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| Waldröschen V. Ein Gardeleutnant
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Karl May
WALDRÖSCHEN V. EIN GARDELEUTNANT
1. Kapitel
Das Leben gleicht dem Meer, dessen ruhelose Wogen sich ewig neu gebären. Millionen und Abermillionen wechselvoller Gestalten tauchen aus den Fluten auf, um für die Dauer eines kurzen Lebensaugenblickes auf der Oberfläche zu erscheinen und dann wieder zu verschwinden – für immer? Wer weiß es? Am Gestade steht der Beobachter und richtet tausend Fragen an das Schicksal, aber kein Wort tönt an sein Ohr. Das Geschick spricht und antwortet nicht mit Worten, sondern in Taten, die Entwicklung schreitet unaufhaltsam weiter, und der Sterbliche sieht sich verurteilt, in fast machtloser Geduld die Geburt der ersehnten Ereignisse abzuwarten. Keine Stunde, keine Minute, kein Augenblick läßt sich verfrühen, und keine Tat bringt eher Früchte, als es von den ewigen Gesetzen vorgeschrieben wurde.
Oft steht der Mensch vor einer scheinbar folgenschweren Begebenheit, aber Tage und Jahre verrinnen, und es scheint, als ob die vorhandenen Ursachen ihre Triebkraft verloren hätten. Es ist, als ob das Vergangene wirkungslos sei, als ob die geheimen Federn des Lebensmechanismus ihre Spannung verloren hätten. Kein Laut ist zu hören, keine Tat, kein Erfolg zu sehen, und der schwache Mensch möchte fast an der Gerechtigkeit der Vorsehung zweifeln. Aber die Gerechtigkeit geht rücksichtslos ihren gewaltigen und unerforschten Weg, und gerade dann, wenn man es am wenigsten denkt, greift sie mit zermalmender Faust in die Ereignisse ein, und man erkennt mit staunender Bewunderung, daß tief am Grund des Meeres sich Fäden gesponnen haben, die nun an die Oberfläche treten, um sich zum Knoten zu schürzen, den zu lösen nun in die Macht des Menschen gegeben ist.
So war es auch mit den Schicksalen, deren Fäden in Schloß Rheinswalden zusammenliefen. Es vergingen Monate und Jahre, ohne daß man von den teuren Personen, die hinaus in die weite Welt gegangen waren, etwas hörte. Sie waren und blieben verschollen. Man mußte schließlich annehmen, daß sie zugrunde gegangen seien, und dies brachte eine tiefe, aufrichtige Trauer über den Kreis der Bewohner von Rheinswalden.
Als alle, auch die eingehendsten Nachforschungen vergeblich blieben, sah man sich gezwungen, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Der Schmerz war groß und konnte nur durch die wie Balsam wirkende Zeit gemildert werden. Es breitete sich über die Gesichter der Zug einer stillen Entsagung, man klagte nicht mehr, aber man bewahrte den Verschollenen ein tief in der Seele lebendes Angedenken und hütete sich zu gestehen, daß die Hoffnung doch noch nicht ganz und gar verschwunden sei.
So vergingen sechzehn volle, lange Jahre, bevor die Reihe der Begebenheiten, die jetzt abgeschlossen gewesen schien, endlich eine Fortsetzung nahm.
//-- * * * --//
In einem der feinsten Etablissements Berlins, das nicht weit vom Tiergarten gelegen war und ausschließlich von Offizieren und höchstens noch von hochgestellten Zivilbeamten frequentiert wurde, saßen eines Morgens eine Anzahl junger Leute beisammen, die, nach ihren Uniformen zu schließen, den verschiedensten Truppengattungen angehörten. Sie hatten sich zu einem jener feinen Frühstücke zusammengefunden, bei denen das Kuvert oft auf einige Hundert Mark zu stehen kommt, und schienen von dem genossenen Wein bereits in eine sehr angeheiterte Stimmung versetzt zu sein.
Dieses Frühstück war die Folge einer Wette.
Leutnant von Ravenow, der bei den Gardehusaren stand, besaß ein ungeheures Vermögen, war als der hübscheste und flotteste Offizier bekannt und freute sich einer solchen Beliebtheit bei den Damen, daß er sich rühmte, niemals einen Korb bekommen zu haben. Nun hatte sich vor einiger Zeit ein russischer Knjas – Fürst – in Berlin niedergelassen, dessen Tochter eine seltene Schönheit war und deshalb von der jungen Herrenwelt vielfach umworben wurde. Sie schien diese Bewerbungen gar nicht zu bemerken und wies jede Annäherung so stolz und nachdrücklich zurück, daß sie allgemein für eine erklärte Männerfeindin gehalten wurde. Auch Leutnant von Golzen, der bei den Kürassieren von der Garde stand, hatte sich eine öffentliche und darum höchst fatale Zurückweisung geholt und war infolgedessen von seinen Kameraden ausgelacht worden. Der fleißigste Lacher war von Ravenow gewesen, und um sich zu rächen, hatte von Golzen ihm angeboten, um ein solennes Frühstück zu wetten, daß auch er sich einen Korb holen werde. Ravenow hatte die Wette sofort angenommen und – gewonnen, denn er ging seit einigen Tagen in Gesellschaft der Russin aus, und es war erwiesen, daß sie ihm ihre Zuneigung widmete.
Heute nun hatte Golzen die Wette zu bezahlen, und die Kameraden sorgten in ausgelassener Weise dafür, daß zu dem Schaden auch der Spott nicht fehlte.
»Ja, Golzen, es geht dir gerade wie mir!« schnarrte ein langer, spindeldürrer Hauptmann, der die Schützenuniform trug. »Uns beiden bleibt Hymens Gunst versagt, aus welchem Grund, das mag der Teufel wissen!« – »Pah!« lachte der Angeredete. »Bei dir ist es sehr leicht erklärlich, daß du kein Glück bei den Damen hast. Wer dich heiratet, hätte drei Meilen Knochensammlung zu machen, und das ist eine Arbeit, die man wohl einem Präparateur, nicht aber einer Dame zumuten darf. Was aber mich betrifft, so fühle ich meinen Stolz nicht im mindesten verwundet. Ich habe zwar meine Wette verloren, doch nicht um eines Korbes willen, sondern weil Ravenow keinen erhalten hat. Ich bin überzeugt daß er auch seine Meisterin finden wird, die ihn zur Retirade zwingt« – »Ich?« fragte Ravenow. »Wo denkst du hin! Ich bin bereit, eine jede Wette einzugehen, daß ich überall siege.« – »Oho!« klang es im Kreis. – »Ja«, wiederholte er. »Eine jede Wette und ein jedes Mädchen. Auf Ehre!«
Er schlug sich mit der Hand an die Stelle, an der der Griff seines abgelegten Degens zu finden gewesen sein würde, und blickte sich auffordernd im Kreis um. Seine geröteten Wangen bewiesen, daß er dem Wein nicht mäßig zugesprochen hatte, und so mochte es kommen, daß er seine Erfahrungen höher anschlug, als er durfte. Golzen erhob warnend den Finger und sagte:
»Nimm dich in acht Alter, sonst nehme ich dich beim Wort!« – »Tue es!« rief Ravenow. »Nimmst du mich nicht beim Wort, so erkläre ich, daß du dich scheust ein zweites Frühstück zu bezahlen!«
In den Augen Golzens blitzte es auf. Er fuhr empor und fragte:
»Jede Wette gehst du ein?« – »Jede«, lautete die schnelle übermütige Antwort. – »Jedes Mädchen?« – »Jedes. Punktum.« – »Nun wohl! Ich setze meinen Fuchs gegen deinen Araber…« – »Donnerwetter!« rief da Ravenow. »Das ist verteufelt ungleich, aber ich darf nicht zurück. Angenommen also. Welches Mädchen?«
Ein zynisches Lächeln breitete sich um die Lippen Golzens, und er antwortete:
»Ein Mädchen von der Straße; dasjenige, das ich dir unter den jetzt Vorübergehenden bezeichne.«
Ein lautes Gelächter erscholl im Kreis, und einer der Anwesenden meinte:
»Bravo! Golzen will seinen Fuchs opfern, damit Ravenow sich den großen Ruhm erwirbt, irgendeine Nähmamsell oder eine zweifelhafte Ladennymphe erobert zu haben. Das ist göttlich!« – »Halt, ich lege mein Veto ein!« meinte Ravenow. »Ich habe zwar gesagt, jedes Mädchen, aber man wird mir wenigstens die Beschränkung erlauben, daß es keine Dirne zu sein braucht; das ist man meiner Ehre schuldig. Muß es partout eine von den Passantinnen sein, so bedinge ich mir aus, daß nur unter denen gewählt werde, die vorüberfahren, nicht aber gehen.« – »Angenommen!« stimmte Golzen bei. »Ich mache dir sogar die Konzession, daß ich nicht einmal die Inhaberin einer Droschke bezeichnen werde.« – »Ich danke dir!« nickte Ravenow befriedigt. »Wieviel Zeit gibst du mir zur Eroberung der Feste?« – »Fünf Tage von heute an.« – »Einverstanden! Mag also der Tanz beginnen, Zeit habe ich!«
Ravenow erhob sich von seinem Platz und schnallte sich den Degen um. Man bemerkte es kaum, daß die Geister des Weines in ihm rumorten, und wer ihn so dastehen sah mit dem pfiffig selbstbewußten Ausdruck seines hübschen Gesichts, der zweifelte nicht daran, daß es ihm nicht allzu schwer sein werde, seine Vorzüge zur Geltung zu bringen. Die Herren Offiziere sind von der Damenwelt zu sehr verwöhnt, als daß sie sich für überwindlich halten sollten.
Von diesem Augenblick an herrschte eine große Spannung in dem Zimmer.
Die Herren standen an den Fenstern und beobachteten die Insassen der vorüberfahrenden Wagen. Welche der Damen, die vorüberrollten, würde Golzen wählen? Eine solche Wette war noch nie dagewesen. »Interessant! Famos! Unglaublich! Außerordentlich! Verwegen! Grandios! Pyramidal!« Das waren die einzelnen Ausrufe, mit denen man der Spannung Luft zu machen suchte, bis ein kleiner Füsilierleutnant ein anderes Wort ausstieß, indem er näher an das Fenster trat und rief:
»Ah, herrlich! Eine wirkliche Schönheit!« – »Wer? Wo?« ertönte die Frage. »Dort an der Ecke, die Equipage mit den Trakehnern«, antwortete er. – »Ah, bei Gott, du hast recht!« rief ein zweiter. »Wer mag das sein?«
Die bezeichnete Equipage kam im Schritt herangerollt. Im Fond des Wagens saß neben einer ältlichen Dame ein junges Mädchen von soeben erst erblühter Schönheit, die fast unbeschreiblich zu nennen war. Ihr Gesichtchen war von der zarten Röte der Jugend überhaucht, ihr volles, schönes Haar fiel in zwei starken, langen Zöpfen auf den Sitz herab und wand sich von da wie eine weiche, liebkosende Schlange über den Schoß hinüber und wieder herüber. Ihre Züge waren so rein, so kindlich, so ahnungslos, und doch lag in ihren tiefen, dunklen Augen ein Licht, das jedem annähernden Schritt versengend entgegendrohte. So viel man von der Gestalt sehen konnte, hatte sie den Schritt vom Kind zur Jungfrau getan, aber diese trotz ihrer Zartheit so kräftigen Formen mußten zur Entfaltung einer königlichen Schönheit geeignet sein. Wenn diese Jungfrau sich vom Sitz erhob, so mußte sie sich ganz sicher in einer imponierenden Höhe präsentieren.
»Herrlich! Unvergleichlich! Wer ist sie? Unbekannt! Eine Venus! Nein, eine Diana! Vielmehr eine Minerva!«
So rief es rund im Kreis. Golzen, der Gardekürassier, drehte sich um, zeigte auf die Equipage und rief:
»Ravenow, diese hier!« – »Ah, einverstanden, ganz und gar einverstanden!« rief dieser in einem beinahe jubelnden Ton.
Dann zupfte er sich die Uniform zurecht, warf einen Blick in den Spiegel, nahm den Degen unter den Arm und eilte hinaus.
»Ein Glückspilz, auf Ehre!« schnarrte der lange Hauptmann, indem er ihm neidisch nachblickte. »Ich bin doch begierig, wie er es anfangen wird!« – »Pah, er wird ihnen per Droschke nachfahren, um zunächst ihre Adresse zu erfahren«, meinte einer der Herren.
Golzen lachte kühl und antwortete:
»Und dabei einen Tag versäumen. Nein, er wird Sorge tragen, mit ihnen bereits heute in ein Gespräch zu kommen.« – »Wie wird er dies anfangen?« – »Das laßt seine Sorge sein. Er hat in diesem Punkt Erfahrung genug, und um einen Araber zu retten, strengt man schon seine Erfindungsgabe an.« – »Ah, er nimmt wirklich eine Droschke und fährt ihnen nach. Wer doch dabeisein könnte!«
Ravenow hatte wirklich einen Fiaker genommen, der an der nahe liegenden Haltestation sehr leicht zu haben war, und gebot dem Kutscher, die Equipage, die von zwei Trakehnern gezogen wurde, zu verfolgen. Die zwei Fuhrwerke bogen nach dem Tiergarten ein, und es wurde ersichtlich, daß die Besitzerinnen der Equipage eine Spazierfahrt durch den letzteren beabsichtigten.
Als man eine sehr wenig belebte Allee erreichte, befahl der Leutnant dem Kutscher, die Equipage zu überholen, griff aber vorher in die Tasche, um ihn zu bezahlen. Als die Droschke an den Damen vorüberrollte, bog er sich seitwärts nach ihnen hin, machte ein sehr überraschtes Gesicht und grüßte in einer Weise, als ob er Bekannten begegne, winkte dem Kutscher der Equipage zu halten und sprang zu gleicher Zeit aus seinem Wagen, der sofort umlenkte und zurückkehrte. Die Equipage hielt.
»Weiter!« gebot er, und während sie sich wieder in Bewegung setzte, hatte er bereits den Schlag geöffnet und stieg ohne Umstände ein, um sich hier mit einem vor Freude strahlenden Gesicht auf den Sitz niederzulassen und ganz so zu tun, als ob er die erstaunten, ja indignierten Mienen der beiden Damen gar nicht bemerke. Dann streckte er dem Mädchen beide Hände entgegen und rief mit außerordentlich gut gespieltem Enthusiasmus:
»Paula, ist‘s möglich? Welch ein Zusammentreffen! Sie sind in Berlin? Warum haben Sie mir nicht vorher geschrieben?« – »Mein Herr, Sie scheinen uns zu verkennen!« sagte die ältere Dame mit einem sehr ernsten Gesicht.
Ravenow markierte eine Miene, die teils Überraschung ausdrückte, teils die Vermutung aussprach, daß man mit ihm scherzen wolle, und antwortete:
»Ah, gnädige Frau, Verzeihung! Wie es scheint, habe ich allerdings noch nicht die Ehre, von Ihnen gekannt zu sein, Paula jedoch wird diesen Umstand gern beseitigen.« Und sich zu der jungen Dame wendend, bat er: »Bitte, Fräulein, haben Sie die Güte, mich dieser Dame vorzustellen!«
Aus den tiefen, ernsten Augen des Mädchens fiel ein forschender, scharfer Blick auf ihn, und er hörte eine Stimme, goldig und wohltuend, wie der sympathische Klang eines Glöckchens:
»Dies ist mir unmöglich, denn ich kenne Sie nicht. Wer sind Sie?«
Da fuhr er mit dem Ausdruck der höchsten Befremdung zurück und sagte:
»Wie, Sie verleugnen mich, Paula? Womit habe ich das verdient? Ah, ich vergesse, daß Sie immer gern ein wenig zu scherzen belieben!«
Wieder traf ihn ein forschender Blick, aber finsterer als vorher, und als sie antwortete, sprach sich eine so stolze, hoheitsvolle Zurückweisung in dem Ton aus, daß er sich ganz überrascht fühlte.
»Ich scherze nie mit Personen, die ich nicht kenne oder nicht zu kennen wünsche, mein Herr. Ich hoffe, daß es nichts anderes ist, als eine mir allerdings fatale Ähnlichkeit, die Sie veranlaßt, unseren Wagen so ohne alle weiteren Umstände zu überfallen, und bitte Sie, sich zu legitimieren!«
Es gelang ihm sehr gut, die höchste Bestürzung zu forcieren, und mit ebenso gut simulierter Hastigkeit antwortete en
»Ah, wirklich? Mein Gott, sollte ich mich denn wirklich täuschen! Aber dann wäre ja diese Ähnlichkeit eine so frappante, wie ich sie nie und nimmermehr für möglich gehalten hätte. Doch das Rätsel muß sich ja gleich lösen.« Und mit einer doppelten Verbeugung gegen die beiden Damen fügte er hinzu: »Mein Name ist Hugo von Ravenow, Graf Hugo von Ravenow, Leutnant bei den Gardehusaren Seiner Majestät.« – »So bestätigt es sich, daß wir Sie nicht kennen«, sagte das Mädchen. »Mein Name ist Rosa Sternau, und diese Dame ist meine Großmama.« – »Rosa Sternau?« fragte er scheinbar ganz erschrocken. »Ist dies denn wirklich möglich? Sie sehen mich ganz und gar erschreckt, auf Ehre, meine Damen! Ich bin allerdings das Opfer einer ganz außerordentlichen, ganz unglaublichen Ähnlichkeit und ersuche Sie dringend, mir zu verzeihen!« – »Wenn es sich wirklich um eine solche Ähnlichkeit handelt, so müssen wir allerdings verzeihen«, entgegnete Rosa, aber in ihrem Ton sowohl, als auch in dem Blick ihres prächtigen Auges sprachen sich deutliche Zweifel aus. »Darf ich Sie um die Mitteilung ersuchen, wer meine Doppelgängerin ist?« – »Gewiß, gewiß, Fräulein Sternau! Es ist meine Cousine Marsfelden.« – »Marsfelden?« fragte Rosa, indem ein eigentümlicher Blick von ihr hinüber zu ihrer Großmutter glitt. »Marsfelden ist ein adliger Name. Wo befindet sich diese Cousine, die also Paula von Marsfelden heißt?«
Das Gesicht des Leutnants klärte sich auf. Er vermutete aus der an ihn gerichteten Frage, daß die Dame bereit sei, auf ein Gespräch mit ihm einzugehen, und dies war es ja gerade, was er beabsichtigt hatte. Er glaubte überhaupt, leichtes Spiel zu haben. Die Damen hießen einfach Sternau, waren also bürgerlich, und welches Mädchen aus diesem gewöhnlichen Stand wäre nicht ganz glücklich, einen Gardeleutnant kennenzulernen, der noch dazu ein Graf war. Er vermutete nicht im geringsten eine Verfänglichkeit in der Frage Rosas und antwortete darum höchst unbefangen:
»Ja, Paula von Marsfelden. Sie ist am Hof der Großherzogin von Hessen-Darmstadt. Da sie von der Großherzogin bevorzugt wird und immer in ihrer Nähe ist, wunderte ich mich außerordentlich, sie hier in Berlin zu sehen. Ich muß ihr wirklich heute gleich schreiben, daß es in unserer Residenz ein so schönes und bewundernswertes Ebenbild von ihr gibt«
Es lag ein höchst fatales, beleidigendes Lächeln um den kleinen Mund des Mädchens, als es jetzt antwortete:
»Ich ersuche Sie, sich diese Mühe zu ersparen!« – »Warum, mein Fräulein?« – »Weil ich selbst Fräulein von Marsfelden davon benachrichtigen werde.« – »Sie selbst? Aus welchem Grund?« – »Weil diese Dame meine Freundin ist. Ich teile Ihnen, allerdings fast überflüssigerweise, mit, daß auch ich die Ehre habe, von der Großherzogin bevorzugt zu werden, wie Sie sich auszudrücken beliebten.« – »Ah!«
Diese Silbe klang fast wie ein Ruf des Schrecks. Ravenow sah ein, daß er, wenn auch nicht das ganze Spiel, so doch den Hauptzug verloren geben müsse. Dieses bürgerliche Mädchen hatte Zutritt am großherzoglichen Hof? Dieses Mädchen kannte jene Dame, deren Namen er genannt hatte, nur weil ihm gerade kein anderer eingefallen war? Paula von Marsfelden war mit ihm nicht im geringsten verwandt, er hatte sie nur seine Cousine genannt, um einen Grund für die unverfrorene Beschlagnahme der Equipage zu haben.
»Sie erschrecken?« sagte Rosa mit stolzer Kälte. »Ich habe mich also in Ihnen nicht getäuscht. Mein Herr, Sie sind zwar Graf und Offizier, aber nichtsdestoweniger ein Lügner, ja geradezu ein Bube, ein sehr frecher Bube!« – »Fräulein!« brauste er auf. – Leutnant!« entgegnete sie mit tiefster Verachtung. – »Wären Sie ein Mann, so müßten Sie mir sofort Satisfaktion geben, bei Gott und meiner Ehre! Kann ich für eine Ähnlichkeit, die der einzige Grund meines Irrtums ist?«
Jetzt wollte Frau Sternau in höchster Entrüstung das Wort ergreifen, doch Rosa bat sie durch eine Handbewegung zu schweigen und übernahm die Antwort selbst. Man hätte einem jungen Mädchen, wie sie war, kaum die schlagfertige Schärfe zutrauen mögen, mit der sie entgegnete:
»Schweigen Sie! Wäre ich ein Mann, so würde ich mich nur mit satisfaktionsfähigen Herren schlagen. Ob Sie bei Ihrer Ehre schwören dürfen, bezweifle ich, denn Ihr Benehmen dokumentiert einen vollständigen Mangel allen Ehrgefühls. Und was die Ähnlichkeit betrifft, auf die Sie sich zu stützen suchen, so ist sie eine große Unwahrheit. Fräulein von Marsfelden ist mir ebensowenig ähnlich, wie Sie sich mit einem Ehrenmann vergleichen lassen. Sie haben einfach ein wohlfeiles Abenteuer gesucht; Sie haben es gefunden, wenn auch in anderer Weise, als Sie es dachten. Sie sehen jedenfalls ein, daß Ihre mehr als zweifelhafte Rolle ausgespielt ist, und darum ersuche ich Sie, uns zu verlassen!«
Das war eine Abfertigung, wie der Leutnant noch keine erfahren hatte, aber er war ein Lebemann, der nicht gewillt war, sich auf diese Weise den Laufpaß geben zu lassen. Sollte er gleich am Anfang des Abenteuers seine Wette verloren geben? Nein, dazu war ihm sein Pferd zu kostbar. Und es gab ja in dieser Verzweiflung Ressourcen, die ihm die Hoffnung gaben, das Spiel zu gewinnen. Er nahm also eine möglichst zerknirschte Miene an und entgegnete:
»Nun wohl, gnädiges Fräulein, ich muß Urnen teilweise recht geben. Ich befinde mich in einer Lage, die mir keine Wahl läßt, ich sehe mich gezwungen, Ihnen die Wahrheit zu bekennen, selbst auf die Gefahr hin, den größten Fehler zu begehen und Ihren gegenwärtigen Zorn noch zu vergrößern.« – »Zorn«, lächelte Rosa überlegen. »Nein, von Zorn ist keine Rede. Erzürnen könnte mich nur ein ebenbürtiger Charakter. Sie haben sich nicht meinen Zorn, sondern nur meine Verachtung erworben. Ich begreife nicht, was Sie mir noch zu sagen haben könnten, ich verzichte auf jede weitere Mitteilung und ersuche Sie abermals, den Wagen zu verlassen!« – »Nein und abermals nein!« entgegnete er dringend. »Sie müssen meine Verteidigung hören!« – »Müssen! Ah! Wir werden ja sehen, ob ich muß!«
Ihr Auge blickte suchend die Allee entlang, während der Leutnant fortfuhr:
»Die Wahrheit ist die, daß ich Ihnen schon wochenlang folge, seit ich Sie hier zum ersten Male gesehen habe. Ihr Anblick hat mein Herz mit Gefühlen …«
Da wurde er von einem Lachen unterbrochen, das sich so golden hell von ihren rosigen Lippen Bahn brach, daß er diese Lippen sofort und tausendmal hätte küssen mögen. Er fühlte, daß er hier in großer Gefahr sei, die Rollen zu verwechseln und selbst gefangen zu werden.
