfügung Euch hierherführt?«
Der Pater deutete auf den Toten und entgegnete:
»Dieser hier!« – »Dieser? Pah! Ihr waret ja gar nicht bei ihm, als er starb.« – »Er war dennoch ein Sterbender, als er mit mir sprach, denn er ging in den Tod.« – »Ihr habt ihn gekannt?« – »Ja, ebenso gut wie Ihr!« – »Ich?« meinte der Notar besorgt. »Ich kannte diesen Menschen nie!« – »Lügt nicht!« sagte der Pater. »Wollt Ihr leugnen, daß Ihr den Capitano gekannt habt?« – »Ein Capitano war er?« fragte Cortejo lauernd. – »Verstellt Euch nicht! Ich bin kein Kind der Welt, aber Ihr werdet mich doch nicht täuschen. Dieser Tote mußte in Eurem Auftrag den Sohn des Grafen Rodriganda umtauschen lassen; er mußte den deutschen Arzt überfallen, er sollte den Leutnant de Lautreville töten. Ihr habt ihn erschossen, um ihn unschädlich zu machen, aber an seiner Stelle stehen andere Zeugen gegen Euch auf. Gasparino Cortejo, du bist der größte Bösewicht, den ich kenne; triumphiere nicht zu früh! Der arme Pater Dominikaner wird für dich ein Gegner sein, den du nicht verschwinden lassen kannst! Noch ehe der Capitano dich aufsuchte, kam er zu mir und sagte, daß er dir nicht traue. Wenn er nicht zurückkehren werde, sollte ich mich erkundigen, ob ihm etwas geschehen sei. In diesem Fall übergab er mir die Rache. Ich werde ihn nicht rächen, denn die Rache ist des Herrn, aber ich werde die verborgenen Wege aufdecken, die du gegangen bist. Lebe wohl, auf Wiedersehen!«
Der Mönch schob den Notar zur Seite, schritt aus dem Gewölbe und verließ das Schloß. Cortejo stand da, als ob er einen Schlag auf den Kopf erhalten habe. Seine Augen waren weit vorgetreten, die Adern seiner Stirn waren dick und angespannt, er blickte dem sich Entfernenden wie abwesend nach, dann aber raffte er sich zusammen und wandte sich an den Kastellan, der alles deutlich gehört hatte.
»Was wollt Ihr noch hier? Fort!« gebot er ihm.
Dieser Ton gab dem guten Alimpo einen ungewöhnlichen Mut
»Señor«, sagte er, »ich werde mir alles genau merken, was ich jetzt mit angehört habe!« – »Fort!« brüllte Cortejo. »Noch heute verlaßt Ihr das Schloß!« – »Ich habe Kündigung!« erwiderte Alimpo, der noch nie einen solchen Mut besessen hatte wie jetzt – »Ihr sollt ein Vierteljahresgehalt ausgezahlt erhalten, aber noch heute packt Ihr Euch!«
Der Pater Dominikaner schritt inzwischen das Dorf entlang und überlegte, was zu tun sei, um den Aufenthalt des Doktors zu erfahren. Gräfin Rosa hatte in Manresa nichts erfragen könne, also war es wahrscheinlich, daß man gegen ihn ebenso verschwiegen sein werde. Er beschloß, in den umliegenden Ortschaften nachzuforschen, ob eine Kutsche gesehen worden sei, die von vier Gendarmen begleitet wurde. Dies war nun freilich nicht so leicht und ging auch nicht so schnell, als er gedacht hatte. Zudem war er gezwungen, einmal nach der Höhle zurückzukehren, wo man sich über das Verbleiben des Hauptmanns vollständig im unklaren befand. Er brachte die Nachricht von dem Tod desselben dorthin und wartete die Wahl eines neuen Capitano mit ab. Dann begab er sich wieder nach der Gegend von Rodriganda, um seine Nachforschungen fortzusetzen.
Endlich gelang es ihm, zu erfahren, daß eine von vier Gendarmen begleitete Kutsche nach Barcelona gefahren sei. Sie mußte dort vor dem Gefängnis gehalten haben, und er beschloß, mit dem Schließer Bekanntschaft anzuknüpfen. Dies war noch schwerer als alles, was er bisher unternommen hatte, aber infolge seines geistlichen Standes gelang es ihm schließlich doch, das Vertrauen des Mannes zu gewinnen und Zutritt in dessen Wohnung zu erlangen. Er besuchte ihn sehr oft und wurde nach und nach zu einigen Gefangenen gelassen, die krank waren und des geistlichen Zuspruchs bedurften.
Endlich erfuhr er auch, daß sich ein gewisser Doktor Sternau unter den Gefangenen befinde.
Nun begann er, direkt an die Befreiung desselben zu denken. Zu dieser gehörte zunächst Geld. Das hatte er leider nicht. Er sann nach und dachte schließlich an den Kastellan, von dem er erfahren hatte, daß er Rodriganda verlassen habe und in Manresa wohne. Er ging zu ihm und wurde mit Freude aufgenommen.
»Gott sei Dank, Ihr seid es, frommer Vater!« sagte Alimpo. »Ich glaubte bereits, daß Ihr mich und alle unsere Freunde vergessen hättet, meine Elvira sagt es auch.« – »Ich habe weder Euch noch sie vergessen«, sagte der Dominikaner. »Ich habe vielmehr unausgesetzt daran gearbeitet, Señor Sternau zu befreien!« – »Señor Sternau? Ah, Ihr wißt, wo er sich befindet?« – »Ja, ich habe es kürzlich erst erfahren können!« – »Wo ist er?« – »In Barcelona.« – »Was tut er da? Warum läßt er sich nicht sehen?« – »Er ist gefangen.« – »Gefangen? Oh, oh! Hörst du es, meine liebe Elvira?« – »Ja, ich höre es, mein Alimpo«, erwiderte die Gefragte. »Daran ist sicher Cortejo schuld!« – »Kein anderer! Wird er noch lange gefangen sein, frommer Vater?« – »Er wird niemals wieder frei sein, wenn wir ihn nicht erlösen.« – »Wir? Oh, wie gern!« rief Alimpo. »Aber was können wir dabei tun?« – »Hm, viel und wenig. Habt Ihr Geld, Señor Alimpo?« – »Geld? Wieviel? Wozu?« – »Señor Sternau hat natürlich in seiner Gefangenschaft keine Mittel; will er fliehen, so bedarf er des Geldes, um über die Grenze zu kommen, und ich – ich bin ja nur ein armer Diener Gottes, der von den Spenden wohltätiger Menschen lebt.«
Da sprang Alimpo von seinem Stuhl auf, riß den Kasten einer Kommode hervor, griff hinein und brachte mehrere große, gefüllte Beutel und eine Brieftasche zum Vorschein.
»Hier, hier, nehmt!« rief er ganz begeistert. »Ich habe Geld, viel Geld, und Ihr sollt alles haben!« – »Wieviel ist es?« – »Vier– oder fünftausend Duros, unsere Ersparnisse während der ganzen Lebenszeit. Für den guten Señor Sternau geben wir es gern, sehr gern. Nicht wahr, meine gute Elvira?« – »Ja«, nickte sie. »Wenn er nur wieder frei wird. Dann kann er vielleicht auch unsere liebe Condesa heilen.« – »Wo ist sie?« fragte der Pater. »Wohl in einer Heilanstalt für Geisteskranke?« – »Nein. Sie ist in Larissa, im Stift der heiligen Veronika, dessen Vorsteherin die fromme Schwester Clarissa ist.« – »Aber sie gehört doch nicht in ein Stift, sondern in eine Heilanstalt!« – »Kann sie sich wehren? Die Anstalt soll die Hälfte ihres Vermögens bekommen. Ich habe erfahren, daß Schwester Clarissa mit ihr abgereist ist.« – »Hat sie sich gewehrt?« – »Nein. Sie ist ganz ohne Willen, sie weiß gar nicht mehr, wer sie ist.«
Der Pater dachte nach. Endlich fragte er:
»Und Dir denkt, daß Señor Sternau sie heilen würde?« – »Gewiß, ganz gewiß.« – »Gut Ich werde mir die Anstalt in Larissa einmal ansehen. Also Ihr werdet mir so viel Geld anvertrauen, als ich brauche, Señor Alimpo?« – »Nehmt so viel Ihr wollt, nehmt alles, ich habe es Euch ja bereits gesagt! Nicht wahr, meine Elvira?« – »Ja«, antwortete die dicke Frau. – »Nun gut«, sagte der Pater. »Ich muß ein Pferd für ihn haben, vielleicht auch eins für mich. Gebt mir zweihundert Duros.« – »Zweihundert? Das ist zu wenig. Nehmt fünfhundert!« – »Ich brauche nicht so viel, wenigstens jetzt nicht, aber ich werde es doch nehmen, denn bei solchen Angelegenheiten ist es besser, man hat mehr als weniger.«
Der Mönch nahm das Geld und ging. Von Rodriganda bis in die Anstalt Larissa waren es nur zwei Wegstunden. Sein geistliches Gewand verschaffte ihm in derselben leicht Zutritt. Er sah die Gräfin Rosa und erfuhr, daß sie niemals ein Wort spreche und nur sehr wenig genieße. Sie war noch immer schön, aber ihre Schönheit war diejenige eines Wesens, das dem Grab entgegengeht Sie hielt sich stets auf dem kleinen Friedhof auf, der zur Anstalt gehörte, betrat ihn bereits früh, betete daselbst den ganzen Tag und konnte des Abends nur mit Gewalt nach ihrer Zelle gebracht werden. Es war jetzt Winter geworden, und der Schnee lag fußhoch auf dem Friedhof, der Aufenthalt auf demselben mußte die körperliche Gesundheit der bereits geistig Kranken vollständig untergraben, doch kümmerte sich niemand um sie.
Nachdem der Pater das alles erfahren und gesehen hatte, kehrte er nach Barcelona zurück. Hier kaufte er ein Pferd und einen Maulesel, das erstere für Sternau und den letzteren für sich, ließ aber die Tiere bei dem Händler stehen, um sie erst im Augenblick des Gebrauchs abzuholen.
So vergingen abermals Wochen, und die Weihnachtszeit rückte heran. Da, am heiligen Abend, hatte der Pater den Schließer besucht und erfuhr von demselben, daß ein Gefangener im Sterben liege, aber nicht allein in seiner Zelle sei, sondern mit dem deutschen Arzt zusammenstecke. Der Pater jubelte im stillen, ließ sich jedoch äußerlich nichts merken. Der Schließer bat ihn, mitzukommen. Er steckte den großen Schlüsselring zu sich und brannte die Laterne an. In der Nähe der Tür hingen zwei große Torschlüssel. Sie gehörten zwei Beamten, die sie hier abzugeben hatten. Während der Schließer sich mit der Laterne zu schaffen machte, gelang es dem Pater, einen der Torschlüssel unbemerkt an sich zu bringen, dann gingen sie nach der Zelle des Sterbenden. Was sich dort ereignete, wissen wir bereits. Sternau mußte die Leiche tragen und entkam. Unterdessen hatte der Pater die beiden Tiere geholt und erwartete ihn auf der Straße nach Rodriganda. Es war zwar kein Wort zwischen ihnen gefallen, aber der Pater war überzeugt, daß der Arzt nur in der Richtung nach Rodriganda fliehen werde.
25. Kapitel
»Es deckt der Schnee die Gräber zu,
Daß nichts den tiefen Schlummer störe,
Kein Lebenslaut, den in der Ruh‘
Der wintersstarren Nacht man höre.
Es glänzen in dem Sternenschein
Die alten, halb verfall‘nen Mauern,
Und die Zypressen schauen d‘rein,
Als ob die Toten sie betrauern.
Und auf dem hart gefror‘nen Schnee
Und mitten unter Leichensteinen,
Kniet sie so ohne Freud‘ und Weh‘,
Die weder lächeln kann, noch weinen.
Es ist, als ob der eis‘ ge Hauch
Ihre Leben ganz getötet hätte,
Als winkt‘ ihr nur da unten auch
Erlösung in des Grabes Bette.«
Als Sternau ein Pferd und ein Maultier erblickte, auf welch letzterem ein Mann in geistlicher Kleidung saß, ahnte er, daß es derselbe sei, der im Gefängnis gewesen war.
»Erwartet Ihr jemand, frommer Vater?« fragte er. – »Ja, Euch, Señor!« – »Ah, ich ahnte es. Man hat Euch abgesandt, mich zu befreien!« – »Ja. Steigt auf! Wir müssen in zwei Stunden nach Manresa, selbst wenn die Tiere stürzen.« – »Warum so schnell? Warum nach Manresa und nicht nach Rodriganda?« – »Steigt nur auf, Señor, ich werde Euch unterwegs alles sagen, was Ihr erfahren müßt.«
Sternau stieg auf, und nun flogen sie so schnell auf der Strecke dahin, wie die Tiere nur laufen konnten. Der Arzt atmete die reine Winterluft mit Wonne ein. Nach einer langen Weile fragte en
»Ich kenne Euch noch nicht, ich habe Euch noch niemals gesehen. Nicht wahr, Condesa Rosa sendet Euch?« – »Nein, Señor Alimpo.« – »Der Kastellan? Ach so, also doch im Auftrag der Condesa?« – »Nein. Die Condesa ist krank, sie gibt keinen Auftrag mehr.«
Da erschrak Sternau auf das tiefste.
»Krank?« fragt er. »Welche Krankheit hat sie?« – »Sie ist …« – Der Pater stockte vorsichtig und fuhr dann fort »Sie hat dieselbe Krankheit, die Ihr an ihrem Vater heilen solltet.«
Es durchzuckte Sternau wie ein plötzlicher Schlag.
»Höre ich recht?« fragte er. »Sie ist – wahnsinnig?« – »Ja.« – »Wahnsinnig!«
Dieses Worte sagte Sternau nicht nein, er rief, er schrie es förmlich in die stille, lautlose Nacht hinaus. Plötzlich hielt er sein Pferd an und fragte in höchster Angst
»Wo ist sie?« – »Im Stift der heiligen Veronika zu Larissa.« – »Dessen Oberin die Schwester Clarissa ist?« – »Ja.« – »Ah, ich errate!« knirschte Sternau. »Die sogenannte Leiche des Grafen Emanuel ist begraben?« – »Ja.« – »Graf Alfonzo ist Nachfolger?« – »Ja.« – »Gasparino Cortejo ist bei ihm?« – »Ja.« – »Wo ist Schwester Clarissa?« – »Jetzt in ihrem Stift« – »Und der Kastellan?« – »Wohnt in Manresa. Er wurde fortgejagt Er gab mir Geld, diese zwei Tiere zu kaufen, er wird Euch noch mehr Geld geben, so viel Ihr zur Flucht braucht Señor.« – »Und Ihr? Wer seid Ihr? Warum interessiert Ihr Euch für mich?« – »Das werdet Ihr später erfahren.« – »Nein. Ich muß es jetzt wissen. In diesem Augenblick entscheidet es sich, was ich zu tun haben werde.« – »Nun wohl, Señor, ich befreite Euch, damit Ihr mir helfen sollt den Leutnant de Lautreville aufzusuchen.« – »Kennt Dir ihn?« – »Ja, er ist der Graf Alfonzo de Rodriganda.« – »Ah! Also ganz wie ich es ahnte! Dir sollt mir später mehr sagen, jetzt aber kein Wort weiter, ich weiß genug. Hört, frommer Vater, habt Ihr einmal einen Mann gesehen?« – »Einen Mann?« fragte der Pater verwundert. – »Ja. Wenn Ihr noch keinen gesehen habt so sollt Dir heute einen kennenlernen. Vorwärts!«
Sternau setzte sein Pferd wieder in Bewegung, und sie flogen in Windeseile durch die Nacht Es waren noch nicht zwei Stunden vergangen, so sahen sie Manresa vor sich liegen.
»Wir lassen die Pferde hier vor der Stadt im Gasthaus«, sagte Sternau. »Es ist besser, wenn uns niemand sieht.«
Sie stiegen ab, banden die dampfenden und vor Anstrengung zitternden Tiere im Stall an und schlichen sich nach der Wohnung des Kastellans, die sie unbemerkt erreichten.
Alimpo saß in seinem Stübchen und unterhielt sich mit seiner Elvira. Sie hatten einander ihre Weihnachtsgaben beschert, nun gedachten sie derer, die heute wohl kein Weihnachtsfest feiern konnten. Da ging die Tür auf, und Sternau trat herein, gefolgt von dem Pater, der hinter sich sogleich die Tür verriegelte.
»Señor Sternau!« rief der Kastellan, indem er emporsprang. – »Señor Sternau!« rief auch die Kastellanin.
Und im nächsten Augenblick hatten sie beide seine Hände ergriffen und bedeckten sie mit Küssen.
»Oh, nun ist alles, alles gut!« frohlockte Frau Elvira unter Freudentränen. »Nun wird auch unsere liebe, gute Condesa wieder frei werden!« – »Ja, sie soll frei sein!« gelobte Sternau. »Frei und gesund. Und wehe diesen Giftmischern, wenn ich finden sollte, daß sie nicht zu heilen ist. Ich zermalme sie! Wir haben nicht viel Zeit, Señor Alimpo, aber erzählt mir dennoch, was geschehen ist, schnell, sehr schnell!«
Der Kastellan folgte dieser Aufforderung. Als er geendet hatte, sagte Sternau nachdenklich:
»Die Condesa ist in der Gewalt dieser Menschen, gegen die ich, so lange ich mich in Spanien befinde, nicht öffentlich auftreten kann, da ich aus dem Gefängnis entflohen bin; ich will daher die Gräfin aus dem Stift entführen und mich zu diesem Zweck nach Rodriganda begeben, um mir einiges zu holen, was ich brauche; ich bin also von jetzt an ein dreifacher Verbrecher und muß noch heute mit der Condesa über die Grenze. Alimpo, gebt mir Geld, Ihr sollt es bald wiederhaben!« – »Alles, alles sollt Ihr haben, Señor Sternau!« lautete die Antwort.
Da trat Elvira vor und fragte:
»Ihr werdet die Gräfin befreien?« – »Ja, noch in dieser Nacht.« – »Und wohin geht Ihr mit ihr?« – »Über die Grenze nach Frankreich, und dann noch weiter, bis nach Deutschland, in mein Vaterland.« – »Señor, ich gehe mit! Nicht wahr, mein lieber Alimpo?« – »Ja, wir gehen mit!«
Diese Worte wurden mit einer solchen Entschiedenheit ausgesprochen, daß man hörte, es sei den guten Leuten wirklich Ernst damit. Sternau aber antwortete:
»Das geht nicht. Ich freue mich über Eure Treue; auch brauche ich sehr notwendig eine Bedienung für unsere kranke Gräfin, aber Ihr könnt nicht so schnell fort von hier. Ihr habt Eigentum und Sachen.« – »Señor, wir gehen dennoch mit!« beteuerte Alimpo. »Ich schwöre es, daß wir Euch und unsere liebe Gräfin nicht verlassen. Dieses Haus, in dem wir wohnen, gehört meinem Neffen. Er wird uns nicht verraten, mag er heute auch hören und sehen, was er wolle. Er wird unsere Sachen später verkaufen und müden Ertrag nach Deutschland schicken.« – »Gut«, antwortete Sternau. »Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Ihr sollt mit uns gehen!« – »Dank, tausend Dank, Señor!« rief Alimpo. »Nicht wahr, meine Elvira?« – »Ja, das werden wir dem Señor niemals vergessen!« antwortete sie. – »Also Ihr wollt auch nach Rodriganda?« fragte der Kastellan darauf den Arzt. – »Ja.« – »Ich habe noch den Schlüssel zu einer der Seitenpforten.« – »Ich danke! Ich werde frei und offen in das Schloß gehen«, versetzte Sternau stolz. »Sind noch viele der früheren Diener da?« – »Mehrere.« – »Gut. Habt Ihr eine Waffe, Alimpo? Gebt sie mir!« – »Señor, ich gehe mit!« – »Nein, Ihr bleibt! Ihr sollt nichts tun, was Euch später Schaden bringt. Ich reite allein.« – »Señor Sternau, allein lasse ich Euch nicht gehen«, sagte da der Mönch. »Ich begleite Euch auf alle Fälle.« – »Ihr werdet Euch nur Schaden tun, frommer Vater.« »Ich mir? Nein! Ihr werdet später erfahren, daß ich recht habe; ich brauche mich nicht zu fürchten.« – »So reitet mit. Alimpo mag sich unterdessen zur Abreise vorbereiten.« – »Soll ich einen Wagen besorgen?« fragte der Kastellan. – »Nein«, antwortete Sternau. »Es liegt jetzt auf allen Wegen Schnee, was in Spanien allerdings eine Seltenheit ist; nicht Wagen brauchen wir, sondern Schlitten. Ich bringe welche mit.« – »Woher?« – »Aus Schloß Rodriganda.« – »Señor!« rief da Alimpo erschrocken. »Ihr werdet Euch verraten!« – »Pah, ich werde mich offen zeigen und für die Condesa zwei Reiseschlitten verlangen. Ich werde sehen, ob man es wagt, sie mir zu verweigern. Vorwärts, Pater!«
Sternau steckte die geladene Waffe zu sich, und sie verließen das Haus. Er fühlte, daß er jetzt tausend Leben wagen würde, auch den stärksten Widerstand zu besiegen. Rosa mußte frei werden, um jeden Preis. – Nach kurzer Zeit flogen sie auf der Straße von Larissa dahin. Es war nicht viel über eine halbe Stunde vergangen, als sie das Städtchen erreichten. Der Pater lenkte um dasselbe herum, auf einen einzeln stehenden Gebäudekomplex zu, der sich finster aus dem schneebedeckten Feld abhob.
»Wie kommen wir hinein?« fragte Sternau. – »Über die Friedhofsmauer«, lautete die Antwort.
Diese Mauer lag gerade vor ihnen. Sie war nur zwei Meter hoch, so daß sie, da sie zu Pferde saßen, über dieselbe hinwegblicken konnten. Jetzt hielten sie hart daran. Sternau sah hinüber und deutete nach einer dunklen Gestalt, die vollständig unbeweglich zwischen den Gräbern kniete.
»Was ist das?« fragte er. »Ein Monument?«
Der Pater sah schärfer hin und antwortete entsetzt:
»Bei Gott, das ist sie!« – »Wer? Doch nicht etwa die Gräfin?« – »Und doch! Sie ist es!« – »Zu dieser Zeit! In dieser Kälte! In diesem Schnee! Ah, ich verstehe! Sie soll erfrieren; sie soll auch körperlich erkranken! Daß sie entflieht, braucht man ja nicht zu besorgen! Oh, ihr Schurken! Aber ihr macht es mir dadurch um so leichter!«
Sternau stieg vom Sattel auf die Mauer und sprang jenseits von derselben herab. Nun schritt er auf die Gestalt zu. Sah sie ihn? Hörte sie sein Kommen? Nein. Sie kniete zwischen den Gräbern im tiefen, hartgefrorenen Schnee und bewegte nichts, als nur die Lippen – sie betete. Sternau erkannte sie sofort, trotz des härenen Gewandes, in das sie gekleidet war, trotz der eingesunkenen Augen und Wangen und trotz der leichenhaften Blässe, die der helle Sternenschimmer auf ihrem Gesicht erkennen ließ.
»Rosa!« sagte er mit zitternder Stimme.
Sie hörte es nicht.
»Rosa«, bat er sie, »blicke mich an!«
Auch dies hörte sie nicht.
Da kniete er neben ihr nieder und nahm sie in seine Arme, küßte sie und nannte sie bei den zärtlichsten Namen, aber sie hörte und fühlte ihn nicht. Sein Herz krampfte sich zusammen vor unendlichem Schmerz über den Anblick des einst so holden Wesens; er durfte aber nicht zaudern, und daher nahm er sie rasch auf seine Arme und trug sie zur Mauer. Dort gab er sie dem Pater hinüber und setzte sie dann, als er die Mauer übersprungen hatte und wieder aufgestiegen war, zu sich auf das Pferd.
Im eiligsten Lauf schlugen die Reiter jetzt den Weg nach Rodriganda ein. Als sie das Schloß vor sich erblickten, hielt Sternau sein Pferd an und sagte:
»Jetzt habt Ihr genug für uns getan, mein guter Vater. Was nun kommt, das ist zu gefährlich. Es kann als ein Verbrechen gelten; seid so gut, nach Manresa zu reiten und dort auf mich zu warten!« – »Señor, ich bleibe bei Euch!« entgegnete der Pater. – »Ich gebe dies nicht zu!« – »Nun, so will ich Euch sagen, daß dieser Graf Alfonzo und dieser Cortejo auch meine Todfeinde sind. Sie mögen mich zeihen, wessen sie wollen, ich fürchte sie nicht. Reitet nur zu, Señor.« – »Steht es so, so sollt Ihr Euren Willen haben.«
Sie ritten durch das Dorf. In der Venta erblickte man noch ein Licht. Sternau drängte sein Pferd an das kleine Fenster, durch welches es schimmerte, und klopfte. Nach einiger Zeit wurde es sehr vorsichtig geöffnet und ein mit einer großen Nachtmütze bedeckter Kopf ließ sich bei dem Schein der Lampe erkennen.
»Was gibt es?« fragte der Mann, der der Wirt war.
Der Arzt neigte sein Gesicht vom Pferd bis zum Fenster nieder und antwortete:
»Blickt einmal her! Kennt Ihr mich?« – »O Gott, Señor Sternau!« rief da der Besitzer der Venta. »Ist dies möglich?« – »Ja, ich bin es. Wollt Dir mir einen Gefallen tun?« – »Gern! Welchen?« – »Geht einmal zum Alkalden und sagt ihm, er solle sofort mit den Dorfältesten nach dem Schloß kommen.« – »Was sollen sie dort?« – »Das werden sie erfahren.«
Dann eilten sie weiter, und der Wirt sah ihnen kopfschüttelnd nach.
»Der Señor Doktor«, brummte er. »Woher kommt er? Was hatte er auf dem Pferd? Das sah aus, gerade wie eine menschliche Gestalt! Und der andere war ein Mönch. Fast möchte ich behaupten, daß es ganz derselbe sei, der damals in meiner Venta einkehrte.«
Als die beiden Reiter das Schloß erreichten, stiegen sie vom Pferd. Man sah kein einziges Fenster erleuchtet, und nur aus der Portiersloge schimmerte ein matter Lichtschein. Sternau klopfte, und gleich darauf trat der Portier an das Gitter.
»Wer ist draußen?« fragte er. »Es wird zur Nachtzeit nicht geöffnet.« – »Und dennoch wirst du öffnen, Henrico!« sagte Sternau. »Ich hoffe, daß du mich noch kennst?«
Der Portier war beim Klang dieser Stimme freudig-erstaunt zurückgefahren.
»Señor Sternau! Mein Gott! Ja, ja, ich öffne sogleich!«
Er beeilte sich, das Gitter aufzuschließen, und Sternau trat, die Wahnsinnige auf dem Arm, ein. Als der Portier es sah und sie erkannte, hätte er fast das Licht fallen lassen.
»Heilige Madonna!« rief er. »Das ist ja die Condesa!« – »Allerdings. Weißt du nicht, ob sich ihre Zimmer noch in der alten Ordnung befinden?« – »Es ist gar nichts daran geändert worden. Ich habe die Schlüssel hier, denn es ist noch kein Kastellan wieder angestellt worden.« – »So nimm die Schlüssel und leuchte uns voran.« – »Soll ich nicht den Grafen wecken?« – »Wecken werden wir erst später. Komm!« – »Oder doch die Dienerin der Condesa?« – »Ist diese noch da?« – »Ja. Sie hat die Schwester Clarissa zu bedienen, wenn diese zu Besuch nach Rodriganda kommt.« – »So wecke sie. Aber das soll alles still geschehen.«
Es war dem Arzt jetzt vor allen Dingen darum zu tun, den Eindruck zu beobachten, den die bekannte Wohnung auf die Kranke machen werde. Die Zimmer wurden aufgeschlossen, Sternau trug Rosa hinein und ließ sie auf den Diwan nieder. Sofort glitt Rosa zu Boden, um mit gefalteten Händen zu beten. Sie bemerkte es gar nicht, daß sie den kalten Friedhof mit ihrer früheren Wohnung vertauscht hatte. Sternau ließ sich nicht merken, was er fühlte. Übrigens trat jetzt das Mädchen herein. Dieses war ganz außer sich vor Freude, ihre Herrin zu sehen, und Sternau befahl ihr, die Gräfin zu einer weiten Reise an– und umzukleiden. Sodann gab er dem Portier die Ordre, sämtliche Diener im Speisesaal zu versammeln. Er selbst aber schritt nach der Wohnung des Grafen Alfonzo. Im Vorzimmer schlief ein Diener, der sich sehr erstaunt aufrichtete, als er Sternau erkannte. Der Doktor wies ihn hinaus und trat bei Alfonzo ein.
Dieser lag im Bett und schlief. Eine Ampel erleuchtete das Gemach zur Genüge. Ohne nur einen Augenblick zu zaudern, erhob Sternau die Faust und schlug sie dem Schläfer vor die Stirn.
»So«, meinte er lächelnd, »tot ist er nicht, aber besinnungslos. Ich werde ihn nun fesseln.«
Er fand einige Tücher, die als Fesseln und Knebel verwendet wurden, dann verließ er das Zimmer, schloß es hinter sich zu und steckte den Schlüssel ein. Sein Weg führte ihn zu der Wohnung des Advokaten. Diese war verschlossen. Er klopfte.
»Wer ist da?« fragte nach einer Weile Cortejo von innen. – »Ich. Öffne mir!« antwortete Sternau indem er die Stimme Alfonzos nachahmte. – »Donnerwetter! Was gibt es denn? Hat es keine Zeit?« fragte der Advokat gähnend. – »Nein.« – »So komm! Aber neugierig bin ich.«
Man hörte, daß Cortejo aus dem Bett stieg und den Schlafrock anzog, näher schlürfte und öffnete. Es war dunkel auf dem Korridor, so daß er nicht sah, wer draußen stand.
»Nun, nur näher Alfonzo!« sagte er. »Was kommt dir denn in den Sinn, daß du so spät …«
Doch da hielt der Advokat plötzlich mitten in der Rede inne, denn der Schreck raubte ihm die Sprache. Sternau war nämlich eingetreten, hatte die Tür hinter sich zugezogen, und da das Nachtlicht ihn zur Genüge beleuchtete, hatte der Notar ihn sofort erkannt und vor ungeheuerer Bestürzung vergessen, seine Rede zu vollenden.
»Ihr scheint meine Stimme verkannt zu haben«, sagte Sternau zu ihm in einem Ton, der kalt wie Eis war und spitz wie Stahl. – »Sternau!« murmelte jetzt der Notar.
Zu einem lauten Wort konnte er es noch nicht bringen, aber er machte doch eine Bewegung, als wolle er nach der Tür springen. In demselben Augenblick jedoch schlug ihm der Arzt die Faust vor den Kopf, daß er wie ein Sack zu Boden stürzte. Eine Minute später war auch Cortejo gefesselt und geknebelt, wie vorher der Graf Alfonzo. Sternau schloß ihn dann ein und begab sich nach dem Saal, wo die Diener in Erwartung dessen standen, was da kommen solle. Auch der Alkalde mit den Ältesten des Dorfes war bereits zugegen. Das hatte Sternau wissen wollen. Er gebot den Leuten, den Saal nicht zu verlassen und auf seine Rückkehr zu warten, und begab sich darauf wieder zu dem Advokaten, der unterdessen zur Besinnung gekommen war, setzte sich neben ihm nieder und begann:
»Señor Cortejo, ich habe Euch gefesselt, um ungestört ein Wort mit Euch zu sprechen. Hört mich an! Daß Ihr der größte Halunke der Erde seid, wißt Ihr ja, und ich brauche es Euch also nicht erst zu sagen, aber ebensowenig werdet Ihr Euch darüber verwundern, daß ich Euch als Halunken behandle. Ich habt mich verraten und in die Gefangenschaft gebracht…«
Der Gefesselte machte vor Angst eine verneinende Kopfbewegung. Sternau aber fuhr fort
»Lügt nicht! Es hilft Euch nichts! Ich bin wieder frei, Euer Verrat hat Euch also nicht ganz zum Ziel geführt. Auch Gräfin Rosa habt Ihr gefangengenommen. Sie lebte zwar nicht in einem Gefängnis, sondern in einem sehr frommen Stift, aber auch sie ist wieder frei. Ich habe sie mit hier. Sie ist wahnsinnig. Ihr habt sie vergiftet, so wie Ihr den Grafen Emanuel vergiftetet! Schüttelt nicht mit dem Kopf! Ihr habt Euer Verbrechen so schlau unternommen, daß ich Euch noch nicht fassen kann, aber es wird die Zeit kommen, wo ich Euch packen werde, und dann gnade Euch Gott! Für heute ist es nur wenig, was ich mit Euch zu besprechen habe. Ich will nämlich Condesa Rosa mit mir nehmen und erlaube mir deshalb, die nötigen Kleider hier einzupacken und auch für die Legitimationen zu sorgen, die notwendig sind, damit die Condesa auf die Auszahlung ihres Vermögens dringen kann. Ihr glaubt, daß dies keinen Erfolg haben wird, da sie wahnsinnig ist? Pah, ich werde sie herstellen! Ist aber die Condesa unheilbar, so sterbt Ihr des fürchterlichsten Todes, den es gibt, von meiner Hand. Um sie zu heilen, bedarf ich des Mittels, das ich bereits bei Graf Emanuel anwenden wollte, nämlich des Geifers eines zu Tode gekitzelten Menschen, und da Ihr mit Eurem Gift den Wahnsinn hervorgerufen habt, so scheint es mir ganz in der Ordnung, daß auch Dir selbst das Gegenmittel liefert. Ich werde Euch jetzt so lange kitzeln, bis Ihr den Schaum des wahnsinnigsten Schmerzes von Euch gebt und Euch erst dann töten, wenn auch dieses Mittel nichts hilft.«
Bei diesen Worten trat dem Advokaten der Angstschweiß auf die Stirn. Sternau kümmerte dies nicht. Er faßte den Gefesselten, trug ihn nach dem Nebenzimmer und band ihn dort so, daß er sich unmöglich bewegen konnte, dann verdichtete er den Knebel und suchte endlich nach einem Gefäß, in dem er den giftigen Schaum sammeln konnte.
Es mußte eine fürchterliche Angst sein, die der Advokat bei diesen Vorbereitungen empfand. Endlich zog ihm der Arzt die dünnen, feinen Nachtstrümpfe aus, nahm vom Schreibzeug eine Gänsefeder hinweg und begann, mit der Fahne dieser Feder die Fußsohlen des Notars zu bestreichen.
Unterdessen warteten die Diener unten im Saal auf seine Rückkehr. Sie dauerte ihnen zu lange, doch wagten sie nicht, gegen seinen Befehl zu handeln und den Saal zu verlassen. Da trat das Mädchen herein, dem die Gräfin übergeben worden war, und meldete, daß man oben ein ganz entsetzliches Getöse vernehme. Man beriet, was zu tun sei, und kam darin überein, daß der Alkalde mit dem Portier nachsehen solle, woher die Töne kämen.
Als diese beiden den oberen Korridor erreichten, stiegen ihnen fast die Haare zu Berge. Was sie hörten, war das Wutgestöhn des Advokaten. Trotzdem er einen doppelten Knebel trug und trotzdem er in einem inneren Zimmer lag, drang sein Geheul doch bis auf den Korridor hinaus, doch gerade, als der Alkalde klopfen wollte, trat Schweigen ein. Sie kehrten infolgedessen nach dem Saal zurück, wo sich nach kurzer Zeit auch Sternau einstellte, der die Gräfin am Arm hatte.
Die sämtlichen Anwesenden erschraken bei dem Anblick der geliebten Herrin und wollten herzutreten, um ihre Gefühle auszusprechen, Sternau aber wehrte ihnen ab und sprach:
»Señores, kennt Ihr diese Dame?« – Ja«, ertönte es rundum. – »Könnt Ihr beschwören, wer sie ist?«
Man wunderte sich über diese Frage und antwortete mit einem Ja.
»So mag auch der Alkalde sagen, wer sie ist« – »Natürlich ist es die Condesa Rosa de Rodriganda-Sevilla«, versicherte der Aufgeforderte. – »Dann setzt Euch nieder, Señor, und stellt mir ein amtliches Zeugnis aus, daß diese Doña die Gräfin ist. Die sämtlichen Anwesenden werden das Dokument unterzeichnen.« – »Warum?« – »Man trachtet der Gräfin nach dem Leben, man macht sie wahnsinnig, ich will sie retten und brauche dazu die erwähnte Legitimation.«
Der Alkalde wollte noch weiter fragen, denn er sah sich hier vor den Pforten eines Geheimnisses, in das er gern eingedrungen wäre, doch Sternau bat um Eile, und er mußte sich fügen.
Hierauf ging Sternau nach den Zimmern, die er selbst bewohnt hatte. Er fand dieselben ziemlich unberührt und packte in Gegenwart des Alkalden und der Ältesten ein, was er mitzunehmen gedachte. Dann mußten ihn die Beamten nach den Zimmern der Gräfin begleiten, wo er ebenso alles notieren ließ, was mitgenommen wurde. Durch diese Maßregel stellte er sich gegen spätere Anklagen sicher. Von höchstem Wert waren der Geburts-, Tauf– und Firmungsschein der Gräfin. Er fand diese Papiere in ihrem Schreibtisch und steckte sie zu sich.
Der Alkalde bat um Aufklärung über das geheimnisvolle nächtliche Ereignis, er fragte auch nach Graf Alfonzo und dem Advokaten, erhielt aber keine Aufklärung. Dann ließ Sternau zwei Schlitten mit den schnellsten Pferden bespannen, bestieg den einen mit der Gräfin, während der Pater den anderen lenkte, und fuhr davon. Die beiden Tiere, auf denen sie nach Rodriganda gekommen waren, ließen sie zurück.
Die Anwesenden blickten den beiden Schlitten so lange nach, als sie zu sehen waren, endlich aber sahen sie sich – untereinander selber an. Was war das gewesen? Was hatte das zu bedeuten? Woher war Sternau, der Verschwundene, so plötzlich gekommen, und wohin wollte er mit der Gräfin? Warum ließen sich der Graf und der Sachwalter gar nicht sehen?
Man ging nach der Wohnung des ersteren und fand dieselbe verschlossen. Das war verdächtig. Man klopfte, und als man angestrengt horchte, hörte man als Antwort ein unterdrücktes Wimmern. Jetzt wurde das erste, beste Instrument herbeigeholt, um die Tür aufzusprengen, und nun fand man Graf Alfonzo gefesselt und geknebelt im Bett liegen. Er wußte von nichts, aber als er befreit war und hörte, daß Sternau hier gewesen sei und die Gräfin mitgenommen habe, warf er die nächstliegenden Kleidungsstücke über und eilte zum Advokaten.
Auch dessen Tür war verschlossen, man sprengte sie ebenfalls auf und fand Cortejo in einem ganz unbeschreiblichen Zustand. Er hatte sich unter den Fesseln so gekrümmt und gewunden, daß die Banden tief in sein Fleisch eingedrungen waren, die Knebel waren vom Schaum ganz durchweicht, und es dauerte lange Zeit, ehe seine bis zum fürchterlichsten Wahnsinn aufgeregten Nerven sich so weit beruhigt hatten, daß er Alfonzo den Vorgang unter vier Augen erzählen konnte.
Alfonzo ordnete sofort eine schleunige Verfolgung an und stieg selbst zu Pferde, um in Manresa Polizei zu requirieren und die sonst noch notwendigen Schritte einzuleiten.
26. Kapitel
Unterdessen hatten die beiden gräflichen Schlitten Manresa erreicht. Die Freude, die der Kastellan und die gute Elvira beim Anblick ihrer Herrin empfanden, läßt sich gar nicht beschreiben. Sie glaubten zwar, ihre Vorkehrungen vollständig getroffen zu haben, aber es gab noch dieses und jenes nachzuholen, und so wurde der Aufenthalt ein längerer, als Sternau wünschte.
»Für jetzt trage ich keine Sorge«, sagte er zum Pater, »aber später…!« – »Gerade für später darf es Euch nicht bange sein, Señor«, antwortete dieser. »Haben wir nur erst die Berge erreicht, dann laßt mich sorgen.« – »Wie weit geht Ihr mit?« – »Bis jenseits der Grenze.« – »So haben wir später Zeit zu Erklärungen, jetzt müssen wir eilen. Ich nehme die Gräfin und Elvira in meinen Schlitten; Alimpo fährt mit Euch. Vorwärts!«
Nachdem die braven Kastellansleute von ihrem Neffen Abschied genommen hatten, fuhr man ab. Die beiden Schlitten verließen im Norden gerade in demselben Augenblick die Stadt, als Alfonzo von Süden her in dieselbe einritt.
Die Pferde waren sehr gut, aber nach den Bergen zu wurde der Schnee immer höher, der Weg immer unfahrbarer und die Eile infolgedessen immer mäßiger. Man vermied so viel wie möglich die größeren bewohnten Orte, doch veranlaßte diese Vorsicht zu verschiedenen Umwegen. Gegen Abend waren die Pferde so ermüdet, daß man gezwungen war, in einem einsamen, an der Straße gelegenen Wirtshaus zu übernachten.
Bereits am nächsten Morgen in der Frühe wurde wieder angespannt Es war für Sternau eine traurige Fahrt, denn Rosa kannte ihn nicht, blieb gleichgültig gegen alles und betete nur in einem fort. Er gab sich ebenso wie Frau Elvira alle Mühe, die Aufmerksamkeit der Kranken auf irgendeinen bestimmten Gegenstand zu lenken, doch vergeblich. Es war ganz unmöglich, sie zur Erkenntnis der Gegenwart irgendeines anderen Dinges zu bringen.
Als der Mittag herannahte, befand man sich bereits mitten in den Pyrenäen.
Hier stand wieder ein einsames Einkehrhaus, und da die Pferde durch den tiefen Schnee bereits sehr ermüdet waren, so beschloß Sternau, eine kurze Weile zu halten. Die Reisenden stiegen also aus und traten in den engen, kahlen Raum, in dem der Wirt ihnen nichts weiter als einen riesigen Herd und ein Stücken trockenes, halb verschimmeltes Brot zu bieten vermochte. Zum Glück hatte die gute Frau Elvira vor der Abfahrt von Manresa dafür gesorgt, daß Mundvorrat nebst einigen Flaschen Wein in die Schlitten gepackt worden waren. Diesen Dingen wurde jetzt mit gutem Appetit zugesprochen.
Das in dem einsamen Haus befindliche Mobiliar bestand nur aus einigen rohen Holzstühlen und einer langen, rohen Tafel, an der bei dem Eintritt der Gäste neben dem Wirt ein Mann saß, der nicht eben ein vertrauenerweckendes Aussehen hatte. Er trug eine weite Lederhose, lederne Gamaschen, eine zerrissene Jacke, die anstatt der Knöpfe mit alten Kupfermünzen besetzt war, und einen vielfach abgegriffenen und zerknitterten Hut. In seinem Gürtel steckte zwischen zwei großen Pistolen ein langes Messer; zwischen seinen Knien lehnte ein altes Gewehr, und neben ihm saß einer jener großen bärenartigen Pyrenäenhunde, die es mit drei Männern aufnehmen.
Er zog sich vor den Reisenden in eine Ecke zurück, blickte aber erstaunt auf, als er jetzt den Pater eintreten sah, der sich etwas länger bei den Pferden verweilt hatte. Als dieser den Mann erblickte, gab er ihm ein geheimnisvolles Zeichen und ging wieder vor das Haus hinaus.
»Alle Wetter, Pater, woher kommst du mit diesen vornehmen Leuten?« fragte er. – »Von Manresa«, antwortete der Gefragte. – »Du fährst selbst einen Schlitten!« – »Wie du siehst.« – »Wohin geht der Weg?« – »Hinüber nach Faix.« – »Sind es Freunde?« – »Ja. Sie stehen unter meinem Schutz.« – »So mögen sie in Gottes Namen ziehen; nur hoffe ich, daß sie uns keinen Schaden machen werden.« – »Schaden? Wie wäre dies möglich?« – »Dadurch, daß sie uns entdecken und verraten. Wir warten auf einen Transport Ware von drüben herüber. Er soll gegen Abend hier vorüberkommen. Wir stecken zu dreißig Mann droben unter dem Dach. Wenn deine Begleiter etwas merken und es den Franzosen erzählen, so kommen wir um den Fang.« – »Trage keine Sorge! Sie werden nichts merken. Wir bleiben nur eine halbe Stunde.«
Diese Versicherung beruhigte den Räuber; er kehrte nach der Stube zurück und nahm in seiner Ecke wieder Platz. Er schien sich um die Reisenden nicht zu bekümmern, nahm aber ein Glas Wein, das Alimpo ihm reichte, mit dankbarer Miene an.
So mochte die halbe Stunde fast vergangen sein, als man plötzlich draußen Pferdegetrappel und ein lautes, fröhliches Hallo hörte. Frau Elvira, die gerade vor dem kleinen, schmalen Fenster stand und hinausblickte, erbleichte, schlug vor Schreck die Hände zusammen und rief:
»Santa Madonna, die Gendarmen!«
Alimpo sprang hinzu und blickte hinaus; auch er machte ein Zeichen des höchsten Schrecks und meldete:
»Und der Corregidor ist dabei.« – »Welcher?« fragte Sternau. – »Der Corregidor von Manresa.« – »Ach! Der kommt mir gerade recht!« – »Oh, Señor, es ist keine Gegenwehr möglich. Es sind wohl gegen zwanzig Mann!«
Sternau überzeugte sich durch einen Blick von der Wahrheit dieser Worte und sagte entschlossen:
»Ich werde dennoch kämpfen!«
Da erhob sich der Fremde in der Ecke und versetzte:
»Habt keine Sorge, Señor! Ihr steht unter meinem Schutz!«
Sternau blickte erstaunt auf den Sprecher und fragte:
»Wer seid Ihr?« – »Euer Freund. Ihr habt mir Wein gegeben; ich werde Euch beschützen. Seht Ihr nicht, daß der Pater bereits verschwunden ist? Wir kennen uns. Er holt Hilfe. Bleibt ruhig sitzen und laßt mich machen!«
Alimpo hatte sich mit seiner Elvira in den äußersten Winkel des Gemaches zurückgezogen. Sternau setzte sich wieder nieder, hielt aber die Waffen bereit. Draußen waren unterdessen verschiedene Rufe erklungen, aus denen Sternau hörte, was er von den Angekommenen zu erwarten hatte.
»Das sind sie!« sagte eine Stimme. – »Ja, es sind die Schlitten und Pferde des Grafen!« fügte eine andere hinzu. – »Wir werden die Prämie verdienen«, jubelte ein dritter. – »Steigt ab! Hinein!« kommandierte ein vierter. Es war die Stimme des Corregidors von Manresa.
Jetzt wurde die Tür geöffnet, und einige Gendarmen traten ein, der Corregidor an der Spitze.
»Ah, Señor Sternau, da treffen wir Euch ja!« sagte er, als er den Arzt erblickte. – »Allerdings!« erwiderte dieser ruhig. – »Wie es scheint, hat es Euch in Barcelona nicht gefallen. Ihr seid entflohen, Señor. Das ist sehr schlimm für Euch. Außerdem habt Ihr bereits wieder einige neue Verbrechen begangen!« – »Welche denn?« – »Eine Entführung und einen Mord– und Raubüberfall gegen die Bewohner von Rodriganda.« – »Das klingt allerdings höchst gefährlich!« lächelte Sternau. – »Das ist es auch. Seht hier diese Handschellen! Ich muß Euch in Eisen legen und zurückbringen.« – »Versucht es einmal!« entgegnete Sternau, sich erhebend und zur Gegenwehr bereit
Der Corregidor trat schnell und vorsichtig einen Schritt zurück und sagte:
»Ich warne Euch, Señor! Keine Gegenwehr! Hier stehe ich mit vier Gendarmen, und draußen vor dem Haus stehen weitere fünfzehn Mann. Ein Widerstand ist also vollständig unnütz!« – »Das glaube ich nicht!«
Diese Worte hatte der Mann in der Ecke gesprochen. Der Corregidor wandte sich erstaunt zu ihm:
»Wer seid Ihr?« – »Ein Freund dieser Herrschaften«, antwortete der Mann gleichgültig. – »Ah! So habt Ihr ihnen geholfen?« – »Nein, aber ich werde ihnen jetzt helfen.« – »So nehme ich auch Euch gefangen!« – »Oder ich Euch!« lachte der Fremde. – »Mich? fragte der Corregidor zornig. »Mensch, wage nicht, mit mir Spaß zu treiben!« – »Blickt Euch um!«
Der Corregidor sah sich um und fuhr erschrocken zurück. Auch seine vier Gendarmen traten unwillkürlich zur Seite, denn durch die weit offenstehende Tür ragten wenigstens zehn geladene Büchsenläufe herein, und im Vordergrund des Hausflurs sah man noch mehrere Männer stehen, die ihre Gewehre gegen die ganz ohne Deckung draußen bei den Schlitten haltenden Gendarmen hielten.
»Nun?« fragte der Fremde. »Wie gefällt Euch das, mein tapferer Señor Corregidor? Ich sage Euch, daß ich die Gewehre meiner Leute gar nicht brauche, um Euch das Maul zu stopfen. Seht Euch diesen Hund an! Auf einen Wink von mir reißt er Euch und Euren vier Gendarmen die Gurgel auf. Hier in den Bergen wissen wir mit Leuten Eures Schlags umzugehen!« – »Mein Gott, wir sind verloren!« stammelte der Corregidor. – »Ja, das seid Ihr! Noch haben Eure Leute draußen keine Ahnung, was hier im Haus vorgeht. Es handelt sich um Euer Leben. Wollt Ihr gehorchen oder nicht?« – »Was soll ich tun?« fragte der Beamte kleinlaut. – »Befehlt Euren Leuten, die Waffen zu strecken und uns die Pferde zu übergeben!« – »Das – das geht nicht!« rief der Corregidor voller Angst. – »Es muß gehen! Meine Leute dort hören ein jedes Wort, das gesprochen wird. Ich zähle bis drei. Steht Ihr da noch nicht am Fenster, um den Befehl zu geben, so schießen sie Euch nieder. Wir sind dreißig Mann; es kann uns keiner entkommen. Also – eins – zwei – dr…«
Der Fremde hatte das Wort »drei« noch nicht ausgesprochen, so sprang der Corregidor an das Fenster, riß es auf und rief hinaus:
»Legt die Gewehre ab!«
Die Gendarmen hörten die Worte und blickten erstaunt herüber.
»Um Gottes willen, legt die Waffen ab!« wiederholte er. »Legt sie in die Schlitten!« – »Warum?« fragte draußen einer. – »Weil wir hier gefangen sind«, antwortete er. »Das ganze Haus steckt voller Briganten, die Euch niederschießen werden, wenn Ihr nicht gehorcht.«
Die Leute schienen diese Versicherung nicht glauben zu wollen, da aber wurde die Haustür von innen aufgestoßen, und wohl zwanzig Räuber drangen, ihnen die geladenen Büchsen entgegenhaltend, hervor.
»Ergebt Euch! Ergebt Euch!« bat der geängstigte Corregidor. – »Gegen freien Abzug?« fragte einer vorsichtig. – »Ja.«
Die Gendarmen, die wohl sahen, daß es nur eines Fingerdrucks der Räuber bedurfte, um zwanzig wohlgezielte Schüsse abzugeben, legten jetzt die Waffen ab, übergaben auch die Pferde und schlichen sich von dannen. Auch die vier in der Stube Befindlichen taten dasselbe; sie konnten ungehindert gehen. Als sich jedoch auch der Corregidor entfernen wollte, hielt ihn der Räuber zurück.
»Halt, mein Bursche!« sagte er. »Ich habe noch mit Euch zu reden.« – »Was denn noch?« – »Das werdet Ihr bald hören.« Und sich an Sternau wendend, fragte er: »Wie es scheint, seid Ihr mit diesem Señor Corregidor nicht zufrieden?« – »Allerdings nicht«, antwortete der Arzt – »Bloß weil er Euch jetzt fangen wollte? Oder habt Ihr noch etwas anderes gegen ihn?« – »Etwas noch ganz anderes. Er kam einst zu mir, um mich zu einer Dame abzuholen, brachte mich aber statt dessen nach Barcelona in das Gefängnis, wo ich mehrere Monate lang unschuldig eingeschlossen wurde.« – »Ah, das soll er büßen! Das ist Hinterlist. Zählt ihm fünfzig auf die Kehrseite.«
Der Corregidor wurde trotz seines Wehklagens gepackt und hinausgeschafft, und bald hörte man die kräftigen Hiebe und das laute Geschrei des Beamten, der wohl nicht gedacht hatte, daß er sich anstatt eines Gefangenen fünfzig Stockschläge holen würde. Als er den letzten erhalten hatte, hinkte er kläglich von dannen.
Jetzt erst trat der Pater wieder ein.
»Seht Ihr, Señor«, sagte er zu Sternau, »daß ich recht hatte, als ich Euch sagte, daß wir hier oben in den Bergen sicher sein würden?« – »Ihr seid mir ein Rätsel, aber ich danke Euch von ganzem Herzen!« antwortete der Deutsche. – »Vielleicht werdet Ihr dieses Rätsel noch lösen. Jetzt aber laßt uns aufbrechen, damit wir vor Abend noch über die Grenze kommen.«
Sternau wollte sich den wackeren Briganten dankbar erweisen, sie lehnten jedoch allen Dank und jede Gabe ganz entschieden ab. Sie hatten ja Waffen und Pferde gewonnen.
»Das war Hilfe gerade zur rechten Zeit«, sagte Alimpo beim Einsteigen. »Nicht wahr, meine Elvira?« – »Ja«, antwortete sie. »Glaubst du, daß der Corregidor in Manresa erzählen wird, daß er heute fünfzig Hiebe bekommen hat?« – »Nein. Ich werde es aber unserem Neffen schreiben, der soll es weitererzählen, meine liebe Elvira.«
Da sich die Pferde nun so ziemlich ausgeruht hatten, ging es mit frischen Kräften und erneuter Schnelligkeit vorwärts. Als Sternau den Briganten noch einen Abschied zurückwinkte, dachte er nicht, daß er nach Jahren sie abermals an derselben Stelle hier treffen werde.
27. Kapitel
Wenn man auf der Karte von Mainz aus eine gerade Linie bis nach Kreuznach zieht, so berührt diese Linie den Namen eines Dörfchens, das der Sitz einer Oberförsterei ist. Dieser letztere bildet ein hohes, geräumiges, schloßähnliches Gebäude, das vor Jahrhunderten für eine zahlreichere Bewohnerschaft gebaut worden war, als diejenige, die es zu der Zeit belebte, in der die interessanten Ereignisse spielten, von denen unsere Geschichte erzählt.
Dem hier wohnenden alten Oberförster Rodenstein war es in dem alten Schloß mit der Zeit zu einsam geworden, und so bat er eine entfernte Verwandte, mit ihrer Tochter zu ihm zu ziehen. Diese Verwandte, eine Frau Sternau, war aber keine andere als die Mutter des berühmten Operateurs Doktor Karl Sternau. Sie war seit langer Zeit Witfrau und erfüllte daher nicht ungern den Wunsch ihres Verwandten, der gewöhnlich »Herr Hauptmann« genannt wurde, weil er diesen Grad bei der Landwehr bekleidet hatte.
Auf einer Art von kleinem Vorwerk, das eigentlich eher ein Vorhof des Schlosses genannt werden konnte, wohnte die kleine Familie des Steuermanns Helmers, dessen Verhältnisse wir noch näher kennenlernen werden. Diese Familie bestand außer dem viel abwesenden Vater nur aus Frau Helmers und einem fünfjährigen Sohn, dem kleinen Kurt, der ein ganz außerordentlicher Tausendsassa, aber auch zugleich der erklärte Liebling sämtlicher Schloßbewohner war.
Es war an einem sehr frühen Morgen, da saß der Herr Hauptmann bereits in seinem Arbeitszimmer und rechnete Tabellen aus. Da war diejenige Arbeit, die er am wenigsten liebte, und darum lagen schwere Wetterwolken auf seiner Stirn, und aus seinen Augen hätte es gern aufgeblitzt, wenn er nur jemand gehabt hätte, den diese Blitze treffen konnten.
Da klopfte es an die Tür.
»Herrrrrrrein!« kommandierte der Hauptmann.
Die Tür öffnete sich, und der Forstgehilfe Ludwig trat ein. Er war die rechte Hand, das Faktotum des Oberförsters und hatte dessen Licht– und Schattenseiten aus der ersten Hand zu empfinden. Da er in der Kompanie des Herrn Hauptmanns gedient und noch von dieser Zeit her an eine vollständig militärische Disziplin gewöhnt war, blieb er mit zusammengezogen Absätzen an der Tür stehen, ohne zu grüßen.
»Nun?« knurrte der Oberförster. – »Guten Morgen, Herr Hauptmann.« – »‘n Morgen! Verdammtes Zeug!« – »Was? Die Holzdiebe?« – »Holzdiebe! Dummkopf! Die Tabellen meine ich!« —
»Ja, das ist verdammtes Zeug, noch viel schlimmer als die Holzdiebe. Ich bin froh, daß ich nicht Oberförster bin, da lassen sie mich mit den Tabellen in Ruhe!« – »Ha! Du und Oberförster!« knurrte der Hauptmann grimmig. »Würdest auch außer den Tabellen lauter Dummheiten machen.« – »Dummheiten? Ich? Straf mich Gott, Herr Hauptmann, das fällt mir gar nicht ein!« – »Was? Nicht? War das gestern keine Dummheit drüben im Teich?« – »Ach, daß ich Kurt schwimmen lehren wollte?« – »Ja. Ein fünfjähriger Bube und schwimmen! Wenn er nun ersäuft!« – »Aber er wollte es ja lernen.« – »Und du hast es ihm gezeigt?« – »Ja.« – »Kannst du es denn?« – »Nein.« – »Kerl! Du willst Schwimmstunden geben und kannst selbst nicht schwimmen? Das ist doch, hol mich der Teufel, die allergrößte Dummheit, die ich mir nur denken kann. Ich sage dir, wenn einer von euch beiden ersäuft, und ich höre, daß es der Junge ist, so kannst du deine Seele Gott befehlen; wenn du‘s bist, so habe ich nichts dawider! Was bringst du?« – »Es ist ein Herr unten, der mit dem Herrn Hauptmann sprechen will.« – »Wer ist es?« – »Er will sich nur dem Herrn Hauptmann selbst nennen.« – »Dummheit! Hat er einen guten Rock an?« – »Ja. Und eine Brille auf.« – »Das zählt nichts bei mir. Heutzutage trägt jeder Windbeutel eine! Riecht er nach Schnaps?« – »Hm! Ich habe ihn nicht angerochen.« – »Was? Nicht? Ein anderes Mal riechst du ihn an! Verstanden? Schicke ihn herauf!« – »Zu Befehl, Herr Hauptmann!«
Ludwig entfernte sich, froh, seine Lektion überstanden zu haben, und bald trat der Fremde, ein langer, dürrer Mensch, der eine große, blauglasige Brille auf der Hakennase trug, ein, als ob er hier zu Hause sei, und fragte in familiärem Ton:
»Sie sind der Oberförster Rodenstein?«
Jetzt endlich hatte der Hauptmann eine triftige Veranlassung, seine Blitze an den Mann zu bringen. Er stand auf, öffnete die Tür und winkte hinaus:
»Treten Sie doch einmal zurück!« – »Warum?« – »Warum? Nun, sehr einfach, weil ich es wünsche.« – »Aber ich sehe doch keinen …« – »Hinaus!« unterbrach ihn der Hauptmann, und zwar mit einer Stimme, die dem Fremden durch alle Glieder fuhr. – »Nun, wenn Sie es wünschen, so kann ich es ja wohl tun.«
Mit diesen Worten zog er sich bis vor den Eingang zurück.
»So ist‘s recht«, sagte der Oberförster. »Nun, bitte, treten Sie nochmals ein und grüßen Sie, wie es jeder anständige Mann zu machen hat, selbst wenn er zu einem Tagelöhner kommt.«
Der Mann sperrte vor Erstaunen den Mund auf, nahm die Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf und betrachtete ganz konsterniert den Hauptmann.
»Aber, Herr Oberförster, wie kommen Sie dazu, mir hier Lehren geben zu wollen, die…« – »Papperlapap!« unterbrach ihn der Hauptmann. »Wie kommen Sie dazu, bei mir eintreten zu wollen, ohne mich zu grüßen!« – »Weil ich das Recht dazu habe!« – »Das Recht? Donnerwetter! Das Recht, bei mir einzutreten, ohne mich zu grüßen, habe nur ich selber!«
Da warf sich der Fremde in Positur und sagte mit wichtiger Miene:
»Und ich habe das Recht, einzutreten, wo es mir beliebt.« – »Ah, wer sind Sie denn?« – »Ich bin großherzoglich-hessischer Polizeikommissar. Verstanden, Herr Oberförster?« – »So? Was ist das weiter! Und selbst wenn sie großherzoglich-hessischer Polizei-Nudelmacher wären, müßten Sie dennoch grüßen. Verstanden?«
Damit schob der Hauptmann den Mann noch weiter hinaus in den Gang und zog dann die Tür zu. Es dauerte kaum ein Minute, so klopfte es.
»Herein!« rief der Hauptmann
Der Fremde öffnete und trat ein. Der höhnische Zug um seinen Mund bewies deutlich, daß die jetzige Demütigung nur eine scheinbare und vorläufige sei.
»Herr Oberförster«, sagte er, »ich habe meine guten Gründe, Ihnen nachzugeben. Ich wünsche Ihnen also einen guten Morgen.« – »Guten Morgen! Was weiter?« – »Darf ich Sie um eine amtliche Unterredung bitten?« – »Ich habe nicht viel Zeit übrig, machen wir es also kurz. Setzen Sie sich. Was wollen Sie?« – »Es wohnt eine gewisse Frau Sternau in Ihrem Haus?« – »Ja.« – »Mit ihrer Tochter?« – »Ja.« – »In welcher Eigenschaft?« – »Donnerwetter! In der Eigenschaft als Menschen wohnen sie hier bei mir. Punktum!« – »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich befugt bin, mir höfliche Antworten zu erbitten.« – »Die bekommen Sie ja, Herr großherzoglich-hessischer Polizeikommissarius!« – »Sind außer dieser Tochter noch Kinder da?« – »Kinder nicht, aber ein Sohn.« – »Was ist dieser?« – »Er ist Arzt.« – »Wo?« – »Hören Sie, mein Freund, ich habe weder Zeit noch Lust, ein Verhör mit mir anstellen zu lassen, dessen Grund und Zweck ich gar nicht kenne. Was ist es mit Doktor Sternau?« – »Er wird steckbrieflich verfolgt.« – »Steck – brief – lich…!« rief der Hauptmann. »Wie kommen Sie mir vor!« – »Ich sage die Wahrheit. Man verfolgt ihn polizeilich von Spanien aus wegen Mordversuchs, Diebstahls, Entführung und Mitgliedschaft einer Räuberbande.«
Es war ein eigentümlicher Blick, den der Hauptmann auf den Kommissarius warf, als er erwiderte:
»Weiter nichts? Bloß wegen solcher Lappalien?« – »Herr Oberförster, sind dies Lappalien?« – »Na, Sie scheinen mich als doch nicht zu verstehen, ich werde Ihnen daher meine Meinung sagen. Doktor Sternau ist ein braver Kerl wie nur irgendeiner. Ich könnte viel eher glauben, daß Sie selbst ein Mörder, ein Entführer oder das Mitglied einer Räuberbande seien als er. Ihre Behauptung ist ein purer Unsinn, und mit Unsinn habe ich nichts zu schaffen. Sind Sie wirklich großherzoglich-hessischer Polizeikommissar? Haben Sie Ihre Legitimation mit? Ich kenne Sie nicht« – »Herr, wie können Sie mir eine Legitimation abverlangen?« brauste der Mann auf. – »Weil ein jeder Schwindler auf den Gedanken geraten kann, sich für eine Polizeikommissarius auszugeben. Gehen Sie, und kommen Sie nicht eher wieder, als bis Sie sich legitimieren können.« – »Wissen Sie auch, was Sie tun?« – »Ja, das weiß ich ganz genau. Ich werde Sie nämlich hinauswerfen, wenn Sie nicht freiwillig gehen.« – »So werde ich wiederkommen, und zwar mit Unterstützung, und ich will Sie zudem anzeigen wegen Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit. Sie dürfen sich keineswegs für einen selbständigen Reichsfürsten halten!«
Da griff der Hauptmann zur Klingel, und Ludwig trat ein.
»Ludwig!« – Ja, Herr Hauptmann!« – »Dieser Kerl hier wird hinausgesteckt und wenn dies nicht rasch genug geht, so wird er hinausgeworfen und mit den Hunden über die Grenze von Rheinswalden gejagt!« – »Zu Befehl, Herr Hauptmann!« antwortete der Jäger schmunzelnd, denn ein solcher Auftrag war sehr nach seinem Geschmack. – »Und wenn er sich noch einmal bei uns sehen läßt, ohne Legitimation zu besitzen, so arretiert ihr ihn, oder, wenn er ausreißen sollte, so schießt ihr ihm eine Ladung in die dürren Beine!« – »Zu Befehl, Herr Hauptmann!« entgegnete Ludwig, dann kehrte er sich zu dem Fremden, zeigte mit gebieterischer Handbewegung nach der Tür und sagte in strengem Ton: »Allons, marsch, Bursche!«
Der Polizist fuhr vor diesem Ton zwar zurück, aber seine Augen leuchteten in grimmigem Trotz auf.
»Das werdet Ihr mir entgelten, Ihr zwei!« – »Faß an!« gebot der Oberförster, zornig mit dem Fuß stampfend.
Sofort packte der Jäger den Mann bei der Schulter, warf ihn in den Korridor hinaus und dann zur Treppe hinunter. Unten standen einige Jägerburschen müßig im Hof. Als sie sahen, daß es hier gute Arbeit für sie gab, griffen auch sie sofort zu, und so kam der Polizist mit der Geschwindigkeit eines Eilzugs zum Schloß hinaus. Draußen aber ballte er die Hände und schwor dem Oberförster grimmige Rache.
Im Schloßhof stand ein kleiner Knabe in der kleidsamen, grünen Tracht eines Jägers. Es war Kurt Helmers, der fünfjährige Sohn des Steuermanns Helmers.
»Ludwig«, sagte er, »warum wird dieser Mann hinausgeworfen? Was hat er getan?« – »Er hat dahier den Herrn Hauptmann beleidigt«, lautete die Antwort.
Da machte der Kleine ein höchst zorniges Gesicht und rief:
»Da soll ihm doch das Wetter leuchten! Ich werde sofort meinen Hinterlader holen und ihm eins auf den Pelz brennen, daß er genug hat! Wer den Herrn Hauptmann beleidigt, den schieße ich tot!«
Der Jäger lächelte sehr zufrieden, er sah es gern, wenn sein kleiner Liebling Mut zeigte.
»Halt!« sagte er jedoch, als Kurt wirklich Miene machte, das Gewehr zu holen. »Auf Menschen darf man nicht so mir nichts dir nichts schießen. Aber ich weiß ein Viehzeug, daß du schießen kannst.« – »Ein Viehzeug? Was für eins?« – »Einen Fuchs!« – »Einen Fuchs?« rief der Kleine, indem seine Augen funkelten. »Wo steckt denn der Kerl?« – »Hinten im Eichenbühl. Ich habe ihn gestern aufgefunden und werde nachher mit den Dächseln aufbrechen, um ihn abzutun.« – »Darf ich mit?« – »Versteht sich, wenn deine Mama es erlaubt.« – »Ich frage sogleich!«
Der Kleine rannte in höchster Eile dem Vorwerk zu. Dort war seine Mutter beschäftigt, das Geflügel zu füttern. Sie war eine brünette sympathische Erscheinung, die inmitten der sie umgackernden und umflatternden Hühner und Tauben einen allerliebsten Anblick bot. Der Kleine sprang mitten unter die Vögel hinein, so daß sie rechts und links auseinanderstoben, und rief mit fröhlicher Stimme:
»Mama, Mama, ich soll ihn totschießen!« – »Wen denn, du Wildfang du?« fragte sie lächelnd. – »Den Fuchs, der uns die Hühner maust.« – »Wo ist er denn?« – »Im Eichbühl. Der Ludwig hat ihn ausgefunden und geht nachher hin. Darf ich mit?« – »Ja, weil der Ludwig dabei ist.«
Der Kleine horchte auf, zog sodann eine schmollende Miene und sagte in stolzem Ton:
»Oh, den Ludwig, den brauche ich doch eigentlich gar nicht. So einen Fuchs schieße ich schon selber!«
Darauf ging er ins Haus und kam bald wieder, ein Gewehr über die Schulter gehängt zurück. Es war ein Hinterlader mit Doppellauf, den der Oberförster eigens für den Knaben bestellt und ihm zu seinem Geburtstag geschenkt hatte. Kurt war für seine fünf Jahre körperlich und geistig ungemein entwickelt und es machte dem Hauptmann große Freude, sein Geburtstagsgeschenk ganz über alle Erwartung vortrefflich angewandt zu sehen; denn der kleine Knabe war bereits ein Schütze, der sich sehen lassen konnte.
»Ich gehe, Mama«, sagte er. – »Aber doch nicht wieder in das Wasser, wie gestern«, erinnerte sie ihn. – »Warum nicht?« – »Jetzt im Winter, wo der Teich fest zugefroren ist! Man badet doch nicht unter Eis!« – »Du hast mich doch immer kalt gebadet. Und der Ludwig sagte, daß man sehr gesund und stark wird, wenn man sich auch im Winter badet. Wenn ich jetzt nicht schwimmen lerne, so kann ich es nachher nicht, wenn im Sommer die richtige Zeit des Badens kommt.« – »Aber du kannst krank werden und sterben, mein Kind. Deine Mutter wird dann sehr weinen.«
Da wurde sein hübsches, trotziges Gesichtchen schnell freundlich; er trat auf die Mutter zu, legte die Arme um sie und erwiderte:
»Nein, Mama, du sollst nicht weinen; ich werde nicht in das Wasser gehen. Verlaß dich darauf!«
Sie küßte ihn, und nun ging er stolz von dannen, als sei er ein Fürst, der mit seinem glänzenden Gefolge zur Reiherbeize ausreitet. Er kam gerade zur rechten Zeit, Ludwig mit noch einigen Forstläufern bereit zu finden. Sie führten einige Dachshunde an der Leine.
Ihr Weg ging durch den dichten Wald. Das Fragen des Knaben hatte kein Ende, und die Burschen mußten sich Mühe geben, seinen Wissenstrieb zu befriedigen. In diesem Jungen steckte eine Entwicklungsfähigkeit, die ihm, wenn keine Störung eintrat, eine nicht gewöhnliche Zukunft verhieß. Er gehörte sichtlich zu den von Gott hochbegnadeten Naturen, die bestimmt sind, einen Lebensweg zu wandeln, der sich durch außerordentliche Leistungen auszeichnet.
Es war ein milder, klarer Wintermorgen. Die Sonne meinte es gut, ihre warmen Strahlen hatten im freien Feld den Schnee hinweggeleckt, aber im tiefen Forst lag er noch immer wenigstens einen halben Schuh tief, und Kurt mußte tapfer stampfen, um mit den anderen vorwärts zu kommen. Endlich erreichten sie den Eichenbühl und gerieten bald auf die Fährte des Fuchses. Die Hunde zerrten gewaltig an ihren Leinen, mußten aber die Ungeduld zügeln, bis man den Bau umgangen und sich überzeugt hatte, daß der Fuchs ihn nicht verlassen habe. Allem Anschein nach war es ein familienloser Einsiedler, der es vorzog, sein Winterquartier für sich allein zu behalten.
Nachdem die Nebenröhren verstopft worden waren, so daß nur der Haupteingang frei blieb, wurden die Hunde losgelassen. Sie verschwanden augenblicklich unter der Erde. Nun stellten sich die Schützen auf. Kurt erhielt den Ehrenplatz seitwärts des Auslaufs, wo er sich stolz in Positur stellte.
»Schieße nur nicht etwa einen der Hunde!« warnte der Jäger Ludwig. »Das wäre ein ganz armseliger Schuß dahier.«
Er hatte nämlich die Gewohnheit, das Wort »dahier« übermäßig oft zu gebrauchen, und zwar zumeist dann, wenn es gar nicht am richtigen Ort war.
Kurt zog eine sehr wegwerfende Miene und antwortete:
»Einen solchen Hundeschuß überlasse ich Euch!«
Um sich nicht zu ermüden, duckte er sich auf den Boden nieder, steckte sich einen Gabelzweig in die Erde und legte den Lauf seines Gewehrs in die Gabel. Gleich darauf hörte man das Kläffen der Dachshunde unter der Erde, das fest am Ort blieb; sie hatten also den Fuchs gestellt. Ein zorniges Heulen bewies, daß er sich tapfer wehrte; es war ein alter Bursche, der den Hunden zu schaffen machte.
Dann erhob sich unter der Erde ein wahrer Heidenspektakel, der sich durch verschiedene Gänge zog. Sie hatten den Fuchs gezwungen, den Kessel zu verlassen.
»Aufgepaßt, Kurtchen, jetzt kommt er!« mahnte Ludwig und richtete den Lauf seiner Büchse nach dem Haupteingang.
Kurt lag noch immer am Borden. Er hörte genau, nach welcher Richtung der Lärm sich zog und das schmerzliche Geheul eines der Dachshunde, der gebissen worden war. Einen Augenblick später flog ein dunkler Körper aus dem Loch heraus, und Ludwig rief:
»Der Fuchs!«
Zugleich mit diesem Ruf krachte seine Büchse, und das Tier, zu Tode getroffen, überschlug sich. Zu gleicher Zeit aber war auch Kurt aufgesprungen und hatte den Lauf seines Gewehrs nach einer ganz anderen Gegend gerichtet; sein Schuß krachte mit demjenigen des Jägers, so daß es klang, als sei nur ein einziger gefallen.
»Ich habe ihn dahier!« rief Ludwig und sprang auf das Tier zu, das er geschossen hatte, aber bereits beim zweiten Schritt blieb er erschrocken stehen und fluchte: »Donnerwetter, was ist denn das?« – »Die Waldina!« antwortete einer der Burschen. – »Weiß Gott, ich habe die Waldina dahier erschossen! Das ist ja nicht nur ein Hunde-, sondern sogar ein reiner Sauschuß! So etwas ist mir noch gar nicht passiert dahier! Aber wie kann denn der Hund vor dem Fuchs ausfahren?« – »Weil er gebissen worden ist!« antwortete Kurt. – »Halt‘s Maul, Grünschnabel!« zürnte der auf sich selbst wilde Mann. – »Grünschnabel?‘‘ rief Kurt »Oho! Was liegt denn da drüben hinter dem Rotbuchenbusch?«
Die Leute sahen nach der angedeuteten Richtung.
»Der Fuchs! Weiß Gott, der Fuchs!« rief Ludwig.
Allerdings war es der Fuchs, den die übrigen beiden Dachsel am Fell zausten.
»Na, bin ich ein Grünschnabel?« fragte der Knabe. – »Du? Willst du ihn etwa geschossen haben? Geh fort Das ist der Franz oder der Ignaz dahier gewesen.«
Der Knabe antwortete nur dadurch, daß er den Kopf stolz in den Nacken warf und eine Patrone hervorzog, um den abgeschossenen Lauf wieder zu laden.
»Nein, ich war es nicht«, sagte Franz. »Ich habe gar nicht geschossen.« – »Ich auch nicht«, erklärte Ignaz.– »Alle Wetter, so ist es der Teufelsjunge wirklich gewesen!« rief Ludwig. »Aber Kerl, wie kommst du denn auf den Gedanken, dort hinüber zu zielen?« – »Weil ich hörte, daß der Fuchs da ausbrechen wollte, und weil ich gesagt habe, daß ich Euch den Hundeschuß überlassen würde.«
Der Jäger wurde vor Beschämung blutrot im Gesicht. Er hatte sich allerdings ganz gewaltig blamiert, abgesehen davon, daß ein guter und bewährter Jagdhund nun hin war.
»Aber der Fuchs konnte doch eigentlich gar nicht heraus«, entschuldigte er sich. »Das Loch war ja verstopft worden!« – »Aber nicht gut«, sagte Franz. »Da schau her. Das bißchen Reisig tut es nicht; der Fuchs hat ja hindurchblicken können.« – »Verdammter Fall dahier«, meinte Ludwig, indem er sich verdrießlich und beschämt hinter den Ohren kratzte. »Wie bringe ich es nun dem Herrn Hauptmann bei, daß ich die Waldina ermordet habe?« – »Sinne dir das selbst aus. Jetzt wollen wir uns vor allen Dingen den Fuchs ansehen.«
Die Männer traten hinzu und jagten die Hunde weg. Der Fuchs war ein altes Tier, ein erfahrener Schlaukopf, der jedenfalls schon öfter im Bau angegriffen worden war und ganz genau wußte, daß am Hauptloch der Tod auf ihn lauere. Er war so klug gewesen, die Verstopfung des Nebengangs mit der Schnauze fortzuschieben und dann auszubrechen. Die Kugel des Knaben war ihm quer durch den Kopf gegangen, was allerdings nicht dem sicheren Zielen, sondern nur allein dem Zufall zu verdanken war.
»Ja, es ist deine Kugel gewesen, Junge«, erklärte Ludwig. »Du bist ein Teufelskerl! Schießt dahier mit fünf Jahren einen Fuchs, während ich alter Knabe einen Hund umbringe. Na, Gott gnade mir, wenn es der Herr Hauptmann erfährt. Du aber, Junge, sollst deine Ehre haben. Komm her, ich werde dir den Bruch auf den Hut stecken.«
Der Bruch heißt nämlich in der Jägersprache ein belaubter Zweig, den man sich auf den Hut steckt, um anzuzeigen, daß man ein zur hohen Jagd gehöriges Wild geschossen habe. Ludwig brach einen Buchenzweig ab, an dem sich trotz des Winters noch die Blätter befanden, und griff nach Kurts Hut, um den Zweig daran zu stecken. Der Knabe aber trat mit trotzigem Gesicht zurück.
»Ich brauche den Bruch nicht«, erklärte er. »Du hast mir ja stets gesagt, daß der Bruch ein Ehrenzeichen ist.« – »Nun ja, das ist er auch dahier.« – »Aber ein solches Ehrenzeichen darf nur einer tragen, der auch Ehre im Leib hat.« – »Alle Teufel, ich begreife dich nicht. Ich hoffe doch, daß du Ehre im Leib hast, Kleiner. Oder nicht?« – »Hat einer Ehre, der sich ungestraft beleidigen läßt, he?«
Der kleine, fünfjährige Bube stand in einer Haltung da, als wolle er den Jäger auf die Mensur fordern.
»Ah, du bist beleidigt worden?« fragte Ludwig erstaunt. »Von wem denn dahier?« – »Von dir. Aber ich leide es nicht, ich lasse es nicht sitzen!« – »Ja, aber wie denn?« – »Hast du mich etwa nicht einen Grünschnabel genannt, he? Du, du! Der selber so schießt wie ein echter, richtiger Grünschnabel.«
Die anderen beiden wollten über diesen Zornesausbruch lachen, hielten ihre Heiterkeit aber zurück, als sie sahen, daß Ludwig ernst blieb. Ja, das Auge des Jägers glänzte sogar feucht; er war tief gerührt über das ehrenhafte, energische Auftreten seines Zöglings; er sagte sich ja, daß auch er sich einen Teil des Verdienstes zuzuschreiben habe, aus dem ungewöhnlich veranlagten Knaben einen tüchtigen Mann machen zu wollen. Daher trat er auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen, nahm den Hut vom Kopf und sagte mit vor Rührung unsicherer Stimme:
»Du bist ein tüchtiger Kerl, Kurt. Schau her. Ich nehme den Filz vor dir ab, mein Junge. Willst du mir den albernen Grünschnabel vergeben?«
Da glitt es sonnenhell über das offene Gesicht des Knaben, er schlug ein und antwortete:
»Ja, Ludwig. Komm her, ich gebe dir einen Kuß, denn ich habe dich lieb. Und nun sollst du mir auch den Bruch aufstecken.«
Das geschah, und Kurt setzte den Hut ungefähr mit derselben Miene auf, mit der sich ein Kaiser bei einer hohen Festlichkeit die Krone auf den Kopf setzt
»Und nun habe ich noch etwas«, sagte er. »Der Fuchs ist mein, den trage ich mir selbst nach Hause.« – »Oho, du bist zu klein und schwach dazu.« – Ich! Was fällt dir ein! Es darf ihn kein anderer tragen! Versteht ihr mich?«
Zum Beweis, daß er nicht zu schwach sei, faßte Kurt den Fuchs bei den Hinterläufen und hob ihn empor.
»Na gut wir wollen es versuchen«, erklärte Ludwig. »Du hast auch diese Auszeichnung verdient, und wenn er dir zu schwer wird, so nehmen wir ihn dir ab.« – »Daraus wird nichts!« erwiderte der Knabe. »Ich gehe allein nach Hause.« – »Das geht nicht mein Junge. Es ist zu weit« – »Bin ich etwa nicht hierher gelaufen? Oder denkst du, daß ich den Weg nicht kenne?« – »Du kennst ihn, Kleiner. Aber der Fuchs ist schwer, du bringst ihn nicht bis nach Hause.« – »So ruhe ich mich aus.« – »Hm«, brummte Ludwig, der recht gut begriff, weshalb der Knabe seinen Weg ganz allein gehen wolle. Er konnte ja dann seinen jagdstolzen Gedanken besser nachhängen und recht ungestört über den Triumph nachdenken, den er heute sich erworben hatte. »Hm. So ganz unrecht hast du nicht Na, wir wollen es versuchen. Mir ist es recht, wenn du allein gehst, dann können wir anderen inzwischen einen Gang nach der Krähenhütte machen. Ich will dir den Fuchs zusammenbinden und um die Schulter hängen. Ich freilich, Donnerwetter, ich habe die Ehre, die tote Waldina nach Hause zu schleppen und dann die Grabrede anzuhören, die ihr der Herr Hauptmann halten wird.«
Er band die vier Läufe des Fuchses zusammen, hing das Tier dem Knaben so über, daß es ihm nicht gar zu schwer werden konnte, und meine schmunzelnd:
»So, Junge, nun steig mit deinen Lorbeeren heim. Das ist dein erster Fuchs, den du geschossen hast, und ich hoffe, daß es mein letzter Bock ist. Zeit genug wäre es wahrlich dahier dazu.«
Ludwig nahm den toten Hund auf und schritt mit den Gefährten davon. Der Knabe stand da und blickte ihnen nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte, dann drehte er sich mit einem raschen Ruck um und schritt davon. Er kannte fast jeden einzelnen Baum und brauchte also keine Sorge zu tragen, irrezugehen. Er befand sich in einer so gehobenen Stimmung, daß er die Last des Fuchses fast gar nicht fühlte, obgleich ihm bereits nach kurzer Zeit der Schweiß von der Stirn herab über die Wangen lief. Es ging zwar langsam vorwärts, und als er die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, mußte er einmal ausruhen, aber das schadet ja nichts.
28. Kapitel
»Da glänzt auf saftig grünen Matten,
Umzwitschert von der Vöglein Chor,
In düsterreicher Bäume Schatten
Sein liebes Vaterhaus empor.
Und dort im Gärtchen, unter Reben,
In sanftem Schlummer hingelehnt,
Sitzt die, von Blütenduft umgeben,
Nach der er sich so heißt gesehnt.
D‘rum fühlt gestillt er all sein Sehnen,
Es klopft sein Herz vor Himmelslust,
Und unter tausend Freudentränen
Stürzt er sich an der Mutter Brust.«
Kurt hatte höchstens noch zehn Minuten zu gehen und war soeben im Begriff, aus einem Buchenstand heraus auf den freien Weg zu treten, da hörte er Schritte und stand bald vor einem Mann, der wie in Gedanken versunken den Weg dahergeschritten kam. Der Mann war fremd, er hatte eine ungewöhnlich hohe und stark gebaute Figur und trug einen langen Reisemantel. Kurt blieb stehen, blickte forschend an ihm empor und sagte streng:
»Halt! Was hast du hier zu suchen?«
Er hatte diese Frage oft gehört, wenn er mit Ludwig durch den Wald gestreift war und dieser irgendeinen Fremden oder eine Holzfrau getroffen hatte. Heute war zwar Ludwig nicht dabei, aber dieser Mann war ja fremd, und Kurt hatte einen Fuchs geschossen, war also nach seiner Meinung gerade ebensoviel wert wie Ludwig. Der Fremde blickte den Knaben erst erstaunt und dann mit einem herzlichen, wohlwollenden Lächeln an und antwortete:
»Sapperlot, wie hast du mich erschreckt Das klingt ja gerade, als ob du der Herr Oberförster seist!«
Der Knabe rückte den Fuchs zurecht stellte sich in eine imponierende Positur und erwiderte:
»Da fehlt auch nicht viel daran!« – »Oho!« – »Ja, es ist gerade so gut als ob dich der Herr Oberförster selber fragt. Was willst du hier?«
Das Lächeln des Fremden war jetzt bereits mehr bewundernd als wohlwollend. Er antwortete:
»Ich will nach Rheinswalden. Ist es noch weit bis dahin?« – »Nein, es ist gleich dort hinter den Eichen. Ich werde dich führen.« – »Schön. Soll ich dir dafür den Fuchs tragen?« – »Gott bewahre. Fällt mir gar nicht ein!« erklärte Kurt mit energischem Kopfschütteln. – »Aber er ist schwer.« – »Mir nicht.« – »Ja, ich sehe wohl, daß du stark bist. Wie alt bist du denn? Acht Jahre?« – »Acht? Nein, das fällt mir nicht ein. Fünf.« – »Fünf?« rief der Fremde erstaunt indem er die entwickelte Figur des Knaben betrachtete. »Das ist ja fast unmöglich.« – »Denkst du etwa, daß ich dich belüge?« fragte Kurt spitz. – »Nein. Aber, wahrhaftig, du hast ja ein Gewehr!« – »Natürlich!« antwortete der Knabe stolz. Und mit herablassender Miene fügte er hinzu: »Willst du es dir vielleicht einmal betrachten? Hier ist es. Aber nimm dich in acht es ist geladen!«
Der Fremde ergriff das Gewehr und meinte verwundert
»Ah, das ist ja ein richtiger, wirklicher Hinterlader, extra für deine Größe gefertigt« – »Nun freilich! Du dachtest wohl, es wäre nur so eine Spielflinte für kleine Jungens?« – Ja.« – »Na, da bist du dumm! Mit so einer Flinte kann man doch im Leben keinen Fuchs totschießen.« – »Du willst doch nicht etwa sagen, daß du diesen Fuchs geschossen hast« – »O ja, gerade das will ich sagen.« – »Du – du?!« fragte der Mann, jetzt in höchster Verwunderung. – »Freilich! Ich werde doch keinen Fuchs schleppen, den ich nicht selbst geschossen habe.« – »Aber, da bist du ja ein wahrhaftiger kleiner Held!«
Kurt nickte dem Fremden freundlich zu, das Wort gefiel ihm, der Mann hatte damit sein Herz gewonnen, und darum sagte er mit der Miene eines Gönners:
»Du willst wohl einige Zeit auf Rheinswalden bleiben?« – »Vielleicht.« – »Nun, dann kannst du einmal mit mir gehen. Ich werde dir zeigen, wie man einen Fuchs schießt.« – »Ich danke dir, du kleiner Mann!« entgegnete der Fremde. »Das sollst du allerdings tun, und ich werde dir dafür erzählen, wie man Bären, Büffel, Löwen, Tiger und Elefanten schießt.«
Da blieb der Knabe erstaunt stehen und fragte:
»Hast du solches Viehzeug geschossen?« – »Ja.« – »Hm, die Gestalt hast du dazu!« meinte Kurt darauf mit Kennermiene. »Ich weiß einen, der auch welche geschossen hat.« – »Wer ist das?« – »Der Herr Doktor Sternau.« – »Du kennst ihn?« – »Ja. Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber die Felle von den Löwen und Bären, die er geschossen hat, die habe ich gesehen. Sie liegen in der Wohnung der lieben Frau Sternau. Das ist seine Mutter, und die hat mir viel erzählt von seinen Jagden. Ich will auch einmal ein so berühmter Jäger werden wie er.« – »Meinst du? Ja, das Zeug dazu scheinst du zu haben.« – »Laß mich nur erst so groß werden, wie du bist! Ich kann schon reiten und schießen. Der Ludwig lehrt mich fechten und turnen; schwimmen lerne ich auch, wenn es warm wird. Aber, wenn du Frau Sternau einmal sehen willst, so kann ich sie dir sogleich zeigen.« – »Wo?« fragte der Fremde, indem er schnell nach der Richtung herumfuhr, die der ausgestreckte Arm des Knaben andeutete. – »Siehst du dort das Schloß und die vielen Glasscheiben, die nach dem Garten gehen?« – »Ja.« – »Das ist der Wintergarten. Siehst du auch die beiden Damen darin?« – »Ja.« – »Das ist Frau Sternau und Fräulein Helene Sternau. Sie winden einen Strauß zusammen, den der Herr Hauptmann alle Tage bekommt.«
Das Gesicht des Fremden glühte freudig auf, sein Auge hing an den beiden Frauengestalten, als er fragte:
»Gibt es hier nicht ein Pförtchen im Zaun?« – »Ja. Aber du bist ein Fremder, du solltest eigentlich durch das große Tor eintreten.« – »Aber ich will ja zu Frau Sternau.« – »Da mußt du dich anmelden lassen.« – »Sie kennt mich bereits.« – »Gut?« – »Oh, sehr gut.« – »Hm, das ist etwas anderes! Und weil du mir gefällst, so werde ich dir das Pförtchen zeigen.« – »So! Ich gefalle dir?« – »Ja«, antwortete der Knabe treuherzig. – »Du mir auch. Wie heißt du?« – »Kurt.« – »Ah, Kurt Helmers?« – Ja. Du kennst meinen Namen?« – »Ja, sehr gut Dein Vater ist Steuermann?« – »Wahrhaftig, du weißt auch das?« – »Frau Sternau hat es mir geschrieben. Aber komm schnell! Wo ist die Pforte?« – »Hier rechts, bloß noch zehn Schritt hin.«
Der Fremde eilte in der angegebenen Richtung fort, öffnete das Pförtchen und trat in den Garten. Er ging mit schnellen Schritten gerade auf den glasgedeckten Anbau zu, den der Knabe den Wintergarten genannt hatte. Die Außentür zu demselben war nicht verschlossen. Er öffnete und trat ein.
Zwischen einer Gruppe von hohen Blattpflanzen, Palmen und immergrünen Exoten, zwischen denen reife Wintertrauben und Limonen glänzten, saßen zwei Frauen, die man sofort als Mutter und Tochter erkannte. Sie waren beschäftigt, ein Bukett zu binden, und bildeten während dieser Arbeit und bei dieser Umgebung eine allerliebste Gruppe, auf der selbst das Auge eines Fremden mit Wohlgefallen ruhen mußte. Sie waren beide von feiner, schmächtiger Gestalt, und ihr ganzes Äußere machte sofort den Eindruck, daß man in ihnen mit Damen von feinster Geistes– und Gemütsbildung zu tun habe. Als sie die Tür gehen hörten, sahen sie auf und erhoben sich beim Anblick der hohen, stolzen Gestalt des Fremden. Frau Sternau trat einen Schritt vor und fragte:
»Mein Herr, Sie suchen …«
Doch mit dem einen jubelnden Wort »Mutter!« unterbrach der Fremde die Sprecherin, und schon stand er bei ihr, schloß sie in die Arme und küßte sie herzlich auf den Mund. Sie erbleichte vor freudigem Schreck, hing einige Augenblicke wie kraftlos in seinen Armen, ermannte sich jedoch schnell und rief:
»Karl! Ist‘s wahr? Mein Sohn, Oh, welche Überraschung!«
Er drückte sie mit der Rechten an sein Herz, streckte die Linke nach der Schwester aus und bat:
»Helene, Schwester, komm!« – »Mein Bruder!« frohlockte da das Mädchen mit freudeglänzendem Angesicht »Wir sprachen soeben von dir. Welche Freude, welch ein Glück! Wir glaubten dich ja weit weg in Spanien!« —, Ja, ich habe euch nicht geschrieben, ich wollte euch überraschen, es sollte das ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk werden.« – »Und das ist dir vollständig gelungen, mein lieber, lieber Sohn«, sagte die Mutter.
Sie schmiegten sich innig an ihn, küßten ihn von beiden Seiten auf Lippen und Wangen und bildeten mit ihm eine reizende, glückstrahlende Gruppe; er, der starke, hohe Mann, und sie, die schmächtigen Gestalten, denen man es nicht angesehen hätte, daß sie Mutter und Schwester von ihm seien.
Unterdessen war Kurt mit seinem Fuchs weitergegangen und durch das Tor in den Schloßhof getreten. Dort stand der Knecht, der die Ökonomie des Oberförsters führte.
»Ah, habt ihr ihn?« fragte er den Knaben, als er den Fuchs erblickte. – »Nein, ich habe ihn!« lautete die stolze, selbstbewußte Antwort. – »Du? Ja, das sehe ich! Wer hat ihn geschossen?« – »Die Großmagd!« antwortete Kurt, indem er mit der Miene eines beleidigten Dons oder Lords nach dem Eingang des Schlosses schritt und, in dem Bewußtsein, den Knecht nach Recht und Verdienst angedonnert und abgeblitzt zu haben, die Treppe emporstieg und an die Tür des Oberförsters klopfte.
»Herein!« knurrte es grimmig von innen.
Der Herr Hauptmann befand sich noch ganz in der Stimmung, in der ihn der großherzoglich-hessische Polizeikommissar verlassen hatte. Kurz trat ein, salutierte militärisch und sagte:
»Da ist der Kerl, Herr Hauptmann!«
Sofort klärte sich das Gesicht des Oberförsters auf. Er erhob sich, trat näher und rief:
»Ah, ein alter Kerl! Ein ganz alter, erfahrener Kerl! Er wird den Burschen zu schaffen gemacht haben.«
»Ja, den Burschen!« nickte Kurt lachend. – »Das sagst du in einem solchen Ton! Was bedeutet das?« – »Den Burschen hat er allerdings zu schaffen gemacht, mir aber nicht.« – »Dir nicht! Alle Teufel! Kerlchen, ich denke doch, daß er schwer ist!« – »Oh, Herr Hauptmann, er war leicht zu tragen und auch leicht zu schießen.« – »So hast du ihn vom Wald hereingeschleppt, Kleiner?« – »Ja.« – »Da soll doch der Teufel diese Faulenzer reiten! Hängen sie dem Jungen eine solche Last auf und trotteln faul daneben her!« zürnte Rodenstein. »Ich werde ihnen einen Marsch blasen, daß ihnen Hören und Sehen vergehen soll!«
Da trat Kurt einen Schritt vor und sagte:
»Nein, Herr Hauptmann, du wirst ihnen keinen Marsch blasen!« – »Nicht? Ah! Wer will mir das wehren, Patron?« – »Ich!« – »Du! Ja, du wärst mir das Kerlchen dazu! Wie willst du das denn eigentlich anfangen?« – »Ich habe sie gezwungen, mich den Fuchs tragen zu lassen!« – »Gezwungen? Ja, das ist auch etwas Rechtes, sich von einem solchen Knirps zwingen zu lassen!« – »Oho, Herr Hauptmann, ich bin kein Knirps! Und der Ludwig sagte auch, daß ich das Recht habe, den Fuchs nach Hause zu schaffen.« – »Ein Recht? Ein Recht hätte ja nur der zu beanspruchen, der ihn geschossen hat.« – »Das habe ich ja auch!« – »Du …?« fragte der Oberförster, indem er erstaunt einen Schritt zurückwich. – »Ja, hier mitten durch den Kopf.« – »Alle Teufel! Es wäre diesem Mordskerlchen allerdings zuzutrauen. Zeige einmal her.«
Er nahm dem Knaben den Fuchs ab, um sich die Schußwunde genau zu besehen.
»Wahrhaftig, er ist‘s gewesen!« rief er. »Das Loch ist klein, es war eine Kugel aus deinem Gewehr. Und mitten durch den Kopf! Kerl, du bist ja der reine Spitzbube! Komm her, ich nehme dich bei den Ohren und gebe dir einen Schmatz, der wie eine Haubitze knallen soll!«
Der Hauptmann nahm in seiner Freude den Knaben wirklich beim Kopf und küßte ihn herzhaft ab. Kurt ließ sich das mit einer Miene gefallen, als ob er ein heiliges Anrecht auf diese kraftvolle und anerkennende Liebkosung habe, doch benutzte er den ersten freien Augenblick, um zu sagen:
»Da bist du also mit mir zufrieden, Herr Hauptmann?« – »Ja, Wetterjunge, vollständig!« – »Nun, so kannst du mir auch den hübschen, kleinen Revolver geben, den du mir versprochen hast. Mit dem Gewehr hier kann ich nun schießen; ich muß es aber auch mit dem Revolver lernen.« – »Ja, Blitzkerl, du sollst ihn haben, und zwar sogleich.«
Damit öffnete der Hauptmann ein Schubfach seines Schreibtischs und zog ein Etui heraus.
»Da, nimm! Er ist sehr gut und auch fein – mit Silber ausgelegt. Hier hast du auch einen Vorrat von Patronen. Der Ludwig mag dir zeigen, wie er gehandhabt wird.«
Da faßte der Knabe den Oberförster bei den Ohren, zog seinen Kopf herab zu sich und gab ihm einige Küsse auf den Schnurrbart.
»Da hast du auch von mir einen Schmatz, Herr Hauptmann. Ich danke!« – »Junge«, rief der Hauptmann ganz gerührt, »du bist ja ein ganz und gar verteufelter Beelzebub! Du sollst noch etwas haben. Wünsche dir etwas.«
Der Knabe sann gar nicht lange nach, er sagte auf der Stelle:
»Gut, ich weiß etwas. Wirst du es auch tun?« – »Ja, wenn es gut für dich ist und keinem anderen schadet.« – »Gib mir dein Ehrenwort!« – »Donnerwetter, das klingt ja ganz ernsthaft! Kerl, du treibst mich aufs Notrecht. Es ist doch nicht etwa etwas Dummes oder Schlimmes?« – »Nein, du sollst nur jemandem etwas verzeihen.« – »Ah, hm! Da kommt wieder einmal das gute Herz zum Vorschein. Wer ist es denn?« – »Das sage ich erst, wenn ich dein Ehrenwort habe.« – »Kerl, du bist ein Pfiffikus! Na, schadet es jemandem, wenn ich verzeihe?« – »Nein.« – »Schön, so will ich dir mein Ehrenwort geben. Nun aber auch heraus mit der Bitte!« – »Höre, Herr Hauptmann, zanke nicht mit dem Ludwig wegen des Sauschusses, den er getan hat.«
Der Oberförster runzelte die Stirn.