»Sie folgen mir bereits wochenlang?« fragte sie. – »Ja, auf Ehre, meine Gnädige!« beteuerte er. – »Hier in Berlin?« – »Allerdings«, antwortete er, bereits etwas kleinlauter. – »Und Sie sagen, daß Sie mir die Wahrheit gestehen wollen?« – »Die reine, aufrichtige Wahrheit, ich schwöre es!«
Bei dieser Versicherung legte er die Hand aufs Herz; sie bemerkte es nicht, sie sah nur, daß da vorn in der Allee ein Schutzmann postiert war, und das hatte sie längst bereits gewünscht »Nun, so will ich Ihnen sagen«, entgegnete sie, »daß Sie abermals lügen. Ich war noch nie in Berlin und befinde mich erst seit gestern hier. Sie sind ein renitenter und unverbesserlicher Mensch. Ich bedauere die Armee, die so unglücklich ist, Sie Kamerad nennen zu müssen, und befehle Ihnen nun wirklich zum letzten Male, unseren Wagen zu verlassen.« – »Ich werde nicht eher gehen, als bis ich mich gerechtfertigt habe, und wollen Sie mich nicht hören, so werde ich bleiben, um Ihre Wohnung zu erfahren und Sie dort aufsuchen, um mich zu verteidigen.«
Da blitzte ihr Auge auf, und mit der höchsten Geringschätzung in Miene und Ton sagte sie:
»Ah, Sie denken, daß zwei Damen zu schwach sind, sich zu verteidigen? Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen. Johann, halte an!«
Der Kutscher gehorchte. Der Wagen hielt an der Stelle, wo sich der Schutzmann befand, doch konnte der Leutnant, da er mit dem Rücken vorwärts saß, den Polizisten nicht sehen. Er lehnte sich nachlässig in den Sitz zurück und beschloß, va banque zu spielen. Wenn das Mädchen die Equipage zehnmal halten ließ, er wollte dennoch auf seinem Posten bleiben.
»Schutzmann, bitte, treten Sie einmal etwas näher!« rief Rosa.
Da drehte sich der Leutnant schnell um; und als er den Näherkommenden sah, erriet er die Absicht des Mädchens und konnte die Röte der Verlegenheit nicht verbergen, die sich über sein erschrockenes Gesicht breitete. Er öffnete bereits den Mund, um durch irgendeine geistesgegenwärtige Bemerkung der Gefahr die Spitze zu nehmen, aber Rosa kam ihm zuvor.
»Schutzmann«, sagte sie, »dieser Mensch hat uns im Wagen überfallen und ist nicht wieder hinwegzubringen. Helfen Sie uns!«
Der Polizist warf einen erstaunten Blick auf den Offizier. Dieser erkannte, daß er sich nur durch einen schleunigen Rückzug vor unangenehmen Weiterungen bewahren könne. Er stieg schnell aus und sagte nur:
»Die Dame scherzt nur, aber ich werde dafür sorgen, daß sie ernster wird.«
Damit schritt er drohenden Blickes davon.
»So sind wir befreit. Ich danke Ihnen!«
Mit diesen an den Schutzmann gerichteten Worten winkte sie dem Kutscher, die unterbrochene Fahrt fortzusetzen, und der Polizist blieb allein zurück, ohne sich den Vorgang ganz erklären zu können.
2. Kapitel
Der Leutnant fühlte sich gedemütigt wie noch nie in seinem Leben. Er knirschte vor Wut Dieser Backfisch sollte ihm diese Abfertigung entgelten! Da erblickte er eine leere Droschke, die ihm entgegenkam. Er wandte sich sofort wieder um, ließ sie herankommen, stieg ein und befahl dem Rosselenker, der Equipage zu folgen, die in der Feme noch zu erkennen war. Er wollte um jeden Preis erfahren, wo die Damen wohnten.
Die Fahrt ging durch einen großen Teil des Tiergartens und dann in die Stadt zurück. Die Equipage hielt in einer der belebtesten Straßen vor einem palastähnlichen Gebäude. Die Damen stiegen aus, empfangen von einem livrierten Lakaien, und die Equipage fuhr in den Torweg ein. Ravenow hatte genug gesehen. Er bemerkte vis-à-vis dem Haus eine Restauration, wo er seine Erkundigungen einzuziehen beschloß.
Nun ließ er sich nach seiner Wohnung fahren, legte da seine Uniform ab und einen einfachen Zivilanzug an und suchte das Schenklokal auf, sicher, daß man ihn von dem gegenüberliegenden Haus aus nicht erkennen werde.
Der Weinrausch war ihm schnell genug vergangen, so daß er es recht gut wagen konnte, einige Glas Bier zu trinken, um zu erfahren, was er gern wissen wollte. Leider aber befand sich der Wirt ganz allein in dem Lokal, und dieser schien ein mürrischer, verschlossener und wortkarger Mann zu sein, so daß Ravenow es vorzog, auf eine bessere Gelegenheit zu warten.
Seine Geduld sollte auf eine nicht zu lange Probe gestellt werden, denn er sah einen Mann drüben aus dem Haus treten, der über die Straße herüber und in das Schenklokal kam. Derselbe bestellte sich ein Glas Bier, nahm ein Zeitungsblatt, legte es aber bald wieder weg und blickte sich im Zimmer um, als suche er eine bessere Unterhaltung als diejenige, die ihm die Zeitung bieten konnte.
Diese Gelegenheit ergriff der Leutnant Er vermutete aus der ganzen Haltung des Mannes, daß derselbe Soldat gewesen sei, und beschloß, ihn als Kameraden zu behandeln. So begann er also ein Gespräch mit ihm, und es dauerte nicht lange, so saßen die beiden beisammen und sprachen von Krieg und Frieden und allem, was auf der Bierbank Gesprächsthema zu sein pflegt
»Hören Sie«, meinte endlich der Leutnant, »nach dem, wie Sie sich ausdrücken, scheinen Sie beim Militär gewesen zu sein.« —
»Das will ich meinen, ich war Unteroffizier«, lautete die Antwort. – »Ah, ich bin auch Unteroffizier!« – »Sie?« fragte der andere, indem er die zarten Hände und die ganze Gestalt seines Gegenübers erst jetzt sorgfältig musterte. »Hm! Warum tragen Sie keine Uniform?« – »Ich bin beurlaubt.« – »So! Hm! Und was sind Sie denn sonst?«
Man hörte dem Ton seiner Stimme an, daß er nicht so recht an den Unteroffizier glaubte. Ravenow trug zwar Zivil, aber der Offizier war ihm dennoch auf tausend Schritt anzusehen.
»Kaufmann«, antwortete er. »Wie heißen Sie?« – »Mein Name ist Ludwig, nämlich Ludwig Straubenberger dahier.« – »Wohnen Sie in Berlin?« – »Das versteht sich. Ich wohne da drüben im Palais des Herzogs von Olsunna.« – »Ah, dieses Palais gehört einem Herzog?« – »Ja, einem spanischen, er hat es erst vor kurzer Zeit gekauft.« – »Hat er viel Dienerschaft?« – »Hm, nicht sehr übermäßig.« – »Heißt vielleicht einer seiner Beamten Sternau?«
Ludwig, der alte Jägerbursche, wurde aufmerksam. Er war ein einfacher Naturmensch, aber mit dem Scharfsinn dieser Art von Leuten erriet er sofort, daß er ausgehorcht werden solle. Die vergangenen Ereignisse, die mit dem Namen Sternau zusammenhingen, waren derart, daß man vorsichtig sein mußte. Dieser Mann, der sich für einen Unteroffizier ausgab, schien mehr zu sein, und da Ludwig bereits von dem Kutscher erfahren hatte, was im Tiergarten geschehen war, so nahm er sich vor, sich nicht überlisten zu lassen.
»Sternau?« sagte er. »Ja.« – »Was ist der Mann?« – »Kutscher.« – »Alle Teufel, Kutscher. Hat er eine Frau und eine Tochter?« – »Das versteht sich dahier.« – »Sind es die beiden Frauen, die vorhin im Tiergarten spazierenfuhren?« – »Ja.« – »Aber die sahen doch wahrhaftig nicht wie die Frau und die Tochter eines Kutschers aus.« – »Warum nicht? Der Herzog bezahlt seine Leute so gut, daß ihre Weiber und Töchter schon Parade machen können. Übrigens sind sie nicht, was man so nennt, spazierengefahren dahier. Der Sternau sollte die neuen Trakehner einfahren, und da es egal ist, ob der Wagen leer geht oder nicht, so hat er eben seine beiden Weibsen mitgenommen.« – »Donnerwetter! Ja, grob wie Fuhrmannsweiber waren sie!« entfuhr es dem Leutnant. – »Ah, grob sind sie gewesen? Haben Sie das gehört dahier?«
Bei dieser Frage blickte Ludwig den Leutnant mit einem unendlich pfiffigen Ausdruck in das Gesicht. Dieser sah ein, daß er eine große Unvorsichtigkeit begangen habe, und versuchte einzulenken:
»Ja, etwas habe ich gehört. Ich war im Tiergarten. Gerade vor mir hielt eine Kutsche, ein Offizier mußte aussteigen und wurde von den beiden Frauen auf das maliziöseste beschämt« – »So! Hm! Und woher wissen Sie, daß diese Frauen Sternau heißen, he?« – »Sie nannten dem Schutzmann, der dabeistand, ihren Namen.« – »Und wie kommen Sie nun sogleich hierher und fragen mich nach ihnen?« – »Der reine Zufall!« – »Zufall, schön! Da nehmen Sie sich ja in acht daß hier diese meine Hand nicht vielleicht an Ihre Backen klatscht natürlich auch bloß aus reinem Zufall!« – »Oho, was soll das heißen?« – »Das soll heißen, daß sich der Ludwig Straubenberger nicht für einen Narren halten läßt. Sie hätten mir ganz das Aussehen eines Unteroffiziers dahier! Sie sind jedenfalls der Leutnant selber, der Luftikus, dem die ›Fuhrmannsweiber‹ so hübsch heimgeleuchtet haben. Nun kommen Sie hierher, um zu spionieren und die Gelegenheit weiter zu verfolgen. Aber davon lassen Sie ab, denn Sie tragen doch weiter nichts davon, als einen tüchtigen Buckel voll Prügel dahier. In Beziehung auf Keile bin ich gleich bei der Hand, das merken Sie sich! Jetzt gehe ich fort, in fünf Minuten komme ich wieder, ich bringe den Kutscher mit und noch einige andere, die sich gern ein Gaudium machen. Werden Sie von dem Kutscher erkannt so gerben wir Ihnen Ihr Leutnantsleder, bis es Löcher kriegt Damit Punktum und adieu dahier!«
Nach dieser kräftigen Rede erhob sich der biedere Straubenberger, bezahlte sein Bier und ging. Er war kaum drüben im Torweg verschwunden, so verließ auch Ravenow das Lokal. Er hatte nicht die mindeste Lust, sich mit dieser Art von Leuten in einen Faustkampf einzulassen, und fluchte ingrimmig in sich hinein, daß sich heute alles gegen ihn verschworen zu haben schien. Daß Ludwig ihn bezüglich der beiden Frauen ganz und gar falsch berichtet hatte, ahnte er nicht.
Mittlerweile war die Zeit gekommen, in der die unverheirateten Offiziere sich im Kasino zu versammeln pflegten, um zu dinieren. Ravenow stellte sich auch ein. Unter den Anwesenden war bereits von seiner Wette gesprochen worden, und so wurde er mit hundert Fragen begrüßt Er suchte die Beantwortung derselben zu umgehen, als man ihm aber keine Ruhe ließ und ihn aufforderte, sein Abenteuer zu erzählen, meinte er:
»Was soll ich weiter darüber sagen? Ich habe zwar volle fünf Tage Zeit, aber die Wette ist bereits gewonnen.« – »Beweise es, so bezahle ich sie bereits heute!« erklärte Golzen, der auch mit zugegen war. – »Beweisen?« lachte Ravenow zynisch. »Was gibt es hier zu beweisen? Man wird mir doch wohl zutrauen, die Tochter eines Kutschers zu besiegen.« – »Eines Kutschers?« fragte Golzen erstaunt. »Unmöglich!« – »Pah! Ihr Vater heißt Sternau und ist der Kutscher des Herzogs von Olsunna.« – »Das kann ich nicht glauben. Diese Dame kann unmöglich die Tochter eines Kutschers sein.« – »So gehe und überzeuge dich.« – »Das werde ich allerdings tun. Eine solche Schönheit ist es wert, daß man sich nach ihr erkundigt. Übrigens hast du Beweise zu bringen, daß du bei ihre reüssiert hast. Ich werde den Fuchs natürlich nicht ohne Beweise von mir geben.« – »Pah, so schenke ich ihn dir! Man kann nicht von mir verlangen, daß ich mich mit einem Kutschermädchen öffentlich zeige, nur um zu beweisen, daß sie mich mit ihrer hohen Zuneigung beglückt.« – »Es handelt sich um eine Wette, also um einen Gewinn oder Verlust, nicht aber um ein Geschenk. Ich muß dich wirklich bitten, den Beweis zu liefern, in welcher Weise du das tust, ist lediglich deine Sache. Eine bloße Versicherung kann keine Wette endgültig entscheiden. Was meinen Sie, Kapitän? Sie sind hier fremd und also über den Parteien.«
Diese Frage war an einen langen, hageren Mann gerichtet, der mit am Tisch saß. Er trug zwar Zivil, war aber als Kapitän Parkert von der US-Marine in die Räume des Kasinos eingeführt worden. Er mochte bereits über sechzig zählen, hatte ein echtes Yankeegesicht und ließ verlauten, daß er vom Kongreß gesandt sei, um Einsicht in die Marineverhältnisse Deutschlands zu nehmen. Er war dem Gespräch erst mit Gleichgültigkeit gefolgt, hatte aber gelauscht, als er die Namen Olsunna und Sternau hörte. Eben wollte er antworten, als sich die Tür öffnete und ein Oberleutnant der Gardehusaren eintrat, der das Abzeichen des Adjutanten trug. Er hatte ein etwas echauffiertes Aussehen und warf seine Kopfbedeckung mit einer Miene auf den Stuhl, die deutlich zeigte, daß er sich in einer höchst verdrießlichen Stimmung befinde.
»Holla, Branden, was ist‘s?« fragte einer der Anwesenden. »Hat es etwa beim Alten eine Nase gegeben?« – »Das und noch anderes«, antwortete der Mann mit einem Fluch. – »Alle Teufel, also doch eine Nase! Weshalb?« – »Das Regiment reitet zu kurz, hat überhaupt keine schneidigen Offiziere mehr, so meinte der Oberst. Ich soll das den Herren privatim mitteilen, damit es ihnen nicht später öffentlich vor der Front gesagt werden muß.«
Damit warf er sich auf seinen Sitz, ergriff das erste beste Weinglas und stürzte es hinab.
»Keine schneidigen Offiziere mehr! Hölle und Teufel! Darf man uns so kommen! Das lassen wir nicht auf uns sitzen!«
So und ähnlich rief es rund im Kreis. Man fühlte sich allgemein empört über die private Nase, die nächstens vor der Front verlängert werden sollte. Der Adjutant nickte, stieß abermals einen Fluch aus und fügte hinzu:
»Wenn man da oben eine solche Meinung von uns hat, so ist es nicht zu verwundern, daß das Gardeoffizierskorps jetzt aus den obskursten Elementen recroutiert wird. Ich habe einen neuen Kameraden anzumelden.« – »Ah! Für die Gardehusaren? An des verstorbenen von Wiersbicky Stelle? Wer ist es?« – »Ein hessendarmstädtischer Linienleutnant« – »Alle Teufel! Einer von der Linie unter die Husaren! Und die Gardekavallerie?« – »Zweiundzwanzig Jahre alt« – »Unmöglich! Noch dazu aus Hessen! Der Henker hole die neuen Verhältnisse!« – »Und den Namen müßt ihr hören, den Namen!« – »Wie heißt er?« – »Helmers.« – »Helmers?« fragte Ravenow. »Kenne keine Familie Helmers, auf Ehre, von Helmers, hm, kenne wahrhaftig keine!« —»Ja, wenn es noch ein ›von Helmers‹ wäre«, meinte der Adjutant erbost. »Der Kerl heißt eben einfach Helmers.«
Da fuhren alle von ihren Sitzen empor.
»Ein Bürgerlicher? Nicht von Adel?« fragte es durcheinander.
Der Adjutant nickte.
»Ja, es scheint weit zu kommen mit der Gardekavallerie«, sagte er. »Wenn mir der Grimm in den Kopf steigt, so fordere ich meinen Abschied. Ich dachte, mich rührte der schönste Nervenschlag, als ich das Nationale dieses neuen sogenannten Kameraden einzutragen hatte. Der Kerl heißt Helmers, ist zweiundzwanzig Jahre alt, diente in der Darmstädter Linie und hat einen Vater, der Pächter eines kleinen Vorwerks bei Mainz ist und nebenbei auf irgendeinem alten Kahn als Steuermann funktioniert. Vermögen gibt es ganz und gar nicht, aber eine Protektion seitens des Großherzogs von Hessen scheint vorhanden zu sein. Der Major flucht über diesen Streich, den man uns spielt, der Oberst flucht, der General flucht, alle Exzellenzen fluchen, aber alles Fluchen hilft nichts, denn der neue Leutnant ist uns von hoher Seite her beschert worden. Man muß ihn nehmen und dulden.« – »Nehmen, aber keineswegs dulden!« rief Graf Ravenow. »Wenigstens was mich betrifft, so dulde ich keinen Bauern– oder Schifferjungen neben mir. Der Kerl muß aus dem Regiment hinausignoriert werden.« – »Allerdings, hinausignoriert, das sind wir einander schuldig«, stimmte ein anderer bei, und alle gaben ihm recht.
Man glaubt nicht, wie exklusiv der Korpsgeist bei der Kavallerie ist und bei der Gardekavallerie noch viel mehr. Dort hält ein jeder Offizier sich als zur Elite gehörig. Man unterscheidet sogar zwischen einem Ahnen mehr oder weniger, und darum war es leicht erklärlich, daß der Eintritt von Kurt Helmers eine ebenso tiefe wie allgemeine Entrüstung hervorrief. Man einigte sich wirklich zu dem festen, ausgesprochenen Entschluß, ihn aus dem Regiment hinaus zu maßregeln.
Dabei blieb es, ohne daß man beachtete, mit welchem Interesse der amerikanische Kapitän dem Lauf der Unterhaltung folgte. Zwar gab er sich Mühe, die außerordentliche Teilnahme, die er hegte, zu verbergen, aber trotz seines verschleierten Auges hätte man doch die Blitze bemerken können, die es zuweilen unter den dichten, buschigen Lidern hervorschoß.
»Und wann wird man diesen Phönix von einem Gardehusarenleutnant zu sehen bekommen?« fragte einer der Herren. – »Bereits heute«, antwortete der Adjutant. »Er hat heute seine Antrittsvisite zu machen, wird sich im Lauf des Nachmittags beim Obersten vorstellen, und dann werde ich wohl die Ehre haben, ihn des Abends hier den Kameraden zu präsentieren.« – »So erscheinen wir heute nicht«, meinte Ravenow. – »Warum nicht, lieber Ravenow? Es würde dies zu nichts führen, denn die Stunde kommt doch, in der wir gezwungen sind, Stellung gegen ihn zu nehmen. Besser ist es auf jeden Fall, wir versammeln uns hier vollzählig und zeigen ihm sofort offen, was er von uns zu erwarten hat.«
Dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen, und so zog sich gegen den jungen Ankömmling ein Gewitter herauf, von dem er keine Ahnung hatte.
3. Kapitel
Kurt befand sich in Berlin. Der Herzog von Olsunna hatte Gründe gefunden, seine Einsamkeit auf Schloß Rheinswalden zuweilen zu unterbrechen, und sich darum in Berlin das Palais gekauft, um einige Wochen hier zuzubringen. Er befand sich seit einer Woche zum ersten Male in der Residenz, begleitet von seiner Gemahlin, der früheren Frau Sternau. Gestern war Otto von Rodenstein mit seiner Frau, der Tochter des Herzogs, angekommen, und beide hatten Röschen mitgebracht! Erst heute morgen war es Kurt Helmers möglich gewesen, von Darmstadt nach Berlin zu kommen. Er war kurz vorher im Palais abgestiegen, ehe die Herzogin mit Röschen von ihrer Spazierfahrt zurückgekehrt war.
Wir werden baldigst erfahren, wie sich das Leben der so befreundeten Familien in Rheinswalden gebildet hatte, und müssen nur erwähnen, daß Kurt sehr oft zu militärischen Reisen attachiert worden war und seit einigen Jahren Röschen gar nicht gesehen hatte. Er war erst seit einigen Tagen aus der Türkei zurückgekehrt und hatte, von dienstlichen Pflichten zurückgehalten, noch nicht einmal Zeit gefunden, nach Rheinswalden zu kommen. Und als er dann die Mutter und seinen alten Hauptmann von Rodenstein besuchte, hörte er, daß Röschen bereits nach Berlin abgereist sei.
Jetzt stand er in seinem Zimmer im Palais des Herzogs und legte die Paradeuniform an, um seine dienstlichen Besuche zu beginnen. Der Husarenanzug stand ihm ausgezeichnet Aus dem vielversprechenden Knaben war ein prächtiger junger Mann geworden. Zwar besaß seine Gestalt keine allzu große Ausdehnung in die Länge oder Breite, aber man sah es den kraftvollen Formen an, daß seine Muskeln und Nerven sich in einer ungewöhnlichen Schulung befunden hatten. Von dem tiefgebräunten unteren Teil seines Gesichtes stach die hohe, breite, elfenbeinweiße Stirn in eigentümlicher, aber keineswegs unschöner Weise ab, und wenn seine Oberlippe auch erst nur den Anflug eines Bärtchens zeigte, so lag über seinen Zügen doch ein hoher, männlicher Ernst ausgebreitet der ganz geeignet war, vor dem jugendlichen Offizier Respekt einzuflößen. Wer in seine offenen, intelligenten Augen blickte, kam sicherlich zu der Überzeugung, daß er keinen gewöhnlichen Durchschnittsmenschen, sondern einen Jüngling vor sich habe, der alle Eigenschaften besaß, als Mann Ungewöhnliches zu leisten.
Da rollte die Equipage vor das Tor. Kurt trat an das Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen, aber er konnte nur noch den Schatten der im Eingang verschwindenden Damen erkennen.
»Röschen«, sagte er, indem ein glückliches Lächeln sich über seine Züge breitete. »Ah, wie lange habe ich sie nicht gesehen! Eine ganze Ewigkeit! Sie steht in dem Alter, in dem man sich in Wochen mehr verändert als in Jahren. Wie werde ich sie sehen? Ich muß doch sogleich hinab!«
Er stieg die Treppe hinab in den Salon, in dem sich der Herzog befand, um die beiden Damen bei ihrer Rückkehr zu empfangen. Hier im freien Raum des Zimmers, wo Röschens Erscheinung noch viel mehr zur Geltung kommen konnte als im engen Wagen, machte sie allerdings noch einen ganz anderen Eindruck. Sternau, ihr Vater, war ja eine hohe, mächtige, männlich schöne Gestalt gewesen, und Rosa de Rodriganda, ihre Mutter, hatte sich in Beziehung auf Reiz und Schönheit getrost mit jeder anderen messen können. So war es also zu erwarten gewesen, daß die Tochter dieser beiden die vorzüglichen Eigenschaften ihrer Eltern in sich vereinigen werde. Und wirklich war die nordischblonde Erscheinung Sternaus und die südlich-dunkle Persönlichkeit Rosas in Röschen zu einer Gestaltung zusammengeflossen, deren fast wunderbarer Zauber jedes Herz gefangennehmen mußte, Sie war das verkörperte Bild einer Juno, einer Hebe und einer Kleopatra zu gleicher Zeit.
Kurt blieb entzückt am Eingang stehen. Zwar hatte er gedacht, daß sie sich sehr zu ihrem Vorteil entwickeln werde, aber jetzt war es ihm, als sei dieses Wesen von einer Strahlenkrone umleuchtet, von deren Glanz sein Auge geblendet wurde. Sie hatte sich nach ihm umgedreht und ihn sofort erkannt.
»Das ist ja Kurt, unser guter Kurt!« rief sie, indem sie auf ihn zueilte und ihm beide Hände zur Begrüßung entgegenstreckte.
Er versuchte den gewaltigen Eindruck, unter dem sein Herz jetzt erbebte, zu bemeistern, verbeugte sich tief vor ihr, nahm eines ihrer kleinen Händchen und führte es leise an die Lippen. Zu sprechen vermochte er in diesem Moment noch kein Wort. Das Zittern seiner Stimme hätte ihn verraten.