»Einen Sauschuß hat er getan? Das glaube ich nicht. Er ist ein feiner Schütze.« – »Es ist aber doch wahr. Er sagte es selbst, daß es ein Sauschuß war.« – »Hm! Was hat er denn geschossen?« – »Den Hund.« – »Den Hund!« rief der Oberförster. »Alles will ich glauben, nur das nicht!« – »Ja, den Hund«, wiederholte der Knabe. »Die Waldina.« – »Die Waldina? Ah, wohl gar anstatt des Fuchses?« – »Ja.« – »Himmel, heiliges …! Ist das wahr, ist das möglich! Kerl, flunkere mich nicht etwa an!« – »Ich flunkere nicht, Herr Hauptmann. Also, du zankst ihn nicht aus?«
Der Oberförster schritt im höchsten Zorn im Zimmer auf und ab; er erging sich in den kräftigsten Weidmannsflüchen und Redensarten, beruhigte sich aber nach und nach und meinte dann:
»Junge, du hast mich überrumpelt, du hast mich geleimt, total geleimt! Ich sollte diesem Ludwig eigentlich ein Wetter auf den Hals puffen, daß ihm angst und bange würde, aber du hast mich überlistet, du hast mich von hinten herumgekriegt, und nun muß ich mein Wort halten. Ja, ich werde ihn nicht auszanken, aber du nimmst deinen Fuchs und packst dich auf der Stelle, daß du fortkommst! Ich mag dich nicht wiedersehen, niemals, in meinem ganzen Leben nicht. Ich danke für einen Buben, der mir erst den Revolver abschwatzt und hernach mich überlistet, daß mir die Augen übergehen. Marsch! Hinaus!«
Er stand mit seinem grimmigsten Gesicht da und deutete mit hoch erhobenem Arm nach der Tür. Kurt schob sehr gleichmütig den Revolver in die Tasche, hing sich den Fuchs wieder um, griff nach seinem Gewehr und sagte dann, indem er die hellen Augen furchtlos zu dem Oberförster erhob:
»Du denkst wohl, du machst mir angst, Herr Hauptmann? Oh, ich kenne dich, ich kenne dich.« – »Was, du kennst mich?« donnerte Rodenstein. »Nun, dann wirst du ja auch wissen, daß es alle mit dir ist, vollständig alle. Du bist falsch, ganz und gar falsch.« – »Nein, ich bin nicht falsch! Du kannst gewaltig räsonieren, aber das klingt nur, als ob man sich fürchten müßte. Ich mache mir nichts daraus, denn ich weiß etwas.« – »So! Nun, was weißt du denn?« – »Daß du mir gut bist.«
Das sagte Kurt mit einer solchen treuherzigen, aufrichtigen Miene, und dabei glänzte aus seinen offenen, ehrlichen Augen ein solcher Strahl von Liebe, daß sich der Oberförster zu ihm niederbeugte und ihn von neuem in seine Arme nahm.
»Schlingel, du hast recht. Trolle dich hinaus, sonst schwatzt du mir noch Dinge ab, die ich gar nicht verantworten kann.«
29. Kapitel
Der Oberförster schob den Knaben zur Tür hinaus und bemerkte dabei, daß draußen Helene Sternau soeben im Begriff stand anzuklopfen.
»Sie, Fräulein Helene?« sagte er. »Treten Sie ein. Was bringen Sie?« – »Zunächst Ihren Strauß und dann eine Bitte, Herr Hauptmann.« – »Ich danke. Also eine Bitte? Na, Sie wissen ja, daß ich Ihnen nichts abschlagen kann. Aber was ist denn das? Ihr Gesicht leuchtet ja, als hätte der heilige Christ noch einmal beschert.« – »Das hat er auch, mein bester Herr Hauptmann. Und darauf bezieht sich eben meine Bitte.« – »Nun, so bitten Sie einmal los!« – »Erlauben Sie der Mama, Ihnen meinen Bruder vorzustellen!«
»Ihren Bruder, den Herrn Doktor Sternau?« fragte er überrascht – »Ja.« – »So ist er nicht mehr in Spanien?« – »Nein. Er ist eben jetzt angekommen.« – »Alle Teufel! Ja, das stimmt«, sagte er langsam und nachdenklich. – »Wie?« fragte Helene. »Sie wissen bereits …« – »Nichts weiß ich, gar nichts«, entgegnete der Oberförster rasch, um seinen Fehler wiedergutzumachen. »Aber ich bitte, ihn mir zu bringen. Ich bin sehr begierig, ihn kennenzulernen.« – »Mama wird unterwegs sein, ich bin ihnen schnell vorausgegangen, um sie anzumelden. Ah, da klopfen sie. Darf ich öffnen, Herr Hauptmann?« – »Freilich, freilich!«
Helene öffnete die Tür, und Sternau trat mit seiner Mutter ein. Bei seinem Anblick zeigte sich ein offenes Erstaunen auf dem Gesicht des Oberförsters.
»Wie«, fragte er, »dieser Herr ist Doktor Sternau, Ihr Sohn, Frau Sternau?«
Über das feine Antlitz der Dame flog ein schnelles Rot, und es wäre wohl zwischen der Frage und ihrer Antwort eine Pause entstanden, wenn der Doktor nicht sofort das Wort ergriffen hätte.
»Allerdings bin ich es, Herr Hauptmann«, sagte er. »Ich kam vor kaum zehn Minuten an und beeile mich, Ihnen von ganzem Herzen Dank zu sagen für die vielen Beweise von Güte und Freundlichkeit, die Sie meiner Mutter und Schwester erwiesen haben.«
Der Oberförster hielt sein Auge noch immer erstaunt auf den Sprecher geheftet und erwiderte abwehrend:
»Schnickschnack! Frau Sternau ist es, der ich zu danken habe. Sie gibt sich Mühe, aus mir altem Einsiedler einen genießbaren Menschen zu machen, und dafür sind Sie mir doch keine Anerkennung schuldig. Übrigens sind wir ja verwandt, und so kann von Dank gar keine Rede sein. Nehmen Sie Platz und verzeihen Sie, daß ich Sie so überrascht betrachte. Ich habe mir von Ihnen eine so ganz andere Vorstellung gemacht.« – »Darf ich fragen, welche?« fragte Sternau, indem er sich zwischen Mutter und Schwester niederließ.
»Ich habe Sie mir gedacht als einen kleinen, schmächtig gebauten Mann mit feinen, geistreichen Gesichtszügen und einer goldenen Brille auf der Nase, nun aber …«
Der Oberförster hielt zögernd inne, denn die Fortsetzung seiner Rede wollte sich nicht finden. Sternau fiel lächelnd ein:
»Nun aber tritt so ein Goliath vor Sie, ein Goliath ohne Brille und ohne geistreiches …« – »Halt, halt, so war es nicht gemeint!« wehrte Rodenstein ab. »Nur um die Größe handelt es sich. Ich konnte mir nicht denken, daß so ein Enakssohn meine kleine Frau Sternau zur Mutter habe. Aber es ist mir um so lieber, einen Riesen in der Familie zu wissen. Sie sehen mir gar nicht so aus, als ob Sie einer Lappalie wegen in Ohnmacht fallen würden, und so will ich aufrichtig sein und Ihnen sagen, daß Sie mir bereits angemeldet worden sind.« – »Ah!« – »Ja, heute morgen.« – »Von wem?« – »Von der hochlöblichen Polizei.« – »Von der Polizei?« fragte Frau Sternau ängstlich. »Was hat die mit uns zu tun?« – »Oh, es war gar ein großherzoglich-hessischer Polizeikommissar, der mich fragte, ob ein Doktor Sternau bei mir wohne.«
Sternau nickte und sagte:
»Ich habe mir so etwas gedacht.« – »Wirklich?« fragte Rodenstein. »So gibt es also einen Grund für die Polizei, sich nach Ihnen zu erkundigen?«
Der Gefragte lächelte überlegen und antwortete: »Darf ich erfahren, ob dieser Herr Kommissar vielleicht einen solchen Grund angegeben hat?« – »Jawohl, sogar mehrere. Er sagte, Sie würden steckbrieflich verfolgt wegen Mordversuchs, Diebstahls, Mitgliedschaft bei einer Räuberbande und so weiter.« – »Herrgott, ich erschrecke!« rief die Schwester. – »Das ist ja unmöglich!« meinte die Mutter. »Kannst du das erklären, mein Sohn?« – »Ja, meine Mutter«, antwortete Sternau. »Vorher aber erlaube ich mir, den Herrn Hauptmann nach der Antwort zu fragen, die er dem Mann von der Polizei gegeben hat« – »Oh, diese Antwort war die allerdeutlichste, die er erhalten konnte, ich habe ihn einfach hinauswerfen lassen.« – »Wirklich?« – »Ja, buchstäblich. Ich konnte mir nicht denken, daß Doktor Sternau, von dem ich so viel Rühmliches gehört und gelesen habe, Mitglied einer Räuberbande sei; auch jetzt, da ich Sie persönlich vor mir habe, bin ich vollständig überzeugt, daß meine Meinung die richtige ist, und so habe ich diesen Menschen, der mich übrigens hochmütig und von oben herab behandelte und sogar den Gruß vergaß, durch meinen guten Ludwig – alle Teufel, er hat aber heute einen wahren Sauschuß getan – zur Tür hinaus – und buchstäblich zur Treppe hinabwerfen lassen.«
Da streckte Sternau ihm die Hand entgegen und sagte:
»Ich danke Ihnen, Herr Hauptmann! Sie haben recht gehandelt Ich hatte noch nicht Zeit mit Mutter und Schwester über diese Angelegenheit zu sprechen, Sie selbst mußten auch von ihr unterrichtet werden, und so wartete ich diesen Augenblick ab, um alle dabei Interessierten zu gleicher Zeit aufzuklären. Haben Sie eine Viertelstunde der Muße für uns übrig?« – »Zehn Stunden und auch zwanzig, Herr Doktor! Sprechen Sie getrost!« – »Nun, es ist wahrlich ein Roman, den ich Ihnen zu erzählen habe, ein Roman, wie man ihn nicht oft zu lesen bekommt Hören Sie: Ich werde höchstwahrscheinlich die Tochter eines spanischen Grafen heiraten.« – »Donnerwetter!« rief der Hauptmann. – »Karl!« rief die Mutter. – »Du scherzt!« rief die Schwester. – »Hört!« bat der Doktor.»Ich machte in Paris die Bekanntschaft einer Dame von solcher Schönheit Geistesbildung und Herzensgüte, daß ich in heißer Liebe zu ihr entbrannte. Auch sie liebte mich, und doch gestand sie mir, daß wir einander nie angehören könnten.« – »Albernheit!« fiel der Hauptmann ein. »Man heiratet, wen man lieb hat!«
Sternau fuhr, ohne auf diese kräftige Bemerkung einzugehen, fort:
»Bald darauf war sie abgereist. Da, nach langer Zeit, erhalte ich einen Ruf von ihr, nach Rodriganda in Spanien zu kommen und ihren schwerkranken Vater in Behandlung zu nehmen. Er war blind und litt zu gleicher Zeit an einem lebensgefährlichen Steinübel. Ich eilte zu ihr und fand ihn unter der Behandlung von Ärzten, von denen ich überzeugt bin, daß sie bestochen waren, ihn tot zu kurieren.« – »Die soll der Teufel holen!« rief der Hauptmann. – »Ich jagte sie allerdings zum Teufel«, sagte Sternau. – »Und machten den Grafen gesund?« – »Ja. Ich operierte den Stein und die Augen, er wurde wieder sehen.« – »Nun, so ist die Geschichte ja abgemacht! Wenn Sie dem Grafen das Leben retten und das Licht der Augen wiedergeben, so ist es ja gar nicht anders zu erwarten, als daß er Ihnen seine Tochter zur Frau gibt!« – »Er hätte es ganz sicher getan; aber er konnte nicht. Hören Sie weiter!«
Sternau erzählte nunmehr in ausführlicher Weise seine Erlebnisse, berichtete von seinen Gedanken, erklärte die allerdings oft sehr kühnen Schlüsse, die er gezogen hatte, und fesselte durch diesen Bericht so sehr, daß sogar der Hauptmann vergaß, mit seinen beliebten Kraftwörtern dreinzufahren. Am Ende aber wuchs die Entrüstung desselben doch so hoch, daß er sich nicht mehr halten konnte. Er sprang auf, rannte mit langen Schritten in der Stube umher und rief:
»Herrgott, welch eine Gesellschaft von Kanaillen und Halunken! Hätte ich sie da, oh, hätte ich sie nur da! Ich schnitte ihnen die Hälse ab, ich köpfte sie, ich hinge sie alle miteinander verkehrt auf! So sind Sie also über die Grenze gekommen?« – »Ja. Ich ging von da zunächst schleunigst nach Paris, um mich dem Gesandten vorzustellen, ihm alles zu erzählen und um seinen Schutz zu bitten.« – »Tat er es?« – »Ja. Er war auch dabei, als ich die größten Kapazitäten des Irrenwesens versammelte, um ihnen den Fall vorzutragen und die Gräfin vorzustellen, und gab mir hinreichende Winke darüber, was ich in Deutschland zu tun habe, um mich gegen Nachstellungen wehren zu können und das Erbe der Gräfin zu schützen.« – »Und diese selbst? Wo ist sie? Ist sie noch krank? Reden Sie, Doktor!« – »Sobald ich die deutsche Grenze überschritt, ergriff ich die Maßregeln, zu denen mir der Gesandte geraten hatte. Ich erstattete nach Spanien Anzeige über die verübten Verbrechen, ich sprach in Köln mit einem der berühmtesten Juristen Deutschlands, der mir die Versicherung gab, daß das reiche Erbe der Gräfin sicher ausgezahlt werde, sobald es nur gelinge, sie von ihrem Irrsinn zu heilen. Dann reiste ich mit ihr und den beiden treuen Begleitern nach Mainz, wo ich sie im Hotel zurückließ, um zunächst die Mutter und die Schwester aufzusuchen.« – »In Mainz sind sie?« fragte der Hauptmann ganz begeistert. »Alle Wetter, warum denn in Mainz? Habe ich etwa kein Herz, he? Habe ich keine Zimmer und keinen Bissen Brot für solche Leute, he? Wenn Sie nicht sofort nach Mainz fahren und sie mir nach Rheinswalden bringen, so gehe ich auf der Stelle selbst und heirate Ihnen die Millionen-Gräfin vor der Nase weg; darauf können Sie sich verlassen! Haben Sie Gepäck mit?« – »Ja.« – »Viel? Geht es auf einen Wagen?« – »Es wird wohl gehen.«
Da riß der Hauptmann das Fenster auf und rief in den Hof hinab:
Heinrich, spanne zwei Kutschen an und einen Leiterwagen! In einer Viertelstunde geht‘s nach Mainz!« – »Aber, Herr Hauptmann«, sagte Sternau, »Ich muß aufrichtig …« – »Papperlapapp!« unterbrach der Oberförster ihn. »Hier bin ich Herr im Hause! Machen wir die Sache kurz: Haben Sie sich bereits entschlossen, wohin Sie die Gräfin bringen wollen?« – »Nein.« – »Ist Ihnen meine Oberförsterei gut genug oder nicht?« – »Von nicht gut genug kann ja gar keine Rede sein; ich denke nur …« – »So! Was denken Sie denn nur, he?« – »Daß wir Ihnen beschwerlich fallen …« – »Bleiben Sie mit Ihrem ›beschwerlich‹ zu Hause! Sie ziehen nach Rheinswalden, und zwar noch heute, abgemacht! Sie, die Gräfin und Alimpo mit seiner Frau Elvira sind vier Personen – eine Kutsche; ich Frau und Fräulein Sternau sind drei Personen – die zweite Kutsche; wir haben also vollständig Platz und fahren mit Basta! Die Fremdenzimmer sind stets in Ordnung. Was ja noch zu tun sein könnte, das kann getan werden, während Heinrich anspannt. Und nun, meine liebe Frau Sternau, sorgen Sie zu allernächst dafür, daß der Herr Doktor und Cousin etwas zu essen bekommt. Gehen Sie, denn ich brauche Sie jetzt nicht mehr. Ich habe da mein altes Arbeiterwams an und muß mich in einen anderen Gottfried stecken. Sie sehen, Cousin, daß ich es ehrlich meine und nicht viel Federlesens mache; ich hoffe, daß Sie es ganz ebenso mit mir halten; dann werden wir auf das prachtvollste miteinander auskommen.«
Nach einiger Zeit fuhren zwei elegant bespannte Kutschen zum Tor hinaus, und hinterher folgte ein leere Leiterwagen. Es ging im Galopp nach Mainz, wo vor dem Portal zum Hotel »Englischer Hof gehalten wurde. Die Zahl der herbeieilenden Kellner und Bediensteten bewies, welchen Eindruck Doktor Sternau während seines kaum eine Stunde währenden Aufenthalts im Hotel bereits gemacht hatte. Die Insassen der Wagen stiegen aus und begaben sich nach den Zimmern, die Sternau in Beschlag genommen hatte. In dem ersten derselben trafen sie den Kastellan mit seiner Frau.
»Ah, das ist Mosje Alimpo mit seiner guten Elvira?« fragte der Hauptmann, als er die Eheleute erblickte.
Der Kastellan hörte die beiden Namen und schloß daraus, daß die Rede von ihnen sei, er machte daher eine tief Verbeugung und erwiderte:
»Mira! Yo soi Juan Alimpo é está ma buena Elvira – siehe da, ich bin Juan Alimpo, und diese ist meine gute Elvira!« – »Ah, sapperment, nun kann ich kein Wort spanisch reden«, sagte der Hauptmann. »Daran habe ich noch nicht gedacht!« – »Nun, so sprechen Sie vielleicht etwas französisch?« fragte Sternau. – »Zur Not!« – »So können Sie sich mit diesen beiden Leuten zur Genüge verständlich machen. Sie sprechen beide leidlich französisch. Aber bitte, treten wir ein!«
Sternau öffnete das Nebenzimmer, und der Anblick, der sich ihnen hier bot, war geeignet, sie alle mit tiefster Rührung zu erfüllen.
An dem Sofa, vor das man vorsorglicherweise ein weiches Kissen gelegt hatte, kniete Rosa. Sie hatte die weißen, zarten Hände gefaltet und blickte, während ihre jetzt blutleeren Lippen sich unhörbar bewegten, betend nach oben. Ihr eingesunkenes Gesicht war von einer überirdischen, geisterhaften Schönheit. Man sah es ihm an, wie hinreißend und bezaubernd sein Ausdruck gewesen sein müsse, als noch der Geist diese engelreinen Züge bewohnte und beherrschte.
»Wie schön!« flüsterte bezaubert der Hauptmann. »Oh, man müßte diese Halunken alle lebendig spießen und braten! Sie soll es bei mir haben wie im Himmel!« – »O mein Gott«, sagte Frau Sternau, indem ihr die Tränen in die Augen traten. »Du armes, armes Kind! Beten wir zu Gott, daß er ihr noch Hilfe sende!«
Helene sagte nichts. Sie eilte zum Sofa, kniete neben Rosa nieder, umschlang sie liebevoll mit den Armen und weinte. Auch die Mutter trat hinzu. Die beiden Frauen richteten die Kranke empor und setzten sie auf das Sofa; sofort aber glitt sie wieder in ihre betende Stellung auf das Kissen nieder.
»Und Sie haben das Mittel noch nicht versucht?« fragte der Hauptmann. – »Nein«, antwortete Sternau. – »Warum nicht?« – »Es fehlte mir in Paris und unterwegs die passende Umgebung und die notwendige Pflege.« – »Und Sie hoffen, daß es hilft?« – »Ich hoffe es, obgleich das Gift nun vollständig durch ihren Körper verbreitet ist. Ich werde morgen sofort die Behandlung beginnen.« – »Wissen Sie, worüber ich mich königlich freue, Doktor?« – »Nun.« – »Darüber, daß Sie das Gegengift gerade von diesem Cortejo genommen haben. Er muß in diesen wenigen Minuten fürchterlich gelitten haben.« – »Es gibt keine größere, keine furchtbarere Pein, keinen wütenderen Schmerz, als bis zum Schäumen gekitzelt zu werden. Er wird diese Augenblicke niemals vergessen können. Aber ich denke, wir brechen auf, Herr Hauptmann.« – »Ja. Sie setzen sich mit der Gräfin und Ihrer Mutter und Schwester in den einen Wagen, und ich werde in dem anderen mir Mühe geben, mit Alimpo und Elvira meine drei übriggebliebenen Worte französisch zu radebrechen. Kommen Sie!«
Die Effekten, die Sternau mitgebracht hatte, wurden auf den Leiterwagen verladen; der Hauptmann berichtigte die Zeche; man stieg auf und fuhr vom Hotel ab. Eben fuhren sie durch eine der Hauptstraßen, da gab der Hauptmann seinem Kutscher ein Zeichen, neben dem Wagen Sternaus zu fahren. Auf diese Weise konnte er mit ihm sprechen.
»Cousin«, sagte er, »blicken Sie einmal rechts hinüber nach dem Trottoir. Sehen Sie den Menschen mit dem grauen Überrock?« – »Mit dem Regenschirm unter dem Arm?« – »Ja.« – »Wer ist es?« – »Der großherzoglich-hessische Polizeikommissar.« – »Ah, den muß ich mir genauer anschauen.« – »Er wird uns natürlich bemerken, und ich möchte wetten, daß wir ihn nun bald wieder auf der Oberförsterei sehen, denn er wird daraus schließen, daß Sie der erwartete Doktor Sternau sind.«
Wirklich blieb der Mann, als sie an ihm vorüber fuhren, stehen. Er rückte die Brille zurecht, und als sie an ihm vorüber waren, drehte er sich mit einem höhnischen Lachen um und eilte der Gegend zu, wo die Amts– und Gerichtsgebäude lagen.
Sie aber fuhren, unbekümmert um ihn, weiter und langten nach kurzer Zeit auf Rheinswalden an, wo ihre Zimmer in bester Ordnung auf sie warteten, denn Sternaus Mutter hatte Frau Helmers den Auftrag gegeben, alles auf die Ankunft der Gäste gehörig vorzubereiten.
Der Schluß des Tages wurde benutzt sich einzurichten, und am Abend saßen die Freunde beisammen, um die spanischen Abenteuer ausführlicher zu besprechen, als es beim ersten Mal möglich gewesen war. Dabei fehlten Alimpo und Elvira, denn diese saßen im Vorzimmer der Gräfin, und bei ihnen war der kleine Kurt, der sehr schnell ein außerordentliches Wohlgefallen an den beiden gewonnen hatte. Er hatte bereits längere Zeit von dem Rheinswaldener Lehrer etwas Unterricht im Französischen erhalten und freute sich königlich, in dieser Sprache mit Alimpo und dessen Frau reden zu können.
30. Kapitel
Man ging erst sehr spät schlafen und stand infolgedessen am anderen Morgen nicht sehr früh auf. Der Hauptmann war der erste, der auf dem Schloßhof erschien. Er fand Ludwig mit dem Füttern der Hunde beschäftigt und trat näher.
»Eins – zwei – vier– sechs – sieben – acht Hunde«, zählte er. »Es fehlt ja einer!«
Ludwig stellte sich in militärische Positur.
»Herr Hauptmann, es ist – ich – ich …!«
Es war ihm so himmelangst zumute, daß ihm der Satz im Mund steckenblieb.
»Nun, was ist‘s?« fragte Rodenstein in strengem Ton. – »Ich – es – es fehlt einer!« – »Das habe ich bereits gesehen! Welcher denn?« – »Die Waldina.« – »Wo ist sie?« – »Sie ist – hm, sie ist – tot.« – »Tot? Bist du gescheit?« – »Ja, sie ist tot, Herr Hauptmann.«
Die dicken Schweißtropfen standen Ludwig auf der Stirn. Es war ihm, als ob er gerädert werden solle.
»Tot? Donnerwetter! Woran ist sie denn gestorben? Sie war ja gesund!« – »Sie ist – sie hat …« – »Nun, was hat sie denn? Hat sie sich etwa überfressen?« – »Ja, das hat sie, Herr Hauptmann.« – »Sapperlot! Woran hat sie sich denn überfressen?«
Die Stirn des Oberförsters legte sich in drohende Falten, denn er glaubte, daß Ludwig ihn belügen wolle.
»An – einer – an einer Kugel, Herr Hauptmann«, lautete jedoch die Antwort.
Da verzogen sich die Falten langsam wieder, und der Oberförster sagte:
»Dummer Schnack! Ein Hund frißt doch keine Kugeln!« – »So stirbt er an dem Gras, in das er beißen muß. Herr Hauptmann, ich bin ein Esel!« – »Das merke ich bald.« – »Ja, ein großer Ochse und Esel, vielleicht gar ein Rhinozeros! Denn die Kugel war von mir.« – »Der Teufel mag dich verstehen! Rede doch deutlicher!« – »Es will nicht heraus, aber es muß. Ich habe die Waldina gestern erschossen.« – »Alle tausend Granaten! Warum denn? War sie vielleicht plötzlich toll geworden? – »Nein, sondern ich war toll, ich hatte die Hundswut; darum schoß ich auf den Hund, anstatt auf den Fuchs. Der Teufel soll mich holen, wenn ich das begreife!« – »Ja, der alte Jäger erschoß den Hund, und der kleine Junge erlegte unterdessen den Fuchs.« – »So wissen Sie es schon, Herr Hauptmann? Ja, es war ein Sauschuß. Ich bin meiner Seele nichts anderes wert, als daß Sie mich aus dem Dienst jagen.« – »Das wäre auch geschehen, Dummkopf, aber ich habe mein Ehrenwort gegeben, daß ich dich nicht einmal auszanken will.« – »Ah! Wem haben Sie es gegeben, Herr Hauptmann?« – »Dem Kurt.« – »Dem Kurt? Alle Wetter, das ist doch ein braver Junge dahier! Das werde ich ihm nicht vergessen!« – »Das hoffe ich auch. Er konnte sich etwas anderes erbitten, aber er dachte nur daran, dir den Denkzettel zu ersparen, den du verdient hattest. Wo ist die Waldina?« – »Ich habe sie im Garten begraben, mit allen Ehren, Herr Hauptmann; sie war es wert dahier.«
Rodenstein hätte den Jäger gern noch ein wenig geängstigt, wurde aber unterbrochen, denn es kam ein Wagen auf den Hof gefahren, und in demselben saßen – der Polizeikommissar und drei Gendarmen, die ihre Gewehre bei sich trugen und sich auf den Transport eines Gefangenen vorbereitet zu haben schienen. Er wandte sich daher ab und ging, ohne sie zu beachten, nach seinem Zimmer. Er wußte ja, daß sie zu ihm kommen würden; sie waren ihm gewiß. Nach kurzer Zeit trat Ludwig bei ihm ein, um den Kommissar zu melden.
»Er mag hereinkommen«; sagte der Oberförster. »Wo sind die Gendarmen?« – »Sie halten die Ausgänge besetzt, Herr Hauptmann.« – »Ah! Schön! Warte draußen vor der Tür!«
Der Jäger ging und ließ den Kommissar herein.
»Besten guten Morgen, Herr Oberförster!« grüßte jener mit höhnischer Höflichkeit – »Guten Morgen«, antwortete dieser höflich. »Sehen Sie, was eine gute Lehre zu bedeuten hat. Sie haben bereits ganz hübsch grüßen gelernt. Fahren Sie nur so weiter fort, Männchen!« – »Vielleicht gebe ich Ihnen heute auch eine Lehre!« – »Soll mich freuen. Ob ich sie aber befolgen werde, das wird sich doch erst noch zeigen müssen.« – »Ich bin bereits überzeugt, daß Sie sie befolgen werden. Erlauben Sie mir zunächst die Frage, ob Sie mich heute wirklich mit Hunden vom Schloß forthetzen lassen werden?« – »Ja, ganz sicher, wenn Sie sich nicht legitimieren können!« – »Ich habe für eine genügende Legitimation gesorgt. Hier, wollen Sie dieselbe lesen!«
Der Kommissar zog ein Papier hervor, das er dem Hauptmann zusammengeschlagen hinreichte.
»Ah, ich bin Ihr Diener nicht, Männchen. Machen Sie das Ding gefälligst selber auf.«
Der Polizist öffnete, und nun las der Oberförster den Inhalt.
»Schön«, sagte er. »Das gilt; das ist vom Staatsanwalt. Er bittet mich darin, Ihnen Auskunft zu geben und allen Vorschub zu leisten.« – »Sie werden das tun?« – »Ja, allen Vorschub, aber keinen Vorspann, allenfalls aber einige Nachhilfe. Was wollen Sie?« – »Ist Doktor Sternau hier?« – »Ja.« – »Wann ist er gekommen?« – »Gestern. Sie haben ihn ja gesehen.« – »Hat er irgendwelche Personen mitgebracht?« – »Hm, einen gewissen Alimpo.« – »Wen noch?« – »Eine gewisse Elvira.« – »Und weiter?« – »Eine gewisse Rosa oder Rosaura oder Rosetta, ich weiß den Namen nicht genau.« – »War die Dame eine Gräfin?« – »Eine Gräfin? Alle Wetter, wäre denn diese Elvira eine Gräfin? Dazu ist sie mir zu dick.« – »Sie müssen das ja wissen.« – »Eigentlich ja. Oder sollte etwa Alimpo eine Gräfin sein? Sie sprachen von einer Räuberbande, da ist es sehr leicht möglich, daß Alimpo eine verkleidete Gräfin ist, die darauf ausgeht, mich zu heiraten und dann gehörig auszurauben. Das wäre ja gräßlich! Donnerwetter!« – »Herr Oberförster, ich will nicht hoffen, daß Sie Ihren Scherz mit mir treiben wollen«, sagte der Polizist mit strenger Miene. »Ich müßte mir das unbedingt verbitten.« – »Keine Sorge, Männchen. Seit ich weiß, wer Sie sind, ist es mir dieser verdammten Räuberbande wegen ganz ernsthaft zumute.« – »Hatten sie viele Effekten mit?« – »Der Tausend, ich bin ihre Kammerzofe nicht, daß ich mich um solchen Krimskrams bekümmere. Übrigens steht zwar hier, daß ich Ihnen Vorschub leisten soll, aber daß ich mir ein Verhör gefallen zu lassen habe, davon lese ich nichts. Ich werde mir da anders helfen – Ludwig!«
Auf diesen Ruf trat der Jäger ein, der einen höchst unliebenswürdigen Blick auf den Kommissar warf.
»Bitte einmal den Herrn Doktor Sternau zu mir. Sage ihm, daß ein Polizist hier sei, der mit ihm zu reden habe. Aber schnell!« – »Zu Befehl, Herr Hauptmann!«
Als der Jäger verschwunden war, meinte der Kommissar in strengem Ton:
»Herr Oberförster, ich muß sehr bitten, die Höflichkeit nicht aus dem Auge zu lassen! Ich bin Polizeikommissarius!« – »Pah. Sie sind alle Polizisten, vom Polizeimeister an bis herab zum Nachtwächter und Schotenhüter. Zu welcher Sorte Sie gehören, das geht mich ganz und gar nichts an.« – »Sie sagen immer ›Männchen‹ zu mir.« – »Das ist eine gutgemeinte Zärtlichkeitsform. Oder soll ich Sie lieber ›Weibchen‹ nennen, he? Ich sage auch ›Männchen‹ deshalb, weil Sie nicht gerade ein Riese sind. Zu einem ordentlichen Mann gehört eine ganz andere Persönlichkeit So eine werden Sie gleich sehen. Da hier!«
Die Tür ging auf, und Sternau trat ein. Er grüßte den Hauptmann mit einem freundlichen Händedruck, den Polizisten aber nur mit einem kalten Blick.
»Sie ließen mich rufen?« fragte er. – »Ja, dieses Männchen will mit Ihnen sprechen.« – »Wer ist es?«
Der Hauptmann wollte antworten, der Polizist aber kam ihm schnell zuvor und sagte:
»Ich bin großherzoglich-hessischer Polizeikommissarius.« – »Können Sie sich als solchen legitimieren?« – »Ich habe es bereits gegen den Herrn Oberförster getan.« – »Ist er es wirklich, Cousin?« – »Es scheint so«, antwortete dieser in einem sehr geringschätzenden Ton. – »Nun, was will der Herr von mir?« – »Sie sind der Doktor Sternau?« fragte der Kommissar. – »Wollen Sie die Güte haben, Ihre Frage in der rechten Weise zu wiederholen, Herr Kommissar!«
Bei diesen Worten richtete Sternau seine Gestalt hoch auf, und seine großen Augen hefteten sich so fest auf den Polizisten, daß dieser das fehlende Wort sofort ergänzte:
»Sie sind Herr Doktor Sternau?« – »Ja, der bin ich.« – »Sie kommen aus Spanien, wohnten beim Grafen Rodriganda und fesselten einen gewissen Gasparino Cortejo?« – »Ja.« – »Sie nahmen die Tochter des Grafen mit nach Deutschland, erhielten die Unterstützung von Räubern, als Sie auf der Flucht ergriffen werden sollten, und entsprangen aus dem Gefängnis von Barcelona?« – Ja.« – »Diese Geständnisse genügen vollkommen. Sie sind mein Gefangener, Herr Sternau!« – »Ich füge mich!« – »Was?« fragte der Hauptmann verwundert. »Sie fügen sich, Cousin?« – »Ja«, lächelte der Gefragte. – »Ich werde zunächst Ihre Effekten durchsuchen«, meinte der Kommissar. – »Ich glaube nicht, daß der Herr Hauptmann als Besitzer dieses Hauses und als mein Gastfreund Ihnen dieses gestatten wird.« – »Der Teufel soll mich holen, wenn ich es erlaube!« rief der Hauptmann. – »Ich muß mir jede Widersetzlichkeit verbitten!« warnte der Polizist. – »Und ich mir jede Überschreitung Ihrer Befugnisse. Sie scheinen von einem außerordentlichen Vorurteil gegen mich befangen zu sein, und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Sie zur Verantwortung ziehen werde!«
Diese Worte und der Ton, in dem sie von Sternau gesprochen wurden, machten einen sichtlichen Eindruck auf den Kommissar. Er verbeugte sich sehr höflich und sagte:
»Ich habe nur meine Pflicht zu tun!« – »Untersuchen wir diese Pflicht einmal gewissenhaft!« versetzte Sternau. »Sie haben dem Herrn Hauptmann gestern an dieser Stelle mitgeteilt, daß ich von Spanien aus steckbrieflich verfolgt werde. Wollen Sie die Güte haben, mir einen dieser Steckbriefe vorzuzeigen?« – »Ich – trage keinen bei mir«, antwortete der Gefragte. – »Haben Sie einen dieser Steckbriefe gelesen?« – »Ich – ich habe mich darüber hier nicht auszusprechen.« – »Gut. Ich sehe, wie die Sache liegt. Sie haben dem Herrn Hauptmann die Unwahrheit gesagt. Von einer steckbrieflichen Verfolgung ist gar keine Rede. Man weiß in Rodriganda, daß ich aus Mainz bin, und es ist der Wunsch ausgesprochen, Recherchen nach mir anzustellen. Wie Sie daraus meine Arretur und eine Haussuchung herleiten wollen, ist mir unverständlich. Was meine Person betrifft, so weigere ich mich nicht, mich Ihnen zur Verfügung zu stellen, natürlich unter dem Vorbehalt, daß Sie die Verantwortung Ihres Verhaltens tragen. Was das übrige betrifft, so muß ich mich gegen jede Haussuchung verwahren. Dieses Haus birgt eine schwer geisteskranke Dame, die Gräfin Rodriganda, von der ich jede Störung oder Aufregung streng fernhalten muß. Ich bin Arzt und weiß zu vertreten, was ich sage. Nicht Sie, sondern der Staatsanwalt hat die Untersuchung zu führen, wenn eine solche für nötig gehalten werden sollte; ich begleite Sie zu ihm; alles Weitere verbitte ich mir!« —
»Und ich«, meinte der Hauptmann, »werde jeden niederschießen, der es wagt, ohne meine Erlaubnis eins meiner Zimmer zu betreten, gleichviel, ob er Kommissar oder Gendarm ist!«
Der Polizist, der sich zwei Männern gegenübersah, mit denen nicht zu scherzen war, beschloß die Saiten nicht zu hoch zu spannen, und fragte daher:
»Sie werden mich also zum Herrn Staatsanwalt begleiten?« – »Ja.« – »So bitte ich, mir nach meinem Wagen zu folgen.« – »Das werde ich allerdings nicht tun«, entgegnete Sternau. »Ich bin kein Raubmörder, der unter eine solche Bedeckung zu nehmen ist Der Herr Hauptmann wird mir wohl einen Wagen zur Verfügung stellen. Sie können mir mit dem Ihrigen folgen, um mich nicht aus dem Auge zu verlieren.« – »Ja, Cousin, ich lasse sofort anspannen«, erklärte der Oberförster. »Ich fahre selbst mit. Der Staatsanwalt ist ein guter Bekannter von mir. Ich werde doch sehen, ob er uns fressen wird.«
So geschah es. Es wurde angespannt und dann rollten die beiden Wagen auf der Straße nach Mainz dahin. Dort fuhren sie nach dem Gerichtsgebäude, wo der Kommissar sich mit Sternau bei dem Staatsanwalt melden ließ. Der Hauptmann trat eigenmächtig mit ein.
Der Anwalt erhob sich bei dem Eintritt der drei Männer.
»Hier ist Sternau«, sagte der Kommissar in dienstlichem Ton. – »Schön«, meinte der Anwalt. »Ah, Herr Hauptmann, was gibt mir das Vergnügen, auch Sie hier zu sehen?« – »Ich komme mit um Ihnen meinen Cousin, den Herrn Doktor Sternau, etwas anders vorzustellen, als nur mit den Worten: Hier ist Sternau.«
Der Anwalt konnte ein verlegenes Lächeln nicht ganz verbergen. Er verbeugte sich vor dem Doktor und sagte in verbindlichem Ton:
»Ich gestehe aufrichtig, daß es mir lieb gewesen sein würde, Ihre Bekanntschaft an einem anderen Ort gemacht zu haben, hoffe jedoch, daß hier ein Mißverständnis vorliegt, das sich leicht aufklären läßt« – »Ich bin überzeugt davon, Herr Anwalt«, antwortete Sternau, »und bitte nur, diese Papiere und Dokumente einer freundlichen Durchsicht zu unterwerfen.«
Mit diesen Worten zog er sein Portefeuille und legte dem Beamten eine Reihe von Papieren vor. Dieser bat die beiden Herren, sich niederzusetzen, was sie auch taten, und begann dann die Durchsicht. Seine Miene nahm von Minute zu Minute eine immer größere Spannung an, er warf zuweilen einen erstaunten oder forschenden Blick auf Sternau und sprang zuletzt ganz plötzlich empor und rief:
»Aber das ist ja ganz außerordentlich, Herr Doktor, Sie besitzen Empfehlungen und stehen unter Protektionen, denen sich Ihr ärgster Feind fügen müßte. Hier meine Hand. Lassen Sie uns Freunde sein und beehren Sie mich mit der Erlaubnis, Ihnen in dieser wunderbaren Angelegenheit meine Hilfe anbieten zu dürfen.«
Sternau nahm die dargebotene Hand an und erwiderte:
»Ich wußte, daß ich es mit einem Ehrenmann zu tun hatte. Ja, lassen Sie uns Freunde sein, und versagen Sie mir Ihren Rat nicht, wenn ich dessen bedürfen sollte.«
Der Kommissar stand ganz verblüfft dabei. Der Anwalt wandte sich jetzt streng an ihn:
»Herr, Sie haben da wieder einmal einen fürchterlichen Bock geschossen. Ihre Darstellung war ganz aus der Luft gegriffen. Ein Polizist, der seine Angaben aus dem Reich einer überspannten Phantasie herholt, ist nicht an seinem Platz. Ich werde Ihnen lange Zeit nicht mehr glauben können. Gehen Sie, aber bitten Sie diese Herren, die Ehrenmänner sind, vorher um Verzeihung.«
Der wie mit Wasser Übergossene trat näher und sagte:
»Verzeihen Sie mir, meine Herren!«
Sternau antwortete nur mit einem kalten, fast unmerklichen Neigen seines Kopfes, der wackere Oberförster aber konnte sich eine hörbare Genugtuung nicht versagen.
»Da haben Sie es, Männchen, was Sie für einen Pudel schießen«, rief er spöttisch. »Halten Sie nun Ihre Haussuchung meinetwegen im Mond, aber um Gottes willen nicht bei mir.«
Als der also Bestrafte abgetreten war, nahm der Staatsanwalt wiederum das Wort und meinte:
»Ich bin neugierig, noch heute etwas Näheres über Ihre Erlebnisse in Spanien zu hören, Herr Doktor. Haben Sie vielleicht ein Viertelstündchen Zeit?« – »Wir stehen gern zur Verfügung, Herr Anwalt.« – »Schön. Das hier ist mein Amts– und Arbeitszimmer, aber daneben habe ich mein Privatkabinett, da gibt es hoffentlich auch eine Zigarre und ein Glas Wein. Bitte, treten Sie ein!«
Der Gehilfe des Staatsanwalts, der schreibend an einem Ecktisch gesessen hatte, sprang empor und riß mit einer tiefen Verbeugung die Tür auf, die er hinter den Herren wieder schloß.
31. Kapitel
Unterdessen war draußen in Rheinswalden der kleine Kurt aus dem Vorwerk nach dem Schloß gekommen, um zu dem Hauptmann zu gehen, und traf im Hof den Jäger Ludwig.
»Guten Morgen, Ludwig. Ist der Herr Hauptmann in seinem Zimmer?« fragte er. – »Nein«, antwortete der Jäger kurz und ärgerlich. – »Wo ist er denn?« —»Arretiert!« – »Arretiert? Von wem denn?« – »Von einem Polizeikommissar; er und Herr Doktor Sternau.« – »Herr Doktor Sternau auch, den ich so gern habe? Was haben sie denn gemacht?« – »Nichts. Sie sind unschuldig dahier.« – »Warum läßt du sie denn da arretieren?« – »Ich konnte nichts machen!« – »Nichts? Geh, Ludwig, du bist ein Hasenfuß.« – »Sapperlot, Junge, das verstehst du nicht!« – »Wann kommen sie denn wieder?« – »Weiß ich es? Es hat Leute gegeben, die jahrelang unschuldig eingesperrt worden sind.« – »Höre, Ludwig, wo stecken sie denn?« – »Bei dem Staatsanwalt, wie ich gehört habe, dahier.« – »Und wo ist der?« – »Im Gerichtsgebäude.« – »Höre, Ludwig, ich werde sie herausholen aus dem Loch!« – »Unsinn dahier! Der Staatsanwalt würde dich schön auslachen dahier!« – »Das soll ihm wohl vergehen! Ich nehme meine Flinte mit!« – »Da wirst du gar nicht zu ihm gelassen. Deine Mama läßt dich auch nicht fort« – »So! Aber ich leide es nicht, daß man den guten Herrn Hauptmann einsperrt und den guten Sternau dazu! Also du denkst es kann sie niemand aus dem Loch herausholen, he?« – »Niemand. Man muß dahier die Sache ruhig abwarten.« – »So warte!«
Kurt wollte gehen, aber Ludwig hielt ihn zurück.
»Höre, mach keine Dummheiten! Es sollte mich dauern, denn ich bin dir Dank schuldig.« – »Dank? Wofür?« – »Daß du dem Herrn Hauptmann sein Ehrenwort abverlangt hast wegen der Waldina.« – »Das habe ich gern getan.« – »Gut, so will ich dir auch einmal ein Ehrenwort abverlangen. Versprich mir, daß du wegen der Gefangenen keine Dummheiten machst!« – »Das gebe ich dir, Ludwig. Hier, meine Hand; ich mache ganz sicher keine Dummheiten!« – »Schön, mein Junge. Nun kann ich ruhig sein dahier!«
Kurt ging. Er kehrte nach dem Vorwerk zurück und hielt unterwegs ein kleines Selbstgespräch:
»Ich kann das Ehrenwort schon geben, denn es sind ja keine Dummheiten, die ich machen will. Ich werde mir mein Pferdchen satteln lassen und nach Mainz reiten. Das Gebäude, wo die vielen Gitter sind, kenne ich ganz gut. Und wenn ich die Flinte nicht mitnehmen darf, so nehme ich den Revolver mit. Wie gut, daß ich ihn gestern geschenkt bekommen habe, und wie gut, daß mir der Ludwig noch gestern gezeigt hat, wie man damit schießt! Er ist geladen. Ich schieße diesen Staatsanwalt tot, wenn er sie nicht sogleich fortläßt!«
Er ging zunächst in seine Wohnung, um sich zu vergewissern, daß ihm die Mutter nicht hinderlich sein könne. Sie hatte in der Küche zu tun. Dann setzte er das grüne Hütchen auf und begab sich in den Stall, wo das kleine schottische Zwergpferdchen stand, das ihm der Hauptmann geschenkt hatte. Es war kaum größer als ein tüchtiger Ziegenbock und lief ihm nach wie ein Hund. Die Magd war im Stall.
»Höre, Pauline«, sagte er. »Bist du mir gut?« – »Das versteht sich!« antwortete das Mädchen. – »So sattle mir einmal den Hans. Ich soll mit dem Ludwig ausreiten.« – »Weiß es die Mama?« – »Ja, aber sie hat keine Zeit.« – »Gut, so will ich es tun.«
Der ehrliche Knabe hielt es für keine Sünde, in dieser hochwichtigen Angelegenheit einmal eine Lüge zu sagen. Es galt doch, ein gutes, tapferes Werk zu vollbringen. Die Magd sattelte also das Pferdchen und führte es ihm vor die Tür. Den Revolver hatte er bereits vorher in der Stube zu sich gesteckt. Er stieg auf, nahm die Zügel in die Hand und trabte von dannen.
Es war ein gar niedlicher Anblick, den kleinen Kavalleristen zu sehen, und mancher, der ihm auf der Straße begegnete, blieb stehen, um ihm erstaunt nachzusehen. In der Stadt aber gab es noch mehr Leben und also auch mehr Bewunderer, und Kurt wurde ordentlich stolz, als er so viele Blicke auf sich gerichtet sah.
Vor dem Gerichtsgebäude hielt er an und stieg ab, band den Zügel seines Pferdchens an den Blindklopfer des einen Torflügels und trat ein. Im Flur traf er einen Mann, der Uniform trug; es war einer der Schließer.
»Wo ist der Staatsanwalt?« fragte er ihn beherzt. – »Was willst du denn bei ihm, Kleiner?« – »Ich habe ihm etwas zu sagen«, antwortete Kurt klug. – »Wohl einen Auftrag?« – »Ja.« – »Nun, dann gehe. Hier hinauf und in das Anmeldezimmer; da fragst du noch einmal.«
Kurt stieg die Treppe empor und öffnete die Tür. In der Anmeldestube saßen viele Leute, die auf ihre Abfertigung warteten, und hinter dem Gitter der Amtswachtmeister, der zufälligerweise den Knaben eintreten sah.
»Was willst du?« fragte auch er. – »Ich will zu dem Staatsanwalt.« – »Du, Junge?« fragte der Beamte verwundert. »Was willst du denn bei dem Herrn?« – »Ich habe einen Auftrag.« – »Ach so! Ist er wichtig?« – »Sehr!«
Der Wachtmeister glaubte, es handele sich um eine Familienangelegenheit, und ging, den Knaben anzumelden. Diesem wurde es in der düsteren Stube doch ein wenig bange, aber er dachte daran, daß er den Herrn Hauptmann und den Herrn Doktor Sternau ja lieb habe und daß er sie beide aus dem Loch holen wolle; das frischte seinen bereits sinkenden Mut wieder auf.
Da trat der Wachtmeister wieder ein und sagte:
»Hier herein, Kleiner!«
Kurt trat in dasselbe Zimmer, das der Staatsanwalt sein Arbeitszimmer genannt hatte. Der Beamte war aus der Nebenstube hereingekommen, und der Gehilfe saß schreibend am Tisch.
»Was bringst du mir, mein Sohn?« fragte der Anwalt.
Bei dem aus Gewohnheit scharfen und durchdringenden Blick des Fragenden sank der Mut des Knaben abermals ein wenig, aber er erinnerte sich herzhaft an sein Vorhaben und antwortete:
»Bist du der Staatsanwalt?« – »Ja, der bin ich.« —»Da bist du ein sehr böser Mann!«
Durch diese Erklärung hob sich die Energie des Kleinen um ein Bedeutendes. Der Anwalt erstaunte und fragte:
»Warum?« – »Weil du die Leute in die Gefängnislöcher steckst.« – »Was geht das dich an?«
Bei diesen scharfen Worten fühlte der Knabe einen Zorn, der ihm seine ganze Kraft wiedergab.
»Mich, mich geht das sehr viel an, denn du hast zwei eingesteckt, die ich sehr liebhabe. Den Herrn Hauptmann und den guten Onkel Sternau.« – »Ah!« dehnte der Beamte. »Wer bist du denn eigentlich?« – »Ich bin Kurt Helmers aus Rheinswalden!« – »Und was willst du?« – »Ich leide es nicht, daß sie in dem Loch stecken!« – »Ah, du willst wohl gar mit mir zanken?« – »Ja. Aber vorher will ich ganz artig sein und dich bitten, sie freizulassen. Sie haben nichts Böses getan.« – »Und wenn ich sie nun trotzdem nicht freigebe?« – »Oh, so werde ich dich zwingen! Wenn du sie nicht auf der Stelle freigibst, so erschieße ich dich, ja, so erschieße ich dich!« – »Junge, du bist es Teufels!« – »Nein, ich bin nur mutig!« – »Aber wenn du mich erschießt, so wird man auch dich einstecken!« – »Das schadet nichts, denn dann hast du doch deinen Lohn, und ich bin bei ihnen im Gefängnis.« – »Und womit willst du mich denn erschießen?« – »Mit diesem Revolver.«
Kurt griff in die Tasche und zog die Waffe heraus.
»Wahrhaftig, dieser Knabe macht Ernst!« rief der Staatsanwalt betroffen. – »Oh, du dachtest wohl, ich mache Spaß! Da kennst du mich schlecht; ich erschieße dich wirklich!« – »Ist er denn geladen?« – »Das versteht sich! Also ich frage dich zum letzten Mal: Willst du sie freigeben oder nicht?«
Der Gehilfe war aufgesprungen, um ein mögliches Unglück zu verhüten, der Anwalt jedoch warf ihm einen beruhigenden Blick zu, sich nicht in die interessante Sache zu mengen, und sagte:
»Nun, ich beginne wirklich mich vor dir zu fürchten. Wirst du mir aber auch nichts tun, wenn ich sie loslasse?« – »Nein, dann tue ich dir gar nichts, ja, ich werde mich sogar noch bei dir bedanken.« – »Das ist schön und prächtig von dir, und weil du so ein wackerer Kerl bist, werde ich deinen Wunsch erfüllen und sie freigeben.« – »Aber gleich sofort!« – »Natürlich!« – »Kann ich mich auch darauf verlassen?« – »Das versteht sich!«
Da steckte Kurt mit stolzer und befriedigter Miene das Mordwerkzeug ein und sagte:
»Ich wußte es doch, daß man sich fürchten würde. Nun soll der Ludwig nur noch einmal sagen, daß es eine Dummheit ist, in die Stadt zu gehen und den Staatsanwalt totzuschießen.« – »Hat er das gesagt?« – »Ja, dieser Esel!« – »Na, es fehlte nicht viel, so hätte er recht gehabt. Aber der Herr Hauptmann und der Onkel Sternau sind mit ihrer Gefangenschaft ganz zufrieden gewesen. Es hat ihnen ganz prächtig gefallen.« – »Das glaube ich nicht!« – »Sie haben es ganz gut gehabt. Soll ich dir einmal zeigen, wo sie waren und was sie taten?« – »Ja, ich bitte dich!« – »So komm!«
Der Staatsanwalt führte Kurt in das Kabinett. Die beiden Männer waren nicht wenig verwundert, als sie ihn sahen, und auch er zog ein höchst eigentümliches Gesicht, als er sie bei Wein und Zigarren sitzen sah.