Sie blickte erstaunt auf ihn, zog die feingezeichneten Brauen ein wenig in die Höhe und sagte:
»So fremd und förmlich! Kennt der Herr Leutnant mich nicht mehr?« – »Sie nicht mehr kennen?« fragte er, indem er sich mächtig zusammennahm. »Eher würde ich mich selbst nicht mehr kennen, Hoheit.« – »Hoheit!« rief sie, dann schlug sie die Händchen zusammen und stieß jenes goldene Lachen aus, das man nur aus ihrem Mund so rein, so entzückend zu hören vermochte. »Ah, Sie erinnern sich wohl plötzlich des Umstandes, daß Mama eine Gräfin de Rodriganda war?« – »Allerdings«, antwortete er, ziemlich verlegen. – »Und daß Papa Sternau jedenfalls der Sohn des Herzogs von Olsunna ist?« – »Auch das, Prinzeß!« – »Oh, nun gar Prinzeß?« lachte sie. »Kurt, warum haben Sie früher nicht an diese Verhältnisse gedacht? Ich bin Röschen gewesen, und Sie waren Kurt, so war es, und so bleibt es hoffentlich! Oder ist der Herr Leutnant stolz geworden, seit man ihn zu den Gardehusaren versetzt hat, wie ich höre?«
Erst jetzt betrachtete sie ihn genauer. Das schelmische Lächeln, das bisher zwei allerliebste Grübchen in ihre Wangen gegraben hatte, verschwand und machte einer feinen Röte Platz. Diese war die unmittelbare Folge des unwillkürlichen Gedankens, daß dieser kleine Kurt doch eine ausgezeichnete Erscheinung geworden sei.
Jetzt hatte er seine Aufwallung bemeistert. Mit einem treuen, leuchtenden Blick ergriff er ihre Hände, und in seinen Augen glänzte es feucht, als er im Ton des Glückes sagte:
»Ich danke Ihnen, Röschen! Ich bin noch ganz der Alte, voller Bereitwilligkeit, für Sie durch tausend Feuer zu gehen oder mich um Ihretwillen mit einer ganzen Armee von Feinden zu schlagen.« – »Ja, so waren Sie stets als Knabe; Sie haben sich immer für das mutwillige, undankbare Röschen aufgeopfert. Jetzt aber bin ich hoffentlich verständiger und weniger anspruchsvoll geworden. Ich werde Sie wohl nicht durchs Feuer jagen und auch nicht einer ganzen Armee von Feinden gegenüberstellen, obgleich ich wohl gerade heute Veranlassung hätte, Ihnen als meinem treuen Ritter das Schwert in die Hand zu drücken.« —»Ah, ist‘s möglich, Röschen? Hat man Sie beleidigt?« fragte er mit blitzenden Augen. – »Ein wenig«, antwortete sie.
Jetzt griff auch der Herzog in das Gespräch ein, indem er sich rasch erkundigte:
»Beleidigt bist du worden? Von wem, mein Kind?« – »Von einem Leutnant von Ravenow. Er steht bei den Gardehusaren, gerade wie unser Kurt. Ich habe diese infame Attacke übrigens sehr siegreich zurückgeschlagen, wie ich glaube; nicht wahr, Großmama?«
»Ja, allerdings«, antwortete die frühere Frau Sternau und jetzige Herzogin von Olsunna. »Ich habe wirklich kaum geglaubt, daß dieses liebe Kind gleich bei seinem ersten Schritt in die Welt eine solche Schlagfertigkeit entwickelt.«
»Ich bin höchst wißbegierig«, meinte der Herzog. »Erzählt doch bitte einmal!«
Man nahm Platz, und nun berichtete die Herzogin den Hergang der Sache. Olsunna bewahrte seine Ruhe, aber Kurt rückte erregt auf seinem Sessel hin und her. Als die Berichterstatterin geendet hatte, rief er aufspringend:
»Bei Gott, das ist stark! Dieser Mensch muß vor meine Klinge!«
Der Herzog wehrte mit einer Handbewegung ab und sagte ernst: »Das nicht, lieber Kurt! Du würdest dir gleich bei deinem Eintritt in das Offizierskorps die Kameraden zu Feinden machen. Ich selbst werde diese Angelegenheit in die Hand nehmen und mir Genugtuung verschaffen.« – »Genugtuung? Sie werden sie nicht erhalten. Dieser Ravenow wird sich erfolgreich damit entschuldigen, daß er die Damen nicht gekannt hat.« – »Das ist möglich. Er konnte sie allerdings für gewöhnliche Frauen halten, da ich es unterließ, an meinem Wagen ein Wappen anzubringen. Doch ist es dann immer noch Zeit, mit der Waffe einzutreten. Ich bin außer Übung gekommen, aber ich werde, will‘s Gott, doch noch so viel Gewandtheit besitzen, um diesen Leutnant selbst bestrafen zu können.« – »Das werde ich auf keinen Fall zugeben, Hoheit«, meinte Kurt. »Sie waren lange krank, und wenn Sie sich auch während der letzten Jahre wieder erholt haben, so gehört eine solche Angelegenheit doch in jüngere Hände. Und was die Kameraden betrifft, so bin ich bereits gewarnt worden, daß man bei meinem Eintritt wahrscheinlich Front gegen mich machen werde. Es herrscht bei der Garde ja bekanntlich der Modus, bürgerliche Offiziere totzuschweigen oder lahm zu malträtieren. Eine Forderung gegen diesen Ravenow wird mir also nicht mehr Feinde erwecken, als ich außerdem auch bereits finden würde.« – »Darüber läßt sich später sprechen«, meinte der Herzog begütigend. »Deine letzten Worte aber erinnern mich daran, daß die Stunde fast da ist, in der du beim Kriegsminister zu erscheinen hast. Du bist bei ihm gut akkreditiert, hast dich ja durch deine bisherigen Leistungen selbst bestens empfohlen und wirst also einen freundlichen Empfang finden. Ich wünsche, daß dies bei deiner heutigen Tournee überall der Fall sein mag.«
Damit war die Angelegenheit einstweilen erledigt, und Kurt verabschiedete sich, um die vorgeschriebenen Besuche bei seinen Vorgesetzten zu machen. Im stillen gelobte er sich aber, keinem der Offiziere die leiseste Trübung seiner Ehre zu gestatten und insbesondere diesem Ravenow bei erster, bester Gelegenheit auf die Finger zu klopfen.
Es wurde nun für ihn ein hübsches, einspänniges Kabriolett bereitgehalten, das er bestieg, um die anstrengende Arbeit des sich Vorstellens schnell zu vollenden. Kurt fuhr zunächst zum Kriegsminister, denn er hatte den Befehl erhalten, sich bei demselben vorzustellen, was sonst bei jungen Offizieren, die nur an ihren Regimentskommandeur gewiesen sind, nicht der Fall ist. Dieser Umstand bewies ihm, daß man Gründe habe, mit ihm eine für ihn höchst ehrenvolle Ausnahme zu machen. Und eine ganz außerordentliche Bevorzugung war es, daß er nicht zu warten brauchte, sondern sogleich vorgelassen wurde, obgleich im Vorzimmer zahlreiche Personen auf Audienz warteten und es neidisch bemerkten, daß dieser junge Mann den Vortritt erhielt.
Der Minister empfing ihn freundlich, überflog seine Erscheinung mit einem befriedigten Lächeln und sagte:
»Sie sind noch jung, Herr Leutnant, außerordentlich jung, aber Sie wurden mir empfohlen, und ich bin geneigt, diese Empfehlung zu berücksichtigen. Sie haben trotz Ihrer Jugend die militärischen Institutionen mehrerer Teile des Auslandes eingehend studiert und kennengelernt, ich habe Ihre bezüglichen Arbeiten gelesen und kann meinen Beifall nicht versagen. Ich meine, daß Ihr Talent zu guten Hoffnungen berechtigt, und so habe ich den Entschluß gefaßt, Sie im großen Generalstab zu beschäftigen, sobald Sie unser Gardekorps kennengelernt haben. Ich verhehle Ihnen nicht, daß Sie auf Schwierigkeiten stoßen werden, die sich auf die Tradition dieses Korps stützen mögen, ich ersuche Sie, diese Schwierigkeiten so weit zu ignorieren, als es Ihre Offiziersehre möglich macht. Man wird Ihnen kalt und zurückweisend begegnen, und darum habe ich einige Zeilen verfaßt, die Sie Ihrem Obersten überreichen sollen. Es ist das eine Ausnahme, die den Zweck hat, Ihnen die ersten Schritte zu erleichtern. Gehen Sie mit Gott und lassen Sie mich recht bald erfahren, daß Sie in Ihrem neuen Kreis an Ihrer Stelle sind, obgleich Sie nicht das Glück haben, den exklusiven Kreisen unseres Adels anzugehören.«
Er gab Kurt ein versiegeltes und an den Obersten adressiertes Kuvert und machte mit wohlwollender Miene das Zeichen der Entlassung, nachdem er ihn aufmerksam gemacht hatte, sich zunächst auch dem Divisions– und dann dem Brigadekommandeur vorzustellen.
Dieser Anfang war sehr ermutigend, leider aber zeigte sich die Fortsetzung als viel weniger erfreulich. Der Divisionsgeneral ließ sagen, daß er nicht zu Hause sei, trotzdem Kurt ihn am Fenster bemerkt hatte, und der Brigadier empfing ihn zwar, aber mit einem sehr finsteren Gesicht.
»Sie heißen Helmers?« fragte er. – »Zu Befehl, Exzellenz.« – »Weiter nichts? Sie haben kein ›Von‹ vor Ihrem Namen?« – »Nein«, antwortete Kurt ruhig. – »So kann ich nicht begreifen, wie man Sie zur Garde versetzen kann!«
Das war eine direkte, rücksichtslose Malice, und darum antwortete Kurt:
»Vielleicht begreift es Seine Exzellenz der Herr Kriegsminister. Ich kenne übrigens kein adliges Geschlecht, dessen Ahne ein ›Von‹ vor dem Namen gehabt hätte. Sollte die jetzige Generation der Geschlechter wirklich höher zu achten sein als der bürgerlich Geborene, so bin ich wenigstens dem Ahnen vollständig ebenbürtig, und das genügt mir.«
Eine solche Zurechtweisung war dem Reitergeneral noch nie geworden. Er kniff die Augen zusammen und versetzte mit scharfer Stimme:
»Wie? Was? Antworten wollen Sie? Ah, das muß man sich merken! Sie sind entlassen. Gehen Sie!«
Kurt salutierte und ging. Sein Weg führte ihn zum Obersten. Hier mußte er fast eine Stunde lang antichambrieren, obgleich sich kein Mensch im Vorzimmer befand. Endlich wurde er eingelassen. Der Oberst saß am Pult und drehte ihm in nachlässiger Weise den Rücken zu. An einem Seitentisch schrieb Branden, der Adjutant. Dieser letztere warf einen einzigen kalten Blick auf den Eintretenden und schrieb dann weiter.
Es vergingen einige Minuten, ohne daß es schien, als ob Kurts Eintritt bemerkt worden sei. Da hustete er laut und vernehmlich, vielleicht auch ein wenig maliziös, und nun drehte sich der Oberst langsam um.
»Wer hustet da? Ah, es ist jemand hier! Wer sind Sie?« – »Leutnant Helmers, zu Ihrem Befehl, Herr Oberst.«
Da erhob sich der Regimentskommandeur, setzte das Monokel ein und betrachtete den Leutnant mit eisigem Blick. Als er an dem Äußeren desselben nicht das geringste auszusetzen fand, meinte er:
»Also eingetroffen! Melden Sie Ihre Wohnung auf der Adjutantur. Ich muß Ihnen sagen, daß man bei der Garde anspruchsvoll ist. Kennen Sie die Herren Offiziere bereits?« – »Nein.« – »Hm! Werden Sie im Kasino speisen?« – »Ich wohne und esse bei Bekannten.« – »Ah so! Hm! Da weiß ich nun allerdings nicht, wie man Sie mit den Herren bekannt machen soll!«
Kurt verstand, was man meinte, doch antwortete er in höflichem Ton:
»Ich glaube es ist Brauch, daß stets die Herren Adjutanten es übernehmen, die Bekanntmachung der Kameraden untereinander zu vermitteln. Ich weiß nicht, ob ich annehmen muß, daß bei der Garde ein anderer Modus gebräuchlich ist.«
Der Oberst räusperte sich sehr vernehmlich und antwortete:
»Sie können doch nicht verlangen, daß man beim Gardekorps, welches die Elite des Adels in sich vereinigt, eine so – gelinde gesagt – bürgerliche Gepflogenheit akzeptiert – einem der infolge seiner Geburt außerhalb dieses Kreises steht, ist es nicht leicht in denselben einzudringen. Ein vernünftiger Gärtner wird niemals der gemeinen Kartoffel einen Platz anweisen neben der vornehmen Kamelie oder Rose…« – »Und doch bringt diese ›gemeine‹ Kartoffel vielen Millionen Heil und Segen, während Rose und Kamelie nur für das Auge oder die – Nase sind«, fiel Kurt schnell ein. »Ich bin überzeugt, daß selbst die vom Herrn Oberst erwähnte Elite des Adels eine geschmorte Rose oder Kamelie für ein Unding hält, während die so ordinäre Kartoffel längst den vornehmen Kreis, von dem ich soeben hörte, siegreich gesprengt hat.«
Der Oberst kniff das Monokel fester ein, warf einen höchst erstaunten Blick auf den Sprecher und sagte in scharfem Ton:
»Herr Leutnant, ich bin nicht gewöhnt, mich unterbrechen zu lassen; merken Sie sich das gefälligst!« Und sich zum Adjutanten wendend, fragte er: »Mein lieber Branden, werden Sie dieser Tage das Kasino besuchen?« – »Ich bezweifle es«, antwortete dieser kühl und ohne von seiner Schreiberei aufzublicken. Und mit noch größerer Kälte meinte nun der Oberst zu Kurt: »Sie hören es, Leutnant. Es wird Ihrem eigenen Ermessen anheimgestellt bleiben, sich auf irgendeine Weise den Herren Offizieren zu nähern.«
Kurt nickte sehr gleichgültig und sagte:
»Ich sehe mich gezwungen, den einzigen Weg zu gehen, den man mir offengelassen hat. Aber ebenso, wie der Herr Oberst gewöhnt ist, sich nicht unterbrechen zu lassen, was ich mir merken soll, so habe ich auch meine Gewohnheiten, und zu diesen gehört, daß ich meinen Weg gehe, ohne mich hindern oder gar aufhalten zu lassen, was man sich gefälligst auch merken möge! Darf ich fragen, wann ich mich zur Verfügung zu stellen habe?«
Bei dieser kühnen Entgegnung hatte sich der Adjutant langsam erhoben; er maß den Sprecher mit einem Blick, in welchem das feindseligste Erstaunen zu lesen war. Das Gesicht des Obersten zeigte sich vom Zorn tief gerötet, doch beherrschte er sich und sagte in gebieterischem Ton:
»Was kümmern uns Ihre Gewohnheiten! Melden Sie sich morgen Punkt neun Uhr vor der Front zum Dienst. Jetzt sind Sie entlassen!«
Da zog Kurt das Schreiben hervor, überreichte es mit einer dienstlichen Abschiedsbewegung und sagte:
»Zu Befehl, Herr Oberst! Zuvor aber diese Zeilen, die ich von Seiner Exzellenz den Befehl habe, zu überreichen.«
Er drehte sich um und verließ sporenklirrend das Zimmer. Der Oberst hielt das Kuvert in der Hand, doch sein Auge ruhte auf dem Adjutanten.
»Ein renitenter Kerl«, meinte er zornig. – »Man wird ihm seine Kartoffeln unter die Nase reiben«, antwortete dieser. – »Ich kann nicht begreifen, daß die Exzellenz ihm eine dienstliche Zufertigung anvertraut! Oder sollte der Inhalt privater Natur sein? Will sehen!«
Er öffnete und las:
»Herr Oberst!
Überbringer ist von kompetenter Seite warm empfohlen. Ich erwarte, daß dies von seinen Kameraden ebenso berücksichtigt werde, wie ich bereit bin, nach Prüfung seiner Fähigkeiten dieselben anzuerkennen. Ich wünsche nicht, daß seine bürgerliche Abstammung ihn um das freundliche Willkommen bringe, das er erwarten wird.«
Der Oberst stand, als er dies gelesen hatte, mit geöffnetem Mund da.
»Alle Teufel!« rief er. »Das ist ja geradezu eine Empfehlung! Und noch dazu vom Minister selbst, eigenhändig geschrieben und adressiert! Aber es kann mir nicht einfallen, eine solche Bresche in unseren aristokratischen Zirkel sprengen zu lassen. Hier hört selbst die Macht eines Ministers auf. Und dieser Helmers ist mit seinem widerstrebenden Auftreten nicht der Mann, dem zuliebe man unsere alten und wohlberechtigten Regeln umstürzen möchte.«
Kurt fuhr zum Major, bei dem gerade er zu dieser Zeit der Gegenstand des Gesprächs war. Der Rittmeister befand sich mit seiner Frau bei Majors, und außerdem gab es da noch einen jungen Leutnant, der ein Verwandter des letzteren war. Er war heute beim Abschluß der Wette und auch während des Diners zugegen gewesen, hatte sich jedoch dabei sehr schweigsam verhalten und erzählte jetzt den Vorgesetzten und ihren beiden Damen den Vorgang. Dabei kam natürlich die Rede auch auf den neuen, bürgerlichen Kameraden, dessen Eintritt in das Regiment der Adjutant verkündigt hatte. Sowohl der Major als auch der Rittmeister schlossen sich dem allgemeinen Beschluß, Helmers abweisend zu behandeln, an, aber der Leutnant sagte mit ruhiger Freimütigkeit:
»Man sollte einen solchen Beschluß doch nicht fassen, ohne den Kameraden zuvor kennengelernt zu haben. Er ist zwar bürgerlich, aber das schließt ja doch nicht aus, ein Ehrenmann zu sein. In diesem Fall muß er sich fürchterlich beleidigt fühlen, er wird mit aller Gewalt provoziert, und es ist nicht abzusehen, welche Händel da entstehen können.« – »Pah, Sie sind zu weichherzig, mein lieber Platen«, meinte der Major. »Das ist ein Jugendfehler. In zehn Jahren werden Sie ähnliche Fälle sicher ganz anders beurteilen. Es drängt sich keine Krähe ungestraft in den Kreis der Falken und Adler ein. Plebs bleibt Plebs, ich kenne das. Dieser Eindringling wird mir heute jedenfalls seine Antrittsvisite machen, und er soll sofort merken, was er von uns zu erwarten hat.«
Bereits während dieser Worte hatte sich das Rollen eines leichten Wagens hören lassen. Jetzt öffnete sich die Tür, und der Diener meldete den Leutnant Helmers.
»Ah, lupus in fabula!« sagte der Rittmeister, indem er sein Gesicht in strenge Falten legte.
»Eintreten!« befahl der Major, indem er kampfbereit den Schnurrbart strich, sich aber keinen Zoll hoch vom Sitz erhob.
Kurt trat ein. Er sah die finsteren Blicke der beiden Offiziere und die zusammengekniffenen, hochmütigen Augen der Damen; es war ihm nicht zweifelhaft, welcher Empfang ihn auch hier erwartete. Er stellte sich in dienstliche Positur und harrte, bis man ihn anreden werde.
»Wer sind Sie?« fragte der Major schroff. – »Leutnant Helmers, Herr Major. Ich hörte, daß Ihr Diener Ihnen diesen Namen bereits nannte.«
Mit diesen Worten parierte Kurt den ersten Hieb. Der Major schien dies nicht zu beachten und fuhr fort:
»Sie waren bereits beim Oberst?« – »Zu dienen!« – »Haben Sie Ihre Instruktionen wegen Ihres Eintrittes von ihm empfangen?« – »Allerdings.« – »So habe ich nichts hinzuzufügen. Sie mögen abtreten!«
Er hatte nicht die geringste Miene gemacht, sich zu erheben, der Rittmeister ebensowenig; nur Leutnant Platen war aufgestanden und hatte Kurt mit kameradschaftlicher Freundlichkeit zugenickt. Dieser wandte sich nicht, um das Zimmer zu verlassen, wie erwartet worden war, sondern er ließ seinen Blick über die Herren schweifen und sagte höflich, aber ernst:
»Ich bemerke hier die Abzeichen meiner Schwadron, Herr Major, und bitte um die Güte, mich den Herren vorzustellen. Dann werde ich Ihrem Befehl, ›abzutreten‹, sofort Folge leisten.« – »Die Herren haben Ihren Namen bereits gehört, er ist ja kurz genug, um nicht so schnell vergessen zu werden«, antwortete der Major geringschätzig. »Rittmeister von Codmer und Leutnant von Platen.« – »Danke!« sagte Kurt gleichmütig. »Jetzt kann ich ›abtreten‹, obgleich man sich dieses Ausdruckes nur bei Rekruten, nicht aber bei Offizieren zu bedienen pflegt.«
Im nächsten Augenblick hatte er das Zimmer verlassen. Der Rittmeister sah den Major an und sagte:
»Ein frecher Mensch, auf Ehre!« – »Mir das zu bieten!« rief der Angeredete zornig. – »Pack, bürgerliches Pack! Ohne Anstand und Bildung, wie es ja auch nicht anders zu erwarten war!« beklagte sich eine der Damen. – »Hm, der Herr Kamerad scheint Schneid zu haben«, wagte der Leutnant zu bemerken. »Man muß vorsichtig mit ihm sein. Ich finde ihn gar nicht übel – elegant, schöne Haltung, famoses Gesicht. Wenn er mit dem Säbel ebenso schlagfertig ist wie mit der Zunge, so wird er bald von sich reden machen.« – »Das soll ihm wohl nicht einfallen!« rief der Major. »Man wird ihn darauf aufmerksam machen, daß Duellanten auf die Festung geschickt werden. Ich hoffe, Ihr gutes Herz wird Ihnen keinen Streich spielen, bester Platen.« – »Mein gutes Herz wird nie etwas von mir fordern, was sich nicht mit meiner Ehre verträgt«, antwortete der Leutnant etwas zweideutig.
Die Erscheinung und das ganze Auftreten Kurts hatten ihn sympathisch berührt, und er fühlte, daß er diesem neuen Kameraden nicht in ungerechter Feindseligkeit gegenübertreten könne.
4. Kapitel
Kurt kehrte nach Hause zurück, wo er dem Herzog erzählen mußte, wie er von den Herren empfangen worden war. Als er seinen Bericht beendet hatte, zuckte Olsunna die Achsel und meinte lächelnd:
»Ich habe dies so ziemlich erwartet. Die Garde ist in jedem Land das stolzeste Korps, und hier im Norden soll es ja ein Junkertum geben, das seine alten Traditionen mit außerordentlicher Peinlichkeit verteidigt. Dich darf das nicht beunruhigen, mein lieber Kurt. Während deiner Abwesenheit erhielt ich einige Zeilen vom Großherzog von Hessen, der sich in Berlin befindet, und …« – »Der Großherzog in Berlin?« unterbrach ihn Kurt schnell. »Wie kommt er nach hier? Ich habe ihn ja erst vorgestern in Darmstadt gesprochen.« – »Er ist per Telegraf zum König von Preußen gebeten worden. Ich ersehe aus den Zeilen, daß es sich um irgendeine diplomatische, sehr dringende Angelegenheit handelt. Vielleicht bezieht sie sich auf die Neustellung Hessens zu Preußen, dem es ja im beendeten Krieg feindlich gegenübergestanden hat; vielleicht aber handelt es sich auch um weitläufigere Dinge. Dieser Herr von Bismarck ist ein außerordentlicher Kopf und rechnet mit ungewöhnlichen, kühnen Zahlen. Daß die Gegenwart des Großherzogs so verzugslos gewünscht wird, läßt auf wichtige Dinge schließen. Man gibt ihm dadurch den Charakter eines bedeutenden Mannes, und darum wird sein Einfluß eine größere Tiefe erhalten. Dies freut mich auch um deinetwillen. Der Großherzog bittet mich, zu ihm zu kommen, und ich werde diese Gelegenheit benutzen, ihm zu erzählen, wie man dich, seinen Schützling, den er so warm empfohlen hat, hier empfängt. Ich bin überzeugt, daß er dir zu einer glänzenden Genugtuung verhelfen wird.«
Der Herzog hielt in seiner Rede inne, horchte und trat an das Fenster. Es hielt unten am Tor ein Wagen, doch waren die Insassen desselben bereits ausgestiegen, so daß man sie nicht mehr sehen konnte. Dann ließen sich draußen im Vorzimmer laute, muntere Stimmen vernehmen, und ohne eine Anmeldung durch den Diener wurde die Tür geöffnet. In derselben erschien Rosa Sternau, die einstige Gräfin Rosa de Rodriganda. Hinter ihr erblickte man eine schöne, obgleich nicht mehr ganz junge Dame und einen alten Herrn von sehr distinguiertem Aussehen.