»Alle Wetter, Kurt! Was willst du hier?« fragte der Hauptmann. – »Euch frei machen«, antwortete der Knabe kurz. – »Frei machen? Bist du bei Trost?« – »Ja. Ich habe den Herrn Staatsanwalt gezwungen, euch sofort aus dem Gefängnis zu entlassen.« – »Kerl, ich glaube gar, du hast hinter unserem Rücken eine schauderhafte Eselei begangen.« – »Ist es eine Eselei, daß man den Staatsanwalt totschießt, wenn er nicht gehorchen will?«
Da sprang der Hauptmann erschrocken auf und ließ sich von dem Staatsanwalt den Vorgang erzählen.
»Herrgott, Junge, du bist ja ganz und gar von Sinnen!« rief er. »Wir sind ja gar keine Gefangenen gewesen. Was konntest du in deiner Dummheit für Unheil anrichten! Ich werde dich viel, viel kürzer in die Zügel nehmen müssen!« – »Zürnen Sie ihm nicht, Herr Hauptmann«, bat der Staatsanwalt. »Der Vorgang hat allerdings seine bedenklichen Punkte, aber …« fügte er lächelnd hinzu, »…Sie glauben doch nicht, daß mein Leben in Gefahr gewesen ist! Wir haben es hier mit einer groß angelegten Menschenseele zu tun, und nur die Erziehung hat es in der Hand, was aus ihr wird, ein großer Verbrecher oder eine im Guten gewaltig hervorragende Existenz. Nehmen Sie die Verantwortung dafür nicht leicht, so werden Sie einmal Freude erleben.«
Der Hauptmann nickte.
»Sie sprechen ganz dieselben Gedanken aus, die ich selbst schon oft gehabt habe. Ich bin kinderlos und werde mir alle Mühe geben, diesen Baum so wachsen zu lassen, wie es ihm bei seiner Triebkraft zukommt So hat also unsere Unterhaltung durch diese kleine Episode einen interessanten Abschluß gefunden. Wir werden uns empfehlen müssen, denn ich sehe es dem Doktor an, daß er sich sehnt, seine ebenso schwere wie folgereiche Kur zu beginnen.« – »Werden Sie ihr das geheimnisvolle und fürchterliche Mittel heute noch geben?« fragte der Anwalt den Arzt. – »Ja. Ich darf nicht länger zögern.« – »Ah, ich wünschte wohl, dabeizusein.« – »Sie würden die Wirkung nicht abwarten können.« – »Aber ich würde die Kranke heute sehen und dann später aus ihrem Befinden die Wirkung dieses Speichelgifts beurteilen können.« – »Wenn Sie Muße genug haben, uns zu begleiten, so würde es mir lieb sein, einen solchen Zeugen später aufweisen zu können.« – »Ja, Herr Anwalt, begleiten Sie uns!« bat auch der Hauptmann. »Sie wissen, daß Sie mir stets ein hochwillkommener Gast sind.« – »Nun wohl, ich fahre mit!« sagte dieser. »Vielleicht gereicht es Ihnen später zum Vorteil, wenn ich ein Protokoll aufnehme, in dem die von Ihnen angegebenen Tatsachen ihre amtliche Bestätigung finden.«
Der Staatsanwalt gab hierauf für seine Abwesenheit dem Gehilfen einige Instruktionen, und dann brachen sie auf. Sie fuhren per Wagen, Kurt aber bestieg sein Pferdchen wieder, um gedankenvoll nach Hause zu reiten. Er war sich sehr im unklaren, ob er heute eine Klugheit oder eine große Dummheit begangen habe. Nach reiflicher Überlegung kam er zu der Ansicht, daß das letztere der Fall sei, und nun begann er, sich unendlich zu schämen.
Als er nach Hause kam und von seinem Pferdchen stieg, trat die Mutter aus der Tür.
»Kurt, komm einmal her!« gebot sie in einem sehr strengen Ton.
Er gehorchte in gedrückter Haltung diesem Befehl.
»Kurt, du bist ein Lügner!« klang es ihm hart entgegen. – »Ja, Mama«, antwortete er kleinlaut und aufrichtig.
Er fühlte sich innerlich so vernichtet daß ihm die Tränen in die Augen traten. Bei seinem offenen Geständnis wurde der Blick der Mutter milder, und ihre Stimme klang weniger hart, als sie sagte:
»Glaubst du etwa, daß ich einen Lügner liebhaben kann? Ich habe sehr um dich geweint.«
Da schlang Kurt die Arme, so hoch er emporlangen konnte, um sie und rief unter lautem Schluchzen:
»Mama, ich habe mich schon lange recht sehr geschämt, ich tue es gewiß nicht wieder, ich verspreche es dir.« – »Aber warum hast du denn die Magd belogen?« – »Weil ihr es nicht wissen solltet, wohin ich ritt.« – »Und wo bist du gewesen?« – »Beim Staatsanwalt im Gefängnis.« – »Mein Gott, ist‘s möglich! Was hast du denn dort gewollt?« – »Oh, ich steckte auch den Revolver ein, ich wollte den Staatsanwalt erschießen, wenn er den Herrn Hauptmann und den Onkel Sternau nicht freiließ.« – »Das ist ja der reine Wahnsinn!« rief die Mutter erschrocken. »Hast du mit dem Staatsanwalt gesprochen und ihm mit dem Revolver gedroht?« – »Ja.«
Da schlug Kurts Mutter vor Entsetzen die Hände zusammen und rief:
»Jesus Maria, wie wird das gehen! Du machst ja uns alle unglücklich, du schrecklicher Junge! Was hat der Staatsanwalt denn geantwortet? Es ist ein helles Wunder, daß er dich nicht sofort eingesteckt hat!« – »Oh, er war gar nicht böse. Er lachte ein klein wenig und sagte, daß er aus Angst die beiden Gefangenen freilassen werde.« – »Und dann?« – »Dann führte er mich in eine Stube, wo sie saßen, Zigarren rauchten und Wein mit ihm tranken.« – »So sind sie gar nicht gefangen gewesen?« – »Nein. Ach, Mama, ich schäme mich schrecklich! Ich bin ein ganz fürchterlicher Dummkopf gewesen!«
Das klang so aus tiefstem Herzensgrund heraus und dabei lief Kurt eine solche Tränenflut über die vollen, rosigen Wangen, daß seine Mutter nichts anders konnte, sie mußte ihn beruhigen. Er war ja ihr Liebling.
»Na, tröste dich nur!« sagte sie freundlich. »Ich werde zu den Herren gehen und für dich um Verzeihung bitten, sie sind ja da, ich sah sie vorhin kommen.« – »Mama, ich gehe mit!« sagte er entschlossen. – »Warum?« – »Ich muß um Verzeihung bitten, nicht du, und ich habe es ja noch gar nicht getan.«
Da beugte sie sich zu ihm hernieder, nahm ihn in ihre Arme und küßte ihn. Ihr Herz jubelte. Sie war eine einfache Frau, aber sie fühlte, daß sie in ihm einen Schatz besaß, für den viele andere Millionen gegeben hätten. Für diese Kinderseele war der Irrtum nur ein Weg zur inneren Reinigung.
»Ja, du sollst mitgehen«, sagte sie. »Aber du machst es auch ganz gewiß nicht wieder?« – »Niemals, Mama, glaube es mir!« – »So will ich dir auch gleich eine recht große Freude machen. Ich habe einen Brief erhalten, einen lieben, guten Brief. Rate einmal, von wem!«
Der Knabe sprang vor Freuden empor, schlug die Hände zusammen und rief:
»Vom Papa!« – »Ja. Ich hatte gar nicht gewußt, daß du fort warst, aber ich suchte dich vergebens, um dir von dem Brief zu sagen. Aber das Beste folgt noch. Rate einmal, was er uns schreibt, Kurt.« – »Oh, er schreibt am Ende gar, daß er kommen will! Habe ich richtig geraten, liebe Mama?« – »Ja, mein Sohn, er kommt!« rief Frau Helmers mit seliger Freude in ihrem guten Angesicht. – »Juchhei, der Vater kommt, juchhei!«
Mit diesem Ruf tanzte der Junge im Hof umher und war nicht eher wieder zu beruhigen, als bis ihn die Mutter aufforderte, sogleich mit nach dem Schloß zur Abbitte zu gehen.
32. Kapitel
Als Kurt und seine Mutter hinüberkamen, konnten sie leider nicht vorgelassen werden, sondern mußten unverrichteter Sache zurückkehren, da die Herrschaften, die sich alle in der Krankenstube befanden, nicht gestört sein wollten. Dies war das schönste Zimmer des Schlosses, geräumig und sehr bequem ausgestattet und hatte Platz für viele. Und das war in diesem Augenblick auch notwendig, denn es befanden sich da außer der Kranken und ihrem Arzt der Hauptmann, der Staatsanwalt, Frau und Fräulein Sternau und Alimpo mit seiner Gattin.
Auch der unter seinen Aktenstücken weniger empfänglich gewordene Anwalt hatte sich, als er eintrat, durch den Anblick der Gräfin außerordentlich erschüttert gefühlt. Diese lag betend vor dem Sofa und merkte nichts von dem Eintritt so vieler Menschen. Man ließ sie gewähren. Jetzt saß der Anwalt am Tisch und nahm das Protokoll auf. Er empfand für diesen Fall eine außerordentliche Teilnahme und ein zwingendes, seelisches Bedürfnis, hier aus allen Kräften Hilfe zu spenden.
Als er das Protokoll vorgelesen, unterzeichnet und dem Arzt übergeben hatte, zog dieser eine kleine Phiole hervor, deren Inhalt er genau gegen das Licht betrachtete.
»Dies ist das Gift?« fragte der Anwalt. – »Ja. Sie werden es sehen, wenn ich es verdünne.« – »Ich meine immer, daß Sie dieses unheimliche Mittel nur unter Beisein der hervorragendsten Irrenärzte in Anwendung bringen sollten.« – »Sie zweifeln an mir? Ich bin überzeugt, daß diese Männer alle sich gegen die Anwendung eines so heroischen Mittels aussprechen würden. Sie würden es vorziehen, die Kranke feig im Wahnsinn verkümmern zu lassen.« – »Nein, so war meine Bemerkung ja nicht gemeint! Ich wünschte nur, daß Sie vor diesen wissenschaftlichen Kapazitäten bewiesen, daß Sie ihnen allen überlegen sind. Wenn ich Sie so ruhig vor mir stehen sehe, so ist es mir, als könnte man Ihnen tausend Leben anvertrauen.« – »Oh, glauben Sie mir«, sagte Sternau mit leise vibrierender Stimme, »daß diese Ruhe mir nicht leicht wird. Ich sehe das köstlichste Gut, das ich besitze, in die Nacht des Wahnsinns verfallen, ich wende ein Mittel an, das allein nur helfen kann und mit dem ich selbst noch niemals operierte. Es steht hier nicht eine einfache Heilung, sondern es steht die Gewinnung eines großen Prozesses, die Bestrafung bestialischer Verbrecher, es steht mein ganzes, ganzes Heil und Glück auf dem Spiel. Meine Seele bebt und zittert, aber mein Körper muß ruhig und still sein, wie es dem Arzt geziemt. Ich vertraue nicht mir, sondern der Wissenschaft und der Hilfe Gottes!«
Da streckte der Anwalt, dem eine Träne im Auge stand, ihm die Hand entgegen.
»Herr Doktor«, sagte er, »ich wünsche Ihnen das Gelingen ebenso herzlich, als wenn ich mich an Ihrer eigenen Stelle befände.« – »Ich auch!« meinte der Oberförster. »Guckt mich alten Kerl nur nicht an, denn ich muß mich schämen. Da läuft mir das Wasser aus den Augen wie einem Schuljungen, der geprügelt worden ist. Wenn die Gräfin nicht geheilt wird, so renne ich nach Spanien und sprenge beim Teufel dieses ganze Rodriganda in die Luft!«
Der derbe Alte wischte sich die Tränen aus dem Bart, sie flossen aber immer wieder nach.
»Nun, laßt uns beginnen«, sagte Sternau.
Dies waren einfache Worte, aber sie brachten eine große Wirkung hervor. Frau Sternau und Helene eilten weinend auf die Kranke zu und schlossen sie in die Arme, der Oberförster schluchzte doppelt laut und zum Erbarmen, Alimpo aber faßte seine Elvira bei der Hand, indem sie beide um die Wette weinten, und sogar der Anwalt nahm sein Taschentuch zur Hand.
Nur Sternau blieb scheinbar ruhig. Er mußte eine fast übermenschliche Selbstbeherrschung besitzen, denn als er jetzt einen Porzellanlöffel mit Wasser füllte, zitterten seine Hände nicht im geringsten. Nachdem er aus der Phiole zwei Tropfen hinzugegossen hatte, zeigte er den Löffel herum. Das Wasser war vollständig farb– und geruchlos geblieben.
»Haltet sie!« bat er.
Seine Mutter und Schwester knieten zu beiden Seiten der Kranken nieder und richteten ihr den Kopf empor. Sternau näherte den Löffel dem Mund der Kranken, zog ihn aber plötzlich zurück und verhüllte mit der freien Hand sein Angesicht. Ein einziges, kurzes, aber fürchterliches Schluchzen erschütterte seinen mächtigen Körper, es war ein Laut so tief stöhnend, so gewaltig, daß die anderen augenblicklich in erneutes Weinen ausbrachen. Der gewaltsam zurückgehaltene und nun mit einem einzigen, desto kräftigeren Stoß hervorbrechende Schmerz dieses starken Mannes erschütterte die Herzen aller mehr als die vorhergehenden Tränen und Klagen.
»Herr Gott«, rief er, »es wird mir fast zu viel! Gib mir Kraft, Kraft, Kraft!«
Dieser Ruf war ein Gebet, wie es inbrünstiger nicht zum Himmel geschickt werden konnte, und Gott schien Erbarmen zu haben, denn der gewaltige Mann raffte sich zusammen und trat zum zweiten Mal näher. Kaum berührte der Löffel die Lippen der Kranken, so öffnete sie mechanisch den Mund, nahm die verhängnisvolle Flüssigkeit bis auf den letzten Tropfen und verschluckte sie. Sternau trat zurück, ein tiefer Seufzer hob seine Brust er legte den Löffel auf den Tisch und faltete die Hände.
»Vater im Himmel, entweder gib Gelingen oder laß mich sterben!« – »Mein Sohn, mein guter, lieber Sohn!« schluchzte seine Mutter, indem sie die Arme um ihn legte. »Der Allmächtige wird Erbarmen haben. Vertrauen wir auf seine Güte!« – »Wer da ruhig bleiben kann, der ist der größte Hundsfott, den die Erde trägt!« sagte der Oberförster. »Ich habe gar nicht geglaubt, daß ich eine so weichherzige Seele bin.« – »In welcher Weise wird die Medizin jetzt wirken?« fragte der Staatsanwalt.
»Es wird sich schon in kurzer Zeit zeigen, ob sie überhaupt wirkt«, antwortete Sternau. »In zehn Minuten muß sie einschlafen. Dieser Schlaf wird sehr lange, vielleicht achtundvierzig Stunden dauern, und während dieser Zeit hat das Wichtigste zu geschehen. Der Schlaf darf in keiner Weise unterbrochen werden. Erwacht sie vor der Zeit, so war die Gabe zu schwach, und ich habe nachzugeben. Tritt Aufregung, Unruhe oder gar Fieber ein, so war die Gabe zu stark, und die Kranke wird sterben, wenn ich nicht sofort Gegenvorkehrungen treffe. Es ist überhaupt nicht abzusehen, welche Umstände eintreten können, und ich darf keine Minute lang ihr Lager verlassen. Ich muß bitten, Herr Hauptmann, Tag und Nacht ein gesatteltes Pferd bereitzuhalten, damit ich in jedem Augenblick einen Boten zur Stadt habe, wenn ich eine unvorhergesehene Medizin brauche.« – »Sie brauchen nur zu befehlen, Cousin, so lasse ich alle Pferde satteln und totreiten«, antwortete der Oberförster. »Ein solches Opfer ist gering gegen das, was auf dem Spiel steht.«
Die Anwesenden warteten zehn bange Minuten lang. Die angstvolle Spannung war wirklich nervenzerstörend. Die Kranke kniete noch immer in ihrer betenden Stellung vor dem Sofa. Da senkte sie langsam das Haupt, ihre Lippen bewegten sich nicht mehr ohne Unterlaß, sondern in einzelnen, immer länger werdenden Pausen, endlich schlossen sich die Augen, und die vorher aufrecht kniende Gestalt sank haltlos in sich zusammen.
»Gott sei Dank!« betete es rund im Kreis. – »Halb gewonnen!« jubelte Sternau. »Mutter, legt ihr ein Negligé an und tragt sie nach dem Bett. Wir gehen, aber in fünf Minuten bin ich wieder da, um meine Wache anzutreten.«
Die Herren entfernten sich. Alimpo ging hinunter in den Hof, um nach dieser Aufregung einen Mundvoll frischer, stärkender Luft zu atmen. Da stand Ludwig. Rasch kam dieser auf ihn zu und fragte: »Wie steht es, Herr Alimpo, gut oder schlimm?« – »Rien comprends!« lautete die Antwort. – »Ich meine die Gräfin.« – »Rien comprends!«
Da faßte der Jäger den Spanier beim Arm und zog ihn hinüber nach dem Vorwerk, wo er den kleinen Kurt sogleich fand.
»Nicht wahr, du kannst mit diesem Alimpo reden, Kurt?« – »Ja.« – »Willst du einmal den Dolmetscher machen? Sage ihm, er soll uns erzählen, wie es dahier bei der Gräfin abgelaufen ist.«
Die drei setzten sich nunmehr auf die Bank im Hof, auch Frau Helmers und die Magd kamen dazu, und es dauerte nicht lange, so berichtete Alimpo weinend die ganze Begebenheit, und die anderen alle weinten ebenso herzlich mit, obgleich die Übersetzung des Knaben eine sehr mangelhafte war.
Von dieser Stunde an verging ein Tag und noch ein halber, während welcher auf Rheinswalden Grabesstille herrschte. Man trat unhörbar auf, und man sprach nur leise, ja, der Oberförster hatte sogar einem Burschen, der einen anderen unten im Hof laut gerufen hatte, eine Ohrfeige gegeben und nur auf sehr inniges Bitten nicht aus dem Dienst entlassen. Alle Stunden gingen Krankenbulletins von Mund zu Mund. Es war ein Hangen und Bangen wie vor dem Urteilsspruch eines Richters, wenn man noch nicht weiß, ob das Verdikt auf schuldig oder unschuldig lautet.
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Am zweiten Tag kam der Steuermann an. Auf dem Vorwerk herrschte große Freude, sie wurde aber gedämpft durch die auf dem Haus lastende Schwere der Erwartung. Helmers hatte leise und fast heimlich seine Besuche gemacht aber Sternau noch nicht gesehen. Nach Tisch saß er mit Frau und Kind in seiner Stube und ließ sich die Ereignisse der letzten Tage schildern.
»Wie heißt denn die Gräfin?« fragte er. – »Rosa«, antwortete seine Frau. – »Und der Familienname?« – »Rodri – Rodri – ich kann mir das Wort nicht merken.« – »Roderwanda«, fiel hier Kurt ein. – »Roderwanda?« fragte der Vater nachdenklich. »Hm! Und eine Spanierin ist sie?« – »Ja.« – »Sollte es vielleicht Rodriganda heißen statt Roderwanda?« – »Ja, ja, so heißt es, so!« erwiderte Kurt – »Ja, jetzt besinne ich mich auch«, stimmte die Mutter bei. »Kennst du diesen Ort?« – »Nein, aber ich habe davon gehört Hm! Wunderbar! Und dieser Doktor Sternau ist unschuldig gefangen gewesen?« – »Ja. Frau Sternau erzählte es mir. Er war in Barcelona.« – »Wahrhaftig, das wäre wunderbar!« meinte der Steuermann nachdenklich. »Weißt du nicht weshalb man ihn gefangengenommen hat? Doch etwa nicht eines Mannes wegen, der von Rodriganda verschwunden ist?« – »Nein. Aber – aber – mein Gott, was weißt denn du davon? Von Rodriganda ist wirklich einmal einer verschwunden. Ein Husarenleutnant. Frau Sternau erzählte es.« – »Hm! Hat man keine Ahnung, wohin er gekommen ist?« – »Nein. Aber warte, da fällt mir ein: Doktor Sternau glaubt, daß er auf ein Schiff geschleppt worden ist« – »Alle Wetter, jetzt beginnt es zu stimmen! Wie hieß das Schiff? War es nicht die ›Pendola‹? Besinne dich genau!« – »Ich weiß es gewiß, daß Frau Sternau keinen Namen genannt hat.« – »Auch nichts Weiteres hat sie gesagt?«
Die Frau des Steuermanns besann sich ein Weilchen, dann antwortete sie lebhaft:
»Halt, jetzt fällt es mir ein: Es soll ein Advokat die Hand dabei im Spiel gehabt haben. Ich habe den Namen nicht gemerkt, er war so fremd und schwer.« – »Hieß er nicht Gasparino Cortejo?« – »Wahrhaftig, so war der Name! Aber Mann, wie hast du das alles erfahren?« – »Das werde ich dir noch erzählen. Jetzt sage mir vor allen Dingen, ob man wirklich gar nicht mit Doktor Sternau sprechen kann.« – »Nein, gar nicht.« – »So muß ich warten, bis er sich wieder sehen läßt.« – »Es ist wohl etwas sehr Wichtiges?« – »Ungeheuer wichtig, wenn mich meine Ahnung nicht betrügt.« – »Und darf ich es nicht hören?« – »Jetzt noch nicht. Ich weiß nicht, ob der Doktor es haben will, daß ich davon schon jetzt spreche.«
33. Kapitel
Um dieselbe Zeit, wo das im vorigen Kapitel geschilderte wichtige Gespräch geführt wurde, saß Sternau am Bett seiner Kranken. Außer ihm befand sich nur noch seine Mutter im Zimmer. Sie saß bei einer Arbeit, hinter der dichten Fenstergardine verborgen. Die Gräfin hatte vom ersten Augenblick an bis jetzt in ununterbrochener Ruhe geschlafen. Sie lag wie ein schönes Marmorbild im Bett, keine Wimper zuckte, kein Atemzug war hörbar.
»Mutter!« klang es da leise durch die tiefe Stille des Raumes. – »Mein Sohn?« fragte sie ebenso leise. – »Komm einmal her!«
Frau Sternau erhob sich und glitt hin an die Seite ihres Sohnes. Ihr ängstlich fragender Blick traf sein Auge und fand darin einen leisen Hoffnungsschimmer.
»Fühle diese Hand«, bat er.
Sie nahm die marmorweiße Hand der Schlafenden in die ihrige und nickte dem Sohn freudig zu.
»Und fühlst du den Puls, Mutter?« – »Ja, wahrhaftig.« – »Sieh die Lippen, wie sie sich röten, und auch der bleiche Todesglanz ist von den Wangen gewichen. Geh zum Hauptmann und melde ihm, daß die Gräfin in einer Stunde erwacht sein wird.« – »Mein Sohn! Ist‘s wahr?« – »Ja.«
Da zog sie den Kopf ihres Sohnes ans Herz, streichelte ihm zärtlich die Wange und fragte leise:
»Wird es zum Glück sein?« – »Das steht bei Gott! Mutter, ich bete soeben so inbrünstig wie noch nie in meinem Leben!« – »Gott der Herr mag dein Gebet erhören. Du verdienst dieses Glück, mein Kind!«
Frau Sternau glitt lautlos zur Tür hinaus, kam aber nach kurzer Zeit wieder zurück und nahm ihren vorigen Sitz wieder ein. Arbeiten konnte sie jedoch nun nicht mehr – auch sie betete aus vollem treuen Mutterherzen, daß Gott barmherzig sein und die nächste Stunde zum Heil werden möge. Sie kannte ihren Sohn; sie wußte, daß er das Fehlschlagen seiner Hoffnung nie überwinden werde.
Eine halbe Stunde verging, da hörte man bereits die leisen Atemzüge der Kranken und sah, wie die Decke sich über der wogenden Brust hob und senkte. Dann röteten sich die Wangen, jetzt, jetzt bewegte sich die Hand – der Arm, und die Lider zuckten. Und wieder nach kurzer Zeit legte die Schlafende den Kopf langsam auf die Seite. Die Brust Sternaus wollte zerspringen, aber er hielt die warme Hand der Kranken in der seinigen und blieb äußerlich ruhig, obgleich es in seinem Inneren tobte und stürmte.
Jetzt wandte Rosa das Gesicht hinüber nach seiner Seite, und sein scharfes Auge sah, daß die Lider jenes Zucken verrieten, das dem Erwachen vorherzugehen pflegt. Und nicht lange dauerte es, so erhoben sie sich langsam, langsam. Das Auge öffnete sich und blickte starr geradeaus.
»Allgütiger Himmel, hilf! Jetzt entscheidet es sich!« flehte Sternau im stillen.
Das Auge Rosas bekam dann jenen träumerischen Ausdruck, der dem Erwachen eigen ist, und richtete sich endlich mit dem Licht des vollständigen Bewußtseins auf die umgebenden Gegenstände.
»Gewonnen!« jubelte es in der Seele des Arztes.
Das Auge Rosas aber glitt von Gegenstand zu Gegenstand, und ein tiefes Befremden malte sich in ihren Zügen. Da fühlte sie, daß ihre Hand gehalten wurde. Schnell und erschrocken suchte ihr Blick den, der diese Berührung wagte, und als sie Sternau sah und ihn erkannte, fuhr sie empor und rief:
»Carlos, mein Carlos! Du bist es?« – »Ja, mein Leben, meine Seligkeit, ich bin es«, antwortete er mit zitternder Stimme. – »Wo bin ich? Wie lange habe ich geschlafen?« – »Beruhig dich, du bist bei mir«, bat er, die Arme um sie schlingend und sie an sein Herz ziehend. – »Ja, ich bin still, denn ich bin bei dir«, sagte sie innig, indem sie ihm den Mund zum Kuß bot. »Aber ich muß lange, sehr, sehr lange geschlafen haben.« – »Sehr lange. Du warst krank.« – »Krank?« fragte sie nachdenklich. »Wie ist‘s den? Ich habe ja gestern meine Amy nach Pons begleitet, und dann – ah, dann – ah, dann warst du fort. Ich bin nach Manresa zum Corregidor gefahren und habe mich mit Alfonzo und Cortejo gezankt, um zu erfahren, wo du bist. Dann wurde oben bei Cortejo geschossen; später ward mir sehr übel, und ich wollte schlafen gehen, bin aber im Gebet eingeschlafen. Wo warst du, mein Carlos?« – »Ich war in Barcelona«, antwortete dieser. – »Ohne mir vorher etwas zu sagen, du Böser!«
Da klang ein leises, unterdrücktes Schluchzen hinter der Fenstergardine hervor. Rosa hörte es.
»Wer weint? Wer ist hier?« fragte sie. »Ist es meine gute Elvira?« – »Nein, mein Herz.« – »Wer sonst?« – »Es ist eine sehr gute und liebe Frau, die dich gern sehen wollte.« – »Oh, eine Fremde!« rief sie erschrocken. Und zugleich bemerkte sie erglühend, daß sie im Negligé vor dem Geliebten lag. »Wer ist sie?« – »Meine – Mutter.«
Rosa sah ihn ernst an, als ob sie ihn nicht verstehe, dann aber rief sie in großer Freude:
»Deine Mutter? Oh, welch ein Glück, welch eine Überraschung! Rufe sie her! Schnell, schnell!« – »Aber, Rosa, du mußt französisch mit ihr sprechen, sie versteht das Spanisch nicht.« – »Sie mag nur kommen. Schnell!« – »Mutter«, bat Sternau, komm bitte her! Sie will dich sehen!« – »Mein Sohn, ich verstehe die Worte nicht, die ihr redet, aber ich hörte, daß sie bei Bewußtsein ist und daß ihr glücklich seid. Ist es so?« – »Ja. Gott hat unser Gebet über alle Maßen erhört. Komm!«
Da kam sie langsam herbei. Rosa hatte ihr Schlafgewand dichter drapiert und sich aufgerichtet. Sie streckte der Nahenden mit freudeglänzendem Angesicht die Hände entgegen und sagte:
»Sie sind die Mutter meines Carlos? Seien Sie mir tausendmal gegrüßt. Oh, nun habe auch ich eine Mutter. Darf ich Ihre gute, folgsame Tochter sein?«
Frau Sternau legte ihr unter strömenden Tränen beide Hände auf das Haupt und erwiderte:
»Mein Kind, ich flehe Gottes reichsten Segen herab auf Ihr teures Haupt. Ich würde mein Leben hingeben, um Sie glücklich zu sehen.«
Sie hielten einander in stiller Umarmung umschlungen; da erhob sich Sternau, verließ das Gemach und rannte zum Hauptmann:
»Viktoria, gesund, gesund!« stürmte er bei diesem zur Tür hinein. – »Himmeldonnerwetter!« rief der Hauptmann ganz erschrocken, dann aber besann er sich und sprang auf. »Ist es wahr, wirklich wahr?« – »Ja.«
Da warf der Oberförster beide Arme in die Luft und schrie, was er nur schreien konnte:
»Hurra! Hussa! Sapperment! Gesund! Halleluja! Gesund! Viktoria! Himmelheiliges Hagelwetter! Hosianna Davids Sohn! Kann man zu ihr? Kann man sie sehen?« – »Nein.« – »Das ist ärgerlich! Das ist grausam! Das ist geradezu unmenschlich! Aber etwas muß ich tun. Was mache ich vor Freude? Schlage ich ein halbes Dutzend Menschen tot, oder reiße ich die Kirche ein? Warte, ich hab‘s!«
Wie aus einer Pistole geschossen, rannte er hinaus. Sternau aber begab sich sogleich wieder in das Krankenzimmer zurück, denn er mußte verhüten, daß die Unterhaltung der beiden Frauen auf Gegenstände kam, von denen Rosa noch nichts wissen durfte. Diese lag noch in den Armen der Mutter. Sie sprachen nicht, sie weinten nur und liebkosten sich. Rosa streckte ihm die Hand entgegen.
»Mein Carlos, ich danke dir für die Mutter, die du mir gegeben hast. Oh, wie lieb habe ich sie bereits. Aber ist es wahr, daß ich lange krank gewesen bin?« – »Ja, mein Herz.« – »Lange?« – »Sehr lange.« – »So ist es nicht gestern geschehen, was ich vorhin erzählte?« – »Nein, sondern vor drei Monaten.« – »Vor drei Monaten?« flüsterte sie erstaunt »So war ich wohl ganz ohne Besinnung?« – »Ganz und gar.« – »Und du hast mich geheilt, du?« – »Gott gab es zu, daß ich das rechte Mittel traf.« – »Und wo ist Alfonzo, Cortejo, Alimpo und meine gute Elvira?« – »Alimpo und Elvira sind hier. Das andere sollst du später erfahren, mein Leben. Du darfst noch nicht viel sprechen, du mußt dich schonen!« – »Ich werde dir gehorchen. Nur eins sage mir: Wo bin ich hier?« – »Bei einem guten Freund von uns allen.« – »Nicht auf Rodriganda?« – »Nein. Du sollst es heute noch erfahren.« – »Und«, fragte sie stockend, »mein Vater? Ist es wahr, daß er zerschmettert worden ist?« – »Nein, er lebt. Nun aber schweige, mein Herz, sonst wirst du wieder krank!«
In diesem Augenblick klangen einzelne Waldhorntöne vom Hof herauf, und dann erklang vierstimmig in getragenem Tempo der Choral:
»Wie wohl ist mir, o Freund der Seele,
Wenn ich in Deiner Liebe ruh‘!
Ich steige aus der Schwermutshöhle
Und eile deinen Armen zu.
Da muß die Nacht des Trauerns scheiden,
Wenn mit so angenehmen Freuden
Die Liebe strahlt aus deiner Brust,
Hier ist mein Himmel schon auf Erden
Wer wollte nicht vergnügter werden,
Der in dir suchet Ruh‘ und Lust!«
»Was ist das? Was war das?« fragte Rosa mit verklärtem Lächeln im Angesicht. – »Das ist ein frommes Kirchenlied, das unser Freund dir zu Ehren blasen läßt. Ich war jetzt bei ihm und habe ihm gesagt, daß du genesen bist.« – »Oh, dann ist er wohl ein sehr guter und teilnehmender Mensch?« – »Das ist er. Du hast nie einen besseren Freund gehabt als ihn.« – »So sage ihm meinen Dank, bis ich selbst mit ihm sprechen werde! Aber, mein Carlos, ich habe eine Bitte, die ich nicht gern sage.« – »Sage sie getrost, mein Leben.« – »Nicht dem Geliebten, sondern dem Arzt sage ich sie«, meinte sie, vor Verlegenheit errötend. »Wenn ich so lange krank war, so habe ich wohl auch sehr – sehr wenig – genossen?«
Er stieß einen Ruf der Freude aus und antwortete:
»Nein, das konntest du auch dem Geliebten sagen, denn gerade ihn macht das glücklich. Da du zu essen begehrst, so bin ich nun vollständig überzeugt, daß du genesen wirst. Mutter mag gleich gehen und holen, was ich ihr aufschreiben werde. Oder soll Elvira es bringen?«
»Ja, ich möchte sie so gern sehen. Aber Mama soll auch wieder mitkommen.«
Sternau schrieb einige Worte auf einen Zettel, den seine Mutter nach der Küche trug. Unterwegs begegnete ihr der Oberförster. Er hielt sie beim Arm fest und fragte:
»Ist‘s wahr, daß sie gesund wird?« – »Gott sei Lob und Dank, ja.« – »Holla! Juchhe! Juchheirassassa! Hat sie meinen Choral gehört?« – »Ja.« – »Und sich gefreut? Es ist mein Lieblingschoral; es fiel mir kein anderer ein; meine Burschen haben ihn auf den Jagdhörnern geblasen.« – »Sie war ganz gerührt und läßt sich von ganzem Herzen bedanken.« – »So, ah! Da lasse ich ihr noch etwas anderes vorblasen: ›Im Wald und auf der Heide‹, ›Goldne Abendsonne‹, ›Wer meine Gans gestohlen hat‹, ›Morgenrot‹, ›0 du lieber Augustin‹. Oder denken Sie, daß sie ›Bin i net a hübscher Rußbuttenbu‹ lieber hört?« – »Ja, Herr Hauptmann, das kann ich nicht sagen. Ich habe überhaupt keine Zeit, ich muß in die Küche. Der Herr Doktor hat mir etwas aufgeschrieben, was die Kranke genießen soll.« – »Was denn? Her mit dem Zettel!«
Er nahm ihr das Papier aus der Hand und las:
»Was? Dünne Suppe von Bouillon mit Weizengries. Ein wenig Backobst. Ist der Tausendsakramenter gescheit? Das soll einer Kranken aufhelfen? Holen Sie ihr Rehkeule, Dampfnudeln, Krautsalat rohen Schinken, ein paar Pfeffergurken und einen marinierten Hering; das macht Appetit und stärkt das Gehirn und die Nerven.«
Er flog in höchster Eile wieder in den Hof hinab, wo seine vier Burschen abermals nach den Hörnern greifen mußten und nun ein Programm abbliesen, das zwar sehr gut gemeint war, aber einen Kunstverständigen zur hellen Verzweiflung hätte bringen können.
Er stand dabei und taktierte. Da sah er den Steuermann von weitem stehen und schritt auf ihn zu.
»Helmers, wissen Sie schon, weshalb geblasen wird?« – »Ja. Die Gräfin Rodriganda ist vom Herrn Doktor Sternau gerettet worden.« – »Ja. Der Doktor ist ein Teufelskerl in der Medizin, aber von einem guten Küchenzettel versteht er weder Gix noch Gax. Sie haben ihn wohl noch gar nicht einmal gesehen?« – »Nein. Und doch möchte ich so gern und recht bald einmal mit ihm sprechen.« – »Ist es etwas Besonderes? Sind Sie krank oder eins der Ihrigen?« – »Nein. Es ist eine spanische Geschichte, die vielleicht von Wichtigkeit für ihn ist.« – »Eine spanische Geschichte? Sapperlot, das klingt ja höchst interessant!« – »Von Rodriganda.« – »Alle Teufel! Was wissen Sie von Rodriganda? Darf ich es denn nicht erfahren?« – »Ich weiß nicht, ob es dem Herrn Doktor lieb sein wird, wenn ich zu anderen eher davon spreche als zu ihm. Es handelt sich vielleicht gar um ein wichtiges Geheimnis.« – »So! Na, da will ich allerdings nicht in Sie dringen. Sind Sie heute zu Hause?« – »Ja.« – »Gut, so werde ich zu Ihnen schicken, sobald er einmal zu sprechen sein wird. Adieu!«
Es dauerte nicht lange, bis die leichte Suppe für Rosa zubereitet war. Frau Elvira trug sie nach dem Krankenzimmer. Als sie in dasselbe eintrat, saß die Gräfin aufrecht im Bett und Sternau an ihrer Seite.
»Willkommen, meine gute Elvira«, sagte Rosa. »Ich habe lange nicht mit dir sprechen können.« – Der guten Kastellanin liefen sofort die hellen Tränen über die Wangen.
»Oh, meine liebe, beste Condesa«, schluchzte sie. »Der heiligen Madonna sei Dank, daß Sie mich wiedererkennen. Wir haben alle während Ihrer bösen Krankheit große Betrübnis erlitten.« – »Ich bin nun wieder wohl, und du kannst fröhlich sein.«
Rosa nahm die leichte Speise zu sich; dabei röteten sich ihre Wangen immer mehr, und Doktor Sternau gewann die vollständige Überzeugung, daß er bereits heute über die traurigen Ereignisse sprechen könne, die sie aus Spanien nach Deutschland geführt hatten.
Nach dem Essen versank Rosa wieder in leichten Schlummer, der dem Arzt willkommen war, da er die Kräfte der Genesenden voraussichtlich noch mehr stärken mußte. Frau Sternau blieb mit Elvira im Krankenzimmer zurück, Sternau jedoch ging hinab, um nach dem anstrengenden Wachen frische Luft zu schöpfen.
34. Kapitel
Als Sternau durch das Vorwerk schritt, saß der Steuermann auf der bereits erwähnten Bank des Hofes. Den Doktor erblickend, erhob er sich und zog grüßend den Südwester, den er auch dann zu tragen pflegte, wenn er sich in der Heimat befand. Sternau dankte durch das Abnehmen seines Hutes und blieb stehen, da er merkte, daß der andere mit ihm zu sprechen beabsichtigte.
»Verzeihung! Sind Sie der Doktor Sternau?« fragte Helmers. – »Ja«, lautete die Antwort. – »Haben Sie Zeit zu einer Mitteilung, die ich Ihnen notwendigerweise machen muß?« – »Ja. Sie sind gewiß der Steuermann Helmers, der Vater unseres kleinen Kurt?« – »Sie haben es erraten, Herr Doktor. Ich bin erst vor ganz kurzer Zeit hier angekommen.« – »Ist Ihre Angelegenheit eine ärztliche?« – »Nein. Sie betrifft Ihren Aufenthalt und Ihre Erlebnisse in Spanien!« – »Ah!« sagte Sternau verwundert. »Waren Sie in Spanien?« – »Nein, aber ich habe während meiner letzten Seereise zufälligerweise einiges erfahren, was Sie interessieren wird, wie ich annehmen muß.« – »Sie machen mich wirklich neugierig! Ich wollte jetzt einen kleinen Spaziergang machen, um mich zu erholen, aber wir haben ja hier frische Luft genug. Setzen wir uns also auf diese Bank.«
Sie nahmen beide nebeneinander Platz, und der Steuermann begann zu erzählen. Je weiter er in seinem Bericht kam, desto größer wurde die Aufmerksamkeit, mit der Sternau ihm zuhörte. Endlich sprang dieser auf und rief erregt:
»Herr, Sie glauben gar nicht, wie wichtig mir Ihre Mitteilungen sind. Also Sie sagten, daß sich wirklich ein Gefangener im Raum jenes Piratenschiffs befand?« – »Ja.« – »Daß dieser aus Rodriganda entfuhrt worden sei?« – »Ja.« – »Und daß ein gewisser Gasparino Cortejo seine Hand dabei im Spiel gehabt habe?« – »Ja.« – »Wie nannte man den Kapitän des Schiffs?« – »Henrico Landola. Sein Schiff ist ›La Pendola‹, was zu deutsche ›die Feder‹ heißt. Das Schiff hatte eine Maske angelegt. Ich wette um mein Leben, daß die ›Pendola‘ nichts anderes ist als das Raubschiff ›Lion‹, das die afrikanischen und ostamerikanischen Meere unsicher macht« – »Mein Gott dann wäre ja dieser Henrico Landola kein anderer als Kapitän Grandeprise?« – »Gewiß, Herr Doktor. Es sollte mich freuen, wenn meine Mitteilungen Ihnen von einigem Nutzen sein könnten.« – »Von einigem Nutzen, sagen Sie? Oh, nicht bloß das, sondern von einer ganz außerordentlichen Wichtigkeit sind sie mir!« antwortete Sternau. Und dann fügte er nachsinnend hinzu: »Das stimmt ja ganz genau mit dem zusammen, war mir Garbilot im Gefängnis gesagt hat!« – »Garbilot?« fragte Helmers. »Jacques Garbilot vielleicht?« – »Ja. Kennen Sie ihn, Steuermann?« – »Oh, sehr gut. Er war ein tüchtiger Kerl. Als ich Schiffsjunge auf dem ›Entrebras‹ war, führte er als Matelot dieses Schiff. Später trafen wir wieder auf dem ›Country‹ zusammen. Dann ging er ab, man hörte sagen, daß er auf die schlimme Seite gefallen und unter die Piraten gegangen sei. Es sollte mir leid tun, wenn dies wahr gewesen wäre.« – »Es ist wahr gewesen, er hat es mir in seiner Todesstunde gestanden. Ich habe seine Beichte gehört, denn er befand sich mit mir in einer Gefängniszelle, in der er in meiner Gegenwart gestorben ist. Ich bin Ihnen sehr viel Dank schuldig für das, was Sie mir heute gesagt haben. Wissen Sie nicht wohin die ›Pendola‹ von Madeira aus gegangen ist?« – »Ich hörte, daß sie an Kapstadt anlegen wolle, aber bei einem Piraten darf man solche Angaben leicht bezweifeln. Sie werden ja wissen, daß diese Art von Schiffen keinen bestimmten Kurs einhält Ein Seeräuber fährt nur dahin, wo er eine Beute erwarten kann.« – »Wäre es denn nicht von hier aus zu erfahren, wo die ›Pendola‹ angelegt hat oder gesehen worden ist?« – »O ja, aber eine solche Erkundigung ist mit bedeutenden Geldkosten verknüpft Wenden Sie sich an das Auswärtige Amt nach Berlin und lassen Sie von dort aus bei den Konsuln anfragen. Sie werden Nachricht erhalten, obgleich eine ziemliche Zeit bis dahin vergehen wird.« – »Wenn ich nun bitte, diese Anfragen auf telegrafischem Weg zu tun?« – »So wird es schneller gehen, aber auch mehr Kosten verursachen. Aber ich setze den Fall, daß Sie erfahren, in welcher See sich die ›Pendola‹ befindet, was kann es Ihnen dann helfen?« – »Ich werde dieses Raubschiff aufsuchen.« – »Weshalb?« – »Um den Gefangenen zu befreien!« – »Ist Ihnen seine Freiheit so wertvoll?« – »Von ungeheurem Wert! Vielleicht erzähle ich Ihnen den Fall später ausführlich. Sagen Sie einmal: Stehen Sie jetzt im Engagement?« – »Nein.« – »Getrauen Sie sich, ein Schiff zu führen?« – »Das versteht sich!« – »Vielleicht eine kleine Dampfjacht?« – »Ja, wenn ich einen guten, zuverlässigen Maschinisten im Raum habe.« – »Würde es eine solche Jacht mit der ›Pendola‹ auf offener See aufnehmen können?« – »Alle Teufel, das ist keine leichte Frage! Sie müßte allerdings einige sehr brave Geschütze haben, fest gebaut sein und mit tapferen Jungs bemannt werden, die gut zu bewaffnen wären.« – »Also für möglich halten Sie es?« – »Unter den angegebenen Bedingungen, ja.« – »Wie teuer würde eine solche Jacht sein?« – »Hundertzwanzigtausend Mark ohne die Ausrüstung.« – »Könnte man eine gebrauchte zu kaufen bekommen?« – »Hm, wohl schwerlich. Dergleichen Fahrzeuge werden nur zum Privatgebrauch gebaut. Es sind Vergnügungsschiffe für Millionäre, und für so einen Geldmenschen wäre es geradezu eine Schande, seine Jacht zu verkaufen. Übrigens würde ein gebrauchtes Fahrzeug für Ihren Zweck wohl kaum etwas taugen. Sie müssen sich einen guten Seefisch nach Ihren eigenen Angaben bauen lassen. Auch die Ausrüstung würde nach diesen Angaben hergestellt werden müssen.« – »Wo baut man am besten?« – »Ich würde für die berühmten Werften zu Greenock am Clyde stimmen.« – »Also in Schottland!« – »Ja. Sie müßten in eigener Person hinreisen.« – Aber ich verstehe mich auf dieses Fach nicht gut genug. Hätten Sie Lust, mich zu begleiten im Fall, daß ich mich entschließe, Ihren Rat auszuführen?« – »Von Herzen gern, Herr Doktor!« – »Nun gut, so werde ich es mir überlegen. Meine Schwester, die Ihre Frau sehr lieb hat, fragte mich, ob ich nicht geneigt sei, Ihnen eine Summe vorzuschießen, die Sie in den Stand setzte, sich zur See selbständig zu machen. Bestelle ich mir eine Jacht, so sind Sie zwar nicht der Besitzer, aber doch der Kommandant derselben, und erreichen wir unseren Zweck, so werde ich gern bereit sein, auch weiter für Sie zu sorgen. Jetzt will ich noch ein wenig nach dem Wald gehen. Was Sie mir mitgeteilt haben, ist so ausführlich, daß ich der Einsamkeit bedarf, um es mir zurechtzulegen. Guten Abend, Steuermann!« – »Guten Abend, Herr Doktor!«
Die Herren reichten einander die Hände und trennten sich. Ein jeder von ihnen hatte die Überzeugung, daß ihre Schicksale von jetzt an, wenigstens für einige Zeit, miteinander verbunden seien.
Es war wohl mehr als eine Stunde vergangen, als Sternau wieder zurückkehrte. Als er in das Krankenzimmer trat, fand er Rosa unter strömenden Tränen noch im Bett sitzend. Die Kastellanin saß bei ihr und weinte mit. Seine Mutter hatte ihren Platz am Fenster inne und kam bei seinem Eintritt sehr eilfertig auf ihn zu. Es mußte etwas ihr Unangenehmes geschehen sein. – »Wie gut, daß du kommst, Karl!« sagte sie. »Ich kann nicht Spanisch verstehen, aber ich vermute, daß Frau Elvira geschwatzt hat. Sie sprachen sehr viel und sehr lange miteinander, und ich vermochte es nicht, sie durch meine Bitten zum Schweigen zu bringen!«
Sternau wandte sich mit besorgten Blicken zu Rosa, diese aber bat ihn mit bewegter Stimme:
»Zürne uns nicht, mein Carlos! Die gute Elvira erzählte mir einiges, und da konnte ich es nicht länger aushalten, ich habe ihr alles abgefragt« – »Aber, mein Gott, das muß dir heute ja unendlich schädlich sein!« sagte er. – »Nein«, antwortete sie. »Die Gewißheit greift mich nicht so sehr an wie die Besorgnis, die ich vorher empfand.« – »So fühlst du dich nicht angegriffener als vorher?« – »Nein. Oh, ich bin stark, nachdem ich erfahren habe, was du gelitten hast, du sollst dich meiner nicht zu schämen haben. Ich werde mich bemühen, deiner wert zu sein. Mein Gott, mein guter Gott, so bin ich also wahnsinnig gewesen! Wirklich?« – »Ja, wahnsinnig infolge eines Gifts.« – »Welches mir Cortejo gab?« – »Ich vermute es.« – »Es war dasselbe Gift, das mein Vater erhielt?« – »Ja.« – »Wo befindet er sich? Du sagtest daß er noch lebe.« – »Beruhige dich, mein Herz! Ich werde dir erzählen. Ich glaube nicht, daß unsere Elvira dir alles so sagen könnte, wie es eigentlich zu berichten ist. Da du einmal einiges weißt, sollst du nun auch alles erfahren, denn ich sehe, daß du wirklich stark genug bist, die Wahrheit zu hören.«
Sternau nahm bei Rosa Platz, und nun wurde der Abend der Besprechung jener Ereignisse gewidmet, die von so großem Einfluß auf das Schicksal der Familie de Rodriganda gewesen waren.
Am anderen Morgen, als Rosa vom Schlaf erwachte, fühlte sie sich so gekräftigt, daß sie aufstand und sich von Elvira ankleiden ließ; dann erlaubte sie Alimpo, zu ihr zu kommen.
Als derselbe in ihr Zimmer trat, stand sie inmitten desselben im Morgenkleid ebenso frisch und schön da, wie er sie auf Rodriganda gesehen hatte. Er eilte auf sie zu, sank vor Rührung vor ihr nieder und zog ihre beiden Hände an seine Lippen.
»Oh meine liebe, liebe, gnädige Condesa«, rief er mit überströmenden Tränen, »wie danke ich Gott, daß Sie gerettet sind!« – »Ich danke ihm nicht minder, daß ich nun wieder mit euch sprechen kann«, antwortete sie. – »Daran ist nur Señor Sternau schuld; nur er allein hat Euch wieder gesund gemacht!« – »Ich weiß es. Er hat mir auch erzählt, was ihr für ihn und mich getan habt. Habe Dank dafür, du Treuer du!« – »Oh, das ist nichts, das ist gar nichts«, versicherte er. »Wir würden Euch folgen bis an das äußerste Ende der Erde. Meine Elvira sagt das auch.« – »Ich werde nachsinnen, ob ich euch diese Aufopferung ein wenig vergelten kann. Aber, willst du nicht einmal zu Señor Sternau gehen und ihn fragen, ob ich einige Minuten lang Spazierengehen darf!« – »Sogleich, sogleich! Oh, unsere Condesa kann wieder sprechen und spazierengehen!«
Mit diesem Freudenruf sprang Alimpo in höchster Eilfertigkeit zur Tür hinaus und brachte bereits nach zwei Minuten den Arzt herein, der sich freute, die Patientin so wohlauf zu sehen, und ihr infolgedessen den Spaziergang unter seiner Begleitung erlaubte.
35. Kapitel
Bereits eine Stunde früher war schon ein anderer nach dem Wald gegangen, nämlich der kleine Kurt, der es sich nicht nehmen ließ, in der Morgenfrühe mit seinem Gewehr im Forst herumzustreifen. Er hatte tief drin einen sehr guten Bekannten, den er heute aufsuchen ging, nämlich den Waldhüter Tombi, der in einer einsamen, tief versteckten Hütte wohnte und große Stücke auf den Knaben hielt, dessen Lehrer er in gar mancherlei Dingen war.
Als Kurt die kleine Lichtung erreichte, auf der die Hütte lag, sah er aus dem niedrigen Rauchfang derselben blaue Rauchwolken aufsteigen.
»Ah, er ist nicht fortgegangen; das ist gut, da bekomme ich gute Gesellschaft!«
Mit diesen vor sich hingesprochenen Worten schritt er auf die Hütte zu und klopfte an die Tür derselben.
»Wer ist da?« fragte eine helle, kräftige Stimme von innen. – »Kurt«, antwortete der Knabe. – »Gleich!«
Tombi konnte nicht sogleich öffnen, denn er befand sich bei einer Beschäftigung, von der der Knabe nichts wissen sollte. Er saß nämlich an einem alten Tisch und las bei verschlossenen Läden und dem Schein des auf dem offenen Herd brennenden Feuers einen Brief, der in fremdartigen Schriftzügen geschrieben war. Das daneben liegende Kuvert trug den Poststempel von Manresa in Spanien und die Adresse: »An den Forsthüter Tombi in Rheinswalden bei Mainz, Deutschland.« Ein Kenner hätte die Buchstaben des Briefes als arabische erkannt; das Schreiben selbst aber war in jenem malaiischen Dialekt abgefaßt, der auf den westlichen Inseln des Stillen Ozeans gesprochen wird und viel mit arabischen Wörtern vermengt ist. Es lautete:
»An Tombi. Mein Sohn!
Ich freue mich, daß es unseren Schützlingen wohl geht. Bei Doktor Sternau war dies nicht der Fall. Jetzt ist er mit der Wahnsinnigen abgereist Er ist über die Grenze und wird wohl nach Paris gehen. Es ist auch möglich, daß er sie zu seiner Mutter und Schwester führt Sollte dies der Fall sein, so wache über ihr Glück. Es wird einst die Zeit kommen, in der sie es dir danken werden und in der auch wir Rache nehmen an dem, der uns verstoßen hat. Schreibe mir alles, was passiert, und auch ich werde dich benachrichtigen, wenn etwas vorkommt. Du bist der zukünftige König der Gitanos. Vergiß nicht daß dein Schutz mächtig ist über alle, die ich unter denselben gestellt habe!
Deine Mutter
Zarba, die Königin.«
Der Waldhüter hatte diesen Brief gestern empfangen. Heute las er ihn noch einmal durch, bis er dabei durch den Besuch des Knaben gestört wurde. Nun legte er ihn schnell zusammen, steckte ihn in das Kuvert und verbarg dieses in einer Brieftasche, die in einer alten Lade lag.
Dieses Portefeuille paßte nicht zu dem alten, rissigen Möbel, in dem es aufbewahrt wurde. Es war aus dem feinsten Saffianleder gefertigt, enthielt ein mit Goldschnitt gefertigtes Notizbuch, in dem alle Bemerkungen in der erwähnten Malaiensprache niedergeschrieben waren, und in den Taschen außer mehreren geheimnisvollen Schriften und Briefen auch noch einen ziemlich dicken Stoß von Banknoten, die einen Wert repräsentierten, dessen Besitz kein Mensch dem unscheinbaren Waldhüter zugetraut hätte. Nun erst, nachdem er den Brief versteckt hatte, öffnete er.
»Guten Morgen, Tombi!« grüßte der Kleine. – »Guten Morgen«, dankte der Hüter.
Das Licht des Morgens fiel auf seine schlank und kräftig gebaute Gestalt. Wer den falschen Grafen Alfonzo de Rodriganda kannte und diesen Waldhüter erblickte, dem mußte die ganz außerordentliche Ähnlichkeit auffallen, die zwischen diesen beiden herrschte, nur daß die Gesichtszüge des Hüters ein dunkleres Kolorit zeigten und in ihrem Schnitt an jene Physiognomien erinnerten, die man vorzugsweise bei den Zigeunern findet.
»Du stehst wohl erst auf?« fragte der Knabe. – »Nein. Ich habe gar nicht geschlafen.« – »Was hast du getan?« – »Ich habe einem Bock aufgelauert.« – »Hast du ihn erwischt?« – »Ja.« – »Wo liegt er?« – »Hier in der Höhle.« – »Den muß ich sehen! Zeige ihn mir schnell!« sagte Kurt ganz begeistert. – »So komm herein!«
Das Deutsch des Waldhüters klang fremdartig und gebrochen. Er hatte ein scharfes, durchdringendes Auge und einen Zug der Biederkeit, der Aufrichtigkeit im Gesicht, der ihm das Vertrauen aller erweckte, mit denen er in Verkehr kam.
Er führte den Knaben in das Innere der Hütte, wo der Rehbock lag, über den sich Kurt sogleich niederbeugte, um ihn aufmerksam zu betrachten.
»Ein Kapitalbock!« – »O ja! Ich bin ihm bereits seit langer Zeit nachgegangen.« – »Aufs Blatt getroffen und im Feuer zusammengestürzt! Du bist ein tüchtiger Kerl, Tombi!« – »Du auch, Kleiner!« lachte der Hüter. – »Wieso?« – »Ich habe noch gestern gehört, daß du einen Fuchs geschossen hast.« – »Ja. Auch er war ein tüchtiger Kerl!« sagte Kurt mit stolzer Miene. – »Wer war mit?« – »Der Ludwig und die beiden anderen.« – »Haben denn die nicht getroffen?« – »Nein.« – »Hm!« brummte der Hüter mit einem scharfen Blick in das Gesicht des Jungen. »Der Ludwig schießt doch sonst sehr gut. Er fehlt niemals. Das ist kurios. Hat er denn auf den Fuchs gezielt?« – »Nein«, antwortete Kurt verlegen. – »So hat er also gar nicht geschossen?« – »Doch, o ja!« – »Ja, worauf denn?« – »Hm! Frage ihn selbst!« – »Donneritta! Ist es denn ein so großes Geheimnis?« – »Allerdings.« – »Auch vor mir?« – »Auch vor dir«, nickte Kurt – »Höre, Junge, ich denke, wir sind gute Freunde!« – »Das denke ich auch.« – »Nun, zu einem guten Freund hat man Vertrauen!« – »Das habe ich ja zu dir. Aber der Ludwig ist mein guter Freund auch, und es gibt Sachen, die man selbst einem guten Freund nicht erzählen darf.« – »Donneritta, du redest ja wie ein Buch, Kleiner!« lachte der Hüter. Dann fragte er mit einer schelmischen Miene, die ihm sehr gut stand: »Ich habe gehört, daß ihr im Schloß Trauer habt.« – »Trauer? Weshalb?« – »Weil ein Weibsbild gestorben ist.« – »Ein Weibsbild? Davon weiß ich ja gar nichts!« – »Ja, ein Weibsbild. Eigentlich nicht gestorben ist sie, sondern man hat sie geradezu ermordet.«
Da trat Kurt erschrocken zurück und rief:
»Ermordet? Und ich weiß nichts davon!« – »Ja, ermordet, elendiglich erschossen!« – »Wer ist denn der Mörder, he?« – »Hm! Der Ludwig!« – »Das ist nicht wahr!« rief der Knabe eifrig. »Der Ludwig ist kein Mörder und kein Totschläger!« – »Das habe ich auch gedacht, aber da sieht man, wie man sich sogar in seinem besten Freund irren kann. Er hat das Weibsbild ermordet und dann heimlich im Garten vergraben.«
Da besann sich der Knabe endlich und rief lachend:
»Ach, jetzt weiß ich es, welches Weibsbild du meinst!« – »Nun?« – »Die Waldina.« – »Ja, die Waldina«, nickte der Hüter befriedigt. »Junge, ich wollte dich auf die Probe stellen, und du hast sie gut bestanden. Man darf seine Freunde nie blamieren, und du wolltest über den schandbaren Tod der armen Waldina schweigen, um der Ehre Ludwigs keinen Schaden zu tun. Das war recht von dir!« – »Es hat ihm weh getan«, sagte der Knabe. Ich glaube, er hatte eine Träne im Auge; es war ein Sauschuß.« – »Ja, ein echter, richtiger Sauschuß. Ich hoffe, daß du niemals einen solchen tun wirst!« – »Fällt mir gar nicht ein!« – »Warum kamst du diese Tage nicht zu mir?« – »Ich hatte keine Zeit. Als ich den Fuchs geschossen hatte, kam Besuch.« – »Wer?« – »Onkel Sternau.« – »Wer noch?« – »Die Gräfin Rodriganda nebst Cousin Alimpo und Cousine Elvira. Weißt du das noch nicht?« – »Ich habe davon gehört! Wie gefallen sie dir?« – »Wie sollen sie mir gefallen! Gut, sehr gut. Den Onkel Sternau habe ich sehr lieb, und die Cousine ist so dick und gut, daß man sie gleich gern hat, wenn man sie sieht«
Der Hüter lachte.
»Also dick muß man sein, um dir zu gefallen? War die Gräfin nicht krankt?« – »Ja, sehr. Aber der Onkel hat sie schnell wieder gesund gemacht. Oh, er ist ein gescheiter Kerl, viel gescheiter sogar als der Herr Hauptmann; das sagen alle Leute!« – »Auch gescheiter als du?« fragte der Hüter scherzend. – »Ja, aber wenn ich einmal so groß bin wie er, dann nehme ich es mit ihm auf; darauf kannst du dich fest und getrost verlassen.« – »Dann machst du keine Dummheiten mehr?« – »Nein. Habe ich denn einmal welche gemacht?« – »O bewahre!« lachte Tombi. »Du errettest Gefangene und schießt Staatsanwälte tot!«
Da stieg die Röte der Scham und des Zorns in das Gesicht des Knaben, und er sagte:
»Du bist nicht gut, Tombi, du bist schlecht.« – »Ah, warum?« – »Hast du nicht erst vorhin gesagt, daß du mein guter Freund bist?« – »Ja.« – »Und daß gute Freunde sich nicht blamieren sollen?«
Der Hüter machte ein sehr ernsthaftes Gesicht und antwortete:
»Du hast recht, Kurt! Aber gute Freunde können unter sich auch einen Spaß verstehen!« – »Diese Art Spaß liebe ich nicht. Komm, wir wollen schießen!«
Kurt sagte das mit einer so indignierten Miene, als ob ihm die größte Beleidigung widerfahren sei. Der Hüter nickte schweigend mit dem Kopf, nahm sein Gewehr zur Hand und trat mit Kurt aus der Hütte, wo auf der Lichtung ein Schießstand errichtet war. Hier pflegten sich die beiden zu üben, und hauptsächlich hier hatte sich der Knabe seine Treffgeschicklichkeit geholt.
Sie nahmen auch heute ihre gewöhnlichen Übungen auf. Tombi erwies sich als ein ganz vorzüglicher Schütze, aber der Knabe gab ihm wenig nach. Während der Übung bedienten sie sich einer fremd und eigentümlich klingenden Sprache, von der kein Bewohner der Umgegend ein Wort hätte verstehen können. Kurt hatte sie spielend gelernt. Als die Übung beendet war, kehrte der Knabe zum Schloß zurück, und der Hüter begleitet ihn. Er hatte sich den Rehbock über die Schulter geworfen, um ihn nach dem Schloß zu bringen.
Was sie sich für heute zu sagen gehabt hatten, das war gesagt worden, darum schritten sie nun schweigend hintereinander her. Sie mochten etwas über die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, als sie Stimmen vor sich hörten.
»Komm herein!« sagte der Hüter.
Er faßte dabei den Knaben und zog ihn in das dichte Gebüsch, das von hohen Eichen und Buchen überragt wurde. Dort blieben sie schweigsam und lauschend stehen. Vielleicht ertappten sie auf diese Weise Leute, die in irgendeiner verbotenen Absicht den Wald aufsuchten. Solche Leute gab es in der Umgegend genug.
Sie hatten noch nicht lange gestanden, so bemerkten sie, daß sie sich getäuscht hatten, denn die beiden, die des Weges daherkamen, waren keine anderen als Sternau und die Gräfin Rosa de Rodriganda.
»Donneritta!« brummte der Hüter überrascht, »ganz der Herzog Olsunna! Ganz wie aus den Augen geschnitten!« – »Was?« fragte Kurt leise. – »Oh, nichts«, flüsterte der Gefragte, sich rasch zusammennehmend. »Wer ist dieser Riese?« – »Onkel Sternau.« – »Und diese prächtige Dame?« – »Die Gräfin.« – »Lassen wir sie vorüber.«
Dies war ein Beschluß, der sich nicht so leicht als ausführbar erweisen sollte. Denn als Sternau Arm in Arm mit der Geliebten langsam dahergeschritten kam und jetzt in ihrem Gespräch eine Pause eingetreten war, während welcher beide nachdenklich ihren Weg fortsetzten, krachte es plötzlich links von ihnen in den Büschen, und es ließ sich ein zorniges und schnaubendes »Hu hu hu hu« vernehmen.
»Was ist das?« fragte Rosa, stehenbleibend. – »Das klingt fast wie eine Wildsau auf der Flucht«, antwortete Sternau besorgt.
Er hatte diese Worte kaum gesagt, so brach es aus dem Buschrand hervor. Ja, es war ein Eber! Er sah das Paar, glotzte es einen Augenblick lang grimmig mit seinen kleinen Augen an, senkte dann den mit zwei fürchterlichen Hauern bewehrten Kopf und stürzte sich auf Rosa, die mit ihrer auffälligen Kleidung seinen Zorn mehr auf sich zog als Sternau.
»Heilige Madonna!« rief sie, vor Schreck nicht fähig, auch nur einen einzigen Schritt zu tun, und »Heiliger Gott!« rief auch Sternau in fürchterlicher Angst, da er keine Waffe bei sich trug, dabei umfaßte er die Geliebte, riß sie gerade in demselben Augenblick, in dem der Eber seinen hauenden Stoß führen wollte, empor und sprang mit ihr zur Seite. – »Holla, Onkel, keine Angst!« rief da eine helle Kinderstimme, und zu gleicher Zeit ertönte ein Schuß. Da blieb der Eber, der zum zweiten Stoß, der jetzt ganz gewiß getroffen hätte, ausholte, einen Augenblick lang wie erstarrt stehen, schnellte dann um einige Schritte zur Seite, wankte wie betrunken und brach zusammen.
»Hurra! Fertig! Auf einen einzigen Schuß!« jubelte dieselbe Kinderstimme.
Erst jetzt gewann Sternau seine volle Tatkraft wieder, die er aus Angst um die Geliebte, was bei ihm noch niemals vorgekommen war, für einen Augenblick verloren hatte.
»Du, Kurt?« fragte er den Knaben, der soeben aus den Büschen trat. – »Ja, ich!« lachte dieser, das Gewehr noch immer erhoben, um nötigenfalls sogleich den zweiten Lauf abschießen zu können. »Ist der Bursche wirklich tot, Onkel?« – »Ich glaube es. Oh, Kurt, Herzensjunge, du hast uns das Leben gerettet!« – »O nein, Onkel«, antwortete der Junge. »Du bist stark, du hättest diesen Keiler in den Boden getreten. Darum bin ich froh, daß ich dir zuvorgekommen bin.« – »Wie kamst du hierher?« – »Ich wollte nach dem Schloß. Ich war bei dem Tombi, der einen Bock hintragen will.« – »Tombi? Wer ist das?« – »Da, da steht er ja.«
Nun trat Tombi hervor und antwortete:
»Herr, ich bin Waldhüter und gehöre zum Schloß.«
Als Sternau ihn erblickte, wich er vor Überraschung einen Schritt zurück, und Rosa erging es ebenso, und sie rief erstaunt, sich nicht auf die Gegenwart besinnend:
»Alfonzo! Ah, nein! Aber welche Ähnlichkeit!« – »Tombi heißen Sie?« fragte Sternau, sich fassend. »Das ist kein deutscher Name!« – »Ich bin kein Deutscher, Herr.« – »Was denn?« – »Ein Gitano.« – »Ah, ein Zigeuner!« – »Ein spanischer Zigeuner!« setzte Rosa hinzu. »Denn nur diese werden Gitanos genannt.« – »Ja, meine Dame«, antwortete Tombi spanisch, da Rosa in dieser Sprache gesprochen hatte. – »Aus welcher Gegend?« – »Aus keiner«, antwortete er mit einem wehmütigen Lächeln. »Der Gitano hat keine Heimat; er kennt weder Nähe noch Ferne; er kennt weder Gegend noch Richtung. Er zieht und wandert, und wo er ist, und wo er hinkommt, da ist er fremd und ausgestoßen.« – »Doch nur durch böse Menschen. Oh, wie freut es mich, die Sprache meiner Heimat zu hören. Wie kommen Sie aber hierher in diesen Dienst?« – »Ich habe Spanien und Frankreich oft durchzogen, dann auch Deutschland. Als ich hierherkam, war ein großes Treiben. Man brauchte Leute und stellte mich zu den Treibern. Da merkte der Herr Hauptmann, daß ich schießen konnte und vertraute mir ein Gewehr an. Er war mit mir zufrieden und fragte mich, ob ich bleiben wolle. Ich blieb.« – »Wie lange ist dies her?« fragte Sternau. – »Drei Jahre.« – »Gerade so lange, wie meine Mutter sich hier befindet. Ich liebe die Zigeuner; ich habe immer welche gesehen, wo ich mich befand, als Knabe, als Student, auf meinen Reisen. Und immer waren sie freundlich und ehrlich gegen mich.«
Sternau ahnte nicht, daß dies kein Zufall sei, sondern daß er sich unter dem Schutz der Königin einer weit verbreiteten Zigeunerverbindung befand.
»Der Gitano ist ein Freund seiner Freunde und ein Feind seiner Feinde«, entgegnete der Hüter. – »Haben Sie keine Verwandten?« fragte Sternau. – »Ich habe viele Verwandte; alle Gitanos sind meine Brüder und Schwestern. Einen Vater habe ich nicht, aber meine Mutter lebt; ihr Name ist Zarba.« – »Zarba?« fragte Rosa schnell. »Ist es möglich!« – »Ja, Zarba«, antwortete er einfach. – »Oh, diese war sehr viel bei uns auf Rodriganda. Sie hat mir sehr oft geweissagt – als ich noch ein kleines Mädchen war«, fügte sie hinzu. – »Später nicht?« fragte Sternau lächelnd.
Rosa erglühte vor Verlegenheit, war aber doch aufrichtig und gestand:
»Auch später einmal. Da riet sie mir – oh, daran habe ich ja gar nicht wieder gedacht! Das ist ja ganz außerordentlich merkwürdig!« – »Was?« – »Sie kannte dich!« – »Mich?« fragte Sternau verwundert. – »Ja, dich!« – »Das wäre allerdings wunderbar. Was sagte sie?« – »Sie war auf dem Schloß, als mein Vater die drei Ärzte kommen ließ, um sich operieren zu lassen. Sie bat mich, mir weissagen zu dürfen, und ich reichte ihr die Hand. Da sagte sie, daß nur ein Arzt, der in Paris lebe, dem Vater helfen könne. Nun dachte ich an dich und nannte deinen Namen. Sie nickte und sagte, ich solle dich kommen lassen, du seiest bei Professor Letourbier.« – »Merkwürdig!« rief Sternau. – »Mutter Zarba weiß alles und kennt alles«, versetzte der Hüter stolz. »Sie ist die Königin des Stammes der Brinjaren und Lambadaren, sie ist mächtiger als mancher Fürst der Erde.« – »Und dennoch bleiben Sie hier?« – »Zarba wird mich rufen, wenn sie meiner bedarf.« – »Ich wünsche ihr alles Gute, habe ich doch ihrem Sohn das Leben zu verdanken, denn wenn Sie nicht mit Kurt in der Nähe gewesen wären, so waren wir verloren. Es soll mich herzlich freuen, wenn Sie mir einmal Gelegenheit geben, Ihnen dankbar zu sein. Vergessen Sie dies ja nicht!«
Sternau nahm Rosa am Arm und kehrte mit ihr nach dem Schloß zurück. Er konnte den Spaziergang nicht fortsetzen, da er befürchten mußte, daß der Schreck die Geliebte zu sehr angegriffen habe. Der Hüter aber blieb mit Kurt noch einige Zeit am Platz, um den Keiler mit Reisern zu bedecken.
»Was seid Ihr Deutschen doch für Leute!« sagte Rosa. »Dieses Kind ist bereits ein vollständiger Held!«
Rosa richtete dabei einen warmen, leuchtenden Blick zu Sternau empor, der ihm deutlich sagte, daß sie ihn noch immer für einen Helden halte, obgleich er ihretwegen einen Augenblick gezittert hatte, aber eben auch nur ihretwegen.
Als sie nach Hause kamen, trafen sie den Jäger im Hof.
»Ludwig«, sagte Sternau, »spanne an. Draußen am Weg nach dem Eichenbühl liegt ein Keiler.« – »Ah, tot?« – »Ja. Soll er sich etwa lebendig hinlegen?« lächelte Sternau. – »Nein, oh, ich Dummkopf dahier! Wer hat ihn geschossen?« – »Kurt.« – »Alle Teufel! Wann?« – »Vorhin. Das Tier fiel uns an, und wir wären schlecht weggekommen, wenn Kurt nicht zufälligerweise in der Nähe gewesen wäre. Ich war ja ohne alle Waffen.« – »Also das Leben gerettet, dahier! Ein Prachtjunge, Herr Doktor! Nicht?« – »Ja; ich werde es ihm niemals vergessen.« – »Ich habe ihn erzogen«, bemerkte Ludwig stolz. »Übrigens hat man bereits nach Ihnen gefragt. Es kam ein Herr gefahren.« – »Wer ist es?« – »Es wird wohl der Staatsanwalt sein, dahier.« – »Ich danke.«
Sternau trat mit Rosa in das Portal. Ludwig aber sah ihnen mit leuchtenden Augen nach und brummte:
»Welch ein Paar! So gibt es bei Gott kein zweites! Er wie eine Eiche, so fest und stolz, und sie wie eine Linde, so mild und schön. Wenn unsereiner so eine Frau bekommen könnte! Aber es ist schon dafür gesorgt, daß einem keine Gräfin auf den Buckel springt dahier.«
Sternau führte unterdessen Rosa nach ihrem Zimmer und begab sich dann nach dem Gesellschaftsraum, wo er den Staatsanwalt bei dem Oberförster fand. Er wurde von beiden auf das herzlichste begrüßt, und der letztere fragte in seiner drastisch wohlmeinenden Weise:
»Wo laufen Sie denn schon so früh herum, Cousin? Und Ihre Kranke schleppen Sie auch mit sich fort! Wenn sie bereits so sehr außer aller Gefahr ist, so haben Sie bei Gott ein wirkliches Meisterstück fertiggebracht.« – »Sie ist allerdings genesen«, entgegnete Sternau einfach. – »Vollständig?« fragte der Oberförster. – »Vollständig. Wenn ich noch gezweifelt hätte, so wäre dieser Zweifel jetzt beseitigt. Sie hat einen großen Schreck ohne alle schlimmen Folgen ausgehalten, der hundert anderen Damen gefährlich geworden wäre.« – »Einen Schreck? Donnerwetter, ich will doch nicht hoffen, daß einer meiner Burschen eine Dummheit begangen hat!« – »Nichts weniger als das! Wir waren in Lebensgefahr oder doch wenigstens in Gefahr, fürchterlich verwundet und zugerichtet zu werden. Wir wurden von einem Keiler angefallen.« – »Alle Teufel!« rief der Oberförster aufspringend. »Sie waren ohne Waffen?« – »Ohne alles. Ich hatte nicht einmal einen Stock.« – »Und die Dame dabei?« – »Ja.« – »Und Sie stehen hier, vollständig gesund und unverletzt? Der Teufel soll mich holen, wenn ich das begreife.« – »Oh, es ist sehr leicht zu erklären. Der Keiler wurde gerade in demselben Augenblick erschossen, als er sich auf die Gräfin stürzte.« – »Von wem?« – »Von Kurt.«
Der Oberförster stand mit offenem Mund da.
»Von dem Jungen?« fragte er. »Ist dieser fünfjährige Bube toll, daß er sich an einen Eber wagt?« – »Er hat uns das Leben gerettet.« – »Derselbe Knabe, der mich erschießen wollte?« fragte jetzt der Staatsanwalt – »Derselbe.« – »Das ist fast unglaublich! Wer das nicht selbst sieht und hört, der muß es für unmöglich halten.« – »Ja«, meinte der Oberförster. »Dieser Junge hat neunundneunzigtausend Teufel im Leib! Er ist bereits von Natur ein ganz ungewöhnlich veranlagter Bengel, nun meistert seine Mutter an ihm herum, und der Waldhüter Tombi da draußen macht den Sack vollends voll. Der Junge reitet und schießt, er liest und schreibt bereits, er lernt Französisch und Englisch, und dieser Tombi spricht gar in einer so fremden Sprache mit ihm, daß ich glaube, sie ist vom Mond herabgefallen.« – »Er war bei ihm«, bemerkte Sternau. – »Das glaube ich. Sie stecken alle Morgen zusammen, plappern ihre Sprache und schießen dazu. Na, der Junge soll eine Freude haben, die sich gewaschen hat. Und der Gräfin hat der Schreck nicht geschadet?« – »Nicht im mindesten.« – »So ist sie bei Gott vollständig hergestellt. Darf man sie sehen?« – »Ich bitte, sie den Herren vorstellen zu dürfen, habe aber vorher noch einiges zu erwähnen.« – »Ah, was Sie gestern von dem Steuermann erfuhren?« – »Ja. Ich möchte es dem Herrn Staatsanwalt erzählen und ihn um seine Meinung ersuchen.« – »Ich bin sehr neugierig. Bitte, beginnen Sie!« sagte der Beamte.
Sternau gab einen kurzen Bericht dessen, was ihm Helmers gesagt hatte, und knüpfte seine Vermutungen und Entschlüsse daran.
»Das ist allerdings ein ebenso eigentümlicher wie glücklicher Zufall«, bemerkte der Staatsanwalt »Wollen Sie mir die Verfolgung dieser Angelegenheit in die Hand geben, Herr Doktor?« – »Gern, wenn sie nicht außerhalb Ihrer amtlichen Befugnisse liegt. Ich verstehe das als Laie nicht.« – »Keine Sorge! Sie sind ein Deutscher, man hat gegen sie machiniert. Es steht mir vieles zu Gebote, dessen Sie entbehren würden. Ich werde schnell die nötigen Schritte tun, um zu erfahren, wann und wo die ›Pendola‹ sich zuletzt gezeigt hat. Ich habe mich auch über die anderen Fragen bereits informiert.« – »Darf ich erfahren…?« – »Gewiß! Die Gräfin ist vollständig legitimiert. Man wird einen Totenschein ihres Vaters erhalten und sich an den spanischen Gesandten wenden. Es wird ihr kein einziger Pfennig ihres Erbteils vorenthalten werden können. Und noch an einen anderen Punkt habe ich gedacht …«
Der Staatsanwalt schwieg und blickte Sternau fragend an.
»Bitte, sprechen Sie weiter.« – »Ich habe zwar keine Erlaubnis dazu gehabt, aber die Klarstellung dieses Punktes verstand sich so ganz und gar von selbst, daß ich es wage, ihn zu berühren. Ich meine nämlich Ihre Verbindung mit der Gräfin Rosa de Rodriganda.«
Sternau errötete ein wenig und sagte:
»Ich habe über das rein Geschäftliche oder Amtliche dieser Sache mit der Gräfin allerdings noch kein Wort gesprochen, bin aber überzeugt, daß sie mir nicht das mindeste Hindernis entgegenstellen, sondern vielmehr alles gutheißen wird, was ich in dieser Beziehung tue und verfüge.« – »Das habe ich erwartet«, versetzte der Jurist. – »Donnerwetter! Viktoria!« rief da der Hauptmann. »Erst Verlobung und dann Hochzeit! Und diese beiden werden hier auf Rheinswalden gefeiert. Das will ich mir ausbitten, Cousin! Verstanden?« – »Oh, bis dahin wird es noch weite Wege haben!« meinte Sternau, glücklich lachend. – »Weite Wege? Was reden Sie da für Unsinn! Sie haben sie den spanischen Halunken, Sie haben sie dem Tod und dem Wahnsinn abgerungen, was soll es da noch weiter geben! Sie ist die Ihrige, sie gehört Ihnen mit Haut und Haar. Ich möchte den sehen, der das nicht einsieht.« – »Die Behörden werden ein Wort mit dreinreden wollen, lieber Herr Hauptmann.«
Da meinte der Staatsanwalt:
»Die Behörden überlassen Sie mir, Herr Doktor. Wir werden diese Angelegenheit noch weiter besprechen, für jetzt aber bitte ich Sie dringend, mich der Gräfin vorzustellen. Ich habe sie wahnsinnig gesehen und bin gerade auf das äußerste gespannt, mein schriftliches Gutachten vervollständigen zu können.« – »Ich werde sie holen.«
Sternau erhob sich und ging.
Als er nach kurzer Zeit mit Rosa wiederkehrte, waren die beiden Männer geradezu geblendet von der unvergleichlichen Schönheit der herrlichen Erscheinung. Der Hauptmann stieß einen kernigen Fluch aus, unterdrückte ihn aber zur Hälfte wieder.
Auch der Blick des Staatsanwalts leuchtete auf. Er hatte Rosa in marmorner Schönheit im Gebet auf dem Boden knien sehen, jetzt erblickte er sie, umleuchtet von geistigem Leben und umweht von jenem Odem, der der Hauch der echten, reinen, hinreißenden Weiblichkeit ist. Beide standen vor ihr wie untertänige Vasallen vor ihrer Herrscherin, und dieses Gefühl verließ sie auch nicht eher, als bis sie sich verabschiedet hatte und wieder nach ihrem Zimmer zurückgekehrt war.
»Himmeldonnerwetter!« rief nun der Oberförster. »Sternau, Doktor, Cousin, wenn Sie nicht innerhalb der nächsten vierzehn Tage Ihre Verlobung machen, so heirate ich sie Ihnen vor der Nase weg, so wahr ich Rodenstein heiße. Verlassen Sie sich darauf, ich halte Wort!«
36. Kapitel
Es war mehr als zwanzig Jahre vor den Ereignissen, die bisher erzählt worden sind. Man feierte in Saragossa den Beginn des Karnevals. In dieser Zeit ist der sonst so ernste und steife Spanier ein vollständig anderer. Er stürzt sich mit fast wilder Lust in den Strudel der Freuden und Vergnügungen hinein, er taucht darin unter sogar bis auf den schmutzigen Schlamm des Grundes und kommt erst dann wieder zur Höhe zurück, wenn das Vergnügen bis auf die Neige ausgekostet ist.
Einer der prächtigsten Paläste der Stadt fast ganz aus carrarischem Marmor errichtet und wegen der Pracht seiner inneren Einrichtung altberühmt, gehörte dem Herzog von Olsunna. Dieser Don, ein Mitglied des höchsten Adels und einer der reichsten Grundbesitzer des Landes, zählte erst vierundzwanzig Jahre und war doch bereits Witwer und Vater eines kleinen, reizenden Mädchens im Alter von drei Jahren. Er hatte aus Familienrücksichten die Tochter eines der angesehensten Häuser geheiratet, ohne sie zu lieben, und fühlte sich keineswegs betrübt, als sie bei der Geburt dieses Kindes starb.
Er galt als ein strenger Katholik, eifriger Patriot und stolzer, finsterer Aristokrat. Viele aber wollten behaupten, daß er den Freuden des Lebens keineswegs abgeneigt sei. Seine Freunde suchten ihn, seiner Stellung und seines Einflusses wegen, seine Feinde haßten ihn, und seine Umgebung, seine Dienerschaft fürchtete ihn und zitterte vor ihm.
Nur ein einziger Beamter seines Hauses war es, der ihn nicht fürchtete, nämlich der Haushofmeister Gasparino Cortejo, der ungefähr in gleichem Alter mit ihm stand. Einen Menschen, dem er sich nahe stellt, muß ein jeder haben, und der Herzog fand, daß sein Haushofmeister ein verschwiegener Charakter sei, dem man Vertrauen schenken könne. Den anderen gegenüber behandelte er ihn seiner Stellung gemäß. Unter vier Augen jedoch wurden die Dehors beiseite geschoben, und die beiden verkehrten so, wie ein junger Lebemann mit seinem Associé und maître de plaisir zu verkehren pflegt.
Heute stand der Herzog in einem seiner prunkvoll eingerichteten Zimmer, rauchte eine kostbare Zigarette und wartete auf Cortejo, zu dem er einen Diener geschickt hatte.
Da trat er ein. Gasparino Cortejos Gesicht zeigte damals noch die Fülle und Rundung des jugendlichen Alters. Er verstand es, Toilette zu machen, und so war es nicht zu verwundern, daß er mit seinem Äußeren und seiner sorgfältig überwachten Tournüre einen nicht unangenehmen Eindruck erzielte.
Er grüßte den Herzog mit einer tiefen Verbeugung, aber dabei mit jenem Lächeln, das hinter der zur Schau gestellten Demut eine schlecht verborgene Vertraulichkeit verrät. Der Herzog erwiderte die Verbeugung mit einem leichten, gnädigen Kopfnicken und fragte:
»Nun, wie steht es mit den Maskenanzügen?« – »Sie liegen bereit, Don Eusebio.« – »Kann man sich darin sehen lassen?« – »Oh!« rief Cortejo und begleitete diesen Ausruf mit einem verheißungsvollen Schnalzen seiner Finger. – »So! Was hast du für mich noch gewählt?« – »Einen Perser.« – »Schön. Das gibt eine Figur und erlaubt, glänzende Waffen und Steine zur Geltung zu bringen. Und du?« – »Ich kleide mich als Mexikaner.« – »Alle Teufel, er hat doch das Beste für sich gewählt. Aber mag es sein. Wirst du in einer Stunde fertig sein können?« – »Sicher.« – »So sende mir den Kammerdiener. Es versteht sich ganz von selbst, daß niemand ahnen darf, daß wir miteinander gehen. Wo treffen wir uns?« – »Hm, ich möchte meine Maske nicht hier anlegen.« – »Ganz recht. Auf diese Weise erfahren die Leute gar nicht, daß du dich verkleidest. Aber wo willst du denn deine Umwandlung vollziehen?« – Cortejo lächelte geheimnisvoll. »Außerhalb des Hauses. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis, Exzellenz, möchte ich mir eine befreundete junge Dame zu dem Fest abholen.« – »Ah, was du sagst! Darf man ihren Namen erfahren?« – »Sie heißt Clarissa Margony.« – »Und wohnt?« – »In der Strada el Amenio.« – »Nummer?« – »Fünfzehn.« – »Nun gut, so trolle dich von dannen! In einer Stunde werde ich in der Strada el Amenio sein.«
Cortejo gehorchte diesem nicht sehr höflichen Gebot, und in kurzer Zeit trat der Kammerdiener ein, mit dem Maskenanzug auf dem Arm, um seinen Herrn anzukleiden.
Der Herzog besaß eine ungewöhnlich hohe und kräftige Figur, wie man sie in Spanien selten findet, infolgedessen bildete er in seinem diamantengeschmückten persischen Habit eine Erscheinung, die Aufsehen erregen mußte.
Unterdessen packte Cortejo seine Maske zusammen und machte sich auf den Weg. Während seines Ganges begegnete ihm ein junger Mann, der sehr einfach nach französischem Schnitt gekleidet war. Die Straße war hier eng, und da gerade ein Arriero – Maultiertreiber – mit seinen Tieren vorüber kam, so gab es nicht genug Raum zum Ausweichen.
»Pack dich zur Seite!« gebot Cortejo dem Fremden.
Dieser antwortete nicht und blieb stehen, um den Maultierzug vorüber zu lassen.
»Hast du nicht gehört, daß du ausweichen sollst?«
Bei diesen Worten gab Cortejo dem anderen einen Stoß mit der Faust in die Seite, aber ohne ein einziges Wort zu erwidern, versetzte der Gestoßene dem unverschämten Angreifer einen so kräftigen Hieb über den Magen, daß Cortejo niederstürzte. Er raffte sich jedoch schnell wieder auf. »Hund, das sollst du mir entgelten!« brüllte er und wollte den anderen packen, kam aber nicht dazu. Sein Gegner war zwar nicht groß und stark gebaut, schien aber in körperlichen Übungen eine sehr bedeutende Gewandtheit zu besitzen, denn ehe Cortejo es sich versah, lag er wieder auf dem harten Steinpflaster der engen Straße, und dieses Mal wurde ihm das Aufstehen nicht so leicht wie vorher. Als er endlich aufrecht stand, waren die Maultiere vorüber, und er erblickte aus den vergitterten Fenstern der benachbarten Häuser so viele Augen spöttisch auf sich gerichtet, daß er eilig von dannen schritt, ohne sich um den Sieger zu kümmern.
Dieser war übrigens bereits ziemlich weit entfernt, er hatte sofort nach dem zweiten kräftigen Hieb seinen Weg fortgesetzt, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach Cortejo umzudrehen, und schritt über die prächtige Brücke, die den Ebro überspannt und die Stadt in zwei Hälften teilt, um dann in eines der größten Häuser zu treten, das Saragossa aufzuweisen hat.
Dieses Haus gehörte dem Bankier Salmonno. Derselbe war Millionär und zugleich Besitzer eines ungeheuren Stolzes. Er stammte aus einer jüdischen Familie namens Salomon, schämte sich jedoch dieser Abkunft und hatte deshalb dem Namen seiner Eltern den spanischen Klang Salmonno gegeben. Übrigens war sein Stolz nicht größer als der Geiz, den er besaß.
Als der junge Mann durch ein Eingang trat, winkte ihm der Portier zu.
»Señor Sternau«, sagte er, »es ist gut, daß Ihr kommt. Don Salmonno hat bereits zweimal nach Euch gefragt.« – »Was soll ich?« – »Ich weiß es nicht, aber er zürnte, daß Ihr nicht zugegen wäret.«
Der junge Mann nickte gleichmütig und öffnete eine mächtige, mit Eisen beschlagene Tür, die in einen langen, niederen Raum führte, wo zahlreiche Kommis an ihren Pulten saßen.
»Schnell, Señor Sternau!« flüsterte der vorderste von ihnen. »Der Don ist sehr übel gelaunt.« – »Weshalb?« – »Ich weiß es nicht.« – »Pah! Befinden Sie sich etwa in einer guten Stimmung?« – »Hm. Man muß schweigen.« – »Ich bedaure Sie, Señor. Heute, zum Beginn des Karnevals, hinter dem Pult sitzen zu müssen! Das kann nur in diesem Haus geschehen. Na, ich werde sehen, ob mir dieser edle Don Salmonno gefährlich wird.«
Sternau durchschritt den Raum und klopfte an eine zweite Tür, die ebenso mit Eisen beschlagen war wie die erste. Es ertönte keine Antwort. Er klopfte abermals, auch zum dritten Mal, erhielt aber erst Antwort, als er zum vierten Mal mit doppelter Stärke pochte und nun eine zornige Stimme rief:
»Entrada – Eintritt!«
Sternau trat ein. Der Raum, in dem er sich jetzt befand, war klein, und an seinen drei Wänden standen ebenso viele Geldschränke. Don Salmonno engagierte nämlich niemals einen Kassierer, da er keinem Menschen traute, als nur sich allein. Er hatte sich jetzt von einem alten Drehstuhl erhoben, auf dem er vor einem noch älteren Pult saß, und fragte zornig:
»Warum klopft Ihr?« – »Weil ich eintreten wollte«, ertönte die ruhige Antwort. – »Und was wollt Ihr?« – »Man schickt mich zu Euch.« – »Ja, ja ich wollte mit Euch reden, aber wenn ich mit dem Erzieher meines Sohnes reden will, so ist er niemals zu Hause. Sind die Deutschen alle so liederlich?« – »Die Deutschen sind nicht liederlicher als die Spanier, Señor, und ich kann wohl sagen …« – »Don werde ich genannt, aber nicht Señor!« unterbrach ihn der Bankier.
Sternau lächelte ruhig und entgegnete:
»Don werden nur die Angehörigen des hohen Adels genannt, aber wenn dieses Wort Euch Vergnügen macht, so sollt Ihr es oft genug zu hören bekommen, Don Salmonno. Was ich aber sagen wollte, das ist, daß ich bisher stets zu haben gewesen bin, wenn ich gerufen wurde. Ihr habt Euch also vorhin einer großen Ungenauigkeit oder gar Unwahrheit schuldig gemacht. Ihr wißt, daß ich meine Pflicht erfülle, und da denke ich, daß ich auch das Recht habe, die gewohnte Achtung und Höflichkeit zu beanspruchen.« – »Vergeßt nicht, daß Ihr in meinen Diensten steht und mein Untergebener seid!« rief der Geldmensch. – »Der Erzieher ist niemals der Untergebene der Eltern, sondern ihr Freund und Helfer, denn er arbeitet an derselben Aufgabe wie sie. Das ist meine Meinung, Don Salmonno.«
Der kleine, schmächtige Erzieher stand dem langen, hageren »Vorgesetzten« so furchtlos gegenüber, daß dieser letztere wirklich sich eingeschüchtert fühlte, nichts entgegnete und nur wiederholte:
»Wo seid Ihr gewesen?« – »Darüber habe ich eigentlich keine Rechenschaft zu geben, aber aus Höflichkeit will ich es Euch sagen, daß ich bei dem Buchhändler war, um einige Bücher für Euren Sohn zu bestellen.«
Da runzelte der Bankier die Stirn und rief:
»Schon wieder Bücher! Könnt Ihr Deutschen denn ohne Bücher gar nichts lehren und lernen? Ich habe im vorigen Monat gerade drei Duros dafür ausgeben müssen. Das ist mir doch zu horrend.« – »Sobald Ihr es fertigbringt, Eure Mahlzeiten ohne Speise und Trank abzuhalten, werde ich es auch versuchen, meinen Unterricht ohne Bücher zu geben. Nun aber bitte ich, mir zu sagen, zu welchem Zweck ich gerufen wurde.«
Der Bankier nahm die ihm gewordene Zurechtweisung mit saurer Miene hin und erwiderte:
»Ihr wißt, daß mein Töchterchen vor einer Woche starb und auch begraben wurde?« – »Allerdings. Ich glaube nicht, daß die Leiche noch im Haus liegt«, sagte Sternau mit unerschütterlicher Ironie. – »Und Ihr wißt auch, daß jene kleine Señorita Wilhelmi die Bonne des Mädchens war?« – »Nicht die Bonne, sondern die Gouvernante. Es ist das ein Unterschied, Don Salmonno.« – »Meinetwegen! Nun begreift Ihr aber, daß ich diese Señorita nicht mehr brauche, da das Kind nicht mehr lebt.« – »Ich begreife es.« – »Daß sie also mein Haus zu verlassen hat!« – »Daß sie es verlassen wird, ja.« – »Gut, sagt ihr das, Señor Sternau! Ich wünsche, daß sie noch heute oder spätestens morgen geht.« – »Das werde ich ihr allerdings nicht sagen, und das wird die Señorita auch gar nicht tun.« – »Warum nicht?« fragte der Millionär mit gut gespielter Verwunderung. – »Aus dem sehr einfachen Grund, weil ich es ihr nicht sagen werde, da dies Eure Sache ist. Außerdem würde sie es auch nicht tun, weil ihr noch nicht gekündigt worden ist.« – »Verdammt! Das sagt Ihr mir?« – »Ja. Ihr hört es ja«, antwortete Sternau lächelnd. – »Ihr werdet also meinen Auftrag nicht ausrichten?« – »Nein.« – »So könnt auch Ihr gehen, heute oder morgen!« erklang es zornig. – »Oh, auch ich werde das nicht tun. Vergeßt nicht, Don Salmonno, daß wir nicht allein Pflichten zu erfüllen, sondern, Gott sei Dank, auch Rechte zu beanspruchen haben. Ich bin der Erzieher Eures Sohnes, nicht aber Euer Domestike, den Ihr mit Befehlen und Aufträgen zur Gouvernante senden könnt.«
Dagegen ließ sich allerdings nichts einwenden; darum entgegnete der Bankier:
»Das weiß ich allerdings, Señor; aber ich glaubte, daß mein Wunsch williger erfüllt würde, wenn Ihr ihn überbringt.« – »Diese Eure Absicht habe ich bereits begriffen, ich sehe aber trotzdem davon ab, der Überbringer Eures Wunsches zu sein. Señorita Wilhelmi steht in einem Engagement bei Euch, das einer vierteljährigen Kündigung unterworfen ist. Das laufende Quartal geht in acht Wochen zu Ende, und erst dann habt Ihr das Recht, zu kündigen.« – »Herr, so glaubt Ihr, daß ich verpflichtet bin, ihr noch einundzwanzig Wochen lang den Lohn zu zahlen?« fragte der Bankier entsetzt. – »Den Lohn nicht, sondern das Gehalt; auch zwischen diesen beiden Begriffen gibt es einen Unterschied.« – »Seid Ihr denn verrückt?« – »Hm, Don Salmonno, seid Ihr denn so unsinnig gewesen, die Erziehung Eures Sohnes einem Verrückten anzuvertrauen?«
Salmonno antwortete nicht, sondern versetzte:
»Der Tod hebt das Engagement auf, ich bezahle nichts!« – »Das geht mich nichts an; das ist Señorita Wilhelmis Sache; ich glaube aber, daß die Dame dem Richter die Entscheidung über diese Sache übergeben wird.«
Da erschrak der Bankier und sagte:
»Nun wohl! Ich werde mir die Angelegenheit nochmals überlegen. Es ist gut, Señor!«
Er machte eine Bewegung des Verabschiedens; der Erzieher blieb aber stehen und sagte:
»Ich habe einige Ausgaben, Don Salmonno. Darf ich um ein Vierteljahresgehalt bitten?«
Der Millionär blickte den jungen Mann so erschrocken an, als ob er einen Geist sähe.
»Wo denkt Ihr hin!« rief er. »Ein ganzes Vierteljahresgehalt! Das ist unmöglich!« – »Warum unmöglich? Habt Ihr etwa kein Geld?« – »Geld? Ah, Gott sei Dank, daran fehlt es mir nicht.« – »Nun also, warum wollt Ihr mir die Zahlung verweigern?« – »Es ist zu viel. Viel zu viel auf einmal!«
Jetzt wurde das Lächeln Sternaus ein mitleidiges.
»Don Salmonno«, sagte er, »bedenkt, daß ich das Gehalt von dreiviertel Jahren in Eurer Kasse ließ. Ich bin nicht gewohnt, um mein Eigentum zu bitten und zu betteln.« – »Ich werde Euch das Gehalt eines Monats geben!«
Jetzt nahm das Gesicht des jungen Mannes den Ausdruck wirklicher Verachtung an.
»Ich wiederhole, daß ich nicht bettle, wo ich zu fordern habe«, sagte er. »Ich sehe, daß ich Gefahr laufe, alle dreiviertel Jahre nur ein Monatsgehalt ausgezahlt zu erhalten, und das kann ich ja umgehen. Ihr werdet die Güte haben, mir das bei Euch stehende Gehalt für alle neun Monate auszuzahlen.«
Da tat der Millionär fast einen Sprung in die Luft.
»Das fällt mir nicht ein!« schrie er voller Angst. – »Gut, so kündige ich! Und ich gehe sofort, noch in diesem Augenblick, um mein Gehalt klagbar zu machen.«
Das hagere Gesicht Salmonnos nahm einen geradezu entsetzten Ausdruck an.
»Das werdet Ihr nicht tun!« zeterte er. – »Das werde ich freilich tun. Paßt auf. Adieu!«
Sternau wandte sich nach der Tür, da aber sprang ihm der andere nach, faßte ihn am Arm und bat:
»Bleibt! Ich werde Euch ein Vierteljahr bezahlen.« – »Darauf gehe ich nicht ein. Dreiviertel Jahre, oder ich gehe zum Richter!«
Sternau ging hinaus, hatte jedoch die Tür noch nicht geschlossen, so rief es hinter ihm mit ängstlicher Stimme:
»Halt, Señor! Kommt herein! Ihr sollt es haben! Aber in Banknoten!« – »Nein, in Gold und Silber!« antwortete Sternau unerbittlich, die Tür noch in der Hand.
Nun stieß der Bankier einen tiefen, herzbrechenden Seufzer aus und sagte beinahe weinend:
»Oh, bei Gott, ich muß mich fügen! Was sind diese Deutschen doch für brutale Menschen! Kommt her!«
Dann öffnete er einen der Geldschränke und zählte dem Erzieher die betreffende Summe vor, war aber dabei bemüht, ihm jedes irgendwie nur beschädigte oder unscheinbare Geldstück mit zu geben. Sternau sagte nichts dagegen und empfahl sich mit großer Höflichkeit, als er die Summe erhalten hatte.