»Ah, gefunden, obgleich ich noch nie in Berlin gewesen bin!« rief Rosa, indem sie näher trat. – »Meine liebe Tochter!« jubelte der Herzog voll freudiger Überraschung. »Wie ist es möglich, Sie hier zu sehen, so sehr bald nach unserer Trennung?«
Sie eilte auf ihn zu, umarmte und küßte ihn und antwortete:
»Ich komme, Ihnen zwei sehr liebe und hochwillkommene Gäste zuzuführen, lieber Papa. Sehen Sie und raten Sie!«
Sie deutete auf die anderen beiden Personen, die hinter ihr eingetreten waren, und der Herzog warf infolgedessen einen forschenden Blick auf dieselben. Sie hatten das Aussehen sehr vornehmer, aber schnell gereister, ermüdeter Touristen. Dieser Ausdruck der Ermüdung war besonders auf dem schönen Angesicht der Dame zu bemerken, denn er wurde bei ihr hervorgehoben durch einen Zug stillen, entsagungsvollen Leidens, welcher in ebendemselben Grad sich auch in den Zügen Rosas de Rodriganda bemerken ließ.
Obgleich der Herzog in dem Herrn sofort einen Engländer erkannte, schüttelte er doch den Kopf und sagte:
»Lassen Sie mich nicht raten, liebe Tochter, sondern erfreuen Sie mich sofort durch die Bezeichnung der Freude, die Sie mir bereiten wollen!« – »Nun wohl!« sagte sie. »Dieser Herr ist der von uns so lange Zeit vergeblich gesuchte und verschollen gewesene Sir Henry Lindsay, Graf von Nothingwell, und diese Dame ist …« – »Miß Amy, die Tochter des verehrten Grafen?« fiel Olsunna schnell ein. – »Allerdings, Papa!«
Da schritt der Herzog auf die beiden zu, streckte ihnen die Hände entgegen und meinte mit vor Freude strahlendem Angesicht:
»Willkommen, von ganzem Herzen willkommen! Wir haben nach Ihnen gesucht und geforscht eine ganze Reihe von Jahren, leider vergeblich. Darum ist es für uns fast wunderbar, Sie so unerwartet bei uns zu sehen.«
Sir Lindsay nickte langsam und bedeutungsvoll mit dem Kopf und erwiderte:
»Wir haben gehört, wie fleißige und sorgfältige Nachforschungen Sie hielten, um uns zu finden. Ich werde Ihnen erzählen, warum diese Nachforschungen ohne Erfolg blieben. Einstweilen will ich bemerken, daß ich aus Mexiko komme, um diplomatische Aufgaben zu lösen. Das letzte Lebenszeichen, das in unsere Hände kam, belehrte uns, daß Gräfin Rosa de Rodriganda in Rheinswalden zu finden sei, und ich konnte meiner Tochter den Wunsch nicht abschlagen, diesen Ort aufzusuchen, bevor ich an meine Geschäfte trete. Wir fanden die Gräfin und hörten, daß Sie, Herzogliche Durchlaucht, hier zu finden seien; darum reisten wir sofort ab, um uns Ihnen vorzustellen.« – »Daran haben Sie wohlgetan, Sir. Es sollte mich freuen, Ihnen in Beziehung Ihrer diplomatischen Sendung von Nutzen sein zu können. Gestatten Sie mir, Ihnen hier meinen jungen Freund, den Leutnant Kurt Helmers, vorzustellen?« —»Helmers? Diesen Namen kenne ich. So hieß ein Steuermann, dessen Bruder ein berühmter Präriejäger war.« – »Der Steuermann war mein Vater«, fiel Kurt ein. – »Ah, Herr Leutnant, so bin ich imstande, Ihnen von Ihrem Vater zu erzählen«, sagte der Engländer. »Leider aber kenne ich sein Schicksal nur bis zu dem Augenblick, als er die Hacienda del Erina verließ.«
Man nahm Platz, um die Unterhaltung fortzusetzen. Amy stand im Begriff, sich auf einem Fauteuil niederzulassen, der am Fenster stand. Dabei fiel ihr Blick ganz unwillkürlich auf die Straße, sie stieß einen lauten Ruf der Überraschung aus und trat eilig vom Fenster zurück.
»Was ist‘s? Was überrascht dich?« fragte ihr Vater, indem er hinzutrat. – »Mein Gott, sehe ich recht? Ist‘s möglich?« rief sie, auf einen Mann deutend, der in einfacher, bürgerlicher Tracht langsamen Schrittes auf dem jenseitigen Trottoir herbeigeschlendert kam und dessen Augen mit einem sehr neugierigen Blick das herzogliche Palais musterten.
Es war Kapitän Parkert, den wir in Gesellschaft der Offiziere getroffen haben. Er hatte dort seine Überraschung bemeistert, als der Name Sternau genannt worden war, und sich fest vorgenommen, das Terrain zu rekognoszieren.
Jetzt kam er, und es war ihm sehr angenehm, vis-à-vis dem Palast die Restauration zu bemerken, in der er sich leicht erkundigen konnte.
»Meinst du den Herrn, der da drüben geht?« fragte Lindsay, der den Blicken seiner Tochter gefolgt war. – »Allerdings, diesen«, antwortete sie erregt. – »Kennst du ihn?« fragte er neugierig. »Es wäre fast wunderbar, wenn du so fern von den Orten, an denen wir bisher lebten, eine Person fändest, die du kennst.« – »Ob ich ihn kenne? Diesen Menschen!« rief sie, bleich vor Erregung. »Ich habe dieses Gesicht in einem Augenblick gesehen, den ich nie vergessen werde!« – »Wer ist er?« – »Es ist kein anderer als Landola, der Seeräuber!«
Es ist nicht zu beschreiben, welchen gewaltigen Eindruck diese Worte machten. Die Zuhörer standen einen Augenblick erstaunt, dann aber brach es los.
»Landola, der Kapitän der Pendola?« rief Rosa. – »Kapitän Grandeprise, der Pirat?« rief der Herzog. »Irren Sie sich nicht?« – »Nein«, antwortete Amy. »Wer dieses Gesicht ein einziges Mal gesehen hat, der kann sich nicht irren.«
Kurt hatte nichts gesagt. Er war an das Fenster getreten und heftete sein Auge auf den Mann, wie der Adler das seinige auf seinen Raub richtet.
»Er beobachtet unser Haus«, meinte der Herzog. – »Er weiß, daß wir hier wohnen«, fügte Amy hinzu. – »Der Zerstörer unseres Glückes sinnt auf neue Schandtaten«, sagte Rosa. – »Er tritt in jene Restauration«, bemerkte jetzt Kurt. »Jedenfalls wird er sich nach uns erkundigen wollen. Ah, er soll bedient werden.«
Er war mit einigen raschen Schritten zur Tür hinaus.
»Kurt, halt! Bleibe hier!« rief ihm der Herzog nach, doch vergeblich.
Die Anwesenden hörten, daß er nicht das Haus verließ, sondern die Treppe empor nach seinem Zimmer ging. Der Herzog folgte ihm nach und fand ihn im Begriff, in höchster Eile seine Uniform abzulegen.
»Was willst du tun?« fragte er ihn. – »Ich will diesen Menschen überlisten«, antwortete der Gefragte. – »Du? Diesen gewandten Bösewicht? Wirst du das fertigbringen?« – »Ich hoffe es. Es ist heute nicht das erste Mal, daß ich ihn sehe.« – »Ah, du kennst ihn?« fragte der Herzog erstaunt. – »Ja. Ich sah ihn bereits in Rheinswalden einmal. An dem Tag, an dem ich mich vom Hauptmann von Rodenstein verabschiedete, ging ich in den Wald und sah diesen Mann aus der Hütte des Hüters Tombi kommen, ohne daß er mich bemerkte. Als er fort war, fragte ich Tombi, wer der Fremde sei, und der Zigeuner sagte, es sei ein Mainzer Bürger, der sich hier im Wald verirrt und ihn nach dem rechten Weg gefragt habe.« – »So hat er also bereits in Rheinswalden nach uns spioniert!« – »Ja, und Tombi ist sein Vertrauter, wie es scheint. Dieser Seeräuber hat mich noch nie gesehen, erkennt mich nicht, ich werde mich umkleiden und ihn aufsuchen. Aus seinen Fragen wird zu hören sein, was er beabsichtigt.« – »Du magst recht haben, mein Sohn, aber ich ersuche dich, recht vorsichtig zu sein. Wir werden unterdessen überlegen, was weiter zu machen ist.«
Der Herzog kehrte beruhigt zu den Damen zurück. Kurt aber legte seinen einfachsten Zivilanzug an und begab sich dann über die Straße hinüber nach der Restauration. Als er dort eintrat, machte er ein sehr ernstes, enttäuschtes Gesicht, etwa wie ein Bittsteller, dem sein Gesuch abgeschlagen worden ist.
Kapitän Parkert saß als der einzige Gast gerade wie zuvor Leutnant Ravenow, an einem Tisch. Er hatte Kurt aus dem großherzoglichen Palais treten sehen und beschloß sogleich, sich an ihn zu wenden. Als Kurt an einem anderen Tisch Platz nehmen wollte, sagte er daher:
»Bitte, wollen Sie sich nicht zu mir setzen? Es ist so einsam hier, und beim Glas pflegt man Gesellschaft vorzuziehen.« – »Ich habe ganz dieselbe Ansicht, mein Herr, und nehme also Ihr Anerbieten an«, antwortete Kurt. – »Sie tun recht«, nickte der Kapitän, indem er sein stechendes Auge mit forschendem Ausdruck auf den jungen Mann richtete. »Mir scheint, daß eine heitere Gesellschaft Ihnen dienlicher ist als die Einsamkeit« – »Warum?« – »Weil ich bemerke, daß Sie in sehr mißmutiger Stimmung sind. Sie haben sich jedenfalls geärgert. Vermute ich richtig?« – »Hm, Sie mögen recht haben«, murrte Kurt, indem er ein Glas Bier bestellte. »Große Herren lassen es sich sehr egal sein, ob sie uns gute oder schlechte Laune bereiten.« – »Ah, so ist meine Ahnung richtig. Sie kamen da aus dem großen Haus? Sie haben sich da drüben geärgert Vielleicht waren Sie Supplikant – Bittsteller —?« – »Möglich«, lautete die zurückhaltende Antwort. – »Wer wohnt denn eigentlich da drüben?« – »Es ist der Herzog von Olsunna.« – »Das ist doch ein spanischer Name!« – »Ja, er ist ein Spanier.« – »Reich?« – »Sehr!« – »Hat dieser Herzog eine Herzogin?« – »Das versteht sich!« – »Ah, jetzt besinne ich mich. Ich habe den Namen bereits einmal gehört. Ich glaube, der Herzog soll eine Mesalliance eingegangen sein?« – »Davon weiß ich nichts. So ein Herr nimmt sich doch jedenfalls eine Frau, die seiner würdig ist.« – »So kennen Sie seine Verhältnisse nicht genau?« – »Glauben Sie, daß ein Herzog einem Supplikanten, für den Sie mich doch gehalten haben, seine Verhältnisse mitteilt?« – »Wer oder was sind Sie?«
Kurt machte ein sehr mürrisches Gesicht und antwortete: »Das tut nichts zur Sache. Sie scheinen auch so ein vornehmer Herr zu sein, und da kümmert es Sie nicht, wie ich heiße und was ich bin.«
Das Gesicht des Kapitäns zeigte nicht die mindeste Mißbilligung dieser Antwort. Sein Auge blitzte vielmehr befriedigt auf, und in einem beruhigenden Ton meinte er:
»Abgeblitzt! Das gefällt mir. Ich liebe die verschwiegenen Charaktere, denn man kann sich auf sie verlassen. Waren Sie oft im Palais da drüben?« – »Nein«, antwortete Kurt, allerdings ganz der Wahrheit gemäß. – »Werden Sie wieder hinüberkommen?« – »Ja, ich muß sogar.«
Da rückte ihm der Kapitän näher und fragte mit halber Stimme:
»Hören Sie, junger Mann, Sie gefallen mir. Haben Sie Vermögen?« – »Nein. Ich bin arm.« – »Wollen Sie sich eine gute Gratifikation verdienen?« – »Hm! Womit?« – »Ich möchte die Verhältnisse dieses Herzogs genau erfahren, und da Sie bei ihm wieder Zutritt nehmen, so ist es Ihnen leicht, Verschiedenes zu erfahren. Wollten Sie mir dies mitteilen, so würde ich Ihnen dankbar sein.« – »Ich will es mir überlegen«, sagte Kurt nach einigem Nachdenken. – »Das genügt mir. Ich sehe, daß Sie vorsichtig sind, und das bestärkt mein Vertrauen zu Ihnen. Es ist möglich, daß ich Ihnen nützlich sein kann!« Und indem sein Blick den Anzug Kurts überflog, fügte er hinzu: »Wenn Sie wollen, können Sie sich bei mir ein Sümmchen verdienen, das Ihnen von Nutzen sein wird. Und dann, nachdem Sie mich als einen Mann kennengelernt haben, der nicht zu knausern pflegt, werden Sie auch mitteilsamer werden. Ich bin hier fremd und brauche einen Mann, auf den ich mich verlassen kann.« – »Was hat dieser Mann zu tun?« fragte Kurt, indem er sich den Anschein gab, als ob er sich über die versteckte Offerte seines Gegenübers freue.
Dieser warf abermals einen stechenden Blick auf ihn. Kurt war einfach gekleidet und gab sich Mühe, ein unbefangenes, alltägliches Gesicht zu zeigen. Dies beruhigte den Kapitän. Er gewann die Ansicht, daß dieser junge, jedenfalls noch unerfahrene Mensch, dessen Züge übrigens von Klugheit zeugten, sich recht gut und ohne Gefahr benutzen lassen werde, und darum sagte er:
»Sie verschweigen, wer Sie sind. Darf ich wenigstens wissen, wer Ihr Vater ist?« – »Mein Vater ist ein Schiffer.« – »Ah, also gehören Sie nicht zu den vornehmen Leuten. Sie suchen vielleicht eine Stellung?« – »Ich habe sie zugesagt erhalten, aber man macht mir Schwierigkeiten.«
Das war dem Kapitän willkommen. Er sagte mit der Miene eines Protektors:
»Lassen Sie sie fahren. Ich kann Ihnen ein jedenfalls besseres Unterkommen verschaffen, wenn ich sehe, daß Sie sich nützlich zu machen verstehen. Sie müßten allerdings eine kleine Portion Schlauheit besitzen.«
Kurt zwinkerte höchst unternehmend mit den Augen und antwortete:
»Daran fehlt es wahrscheinlich nicht, wie Sie bald erkennen sollen.« – »Aber ich müßte erfahren, wer Sie sind und wie Sie heißen.« – »Gut. Sie sollen es erfahren, sobald ich Ihnen bewiesen habe, daß ich zu gebrauchen bin. Ich will Ihnen nämlich sagen, daß ich hier an gewissen Orten nicht gut angeschrieben stehe; das veranlaßt mich, vorsichtig zu sein.«
Der Kapitän nickte erfreut. Er gewann die Ansicht, es hier mit einem Menschen zu tun zu haben, der in irgendeiner Beziehung mit der bestehenden Ordnung zerfallen sei und sich also zu einem fügsamen Werkzeug ausbilden lassen werde. Er antwortete:
»Das genügt einstweilen. Ich engagiere Sie und geben Ihnen einen kleinen Vorschuß auf das Honorar für die Dienste, die Sie mir leisten werden. Hier haben Sie fünf Taler.«
Er zog die Börse und legte die erwähnte Summe auf den Tisch. Kurt jedoch schob das Geld zurück und entgegnete:
»Ich bin nicht so sehr abgebrannt, daß ich eines Vorschusses bedarf, mein Herr. Erst die Arbeit und dann der Lohn; das ist das richtige. Was habe ich zu tun?«
Das Gesicht des Kapitäns zeigte, daß er sehr zufriedengestellt sei.
»Ganz wie Sie wollen«, sagte er. »Auch ich bin ein Anhänger Ihres Grundsatzes, den wir also befolgen wollen. Ihr Schaden wird es nicht sein. Was Sie zu tun haben, fragen Sie? Zunächst haben Sie sich zu erkundigen nach dem Herzog von Olsunna, nach seinen häuslichen Verhältnissen, nach den Gliedern seiner Familie, nach allem, was er treibt und tut. Vor allem möchte ich erfahren, welche Personen seines Haushaltes den Namen Sternau führen und ob sich bei ihm jemand befindet, der Helmers heißt.« – »Das wird nicht schwer zu erfahren sein.« – »Gewiß. Sodann werde ich Sie vielleicht nach Mainz schicken, um eine sehr leichte Aufgabe zu lösen, die sich auf einen Oberförster bezieht, den ich beobachten lassen möchte. Sie scheinen mir ganz dazu geeignet zu sein.« – »Ah, Sie gehören wohl zur Polizei?« – »Vielleicht«, antwortete der Gefragte mit wichtiger, geheimnisvoller Miene. »Doch habe ich auch ein wenig mit der hohen Politik zu tun. Ich will aufrichtig sein und Ihnen einiges anvertrauen. Ich hoffe, daß ich es ohne Gefahr tun kann.« – »Richten Sie Ihre Mitteilungen so ein, daß Sie nicht Gefahr laufen können«, lachte Kurt. – »Hm, ich bemerke, daß Sie ein kleiner Schlaukopf sind, und das spricht zu Ihren Gunsten. Sie wissen, daß wir im Jahre 1866 stehen und daß Österreich von Preußen besiegt worden ist?« – »Wer wüßte dies nicht!« sagte Kurt mit ernster Miene. – »Nun, diese Frage war dumm, aber sie sollte als Einleitung dienen. Österreich ist also geschlagen und sucht nach einem Bundesgenossen, um die Scharte auszuwetzen. Diesen Verbündeten scheint es in Frankreich gefunden zu haben. Napoleon hat den Erzherzog Max zum Kaiser von Mexiko gemacht. Nun fragt es sich, ob diese Freundschaft von langer Dauer sein wird. England und Nordamerika wollen Max nicht anerkennen und zwingen Napoleon, seine Truppen zurückzuziehen. Max wird auf sich selbst und Österreich angewiesen sein, und dieses letztere ist durch den deutschen Krieg so geschwächt, daß es ihm unmöglich helfen kann. Das wird Mexiko benutzen, um den Kaiserthron umzustürzen. Dadurch werden und müssen in den gesamten politischen Kreisen Verwirrungen entstehen, welche jeder Staat für sich ausnutzen will. Sie finden darum am Hof des Siegers hier in Berlin zahlreiche geheime Emissäre, die das Terrain zu rekognoszieren haben, um ihre Regierungen in den Stand zu setzen, den geeigneten Augenblick zu benutzen.« – »Und ein solcher Emissär …«, fiel Kurt ein. – »Nun?« – »Sind auch Sie?« – »Allerdings«, nickte der Kapitän. – »Welche Regierung vertreten Sie?« – »Das bleibt Ihnen zunächst noch Geheimnis. Ich machte Ihnen diese Mitteilung nur, um Ihnen zu zeigen, daß ich imstande bin, Ihnen eine Zukunft zu geben, wenn ich Sie geschickt und treu finde. Ihre nächste Aufgabe ist, alles auszuforschen, was mit dem Namen Olsunna in Verbindung steht.« – »Und wenn ich dies getan habe, wie und wo kann ich Ihnen das Resultat mitteilen?« – »Ich sehe, daß ich Ihnen aus meinem Namen kein Geheimnis machen darf, wie Sie mir aus dem Ihrigen. Übrigens werden Sie finden, daß ich Ihnen nur so viel mitgeteilt habe, als ich ohne Gefahr konnte. Mein Name ist Kapitän Parkert, und ich logiere im Magdeburger Hof. In dieses Gasthaus kommen Sie, sobald Sie mir irgend etwas mitzuteilen haben.« – »Möglich, daß dies sehr bald geschieht«, sagte Kurt zweideutig. – »Ich hoffe es«, meinte Parkert, sein Glas austrinkend. »Ich denke, daß es zu unserem beiderseitigen Vorteil sein wird, daß wir uns kennengelernt haben. Für den Fall, daß Sie recht bald etwas erfahren, muß ich Ihnen sagen, daß ich vor zwei Stunden nicht in meinem Gasthof zu finden bin. Adieu!« – »Adieu!«
Der Kapitän reichte Kurt die Hand hin; dieser jedoch tat, als bemerke er dieses nicht, und verbeugte sich bloß, vorsichtshalber aber wie ein Mensch, der nicht geübt ist, eine elegante Verneigung zustande zu bringen. Parkert ging, und Kurt blieb allein zurück.
Wie kam es, daß dieser verschlagene Seeräuber so aufrichtig gewesen war? Hatte das ehrliche Gesicht Kurts ihn zu dieser unvorsichtigen Vertrauensseligkeit hingerissen? Oder war es auch hier, wie so oft der Fall, daß der Bösewicht gerade dann, wenn er meint, seinen ganzen Scharfsinn angewandt zu haben, den größten Fehler macht?
Diese Frage legte Kurt sich vor, doch ohne sie sich beantworten zu können.
Eins aber sah er ein: Er mußte schleunigst die zwei Stunden benutzen, um im Magdeburger Hof das Terrain zu rekognoszieren. Hier handelte es sich nicht bloß um private, sondern auch politische Machinationen.
5. Kapitel
Kurt erkundigte sich beim Wirt, wie das Gasthaus zu finden sei, bezahlte sein Bier und ging. Da er gesehen hatte, daß der Kapitän sich nach der entgegengesetzten Richtung entfernte, so konnte er ziemlich sicher sein, von ihm nicht überrascht zu werden.
Er erreichte das Haus, trat in die Gaststube und verlangte zu trinken. Ein Kellnermädchen brachte ihm das Verlangte. Es fiel ihm auf, daß sie ihm mit einer erfreuten Miene zulächelte. Er sah ihr fragend in das hübsche Gesicht; sie mochte es als Aufforderung nehmen und sagte:
»Kennen Sie mich nicht mehr, Herr Leutnant?«
Er besann sich, und da kam ihm plötzlich eine heimatliche Erinnerung.
»Sapperlot!« sagte er. »Ist‘s wahr? Sind Sie nicht Uhlmanns Bertha aus Bodenheim?« – »Ja, die bin ich«, lachte sie fröhlich.
»Ich bin oft in Rheinswalden gewesen und habe Sie da gesehen.« – »Aber ich Sie nicht seit mehreren Jahren, und dies ist der Grund, daß ich Sie nicht sogleich erkannt habe. Wie aber kommen Sie nach Berlin?« – »Bei uns sind der Geschwister zu viele, und da meinte der Vater, ich solle es einmal mit einer Kondition versuchen. Ich ging in meine jetzige Stellung, weil der Wirt hier ein entfernter Verwandter von mir ist.« – »Das ist mir außerordentlich lieb. Ich freue mich sehr, gerade Sie hier zu finden.« – »Warum?« – »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.« – »Tun Sie es, Herr Leutnant! Wenn ich Ihnen einen Wunsch erfüllen kann, so tue ich es herzlich gern.« – »Vor allen Dingen ersuche ich Sie, es hier nicht hören zu lassen, daß ich Offizier bin. Wohnt ein Kapitän Parkert bei Ihnen?« – »Ja, seit kurzer Zeit. Er hat die Nummer zwölf.« – »Mit wem verkehrt er?« – »Mit niemand. Er geht sehr viel aus. Nur ein einziger Herr war hier, der mit ihm sprechen wollte.« – »Wer war es?« – »Er nannte keinen Namen, aber er wollte in einiger Zeit wiederkommen.« – »Konnten Sie aus seinem Äußeren nicht darauf schließen, was er sei?« – »Er kam mir vor wie ein Offizier in Zivil. Sein Gesicht war sehr von der Sonne verbrannt, und er sprach das Deutsch fast wie ein Franzose.« – »Hm! Sie sagten, daß der Kapitän Nummer zwölf habe?« – »Ja.« – »Ist Nummer elf besetzt?« – »Ja, aber sie liegt in einem andern Korridor. Nummer zwölf ist ein Eckzimmer.« – »Und Nummer dreizehn?« – »Steht leer.« – »Ist eine starke Wand zwischen den beiden Zimmern?« – »Nein. Sie sind sogar durch eine Tür verbunden, die jedoch verschlossen ist.« – »So könnte man vielleicht in Nummer dreizehn verstehen, was in Nummer zwölf gesprochen wird?« – »Ja, wenn man nicht zu leise redet.« Und mit einem schlauen Lächeln fuhr sie fort. »Sie haben wohl ein Interesse an diesem Parkert?« – »Allerdings; aber es darf niemand wissen!« – »Oh, ich bin verschwiegen. Übrigens, dieser Mensch gefällt mir nicht, und einem so lieben Landsmann, wie Sie sind, kann man wohl gern einen Gefallen tun!« – »Darf ich Nummer dreizehn einmal ansehen?« – »Das versteht sich!« – »Aber möglichst ohne daß es jemand bemerkt.« – »Keine Sorge! Es befindet sich niemand von der Bedienung oben. Ich hole Ihnen den Schlüssel, und Sie gehen einfach die Treppe hinauf. Rechts ist die besetzte Tür, die letzte führt nach Nummer zwölf.«
Sie entfernte sich und brachte sehr bald den Schlüssel, den sie ihm heimlich zusteckte. Er verließ bald darauf das Zimmer, stieg die Treppe empor und fand den Korridor leer.