Der Erzieher stieg mit einem befriedigten Lachen die Treppe empor, schloß den so schwer verdienten und noch schwerer errungenen Schatz in seinem Zimmer ein und begab sich darauf nach der entgegengesetzten Seite des Hauses, wo die Wohnung der Gouvernante lag, die auch eine Landsmännin von ihm war.
»Herein!« erklang eine reine, liebliche Stimme, als er klopfte.
Er trat in ein sehr einfaches, ja fast dürftig ausgestattetes Zimmer, dessen Besitzerin bei seinem Anblick sich von dem alten Sofa erhob, auf dem sie gesessen hatte.
»Herr Sternau?« fragte sie freundlich, aber fast überrascht in deutscher Sprache. – »Ja, ich bin es«, antwortete er. »Sie haben wohl ein Recht, sich zu verwundern, daß ich es wage, einmal bei Ihnen einzutreten. Es ist das erste Mal, seit uns das Schicksal in diesem Haus zusammengeführt hat.« – »Wir sind ja Landsleute!« sagte sie.
Eine finstere Wolke ging blitzschnell über sein offenes, durchgeistigtes Angesicht. Er neigte leise den Kopf und antwortete:
»Ja, Landsleute; das ist so viel und doch auch so wenig!«
Die junge Dame hatte Mühe, eine flüchtige Verlegenheit zu überwinden, und deutete auf einen Stuhl, der am entferntesten vom Sofa stand.
»Nehmen Sie Platz, Herr Sternau, und lassen Sie mich erfahren, was Sie zu mir führt.«
Sternau blickte ihr eine kurze Minute lang in die Augen und folgte ihrem Fingerzeig.
»Warum fürchten Sie sich vor mir, Fräulein?« fragte er mit fast traurigem Ton.
Sie errötete leise und antwortete:
»Weshalb glauben Sie, daß ich mich vor Ihnen fürchte?« – »Weil Sie mich, den Landsmann, in die entfernteste Ecke von sich verbannen. Das tut weh, Fräulein Wilhelm! Wir sind jetzt die beiden einzigen Deutschen, die es in Saragossa gibt; wir wohnen sogar in einem Haus, und doch sind wir uns fremder noch als fremd. Das ist Ihr Wille, und ich respektiere ihn, warum also diese Scheu, diese Angst vor mir?«
Der Ton seiner Stimme und der Blick seines Auges drangen ihr doch zu Herzen. Sie streckte ihm zur Abbitte die Hand entgegen und erwiderte:
»Verzeihen Sie mir und rücken Sie mir näher. Ich meinte es nicht bös!«
Sternau schüttelte leise mit dem Kopf, blieb auf seinem Platz und antwortete mit trübem Lächeln:
»Ich danke, Fräulein. Ich möchte nicht um ein Almosen gebeten haben. Ich habe Sie nie beleidigt und Sie wissentlich auch nie gekränkt; dennoch fliehen Sie mich. Ich kann nur annehmen, daß Sie von einem unüberwindlichen Vorurteil gegen mich eingenommen sind. Dagegen läßt sich ja nichts tun, aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen ein aufrichtiges Wort zu sagen, das nur den einzigen Zweck hat, Sie zu beruhigen.« – »Sprechen Sie«, bat sie in gedrücktem Ton.
Er schwieg ein kleines Weilchen, wobei er den Blick hinaus auf den kleinen Balkon gerichtet hielt, als getraue er sich nicht, sie in diesem Augenblick anzusehen. Und wahrlich, das, was er ihr jetzt sagen wollte, wäre ihm doppelt schwergefallen, wenn er das Auge nicht von ihr gewandt hätte.«
Sie war keine imposante, gebieterische Figur, aber sie war dennoch eine ungewöhnliche Schönheit, eine jener feinen, ätherischen Schönheiten, deren Macht in der Lieblichkeit und Harmonie zu suchen ist, die sie besitzen. Es lag eine Holdseligkeit über sie ausgegossen, die unmöglich zu beschreiben ist
Endlich unterbrach er die Pause und begann, aber ohne auch jetzt sein Auge auf sie zu richten:
»Ich bin ein Kind der Armut, mein Fräulein; die Stellung, die ich einnehme, ist eine gewöhnliche; was ich bin, bin ich durch eigene Anstrengung und unter den härtesten Entbehrungen geworden. Mir hat nie des Lebens Sonne gelacht, aber ich hoffte, daß ihr Strahl mich endlich doch auch einmal erreichen werde. Ich sah diesen Strahl hier in diesem Haus, ich sehe ihn auch jetzt noch, aber er gleitet an mir vorüber. Dieser Sonnenstrahl sind Sie!«
Es war unmöglich, diese in so resigniertem Ton gesprochenen Worte zu hören, ohne gerührt zu werden. Er fuhr sich mit der kleinen, fast frauenhaften Hand über die Stirn, wie um einen Schmerz dort zu verjagen, und fuhr in demselben Ton fort:
»Ja, ich liebe Sie, liebe Sie seit dem Augenblick, da ich Sie zum ersten Mal sah, aber diese Liebe hat ihre selbstischen Wünsche längst aufgegeben. Ich werde einsam durch das Leben gehen, so wie es bisher gewesen ist, und an Sie denken wie an einen Stern, den ich erblicke, ohne ihn erreichen zu können, aber dieser Stern werden Sie mir bleiben mein ganzes Leben hindurch, und ich möchte ihn stets hell und heiter strahlen sehen, ich möchte jede Wolke von ihm fernhalten; das ist der einzige Wunsch, den ich hege. Darum komme ich mit der Bitte, daß Sie an mich denken möchten als an einen Freund, der nichts von Ihnen verlangt, kein Wort, keinen Blick, nichts, gar nichts, als nur das einzige, daß Sie sich seiner erinnern mögen, wenn Sie hier im fremden Land einmal des Beistands bedürfen.«
Erst jetzt wanderte sein Blick vom Balkon zu ihr, und er fragte:
»Wollen Sie mir diesen Wunsch erfüllen?«
Es standen ihr die Tränen in den Augen, sie faltete die Hände und antwortete:
»Herr Sternau, zürnen Sie mir nicht! Ich will Ihnen offen gestehen, daß ich Ihr stilles, wortloses Werben vom ersten Augenblick an verstanden habe; ich prüfte mich; ich achtete Sie, achtete Sie sehr hoch und wollte sehen, ob es mir möglich sei, Sie auch zu lieben. Es war mein Wunsch, Sie lieben zu können, aber ich habe gefühlt und erkannt, daß dies unmöglich ist.«
Er nickte traurig mit dem Kopf.
»Ich wußte es«, sagte er, »aber einen Augenblick der Aufrichtigkeit mußte es doch einmal geben. Das ist nun vorüber, und wir wollen es begraben. Wir können nun von anderem sprechen. Ich komme von Salmonno, mit dem ich Ihretwegen eine kleine Szene hatte.« – »Meinetwegen?« – »Ja. Sie kennen seinen Geiz…« – »Wer kennte diesen nicht! Ich glaube, es wird mir nicht leicht werden, die Rechte zu wahren, die mir hier zustehen.« – »Das ist‘s ja, worüber er mit mir sprach. Er mutete mir nämlich zu, Ihnen zu sagen, daß Sie noch heute oder spätestens morgen dieses Haus verlassen möchten.« – »Und Sie sagten zu?« – »Nein, ich wies ihn natürlich zurück, komme aber trotzdem, um Sie zu warnen. Er wird jedenfalls nächstens mit Ihnen sprechen.« – »Ich erwarte es.« – »Er wird Ihnen Ihr Gehalt nicht auszahlen wollen.« – »Das wäre traurig. Ich habe ja gerade darum die Heimat verlassen, weil mir hier in der Fremde ein höheres Gehalt geboten wurde, mit dem es mir möglich ist, meine armen Eltern zu unterstützen; denn ich bin ein Kind der Armut, genau ebenso wie Sie, Herr Sternau.« – »So bitte ich Sie, von Ihrem Recht um keinen Zollbreit zu weichen, und sollte er Sie nicht hören wollen, so kommen Sie zu mir. Ich habe einen gewissen Einfluß über ihn erlangt, den ich sehr gern zu Ihren Gunsten anwenden werde. Das ist es, was ich Ihnen sagen mußte. Und nun, leben Sie wohl, Fräulein Wilhelmi!«
Sternau erhob sich, verbeugte sich vor der Gouvernante und schritt nach der Tür, ohne den Versuch zu machen, ihr die Hand zu reichen. Das schnitt ihr in das Herz; das tat ihr leid und wehe, und zugleich imponierte ihr diese eiserne Willenskraft, die die heißesten Wünsche des Herzens zu bemeistern und die aufsteigende Tränenflut zurückzudrängen vermochte. Sie eilte ihm nach und streckte ihm beide Hände hin.
»Nicht so, nicht so ohne Abschied!« bat sie. »Geben Sie mir wenigstens eine Hand und sagen Sie mir, daß Sie mir nicht bös sind.« – »Ich bin Ihnen nicht bös«, erwiderte er monoton und nahm ihre Hände leise in die seinigen.
Sie erschrak. Seine Hände waren kalt wie Eis; sie fühlten sich an wie die Hände einer Leiche. Aber seine Lippen zuckten, und seine Augen wurden dunkler und dunkler. Er rang mich sich und mußte alle Kräfte aufbieten, sein Weh niederzukämpfen. Das konnte sie nicht mit ansehen. Sie legte die Arme um ihn, blickte in seine überquellenden Augen und sagte:
»Bitte, bitte, weinen Sie nicht! Hoffen Sie! Vielleicht kommt die Zeit, daß Ihr Wunsch Erhörung finden kann!«
Er schüttelte den Kopf.
»Niemals!« sagte er. »Die Liebe läßt sich nicht zwingen. Die Liebe ist keine Bettlergabe; sie flammt empor und ist da, allmächtig und unwiderstehlich. Adieu, Fräulein Wilhelmi!«
Dann ging er. Sie aber blieb, mitten im Zimmer stehend, zurück und legte die Hände auf ihre Brust. Ihr Puls ging ruhig wie immer.
»Warum kann ich ihn nicht lieben?« fragte sie sich. »Er wäre meiner Liebe ja so wert!«
Da erscholl lautes Geschrei und fröhliches Lachen von der Straße herauf. Sie trat hinaus auf den Balkon und sah, daß das Treiben des Karnevals begonnen hatte. Die Straße belebte sich mit Masken, die unter allerlei tollen Späßen auf und ab wanderten, und die Fenster und Balkone füllten sich mit Damen, die diesem Treiben zusahen und sich an den Scherzen von oben herab beteiligten. Das war ein geeignetes Mittel, die trübe Stimmung des Herzens zu verscheuchen. Die Gouvernante blieb auf dem Altan und blickte in das immer reger und dichter werdende Gewühl der Masken hinab.
37. Kapitel
Unterdessen war Gasparino Cortejo zu seiner Freundin gegangen. Clarissa Margony bewohnte ein allerliebstes kleines Logis im Haus eines Produktenhändlers. Sie schien den Kommenden erwartet zu haben, denn sie kam ihm bis an die Treppe entgegen, wo sich beide mehr als herzlich umarmten.
»Endlich, endlich, mein teurer Gasparino!« sagte sie, als er bei ihr im Zimmer stand. »Du hast mich lange warten lassen. Ah, und was bringst du denn da?« – »Ein Maskenanzug!«
Sie klatschte in die großen Hände und untersuchte das Paket.
»Oh, wie herrlich!« rief sie. »Ein Mexikaner! Welch eine Überraschung. Nun will auch ich eilen, daß ich fertig werde mit meinem Anzug.« – »Ah, du hast auch eine Maske?« – »Ja«, jubelte sie. »Ich ahnte, daß du zu deiner Clarissa kommen würdest, um sie zum Karneval zu führen, darum habe ich mir den Anzug einer Griechin besorgt.«
Er machte ein langes Gesicht.
»Alle Teufel, seid ihr Frauenzimmer gescheite Geschöpfe!« lachte er gezwungen. »Also geahnt hat es dir, daß ich komme? Schön; bis hierher wird sich deine Ahnung erfüllen, weiter aber nicht. Ich kann leider nicht daran denken, dich auszuführen, weil ich gezwungen bin, mit dem Herzog zu gehen.« – »Lüge nicht, Gasparino! Der Herzog wird sich hüten, mit dir zur Maskerade zu gehen.« – »Ah, du glaubst es nicht? Nun wohl, du wirst es dennoch glauben, denn er wird kommen, um mich abzuholen.«
Sie erschrak.
»Hierher?« fragte sie. – »Ja.« – »Wann?« – »In dreiviertel Stunden.« – »Du scherzt! Du willst mich nur in Verlegenheit bringen.« – »Ich versichere dir, daß er kommen wird, und zwar als Perser gekleidet«, sagte er in ernstem Ton. – »Dein Herzog? Zu mir? Heilige Madonna!«
Eilig verschwand sie im Kabinett, aus dem sie nach einer Viertelstunde in ihrer besten Kleidung zurückkehrte. Cortejo hatte inzwischen sein Gewand bereits angelegt und fragte sie jetzt:
»Nun, wie gefalle ich dir?« – »Ausgezeichnet. Und ich dir?« – »Wie immer!« – »Aber es ist doch nicht hübsch, daß du ohne mich gehst«, schmollte sie.
Cortejo erwiderte mit einschmeichelnder Stimme:
»Zanke nicht, Clarissa! Du weißt ja, daß ich dich liebhabe, und du weißt auch, daß wir beide nichts besitzen und doch nach oben trachten. Ich habe dem Herzog gesagt, daß dein Name Margony ist. Er darf nicht erfahren, daß du von Adel bist und die Rodrigandas unter deine Verwandten zählst. Sei freundlich mit ihm, aber gib ihm keine Veranlassung, zärtlich gegen dich zu sein. Du weißt daß ich sehr eifersüchtig bin.« – »Oh, trage keine Sorge, ich liebe nur dich allein.« – »Ich hoffe es. Dieser Herzog schenkt mir sein Vertrauen, und dieses Vertrauen soll mir die Stufe zu Reichtum und Ehre sein. Du siehst also ein, daß ich seinen Wunsch erfüllen und mit ihm gehen muß, obgleich ich mich in deiner Gesellschaft unendlich glücklicher fühlen würde.« – »Ja, ich sehe es ein«, versetzte sie. »So gehe denn mit ihm, aber komme am Abend wieder.« – Ich werde versuchen, es möglich zu machen, obgleich der Herzog am Abend Gesellschaft bei sich sieht und ich also bei ihm fast unentbehrlich bin. Komme ich nicht so entschuldige mich.«
Das war eine Lüge, die Clarissa aber glaubte. Sie hatten übrigens keine Zeit zu weiteren Auseinandersetzungen, denn es klopfte, und auf ihren Ruf trat ein prächtiger Perser herein, der eine feine Samtlarve vor dem Gesicht trug. Er blieb an der Tür stehen und betrachtete das Mädchen mit wohlgefälligen Blicken.
»Hallo, Gasparino, du hast keinen üblen Geschmack!« rief er erstaunt und trat auf Clarissa zu, um ihr die Hand zu küssen, doch schon im nächsten Augenblick war sie in das Kabinett geeilt und verschloß die Tür desselben hinter sich.
»Ah, diese Hexe! Fort ist sie!« lachte der Herzog.
Dann versuchte er, die Tür zu öffnen, und als ihm dies nicht gelang, befahl er dem Haushofmeister
»Rufe sie!« – »Es hilft nichts, sie wird nicht kommen!«
Cortejo rief und klopfte, es erfolgte jedoch keine Antwort.
»Da haben Sie es«, meinte er trocken. – »Schlaukopf!« rief der andere. »Du hast ihr Verhaltungsmaßregeln erteilt, aber das schadet nichts.«
Diese wegwerfenden Worte, die jedenfalls nicht geeignet waren, ihm ihre Sympathie zu erringen, waren so laut gesprochen, daß Clarissa sie hören mußte. Dann fragte der Herzog leise:
»Du hast ihr doch nicht gesagt, wer ich bin?« – »Nein«, log der Haushofmeister. – »Gut! Bist du fertig?« – »Ja, bis auf die Larve.« – »So lege sie an und komm!«
Die Männer verließen das Haus und warfen sich unten in das Gewühl der Masken. Der reiche Anzug des Herzogs erregte die allgemeine Aufmerksamkeit, doch hätte niemand unter demselben einen so hohen Würdenträger vermutet, denn er benahm und gab sich ganz so wie der ungebildetste Wasserträger oder Melonenhändler. Er machte selbst die rohesten Scherze mit, sprang in die geöffneten Türen der Häuser, drang in die Wohnräume, die zu dieser Zeit jeder Maske offenstehen, und brachte Aufruhr und Verwirrung überall dahin, wo er erschien.
So kamen sie durch verschiedene Straßen und Gassen über die Brücke hinüber, wo sie ihre überlustigen Streiche fortsetzten. Da blieb der Herzog plötzlich stehen und blickte nach einem Balkon empor.
»Donnerwetter!« raunte er Cortejo zu. »Blicke einmal da hinauf nach dem kleinen Balkon. Da ist ein wirkliches Madonnenangesicht, so hold, so rein, so ernst. Die müßte man kennenlernen. Schau, jetzt sieht sie uns!«
Es war die Gouvernante des Bankiers Salmonno. Der Herzog warf ihr eine Kußhand hinauf. Sie bemerkte es und erglühte. Er trug eine Kleidung im Wert von Tausenden, er war kein gewöhnlicher Mann, das sah sie, und welches Mädchenherz schlägt nicht höher, wenn es das Auge eines bevorzugten Mannes bewundernd auf sich gerichtet sieht. Halb bewußt und halb unbewußt nahm sie die seidene Schleife von ihrem Busen und warf sie ihm hinab. Sie flatterte in unregelmäßigen Kreisen hernieder, doch gelang es dem Herzog, sie zu erhaschen. Er küßte sie und steckte sie an seine Brust. Die Gouvernante errötete bis zum Nacken hinab und zog sich beschämt vom Balkon zurück.
»Alle Wetter«, rief der Herzog. »Sie ist unwiderstehlich. Höre, Cortejo, du wirst dich nach ihr erkundigen, bald, noch heute! Ich muß wissen, ob es möglich ist, diese Katze zu kaufen oder wegzufangen.« – »Dann muß ich freilich um Urlaub bitten!« entgegnete der Haushofmeister, dem es sehr gelegen war, von seinem Herrn fortzukommen. Auf diese Weise wurde es ihm ja möglich, seinem Vergnügen auf eigene Faust und ohne lästige Beaufsichtigung nachzugehen. – »Du sollst den Urlaub gleich jetzt haben«, antwortete der Herzog, »und so lange du willst Aber ich verlange, daß du mir einen sicheren Bescheid bringst.«
Sie trennten sich darauf. Cortejo wartete, bis der Perser in der Ferne verschwunden war und ging dann seine eigenen Wege. Er kam nach einiger Zeit vor die Kirche Nuestra Señora del Pilár, die berühmteste Saragossas, in der sich auf einer Jaspissäule ein wundertätiges Marienbild befindet, das von der katholischen Kirche zu den größten Heiligtümern gezählt wird.
Vor dieser Kirche ging es lebhaft zu, am lautesten aber um eine Gruppe von Zigeunern, die sich da niedergelassen hatte, um dem andrängenden Publikum zu weissagen. Er trat näher, um zu sehen, ob es echte Zigeuner seien oder ob sich eine Gesellschaft lustiger Leute nur den Spaß gemacht habe, sich als Gitanos zu verkleiden. Es gelang ihm, sich durch das Gedränge hindurchzuschieben.
»Ah!« entfuhr ihm da ein Ausruf höchster Verwunderung. »Welch eine Schönheit!« – »Nicht wahr?« stimmte ein Domino bei, der neben ihm stand und seinen Ausruf vernommen hatte. »Ein solches Kind bekommt man nicht allzuoft zu sehen, Señor. Meint Ihr nicht auch?« – Ich bin vollständig mit Euch einverstanden«, antwortete Cortejo, dessen Augen mit fast trunkener Bewunderung an dem Wesen hingen, das ihm seinen Ausruf entlockt hatte.
Es war dies ein Zigeunermädchen von einer Schönheit, wie er sie noch niemals gesehen hatte. Sie trug über dem schneeweißen Hemd nichts als ein vorne offenes, leichtes, mit Goldschnüren besetztes Jäckchen und einen roten Rock, der ein paar entzückend kleine Füßchen sehen ließ. Das volle, schwere, rabenschwarze Haar hing in vier langen, schweren Flechten fast bis zur Erde herab und war mit silbernen Münzen geschmückt und mit schimmernden Ketten durchflochten. Alles drängte zu ihr, um sich aus den Linien der Hand wahrsagen zu lassen. Um die anderen Glieder der Truppe kümmerte sich fast niemand.
Cortejos Herz klopfte fast hörbar. Was war Clarissa gegen diese Zigeunerin! Er mußte sie unter allen Umständen näher kennenlernen. Er wartete einen Augenblick ab, wo sie nicht in Anspruch genommen war, und trat zu ihr.
»Wie ist dein Name, schöne Zingarita?« fragte er.
Zingarita ist der Zärtlichkeitsname für eine Zigeunerin.
Sie blickte zu ihm auf, sah forschend in seine Augen und erwiderte:
»Man nennt mich Zarba, Señor.« – »Wohlan, willst du mir wahrsagen, Zarba?« – »Reicht mir Eure Hand!«
Er gab ihr ein Goldstück, das er zu diesem Zweck bereitgehalten hatte, und sagte leise:
»Nicht hier, mein schönes Kind. Ich muß länger mit dir sprechen.«
Sie betrachtete die reiche Gabe mit freudeglänzenden Augen und antwortete ebenso leise wie er:
»Warum, Señor?« – »Weil ich dich liebe!« – »Ihr liebt mich, die arme Gitana, die arme Zingarita? Señor, das glaube ich nicht!« – »Oh, glaube es doch, du süßes Mädchen, und sage mir, wo ich dich treffen kann!« – »Wann?« – »Heute!« – »Heute! Da wird es erst sehr spät möglich sein!« – »Ich komme, wohin und wann du willst!«
Ihr Gesicht glänzte in unschuldiger, heller Freude darüber, daß sie von einem so vornehmen Señor geliebt werde. Sie war eine Tochter des Südens, sie war das Kind eines verachteten Stammes; sie beschloß, diesem Abenteuer zu folgen. Darum ergriff sie seine Hand, um die Umstehenden glauben zu machen, daß sie ihm weissage, flüsterte ihm aber leise zu:
»Kennt Ihr die Straße nach Hueska, Señor?« – »Ja.« – »Dort rechts von der Straße, am Fluß Gallego und hart an der Stadtmauer, haben wir unser Lager aufgeschlagen.« – »Ich werde es finden.« – »Nein, das sollt Ihr nicht. Es soll niemand wissen, daß ich Euch treffe. Weiter aufwärts am Fluß stehen fünf Silberpappeln eng beisammen.« – »Diese kenne ich.« – »Dort sollt Ihr mich erwarten.« – »Wann?« – »Gerade eine Stunde nach Mitternacht. Nun geht, man beobachtet uns.« – »Wirst du mir auch Wort halten, Zarba?«
Sie blickte mit einem aufrichtigen Aufschlag ihrer Augen zu ihm empor und antwortete:
»Ich sage Euch die Wahrheit. Und Ihr, Señor?« – »Ich schwöre dir, daß ich sicher kommen werde.«
Sie gab seine Hand frei, und er ging zur Seite, indem er mit Entzücken noch eine Zeitlang die gewandten, graziösen Bewegungen ihres bildschönen Körpers beobachtete. Endlich entfernte er sich, um sich von dem tollen Wirbel der Masken mit fortreißen zu lassen.
Dabei gelangte er wieder in die Gegend, in der das Haus des Bankiers Salmonno lag. Er blieb stehen und überflog die Fronten desselben mit forschenden Blicken, konnte aber keine Spur von der Gesuchten bemerken. Der Balkon, auf dem die Gouvernante gestanden hatte, war verschlossen und das daneben befindliche Fenster verhängt.
Da trat ein junger Mann aus dem Eingang. Er trug die Kleidung gewöhnlicher Arbeiter und hatte ein Paket Briefe in der Hand. Sofort war Gasparino Cortejo an seiner Seite und fragte in höflichem Ton:
»Verzeihung, Señor! Seid Ihr vielleicht im Geschäfts des Bankiers Salmonno angestellt?« – »Ja, ich bin Austräger«, sagte der Mann in bescheidenem Ton. – »Habt Ihr vielleicht fünf Minuten Zeit, um in der nächsten Venta ein Glas Wein mit mir zu trinken?« – »Oh, ein Glas Wein schlägt man niemandem ab, nur muß man wissen, welchen Zweck die Gabe hat.« – »Der Zweck ist sehr einfach, ich beabsichtigte, mich bei Euch nach etwas zu erkundigen.« – »Ihr sollt Auskunft haben, Señor. Wenn meine Briefe etwas später zur Post kommen, so ist es mir gleich. Dieser Knicker von Prinzipal hat uns heute zum Karneval keine Stunde freigegeben.« – »So gebt Euch selber wenigstens eine Viertelstunde frei«, lachte Cortejo und führte den Mann nach der nächsten Weinschänke, wo er sich eine Flasche Wein mit zwei Gläsern geben ließ. Nachdem er eingeschenkt und angestoßen hatte, begann er, ohne seine Maske abzunehmen:
»Euer Prinzipal scheint eine Art von Geizhals oder Filz zu sein, da er Euch selbst am heutigen Tag keine freie Stunde gönnt!« – »Das ist er allerdings, Señor.« – »Ist er denn so arm, daß er es braucht?« – »Im Gegenteil, der besitzt Millionen.« – »Er ist alt?« – »Nicht übermäßig.« – »Und verheiratet?« – »Witwer.« – »Hat er Kinder?« – »Er hatte zwei, einen Knaben und ein Mädchen, das letztere ist aber vor kurzer Zeit gestorben.« – Jener Knabe wird von dem Filz eine sehr nachahmungswürdige Erziehung erhalten.« – »Oh, er bekümmert sich nicht um denselben, das tut die alte Magd nebst dem Erzieher und der Erzieherin.« – »Ah, so hat Euer Prinzipal einen Gouverneur und eine Gouvernante?« – »Ja. Es sind zwei Deutsche.« – »Warum stellt er Deutsche an?« – »Er steht mit Deutschland in einer regen Geschäftsverbindung und wünschte deshalb, seinen Kindern, besonders aber dem Sohn, die deutsche Sprache lehren zu lassen. Oh, er ist zu schlau und berechnet alles!« – »Wie heißt dieser Gouverneur?« – »Señor Sternau. Er ist ein guter, stiller Mann, der sehr wenig redet. Wenn er aber redet, so haben seine Worte Hand und Fuß, und darum hat der Prinzipal großen Respekt vor ihm.« – »Und die Gouvernante?« – »Sie heißt Señorita Wilhelmi. Auch sie ist still und zurückgezogen. Man sieht sie wenig, aber man hat sie lieb, denn sie hat für jeden einen freundlichen Blick, was man in diesem Haus sonst nicht gewöhnt ist. Schade, daß sie nicht mehr lange bleiben kann!« – »Sie geht fort?« – »Voraussichtlich.« – »Warum?« – »Weil die Tochter gestorben ist, die ihr übergeben war. Für den Sohn ist der Erzieher genug.« – »Wann geht sie fort?« – »Ich habe noch nicht gehört, daß davon bereits die Rede gewesen ist. Sie hat vierteljährige Kündigung und darf eigentlich noch fünf Monate bleiben. Wenigstens hat sie das Gehalt für diese Zeit zu beanspruchen, wenn Salmonno verlangt, daß sie sein Haus verläßt.« – »Habt Ihr vielleicht davon gehört, daß sie sich um eine Stelle bereits beworben hat?« – »Nein. Ich glaube nicht, daß dies geschehen ist, aber wenn sie es doch getan hätte, so würden wir wohl nichts davon erfahren, sie ist nicht gewohnt, mit Fremden darüber zu sprechen.« – »Hat sie keinen Señor, der sie liebt und sich ihrer annehmen könnte?« – »Einen Señor? Señorita Wilhelmi einen Anbeter!« lachte der Mann. »Das fällt ihr gar nicht ein. Sie hat das Haus wohl kaum ein einziges Mal verlassen, um am Fluß spazierenzugehen.« – »Ah, da läßt es sich leicht denken, wie es steht«, sagte Cortejo schlau. »Sie wird dem Erzieher ihr Herz geschenkt haben. Habe ich recht?« – »Nicht ganz, Señor. Man spricht zwar davon, daß Señor Sternau ein Auge auf sie geworfen hat, aber sie mag nichts von ihm wissen, das merkt man an ihrem ganzen Verhalten.« – »Das sind die sämtlichen Mitglieder des Haushalts des Bankiers?« – »Ja.« – »Wie lebt Salmonno? Verschwenderisch und flott oder einfach und zurückgezogen?« – »Das letztere.« – »Und glaubt Ihr, daß in seinen Büchern Ordnung und Solidität zu finden ist?« – »Das versteht sich. Er ist in solchen Sachen sehr oft zu streng. Aber, Señor, warum fragt Ihr nach diesen Dingen? Wollt Ihr vielleicht in geschäftliche Beziehung zu Salmonno treten?« – »Hm, ich will Euch gestehen, daß das wirklich meine Absicht ist. Ich habe da eine unerwartete Erbschaft gemacht und weiß nicht, was ich sogleich mit der Summe anfangen soll. Da hat man mir geraten, sie gegen die gewöhnlichen Zinsen einem Bankier in Verwahrung zu geben. Und nun erkundige ich mich nach den Verhältnissen der hiesigen Häuser, um zu sehen, wem ich mein Vertrauen schenken kann. Das ist der Sachverhalt, der mich veranlaßte, Euch beschwerlich zu fallen.«
Der ehrliche Mann glaubte jedes Wort.
»Oh, wenn es das ist«, sagte er, »so könnt Ihr unserem Herrn jede Summe getrost übergeben. Sie steht bei ihm wenigstens ebenso sicher wie bei jedem anderen, das könnt Ihr mir getrost glauben.« – »Ihr macht mir wirklich Vertrauen! Ich werde mir es heute noch überlegen und danke Euch für die Bereitwilligkeit, mit der Ihr mir Auskunft erteilt habt.« – »Dankt nicht, Señor! Ihr habt meine geringe Mühe und Zeitversäumnis reichlich bezahlt.«
Nachdem noch einige höfliche Redensarten gewechselt worden waren, trennten sich die Männer. Der Austräger ging mit seinen Briefen zur Post, und Cortejo trat wieder hinaus auf die Straße.
Es fiel ihm gar nicht ein, nun sogleich den Herzog aufzusuchen und ihm mitzuteilen, was er in Erfahrung gebracht. Hatte er doch die Absicht aus seiner Neuigkeit so viel Kapital und Vorteil wie nur möglich zu schlagen, und nahm sich vor, sich heute gar nicht im Palast sehen zu lassen. So trieb er sich denn während des Tages und des Abends in den Straßen und Weinstuben der Stadt umher, bis es Mitternacht wurde und er es an der Zeit hielt, sich nach der Straße von Hueska zu begeben, wo er die schöne Zigeunerin keinen Augenblick auf sich warten lassen mochte.
Saragossa liegt am Ebro, und bei der Stadt fließt von Norden der Gallego in diesen Fluß.
Gegen die Ufer dieses Zuflusses hin mußte sich Cortejo wenden. Er gewahrte bald ein helloderndes Feuer und wußte, daß dort das Lager der Gitanos zu suchen sei. Er ging, ohne sich von ihnen bemerken zu lassen, am Gallego aufwärts und gewahrte nach einer nicht zu langen Strecke die Silberpappeln, bei denen er die Zingarita treffen sollte.
Sie war noch nicht da, und er wartete.
Seine Geduld wurde nicht auf eine harte Probe gestellt. Sie erschien bald. Sie trug dasselbe Gewand, in dem er sie heute gesehen hatte, doch hatte sie der nächtlichen Kälte wegen ein altes Tuch darüber genommen.
»Guten Abend, Señor! Seid Ihr es?« grüßte sie. – »Ja, Zarba, ich bin es«, antwortete er.
Er reichte ihr seine Hand und fühlte nun in derselben ein kleines Händchen, das demjenigen eines Kindes glich. Es zitterte in der seinen.
»Hast du Angst vor mir?« fragte er. – »Warum denkt Ihr das?« – »Du zitterst. Ist es die Kälte?« – »Nein. Ich habe noch niemals mit einem Señor des Abends allein gesprochen.« – »Und nun hast du Sorge? Fürchte dich nicht! Ich habe dich sehr lieb, und wen man liebhat zu dem ist man ja nur gut und freundlich. Wissen die Deinen, wo du bist?« – »Nein. Sie denken, ich schlafe abseits vom Lager.« – »Werden sie dich nicht suchen?« – »Nein. Sie liegen um das Feuer und schlafen.« – »So laß uns hier niedersetzen und plaudern. Komm!«
Er setzte sich nieder, und sie nahm langsam an seiner Seite Platz, aber mit einer solchen Scheu, wie etwa ein Kanarienvogel sich auf den entgegengestreckten Finger seines Herrn setzt. Als er jetzt abermals ihr Händchen ergriff, fühlte er, daß sie zusammenzuckte. Ja, sie glich wirklich dem Vogel, der zwischen Angst und Vertrauen schwebt und unsicher ist, was er tun und wagen darf.
»Warum bangst du?« fragte er zärtlich. »Willst du mir dein Händchen nicht lassen, Zarba?« – »Oh, Señor, was kann es Euch helfen?« – »Das weißt du nicht und begreifst es nicht?« – »Nein.« – »Hast du denn noch keinen Mann liebgehabt? So, daß du glaubtest, ohne ihn nicht leben zu können?« – »Niemals.« – »Ist dies wahr?« – »Ich belüge Euch nicht!« – »So versuche es einmal, ob du vielleicht mich lieben kannst.« – »Daß ich ohne Euch gar nicht leben mag?« – »Ja.« – »Oh, Señor, ich habe Euer Angesicht noch gar nicht gesehen, aber ich merke, daß ich Euch gut bin.« – »So siehe es dir einmal an!«
Cortejo hatte die Maske noch immer vor dem Gesicht. Jetzt nahm er sie ab und näherte seinen Kopf dem ihrigen, so daß sie ihn beim Schein des Mondviertels genau genug sehen und betrachten konnte.
»Gefalle ich dir?« fragte er scherzend. – »Ja«, antwortete sie ernsthaft. – »Aber gewiß noch lange nicht so sehr wie du mir. Ich möchte den Arm um dich legen, dich an mein Herz nehmen und gar nie wieder davon lassen. Darf ich, meine liebe Zarba?«
Er legte den Arm um ihre Taille und zog sie an sich, bog sich zu ihr herab, hob ihr Köpfchen empor und blickte ihr lange, lange magnetisierend in die dunklen Augen. Ihr Busen wallte, und ihr Atem ging hörbar unter unbeschreiblichen Empfindungen, die sie bisher noch nie gekannt hatte.
Da bog er sich noch weiter herab und preßte seinen Mund zu einem langen und glühenden Kuß auf ihre Lippen. Sie litt es, ja, er fühlte bald einen leisen, leisen Gegendruck, während aus ihrem Mund sich ein tiefer Seufzer stahl. Sie fühlte da, daß sie ihn liebe, daß er von jetzt an ihr Herr und Gebieter sei.
»Oh, Señor, ich träume!« flüsterte sie leise. – »Nein, es ist Wirklichkeit. Wünschst du nicht, daß es immer so bleiben möge, Zarba?« – Ja«, hauchte sie verschämt. – »Nun, das kommt nur auf dich an. Wenn du tust, um was ich dich bitte, so werden wir immer so glücklich sein.« – »Was soll ich tun, Señor?« – »Das laß uns überlegen! Wie lange seid ihr bereits in Saragossa?« – »Eine Woche.« – »Und wie lange werdet ihr hier bleiben?« – »Abermals eine Woche.« – »Wieviel Familien seid ihr?« – »Vier Familien und zwanzig Personen.« – »Hast du den Vater dabei?« – »Ja.« – »Und die Mutter?« – »Ja.« – »Auch andere Verwandte?« – »Nein.« – »Wie heißt dein Vater?« – »Jarko.« – »Und deine Mutter?« – »Kaschima.« – »Haben dich beide lieb?« – »Oh, sehr! Und auch der Stamm und alle Gitanos Spaniens haben mich lieb, denn ich werde einst ihre Königin sein.« – »Alle Teufel!« meinte Cortejo überrascht. »Gibt es bei euch auch Könige?« – »Nein, sondern nur Königinnen.« – »Wer ist die jetzige?« – »Kaschima, meine Mutter.« – »Aber ihr seid ja arm!« – »Ihr denkt, man kann nicht zugleich arm und auch Königin sein? Oh, Señor, Ihr kennt die Gitanos nicht! Sie scheinen arm und sind reich, sie scheinen verachtet und sind stolz. Es besitzt gar mancher Fürst nicht die ungeheure Macht, die unsere Königin über den Stamm ausübt.« – »Welches sind die Gebräuche, wenn eine neue Königin antritt?« – »Das darf ich nicht sagen, Señor.« – »So? Na, da muß ich mich zufriedengeben mit dem Glück, daß ich eine Prinzessin hier in meinen Armen halte, eine Prinzessin, die ich unendlich liebhabe und die auch mich ein wenig liebt. Nicht?« – »Oh, nicht ein wenig, sondern sehr!« antwortete sie. – »Darfst du vor deinem Vater und deiner Mutter mich liebhaben, Zarba?« – »Nein. Ich soll nur einem Gitano angehören, keinem anderen.« – »Oh weh, das ist traurig! Wirst du ihnen gehorchen?«
Zarba senkte den Kopf und antwortete nicht. Es war zum ersten Mal, daß ein solcher Zwiespalt ihr Herz zerriß. Cortejo begriff recht gut, daß ihre Liebe jetzt noch zu jung sei, um ein allzu hartes Opfer von ihr zu erwarten, daher drang er für jetzt nicht weiter in sie, sondern fragte:
»Darf ich dich in dieser Woche wiedersehen?« – Ja«, antwortete sie. – »Wann und wo?« – »Wann und wo Ihr es wünscht.« – »Darfst du denn von den Deinen gehen und kommen, wann und wie es dir beliebt?« – »Es wird niemand zanken oder mir etwas sagen. Es beleidigt oder kränkt mich keiner.« – »So versprich mir, eine Bitte zu erfüllen!« – »Welche?« – »Versprich es mir vorher.« – »Ich werde sie erfüllen.« – »Gut. Komm, wenn die Dämmerung angebrochen ist, an die lange Gartenmauer, die zu dem großen Haus in der Strada Domenica gehört. In dieser Mauer befindet sich ein kleines Pförtchen, dahinter stehe ich. Du klopfst, und ich werde dir öffnen.«
Sie nickte mit dem Kopf und fragte:
»Werde ich das Pförtchen auch leicht finden?« – »Sehr leicht. Und du wirst also ganz gewiß kommen?« – »Ganz gewiß.« – »Ich danke dir. Oh, wie glücklich werde ich sein, dich wiederzusehen!«
Er drückte sie wieder an sich, und so saßen sie noch eine geraume Zeit, und als er dann endlich zur Heimkehr aufbrach, begleitete sie ihn bis an das Tor der Festungsmauer, wo er zärtlichen Abschied von ihr nahm. Zu Hause angelangt, legte er sich sofort zur Ruhe und hätte wohl den ganzen Vormittag verschlafen, wenn ihn nicht ein Diener geweckt hätte, der ihm meldete, daß Serenissimus ihn zu sprechen wünsche. Er erhob sich vom Lager, um Toilette zu machen.
38. Kapitel
Der Herzog schien schlecht geschlafen zu haben; er sah übernächtigt aus und war bei schlechter Laune.
»Kerl, wo steckst du denn?« fragte er. »Ich bin nicht gewohnt, so lange warten zu müssen.« – »Ich habe bis zu diesem Augenblick geschlafen«, gestand er gleichmütig. – »Geschlafen? Während ich seit Stunden auf dich warte!« – »Ich kam erst gegen Morgen nach Hause.« – »Schwärmer! Wann wirst du einmal aufhören, liederlich zu sein, und anfangen, ein ordentlicher Kerl zu werden!« – »Dann, wenn ich aufhöre, ein treuer, und anfange, ein gleichgültiger Diener zu sein.« – »Ah, du willst dich doch nicht etwa mit deiner Treue entschuldigen?« – »Nichts anderes.« – »Das klingt lustig, aber ich habe nur leider nicht die Laune, mit dir herumzuscherzen.« – »Ich spreche im Ernst, Exzellenz. Der Auftrag, den Sie mir erteilten, hat mich so lange wacherhalten.« —
»Lügner! Wo warst du so lange, Mensch?«
Cortejo kannte seinen Herrn und wußte, wie er sich zu verhalten habe. Darum nahm er eine ironisch-reumütige Miene an und sagte in der demütigsten Haltung, die ihm möglich war:
»Nun gut, so will ich zugeben, daß ich die ganze Nacht geschwärmt und sogar meine ganze Kasse vertrunken habe. Ich bitte um Verzeihung und verspreche, daß es nicht wieder geschehen soll.«
Dann trat er bis zur Tür zurück, als erwarte er, daß er nun gehen dürfe. Aber der Herzog brummte:
»Schlingel, so entkommst du mir nicht! Hast du über die junge Dame etwas erfahren oder nicht?« – »Ja. Ich kam ja aus diesem Grund so spät nach Hause. Ich habe trinken müssen wie ein Kellerloch und sogar meine Kasse gesprengt, um diese Kerle gesprächig zu machen.« – »Gauner!« lachte der Herzog. Ich bin der festen Überzeugung, daß du keinen halben Duro für die Kerle ausgegeben hast, von denen du sprichst. Wieviel Geld hattest du ungefähr bei dir?« – »Wenigstens sechzig Duros, die sie mir im Wein und Spiel abgenommen haben.« – »Betrüger! Ich weiß ja am besten, daß du ein fertiger Spieler bist, der sich niemals auch nur das kleinste Silberstück abnehmen läßt.« – »Das ging hier nicht. Bedenken Sie, Exzellenz, daß ich diese Leute bei Laune halten mußte.« – »Nun meinetwegen, du sollst die Summe haben. Wer waren denn die beiden Kerle?« – »Zwei Kontoristen des alten Salmonno.« – »Wie bist du an sie gekommen?« – »Ja, das war eben die Schwierigkeit! Sie hatten am Tag nicht frei und konnten also erst des Abends ausgehen. Da habe ich denn zuerst wie ein Nachtwächter vor den Türen warten müssen und folgte ihnen dann mehrere Stunden lang durch alle Straßen und Kneipen, bis es mir endlich gelang, einen Platz an ihrem Tisch zu finden. Wir begannen ein Spielchen, und das übrige können Exzellenz sich denken.« – »Hm, ich will einmal glauben, daß es so gewesen ist, obgleich es mich wundern sollte, wenn du so völlig auf dein eigenes Vergnügen Verzicht geleistet hättest. Also du hast etwas erfahren?« – »Natürlich!« – »Das will ich auch hoffen. Ich habe bei Gott diese ganze Nacht kein Auge zugetan; ich mußte immer an diese Gouvernante denken. Nun also, wer ist sie?« – »Es ist eine Señorita Wilhelmi.« – »Hat sie es bei diesem Filz, dem Salmonno, gut?« – »Ich glaube schwerlich.« – »Hm, wenn man sie aus dem Hause bringen könnte. Es ist das aber wohl zu schwierig.« – Ich glaube nicht« – »Ah! Hast du bereits darüber nachgedacht?« – »Ein wenig.« – »Nun?« – »Das Kind, das sie zu erziehen hatte, ist gestorben…« – »Alle Teufel, das wäre gut!« – »Ja. Der Bankier ist nicht derjenige, der eine Gouvernante bezahlt für die er keine Beschäftigung hat. Er wird ihr jedenfalls in nächster Zeit kündigen.« – »Schlaukopf! Du meinst, daß sie dann vielleicht in eine bedrängte Lage geraten wird, die sie gefügig macht?« – »Nein, darauf rechne ich nicht. Diese Deutschen sind da von einer Ehrenhaftigkeit die ganz und gar unglaublich ist; sie haben Fischblut in den Adern. Nein, ich dachte an etwas anderes!« – »Nun? Heraus damit!« – »Werden Sie mir verzeihen, wenn mein Plan etwas zudringlich erscheinen sollte?« – »Schweige nicht, sondern rede!« – »Nun, ich dachte daran, daß Eure Exzellenz ja selbst eine Tochter besitzen, für die es sehr…«
Der Herzog sprang wie elektrisiert vom Stuhl auf und unterbrach ihn:
»Donnerwetter, das ist ja wahr! Ich kann sie als Gouvernante engagieren. Der Plan ist gut, ist prachtvoll. Aber wie setzten wir ihn ins Werk?« – »Auffällig darf man nicht werden. Man könnte eine Annonce in das Blatt rücken…« – »Ob sie sich da melden würde?« – »Man muß nur sagen, daß man einer Deutschen den Vorzug geben würde.« – »Ja, das könnte gehen. Aber wenn sie diese Annonce gar nicht liest, gar nicht zu sehen bekommt?« – »So ist es immer noch Zeit, an ein anderes Mittel zu denken. Man muß es abwarten.« – »Gut, bleiben wir also bei der Annonce. Willst du sie abfassen?« – »Wie Sie befehlen.« – »Tue es, sei aber vorsichtig. Es muß jede Auffälligkeit vermieden werden. Damit sie mich aber nicht erkennt, werde ich es dir überlassen, das Engagement mit ihr zu besprechen und abzuschließen. Ist sie einmal eingetreten, so soll es ihr nicht leicht werden, gleich wieder fortzugehen. Also besorge die Annonce, und hier hast du eine Anweisung an den Kassierer. Du sollst nicht um deine sechzig Duros kommen.«
Der Herzog notierte eine Summe auf einen Zettel, den er Cortejo gab, und dieser entfernte sich. Er freute sich über die ganze Angelegenheit königlich, denn je mehr er zum Vertrauten der Schwächen seines Gebieters gemacht wurde, desto mehr Herrschaft gewann er über denselben. Er befand sich den ganzen Tag in einer sehr gehobenen Stimmung, die noch dadurch erhöht wurde, daß der Herzog anstatt sechzig Duros eine bedeutendere Summe notiert hatte.
Am Nachmittag trug er in eigener Person die Annonce fort und benutzte diesen Ausgang, um Clarissa mit zu besuchen. Sie empfing ihn schmollend.
»Du kamst ja nicht!« klagte sie. – »Ich konnte nicht, Herz.« – »Oh, für eine Viertelstunde hättest du gekonnt.« – »Nicht für eine Minute.« – »Ich habe alle diese Zeit auf dich gewartet und konnte also das Zimmer nicht verlassen. So bin ich um den ersten Tag des Karnevals gekommen. Aber ich hoffe, daß du heute mit mir ausgehen wirst.« – »Das wird leider auch nicht gehen.« – »Nicht?« fragte sie enttäuscht. »Ah, ich sehe nun, woran ich bin. Du liebst mich nicht mehr. Ich habe, um dir zu folgen, mein Asyl und meine Verwandten verlassen. Und nun ich auf diese Weise die Brücke hinter mir abgebrochen habe, willst du nichts mehr von mir wissen. Geh fort! Du hast mich getäuscht, du hast mich betrogen.«
Cortejo war in Beziehung auf dieses Mädchen ein psychologisches Rätsel. Er liebte sie wirklich, er gedachte, sie zu seinem Weib zu machen, aber sein Herz hatte doch noch Platz genug für andere, die ihn für den Augenblick fesselten. Er war gewissenlos genug, ein Mädchen zu betrügen, das ihm alles geopfert hatte, besaß aber doch so viel Zuneigung zu ihr, sie nicht ganz fallenzulassen.
Er trat jetzt zu ihr an das Fenster, wohin sie sich schmollend zurückgezogen hatte, und sagte:
»Sei nicht unverständig, Clarissa.« – »Bin ich unverständig, wenn es mich betrübt, daß du gegen mich mit deiner Liebe geizt?« – »Du irrst! Ich geize nicht, aber ich habe noch anderes zu tun als nur an die Tändeleien zu denken. Du kennst die Aufgabe, die wir uns gestellt haben: reich zu werden, um dich in anständiger Weise deinen Verwandten zurückzubringen, die gar nicht wissen, wo du bist. Dieses Ziel verfolge ich, und gestern habe ich einen großen Schritt dahin zurückgelegt, heute und morgen werde ich den zweiten und dritten tun, und wenn ich mich nicht ganz und gar irre, so wird keine sehr lange Zeit vergehen, bis wir da anlangen, wohin wir wollen. Also ist es unverständig von dir, zu schmollen.« – »Darf man denn etwas über diese berühmten Schritte erfahren?« – »Ja, ich will aufrichtig sein mit dir, vorausgesetzt, daß du das, was ich tue, nicht falsch deutest.« – »Du kennst mich, als prüde wirst du mich nicht bezeichnen wollen.« – »Nein. Also höre. Du weißt, daß der Herzog von Olsunna einer der mächtigsten des Reiches ist?« – »Sein Vater war sogar der mächtigste, er regierte die Königin.« – »Und siehst also ein, daß mir sein Wohlwollen, seine Protektion von außerordentlichem Nutzen sein kann?« – »Das ist sehr leicht einzusehen.« – »Daher gebe ich mir alle Mühe, sein Vertrauen zu erwerben.« – »Und du bist ein schlauer Bursche. Es ist dir bereits gelungen.« – »Oh, besser und mehr, als du denkst. Das Geheimnis eines Menschen, einen anderen zu beherrschen, besteht darin, daß man seine Fehler und Schwächen ergründet, ihnen schmeichelt, ihn darin bestärkt und sich zum Werkzeug für die Befriedigung dieser Schwächen macht. Nun hat sich bisher alles, was er mit meinem Wissen unternommen hat, auf dem Gebiet des gesetzlich Erlaubten bewegt, will ich ihn aber in meine Gewalt bekommen, so muß er etwas tun, was unerlaubt, was ein Vergehen oder ein Verbrechen ist, erst dann habe ich ihn vollständig fest.« – »Gasparino, ich glaube, du bist ein Teufel!« lächelte sie, stolz auf den Geliebten. – »Pah, wir sind alle mehr oder weniger Teufel. Es handelt sich nur darum, unsere Teufeleien so zu begehen, daß sie uns Nutzen bringen. Ich glaube, du bist derselben Ansicht. Oder nicht?« – »Ganz und gar. Aber glaubst du, den Herzog zu einer solchen Tat bringen zu können?« – »Ja, ich bin heute überzeugt davon, er befindet sich bereits auf dem besten Weg.« – »Du machst mich neugierig. Erzähle!«
Cortejo erzählte Clarissa nunmehr das gestrige Vorkommnis mit der Gouvernante und schloß daran die Worte:
»Wie ich diese Deutsche beurteile, so wird sie seine Neigung nicht erwidern, er wird um sie kämpfen müssen, er wird zu Mitteln greifen, die unerlaubt sind. Und hat er einmal diese Bahn betreten, so ist er mir ohne Widerrede verfallen, ich werde ihn meistern.« – »Du bist wirklich ein ganz gefährlicher und gewissenloser Intrigant, und ich beginne, stolz auf dich zu werden. Aber was hat die Liebschaft des Herzogs damit zu tun, daß du heute nicht mit mir spazierengehen kannst?« – »Ich habe die Bekanntschaft mit Salmonnos Leuten fortzusetzen, um alles zu erfahren, was im Haus vorgeht. Wir haben uns für heute bestellt, und ich muß also mein Wort halten.« – »Hm, das sehe ich ein, aber unangenehm ist es doch, so einsam zu sein.« – »Es wird ja wohl bald die Zeit kommen, wo du dafür entschädigt wirst.«
Cortejo bemühte sich, Clarissas Unmut zu zerstreuen, und kehrte dann nach seiner Wohnung im Palais des Herzogs zurück, denn die Zeit der Dämmerung war nahe herangerückt, und als es dunkel geworden war, sorgte er dafür, daß die Dienerschaft von dem Flügel, den er bewohnte, für einige Zeit ferngehalten wurde, und begab sich in den Garten.