Der Schlüssel öffnete ihm die betreffende Tür, und er fand eine Schlafstube, in der sich ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Waschtisch, ein Tisch nebst Sofa und zwei Stühle befanden.
Die Tür war verschlossen, und zwar von beiden Seiten, wie er bemerkte. Er öffnete den Schrank und fand ihn leer. Die Tür desselben ging auf, ohne das mindeste Geräusch zu verursachen.
Vollständig zufriedengestellt, kehrte er nach unten zurück, ohne von irgend jemand bemerkt worden zu sein. Als die Kellnerin wieder zu ihm trat, um den Schlüssel in Empfang zu nehmen, fragte sie:
»Gefunden?« – »Ja«, nickte er. – »Wie es scheint, möchten Sie den Kapitän einmal belauschen?« – »Das ist allerdings mein Wunsch. Gibt er seinen Schlüssel ab, wenn er ausgeht?« – »Nein. Er tut sehr geheimnisvoll mit seinen Effekten. Er bleibt sogar im Zimmer, wenn dasselbe aufgeräumt und gesäubert wird, und wenn er fortgeht, so steckt er seinen Schlüssel ein, ohne daran zu denken, daß doch jeder Wirt einen Hauptschlüssel hat.« – »Hm! Wollen Sie mich einmal in Nummer dreizehn lassen, wenn er in seinem Zimmer Besuch hat?« – »Gern.« – »Ich werde Ihnen sehr erkenntlich sein!« – »Darauf reflektiere ich nicht. Ich tue es Ihnen zuliebe und weil ich ihn nicht leiden kann. Aber ich hatte vergessen, Ihnen zu sagen, daß er sich ausbedungen hat, daß Nummer dreizehn leer bleibe. Er bezahlt dieses Zimmer mit.« – »Das dient mir zum Beweis, daß er sich mit Heimlichkeiten befaßt, die mir von Wert sein dürften. Ah, wer ist das?«
Es trat nämlich in diesem Augenblick ein Mann ein, bei dessen Anblick der Leutnant eine große Überraschung nicht zu verbergen imstande war.
»Das ist der Herr, der bereits einmal nach dem Kapitän gefragt hat. Ich sagte Ihnen bereits, daß er in einiger Zeit wiederkommen wolle.« – »Und er hat also seinen Namen nicht genannt?« – »Nein. Es scheint, Sie kennen ihn?« – »Menschen sehen sich zuweilen ähnlich«, antwortete Kurt ausweichend. »Er nimmt die Weinkarte. Bedienen Sie ihn!«
Das Mädchen trat zu dem neu angekommenen Gast, der es fragte, ob der Kapitän bereits zurückgekommen sei. Als er hörte, daß dies noch nicht der Fall sei, bat er um eine Flasche Bordeaux, die er auch erhielt und mit der Miene eines Kenners kostete.
»Er ist es wahrhaftig!« dachte Kurt »In dieser Weise trinkt nur ein Franzose den Wein seines Landes. Was aber will General Douay hier in Berlin? Sollten sich wirklich diplomatische Heimlichkeiten vorbereiten, von denen die preußische Regierung vielleicht nichts wissen darf? Ich muß diese Unterredung wirklich belauschen. Es ist leicht möglich, daß ich etwas erfahre, was von Wichtigkeit ist.«
Es war keine Zeit zu verlieren, denn kam der Kapitän zurück, so war es zu spät. Darum gab Kurt dem Mädchen einen Wink. Es nickte unbemerkt, tat, als ob es die Tische abzuwischen habe, und kam dabei an den seinigen.
»Ich muß hinauf, sagte er leise. »Die Unterredung scheint eine wichtige zu werden, und darum ist es möglich, daß der Kapitän sich vorher überzeugt, daß niemand in Nummer dreizehn ist. Er kann den Schlüssel verlangen, darum darf ich ihn nicht behalten.« – »So werde ich Sie einschließen. Aber er wird Sie ja sehen, sobald er in das Zimmer blickt!« – »Ich verstecke mich in dem Kleiderschrank.« – »Und wenn er diesen öffnet?« – »Ich ziehe den Schlüssel ab.« – »Können Sie von innen die Tür so fest zuhalten, daß er sie nicht aufbringt?« – »Das wird schwierig sein. Gibt es hier vielleicht einen Bohrer?« – »Ich will nachsehen. Der Hausknecht hat einen Werkzeugkasten.« – »Gut. Geben Sie mir einen Wink, wenn Sie fertig sind, dann gehen wir nach oben, und Sie lassen mich wieder heraus, sobald der Mann dort fortgegangen ist.«
Nach kaum einigen Minuten gab das Mädchen, das beim Hausknecht gewesen war, Kurt das verabredete Zeichen. Er bezahlte seine Zeche und tat, als ob er gehe.
Er traf die Kellnerin draußen im Flur. Sie führte ihn nach Nummer dreizehn, gab ihm den Bohrer, schloß ihn ein und verließ ihn dann, indem sie den Schlüssel mitnahm.
Kurt öffnete den Schrank, zog den Schlüssel ab und steckte ihn ein. Nun setzte er sich in den leeren Schrank und schraubte den Bohrer in die Innenseite der Tür fest ein. Dadurch erhielt er einen Handgriff, mit dessen Hilfe es ihm leicht war, die Tür so fest anzuziehen, als ob sie verschlossen sei.
Der Schrank war breit und tief genug, um einen angenehmen Sitz zu gewähren.
Nun wartete Kurt auf die Dinge, die da kommen sollten. Es verging eine Viertel-, eine halbe Stunde, ohne daß jemand sich hören ließ.
Es verstrich noch eine halbe Stunde, da endlich waren die Schritte zweier Personen zu vernehmen, die den Korridor herabkamen. Ein Schlüssel wurde in das Schloß der Nummer dreizehn gesteckt und die Tür geöffnet.
»Sie wohnen hier?« fragte eine Stimme auf französisch. – »Nein«, antwortete ein anderer, an dessen Ton Kurt sogleich den Kapitän erkannt. »Ich wohne nebenan, habe aber dieses Zimmer mitgenommen, um sicher zu sein, daß ich nicht belauscht werde. Auch jetzt blicke ich hinein, nur um mich zu überzeugen, daß sich niemand hier befindet. Man kann nie vorsichtig genug sein.«
Er trat in das Zimmer, blickte unter das Bett, ebenso unter das Sofa und kam dann an den Schrank.
»Der ist verschlossen«, sagte er, indem er versuchte, die Tür abzuziehen.
Kurt verhielt sich dabei vollständig bewegungslos und hielt den Bohrer fest, so daß der Kapitän nicht zu öffnen vermochte.
»Alles in Ordnung. Kommen Sie!« sagte dieser zu dem anderen und verließ das Zimmer.
Kurt hörte, daß sie nach Nummer zwölf gingen und dort sich niedersetzten. Das Geräusch, das dabei durch die hin– und hergerückten Stühle verursacht wurde, erlaubte es ihm, den Schrank ungehört zu verlassen. Er setzte sich nun leise einen Stuhl an die Verbindungstür, nahm darauf Platz und begann zu horchen.
»Sputen wir uns«, hörte er den Kapitän sagen, »ich habe nicht viel Zeit übrig, da ich anderswo erwartet werde. Man hat hier nicht die mindeste Ahnung, daß ich die Interessen Spaniens verfolge. Man hält mich vielmehr für einen Amerikaner, der im Rücken des Gesandten für die Vereinigten Staaten agiert. Das gibt mir Gelegenheit, mehr zu hören, als man mich anderen Falles wissen lassen würde. Ihr Avis habe ich gestern erhalten und Sie also heute erwartet.« – »Aber meine Geduld doch ungebührlich lange auf die Probe gestellt«, meinte der Franzose in einem Ton, der erraten ließ, daß er nicht die Absicht hege, sich mit dem Kapitän auf die gleiche Stufe zu stellen. »Ich war bereits einmal hier und habe auch jetzt über eine Stunde gewartet.« – »Wichtige Geschäfte, Exzellenz!« versuchte der Kapitän sich zu entschuldigen. – »Pah! Ihr wichtigstes Geschäft war, mich hier zu erwarten. Sie wissen, daß ich inkognito hier bin, daß niemand mich erkennen darf. Sie hatten dafür zu sorgen, mich nicht in die fatale Lage zu bringen, im Gastzimmer eines öffentlichen Hauses auf Sie warten zu müssen. Man kennt mich, es sind viele Porträts von mir verbreitet. Wie nun, wenn sich zufälligerweise jemand hier befunden hätte, der mich kennt, und dann ausgeplaudert hätte, daß General Douay in Berlin ist. Man weiß, daß ich in Mexiko gekämpft habe und vom Kaiser der Franzosen zurückgerufen wurde, um statt des Schwertes die Feder des Diplomaten in die Hand zu nehmen. Man weiß ferner, daß mein Bruder der Erzieher des französischen Kronprinzen ist, daß man mir also nur Angelegenheiten von Wichtigkeit anvertrauen wird. Werde ich hier erkannt, so ist meine Mission verunglückt. Ich habe mit Ihnen, mit Rußland, Österreich und Italien zu verhandeln. Seine Exzellenz, der Minister des Auswärtigen, hat mich beauftragt, Ihnen ein Memorial zu überreichen, dessen Inhalt Sie darüber aufklärt, wie Sie sich infolge der zwischen mir und dem Leiter der Madrider Politik vereinbarten Abmachung hier zu verhalten haben. Hier ist es. Nehmen Sie gefälligst sofort Einsicht und sagen Sie mir, was Ihnen vielleicht unklar erscheint.« – »Ich danke, Exzellenz.«
Es trat eine längere Stille ein, während welcher Kurt nichts vernahm, als nur das Rascheln von Papier. Dann sagte der Kapitän:
»Diese Paragraphen sind so deutlich, daß an eine Unklarheit gar nicht zu denken ist.« – »Gut. Rekapitulieren wir! Der Kaiser hat diesen Schwächling Max zum Herrscher von Mexiko gemacht, Nordamerika, eifersüchtig darüber, verlangt, daß Frankreich seine Truppen aus Mexiko ziehe und Max seinem Schicksal überlasse …« – »Spanien schließt sich dieser Forderung an …« – »Allerdings. Es betrachtet sich ja als den alleinigen, rechtmäßigen Besitzer dieses schönen, aber von ihm verwahrlosten Landes. Der Kaiser ist erbötig, auf die Forderung Spaniens einzugehen, wenn dieses zu dem Gegendienst bereit ist, den er erwartet.« – »Welcher ist es?« – »Preußen will sich zum Herrn von Deutschland, von Europa machen, es muß gedemütigt werden, man muß Rache für Sadowa nehmen. Der Kaiser bereitet sich vor, Preußen den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Im Fall dieses unabweisbaren Krieges müssen wir sicher sein, daß unser Rücken gedeckt ist. Dieser Herr von Bismarck aber ist schlau und gewaltig, er wird, um uns zu schwächen, Spanien auffordern, die Grenze zu besetzen. Wir jedoch dürfen unsere Heere nur dann mit Vertrauen marschieren lassen, wenn wir überzeugt sind, jenseits der Pyrenäen keine Feinde zu haben. Darum ist Napoleon nur dann bereit, seine Truppen aus Mexiko zurückzuziehen, wenn Spanien sich bei einem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland neutral erklärt. Die diesbezüglichen Verhandlungen sind abgeschlossen, und der Vertrag ist unterzeichnet. Sie haben eine Abschrift desselben in den Händen. Die Lage der Sache ist nun folgende: Frankreich marschiert gegen Deutschland oder vielmehr Preußen, Spanien bleibt neutral, Rußland unterstützt uns, indem es die Grenze Preußens besetzt und einen Aufstand Polens initiiert, mit Österreich und Italien ist noch zu verhandeln. Ich reise von hier nach Petersburg, Sie aber sondieren die hiesigen Verhältnisse und geben Ihrem Minister genaue Nachricht. Jetzt gehe ich zum russischen Gesandten. Sie werden mich begleiten, um ihm zu beweisen, daß Frankreich von Spanien nichts zu fürchten hat.« – »Ich stehe sofort zur Disposition, da ich nur dieses Memorial zu verschließen habe.«
Kurt hörte einen Schlüssel klirren.
»Ist das Dokument in dem Handköfferchen auch wirklich sicher aufgehoben?« fragte Douay. – »Ganz gewiß«, antwortete der Kapitän. »Übrigens nehme ich ja den Schlüssel meines Zimmers mit.« – »So kommen Sie!«
Die beiden verließen darauf Nummer zwölf, und Kurt hörte, daß die Tür verschlossen wurde. Es war ihm ganz eigentümlich zumute. Er hatte jetzt Kenntnis von einer heimlichen Machination gegen Deutschland. Welch einen ungeheuren Wert hatte das Memorial! Er mußte versuchen, in seinen Besitz zu gelangen. Aber wie?
Indem er darüber nachdachte, wurde ein Schlüssel in das Schloß seines Zimmers gesteckt. Die Kellnerin kam, um ihn aus seiner freiwilligen Gefangenschaft zu befreien.
»Sie sind soeben fort«, sagte sie. »Haben Sie etwas gehört?« – »Ja. Ist es nicht möglich, einmal nach Nummer zwölf zu kommen?« – »O ja, ich müßte den Hauptschlüssel holen. Aber wenn Parkert uns überrascht!« – »Keine Sorge. Er kommt nicht sogleich zurück.« – »So warten Sie.«
Das Mädchen entfernte sich. Wie gut, daß Kurt sie getroffen hatte! Ohne ihre Hilfe wäre es ihm nicht möglich gewesen, das zu erfahren, was er jetzt wußte.
Sie kehrte in kürzester Zeit zurück und brachte ihm den Hauptschlüssel.
»Ich weiß nicht, was Sie da drüben wollen, Herr Leutnant«, sagte sie. »Aber ich habe auch keine Zeit, mitzugehen, denn es sind mehrere Gäste gekommen, die ich bedienen muß. Hier ist der Schlüssel.« – »Wie bekommen Sie ihn wieder? Ich kann doch unmöglich nochmals in die Gaststube kommen.« – »Legen Sie ihn hier neben der Tür unter den Teppich. Sobald ich kann, hole ich ihn mir.«
Als sie nach unten zurückgekehrt war, öffnete er das Zimmer des Kapitäns und verschloß die Tür wieder, nachdem er eingetreten war. Der Raum war ganz in derselben Weise möbliert wie der nebenan liegende. Ein größerer Reisekoffer stand an der Wand, und auf demselben lag ein kleines Handköfferchen. Wie war es zu öffnen? Das Dokument mußte heraus!
Kurt griff in die Tasche. Auch er besaß ein ähnliches Köfferchen und trug den Schlüssel zu demselben bei sich. Er probierte und – hätte vor Freude aufjauchzen mögen, denn sein Schlüssel paßte. Die Schlösser zu diesen Koffern sind meist Fabrikware, eins wie das andere, und daher kommt es, daß ein Schlüssel viele Schlösser öffnet. Dies war für Kurt ein höchst günstiger Umstand.
Das Köfferchen enthielt nichts als Papiere. Oben darauf lag ein langes, schmales Heft. Er öffnete es – es war das gesuchte Memorial in französischer Sprache geschrieben und mit dem Siegel des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten versehen.
Sollte er sich seiner bemächtigen oder nur eine Abschrift davon anfertigen?
Zu der letzteren stand ihm augenblicklich zwar kein Papier in Bogenform zur Verfügung, doch hatte er sein Notizbuch mit, und dies genügte, die Paragraphen wörtlich festzuhalten. Besser war es jedenfalls, wenn er sich in den Besitz des Originals setzte, aber dann mußte der Kapitän den Verlust desselben bemerken. Kurt ging einige Minuten lang mit sich zu Rate. Er war entschlossen, den Grafen von Bismarck schleunigst in den Besitz dieses heimlichen, hinterlistigen Vertrages zu setzen, und da das mit dem Ministerialsiegel versehene Original in den Händen des allmächtigen Mannes jedenfalls eine ganz andere Beweiskraft besaß, als eine doch immerhin noch der Bestätigung bedürfende Kopie, so entschloß er sich endlich, das Heft ganz ohne weiteres an sich zu nehmen.
Er tat dies, verschloß dann das Köfferchen wieder und verließ das Zimmer. Nachdem er den Hauptschlüssel unter den Teppich gelegt hatte, fügte er einige Banknoten zur Belohnung der gefälligen Kellnerin hinzu und verließ sodann das Haus, was er auch ungesehen bewerkstelligte.
6. Kapitel
Kurt nahm sofort eine Droschke und fuhr nach der Wohnung Bismarcks, indem er mit Freuden daran dachte, daß dieser ihm sicher behilflich sein werde, sich des Kapitäns zu bemächtigen. Sternau war mit seinen Gefährten ausgezogen, um diesen Bösewicht zu fangen, er war verschollen. Nun lieferte sich der Seeräuber selbst an das Messer. Er konnte gezwungen werden, alle Geheimnisse von Rodriganda zu enthüllen und auch über das Schicksal Sternaus Auskunft zu geben, falls ihm dasselbe vielleicht bekannt war.
Am Ziel seiner Droschkenfahrt angekommen, erfuhr Kurt, daß Bismarck nicht zu sprechen sei, da er sich gegenwärtig beim König befinde. Kurz entschlossen ließ er sich sofort nach dem königlichen Schloß fahren. Er wurde hier zunächst bedeutet, daß keine Zeit zur Audienz sei. Doch er zuckte die Achsel und erklärte dem diensttuenden Adjutanten:
»Ich muß dennoch auf meiner Bitte bestehen, Herr Oberst!« – »Aber Sie sind nicht in Uniform, Leutnant!« – »Ich hatte keine Zeit, sie anzulegen.« – »Dazu ist unter allen Umständen Zeit. Seine Majestät trägt stets und streng die Uniform. Ich würde einen fürchterlichen Verweis erhalten, wenn ich Sie so meldete, wie Sie dastehen. Übrigens ist seine Exzellenz von Bismarck bei der Majestät.« – »Eben Seine Exzellenz suchte ich. Und daß ich erfuhr, daß sie bei Seiner Majestät zu treffen sei, ist mir lieb. Ich kann Ihnen, Herr Oberst, nur mitteilen, daß es sich um eine höchst wichtige Angelegenheit handelt, die keinen Aufschub erleiden darf. Diese Wichtigkeit gibt mir die Erlaubnis, selbst die bedeutungsvollste Unterredung der beiden hohen Herren zu unterbrechen. Es ist Gefahr im Verzuge, da es sich um die sofortige Verhaftung eines Spions und Landesverräters handelt, und ich würde mich gezwungen sehen, die Verantwortung auf Sie zu wälzen, falls Sie sich weigern, mich zu melden.«
Der Flügeladjutant blickte den jungen Mann, der so zwingend zu sprechen wußte, verwundert an und sagte dann:
»Sie behaupten also, Wichtiges und Unaufschiebbares zu bringen?« – »So ist es.« – »Und wollen diese Angelegenheit dem Grafen von Bismarck in Gegenwart des Königs vortragen?« – »Ja.« – »Nun, wenn Sie das sagen, so bin ich gezwungen, Sie anzumelden. Aber, junger Mann, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie sich und vielleicht auch Ihrer Karriere sehr im Wege stehen, wenn Sie sich bei Seiner Majestät Zutritt erzwingen in einer Angelegenheit, die nicht so wichtig ist, als Sie denken. Die Verantwortung mögen Sie tragen.« – »Gern«, erwiderte Kurt höflich, aber selbstbewußt.
Der Adjutant ging nun in das Gemach seiner Majestät und erschien nach kurzer Zeit wieder. Auf seinen Wink trat Kurt ein. Er befand sich den beiden größten Männern Deutschlands gegenüber.
König Wilhelm hatte damals vor erst einigen Wochen Österreich und Süddeutschland besiegt, er hatte gezeigt, daß er ein würdiger Sohn des großen Friedrich sei und daß er sich im stillen Männer herangebildet habe, die recht wohl die Kraft hatten, die Traditionen seiner großen Ahnen mit Wort und Schwert kräftig zur Geltung zu bringen. Er war zwar noch nicht auf der Höhe seines Ruhmes angelangt, die er einige Jahre später zu Versailles nach einem der blutigsten Kriege der Weltgeschichte erstieg, doch fühlte er sich den Gegnern recht wohl gewachsen, die jetzt, nachdem er seine Feinde niedergeworfen hatte, heimlich und öffentlich gegen ihn machinierten.
Er war mit einem Schlag ein gefürchteter, einflußreicher Monarch geworden, und zwar mit Hilfe des Mannes, der jetzt an seiner Seite stand. Der eiserne Kanzler mit den ihm vom Kladderadatsch angedichteten drei Haaren war die Seele der preußischen Politik. Kein Diplomat wagte einen Schritt zu tun, ohne zuvor bei ihm sondiert zu haben. Er war der Beamte, aber auch der Freund seines erhabenen Monarchen, und sein Auge, das bisher alle Intrigen seiner Feinde durchschaut hatte, blickte jetzt mit Verwunderung auf den jungen, kaum zwanzigjährigen Menschen, der es wagte, sich in so unscheinbarer Kleidung eine Audienz zu erzwingen.
Auch des Königs Auge ruhte in ernster Erwartung auf Kurt, der nach einem ehrfurchtsvollen Gruß ruhig den Blick erhob, um zu warten, bis er angeredet werde.
»Man hat mir den Leutnant Helmers gemeldet?« sagte der König. – »Ich bin es, Majestät«, antwortete Kurt in bescheidenem Ton. – »Von welcher Truppe?« – »Bisher im Dienste Seiner Durchlaucht des Großherzogs von Hessen, jetzt aber eingetreten bei den Gardehusaren Eurer Majestät.«
Das Auge des Königs belebte sich mehr und wurde milder.
»Ah«, sagte er, »mein Kriegsminister hat mir von Ihnen gesprochen. Sie sind sehr warm empfohlen, dennoch aber mag man es in gewissen Kreisen sehr kühn von Ihnen halten, in das Gardekorps eingetreten zu sein.« – »Man hat mich dies bereits merken lassen, Majestät.«
Ein leises, bedauerndes Lächeln ging über das offene Gesicht des Herrschers.
»So haben Sie Ihre Visiten bereits absolviert?« fragte er. – »Ich habe meine Pflicht getan«, antwortete Kurt vielsagend. – »Ich hoffe, daß Sie dieselbe auch weiterhin erfüllen. Wie aber kommen Sie zu einer Kleidung, die hier an dieser Stelle höchst unpassend erscheinen muß?« – »Hier, Majestät, meine Entschuldigung.«
Kurt zog den Vertrag hervor und überreichte denselben mit einer tiefen, ehrfurchtsvollen Verbeugung dem König. Dieser nahm das Schriftstück in Empfang, öffnete es und warf einen Blick darauf. Sofort nahm sein Gesicht den Ausdruck der größten Überraschung an, er trat ans Fenster, las und las, bis er zu Ende war, reichte dann die Blätter dem Grafen von Bismarck hin und sagte:
»Lesen Sie, Exzellenz, lesen Sie! Es ist eine außerordentliche Mitteilung, welche uns da von diesem Herrn gemacht wird.«
Bismarck hatte bis jetzt ganz unbeweglich dagestanden und den Leutnant kaum mit einem oberflächlichen Blick beachtet. Jetzt nahm er die Schrift zur Hand und las sie. Kein Zug seines eisernen Gesichtes verriet den Eindruck, den die Lektüre auf ihn machte. Als er geendet hatte, warf er den ersten, wirklich vollen Blick auf Kurt und fragte:
»Herr Leutnant, wie kommen Sie zu diesem Dokument?« – »Durch Diebstahl, Exzellenz«, antwortete der Gefragte. – »Ah!« lächelte der Minister. »Was nennen Sie Diebstahl?« – »Die rechtswidrige Aneignung fremden Eigentums.« – »So ist es sehr möglich, daß ich Sie vom Verbrechen des Diebstahles freispreche. Mir scheint, diese Papiere seien Eigentum Seiner Majestät, und die Aneignung derselben ist vielleicht auf einem sehr gesetzmäßigen Weg geschehen. Wer war der bisherige Inhaber derselben?« – »General Douay brachte sie einem Mann, der scheinbar ein Amerikaner, in Wirklichkeit aber ein Spion Spaniens ist.« – »Wo befindet er sich?« – »Hier in Berlin, im Gasthof zum Magdeburger Hof. Wenn Majestät und Exzellenz erlauben, bitte ich, den Vorgang, der mich in den Besitz des Dokumentes brachte, berichten zu dürfen.« – »Erzählen Sie!« gebot der König mit gespannter Miene.
Kurt begann seinen Bericht. Er erwähnte, daß der Kapitän von einer ihm sehr werten Person als ein gefährlicher Verbrecher erkannt worden sei, weshalb er sich zu ihm in die Restauration begeben habe, um vielleicht zu erfahren, welche Absicht diesen Menschen nach Berlin geführt habe. Dann folgte das übrige.
Als er geendet hatte, trat der König mit raschen Schritten zu ihm, reichte ihm die Hand und sagte mit außerordentlichem Wohlwollen:
»Sie haben uns einen großen Dienst erwiesen, Leutnant, ich danke Ihnen. Ich lobe es, daß Sie uns das Original brachten und nicht eine Abschrift nahmen. Wir werden uns sofort der Person Douays und dieses Parkerts bemächtigen. Doch wer ist die Person, die in dem letzteren einen gefährlichen Verbrecher erkannte?« – »Frau Sternau, die vormalige Gräfin de Rodriganda.« – »Eine Gräfin Rodriganda jetzt eine einfach Frau Sternau? Wie kommt das?« – »Majestät, dieser einfache Sternau ist jedenfalls der Sohn des Herzogs von Olsunna, der jetzt hier in Berlin wohnt.« – »Das klingt ja höchst interessant!« – »Es ist auch so ungewöhnlich, daß ich es wage, Eure Majestät zu bitten, einen kurzen Umriß der Geschichte dieser Personen gnädigst anzuhören.« – »Sie haben sich ein Anrecht auf unseren Dank erworben, ich geben Ihnen gern die erbetene Erlaubnis. Erzählen Sie!«
Der König gab dem Grafen Bismarck einen Wink, mit ihm Platz zu nehmen. Sie taten es, und Kurt begann, einen kurzen, jedoch hinlänglichen Bericht von den Erlebnissen und Verhältnissen der ihm so nahestehenden Personen zu geben. Die hohen Herren hörten ihm mit wachsender Spannung zu. Als er geendet hatte, erhob sich der König in sichtbarer Erregung und sagte:
»Das ist außerordentlich; das ist ja fast wie ein Roman! Fast sollte man behaupten, daß solche Dinge unmöglich seien! Sie sagen, daß Seine Großherzogliche Hoheit diese höchst interessanten Familien kennt?« – »Allerdings. Sämtliche Bewohner von Schloß Rheinswalden hatten Zutritt am Hof, und Ihre Hoheit interessierten sich ganz vorzüglich für Rosa de Rodriganda.« – »Nun wohl, der Großherzog ist hier anwesend. Ich höre, daß er heute abend Gäste bei sich sieht, und werde diese Gelegenheit benutzen, das, was Sie mir erzählten, zur Sprache zu bringen. Für jetzt will ich Sie entlassen, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen, uns der beiden Emissäre zu bemächtigen. Es freut mich, Sie in meiner Garde zu wissen. Sie haben sich gut bei mir eingeführt und sich so sehr empfohlen, daß Sie meiner Gewogenheit versichert sein dürfen. Glauben Sie, daß ich Sie nicht aus dem Auge lassen werde. Adieu!«
Der König reichte Kurt abermals die Hand, die dieser demütig ergriff, aber im Herzen voll Glück an seine Lippen zog. Auch Bismarck trat heran und gab ihm die Rechte.
»Leutnant«, sagte er, »ich liebe Leute, die bei solcher Jugend bereits so umsichtig und tatkräftig sind, denn diese Jugend verspricht ein dankbares Alter. Wir sehen uns vielleicht nicht zum letzten Male. Für heute aber ersuche ich Sie um Ihre vollste Diskretion. Kein Mensch, merken Sie wohl, kein einziger Mensch außer uns dreien darf wissen, was Sie zu Seiner Majestät führte. Wir wissen jetzt genau, daß der Franzmann den Krieg will, und können uns darauf vorbereiten, dem Feind gerüstet gegenüberzustehen. Das ist viel wert, und das haben wir Ihnen zu danken. Verlassen Sie sich darauf, daß ich Sie nicht vergessen werde. Jetzt gehen Sie mit Gott!«
Kurt verließ das Zimmer und das Schloß. Er dachte nicht an seine Droschke, er wußte nicht, welche Richtung er verfolgte, er war beinahe trunken vor Glück. Er war von diesen beiden mächtigen Männern mit solcher Auszeichnung verabschiedet worden, was kümmerte er sich nun um alle seine Widersacher, vom General an bis zum letzten Leutnant herab. Er hatte ferner die Teilnahme des Königs für die Familie de Rodriganda erregt; es ließ sich hoffen, daß unter einer so hohen Protektion die Forschungen nach dem verschwundenen Sternau von besserem Erfolg als bisher begleitet sein würden.
So ging er, in Gedanken versunken, aufs Geratewohl die Straßen entlang, bis er endlich doch zur Einsicht kam, daß er eine falsche Richtung eingeschlagen habe. Er nahm also einen Fiaker und ließ sich nach Hause fahren.
Dort wurde er mit der größten Ungeduld erwartet. Sie saßen alle im Salon beisammen und empfingen ihn mit liebreichen Vorwürfen wegen seines langen Fortbleibens, das sie sich nicht erklären konnten.
»Wir erwarten dich aus der Restauration da drüben zurück«, sagte der Herzog, »und nun sehen wir, daß du mit einer Droschke angefahren kommst. Wo warst du eigentlich?« – »Das erraten Sie nicht, Durchlaucht«, antwortete er lachend. Und einen Blick auf sich werfend, fuhr er fort: »Sehen Sie dieses Gewand, ein Dorfschulmeister kleidet sich besser, und in diesem Anzug bin ich gewesen …«
Er hielt inne, und der Herzog fiel ein:
»Nun, bei wem?« – »Beim König.« – »Beim König? Unmöglich!« rief es von allen Seiten. – »Allerdings! Beim König und bei Bismarck war ich!« – »Du scherzt!« meinte Olsunna.
Aber Röschen warf einen forschenden Blick auf ihren Gespielen. Sie kannte ihn genau; sie sah seine vor Glück leuchtenden Augen, seine geröteten Wangen und hatte die Überzeugung, daß er nicht im Spaß gesprochen hatte.
»Es ist wahr, er ist beim König gewesen, ich sehe es ihm an!« sagte sie.
Dabei glänzten auch ihre schönen Augen vor aufrichtiger Freude. Sie war stolz darauf, daß Kurt mit so hohen Herren gesprochen hatte.
»Also doch?« fragte ihre Mutter den jungen Mann. – »Ja«, nickte er. – »Mein Gott, in diesem Anzug!« rief der Herzog. »Aber wie kommst du zu der Majestät und zu der Exzellenz?« – »Das darf ich nicht sagen. Ich habe den beiden Herren die größte Verschwiegenheit versprechen müssen, und ich ersuche Sie deshalb, keinem Menschen von einer Audienz zu sprechen. Zu Ihrer Beruhigung jedoch will ich Ihnen sagen, daß ich – ich muß geradezu sagen – mit Auszeichnung entlassen worden bin. Es ist mir gelungen, den Herren einen nicht gewöhnlichen Dienst zu erweisen, und beide haben mir die Hände gedrückt und mir gesagt, daß sie mich nicht aus den Augen verlieren werden.« – »Wie überraschend, wie schön, wie herrlich!« rief Röschen jubelnd.
Dieser Jubel riß Kurt so hin, daß er hinzufügte:
»Bismarck sagte mir sogar, daß er Leute liebe, die bei solcher Jugend so umsichtig und tatkräftig seien. Ich mußte viel erzählen, von Spanien, von Rodriganda, alles, alles, und nun will der König mit dem Großherzog sprechen. Jedenfalls werden Sie alle vorgestellt, und wir dürfen unter königlichem Schutz hoffen, daß unsere Nachforschungen endlich Erfolg haben werden.« – »Das gebe Gott!« sagte Rosa de Rodriganda. »Aber du gingst, um mit dem Kapitän zu sprechen. Wo ist er? Wo hast du ihn gelassen?« – »Er wird in diesem Augenblick gefangen sein«, antwortete Kurt.
7. Kapitel
Kurt hatte sich in seiner Annahme geirrt. Während er den Seinen über sein Gespräch mit Parkert und sein Verweilen im Magdeburger Hof so viel erzählte, als sich mit der angelobten Diskretion vereinigen ließ, hatte der Kapitän das Gasthaus wieder betreten. Die Unterredung mit dem Gesandten Rußlands war nur von kurzer Dauer gewesen. Er kehrte zurück und dachte, als er sein Zimmer betrat, sofort an das wichtige Dokument.
Er öffnete das Handköfferchen, um es noch einmal genauer durchzulesen, als es in Gegenwart des französischen Generals möglich war. Da fuhr er erschrocken zurück – das Dokument war verschwunden. Er suchte im Köfferchen mit fliegender Hast nach – es fand sich nicht mehr. Er suchte im Zimmer, obgleich er genau wußte, daß er die Schrift in das Köfferchen eingeschlossen hatte, da ihn ja auch der General gefragt, ob sie da sicher aufgehoben sei – vergebens. Nun klingelte er. Die Kellnerin erschien. Sie hatte den Hauptschlüssel wieder an seinen Ort gebracht und auch das reiche Geldgeschenk gefunden.
»War während meiner Abwesenheit jemand hier?« fragte er sie. – »Nein, es hat niemand nach Ihnen gefragt«, antwortete sie. – »Ich meine, ob jemand hier in diesem Zimmer war?« – »Nein.« – »Und doch muß irgendwer hier gewesen sein!« – »Wie wäre das möglich? Sie verschließen ja Ihr Zimmer.« – »Es wird wohl einen Hauptschlüssel geben, an den ich früher nicht gedacht habe. Ich bin bestohlen worden, schändlich bestohlen!« – »Bestohlen?« fragte sie, indem sie vor Schreck erbleichte.
Das mußte ein Versehen sein. Sie konnte Leutnant Helmers unmöglich für einen Dieb halten.
»Sie erschrecken, Sie erbleichen!« rief der Kapitän. »Sie sind es selbst gewesen! Sagen Sie, wo Sie das Dokument haben! Ich muß es wiederhaben, sogleich, sogleich!«
Bei dem Wort ›Dokument‹ faßte sich das Mädchen sofort. Es handelte sich also nicht um einen gewöhnlichen Diebstahl. Es war eine Schrift abhanden gekommen. Hatte der Leutnant dieselbe an sich genommen, so war er jedenfalls berechtigt dazu gewesen; aber verraten wollte sie ihn nicht.
»Ich?« sagte sie. »Was fällt Ihnen ein! Auf diese Art und Weise kommen Sie mir nicht, Herr Kapitän! Wo haben Sie das Dokument gehabt?« – »Hier in dem kleinen Koffer.« – »War er denn nicht verschlossen?« – »Ja doch.« – »Und Sie bilden sich ein, daß ein ehrliches Mädchen Ihren Koffer aufsprengt?« – »Aufgesprengt ist er nicht, sondern aufgeschlossen«, fiel er ein. – »Woher soll man den Schlüssel haben, der gerade zu Ihrem Koffer paßt!« – »Einen Dietrich …« – »Lassen Sie sich nicht auslachen! Ein Kellnermädchen wird einen Dietrich haben! Ich werde gleich zum Wirt gehen und ihm sagen, daß Sie mich, seine Verwandte, zur Diebin machen wollen!« – »Ja, gehen Sie! Rufen Sie den Wirt. Das Dokument muß auf alle Fälle wieder herbeigeschafft werden.«
Sie ging, während er in höchster Erregung und Verlegenheit im Zimmer umherlief. Eben, als sie den Hausflur erreichte, traten mehrere Herren ein, und ein Blick, den sie zufällig durch das Tor warf, zeigte ihr, daß sich einige Polizisten vor dasselbe postiert hatten. Einer der Herren fragte sie:
»Sind Sie hier Kellnerin?« – »Ja«, antwortete sie. – »Wo ist der Wirt?« – »In der Küche.« – »Zeigen Sie mir ihn!«
Sie führte den Herrn in die Küche und sagte ihm, welcher der Anwesenden der Besitzer des Gasthofes sei. An ihn wandte sich nun der Herr:
»Bei Ihnen logiert ein Fremder, der sich als Kapitän Parkert eingetragen hat?« – »Ja, mein Herr.« – »Das stimmt. Sie haben Ihre Meldung richtig eingegeben; ich habe im Fremdenverzeichnis der Polizei nachgesehen. Hier ist eine Medaille, die mich als Beamten der Polizei legitimiert. Ist der Kapitän anwesend?«
Der Wirt nahm die vorgezeigte Medaille in Augenschein, nickte und antwortete:
»Er ist eben nach Hause gekommen. In Nummer zwölf, eine Treppe finden Sie ihn.« – »Gut. Ich hole ihn ab. Aber befehlen Sie Ihrem Personal, nicht davon zu sprechen.«
Damit verließ der Beamte die Küche und stieg die Treppe hinauf. Seine beiden Begleiter postierten sich, der eine unten und der andere oben an der Treppe, während die Polizisten in den Flur traten. Die Nummer zwölf war leicht gefunden. Der Beamte klopfte und trat auf den von innen erfolgten Zuruf ein.
»Endlich!« rief der Kapitän ungeduldig. »Sind Sie der Wirt?« – »Nein, Herr Kapitän.« – »Ah! Wer sonst?« fragte Parkert erstaunt. – »Ich habe das Vergnügen, Beamter der hiesigen Polizei zu sein.«
Der Kapitän erschrak, faßte sich aber schnell und sagte:
»Ah, das ist mir recht, mein Herr. Ich bin nämlich bestohlen worden …« – »Bestohlen? Hm!« machte der Beamte lächelnd. »Was ist Ihnen abhanden gekommen?« – »Ein Dokument, ein sehr wichtiges Dokument.« – »Dann irren Sie sich. Dieses Dokument ist Ihnen nicht gestohlen worden, sondern es wurde konfisziert.«
Parkert trat einen Schritt zurück. Es war ihm, als habe der Blitz vor ihm eingeschlagen.
»Konfisziert?« stammelte er. »Von wem?« – »Das braucht nicht erörtert zu werden.« – »Aber wer hat das Recht, während meiner Abwesenheit meine Behältnisse zu öffnen?« – »Jeder brave Bürger, dem daran liegt, sein Vaterland vor Verrat zu behüten. Kapitän Parkert, oder wie Sie sonst heißen mögen, folgen Sie mir; Sie sind mein Gefangener!«
War Parkert vorhin erschrocken, so kehrte jetzt im Augenblick der offenen Gefahr seine Kaltblütigkeit zurück. Er sah ein, daß er verloren sei, falls man ihn gefangennähme; er mußte fliehen. Aber wie? Der Korridor war jedenfalls besetzt, die Straße vielleicht nicht; dorthin, also durch das Fenster, ging der einzige Rettungsweg. Der Beamte mußte übertölpelt werden. Es handelte sich darum, an ihn heranzukommen, ohne Verdacht zu erregen, denn Parkert konnte sich wohl denken, daß er irgendeine Waffe bei sich trage. Er machte darum ein sehr erstauntes Gesicht, ergriff seinen Koffer, öffnete ihn und sagte:
»Herr Kommissar, das muß ein Irrtum sein. Blicken Sie in diesen Koffer! Die darin befindlichen Empfehlungen und Legitimationen werden Ihnen beweisen …«
Weiter sprach er nicht. Er hatte sich dem Beamten langsam genähert; er stand hart vor ihm, ihm den Koffer hinhaltend. Bei dem Wort ›beweisen‹ aber ließ er den letzteren fallen und schlang seine Hände mit solcher Gewalt plötzlich um den Hals des Beamten, daß diesem, der einen solchen Überfall nicht erwartet hatte, der Atem verging. Sein Gesicht wurde blau; seine Hände griffen konvulsivisch in die Luft; seine Glieder zitterten; die Arme sanken herab, und dann ließ ihn Parkert zu Boden gleiten. Der Polizist war zwar nicht tot, aber beinahe erwürgt; er hatte die Besinnung verloren.
»Ah, bereits halb gerettet!« murmelte Parkert. »Was ist so eine Landratte gegen Kapitän Grandeprise, auch zuweilen Landola genannt! Aber meine Rolle ist hier ausgespielt. Ich muß General Douay warnen, den sie suchen werden. Er ist glücklicherweise so klug gewesen, sich ein Privatlogis zu nehmen. Wer aber hat das Dokument genommen? Hätte er die anderen Papiere mit erwischt, so wären alle meine Geheimnisse verraten gewesen.«
Er verschloß das Köfferchen und trat, dasselbe in der Hand, an das Fenster, das er öffnete. Das Trottoir war augenblicklich frei von Passanten und ein Polizist nicht zu sehen. Eine einzige Droschke hielt vor dem Nachbarhaus. Der Kutscher stand daneben. Parkert stieg auf das Fensterbrett. Der Sprung war hoch, aber für einen Seemann nicht gefährlich. Ein Schwung – Parkert stand auf dem Trottoir, ohne daß jemand, nicht einmal der Droschkenkutscher, gesehen hatte, daß hier einer aus dem Fenster gesprungen sei.
Noch immer das Köfferchen in der Hand, trat Parkert ruhig an die Kutsche, stieg ein und befahl: »Friedrichstraße 24.«
Im nächsten Augenblick rollte die Droschke davon. Da es zunächst galt, die Spur zu verwischen, so ließ er die Droschke halten, noch ehe sie die genannte Straße erreicht hatte, bezahlte die Taxe und schritt zu Fuß weiter. Dann, nachdem er einige Gassen und Gäßchen durcheilt hatte, nahm er einen zweiten Fiaker und gab diesem die genaue Adresse an. Bei derselben ausgestiegen, ließ er den Kutscher warten, stieg eine Treppe empor, klopfte an die Tür und trat ein, als er von innen ein lautes, gebieterisches »Entrez!« vernahm. Er stand vor General Douay.
»Sie, Kapitän?« fragte dieser. »Was wollen Sie so bald?« – »Sie warnen, Exzellenz«, lautete die Antwort. »Sie müssen augenblicklich fliehen.« – »Weshalb?« – »Wir sind verraten.« – »Unmöglich!« – »Wirklich! Ich bin der Polizei nur dadurch entkommen, daß ich den Kommissar niederschlug und dann durch das Fenster meines Zimmers auf die Straße sprang.« – »Horrible! Wer hat uns verraten?« – »Ich weiß es nicht.« – »Und Ihre Papiere?« – »Das Memorial ist konfisziert.«
Der General hatte sich nicht gefürchtet, jetzt aber erbleichte er doch.
»So sind wir verloren, wenn man uns ergreift«, sagte er. »Sie müssen eine fürchterliche Dummheit begangen haben. Sie sollen mir unterwegs erzählen.« – »Sie wollen mit mir reisen?« – »Es ist das beste. Ich komme nicht über die russische Grenze. Wir müssen nach Sachsen, doch nicht mit der Bahn, da würde man uns ergreifen.« – »Ich habe eine Droschke unten.« – »Gut. Wir fahren mit ihr ab, wechseln aber öfters, ehe wir aus der Stadt kommen; dann werden wir weitersehen. Haben Sie Ihr Geld gerettet?« – »Ja.« – »Ich muß den Koffer zurücklassen, denn meine Barschaft ist bedeutend genug, um mich das verschmerzen zu lassen. Vorwärts!«
Er steckte sein Portefeuille zu sich, ergriff Hut und Überrock und verließ die Wohnung, die er sich genommen hatte, um diplomatische Erfolge zu erzielen. Die Droschke trug die beiden Flüchtlinge davon.
8. Kapitel
Es war am Abend desselben Tages. Das Lokal des Offizierskasinos der Garde war hell erleuchtet und voll besetzt. Man ahnte, daß Leutnant Helmers erscheinen werde, und hatte sich deshalb in voller Zahl eingefunden, um ihm in pleno zu zeigen, daß man mit ihm nichts zu tun haben wolle.
Die älteren Offiziere hatten sich am hinteren, großen Tisch zusammengefunden, während die jüngeren die anderen Plätze besetzt hatten und sich lebhaft unterhielten.
Leutnant Ravenow, der Don Juan des Regiments, spielte mit Golzen und Platen eine Partie Karambolage. Er hatte soeben wieder einen sehr leichten Ball nicht gemacht und stieß das Queue unmutig zur Erde.
»Alle Teufel, geht mir dieser Ball hinten weg!« meinte er. »Verfluchtes Pech im Spiel!« – »Desto größeres Glück in der Liebe«, lachte Platen. »So viel aber ist gewiß, daß du heute mit dem Kapitän Parkert nicht spielen darfst. Du bist zu zerstreut und er ist ein Meister. Schone deine Börse.« – »Parkert?« fragte Golzen halblaut. »Pah, der kommt nicht« – »Nicht? Warum?« – »Oh, mit dem haben wir uns göttlich blamiert!« – »Möchte wissen, inwiefern!« – »Hm! Man soll nicht davon reden«, flüsterte Golzen wichtig. – »Auch nicht gegen Kameraden?« – »Nur gegen verschwiegene allenfalls.« – »Zu denen wir jedenfalls gehören. Oder nicht? Erzähle!« – »Nun, ihr wißt daß ich zuweilen bei Jankows bin …« – »Beim Polizeirat? Ja. Man sagt, daß du seiner Jüngsten den Hof machst.« – »Oder sie mir. Kurz und gut, ich war auch heute dort, und da habe ich denn erfahren, daß dieser Kapitän Parkert sozusagen ein politischer Schwindler ist, und nicht bloß das, sondern sogar ein wirklicher, ausgefeimter, gefährlicher Verbrecher.«
Ravenow hatte eben das Queue angelegt, um einen Stoß zu tun. Er hielt erstaunt inne, blickte den Sprecher an und sagte:
»Du scherzt, Golzen!« – »Scherzen? Fällt mir gar nicht ein! Oder arretiert man vielleicht einen Menschen, den man für einen außergewöhnlichen, vornehmen Kerl gehalten hat, ohne vorher zwingende Beweise in der Hand zu haben?« – »Donnerwetter! Er ist arretiert worden?« – »Man wollte ihn arretieren.« – »Ah, man hat es aber nicht getan!« – »Weil er ausgerissen ist!« – »Echappiert? Parkert? Der bei uns Zutritt hatte? Weißt du das gewiß?« – »Ebenso genau, als daß er den Kommissar, der ihn holen sollte, bis zur Besinnungslosigkeit gewürgt hat und dann einen Stock hoch durch das Fenster gesprungen ist.« – »Alle Teufel, das ist ein Affront! Wer hätte das diesem so solid scheinenden Kerl zugetraut. Wir haben ihm hier trotz seiner bürgerlichen Abstammung Zutritt gegeben, weil er ein Yankee war und die Nordamerikaner ja keinen Adel haben. Aber so ist es stets: Gibt man sich mit Pack ab, so ist man auf alle Fälle blamiert. Wir haben nun desto größere Verpflichtung, uns gegen diesen Kameraden Helmers streng ablehnend zu verhalten.« – »Mir scheint«, meinte Platen, der bereits beim Major Kurts Partei genommen hatte, »daß zwischen einem flüchtigen Verbrecher und einem brav gedienten Offizier denn doch ein kleiner Unterschied zu machen ist.« – »Pöbel bleibt Pöbel, ob in Zivil oder in Uniform, das bleibt sich gleich«, antwortete Ravenow. »Man muß ihm den Dienst verleiden. Man muß dafür sorgen, daß er so bald wie möglich seine Versetzung fordert.«
In diesem Augenblick trat der Oberst seines Regiments ein. Er wurde hier nicht sehr oft als Gast gesehen. Er kam gewöhnlich nur dann, wenn er irgendeine dienstliche Angelegenheit in freundlich-kameradschaftlicher Weise behandeln wollte. Daher ahnte man bei seinem Eintritt sogleich, daß es sich um irgendeine Mitteilung handle, die geeignet sei, das Interesse seiner Offiziere in Anspruch zu nehmen.
Er setzte sich zu den älteren Herren am letzten Tisch, ließ sich ein Glas Wein geben und musterte die Anwesenden, die ihn in dienstlicher Haltung begrüßt hatten. Seine Untergebenen warteten auf seine Erlaubnis, ihre vorherige Beschäftigung fortsetzen zu dürfen. Sein Blick fiel auf Ravenow, der trotz seiner Leichtlebigkeit sein erklärter Günstling war.
»Ah, Ravenow«, sagte er, »spielen Sie immerhin Ihre Partie aus, aber sodann keine weitere.« – »Ah, Herr Oberst, ich bin im Verlust, muß also um Revanche ersuchen«, antwortete der Leutnant. – »Heute nicht; schonen Sie Ihre Beine und Ihre Kräfte!« – »So gibt es morgen wohl Extraübung?« – »Ja, aber nicht zu Pferde, sondern zu Fuß, und zwar mit jungen Damen im Arm.«
Bei diesen Worten hoben alle die Köpfe empor.