Hier lauerte er hinter dem betreffenden Pförtchen, bis ein leises Klopfen erscholl. Nun öffnete er, ließ die Zigeunerin eintreten und schloß dann wieder zu, um die Ahnungslose, deren Glück noch heute verlorengehen sollte, mit inniger Umarmung zu begrüßen. Als das Pförtchen sich wieder öffnete und die Betrogene dem Lager zuschlich, wo ihre in Lumpen gehüllten, ahnungslosen Verwandten um das Feuer hockten, war die Morgendämmerung bereits nahe.
39. Kapitel
Am nächsten Morgen konnte man in den drei Blättern der Stadt Saragossa »El Diario de Zaragoza«, »El Imparcial« und »Saldubense« folgende Annonce lesen:
»Gesucht wird zum sofortigen
Antritt bei hohem
Gehalt und dauernder
Stellung in einem feinen, hochadligen
Haus eine Gouvernante
von womöglich deutscher Abstammung.
Adressen nimmt die Expedition dieses
Blattes entgegen.«
Fräulein Wilhelmi erhielt die Zeitungen gewöhnlich erst gegen Mittag, wenn sie im Kontor nicht mehr gebraucht wurden. So war es auch heute.
Sie fand diese Annonce und richtete sofort ihre ganz Aufmerksamkeit auf dieselbe. Sie versuchte, sich ihre Lage zurechtzulegen, sie dachte daran, daß sie bei Salmonno nicht bleiben könne, und sah es schließlich als eine Fügung Gottes an, daß er ihr dieses Blatt mit der Annonce in die Hände gebracht habe. Bereits nach einer Stunde ging sie aus, um ihre Adresse versiegelt in der Expedition des »Diario de Zaragoza« niederzulegen.
Sie sprach über diesen Schritt mit keinem Menschen ein Wort und wartete mit großer Spannung auf den Erfolg desselben. Sie sollte ihn bereits am nächsten Tag bemerken. Es klopfte nämlich höflich an ihre Tür, und schon glaubte sie, daß es Sternau sei, als auf ihren Ruf nicht dieser, sondern ein reich galonnierter Diener hereintrat.
»Verzeihung!« sagte er mit einer tiefen Verbeugung. »Sie sind Señorita Wilhelmi?« – »Ja.« – »Ich diene im Palais Seiner Exzellenz des Herzogs von Olsunna und soll Sie fragen, zu welcher Zeit man Sie heute dort empfangen könnte.«
Sie errötete vor freudigem Schreck, fragte aber doch:
»In welcher Angelegenheit erwartet man mich dort?« – »Ich kann dies nicht sagen, Señorita, aber der Herr Haushofmeister deutete an, daß es sich um die Erledigung einer Annonce handelt« – »Und Sie erwarten von mir die Angabe, wann ich mich vorstellen kann?« – »Allerdings.« – »Würde die Zeit um drei Uhr gut gewählt sein?« – »Ich bin überzeugt davon.« – »So bitte ich, mich Serenissimus zu empfehlen. Ich werde zu der angegebenen Zeit pünktlich erscheinen. Wo liegt das Palais?« – »Es ist Strada Domenica, Nummer zehn. Leben Sie wohl!«
Als der höfliche Mann verschwunden war, blieb die Gouvernante in einem Zustand zurück, der mit einem glücklichen Traum verglichen werden konnte. In das Haus eines Herzogs sollte sie eintreten! Und wie höflich war dieser Herzog gegen sie! Sie selbst hatte die Stunde zu bestimmen gehabt! Wie würde sich Salmonno ärgern! Was würde Sternau sagen! Welche Freude würden die Ihrigen empfinden, wenn sie in der Heimat diese Freudenbotschaft erhielten!
Sie konnte die angegebene Zeit kaum erwarten, und es hatte noch lange nicht drei Uhr geschlagen, als sie sich auf den Weg begab. Sie mußte einen Umweg einschlagen, um nicht zu früh zu kommen, aber als sie dann das große, prächtige Gebäude vor sich stehen sah, da kam sie sich so arm und klein und unwürdig vor, da hielt sie es für ganz unmöglich, Mitbewohnerin desselben werden zu können, da fragte sie sich, ob es denn nicht besser gewesen wäre, den braven Sternau erst um seinen wohlgemeinten Rat zu bitten.
Doch jetzt war es zu spät. Sie ahnte nicht, daß droben von einem der großen Fenster aus die Augen des Herzogs auf ihr ruhten. Sie trat ein.
Der Portier wies sie schweigend eine breite Marmortreppe hinauf, deren Seiten mit hohen Alabastervasen geschmückt waren, in denen herrliche exotische Gewächse leuchteten. Oben nahm sie derselbe Diener in Empfang, der heute bei ihr gewesen war, und führte sie in einen Salon, in dem die Werke großer Meister an den Wänden hingen und dessen Ausstattung den feinsten künstlerischen Geschmack verriet. Sie nahm Platz und wartete. Da öffnete sich die Portiere, und Cortejo trat ein.
Sie erhob sich und wechselte mit ihm eine tiefe, schweigsame Verbeugung. Er winkte ihr vornehm mit der Hand, wieder Platz zu nehmen, und setzte sich ihr gegenüber in einen Fauteuil.
»Sie wurden mir als Fräulein Wilhelmi gemeldet?« fragte er mit dem angenehmsten Ton seiner Stimme.
Sie verbeugte sich bejahend.
»Sie sind dieselbe Dame, die die Güte hatte, infolge unserer Annonce ihre Adresse anzugeben?«
Sie antwortete abermals durch bejahende Verbeugung.
»Sie werden mit Recht erwarten, von einem Glied der herzoglichen Familie empfangen zu werden, da es sich doch eigentlich um eine Familienangelegenheit von großer Wichtigkeit handelt«, fuhr Cortejo in verbindlicher Weise fort, »aber leider lebt Ihro Alteza, die Frau Herzogin, nicht mehr, und Serenissimus sind verreist. Darum wollen Sie es entschuldigen, daß ich, der ich nur der Haushofmeister bin, Ihren Empfang übernommen habe. Exzellenz jedoch haben mich ermächtigt mit Ihnen zu verhandeln, respektive auch endgültig abzuschließen. Sind Sie bereit meine Bitte um Beantwortung einiger Fragen zu erfüllen?« – »Ich stehe gern zu Diensten, Señor.«
Die Art und Weise, wie Cortejo sich gab, flößte ihr vollständiges Vertrauen ein.
»So sehe ich mich zunächst veranlaßt, eine sehr notwendige Bemerkung zu machen«, fuhr er fort. »Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß ein Herzog, um eine Erzieherin seiner Tochter zu bekommen, denselben vulgären Weg betritt, den selbst die zu den unteren Schichten Gehörigen nur dann betreten, wenn sie sich ohne bessere Chancen sehen?«
Sie lächelte ein wenig und antwortete: »Ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß mich dieser Umstand im ersten Augenblick einigermaßen befremdete. Dann aber sagte ich mir, daß ja wohl eine leicht erklärliche Ursache vorliegen könne, die selbst einen so hohen Herrn veranlaßt, den Weg der Annonce zu betreten.«
»Sie haben recht gehabt. Die Sache ist nämlich die, daß die bisherige Erzieherin wegen eines plötzlichen Todesfalls um ihre sofortige Entlassung bat. Um sie auf dem gewöhnlich von uns eingeschlagenen Weg zu ersetzen, hätte es die Zeit von einigen Monaten bedurft; da wir die liebe, kleine Prinzessin doch nicht so lange ohne mütterliche Beaufsichtigung lassen konnten, schlug ich vor, eine Annonce drucken zu lassen. Es haben sich mehrere Damen gemeldet, da wir jedoch eine Erzieherin deutscher Abkunft vorziehen, so sollte es mich freuen, wenn unsere Ansprüche sich gegenseitig ergänzen, Señorita!«
Cortejo sagte hier eine Lüge. Die bisherige Gouvernante war nicht wegen eines Todesfalls entlassen worden, sondern sie hatte wegen Fräulein Wilhelmi einen einstweiligen Urlaub auf unbestimmte Zeit erhalten und sollte später wieder eintreten. Ihr Gehalt ging fort.
»Ich hoffe nicht, daß meine Ansprüche Ihnen zu hoch erscheinen werden«, erwiderte Fräulein Wilhelmi. – »Ich bin überzeugt davon. Sie waren jetzt in einem hiesigen Engagement?« – »Ja, beim Bankier Salmonno.«
Der Haushofmeister gab sich Mühe, ein geringschätziges Lächeln zu unterdrücken, und sagte:
»Ich glaube kaum, daß sich eine Dame von Geist und Befähigung in der Familie eines solchen Mannes wohlbefinden kann.« – »Ich ziehe es in solchen Fällen vor, die Veranlassung zu Klagen zu übersehen.« – »Das ehrt Sie, Señorita! Wie lange waren Sie bei diesem Mann?« – »Ungefähr ein Jahr.« – »Und vorher?« – »Ich kam aus Deutschland hierher, meine Referenzen von dort stehen Ihnen augenblicklich zu Gebote, von Salmonno jedoch habe ich mir noch kein Zeugnis erbeten, da ich es vorzog, ihm von dem gegenwärtigen Schritt noch nichts mitzuteilen.«
Cortejo machte eine abwehrende Handbewegung und entgegnete freundlich:
»Bitte, Señorita, lassen Sie! Ich gehöre nicht zu den Pedanten, welche die Menschen nach ihren Zeugnissen beurteilen, ich habe reichliche Erfahrungen gemacht, wie wertlos oder wenigstens unsicher dieselben sind. Ich frage nicht nach Ihren Legitimationen, ich frage Sie selbst und werde dann genau wissen, welches Urteil ich mir über Sie zu bilden habe. In welcher Stadt Deutschlands sind Sie geboren?« – »In Köln.« – »Ihre Eltern waren?« – »Mein Vater war Lehrer. Er ist tot, und meine arme Mutter lebt von einer kärglichen Pension von fünfzig Talern.« – »Die Sie durch Ihr Gehalt zu vergrößern suchen?«
Sie errötete.
»Die Gehälter, die ich bisher bezog«, sagte sie, »waren leider nicht so hoch, daß es mir möglich gewesen wäre, hinreichende Ersparnisse zu machen.« – »Sie sprechen das Spanische ziemlich fehlerlos. Welcher Sprachen sind Sie sonst noch mächtig?« – »Des Englischen und Französischen. Auch Latein habe ich so viel getrieben, daß ich wenigstens einen Anfänger nebenbei mit unterstützen kann.« – »Und wie steht es mit der Musik?« – »Ich spiele Piano und singe sehr gern.« – »Ich habe nicht die Absicht, Sie zu examinieren, Señorita, werde Sie also nach den Wissenschaften gar nicht fragen…« – »Oh, bitte«, unterbrach sie ihn. »Ich trage mein Abgangszeugnis bei mir. Wenn Sie die Güte haben wollten, wenigstens in dieses einen Blick zu werden.« – »Ich bin des Deutschen nicht mächtig.« – »Es ist französisch und englisch abgefaßt.« – »So zeigen Sie her, wenn es Ihnen Beruhigung gewährt.«
Sie reichte ihm das Dokument hin. Er wollte es nur mit einem flüchtigen Blick überlaufen, nahm aber doch genauere Einsicht, da ihm die hohen Ziffern auffielen, die er erblickte. Dieses Mädchen hatte wahrhaftig in jedem Fach die Eins erhalten.
»Ah, das ist wirklich erstaunlich!« sagte er. »Solche Zeugnisse sind selten, Señorita, ich werde keine weitere Frage an Sie richten, sondern ich bitte Sie, mir einmal zu folgen, um sich die Räume zu besichtigen, die der Erzieherin zur Verfügung stehen.«
Sie erhoben sich beide.
Er gab ihr die Zeugnisse zurück und führte sie zunächst nach dem Kinderzimmer, wo sich die kleine Prinzeß unter der Aufsicht einer Bonne befand. Diese letztere warf einen gehässigen Blick auf die Deutsche, die einen freundlichen Gruß ausgesprochen hatte.
»Das ist Prinzeß Flora«, sagte Cortejo. »Prinzeß, begrüßen Sie diese Dame, die gekommen ist, Ihnen viel Gutes zu zeigen und zu lehren.«
Die Tochter des Herzogs war ein allerliebstes Kind, dem man sofort gut sein mußte.
»Sie sind wohl eine Gouvernante?« fragte sie, in Anbetracht ihrer drei Jahre mit einer überraschenden Verständigkeit.« – »Ja, meine liebe Doña Flora«, antwortete die Deutsche. – »Ich liebe die Gouvernanten nicht!« – »Schweigen Sie, Prinzeß!« gebot die Bonne in drohendem Ton. – »Und die Bonnen liebe ich auch nicht«, fügte die Kleine herzhaft hinzu. – »Warum?« fragte die Deutsche. – »Weil sie mich auch nicht lieben.«
Da kauerte sich die Gouvernante nieder, erfaßte die Händchen des Kindes und fragte:
»Würden Sie auch mich nicht lieben, Doña Florita?« – »Sie?« sagte das Kind nachdenklich. »Oh, Sie würde ich vielleicht gernhaben! Weil Sie mich so gut ansehen, weil Ihre Augen so freundlich sind, und weil Sie gleich Florita, anstatt Flora sagen, was die anderen gar nicht tun.« – »Ich möchte gern bei Ihnen bleiben, Florita«, sagte sie herzlich, das Kind näher an sich ziehend, »denn ich habe Sie lieb und wünsche, Sie immer recht gut und fröhlich zu sehen.«
Da schlang die Kleine die Ärmchen um den Hals der Gouvernante und fragte:
»Würden wir auch manchmal miteinander lachen?« – »Oh, sehr viele Male! Ich lache gern.« – »Ich auch, aber ich darf immer nicht. Ja, bitte, bleiben Sie da bei Ihrer kleinen Florita! Ich werde Papa sagen, daß ich Sie haben will.«
Die Bonne stand dabei mit einem höchst grimmigen Gesicht. Sie ärgerte sich darüber, daß diese Fremde die Liebe des Kindes im Flug gewann, wagte aber nicht, eine gehässige Bemerkung zu machen.
Jetzt führte Cortejo die Gouvernante durch die weiteren Räume und endlich auch in die für sie bestimmte Wohnung, die aus drei Zimmern bestand. Die Gouvernante musterte die Einrichtung mit Erstaunen; es hätte eine Herzogin hier wohnen können. Sie fühlte sich von der hier überall hervortretenden Üppigkeit sehr unangenehm berührt, gab aber diesem Gefühl keinen Ausdruck.
»Nun sind wir mit unserem Rundgang zu Ende, Señorita«, sagte der Haushofmeister, »und wollen, wenn Sie erlauben, unsere Entscheidung treffen.« – »Ich stehe Ihnen zur Verfügung.«
Sie setzten sich beide nieder.
Die Deutsche ahnte nicht, daß das Gemach nur durch eine Tapetenwand von der Wohnung des Herzogs getrennt war und daß dieser hinter der Wand stand, um sie durch ein in der Tapetenzeichnung gut verborgenes Loch zu beobachten.
»Ich will Ihnen offen gestehen«, begann Cortejo, »daß ich Ihnen mein volles Vertrauen schenke. Besonders hat mich die Art und Weise, wie Sie sich sofort zur Prinzeß Flora stellten, angenehm berührt.« – »Die Prinzeß ist zu kalt und gemütlos behandelt worden. So ein Kind will mit dem Herzen genommen werden«, schaltete die Gouvernante ein. – »Sie werden das besser verstehen als Ihre Vorgängerinnen. Ich bin bereit, Sie zu engagieren, Señorita. Darf ich auch Ihre Meinung vernehmen?«
Sie errötete vor Freude und antwortete:
»Auch ich sage › ja‹ und bitte Gott, daß er mir Kräfte gebe, diesem guten Kind die Mutter möglichst zu ersetzen.«
Bei diesen Worten trat ihr eine Träne in das Auge. Auch Cortejo tat, als ob er sich gerührt fühle, und fragte:
»Welche pekuniären Ansprüche machen Sie?« – »Ich bitte, mir dasselbe zu gewähren, was meine Vorgängerinnen hatten.« – »Sie erhielten vierhundert Duros. Ich werde für Sie jedoch fünfhundert notieren, Señorita.«
Da schlug sie in ihrem Glück die Hände zusammen.
»Mein Gott, so viel? Oh, nun kann ich auch meine Mutter und Geschwister besser bedenken!«
Cortejo nickte ihr anerkennend zu. Er sah, daß sich das vordere Glied eines Fingers durch das Loch in der Tapete steckte. Er verstand dieses Zeichen und erklärte:
»Ich freue mich über die Anwendung, die Sie von Ihrem Gehalt zu machen gedenken. Ich begreife, daß die Veränderung, die Ihre Verhältnisse heute erleiden, Sie zu mancher unvorhergesehenen Ausgabe veranlassen wird, und bitte Sie daher um die Erlaubnis, aus der Privatschatulle des Herzogs eine Extraremuneration von zweihundert Duros anzunehmen. Ein Vierteljahresgehalt wird Ihnen außerdem pränumerando ausgehändigt werden.«
Sie fuhr empor und stand sprachlos vor Erstaunen da.
»Oh, mein Gott, ist das möglich?« rief sie endlich. »Das ist eine Seligkeit, wie ich sie noch nie empfunden habe. Señor, Sie wissen wohl nicht, was es heißt, arm zu sein; Sie machen nicht bloß mich, Sie machen auch die Meinen glücklich durch diese unverdiente Gnade. Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen!« – »Nicht mir danken Sie; tun Sie das morgen, wenn Sie dem Herzog vorgestellt werden. Wann werden Sie antreten können?« – »Sobald Sie es wünschen, Señor.« – »Also morgen. Ich werde früh Ihre Effekten abholen lassen.« – »Und noch eine Frage«, sagte sie. »Welcher Art ist hier meine Stellung zur Dienerschaft?« – »Serenissimus sind Witwer, und danach richtet sich alles andere. Der Herzog speist stets auf seinem Zimmer, und wir anderen, auch Sie mit inbegriffen, tun dasselbe. Sie sind Erzieherin, aber nicht Dienerin, die Domestiken haben Ihnen zu gehorchen.« – »Ich danke Ihnen.« – »Haben Sie sonst noch eine Frage?« – »Für jetzt nicht. Sollte ich mich später in einer Ungewißheit befinden, so bitte ich Sie um die Erlaubnis, mich an Sie wenden zu dürfen.« – »Ich stehe Ihnen stets und gern zur Verfügung.«
Sie ging, und Cortejo führte sie bis zum Portal des Palais, wo er sie mit einer höflichen Verbeugung entließ. Sie schwebte mehr, als sie ging, nach Hause. Sie hatte einen Punkt, einen Halt im Leben gewonnen, wie sie vorher nicht einmal geträumt hatte.
Als sie im Haus des Bankiers nach ihrem Zimmer schritt, traf sie auf Sternau, der zufällig aus seiner Wohnung kam. Er blieb überrascht über den glücklichen Ausdruck ihres Angesichts stehen.
»Bitte, kommen Sie einmal!« bat sie.
Er folgte ihr, verwundert über diese Einladung.
In ihrem Zimmer angekommen, warf sie die Mantille, welche sie nach spanischer Sitte trug, auf einen Stuhl, atmete tief auf und fragte ihn:
»Raten Sie einmal, woher ich komme!« – »Geradewegs vom Himmel herab!« antwortete er. – »Weshalb sagen Sie das?« – »Weil Sie so verklärt aussehen.« – »Ja, ich bin glücklich, unendlich glücklich! Ich habe eine Stellung.« – »Ah!« – »Raten Sie, wo!« – »Wo? Das ist nicht zu erraten. Vielleicht ist es diejenige, die gestern im Blatt stand.« – »Ja, sie ist‘s!« – »Hm«, machte er mit zweifelhaftem Gesichtsausdruck. – »Warum dieses Gesicht und diese Interjektion?« – »Weil ich mir nicht denken kann, daß eine Stellung, die in allen drei Blättern dieser Stadt ausgeboten ist, eine so exzellente ist, daß man sich wie im Himmel fühlen muß.« – »Und doch ist‘s so. Oh, wenn Sie wüßten!« – »Vielleicht erfahre ich es«, sagte er, lächelnd über so viel Begeisterung. – »Welch ein Gehalt!« – »Wieviel?« fragte er. – »Fünfhundert Duros.« – »Das ist allerdings bedeutend, ja, das ist sogar Bedenken erregend.« – »Und zweihundert Duros Extraremuneration.« – »Der Tausend! Ist‘s wahr?« – »Natürlich!« jubelte sie.
Sternau hätte sie am liebsten umarmen mögen, so schön stand sie in ihrem Glück vor ihm, aber er zwang sich, kaltzubleiben; er wollte für sie denken und vorsichtig sein. – »Das ist ja überraschend; das ist ganz außerordentlich. Bei wem ist die Stelle?« – »Bei einem Herzog!« – »Ah. Das ist etwas anderes. Das wäre allerdings ein ungeahntes Glück für Sie. Welcher Herzog ist es, Fräulein Wilhelmi?« – »Der Herzog von Olsunna.« – »Der sein Palais hier in der Stadt hat?« – »Ja.«
Der Erzieher hatte auf einmal seine Miene vollständig geändert.
»Waren Sie dort?« fragte er. – »Ja.« – »Haben Sie den Herzog selbst gesprochen?« – »Nein.« – »Wen sonst?« – »Seinen Haushofmeister.« – »Hm!« – »Was haben Sie? Warum sind Sie auf einmal so ernst?« – »Fräulein Wilhelmi, es gibt Dinge, über die man am liebsten schweigt, die man aber doch zur Sprache bringen muß, wenn die Lage dazu zwingt.« – »Was haben Sie? Wozu diese ernste Einleitung?« – »Glauben Sie, daß ich es gut mit Ihnen meine?« – »Ich bin davon überzeugt.« – »Nun wohl, so werde ich aufrichtig mit Ihnen sprechen. Haben Sie den Herzog einmal gesehen?« – »Nein.« – »Ich aber sah ihn einige Male. Er ist von langer, starker, kraftstrotzender Gestalt.« – »Nun?« fragte sie. »Warum sagen Sie mir das? Ich werde das alles ja selbst sehen.«
Der Deutsche fuhr unbeirrt fort:
»Auch der Perser, den ich damals beim Karneval unter Ihrem Balkon von dem meinigen aus zufällig beobachtete und dem Sie eine so große Aufmerksamkeit widmeten, war hoch und stark gebaut. Er hatte die Larve bis zum Mund emporgeschoben, und so bemerkte ich, daß er einen starken, blonden Vollbart trug.«
Die Gouvernante errötete und erschrak jetzt wirklich.
»Und Sie denken…?« stotterte sie. – »Daß der Herzog von Olsunna, der Sie als Erzieherin engagieren will, eben jener Perser ist. Ich überlasse es Ihnen, darüber nachzudenken. Am ersten Tag lernt man eine Dame kennen; am zweiten überlegt man es sich, wie sie zu gewinnen ist und trägt die Annonce in die Zeitungsexpedition, am dritten wird sie von ihr gelesen und beantwortet; am vierten wird sie unter Bedingungen engagiert, die so glänzend sind, daß sie Verdacht erregen müssen, und am fünften tritt die Dame ihre Stellung an. Sie treten morgen an?« – »Ja.« – »Nun, da haben Sie den rapiden Verlauf des Abenteuers vor Augen. Ich habe nicht das Recht, Ihnen eine Rat zu erteilen, aber ich habe die Pflicht zu warnen, und das tue ich hiermit.« – »Der Herzog ist ja gar nicht da. Er ist verreist Ich kann unmöglich glauben, daß eine fürstliche Persönlichkeit…«
Sie stockte errötend und fuhr nicht weiter fort, denn es klopfte soeben an die Tür, und es trat der Diener herein, den sie bereits zweimal gesehen hatte. Er verbeugte sich vor den beiden mit ausgesuchter Höflichkeit und meldete:
»Señorita, ich werde von Señor Cortejo, dem Haushofmeister des Herzogs von Olsunna, gesandt, Ihnen dieses Kuvert zu übergeben.« – »Warten Sie auf Antwort?« – »Nein. Leben Sie wohl.«
Er ging. Die Gouvernante erwartete, daß das Kuvert eine schriftliche Mitteilung enthalte, als sie es jedoch öffnete, fiel ihr eine Anzahl Banknoten in die Hand.
»Vierhundert Duros«, sagte Sternau, der mit den Augen auch gezählt hatte. – »Dreihundertfünfundzwanzig erwartete ich bloß«, meinte sie. »Ach, ich bin ja unendlich glücklich, meiner Mutter eine Summe schicken zu können!«
Er preßte die Lippen zusammen.
»Ich wünsche Ihnen von ganzen Herzen, daß Sie so glücklich bleiben. Hätte ich ein Recht dazu, so würde ich Sie bitten, dieses Geld einfach zurückzusenden.« – »Sie sehen zu schwarz, ich fürchte nichts!« – »So werden Sie also morgen dieses Haus verlassen und Ihren Ansprüchen an Salmonno entsagen?« – Ja.« – »Sie haben noch Gehalt bei ihm zu stehen?« – »Gerade fünfzig Duros, außer dem, was ich für das angetretene Vierteljahr zu erhalten habe.« – »Wollen Sie mir erlauben, an Ihrer Stelle mit dem Bankier zu sprechen?« – »Ich bitte Sie darum, Herr Sternau! Ich scheue mich vor dieser Art Verhandlungen.« – »Ich werde sogleich zu ihm gehen.«
Sternau verließ das Zimmer. Draußen blieb er stehen und legte die Hand auf das Herz, er fühlte das erregte Klopfen desselben durch die Kleidung hindurch.
»Mein Gott, sie geht; sie ist verloren!« murmelte er. »Das Geld hat sie verblendet, und ich habe nicht genug Einfluß auf sie, um sie zu retten! Welch ein Jammer, welch eine Qual!«
»Nun, was haben Sie erreicht?« fragte die Gouvernante, als Sternau nach kurzer Zeit zurückkehrte. – »Mehr, als ich dachte. Hier haben Sie!«
Er legte ihr das Geld vor.
»Hundertfünfzig Duros!« rief sie staunend. »Wie haben Sie ihn dazu bringen können?« – »Er hat sich überlisten lassen«, lächelte er. »Bitte, unterzeichnen Sie diese beiden Reverse.« – »Wozu?« – »Wenn er hört, daß Sie sofort in eine neue Stellung gegangen sind, ist er imstande, das vorausbezahlte Gehalt wieder zurückzuverlangen. Hier aber erklärt er, daß er keinerlei Forderungen an Sie zu machen hat.«
Sie unterschrieb.
»Den einen Revers behalten Sie, und den anderen bekommt Salmonno. Ihn habe ich überlistet, gegen Sie jedoch will ich ehrlich sein. Wollen Sie mir eine sehr große Bitte erfüllen?« – »Wenn ich kann, herzlich gern.« – »Sie haben vorhin eine Summe erhalten, die für Ihre gegenwärtigen Bedürfnisse ausreicht?« – »Allerdings, Herr Sternau.« – »Geben Sie mir diese hundertfünfzig Duros! Ich brauche sie sehr nötig und zahle sie Ihnen zurück, sobald es mir möglich ist oder sobald Sie diese Summe notwendig brauchen!«
Sie blickte ihn überrascht an. Er war der Mann nicht, der von ihr Geld borgen kam.
»Herr Sternau, brauchen Sie es wirklich?« – »Ja.« – »Ich will nicht fragen, wozu. Hier ist es. Fast ahne ich, warum Sie diese Bitte aussprechen!« – »Was wollen Sie, Fräulein Wilhelmi? Wir sind Landsleute und müssen einander helfen!«
Er gab sich alle Mühe, diese Worte in einem leichten Ton zu sprechen, aber es gelang ihm nicht, seine Stimme bebte, und in seinem Auge stieg ein dunkler, feuchter Schimmer auf. Sie fühlte sich doch ergriffen und streckte ihm die Hand entgegen.
»Ich weiß, daß Sie es gut meinen. Ich werde stets mit Achtung an Sie denken!« sagte sie. – »Wollen Sie sich meiner zuweilen erinnern?« – »Gern.« – »Und zu mir kommen, wenn Sie eines Freundes bedürfen?« – »Ich verspreche es Ihnen!« – »So lassen Sie uns gleich jetzt einander Lebewohl sagen!« – »Warum schon jetzt? Warum nicht erst morgen, wenn ich gehe, Herr Sternau?« – »Ich glaube nicht, daß ich morgen zu Hause sein werde. Nehmen Sie meine innigsten Wünsche mit in Ihr neues Wirken. Gott behüte Sie vor jeder Enttäuschung und wende das, was Sie mit so großem Vertrauen unternommen haben, zu Ihrem Besten. Leben Sie wohl!«
Er ergriff ihre Hände, zog dieselben an sein Herz und an seine Lippen und eilte rasch hinaus. Sie blieb zurück. Es war ein eigentümliches, banges Gefühl, das sie ergriff, fast wie Reue, daß sie zuerst ohne seinen Rat gehandelt und dann auch gegen seine Ansicht das viele Geld behalten hatte. Sie suchte dieses Gefühl zu beherrschen, aber es gelang ihr nicht, und der Abend, den sie als den letzten im Haus des Bankiers verlebte, war ein einsamer. Selbst die Nacht brachte ihr weder Schlaf noch Ruhe, und als sie sich am Morgen erhob, war es ihr, als ob ein großer Teil ihres Lebensmutes und Selbstvertrauens verlorengegangen sei.
Bereits am Vormittag kamen einige Bedienstete des Herzogs, um die Effekten der Gouvernante abzuholen, und kurze Zeit später hielt sogar ein Wagen vor der Tür, der für sie selbst bestimmt war. Sie hatte bereits vorher von Salmonno Abschied genommen und stieg ein. Dabei warf sie einen Blick nach oben, konnte aber von Sternau nichts bemerken. Aber als sie später sich noch einmal umdrehte, da sah sie ihn in gebrochener Haltung oben auf seinem Balkon stehen, auf demselben Balkon, von dem aus er sie gesehen hatte, als sie dem Perser die Busenschleife zuwarf. Dieser Wagen mit dem herzoglichen Wappen entführte ihm sein Lebensglück.
Als sie vor dem Palais ausstieg, wurde sie von dem Haushofmeister empfangen, der sie nach ihrer Wohnung geleitete und ihr eine weibliche Bedienung zuwies. Sie packte nun zunächst ihre Koffer aus und begab sich sodann in das Zimmer der kleinen Prinzessin, wo sie der dort anwesenden Bonne die Hand entgegenstreckte und sie bat:
»Lassen Sie uns Freunde sein, Señorita! Das Schicksal hat uns zusammengeführt, und nun gilt es, in Frieden und Eintracht nebeneinander zu wirken.«
Die Bonne war eine kleine, höchst erregbare Südfranzösin. Sie machte ein grimmiges Gesicht und tat, als ob sie die dargestreckte Hand gar nicht bemerke.
»Aber bitte, was habe ich Ihnen getan?« fragte die Gouvernante. – »Ich mag Sie nicht!« lautete die trotzige Antwort. »Ich soll es nicht sagen, aber ich sage es doch! Sie haben meine Freundin verdrängt!« – »Wer ist diese Freundin?« – »Mademoiselle Charoy, die vorige Gouvernante.« – »Aber die habe ich ja nicht verdrängt!« – »Doch! Sie hat Ihnen weichen müssen!« – »Das ist nicht wahr! Sie ist eines plötzlichen Todesfalles wegen auf ihre eigene Bitte entlassen worden.« – »Ah, wer sagte das?« – »Der Herr Haushofmeister.« – »Dieser Lügner und Gleisner, dieser Cortejo? Hahaha! Und mir hat er streng verboten, Ihnen zu sagen, wie es eigentlich ist.« – »Nun, wie ist es eigentlich?« – »Er kam zu Mademoiselle Charoy und sagte ihr, daß man für kurze Zeit eine andere Dame als Gouvernante hier placieren werde; sie solle ihr Gehalt fortbeziehen und einstweilen zu ihren Eltern auf Urlaub gehen. Dann kamen Sie und erhielten sofort die Gemächer, die die verstorbene Herzogin bewohnt hat. Ihre Zimmer stoßen direkt an diejenigen des Herzogs. Warum quartierte man Sie nicht in die Gouvernantenwohnung ein? Oh, man weiß, was dies zu bedeuten hat!«
Die Gouvernante erbleichte. Es war ihr, als ob sie mit eiskaltem Wasser begossen werde. Sollte Sternau das Richtige geahnt haben? Sie nahm sich möglichst zusammen und antwortete:
»Bitte, sagen Sie mir Ihren Namen.« – »Man nennt mich hier Jeanette. Sagen Sie nicht Señorita zu mir. Ich bin eine Französin.« – »Nun wohl, Mademoiselle Jeanette, ich bitte Sie, mich einen Augenblick lang ruhig und ohne Bitterkeit anzuhören. Es tut mir leid, daß ich Ihr freundschaftliches Zusammensein mit Mademoiselle Charoy gestört habe, aber ich trage wirklich die Schuld nicht daran. Ich las im Blatt, daß eine Gouvernante gesucht werde; ich meldete mich und wurde engagiert, das ist alles.« – »Sie wußten nicht, wo die Stelle war?« – »Nein. Seien Sie aufrichtig gegen mich, damit ich mich so verhalten kann, daß ich mir Ihre Zufriedenheit und Freundschaft erwerbe. Können Sie mir sagen, wann der Herzog von seiner Reise zurückgekehrt ist?« – »Der Herzog? Von seiner Reise? Er war ja gar nicht verreist.« – »Nicht gestern, als ich hier war?« – »Nein, um diese Zeit hatte er sich in seine Gemächer zurückgezogen.« – »Mein Gott, so hat man mich belogen! Und noch eine Frage: Wo ist der Herzog am ersten Tag des Karnevals gewesen?« – »Das wissen wir nicht. Er ging als Maske fort.« – »Welche Maske trug er?« – »Er war als Perser gekleidet.« – »Ich danke Ihnen, Mademoiselle. Ich bin überzeugt, daß wir noch recht gute Freundinnen werden, denn Sie werden bald einsehen, daß Sie mich falsch beurteilt haben. Wo befindet sich unsere Prinzeß?« – »Sie ist um diese Zeit stets bei ihrem Papa.« – »Wann wird man sie sehen können?« – »In kurzer Zeit bereits.« – »So werde ich wiederkommen.«
Die Gouvernante begab sich in ihre Wohnung zurück. Alle ihre Begeisterung war verschwunden, von der Höhe des geträumten Glücks war sie gleich am ersten Tag heruntergestürzt. Was sollte sie tun? Das Palais verlassen? Das Geld zurückgeben, dessen größter Teil bereits unterwegs nach Deutschland war? Zu Sternau gehen und ihm eingestehen, daß er recht gehabt habe? Nein, und abermals nein. Noch konnte sie nichts beweisen. Sie wollte ihre Vorkehrungen treffen und dann das Weitere abwarten.
Zunächst untersuchte sie ihr Schlafzimmer und überzeugte sich durch Klopfen, daß die eine Seite desjenigen Zimmers, in dem sie gestern mit Cortejo gesessen hatte, aus einer dünnen Bretterwand bestand, die mit Tapete überkleidet war. Wie leicht war es, sie durch irgendeine Öffnung zu beobachten oder gar zu überfallen! Ihr Entschluß stand fest.
40. Kapitel
Noch in Grübeln versunken, wurde die Gouvernante von einem der Diener gestört, der ihr meldete, daß der Herzog Señorita Wilhelmi zu sprechen wünsche. Sie wurde von ihm nach dem Vorzimmer geleitet und trat in den eigentlichen Empfangsraum.
Dort saß der Herzog in einem kostbar geschnitzten Sessel, ein offenes Zeitungsblatt in der Hand.
Ja, das war die Gestalt des Persers!
Die Gouvernante verbeugte sich. Die Befangenheit, die man sonst wohl in Gegenwart so hochgestellter Persönlichkeiten empfindet, gab es bei ihr nicht. Sie fühlte, daß ein fester Mut ihr Herz erfüllte.
»Señorita Wilhelmi?« fragte der Herzog.
Sie verneigte sich bejahend.
»Mein Haushofmeister sagte mir bei meiner Rückkehr von einer Reise, daß er Sie als Erzieherin meiner Tochter engagiert habe …«
Der Herzog hielt inne, als erwartete er von ihr eine untertänige Bemerkung. Er sollte allerdings eine Bemerkung hören, aber keine Untertänigkeit.
»Darf Ich fragen, wohin Serenissimus verreist waren?«
Er blickte im höchsten Grad überrascht empor. Das hatte noch kein Mensch gewagt.
»Warum?« fragte er scharf. – »Weil ich annehme, daß diese Reise nur bis in Ihre Gemächer gegangen ist.« – »Ah, mira! – Ah, siehe!« rief er. »Was soll das heißen?« – »Daß ich in Serenissimus jetzt jenen Perser wiedererkenne, der mir auf dem Karneval seine Huldigung darbrachte.«
Er war ganz starr vor Erstaunen. Er, ein Herzog, und sie, eine kleine, arme Gouvernante! Wie schrecklich, wie horribel, wie geradezu unmöglich! Sollte er leugnen? Nein!
»Señorita«, sagte er mit einem Blick, so hoheitsvoll, als ob er aus dem Himmel herabkomme, »haben Sie einmal gehört, daß Harun al Raschid durch Bagdad gegangen ist?« – »Ja.« – »Daß Friedrich der Große dasselbe getan hat?« – »Ja, aber nicht in Bagdad.«
Er überhörte die Berichtigung und fuhr fort:
»Ebenso Joseph der Zweite, Napoleon und alle bedeutenden Fürsten. Auch ich tat es am Tag des Karnevals. An einem solchen Tag fallen die Schranken.«
Sie verneigte sich. Ihr Gesicht war kalt und ruhig, es verriet nicht im geringsten den Gedanken, den sie hegte.
»Sie haben«, fuhr er fort, »die Ihnen angebotene Stellung angenommen, und ich bin überzeugt, daß Sie mein Vertrauen rechtfertigen werden. Den Lehr– und Stundenplan besprechen wir später. Für jetzt wollte ich Ihnen nur mein Vokation erteilen und Sie fragen, ob Sie mir vielleicht einen Wunsch vorzutragen haben.« – »Es gibt allerdings eine Bitte, die ich mir gestatten möchte.« – »Sprechen Sie!« – »Ich ersuche Durchlaucht um die Erlaubnis, die Zimmer, welche Mademoiselle Charoy bewohnt hat, beziehen zu können.« – »Warum?« – »Ich glaube, daß sowohl die Lage als auch die Ausstattung dieser Wohnung meiner Stellung angemessener ist.« – »So gefallen Ihnen Ihre jetzigen Zimmer nicht?« – »Ich bin solchen Glanz nicht gewöhnt. Die Eleganz dieser Wohnung blendet, und ihre Lage beängstigt mich.«
Der Herzog nagte an der Unterlippe, und seine Augen funkelten, aber er bezwang sich und sagte:
»Das ist Sache des Haushofmeisters. Wenden Sie sich an ihn. Haben Sie ein Weiteres?« – »Ich fühle mich gedrungen, Durchlaucht meinen Dank abzustatten dafür, daß ich in den Stand gesetzt worden bin, den Meinen eine Unterstützung in die Heimat zu senden. Ich werde mich eifrig bemühen, durch Treue im Amt mich dieser Gnade würdig zu machen.«
Seine Faust knitterte die Zeitung zu einem Ball zusammen, aber er beherrschte sich abermals und sagte möglichst gleichmütig:
»Ich hoffe es. Sie sind entlassen.«
Sie verbeugte sich und ging. Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, so sprang der Herzog mit wutverzerrten Zügen empor und ballte beide Fäuste.
»Cortejo!« rief er.
Die Tür zu dem Nebengemach war nur angelehnt gewesen; sie ließ jetzt den Haushofmeister ein, den der Herzog dort postiert hatte, als Zeugen seines Triumphes.
»Was sagst du dazu?« fragte der letztere. – »Exzellenz, ich bin ganz fassungslos!« – »Ich auch, bei allen Teufeln, ich auch!« – »So eine kleine Person.« – »Noch nie, nie, nie ist mir so etwas Tolles geboten worden!«
Der Herzog ging mit weiten, dröhnenden Schritten im Gemach hin und her.
»Das war ja eine förmliche Blamage, diese Frage, wohin ich verreist gewesen sei. Also diese Gouvernante fühlt sich durch die Lage ihrer Wohnung beängstigt. Deutlicher konnte sie allerdings nicht sein. Aber das ist‘s ja eben, was sie mir nun zehnfach mehr wert macht als erst. Ich muß ihre Liebe erringen, Cortejo. hörst du? Ich muß! Woher aber mag sie das alles wissen?« – »Daß Durchlaucht nicht verreist waren?« – »Daß ich der Perser bin. Sie muß es mir gestehen. Oh, diese Deutschen scheinen Haare auf den Zähnen zu haben. Cortejo, du wirst sie auf keinen Fall ausquartieren. Ich gebe meine Zustimmung nicht«
Da klopfte es draußen an der Tür.
»Herein!« befahl der Herzog.
Ein Diener trat ein.
»Verzeihung. Señorita Wilhelmi wünscht den Herrn Haushofmeister sofort zu sehen.«
Cortejo blickte den Herzog fragend an, und als dieser zustimmend nickte, sagte er:
»Führen Sie die Dame nach meiner Wohnung.« – »Sie läßt den Herrn Haushofmeister zu sich bitten«, bemerkte der Diener. – »Ah! Hm. Gut, ich komme.«
Der Diener ging.
Als er sich entfernt hatte, lachte der Herzog laut auf.
»Köstlich! Der Herr Haushofmeister ist gezwungen, zu ihr zu gehen, anstatt sie zu ihm. Oh, diese Deutschen! Eine Spanierin, und wenn sie eine Fürstin wäre, würde ganz glücklich sein, das Wohlgefallen des Herzogs von Olsunna zu besitzen. Siehe, was sie will. Ich erwarte dich wieder.«
Als Cortejo zu der Deutschen kam, war sie beschäftigt, ihre Sachen wieder in die Koffer zu verpacken. Sie erhob sich aus ihrer gebückten Stellung und bat höflich:
»Entschuldigung, Herr Haushofmeister, daß ich nicht zu Ihnen kam! Aber das, was ich mit Ihnen zu reden habe, muß hier gesprochen werden.« – »Warum?« – »Weil es sich auf diese Zimmer bezieht.« – »Ich höre, Sie waren beim Serenissimus?« – »Ja, und er hat mich an Sie gewiesen, Señor.« – »In welcher Angelegenheit?« – »Ich bat, diese Zimmer mit der früheren Wohnung der Gouvernante vertauschen zu dürfen.« – »Das wird wohl nicht gehen, Señorita.« – »Darf ich den Grund erfahren?« – »Es ist bereits anderweit darüber verfügt.« – »So wird sich wohl an einem anderen Ort Raum für mich finden. Hier kann ich unmöglich wohnen.« – »Aber der Grund, der Grund?« fragte er ärgerlich. – »Der Grund ist sehr einfach. Hören Sie diese Bretterwand, an welche ich klopfe? Sehen Sie dieses kleine Loch in der Rosette? Und da draußen gibt es gar eine Tapetentür! Hier kann unmöglich eine Dame wohnen. Ich weiß jetzt genau, daß wir beide gestern hier durch dieses Loch beobachtet worden sind.« – »Aber da drüben wohnt ja doch nur Serenissimus, kein Mensch weiter.« – »Das ist gleich. Eine Dame wird sich selbst von einem Herzog nicht beobachten lassen. Ich bitte wirklich mit aller Energie um eine andere Wohnung, Herr Haushofmeister.« – »Es ist keine da.« – »So tut es mir leid, auf meine Stellung verzichten zu müssen.«
Sie ließ ihn stehen, wo er war, drehte sich um und fuhr fort, ihre Sachen einzupacken.
»Aber, Señorita, Sie werden doch nicht ernst machen?« fragte er ganz bestürzt. – »Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich in einer halben Stunde das Palais verlassen habe.« – »Sind Sie toll? Sie zwingen mich wahrhaftig, Ihretwegen Serenissimus um Rat zu fragen.« – »Tun Sie das, Señor. Aber wie gesagt, in einer halben Stunde würden Sie mich nicht mehr hier treffen.« – »Ich eile, ich werde Sie nicht so lange warten lassen.«
Er rannte fort. So energisch hatte er sich die Gouvernante denn doch nicht gedacht.
»Nun?« fragte der Herzog. – »Sie packt ein!« lautete die eilige Antwort. – »Sie packt ein? Was denn?« – »Ihre Sachen. Wenn sie keine andere Wohnung bekommt, hat sie in einer halben Stunde das Palais verlassen.« – »Ist das ihr Ernst?« – »Ihr völliger Ernst. Als ich ihr den Wunsch abschlug, sah sie mich gar nicht mehr an. Sie hat die Tapetentür bemerkt und auch das Loch in der Rosette, sie wird auf keinen Fall bleiben.« – »Was ist da zu tun?« – »Ich getraue mir da kaum einen Vorschlag zu machen, denn sie ist unberechenbar, wie es scheint« – »Es wird doch geraten sein, wir lassen ihr die gewöhnliche Wohnung der Gouvernanten.« – »Soll ich es ihr sagen?« – »Ja. Gehe schnell, denn sie ist wirklich imstande, das Palais zu verlassen, ehe du kommst.«
Der Haushofmeister kehrte zu ihr zurück; er fand sie beschäftigt einen der Koffer zu schließen.
»Señorita«, meldete er, »Serenissimus haben auf meine Vorstellung hin geruht Ihren Wunsch zu erfüllen. Sie werden also die Zimmer haben, die Demoiselle Charoy bewohnt hat« – »Ich danke. Kann ich sie sehen?« – »In fünf Minuten. Ich eile, den Schlüssel zu holen.«
In der angegebenen Zeit holte Cortejo sie ab, um ihr die Wohnung zu zeigen. Sie bestand aus drei kleinen Zimmern, die nach dem Garten hinaus lagen und zwar nicht fein, aber sehr wohnlich eingerichtet waren, und sie gefielen ihr besser als die Prachträume, in die man sie hatte einquartieren wollen.
»Ist Ihnen das gut genug?« fragte er. – »Ich bin vollkommen zufriedengestellt«, antwortete sie. »Darf ich erfahren, wer nebenan wohnt, Señor?« – »Rechts die Bonne, und links habe ich meine Räumlichkeiten.« – »Also ich kann diese Zimmer sofort beziehen?« – »Sofort« – »Haben Sie mir jetzt noch irgend etwas zu bemerken?« – »Für jetzt glaube ich nicht« – »Dann werde ich mich an Sie wenden, sobald ich Ihrer bedarf. Adieu, Herr Haushofmeister.«
Sie machte ihm eine Verbeugung, und er konnte nicht anders, er mußte sich verabschieden.
»Adieu, Señorita. Ich begreife in Ihrem Verhalten einiges nicht, hoffe aber, daß ich Sie späterhin besser verstehen werde als jetzt Wir werden uns nach und nach wohl kennenlernen.«
Sie antwortete ihm nicht. Er trat mit einer höflichen Verneigung seines Kopfes ab und begab sich wieder zum Herzog.
»Nun, ist sie zufrieden?« fragte dieser. – »Sie scheint es zu sein, Durchlaucht. Aber das ist ein ganz verteufeltes Frauenzimmer, Durchlaucht« – »Inwiefern?« – »Nun, Sie haben es ja selbst erfahren, und auch mich behandelte sie so von oben herab, als ob sie eine Königin sei und ich ihr geringster Diener. Ich glaube nicht, daß sie die Ehre anerkennen wird, von dem Herzog von Olsunna geliebt zu werden.« – »Das wird sich finden. Glaubst du an Liebestränke?« – »Nein.« – »Man spricht aber doch von Ärzten, Zigeunern, Hexen, Wahrsagern, die dergleichen Zaubertränke gegeben haben. Etwas muß doch daran sein.« – »Allerdings. Solche Tränke sind zu bekommen.« – »Bei wem?« – »Ich weiß das nicht. Soll ich mich vielleicht erkundigen?« – »Tue es, aber halte diese Angelegenheit geheim.«
Bereits am nächsten Tag trat Fräulein Wilhelmi ihren Beruf mit aller Energie an. Die Wünsche des Vaters wurden ihr durch den Haushofmeister übermittelt, die kleine Prinzessin fühlte eine innige, kindliche Zuneigung für sie, und auch die Bonne zeigte sich von Tag zu Tag freundlicher gestimmt.