»Ja«, lachte der Oberst, »da gucken die Herren! Ich will Ihre Wißbegierde auf keine allzu harte Probe stellen, sondern Ihnen sogleich den Sachverhalt mitteilen, damit ich dann ungestört meine Partie Whist spielen kann.«
So abweisend er sich gegen Kurt benommen hatte, so umgänglich konnte er sein, wenn er wollte und wenn er sicher war, seiner Ehre keinen Schaden zu tun. Als jetzt die Herren sich näher um seinen Tisch zusammenzogen, meinte er
»Ja, es wird morgen eine leidliche Fußübung geben; man nennt diese Art Exerzieren gewöhnlich Ball.« – »Ein Ball, eine Soiree, wo, wo?« fragte es überall. – »An einem Ort, an den Sie am allerwenigsten denken werden, meine Herren. Hier habe ich ein ganzes, großes Kuvert voll Einladungskarten, die ich an sämtliche Offiziere meines Regiments und deren nähere Kameraden verteilen soll. Es sind im ganzen sechzig Karten, und die Damen sich auch mit geladen.« – »Aber von wem?« fragte ein Major, der neben dem Oberst saß. – »Ich wette zehn Monatsgagen, Herr Kamerad, daß Sie es nicht erraten. Denken Sie sich mein Erstaunen, als ich bei Anbruch des Abends dieses Kuvert erhielt, den Inhalt bemerkte und dabei folgendes Schreiben fand:
»Herrn Baron von Winslow, Oberst des ersten Gardehusarenregiments.
Herr Oberst!
Seine Majestät der König sind so freundlich gewesen, mir die Wohn– und Gartenräume Seines königlichen Schlosses Monbijou zu einer Soiree dansante – Abendgesellschaft mit Tanz —, die ich morgen abzuhalten gedenke, zur Verfügung zu stellen. Ich sende Ihnen die beifolgenden Karten, um sie an die Offiziere Ihres Regiments und deren nähere Kameraden zu verteilen, und bin überzeugt, daß ich Sie mit Ihrer Frau Gemahlin nebst Töchtern sowie auch die Damen der Herren Offiziere bei mir sehen werde.
Ihr wohl affektionierter
Ludwig III.
Großherzog von Hessen-Darmstadt«
Als der Oberst das großherzogliche Schreiben wieder zusammenfaltete und sein Auge über die Zuhörer schweifen ließ, begegnete er auf allen Gesichtern dem Ausdruck des Erstaunens.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte der bereits erwähnte Major. – »Diese Frage habe ich mir auch vorgelegt, aber ohne eine Antwort zu finden. Meine Frau – und die Herren wissen, daß die Frauen sich für äußerst scharfsinnig halten —, meine Frau meinte, daß es von oben her im Werke sei, dem Großherzog unser Husarenregiment zu verleihen. Er hat im vergangenen Krieg Preußen feindlich gegenübergestanden, und nun will Seine Majestät ihn vielleicht durch eine solche Auszeichnung an sich ketten.« – »Wie ich höre, wurde er heute telegrafisch nach Berlin gerufen«, wagte Leutnant Golzen zu bemerken. – »Woher wissen Sie das?« fragte der Oberst schnell. – »Sie wissen, Herr Oberst, daß die Herren Diener untereinander strenge Fühlung haben, und der meinige ist ein Schlaukopf, der voller Neuigkeiten steckt, wie eine Zeitung.« – »Diese telegrafische Einladung ließe, wenn sich ihre Wahrheit bewährte, auf wichtige diplomatische Konstellationen schließen. Man beginnt, sich huldvoll gegen die Südstaaten zu zeigen, man will sie also fesseln. Meine Herren, ich glaube, wir werden in einiger Zeit nach Frankreich reiten. Wenn das nur recht bald geschähe, wir sind gerade jetzt im rechten Zug. Aber zerbrechen wir uns nicht den Kopf. Die Sache ist, daß wir eingeladen sind und einen amüsanten Abend haben werden. Die Räume von Monbijou haben uns noch nie zur Verfügung gestanden; es wird uns da eine Auszeichnung zuteil, um die man uns beneiden wird. Wir werden dankbar sein, und ich bin überzeugt, daß die Herren, besonders die jüngeren, alle ihre Liebenswürdigkeit entfalten werden. Jetzt wollen wir zur Verteilung der Karten schreiten.« – »Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Oberst, ob dieser Leutnant Helmers auch ein Exemplar erhalten wird?« fragte Ravenow.
Diese Erkundigung war eine Keckheit, dennoch aber antwortete der Gefragte in freundlichem Ton:
»Weshalb erkundigen Sie sich, lieber Ravenow?« – »Weil ich niemals eine Soiree besuchen würde, auf der obskure Menschen erscheinen.« – »Dann brauchten Sie lieber gar nicht zu fragen, denn wir alle hegen dieselben Grundsätze und Ansichten wie Sie. Übrigens tritt dieser Helmers erst morgen an, heute aber bereits werden die Karten verteilt, er geht uns also noch gar nichts an. Hier, lieber Branden, haben Sie die Karten. Besorgen Sie die Verteilung.«
Der Adjutant nahm das Kuvert in Empfang, gab jedem der Anwesenden eine der Einladungen und hob die übrigen für diejenigen auf, die nicht zugegen waren.
Kaum war er damit fertig, so ging die Tür auf, und Kurt trat ein. Aller Augen richteten sich auf ihn, glitten aber sogleich wieder von ihm fort, so daß er merken mußte, daß man nichts von ihm wissen wolle.
Er ließ sich aber dadurch nicht beirren, behielt den Tschako auf und schritt sporenklirrend auf den ältesten der anwesenden Offiziere zu. Dies war Oberst Winslow. Vor ihm hielt er an, schlug die Fersen zusammen, legte die rechte Hand grüßend an die Kopfbedeckung, die linke an den Schenkel und sagte:
»Leutnant Helmers, Herr Oberst. Ich bitte um die Freundlichkeit mich den Herren Kameraden vorzustellen!«
Der Oberst hatte die Whistkarten in der Hand, drehte sich langsam um, tat, als ob er ihn nicht verstanden habe, und fragte:
»Wie? Was wollen Sie?« – »Ich erlaube mir die Bitte, mich den Herren vorzustellen, Herr Oberst.«
Der Oberst zog die Augenbrauen hoch empor, sah Kurt langsam vom Kopf bis zum Fuß an und sagte:
»Vorstellen? Ah! Wer sind Sie?«
Auf allen Gesichtern war Schadenfreude zu bemerken; nur Leutnant Platen errötete vor Verdruß darüber, daß man einen braven, jungen Mann in dieser Weise beleidigte.
Alle wußten, daß sich jetzt entscheiden müsse, was Helmers für ein Charakter sei. Kein Kavalier konnte diesen Schimpf gut auf sich sitzen lassen. Es waren abermals aller Augen auf Kurt gerichtet. In dem Gesicht desselben zuckte keine Miene, und mit vollständig fester Stimme sagte er:
»Ihr Herr Adjutant, Oberleutnant von Branden, ist Zeuge, daß ich mich Ihnen heute vorgestellt habe. Ich bin gern bereit, einem schwachen Gedächtnis, wo ich es finde, zu Hilfe zu kommen: Ich bin Leutnant Helmers, Herr Oberst.«
Da fuhr der Oberst von seinem Sitz auf und rief:
»Donnerwetter, was meinen Sie, Herr Heller, Hellers, Helmers oder wie Sie heißen! Wer hat ein schwaches Gedächtnis, he?«
Kurt ließ die rechte Hand vom Taschko fallen, lächelte sehr freundlich und antwortete:
»Ich stelle es ganz in das Belieben des Herrn Obersten, zu erklären, ob mein Name aus wirklicher, unschuldiger Gedächtnisschwäche oder aus Absicht vergessen worden ist. Im letzteren Fall werde ich den Herrn Kriegsminister, Exzellenz, ersuchen, mich dem Herrn Oberst vor der Front des Regiments eklatanter vorzustellen, und ich gebe hiermit mein Ehrenwort, daß die Exzellenz dies tun wird.«
Der Oberst erbleichte. Er hatte das Empfehlungsschreiben des Ministers gelesen; er sah jetzt in die freundlichen, selbstbewußten Augen des jungen Mannes, und es ging ihm die Ahnung auf, daß er es hier mit einem geistig wenigstens ebenbürtigen Gegner zu tun habe.
Wie jetzt die Sache stand, mußte selbst ein parteiisches Urteil dahin gefällt werden, daß der Leutnant von seinem Obersten verleugnet, also fürchterlich beleidigt worden sei.
Helmers stand ganz so da, als ob er diese Beleidigung durch eine Forderung beantworten werde, und das hätte den Obersten bei seinen Vorgesetzten in fürchterlichen Mißkredit bringen müssen.
Junge Leutnants mögen sich fordern und schlagen und dann zur Strafe auf die Festung gehen, wenn aber ein alter Oberst einen der jüngsten Offiziere zu einer Forderung förmlich zwingt, so ist er wert, degradiert zu werden.
Dies bewog den Obersten einzulenken. Er sagte:
»Was Gedächtnisschwäche, was Absicht! Dort steht Adjutant von Branden. Er mag Sie vorstellen.«
Er glaubte, genug getan zu haben, denn mit dem Ausdruck Gedächtnisschwäche war er ja auch beleidigt worden. Freilich gab er sich jetzt vor allen Anwesenden dadurch, daß er tat, als ob er diese Beleidigung gar nicht gefühlt habe, eine große Blöße. Er meinte nun, die Angelegenheit erledigt zu haben, und setzte sich. Kurt jedoch blieb vor ihm stehen und sagte mit lauter, sicherer Stimme:
»Halten zu Gnaden, Herr Oberst. Ich habe eine Bemerkung zu machen.« – »Nun?« fragte der Oberst, indem er ihm das vor Zorn und wohl auch vor Verlegenheit gerötete Gesicht zuwandte. »Fassen Sie sich kurz!« – »Das werde ich, denn Kürze ist meine Eigenheit, wie Sie bald bemerken werden. Ich bin nicht aus eigenem Antrieb aus meinen bisherigen Verhältnissen geschieden, sondern ganz allein nur auf höhere Anregung zur preußischen Garde versetzt worden. Ich kenne die exklusiven Traditionen des Gardekorps, aber ich habe gemeint, daß, wenn die Herren Kameraden sich mir, der ich im letzten Feldzug als großherzoglich-hessischer Offizier meine Schuldigkeit getan habe, auch nicht gerade in warmer Freundschaft anschließen würden, man mich doch ohne gewaltsame Provokationen meinen Weg gehen lassen werde. Heute aber habe ich bei den meisten der Herren, denen ich mich dienstlich vorzustellen hatte, eine geradezu zurückweisende, fast empörende Aufnahme gefunden. Darum war ich allerdings darauf gefaßt, auch hier nicht willkommen geheißen zu werden. Ich bin kein Freund von Ungewißheiten. Ich muß wissen, ob man mich als Kamerad anerkennt oder nicht. Und so mag es sich gleich in diesem ersten Augenblick entscheiden, ob mir mein Weg gefälligst freigelassen wird oder ob ich ihn mir zu erkämpfen habe. Herr Oberst, ich bin von Ihnen verleugnet worden. Ich muß unbedingt wissen, ob dies aus Gedächtnisschwäche oder mit Absicht geschah. Wollen Sie die Güte haben, mir meine Frage zu beantworten?«
Es war kein einziger der Anwesenden sitzen geblieben, sie alle hatten sich erhoben. So war hier noch nie gesprochen worden. In dieser Weise hatte noch nie ein Leutnant mit dem Chef seines Regiments zu reden gewagt. Sie waren ihm alle feindlich gesinnt, und dennoch mußten sie ihn ob seiner Kühnheit hochachten.
Wie jetzt die Sache stand, mußte der Oberst entweder sich für gedächtnisschwach erklären – und dies wäre eine ganz entsetzliche Blamage gewesen – oder er mußte gestehen, daß er die Absicht gehabt habe, den Leutnant zu beleidigen – und das mußte unbedingt zu einem Waffengang führen, ebenfalls eine Blamage für den Obersten, für den es in diesem Fall nur den einzigen Ausweg gab zu erklären, daß er einen Bürgerlichen nicht für satisfaktionsfähig halte.
Der junge Leutnant hatte den langgedienten, adelsstolzen Oberst in seiner eigenen Schlinge gefangen, und alle waren neugierig zu hören, was der letztere sagen werde.
Dieser stand ganz perplex vor seinem Stuhl, er hatte die Kontenance verloren, denn ein solches Auftreten dieses Menschen, den er leicht beseitigen zu können gemeint hatte, war ihm ganz undenkbar gewesen. Endlich meinte er.
»Und wenn ich Ihnen die Antwort verweigere?« – »Das werden Sie nicht. Eine solche Verweigerung wäre eine bodenlose Feigheit, aber ich hoffe, daß Sie Mut genug haben, mit einem bürgerlichen Leutnant zu sprechen!«
Dies war dem Obersten denn doch zu viel; dies gab ihm seine Fassung wieder.
»Ja, Sie haben recht«, sagte er stolz. »Sie sind nicht der Mann, vor dem man sich fürchtet. Ich erkläre Ihnen also, daß ich Sie absichtlich verleugnete.« – »Ich danke Ihnen, Herr von Winslow. Ich will Ihr Alter berücksichtigen und diese Angelegenheit nicht vor die dienstliche Behörde bringen, aber Genugtuung muß ich mir erbitten. Erlauben Sie, daß ich Ihnen morgen meinen Bevollmächtigten sende.« – »Pah, ich schlage mich mit keinem Bürgerlichen!« – »Das wäre eine sehr wohlfeile Weise, sich der Verantwortung zu entziehen. Nehmen Sie meinen Bevollmächtigten nicht an, so mag ein Ehrengericht entscheiden, ob ein Mann, der die Offiziersuniform Seiner Majestät trägt, nicht satisfaktionsfähig sei. Wird auch da gegen mich entschieden, so zeige ich Sie bei Ihrem Vorgesetzten ganz einfach des Ungehorsams gegen Ihre Oberen und der absichtlichen, gewaltsamen Aufreizung Ihrer Untergebenen an. Ich bin noch nicht halb so alt wie Sie, aber ich lasse Sie nicht entschlüpfen.«
Er drehte sich scharf auf dem Absatz herum und schritt zur Wand, an der er Säbel und Tschako aufhängte, dann nahm er eine Zeitung vom Fenster weg und sah sich nach einem Platz um.
Kein einziger hätte nach dieser Probe von Mut und Energie es jetzt gewagt, ihm einen Sitz zu verweigern, aber man rückte zusammen, um ihn nicht zum Nachbarn zu bekommen.
Nur einer blieb sitzen und hielt das Auge freundlich und einladend auf ihn gerichtet, nämlich Leutnant Platen. Kurt bemerkte den wohlwollenden Blick und trat zu ihm.
»Erlauben Sie mir den Platz an Ihrer Seite, Herr Leutnant?« fragte er. – »Recht gern, Kamerad«, antwortete Platen, ihm die Hand reichend. »Mein Name ist Platen. Seien Sie mir willkommen!«
Kurt blickte in das offene, ehrliche Auge des Sprechers, dessen Blick ihm so wohl tat, und sagte:
»Ich danke Ihnen herzlich. Man hat es zwar unterlassen, mich vorzustellen, aber mein Name ist doch genannt worden. Herr von Platen, darf ich Sie um die Namen dieser Herren bitten?«
Noch immer herrschte tiefe Stille im Raum, so daß man deutlich jeden Namen hörte, den Platen aussprach. Am hinteren Tisch herrschte die Ruhe nach einem Donnerschlag, an den anderen Plätzen hatte man alle möglichen Zeitungen und sonstige Hilfsmittel ergriffen, um die Peinlichkeit der Situation zu neutralisieren. Die Herren an Kurts Tisch, deren Namen genannt wurden, nickten verlegen mit dem Kopf, während dieser sie mit einer Verneigung begrüßte. Nur Ravenow blieb der alte, er griff zum Queue und meinte laut:
»Komm, Golzen, setzen wir unsere Partie fort. Wie steht es, Platen? Du bist ja der dritte.« – »Danke, ich verzichte«, antwortete dieser.
Ravenow zuckte die Achsel und spottete:
»Pah! Das nenne ich den Champagner wegen eines Glases Essig verlassen!«
Kurt tat, als ob er diesen beleidigenden Vergleich nicht auf sich beziehe, und wurde darin von Platen unterstützt, denn dieser griff nach einem Schachbrett und fragte:
»Spielen Sie Schach, lieber Helmers?« – »Unter Kameraden, ja.« – »Nun, ich bin ja Ihr Kamerad. Legen Sie die Zeitung fort und versuchen Sie es einmal mit mir. Die Ehrlichkeit erfordert aber, Ihnen zu sagen, daß ich hier für unbesiegbar gehalten werde.« – »So muß ich ebenso ehrlich sein«, lachte Kurt. »Hauptmann von Rodenstein, mein Pflegevater, war ein Meister. Er gab mir so vortrefflichen Unterricht, daß er jetzt keine Partie mehr gewinnt.« – »Ah, das ist recht, denn da dürfen wir endlich einmal einer interessanten Partie entgegensehen. Kommen Sie!«
Durch diesen kleinen Streich hatte Platen den Bann gehoben. Am hinteren Tisch begann der Whist von neuem, vorn klapperten die Billardbälle, und dazwischen hatten die Züge auf dem Schachbrett in Zeit von zehn Minuten einen so spannenden Verlauf genommen, daß sich die Offiziere einer nach dem anderen erhoben, um dem Spiel zuzuschauen. Sie gewahrten mit Verwunderung, daß Kurt seinem Gegner überlegen sei; er gewann die erste Partie.
»Ich gratuliere«, sagte Platen. »Das ist mir lange nicht passiert. Wenn es wahr ist, daß ein tüchtiger Stratege auch ein guter Schachspieler sei, so sind Sie jedenfalls ein höchst brauchbarer Offizier.«
Kurt fühlte, daß der gute Platen diese freundlichen Worte sprach, um ihm Boden zu gewinnen, und antwortete ablehnend:
»Man darf bekanntlich die Schlüsse nicht umkehren. Ist ein guter Stratege auch ein guter Schachspieler, so ist es doch noch nicht notwendig, daß ein feiner Schachspieler auch ein tüchtiger Offizier sein muß. Übrigens haben Sie in der ersten Partie wohl nur meine Kräfte kennenlernen wollen. Versuchen wir eine zweite. Ich ahne, daß ich sie verlieren werde.« – »Sie dürften sich irren. Doch apropos, Sie nannten da einen Hauptmann von Rodenstein. Ist dieser Herr vielleicht Oberförster im Dienst des Großherzogs von Hessen?« – »Allerdings.« – »Ah, so kenne ich ihn. Er ist ein alter, knorriger Haudegen, ebenso grob wie ehrlich, und soll bei seinem Landesherrn gut angeschrieben stehen.« – »Diese Charakteristik ist allerdings sehr zutreffend.« – »Ich lernte ihn bei meinem Onkel in Mainz kennen, der sein Bankier ist.« – »Sein Bankier? Dieser heißt Wallner, so viel ich weiß.« – »Das ist richtig. Ich muß Ihnen nämlich erklären, daß meine Tante, die Schwester meiner Mutter, eine sogenannte Mesalliance eingegangen ist. Sie hat diesen Wallner, also einen Bürgerlichen, geheiratet, der infolgedessen auch ein Verwandter ihres und meines Majors geworden ist, denn der letztere ist mein Cousin.«
Die anderen Herren warfen einander erstaunte Blicke zu. Was fiel denn Platen ein, mit solcher Offenheit diese Familienverhältnisse darzulegen und damit den Major bloßzustellen? Kurt aber verstand die Absicht. Platen wollte ihm Satisfaktion geben für die Aufnahme, die er bei Majors gefunden hatte, und zugleich den stolzen Offizieren gegenüber in Erwähnung bringen, daß in den hochadeligen Kreisen denn doch nicht alles so rein sei, wie man denkt.
9. Kapitel
Die zweite Partie begann. Kurt gewann sie wieder. Während der dritten wurde die allgemeine Aufmerksamkeit auf Ravenow und Golzen gelenkt, die sich in freundschaftlich lustiger Weise zu foppen begannen.
»Wahrhaftig, du bist mir wieder um fünfzehn Points voraus«, meinte Ravenow. »Unglück im Spiel!« – »Aber Glück in der Liebe, wie ich dir bereits erklärte«, meinte Golzen. – »Ja, meine Wette wirst du doch bezahlen müssen. Das Mädchen wird mein, es ist ja bereits mein, genaugenommen.« – »Welche Wette? Welches Mädchen?« fragte der bereits zweimal erwähnte Major, der entweder von der Wette wirklich noch nichts wußte oder sie noch einmal zur Sprache bringen wollte. – »Es handelt sich für Ravenow um eine Gelegenheit, zu beweisen, daß er wirklich unwiderstehlich ist«, antwortete Golzen. – »Erklären Sie sich deutlicher.«
Golzen erzählte den interessanten Hergang, und alle hörten seinem Bericht zu. Auch die beiden Schachspieler unterbrachen ihre Partie, um der Darlegung ihre Aufmerksamkeit zu schenken. »Ja, Ravenow ist der Don Juan des Regiments. Er behauptet, diese Schönheit bereits erobert zu haben«, schloß Golzen. – »Ist dies wirklich wahr?« fragte der Oberst, der es für an der Zeit hielt, endlich auch einmal ein Wort zu sagen, um seine peinliche Lage zu maskieren. – »Das versteht sich«, antwortete Ravenow. »Wer ist überhaupt unwiderstehlich? Nicht ich allein, sondern jeder Gardehusarenoffizier. Freilich, wenn sich niedrige Elemente in unseren Kreis drängen dürfen, wird dieses Monopol für uns sehr bald illusorisch werden.«
Bei diesem rücksichtslosen Ausfall richteten sich aller Augen wiederum auf Kurt, der jedoch abermals schwieg. Ravenow fuhr fort, nachdem er eine Entgegnung von dem neuen Kameraden vergebens erwartet hatte:
»Die Zeit, für die wir gewettet haben, ist noch nicht um; ich brauche also noch keine Beweise zu bringen; aber das Mädchen war eine obskure Kutscherstochter, und der wird man wohl gewachsen sein. Ich kann einstweilen nur sagen, daß ich in ihrem Wagen Platz genommen und sie nach Hause begleitet habe.« – »Eine Kutscherstochter?« lachte der Oberst. »Gratuliere, Leutnant! Da ist es ja leicht die Wette zu gewinnen!«
Da zog Kurt eine Zigarre hervor und sagte, während er gleichmütig die Spitze derselben abschnitt und nach einem Zündhölzchen griff:
»Pah! Herr von Ravenow wird diese Wette verlieren!«
Nachdem er sich zweimal ruhig von Ravenow hatte beleidigen lassen, hatte kein Mensch erwartet, daß er jetzt in einer Angelegenheit, die er scheinbar gar nicht kannte, das Wort ergreifen würde. Alle horchten darum verwundert auf. Ravenow aber trat schnell einen Schritt vor und fragte:
»Wie beliebt, mein Herr Helmers?«
Kurt hielt die Flamme des Zündhölzchens an die Zigarre, tat gelassen einige Züge und antwortete:
»Ich sagte, daß Herr von Ravenow die Wette verlieren werde. Herr von Ravenow renommiert bloß, er schneidet auf!«
Der Genannte trat noch einen Schritt weiter vor und rief:
»Wollen Sie dieses Wort wohl gefälligst einmal wiederholen?« – »Herzlich gern! Herr von Ravenow schneidet nicht bloß auf, sondern er lügt sogar ganz gewaltig.« – »Herr«, brauste da der Angegriffene auf. »Das wagen Sie mir zu sagen, der ich Offizier der königlichen Garde bin? Und hier an diesem Ort?« – »Warum nicht? Wir befinden uns ja beide an diesem Ort, und ich bin ebenso Offizier der königlichen Garde wie Sie. Ich würde es übrigens sehr unter meiner Würde halten, Ihre Prahlereien zu beachten, wenn nicht die betreffende junge Dame eine sehr liebe Freundin von mir wäre, deren Ruf zu schützen meine Pflicht und Schuldigkeit ist.« – »Hört!« rief Ravenow. »Eine Kutscherstochter seine intime Freundin! Und der drängt sich unter uns ein! Der will ein Gardeoffizier sein!«
Die Anwesenden hatten sich abermals alle erhoben. Sie bemerkten, daß es wieder zu einer Szene kommen müsse. Das war endlich einmal ein Abend, von dem man noch später erzählen konnte. Jetzt aber wollte keiner sprechen, das mußte man den beiden allein überlassen. Der fremde bürgerliche Eindringling hatte dem Oberst standgehalten, es stand zu hoffen, daß Ravenow ihm Räson lehren werde.