So waren vierzehn Tage vergangen, als sie den Befehl erhielt, sich einer Spazierfahrt anzuschließen, die der Herzog mit der Prinzessin unternehmen wollte. Sie konnte nicht anders als gehorchen. Die Fahrt ging nur ein wenig hinaus vor die Stadt, der Herzog saß im Fond des Wagens, während sie mit der Prinzeß den Rücksitz eingenommen hatte. Als sie jedoch die Stadt hinter sich hatten, forderte er sie auf, sich neben ihn zu setzen. Es geschah dies mit einer Miene, die jeden Widerspruch abschnitt. Dann sagte er, als sie an seiner Seite saß:
»Señorita, ich ergreife die gegenwärtige Gelegenheit, Ihnen mitzuteilen, daß Sie sich meine vollständige Zufriedenheit erworben haben.« – »Das ist das Ziel, wonach ich strebe«, antwortete sie. – »Sie haben es verstanden, sich das Herz Ihrer Schülerin zu erobern«, fuhr er fort, »das ist bereits sehr viel. Vielleicht erringen Sie noch mehr, indem Sie machen, daß auch noch andere Herzen für Sie schlagen.«
Er wollte bei diesen Worten ihre Hand ergreifen und sie an seine Lippen drücken. Da rief die Gouvernante dem Kutscher zu und befahl ihm, sofort umzukehren.
Der Kutscher gehorchte, da er glaubte, daß die Gouvernante auf Befehl des Herzogs handle. Dieser letztere jedoch zog die Stirn in Falten, strich sich zornig den dichten Bart und meinte streng:
»Sie vergessen, was Sie sind!«
Sie lächelte ruhig und überlegen und antwortete:
»Ich glaube gerade im Gegenteil bewiesen zu haben, daß ich weiß, was ich bin. Aber, Exzellenz, ich sehe nicht ein, daß wir einen Wortwechsel nötig haben. Es ist mir die Erziehung von Prinzeß Flora übergeben worden, und ich werde meine Schuldigkeit tun, nicht weniger, aber auch nicht mehr.«
Sie schwieg, und auch er sagte kein Wort mehr. Aber als sie ausstiegen und dann auseinandergingen, traf sie aus seinem Auge ein Blick, der sie erbeben ließ.
Er war kaum auf seinem Zimmer angekommen, so ließ er den Haushofmeister rufen.
»Hast du dich nach dem Zaubertrank erkundigt?« fragte er erregt – »Ich habe allerdings Erkundigungen angestellt …« – »Nun?« – »Es wird möglich sein, das Mittel herbeizuschaffen, aber das ist sehr teuer.« – »Sein Preis?« – »Fünfzig Duros.« – »Spitzbube.« – »Ich bekomme es nicht anders.« – »Von wem?« – »Von einer alten Zigeunerin.« – »Kann ich es heute haben?« – »Nein, so schnell nicht. Morgen, eine Stunde nach Verlauf der Dämmerung.« – »Gut, so verlasse ich mich darauf. Die fünfzig Duros sollst du haben, obgleich ich weiß, daß du nicht fünf bezahlst.«
41. Kapitel
»Oh, gräme nie ein Menschenherz;
Der Gram geht bis aufs Blut,
Und all den Kummer, all den Schmerz
Machst du nie wieder gut!
Oh, mach‘, daß keine Träne hier
Ein Aug‘ um dich vergießt —
Weißt du, daß diese Träne dir
Ein schwerer Mahnruf ist?
Oh, sorge, daß kein Herzeleid
Du hier verschulden magst,
Es kommt die Stund‘, es kommt die Zeit,
Wo du es tief beklagst!«
Zarba, das Zigeunermädchen, war in einer Verkleidung als Knabe fast jeden Abend mit dem Haushofmeister zusammengetroffen. Sie war ihm ganz ergeben, sie erfüllte jeden seiner Wünsche, dessen Erfüllung überhaupt in ihrer Macht lag, und so hatte er mit ihr auch über den Liebestrank gesprochen. Als sie nun heute abend wieder unter vier Augen in seinem Zimmer beisammensaßen, fragte er:
»Hast du wegen des Liebestranks mit Mutter Kaschima gesprochen? Kann sie einen brauen?« – »Sie kann alles, sie kennt jede Blume und Pflanze, jeden Tee und jede Arznei, sie weiß Mittel gegen alle Krankheiten und Gebrechen, sie weiß auch, wie der Trank der Liebe zu machen ist.« – »Hat sie es dir gesagt?« – »Ja, sie hat kein Geheimnis vor mir.« – »Ah, so werde auch ich es erfahren?« – »Nein, ich darf es dir nicht sagen. Die Geheimnisse der Gitanos erben sich nur im Volk fort.« – »Närrchen«, sagte er liebkosend. »So kann ich den Trank aber doch wohl erhalten, wenn du mir das Rezept auch nicht sagst?« – »Vielleicht. Ich muß jedoch wissen, für wen er ist.« – »Das darf ich nicht sagen.« – »Ah, er ist für dich!« – »Nein, denn ich besitze ja deine Liebe!« – »Also wirklich für einen anderen! Wer ist es?« – »Ich darf ihn nicht nennen.« – »So kannst du den Trank auch nicht bekommen.« – »Du bist grausam!« zürnte er. – »Es ist die erste Bitte, die ich dir abschlage.« – »Hm! Wenn ich dir den Namen nenne, wirst du schweigen?« – »Ganz sicher.« – »Gut. Der Trank ist für den Herzog selbst.« – »Den Herzog?« meinte sie verwundert. »Und wer soll den Trank einnehmen?« – »Ich weiß es nicht. Der Herzog wollte mir es nicht sagen, und einen so hohen Herrn kann man nicht zwingen.«
Das war natürlich eine Lüge, aber Zarba glaubte sie und antwortete mit nachdenklicher Miene:
»Aber das Mittel ist nicht für immer. Es wirkt nur auf einige Stunden.« – »Wie muß man es nehmen?« – »Es sind Tropfen, die keine Farbe haben, aber ein wenig scharf schmecken. Man tut fünf davon in Wasser, Kaffee oder Tee, und in einer Stunde beginnt die Wirkung.« – »Also willst du mir das Mittel verschaffen?« – »Ja. Bis morgen?« – »Gut. Ich brauche es spätestens eine Stunde nach der Dämmerung. Wird es gehen?« – »Ja, du sollst es haben, aber wehe dir, wenn du es für dich selbst brauchen willst!«
Zarba hielt Wort. Am Abend des nächsten Tages, kurz nach der Dämmerung, erschien sie auf ihrem gewöhnlichen Weg und händigte dem Haushofmeister ein kleines Fläschchen ein.
»Hier!« sagte sie. »Es ist stark und wird helfen.« – »Wieviel kostet es?« – »Nichts.« – »Erwarte mich. Ich will es dem Herzog bringen.«
Cortejo ging. Der Herzog harrte seiner mit der allergrößten Spannung.
»Nun, hast du Wort gehalten?« – »Ja. Hier ist es.« – »Gib her!« – »Wird es gelingen, Durchlaucht?« – »Ja, wenn das Mittel wirklich gut ist. Die Gouvernante sitzt im Musikzimmer, ich werde jetzt selbst in ihre Stube gehen und es ihr in die Milch gießen, von der sie jeden Abend ein Gläschen trinkt. Du gehst mit und paßt auf, daß ich nicht überrascht werde.«
Das treulose Vorhaben gelang. Als die Gouvernante nach einiger Zeit in ihr Zimmer zurückkehrte, trank sie die Milch und ging dann schlafen.
In der frühesten Morgenstunde des nächsten Tages klopfte es leise an die Tür des Zimmer, das Cortejo bewohnte.
Rasch öffnete dieser und erschrak, als ihm der Herzog mit leichenblassem Antlitz entgegentrat.
»Was ist geschehen?« fragte der Haushofmeister bestürzt. – »Etwas Schreckliches!« stöhnte der Herzog, indem er sich ganz fassungslos in einen Stuhl warf. – »Sie machen mir Angst Durchlaucht! Was gibt es denn?« – »Der Teufel hole diese Geschichte! Das wird einen fürchterlichen Spektakel geben! Cortejo, was mache ich nur?« – »Ja, weiß ich es? Sie haben mir ja noch gar nicht gesagt, um was es sich handelt. Hat das Mittel gewirkt?« – »Oh, nur zu gut! Aber dann …« – »Dann?« – »Dann hat sie sich ein Messer in die Brust gestoßen.«
Cortejo schlug entsetzt die Hände zusammen.
»Heilige Madonna! Ist sie tot?« – »Nein, noch nicht; aber ihr Zimmer schwimmt im Blut. Sie ist ohnmächtig.« – »So muß schnell ein Arzt geholt werden, Exzellenz!« – »Wo denkst du hin! Es würde damit ja alles verraten sein. Sinne auf etwas anderes!« – »Ah, ich weiß etwas!« rief Cortejo erfreut. »Ich werde die Zigeunerin holen, die den Trank gebracht hat. Sie versteht es, Wunden zu behandeln. Soll ich sie rufen?« – »Schnell, schnell!« – »Zarba!«
Zarba, die gespannt zu erfahren, ob ihr Mittel gewirkt habe, sich schon in aller Frühe wieder zu Cortejo begeben hatte und sich augenblicklich im Nebenzimmer befand, von dem aus sie die Unterredung mit angehört hatte, trat herein. Der Herzog hatte erwartet, ein altes, häßliches Weib zu sehen, und war nicht wenig überrascht als er einen jungen, hübschen Knaben erblickte, dessen Kleidung Zarba auch heute angelegt hatte.
»Wer – wer ist das?« fragte er betreten. – »Die Zigeunerin«, antwortete Cortejo. – »Aber es ist doch ein Knabe!« sagte der Herzog. Dann aber überflog sein Auge mit einem schärferen Blick die Gestalt der vor ihm Stehenden, und nun erkannte er seinen Irrtum. »Ah, ist es möglich!« rief er. »Wahrhaftig ein Mädchen! Das ist also die ›alte‹ Zigeunerin, von der du sprachst?« – »Ja«, antwortete der Haushofmeister verlegen.
Der Herzog war inzwischen näher an das Mädchen herangetreten und fragte jetzt:
»Wie heißt du?« – »Zarba!« antwortete sie. – »Du bist es, die mir den Trank gebracht hat?« – »Ja!« – »Kannst du Krankheiten heilen?« – »Alle.« – »Auch Wunden?« – Ja, wenn sie nicht sofort tödlich sind.« – »So folgt mir beide, aber leise. Es darf uns kein Mensch hören.«
Als sie das Zimmer der Gouvernante erreichten, lag diese auf dem Sofa. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Gesicht sah bleich aus wie das einer Toten. Auf der Diele erblickte man mehrere große Blutpfützen.
Zarba trat sogleich zu ihr, um sie zu untersuchen. Dies dauerte nicht lange, dann nickte sie sehr ernst und nachdenklich mit dem Kopf und sagte:
»Sie ist nicht tot, aber sie will sterben. Einen Arzt dürft Ihr nicht holen. Ich bin schuld daran und werde bei ihr bleiben. Darf ich?« – »Ja«, nickte der Herzog. – »So hört, was ich um ihret-, um meinet– und um Euretwillen verordne: Jetzt verbinde ich sie einstweilen, sodann gehe ich, um Pflanzen zu suchen, die die Wunde heilen. Von da an pflege ich sie, bis sie wieder gesund ist, aber kein Mensch darf hier eintreten. Sie wird das Wundfieber bekommen, sie wird phantasieren; sie wird alles erzählen und uns verraten. Deshalb darf nur ich allein zu ihr. Oh, ich sehe jetzt erst ein, was ich begangen habe; es ist eine große, schwere Sünde, die ich gar nicht wiedergutmachen kann. Sie sind ein Teufel! Aber vergessen Sie nicht, daß der Tod dieser Señorita Ihnen viele Sorgen machen kann. Ihre Leiche müßte ärztlich untersucht werden, man fände den Messerstich und würde eine Untersuchung des Falles anstellen.«
Der Herzog sah die Zigeunerin, die in diesem Ton mit ihm zu sprechen wagte, verwundert an.
»Gut, tue, was du willst«, sagte er beklommen. »Cortejo mag für alles sorgen. Nur bitte ich, das Blut sorgfältig zu entfernen. Ihr habt den Trank verschafft, mich geht die Sache nichts mehr an!«
Er entfernte sich. Auch Zarba ging, nachdem sie die Verwundete verbunden hatte, und kehrte dann in ihrer Mädchenkleidung und mit den gesuchten Pflanzen zurück. Es hieß im Schloß, die Gouvernante habe ganz plötzlich einen Blutsturz bekommen und werde nun von der Zigeunerin, die dergleichen Krankheiten besser als ein Arzt zu behandeln verstehe, gepflegt.
Was im Krankenzimmer vorging, davon erfuhr kein Mensch ein Wort, nicht einmal Cortejo. Die Gouvernante hatte bei ihrem ersten Erwachen die Binde wieder aufreißen wollen, war aber von ihrer Pflegerin daran gehindert worden, und dann hatte sich zwischen beiden eine tiefe Zuneigung entwickelt, die einen großen, beruhigenden Einfluß auf die Gouvernante ausübte. Sie sprach kein Wort über jenen schrecklichen Abend, aber es kam auch kein Lächeln über ihre Lippen, das Leiden ihrer Seele war größer als das ihres Körpers; so kam es, daß mehr als drei Monate vergingen, ehe sie zum ersten Mal das Zimmer verlassen konnte.
Unterdessen war Zarba auch fernerhin mit Cortejo zusammengetroffen, denn sie liebte ihn mit aller Glut ihres südländisch veranlagten Herzens; aber es kamen die Augenblicke immer öfter, wo es ihr schien, als ob seine Liebe nicht mehr so innig sei wie früher. Es kam ihr vor, als sei sie in dem Palais, in dem sie jetzt, um die Gouvernante pflegen zu können, von dem Herzog einquartiert war, eine nur geduldete, von allen verachtete, zurückgesetzte Person. Sie betrachtete nach und nach die Anwendung ihres Mittels in dem einzig richtigen Licht und sie lernte immer mehr den Herzog zu verachten und dem Geliebten zu mißtrauen. Je größer ihre Zuneigung zu der Verwundeten wurde, desto höher schlug ihr das Gewissen, und eines Tages, als die Stimme desselben zu laut und mächtig ertönte, gestand sie der Gouvernante unter heißen Tränen den Sachverhalt und bat sie um Verzeihung. Bei dieser Gelegenheit erhielt sie über den Charakter Cortejos Aufklärungen, die ihr liebendes Herz mit Schrecken erfüllten.
42. Kapitel
Unterdessen hatte sich Sternau viel mit der so innig Geliebten beschäftigt, die seine Liebe so hart von sich gewiesen hatte. Er fühlte Sehnsucht, sie einmal zu sehen, drängte sie aber längere Zeit zurück, bis sein Verlangen fast einer ängstlichen Ahnung, daß der Gouvernante etwas zugestoßen sein könne, zu gleichen begann. Er begab sich nun nach dem Palais, um die Gouvernante zu besuchen, und wurde zu dem Haushofmeister geführt. Er fühlte sich betroffen, als er diesen erblickte. Auch Cortejo erkannte ihn sofort wieder.
»Was wollt Ihr?« fragte er stolz, fast grob. – »Ich wollte fragen, ob ich nicht Señorita Wilhelmi einmal sehen kann.« – »Was wollt Ihr bei ihr?« – »Es ist das ein einfacher Höflichkeitsbesuch, Señor.« – »Oh, Ihr scheint doch sonst nicht sehr höflich zu sein!« – »Man wird zuweilen zur Unhöflichkeit gezwungen«, antwortete Sternau fest und ruhig. – »Ah, Ihr erinnert Euch meiner?« fragte Cortejo verwundert. – »Sehr gut!« – »Es war …« – »…am ersten Tag des Karnevals«, ergänzte Sternau. – »Und Ihr vergrifft Euch an mir!« – »Nur ein klein wenig«, lachte der Erzieher. »Ich hoffe aber nicht, daß diese kleine Begebenheit Einfluß auf die Gewährung meines Wunsches hat, Señorita Wilhelmi zu sprechen.« – »Doch. Ihr werdet sie nicht sprechen!« – »Ah«, sagte der Erzieher mit einem halb lächelnden, halb herausfordernden Blick. »Wer will mir das verwehren?« – »Ich!« – »Ihr? Wie wollt Ihr dies fertigbringen?« – »Ich verbiete Euch dieses Haus.« – »Pah. Das wird Euch gar nichts helfen. Ihr könnt mir zwar das Haus verbieten, nicht aber den Zutritt zu Señorita Wilhelmi. Übrigens habt Ihr ja gar kein Recht, einen Menschen von dem Betreten dieses Palais auszuschließen, Ihr seid nicht der Besitzer desselben.« – »Ich handle im Auftrag meines Herrn.« – »Beweist dies!« – »Donnerwetter. Ich habe als Haushofmeister Euch gar nichts zu beweisen. Packt euch hinaus!« – »Ich werde allerdings gehen, aber nicht hinaus, sondern zum Herzog von Olsunna!« – »Das ist nicht notwendig«, erklang es da plötzlich hinter dem Sprecher. »Was wollt Ihr bei mir?«
Sternau wandte sich um und erkannte den Herzog selbst, der eingetreten war, um irgendeine eilige Angelegenheit sogleich in der Wohnung des Haushofmeisters zu verhandeln.
»Ah, was tut dieser Mensch hier?« fragte der Herzog. – »Er will zu Señorita Wilhelmi«, antwortete Cortejo. – »In welcher Angelegenheit?« – »Das weiß ich nicht – ein Höflichkeitsbesuch soll es sein!«
Der Erzieher verneigte sich, ruhig zustimmend, als ob er mit der größten Hochachtung behandelt worden sei, dann fügte er den Worten des Haushofmeisters hinzu:
»Ich bin nämlich Erzieher in demselben Haus, in dem Señorita Wilhelmi konditionierte, ehe sie die gegenwärtige Stellung annahm, und ich halte es für meine Pflicht, ihr eine Visite abzustatten.« – »Das ist nicht notwendig!« erklärte der Herzog. – »Warum nicht?« fragte Sternau. »Ob dieser Besuch ein notwendiger sei oder nicht, das vermag doch wohl nur ich selbst zu beurteilen, da nur ich es bin, der seinen Zweck kennt.« – »Sie werden die Señorita nicht sprechen. Gehen Sie!« befahl der Herzog kurz.
Jetzt nahm die Miene des Erziehers einen ganz anderen Ausdruck an, einen Ausdruck, vor dem der Herzog und Cortejo unwillkürlich zurückwichen.
»Wenn Sie es wünschen, Durchlaucht so werde ich allerdings gehen«, erklärte er mit blitzendem Auge, »aber ich werde mit polizeilicher Begleitung zurückkehren, um die Gründe untersuchen zu lassen, infolge derer meine Freundin für mich unsichtbar bleiben soll.« – »Sie spricht und empfängt überhaupt keinen Menschen.«
Daß der Herzog diese Antwort gab, bewies, daß er den Erzieher einigermaßen fürchtete.
»Ah, wird sie etwa als eine Gefangene behandelt?« – »Nein. Sie ist krank.« – »Krank? Darf man sich nach dieser Krankheit erkundigen?« – »Ein Blutsturz.« – »Wann?« – »Vor fünf Wochen.« – »Welcher Arzt behandelt sie?« – »Sie befindet sich in guten Händen.«
Sternau blickte die beiden anderen forschend an und erwiderte mit ernster Miene:
»Señores, ich kenne meine Stellung, aber auch die Eurige. Wenn Señorita Wilhelmi krank ist, so will ich sie nicht stören, obgleich ich großen Anteil an ihrem Schicksal nehme; sollte sich hier jedoch ein dunkler Punkt herausstellen, so werde ich ihn aufhellen. Verlaßt Euch darauf.« – »Ah, soll das eine Drohung sein?« fragte Olsunna. – »Ja«, antwortete Sternau freimütig.
Da streckte der Herzog den Arm aus, deutete nach der Tür und gebot mit erhobener Stimme:
»Hinaus!« – »Pah!« lächelte der Erzieher, indem er noch einen Schritt näher trat. Ich gehe schon, verspreche jedoch, daß ich wiederkommen werde.« Er machte darauf eine ironische Verbeugung und verließ das Haus.
»Ihm nach, Cortejo!« gebot der Herzog. »Laß ihn aus dem Tor werfen!« – »Verzeihung«, antwortete der Haushofmeister. »Wollen wir nicht lieber einen solchen Eklat vermeiden? Er geht ja von selbst. Wenn wir ihn von der Dienerschaft fassen lassen, so wäre er unverschämt genug, sich zur Wehr zu setzen.« – »Das ist richtig!« rief Olsunna zornig. »Und Körperkräfte besitzt dieser Zwerg für zehn. Diese Deutschen sind wahre Bären!« – »Aber nachsehen will ich immerhin«, meinte Cortejo, »ob er sich nicht doch vielleicht den Zutritt zu der Gouvernante erzwingt.«
Diese Vorsichtsmaßregel erwies sich als unnötig. Sternau verließ das Palais und kehrte nach seiner Wohnung zurück, aber er hatte Verdacht geschöpft und nahm sich vor, Nachforschungen anzustellen.
Daher kam es, daß Sternau bereits am Abend desselben Tages dem Palais gegenüber stand, um es zu beobachten. Er hatte einen günstigen Augenblick getroffen, denn er sah den Haushofmeister aus dem Portal treten. Da jetzt selbst der geringste Umstand von Bedeutung sein konnte, so folgte er ihm von weitem. Cortejo stand im Begriff, Clarissa, seine Geliebte, zu besuchen, und Sternau sah ihn in das betreffende Haus eintreten. In dem Haus gegenüber wohnte ein Gehilfe des Buchhändlers, bei dem er seine sämtlichen Bücher kaufte, er kannte diesen Gehilfen nicht bloß, sondern er war sogar einigermaßen mit ihm befreundet. Er sah an einem offenen Fenster des Hauses, in dem Cortejo eingetreten war, ein Mädchen stehen, das sich umdrehte, wie um einen Eintretenden zu empfangen, dann kam es mit Cortejo an das Fenster zurück.
»Ah«, dachte Sternau, »vielleicht eine Liebschaft. Ich werde mich erkundigen.«
Er suchte nunmehr den Buchhändler auf, und dieser offenbarte ihm, nachdem Sternau zu verstehen gegeben hatte, daß ihm daran liege, zu wissen, wer die Dame da drüben am Fenster sei und in welchem Verhältnis sie zu dem Herrn stehe, der sich bei ihr befinde, folgendes:
»Jener Herr heißt Gasparino Cortejo und ist Haushofmeister des Herzogs von Olsunna. Von der Dame weiß ich nur, daß sie von ihrem Wirt Señorita Clarissa genannt wird. Sie ist die Braut Cortejos.«
Sternau entfernte sich. Er konnte nicht absehen, ob seine jetzige Erfahrung ihm etwas nützen werde, doch er setzte seine Beobachtungen fort, so oft er die nötige freie Zeit dazu hatte, und erfuhr, daß die Gouvernante das Palais niemals verließ und daß sie wirklich krank sei, so daß die kleine Prinzeß Flora anderweit Unterricht erhalten mußte. Aus dritter Hand hörte er ferner, daß die Zimmer der Kranken nach dem Park gingen, und beschloß daher, diesen einmal aufzusuchen.
Dies tat er natürlich des Abends. Er fand die Tür, durch die Zarba früher immer Zutritt genommen hatte. Sie war verschlossen. Dennoch gelang es ihm als gewandtem Turner, leicht die Mauer zu ersteigen und drüben hinab in den Garten zu springen.
Er durchsuchte erst diesen mit aller Vorsicht, um sich zu vergewissern, daß er nicht beobachtet werde, und dann nahm er die hintere Front in Augenschein.
In der Nähe einiger erleuchteter Fenster stand ein Obstbaum. Er erkletterte ihn und konnte von demselben aus in zwei Zimmer blicken. Das eine war leer, in dem anderen aber saß Cortejo und eine junge Zigeunerin. Diese letztere hatte Sternau öfters aus dem Palais kommen sehen, auch hatte er von einer Aufwärterin erfahren, daß sie Zarba heiße und die kranke Gouvernante zu pflegen habe.
Aus der Situation, in der sich die beiden im Zimmer befanden, mußte Sternau schließen, daß eine wirkliche Liebschaft hier vorliege, Cortejo hatte also noch ein Liebesverhältnis angeknüpft, und die Betrogene war jedenfalls die Zigeunerin. Sternau beschloß, sich dies zunutze zu machen. Er stieg vom Baum herab, voltigierte auf die Mauer und wieder in das Gäßchen zurück und ging nach Hause.
Seine Beobachtungen fortsetzend, begegnete er bald darauf der Zigeunerin auf der Straße. Sie wollte an ihm vorüber, er aber hielt sie an.
»Du bist im Palais des Herzogs von Olsunna?« fragte er sie freundlich. – »Ja«, antwortete sie. – »Und bedienst Señorita Wilhelmi?« – »Ja.« – »Sie ist krank?« – »Noch immer.« – »An welcher Krankheit leidet sie?«
Die Zigeunerin blickte Sternau forschend an und fragte:
»Wer seid Ihr, Señor, daß Ihr so nach der Señorita fragt?« – »Ich bin ein Freund von ihr und auch von dir.« – »Von mir?« fragte sie verwundert. »Ich kenne Euch nicht.« – »Aber ich kenne dich. Ich bin dein Freund und meine es gut mit dir. Darum wollte ich dich vor Cortejo warnen.« – »Warnen?« fragte sie, aufmerksam werdend. »Weshalb?« – »Er betrügt dich; er hat noch eine andere Geliebte.«
Da blitzten ihre Augen zornig auf, und ihr kleines Händchen drohend erhebend, sagte sie:
»Señor, belügt mich nicht! Wen Zarba liebt, der darf keine andere haben.« – »Und doch hat er eine andere!« – »Beweist es!« – »Ich werde es dir beweisen, wenn du es verlangst« – »Ich verlange es.« – »Nun gut! Er wird heute abend wieder zu ihr gehen. Kannst du aufpassen, wann er das Palais verläßt?« – »Ja; ich werde es merken.« – »Wenn er fort ist, kommst du an diesen Ort, wo wir uns jetzt getroffen haben. Ich werde dich so führen, daß du ihn belauschen kannst.« – »Señor, wollt Ihr dies wirklich tun?« – »Ja, herzlich gern!«
Da blickte Zarba den Erzieher forschend an und fragte:
»Aber wie kommt es, daß Ihr mein Freund seid?« – »Weil du Señorita Wilhelmi pflegst, deren Freund ich bin.« – »Wie ist Euer Name?« – »Sternau.« – »Ah, den kenne ich!« – »Woher?« – »Señorita Wilhelmi bat mich einmal, mich zu erkundigen, ob Ihr noch beim Bankier Salmonno wohnt.« – »Und du hast dich erkundigt?« – »Ja. Ich habe ihr gesagt, daß Ihr noch dort seid.« – »Nun wirst du mir wohl vertrauen?« – »Ja, ich vertraue Euch, Señor.« – »Und kommst heute abend?« – »Ich komme!«
Sie trennten sich. Die Zingarita hatte schon längst bemerkt, daß die Liebe des Haushofmeisters nicht mehr die alte sei, daß es aber so stehe, das hatte sie doch nicht gedacht.
Sobald der Abend angebrochen war, gab sie sorgfältig acht, und als sie Cortejo das Palais verlassen sah, ging sie auch und traf den Erzieher an dem angegebenen Ort. Sie wurde von ihm zu dem Buchhändler geführt, der sie bereits erwartete, da Sternau ihn auf den Besuch vorbereitet hatte.
»Er ist schon drüben. Seht hinüber!« sagte er.
Zarba stellte sich an das Fenster und blickte lautlos hinüber. So stand sie wohl über eine halbe Stunde, und auch die beiden Männer sagten nichts. Was mußte in ihr vorgehen?
Endlich drehte sie sich um und bat Sternau:
»Kommt, Señor!«
Er ging mit ihr.
»Bist du nun überzeugt?« fragte er sie unten auf der Straße im Gehen. – »Ja.«
Dieses »Ja« klang scharf und schneidend wie eine Dolchspitze; plötzlich blieb Zarba stehen und sagte:
»Señor, habt Ihr einmal geliebt?« – »Ja«, antwortete er aufrichtig. – »Glücklich?« – »Nein.« – »Oh, sie wurde Euch untreu?« – »Nein, sie liebte mich überhaupt nicht.« – »Oh, das ist traurig! Aber noch viel; viel trauriger ist es, betrogen zu werden. Ist diejenige, die Ihr liebtet, in Eurem Vaterland?« – »Sie ist hier in Saragossa.« – »Señor, errate ich recht? Es ist Señorita Wilhelmi?« – »Ja.«
Da faßte sie seine Hand, preßte sie fest zwischen ihren Fingern und bat:
»Rettet sie!« – »Retten?« fragte er besorgt. »Was ist mit ihr?« – »Ihr Herz ist krank, ihre Seele ist krank, Señor; das ist schlimmer als der Messerstich, der ja auch bereits zugeheilt ist« – »Ein Messerstich! Herrgott! Was ist geschehen?« – »Still, regt Euch nicht auf, denn die Gefahr ist längst vorüber! Ihr seid aufrichtig mit mir gewesen, und so will ich auch mit Euch aufrichtig sein. Habt Ihr Zeit?« – »Ja; so viel du willst!« – »So folgt mir!«
Zarba führte den Erzieher zu dem Gartenpförtchen des Palais, zog den Schlüssel hervor und öffnete.
»Wartet hier! Ich will erst sehen, ob ich Euch unbemerkt hineinbringen kann, Señor.« – »Zu wem willst du mich bringen?« – »Das sollt Ihr selbst entscheiden. Zunächst geht Ihr mit nach meinem Stübchen.«
Die Zigeunerin huschte fort und kehrte bald darauf zurück. Sie brachte Sternau durch die Tür und geleitete ihn zu einer schmalen Seitentreppe, die sie mit ihm erstieg, um dann ein kleines, einfach möbliertes Zimmerchen zu öffnen, in das sie eintraten.
»So! Man hat uns nicht bemerkt«, sagte sie. »Hier wohne ich. Setzt Euch nieder!«
Dann brannte sie ein Licht an und nahm ihm gegenüber Platz. Er hatte sie bisher nur immer flüchtig betrachtet; nun aber tat er es eingehend und mußte sich gestehen, daß er noch selten ein so schönes Mädchen gesehen habe. Sie bemerkte seinen bewundernden Blick und sagte herb:
»Nicht wahr, Señor, ich bin schön?« – »Ja«, antwortete er, überrascht von dieser Frage. – Sie schüttelte den Kopf.
»O nein, o nein! Als ich es nicht wußte, da war ich schön, und jetzt, da ich es weiß, bin ich es nicht mehr. Ich bin der arme Schmetterling, der in den Wald fliegt, ohne zu wissen, daß er da den Glanz seiner Flügel einbüßt. Ja, Señor, Ihr habt Mitleid mit mir, ich sehe es Euch an, bald aber werdet Ihr mich hassen und mir zürnen.« – »Warum? Du hast mir ja nichts Böses getan!« – »Sehr, sehr viel Böses habe ich Euch getan, und deshalb nahm ich Euch mit hierher, um Euch alles zu gestehen und alles zu sagen. Wollt Ihr mich anhören?« – »Rede!« – »Den Anfang wißt Ihr. Der Herzog sah Señorita Wilhelmi und lockte sie in sein Palais. Ihr hattet sie gewarnt, sie aber hörte nicht auf Euch, denn sie glaubte, daß sie Euch nicht liebe.« – »Woher weißt du das?« – »Sie hat es mir selbst gesagt. Es wurden ihr hier viele Schlingen gelegt, aber sie widerstand. Es gab nur noch ein Mittel, einen Liebestrank, der die Sinne verwirrt …« – »Halt ein!« sagte Sternau. »Bist du bei Verstand? Man wird ihr doch keinen solchen Trank gegeben haben!« – »Man hat ihn ihr gegeben!«
Sternau fuhr mit leichenblassem Gesicht von seinem Sitz empor.
»Und sie hat ihn getrunken?« fragte er. – »Sie trank.«
Da schlug er die Hände vor das Gesicht und fiel auf den Stuhl zurück.
Es flimmerte dem Erzieher vor den Augen, und es kostete ihm alle Anstrengung, seine äußere Ruhe wiederzugewinnen.
»Von wem war der Trank?« fragte er matt. – »Von mir«, antwortete sie. – »Von dir?« wiederholte der Deutsche. »Allerdings, du bist ja eine Zigeunerin, eine Giftmischerin!« – »Ich wußte nicht, für wen er war, ich hatte Señorita Wilhelmi noch gar nicht gekannt.« – »Das ist keine Entschuldigung!« erklang es rauh aus seinem Mund. »Wer hat den Trank bestellt?« – »Der Herzog bei Cortejo und dieser bei mir. Ihr wißt es, daß Cortejo mein Geliebter war, ich konnte es ihm nicht abschlagen. Oh, er hat es mir zugeschworen, daß ich sein Weib sein solle!«
Zarba wollte weitersprechen, er aber winkte ihr zu schweigen. Er saß lautlos vor ihr. Sein Auge glühte, seine Schläfen klopften, sein Kopf brannte. Er kämpfte einen Kampf, einen schweren, harten Kampf, und es dauerte lange, ehe er als Sieger aus demselben hervorging.
»Sie ist unschuldig?« fragte er endlich. – »Ja, vollständig unschuldig.« – »Ist dies wirklich wahr?« – »Ich schwöre es Euch.« – »Könntest du es doch beweisen!« – »Ich kann es.« – »So tue es!« – »Als die Wirkung meines Tranks vorüber war, hat sie sich ein Messer in die Brust gestoßen.« – »Ah, das war der Blutsturz, von dem man mir erzählte?« – »Ja.« – »Und dann?« – »Dann lag sie lange Wochen krank. Die Wunde war nicht tödlich, wurde aber von den Leiden ihrer Seele verschlimmert. Sie will auch heute noch sterben, denn sie kennt den Zustand, in den sie ohne ihre Schuld geraten – und sie liebt Euch!«
Er fuhr empor.
»Mich? Mich liebt sie?« – »Ja, mit allen Kräften ihres Herzens.« – »Das ist nicht wahr!« – »Es ist wahr. Sie hat sich selbst nicht gekannt und verstanden, sie hat erst während ihres Krankenlagers eingesehen, daß Ihr der einzige seid, dem ihr Fühlen und Denken gehört.« – »Oh, mein Gott! Warum erkannte sie dies nicht früher!« – »Ja, es ist nun – zu spät!« klagte die Zigeunerin. – »Zu spät? O nein, nicht zu spät! Du kennst die wahre Liebe nicht. Sage mir, ob sie es weiß, daß du heute mit mir gesprochen hast!« – »Nein, ich habe ihr noch nichts gesagt.« – »So weiß sie auch nicht, daß ich mich jetzt im Palais befinde?« – »Sie weiß es nicht« – »Darf ich zu ihr gehen?« – »Sie wird diese Überraschung wohl aushalten, wenn ihr nicht böse mit ihr redet, Señor.« – »Ich werde kein hartes Wort über meine Lippen gehen lassen.« – »So kommt. Ich werde Euch führen.«
Zarba erhob sich und geleitete Sternau über einen Korridor, auf dem ihnen kein Mensch begegnete, nach einer Tür, auf die sie mit dem Finger deutete.
»Hier ist es«, sagte sie, »tretet ein.«
43. Kapitel
Sternau öffnete und zog die Tür dann wieder hinter sich zu. Das Zimmer war leer, aber aus dem nebenanliegenden hörte er eine halblaute, leidende Stimme fragen:
»Bist du es, Zarba?«
Er antwortete nicht, aber er trat näher. Er hätte nicht ein Wort über seine Lippen bringen können, so bewegt war er. Die Gouvernante saß am Fenster, noch immer so schön, ja noch schöner als früher, aber ihre Schönheit war eine andere, eine leidende, eine rührende geworden. Ihr Auge zeigte noch die Spur von Tränen, die sie soeben in der Stille vergossen hatte. Sie sah so müde, so teilnahmslos aus, sie blickte nicht einmal nach dem Eingang, obgleich sie das Geräusch des Nähertretenden gehört haben mußte.
»Fräulein Wilhelmi!«
Endlich brachte er diesen leisen Ruf über seine Lippen. Sie fuhr zusammen, wandte ihm das Gesicht zu und erblickte ihn. Ein tiefer Schreck durchzuckte ihr Gesicht und ihre ganze Gestalt
»O mein Gott!« schluchzte sie. »Sie sind es, Herr Sternau?«
Sie schlug die Hände vor das Gesicht und wandte sich ab. Er sah die Tränen zwischen ihren schlanken Fingern hervorquellen und faßte sich, trat näher und zog die Hände von ihrem Gesicht fort.
»Verzeihen Sie mir«, bat er mit zitternder Stimme, »daß ich Sie überrasche. Ich wollte Sie schon längst besuchen, aber man ließ mich nicht zu Ihnen.« – »Gehen Sie, gehen Sie wieder«, bat sie. – »Sie weisen mich fort?« fragte er. »Hassen Sie mich denn so sehr?« – »Hassen?« fragte sie. »O nein. Sie sind so gut, so stolz, so stark und rein. Ich bin es nicht wert, daß Sie sich in meiner Nähe befinden.«
Da zog ihn seine tiefe Bewegung vor ihr auf die Knie nieder. Er legte seine Stirn in ihre Hände und weinte lange, lange Zeit. Als er dann das Gesicht wieder zu ihr erhob, war es zwar von dieser Tränenflut benetzt, aber aus seinem Auge glänzte ein Strahl unendlicher Liebe.
»Zürnen Sie mir, daß ich Sie aufsuche?« fragte er. – »Nein, o nein. Aber es wird das letzte Mal sein, daß Sie bei mir sind.« – »Warum?« – »Weil ich Ihnen mitteilen muß, daß Sie recht gehabt haben in allem, was Sie mir sagten und wovor Sie mich warnten.« – »Ja, ich hatte recht in allem, aber auch darin, daß die Liebe nimmer aufhören kann.« – »Sie wird aufhören.« – »Nie! Ich fühle es in dieser Stunde.«
Mit diesen Worten erhob er sich wieder von dem Boden und legte den Arm um sie, zog sie an sich und legte seinen Mund auf ihre Lippen. Sie ließ es geschehen, ja, er fühlte sogar, daß sie den Druck seiner Lippen erwiderte, daß sie ihm zeigen wollte, daß ihr Herz sich ihm nun zugewandt habe, dann aber riß sie sich aus seinen Armen los und sagte:
»Das war unser Abschied, unser Abschied für immer. Leben Sie wohl!«
Doch er zog sie wieder an sich, drückte sie an seine Brust und stammelte: »Nein, das war kein Abschied, sondern das war der Anfang unseres Glücks.« – »Unmöglich!« rief sie abwehrend. – »Warum unmöglich?« fragte er. »Hassen Sie mich noch?« – »Hassen? O nein, nein!« – »Aber Sie lieben mich auch nicht? O bitte, sagen Sie mir es doch!«
Da leuchtete es in ihrem Angesicht, und sie antwortete:
»Ich liebe Sie, ja, ich liebe Sie! Ich liebte Sie bereits, seit ich Sie zum ersten Mal sah, ich habe das zu spät erkannt, o Gott, zu spät, zu spät!« – »Nein, nicht zu spät«, sagt er. »Um glücklich zu sein, ist es immer noch Zeit genug.« – »Bei mir nicht«, flüsterte sie, »denn ich bin des Glückes unwürdig geworden.« – »Sie täuschen sich«, versicherte er, sie immer inniger an sich ziehend. »Sie täuschen sich!« – »Ich täusche mich nicht«, antwortete sie. »Aber Sie wissen nicht alles.« – »O doch, ich weiß alles«, sagte er. – »Alles?« fragte sie, vor unendlicher Scham erglühend. – »Ja.« – »Wer hat es Ihnen gesagt?« – »Zarba.« – »Mein Gott!«
Sie wandte sich unter einer neuen Tränenflut von ihm ab; er aber zog sie an sich und küßte ihr die Tränen von den Wimpern.
»Darf ich sprechen?« fragte er. – »Sprechen Sie«, antwortete sie. »Es wird mein Todesurteil sein.« – »Nein. Ich würde Sie begnadigen, selbst wenn Sie schuldig wären, aber Sie sind unschuldig. Der einzige Vorwurf, der Sie treffen könnte, ist der, daß Sie mir nicht vertrauten. Nun es aber einmal geschehen ist, so soll das meiner Liebe keinen Eintrag tun. Sagen Sie mir, wollen Sie mein Weib, mein liebes Weibchen werden und mich in die Heimat begleiten?« – »Oh, wie gern, wie so gern, wenn es ginge! Aber es ist unmöglich; es ist unmöglich, denn Sie – wissen ganz gewiß noch nicht alles!« – »Ich weiß alles.«
Sie antwortete nicht. Ein tiefer Seufzer erklang durch die Stille, dann lag sie besinnungslos in seinen Armen. Die auf sie mit aller Gewalt eindrängende Scham hatte zur Ohnmacht geführt. Er aber hielt sie fest an sein Herz gedrückt und küßte sie immer und immer wieder auf den Mund, bis sie die Augen aufschlug und nun, einem unwiderstehlichen Impuls folgend, die Arme um ihn schlang.
»Ist es denn wahr, ist es denn möglich?« fragte sie mit bebender Stimme. – »Ja. Ich liebe dich noch wie vorher.« – »Und verstößt mich nicht?« – »Nein.« – »Und wirst mich niemals das entgelten lassen, wofür ich doch nichts kann?« – »Niemals.« – »Und mein – mein – mein Kind nicht hassen um seines Vaters willen?« – »Nein. Ich werde sein Vater sein, ich werde stets so sein, als ob du dieses unglückliche Haus niemals betreten hättest. Willst du unter diesen Bedingungen die Meine werden?« – »Ja.«
Dieses Ja erklang im lauten Jubel. Sie warf sich stürmisch an seine Brust, und wenn ja noch ein zweifelnder Gedanke bisher in seinem Herzen festgesessen hätte, so mußte er weichen vor der Fülle des Glücks, das ihm hier aus den Augen und dem Angesicht der Geliebten entgegenleuchtete.
»Wirst du auch sofort dieses Haus mit mir verlassen?« fragte er. – »Sofort!« – »Und erlauben, die Angelegenheit mit dem Herzog in Ordnung zu bringen?« – »Ja, Geliebter!«
Während dieser stürmischen Unterredung fand eine zweite statt, die allerdings nicht so glücklich endete. Zarba nämlich hatte, als sie von Sternau verlassen worden war, die Heimkehr des Haushofmeisters bemerkt und sich sofort zu ihm begeben.
»So früh heute?« empfing er sie mürrisch. »Schläft die Wilhelmi bereits?« – »Nein, aber sie bedarf meiner nicht. Komm, setz dich!«
Sie zog ihn neben sich auf das Sofa nieder und legte den Arm mit verstellter Zärtlichkeit um ihn. Sie sah wohl, wie er leise von ihr fortzurücken suchte, aber sie tat als ob sie es gar nicht bemerke, und sagte:
»Ich habe mit dir zu sprechen, und zwar über die Gouvernante.« – »Was geht die uns jetzt an!« meinte er. – »Sehr viel! Da sie jetzt wieder genügend hergestellt ist, so bedarf sie auch keiner Pflege mehr.« – »Hm, das ist allerdings wahr«, meinte Cortejo mit gespannter Miene. – »Und sie wird nun den Unterricht wieder beginnen?« – »Ich weiß es nicht. Ich muß erst hören, was der Herzog beschlossen hat.« – »Und ich?« – »Es ist, wie du bereits sagtest: Du bist dann entbehrlich geworden.« – »So werde ich wohl entlassen?« – »Wahrscheinlich.« – »Ist dies nicht zu umgehen? Du weißt ja, wie vorteilhaft es ist, daß ich hier im Palais wohne.« – »Es wird sich wohl schwerlich ein Grund für dein ferneres Verbleiben finden lassen. Wenn du das Palais verlassen hast, werde ich dich bei den Deinen besuchen.« – »Du denkst, daß ich zu ihnen zurückkehren soll?« – »Natürlich!« – »Und mit ihnen gehen, wenn sie weiterziehen?« – »Ganz wie es dir beliebt.« – »Es wird mir nicht belieben.« – »Du scherzt, Kleine!« – »Hast du mir nicht gesagt, daß ich dein Weib werden soll?« – »Allerdings.« – »Nun, wann wird dies geschehen?« – »Wenn die Verhältnisse günstig sind. Vielleicht in einem Jahr, das habe ich dir ja bereits öfter gesagt.« – »Du irrst, wenn du nur nach deinen Ansichten gehst. Nach eurer christlichen Anschauung bin ich allerdings nicht dein Weib, denn wir sind nicht getraut worden, nach den Gebräuchen der Gitanos aber bin ich es, denn …« Zarba näherte ihren Mund seinem Ohr und flüsterte ein Wort hinein.
Er fuhr zurück.
»Alle Teufel, steht es so?« fragte er. – »Ja, es steht so«, sagte sie ruhig. »Du siehst also, daß ich dich gar nicht verlassen kann!« – »Nicht? Hm!«
Er lachte kurz und höhnisch auf. Er war der Zigeunerin nun überdrüssig geworden und sah jetzt eine gute Gelegenheit, sie loszuwerden.
»Du scherzt wohl?« fragte er also ironisch. – »Es ist Ernst!« – »Pah, denkst du wirklich, daß ich dies glaube?«
In ihrem Angesicht regte sich keine Miene, aber ihr Auge richtete sich stechend auf ihn.
»Was fällt dir ein?« sagte sie. »Willst du mich verleugnen? Ist dies dein wirklicher Entschluß?« – »Ja.« – »Diesen Entschluß hat dir wohl deine Clarissa eingegeben?«
Er stutzte, faßte sich aber sofort und antwortete:
»Was weißt du von ihr?« – »Alles.« – »Oho! Ich will dir allerdings sagen, daß dieses Mädchen meine Geliebte ist.«
Sie lächelte, aber in diesem Lächeln lag das Zähnefletschen einer Tigerin.
»Du kennst mich nicht«, entgegnete sie. – »Nicht? Oh, ich habe mich niemals in dir geirrt!« – »Nun, wofür hältst du mich?« – »Für ein allerliebstes Spielzeug.« – »Eine Zingarita, ein Spielzeug, das man wegwirft!«
Es lag in ihrer Bewegung bei diesen Worten etwas, als ob sie sich wie eine Boa constrictor auf ihn werfen wolle, um ihn zu umschlingen und zu zermalmen, dennoch aber blieb ihr Gesicht ruhig, und ihre Miene war fast freundlich zu nennen. Gerade in dieser Selbstbeherrschung lag der Grund, dieses Mädchen für gefährlich, ja, für fürchterlich zu halten. Er aber übersah das und sagte:
»Eine Zingarita? Pah! Was will das bedeuten? Zigeunerinnen sind Bettelkinder. Geh!« – »Du dauerst mich! Die Zingarita ist die zukünftige Königin des Stammes, ihr ist eine Macht gegeben, von der du gar keine Ahnung hast Wir stammen aus dem fernen Indien, aus welchem wir auszogen, um rund um die Erde zu wandern. Unser Volk scheint untergegangen zu sein, aber es wird einst in alter Herrlichkeit wieder neu erstehen. Eine Zingarita kannst du nicht kaufen, sie verachtet dein Geld, denn ihr stehen Schätze zu Gebote, wie du sie nie gesehen hast und niemals sehen wirst …« – »Desto besser!« – »Und meine Rache fürchtest du nicht?« – »Deine Rache?« fragte er geringschätzig. »Hältst du mich für ein Kind?«
Jetzt traf ein einziger, blitzschneller Blick ihres Auges das seinige, aber dieser Blick fuhr ihm in die tiefste Seele. Sofort jedoch spielte wieder ein Lächeln um ihre Lippen.
»Ja, du bist ein Kind«, sagte sie, »ein unverständiges, unvorsichtiges Kind. Und mit einem Kind kämpft die Zingarita nicht. Ich werde warten, bis du ein Mann geworden bist und dann werden wir ja sehen, wer stärker und mächtiger ist, du oder ich.« – »Schön«, lachte er; »das wird interessant! Wie lange bleibst du noch hier im Palast?« – »Ich werde ihn bereits morgen früh verlassen.« – »So können wir wohl jetzt schon Abschied nehmen?« – »Ja, wenn wir uns nicht zufälligerweise wiedersehen.« – »So lebe wohl!«
Sie streckte ihm freundlich die Hand entgegen und antwortete: »Lebe wohl, Geliebter!« – »Lebe wohl!«
Zarba ging, und Cortejo glaubte einer Sorge ledig zu sein, denn ihre Rache zu fürchten, das fiel ihm gar nicht ein. Er hielt sie ja für ein Kind, das ihm nicht im mindesten gefährlich sein konnte, und ihre Reden von der Macht und den Reichtümern, die sie besaß, waren seiner Ansicht nach nur leere Phantastereien, die keinen Inhalt hatten. Er wandte sich daher sehr befriedigt seiner Arbeit zu, und indem seine Feder über das Papier glitt, ahnte er nicht, daß er heute in die Seele der Zingarita die Rache in einer Schrift geschrieben hatte, die nie vergehen würde.
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Die Gouvernante kehrte am anderen Morgen mit Sternau in ihre Heimat zurück. Ihr erstes Kind war ein Sohn, der nachherige Doktor Karl Sternau, der in Rodriganda eine so bedeutende Rolle spielte. Er hatte keine Ahnung davon, daß er der Sohn eines Herzogs sei und war von seinem Pflegevater in all den ritterlichen Künsten und Fertigkeiten geübt worden, durch die er später ein solches Aufsehen erregte.
Zarba kehrte zu den Ihrigen zurück. Auch ihr Kind war ein Sohn, er erhielt den Namen Tombi und ist derselbe geheimnisvolle Gitano, der später in Rheinswalden bei dem Oberförster Rodenstein als Waldhüter auftrat. Er hatte gleichfalls keine Ahnung davon, wer sein Vater war.