Kurt allein war sitzen geblieben. Er antwortete kaltblütig:
»Ich habe bereits bemerkt, daß ich mich nicht eingedrängt habe, sondern einem höheren Willen gefolgt bin, und muß übrigens fragen, wer ehrenwerter ist, der Freund einer Kutscherstochter oder der Verführer derselben. Freilich sehe ich mich veranlaßt, dieses letztere Wort einigermaßen zu motivieren. Herr von Ravenow hatte sich zwar in den Wagen mit göttlicher Unverschämtheit eingedrängt, doch ist es ihm nicht gelungen, die Damen nach Hause zu begleiten, denn die Damen haben ihn mit Hilfe eines Schutzmannes an die Luft gesetzt.«
Ein »Ah!« des Schreckens ging durch das Zimmer. Das war stark ausgedrückt; jetzt mußte die Katastrophe eintreten.
Ravenow war erbleicht; es ließ sich nicht sagen, ob vor Wut oder vor Schreck, daß sein Gegner alles wußte; aber die Wut gewann die Oberhand. Er trat bis auf zwei Schritte an den Stuhl, auf dem Kurt noch immer sorglos saß, heran und rief:
»Wovon sprechen Sie! Von Unverschämtheit? Von an die Luft setzen? Gar noch von einem Schutzmann? Wollen Sie das widerrufen? Sofort!« – »Fällt mir nicht ein!« klang es ihm kalt entgegen. »Ich sagte die volle Wahrheit, und die widerruft man nicht.«
Da hob sich die Gestalt Ravenows drohend empor. Man sah, daß er sich im nächsten Augenblick auf seinen Gegner stürzen werde, und doch blieb dieser, scheinbar unvorsichtigerweise, auf seinem Stuhl sitzen.
»Ich befehle Ihnen, augenblicklich zu widerrufen und mich um Verzeihung zu bitten!« keuchte es aus der Brust des aufgeregten Offiziers. – »Papperlapapp! Was hätten Sie, gerade Sie mir zu befehlen!« klang es vernichtend aus Kurts Mund. – »Oh, mehr als Sie denken!« rief der Wütende, der vor Zorn seiner kaum mehr mächtig war. »Ich befehle Ihnen sogar, aus unserem Korps wieder auszutreten, denn Sie sind unserer nicht würdig. Und wenn Sie dies nicht freiwillig tun, so werde ich Sie zwingen. Wissen Sie überhaupt, wie man jemanden aus der Uniform treibt?«
Trotzdem er die scheinbar verteidigungslose Stellung noch immer beibehielt, lächelte Kurt überlegen, indem er antwortete:
»Das weiß jedes Kind. Man gibt ihm einfach eine Ohrfeige, dann ist es ihm unmöglich, weiter zu dienen.« – »Nun gut! Wollen Sie widerrufen, um Verzeihung bitten und hier uns allen versprechen, auszutreten?« – »Lächerlich! Treiben Sie keine Faxen!« – »Nun, so nehmen Sie die Ohrfeige!«
Bei diesen Worten warf er sich auf Kurt und holte zum Schlag aus. Aber obgleich seine Bewegungen mit Blitzesschnelligkeit ausgeführt waren, Kurt war doch noch schneller. Er parierte den entehrenden Schlag mit dem linken Arm, faßte im nächsten Augenblick Ravenow hüben und drüben bei der Taille, hob ihn hoch über sich empor und warf ihn mit gewaltigem Schwung über das Billard hinüber, so daß er mit einem lauten Krach drüben besinnungslos zur Erde stürzte. Dies hatte er von Doktor Sternau, seinem starken Lehrmeister gelernt.
Niemand hatte dem jungen Mann solche Stärke und Gewandtheit zugetraut. Einige Augenblicke lang herrschte eine unbeschreibliche Verwirrung im Zimmer. Einige standen ganz bewegungslos vor Schreck und starrten auf den Sieger, der vorher eine solche geistige und nun auch diese körperliche Überlegenheit entwickelt hatte. Andere eilten zu Ravenow, welcher wie tot am Boden lag. Zum Glück war ein Militärarzt mit anwesend, der den Bewußtlosen sofort untersuchte.
»Er hat nichts gebrochen und ist auch innerlich unverletzt, wie es scheint«, sagte er dann. »Er wird bald erwachen und nur einige blaue Flecke davontragen.«
Diese Besorgnis war also gehoben, und nun wandte sich, nachdem man Ravenow auf das Sofa gelegt hatte, die finstere, feindselige Aufmerksamkeit auf Kurt, der so gleichmütig dastand, als habe er mit dem Vorgang gar nichts zu schaffen. Der Oberst hielt jetzt die Zeit für gekommen, die Überlegenheit seines Ranges geltend zu machen. Er schritt langsam auf Kurt zu und sagte in drohendem Ton:
»Mein Herr, Sie haben sich an dem Leutnant von Ravenow vergriffen …« – »Die anwesenden Herren können mir sämtlich bezeugen, daß es ein Akt der Gegenwehr war«, fiel Helmers schnell ein. »Er wagte es, einem Offizier eine Ohrfeige anzubieten, er warf sich auf mich, er holte zum Schlag aus. Dennoch habe ich ihn geschont, denn es lag in meiner Macht, ihn durch eine Ohrfeige so dienstunfähig zu machen, wie er es mir angedroht hatte.« – »Ich ersuche Sie, mir nicht in das Wort zu fallen, sondern mich aussprechen zu lassen! Ich bin Ihr Vorgesetzter, und Sie haben zu schweigen wenn ich spreche. Verstehen Sie wohl? Sie verlassen augenblicklich das Lokal und begeben sich bis auf weiteres nach Ihrer Wohnung auf Zimmerarrest.«
Die Gesichter der Anwesenden heiterten sich auf. Das war ganz aus ihrem Herzen gesprochen. Aber sie hatten den Leutnant trotz allem noch nicht kennengelernt. Er verbeugte sich höflich und antwortete in gemessenem Ton:
»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Oberst! Morgen würde ich Ihrem Befehl augenblicklich Gehorsam leisten, da ich aber erst zu morgen früh zum Antritt kommandiert bin, so hat derselbe heute noch keine Kraft für mich. Ich meine, man soll sich durch den Zorn nie zu einer Übereilung hinreißen lassen …« – »Herr Helmers …«, drohte der Oberst.
Kurt aber fuhr unbeirrt fort:
»Von einem Arrest kann also keine Rede sein, doch Ihrem Wunsch, das Lokal zu verlassen, leiste ich gern Folge, da ich bisher nur gewöhnt gewesen bin, an solchen Orten zu verkehren, an denen man nicht Gefahr läuft, schuldlos verleugnet oder wohl gar geohrfeigt zu werden. Dies pflegt nur in Tingeltangeln und ähnlichen Lokalen zu geschehen. Gute Nacht, meine Herren!«
Diese Zurechtweisung rief zahlreiche Ausrufe des Grimms hervor. Kurt kehrte sich aber nicht daran, schnallte seinen Säbel um, setzte den Tschako auf und schritt in stolzer Haltung zur Tür hinaus.
»Schrecklich!« rief einer hinter ihm her. – »Fürchterlich!« der andere. – »Noch niemals dagewesen, auf Ehre!« der dritte. – »Dieser Knabe ist ein wahrer Teufel!« meinte der viel erwähnte Major. – »Pah!« schnauzte der Oberst. »Wir werden ihm seine Teufeleien austreiben! Er und mich fordern! Hat man so etwas gehört!«
Sie alle hatten gar nicht bemerkt, daß Leutnant Platen dem Fortgehenden gefolgt war. Draußen unter der Tür holte er ihn ein, ergriff ihn am Arm und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Leutnant Helmers, warten Sie einen Augenblick! Es gab eine allgemeine Verschwörung gegen Sie. Wollen Sie mir glauben, wenn ich Ihnen versichere, daß wenigstens ich keinen Teil an derselben habe?« – »Ich glaube Ihnen, denn Sie haben es bewiesen«, antwortete Kurt, indem er ihm die Hand entgegenstreckte. »Nehmen Sie meinen Herzensdank. Ich will gestehen, daß ich auf ein ablehnendes Verhalten, aber keineswegs auf solche Ungezogenheiten und Roheiten gefaßt war. Ich beklage die Ereignisse des Abends sehr.« – »Sie haben sich wacker gewehrt, fast zu tapfer. Ich fürchte, Sie haben sich unmöglich gemacht.« – »Das wird man ja sehen. Ich habe niemals das gekannt, was andere Furcht nennen. Ich achte die Vorrechte des Adels. Sie sind durch die Jahrhunderte geheiligt, aber ich trete der Anschauung entgegen, die den Adel als qualitativ über dem Bürgertum stehend erklärt. Der Wert des Menschen ist gleich seinem moralischen Gewicht.« – »Ich gebe Ihnen recht, obgleich ich von Adel bin. Der Oberst hat Ihre Zurechtweisung verdient, freilich ahnte kein Mensch, daß Sie es wagen würden, eine so unerhörte Freimütigkeit zu entwickeln. Was aber Ravenow betrifft, so muß ich Sie doch fragen, ob Sie dieses Mädchen kennen.« – »Sehr genau. Diese Damen haben mir das Ereignis erzählt.« – »Ob aber wahrheitsgetreu?« – »Beide lügen nie. Ihnen allein will ich übrigens sagen, daß die Dame, der die Wette gilt, keineswegs eine Kutscherstochter ist. Wollen Sie mir einstweilen Diskretion versprechen?« – »Gewiß!« – »Nun, sie ist die Enkelin des Herzogs von Olsunna. Sie sehen also, daß ich mich keineswegs zu schämen brauche, wenn ich ihr intimer Freund bin.« – »Alle Teufel! Wie kommt aber dieser Ravenow …« – »Er ist ein Renommist und ein unvorsichtiger Mensch. Ein jeder andere hätte auf den ersten Blick gesehen, daß er eine Dame von feinster Bildung vor sich habe. Ihre Begleiterin war die Herzogin. Er hat sich auf die roheste Weise in ihren Wagen gedrängt und konnte nur mit Hilfe eines Schutzmannes entfernt werden.« – »Mein Gott, wie albern und unvorsichtig! Aber wie kommt er zur Ansicht, daß sie die Tochter eines Kutschers sei?« – »Er hat sich bei meinem Diener, den er in einer benachbarten Restauration traf, erkundigt. Ich wohne nämlich beim Herzog und bin mit betreffender Dame erzogen worden. Mein alter Ludwig ist ein Schlaukopf und hat ihm weisgemacht, daß sie eine Kutscherstochter sei. Ich hoffe, Sie begreifen nun alles!« – »Alles, nur Ihre Körperstärke nicht.« – »Ich habe mich von Kindheit an geübt und den besten Lehrer gehabt, den es geben kann, nämlich den Prinz-Nachfolger von Olsunna.« – »Alle Teufel, Sie steigen in meinen Augen immer höher! Sind Sie in Waffen ebenso geübt wie in der Faust?« – »Ich fürchte keinen Gegner.« – »Das werden Sie gebrauchen können. Eine Herausforderung Ravenows ist Ihnen gewiß. Und was beabsichtigen Sie mit dem Oberst?« – »Ich werde ihm morgen meinen Kartellträger senden.« – »Wer wird dies sein?« – »Hm, da befinde ich mich noch im unklaren. Die Meinen will ich von diesen Zerwürfnissen nichts wissen lassen, und Bekanntschaft habe ich hier noch keine.« – »Darf ich mich Ihnen zur Verfügung stellen?« – »Sie bringen sich dadurch in eine schiefe Lage zu Ihren Kameraden und Vorgesetzten.« – »Das fürchte ich nicht. Ich diene nicht auf Avancement, sondern nur zum Vergnügen. Mein Vermögen macht mich vollständig unabhängig, und ich bitte Sie wirklich dringend, Ihr Sekundant sein zu dürfen. Sie haben sich meine Hochachtung erworben, seien wir Freunde, mein lieber Helmers!« – »Ich nehme Ihre Freundschaft von ganzem Herzen an. Bereits bei meinem heutigen Besuch beim Major las ich in Ihrem Auge, daß ich Sie liebhaben würde. Umarmen wir uns, mein bester Platen!«
Sie schlossen einander in die Arme, und dann fragte Platen:
»Gehen Sie direkt nach Hause?« – »Nein. Ich habe mich äußerlich zwar ruhig gezeigt, denn nur das führt zum Sieg, doch innerhalb war ich es weniger. Ich mag daheim meine Erregung nicht merken lassen und gehe, noch ein Glas Wein zu trinken.« – »Ich schließe mich Ihnen an. Warten Sie!«
Platen eilte in das Zimmer zurück.
Kurt wartete auf der Straße. Er ahnte nicht, welche Bedeutung Leutnant Platen und der von ihm erwähnte Bankier Wallner in Mainz später für ihn haben würden.
Die beiden jungen Männer besuchten eines der Weinlokale, und dann begleitete Platen Kurt nach Hause, um die Wohnung desselben kennenzulernen. Als sie am Tor voneinander Abschied nahmen, sahen sie die Fensterfront des Palais noch hell erleuchtet, und als Kurt in den Salon trat, fand er alle um einen sehr hohen Besuch versammelt; der Großherzog hatte geruht, eine Abendstunde beim Herzog von Olsunna zuzubringen.
»Da kommt ja unser Gardehusar!« sagte der Großherzog, als er den Leutnant erblickte. »Sie waren im Kasino?« – »Ja, Euer Durchlaucht«, antwortete der Gefragte. – »Trafen Sie vielleicht Ihren Obersten dort?« – »Er war anwesend.« – »Haben auch Sie von ihm eine Karte erhalten?« – »Ich weiß von keiner Karte, Hoheit.« – »Ah, dieser Herr wollte Sie also ausschließen, aber wir werden ihn doch überraschen. Ich erfuhr nämlich heute von unserem herzoglichen Freund hier, welche Schwierigkeiten man Ihnen in den Weg legt, und faßte sofort den Entschluß, diesen Herren zu zeigen, daß sie stolz sein dürfen, den Leutnant Helmers in ihren Reihen zu haben. Erröten Sie nicht, mein Lieber! Sie sind einer der wenigen Offiziere, deren Bravour im letzten Krieg mich mit den unglücklichen Folgen desselben auszusöhnen vermag. Sie haben die Dekorationen, die Sie tragen, mit Ihren Wunden bezahlt, und da ich außerdem Ihr persönlicher Freund bin, so beschloß ich, Ihnen Gelegenheit zu geben, Ihre Feinde zu beschämen. Ich habe die sämtlichen Offiziere Ihres Regimentes und auch deren Freunde für morgen abend zu mir geladen, und der König, der mir von dem hohen Dienst, den Sie ihm heute erwiesen haben, erzählte, stellt mir sein Schloß Monbijou zu dieser Soiree zur Verfügung. Ich vermute, daß der Oberst meine Karten im Kasino zur Verteilung brachte. Man will Sie ausschließen, aber man soll Sie dennoch sehen. Legen Sie Ihre Dekorationen an. Sie werden mit ihnen manchen Ihrer Feinde ausstechen.«
Kurt hatte während dieser langen Rede innig gerührt dagestanden. Sein Landesfürst veranstaltete seinetwegen, eines armen Schiffersohnes wegen, eine glänzende Soiree, und der König von Preußen stellte zu diesem Zweck ein Schloß zur Verfügung. Die Tränen standen ihm im Auge. Er zog die Hand des Großherzogs an seine Lippen und stammelte:
»Hoheit, ich weiß nicht, wie ich …« – »Gut, mein lieber Leutnant«, unterbrach ihn der Fürst. »Ich kenne Ihre Gesinnungen, auch ohne daß Sie mich deren noch besonders versichern. Der Zweck meines Besuches ist erfüllt, und so darf ich mich verabschieden.«
Als er sich entfernt hatte, erfuhr Kurt, daß auch Olsunna mit all den Seinen nebst Sir Lindsay und Amy eingeladen seien, dann begab er sich auf sein Zimmer, um sich durch einen tüchtigen Schlaf auf die Anstrengungen des morgenden Tages vorzubereiten.
10. Kapitel
Ich bin noch jung, doch fürcht‘ ich nicht
Des Lebens mächt‘ge Wogen.
Es glänzt ein goldig helles Licht
An meines Himmels Bogen.
Kurt war noch nicht lange dort, so klopfte es mit leisem Finger an. Wer war das? Er hatte ja niemand mehr zu erwarten. Er erschrak freudig, als auf seinen Ruf – Röschen eintrat.
»Du wunderst dich?« fragte sie schüchtern. »Ich habe noch mit dir zu sprechen.« – »Du, Röschen?« sagte er. »Komm, setze dich!« – »Ja, das werde ich tun, lieber Kurt. Allerdings soll eine junge Dame keinen jungen Herrn so spät und so allein besuchen, aber wir sind ja ganz wie Geschwister, nicht wahr?« – »Freilich«, sagte er, um alle ihre Zweifel zu zerstreuen. »Weiß Mama, daß du hier bist?« – »Natürlich weiß sie es!« – »Und sie hat dir erlaubt, zu mir zu gehen?« – »Ganz gern, ja, sie hat mich sogar darum gebeten. Es ist ja etwas sehr Wichtiges, um was ich dich fragen will.«
Wie glücklich, wie unendlich selig fühlte er sich! Dieses herrliche Wesen kam zu so später Abendstunde vertrauensvoll zu ihm. Er war kein Kind mehr, er wußte, daß er sie liebte, liebte mit der ganzen Glut seines Herzens, mit jedem Gedanken seiner Seele, mit jedem Atemzug seines Mundes. Aber er kannte auch den Abstand zwischen ihr und ihm, seine Liebe war hoffnungslos, aber nicht unglücklich, denn sie war seelisch, war rein, war frei von jedem Eigennutz. Jetzt saß er neben ihr auf dem kleinen Sofa und sah ihr erwartungsvoll in das schöne Angesicht.
»Nun, was hast du mich zu fragen, Röschen?« sagte er. – »Gib mir erst deine Hand, Kurt. So! Weiß du denn, daß wir uns immer liebgehabt haben?«
Er erbebte bei dieser Frage im tiefsten Inneren, es ergriff ihn ein unnennbares Etwas, so daß er nicht mit Worten antworten, sondern nur nicken konnte.
»Und daß wir uns noch jetzt liebhaben?« – »Ich dich ja«, stieß er hervor. – »Du mich! Ich weiß es! Du würdest für mich sterben, wenn es nötig wäre. Aber meinst du, daß ich dich nicht auch noch immer so gern habe wie früher? Siehe, lieber Kurt, wen man liebhat, den kennt man genau, und wenn man auch nicht stets alles weiß, so ahnt man es doch. Ich ahne alle Gedanken, die du hast, wenn ich bei dir bin und wenn meinem Auge etwas verborgen bleiben sollte, mein Herz sieht es doch. Willst du das glauben?«
Das Herz wollte ihm vor Seligkeit zerspringen, und er mußte sich sehr zusammennehmen, um ein ruhiges Ja antworten zu können.
»Nun«, fuhr sie in ihrem herzlichen Ton fort, »als du aus dem Kasino kamst, da war dein Auge so tief und durchsichtig, und ganz, ganz unten, da zitterte es auf dem dunklen Grund. Ich wußte sogleich, daß dir ein großes Weh widerfahren war. Du bist im Kasino bös bewillkommnet worden, du bist nicht der Mann, dies zu dulden. Da hat es ein schlimmes Zerwürfnis gegeben, und ihr Offiziere seid mit den Waffen sogleich zur Hand. Komm her, lieber Kurt, und blicke mir einmal gerade in die Augen.«
Sie legte ihm die feinen, weißen Händchen auf beide Schultern und zog ihn näher zu sich heran, um ihm besser in das Auge sehen zu können. Ihr würziger Odem wehte ihn an wie ein Hauch aus Mohammeds Paradies; er fühlte die Lebenswärme, die ihr schönes Angesicht ausstrahlte, ihre Lippen wölbten sich ihm entgegen, er mußte sich alle Gewalt antun, um sich zu beherrschen. Indem ihm dieses gelang, war er ein größerer Held als vorhin im Kasino, wo er den Obersten gedemütigt und Ravenow niedergeschmettert hatte.
Ihr forschender Blick senkte sich in den seinigen eine ganze, volle Minute lang, dann ließ sie ihre Hände wieder sinken und sagte:
»Kurt, weißt du, was es gibt?« – »Nun?« fragte er. – »Ein Duell!« – »Röschen!« rief er erschrocken. – »Kurt, ich sehe es deutlich. Tief da drunten in deinem Auge liegt etwas, was du hast verbergen wollen; ich aber habe es gesehen und sehe es noch. Das sieht aus wie eine stolze, trotzige Entschlossenheit. Willst du mir etwa die Unwahrheit sagen, lieber Kurt?« – »Nein! Nie!« versicherte er. – »Nun, so sage, ob mein Herz recht vermutet!« – »Versprichst du mir, verschwiegen zu sein?« – »Das versteht sich!« sagte sie eifrig. »In solchen Ehrensachen dürfen wir einander nicht verraten.«
Sie war geradezu hinreißend in dieser kindlichen Naivität. Er hätte vor ihr niedersinken mögen, um sie anzubeten, aber er antwortete ruhig:
»Du hast es erraten, Röschen.« – »Also ein Duell, wirklich ein Duell. Kurt, ich habe es gewußt, ich habe es erraten, ich habe es gefühlt und geahnt. Glaubst du nun, daß ich dich liebhabe?«
Sie blickte ihm dabei so innig, so aufrichtig entgegen, daß er ihre Hand an seine Lippen zog und leise und bebend antwortete:
»Es ist mein größtes Glück, daß ich dies glauben darf.« – »Ja, es ist ein großes Glück, wenn man sich recht von Herzen gut ist und wenn man ein wahres Vertrauen zueinander hat. Ein solches Vertrauen habe ich zu dir. Denkst du etwa, daß mich dein Duell beunruhigt?« – »Nicht?« – »Nein, nicht im geringsten. Du wirst deinen Gegner vollständig besiegen. Aber Mama hat Sorge, und weil sie denkt, daß du mir alles sagen wirst, und weil sie weiß, daß Duelle keine Zeitversäumnis vertragen, so bat sie mich, dich noch heute abend aufzusuchen.«
Sein Auge leuchtete stolz auf, als er von diesem Vertrauen hörte. Er hätte für Millionen dieses Wort von ihr nicht hingegeben.
»Hast du auch zu anderen von deiner Ahnung gesprochen?« fragte er. – »Nein, nur zu Mama. Die anderen durften nichts wissen. Sie hätten dich vielleicht gehindert, deinen Feind zu züchtigen, und das mußt du tun!« – »Röschen, du bist eine Heldin!« rief er begeistert. – »Oh, nur wenn es sich um dich handelt, lieber Kurt. Für andere kann ich recht sehr zittern, von dir aber weiß ich, daß du allen überlegen bist. Ja, als du in den Krieg zogst, da habe ich gebebt, denn gegen diese Kugeln konntest du dich nicht wehren; bei einem Duell aber kommt es auf die Geschicklichkeit und auf die Ruhe an, und da hast du keinen zu fürchten. Darf ich fragen, wer dein Gegner ist?« – »Es sind deren zwei!« – »Zwei Duelle?« fragte sie erstaunt. »Gut, das ist doppelte Gelegenheit, dich in Respekt zu setzen. Ich könnte mich darüber freuen, wenn du mir eine kleine Bitte erfüllen wolltest.« – »Wenn ich kann, so werde ich sie dir sicher erfüllen, liebes Röschen.« – »Nun gut. Züchtige die beiden Menschen, aber töte sie nicht. Wie stolz ist das, wenn man dem Feind sagen darf: ›Ich konnte dich töten, aber ich habe dir großmütig das Leben geschenkt.‹ Willst du?« – »Gern, ich verspreche es dir.« – »Das freut mich, Kurt. Zum Dank sollst du mir auch die Hand küssen dürfen, wie du vorhin tatest. Hier ist sie.«
Sie hielt ihm das Händchen entgegen, lächelte und nickte ihm freundlich zu, als er es an seine Lippen zog.
»So haben es die Ritterfräulein früher gemacht, und darum darf ich dich auch so belohnen«, meinte sie. »Wenn Mama es sähe, würde sie darüber lachen. Nun aber mußt du mir noch sagen, wer deine Gegner sind.« – »Der erste ist mein Oberst.« – »Ah! Der könnte doch froh sein, daß er so einen Leutnant bekommt! Und der zweite?« – »Es ist der Leutnant von Ravenow.« – »Der! Der gegen uns so ungezogen war! Kurt, ich ahne, daß ihr euch meinetwegen schlagt. Sage mir die Wahrheit.« – »Du hast es erraten«, antwortete er.
Es war dies keine Prahlerei von ihm. Es kam ihm nicht in den Sinn, sie durch dieses Geständnis sich zu verpflichten. Er war ein lauterer Charakter und hätte ihr auf ihre offene, vertrauensvolle Frage um alles in der Welt nicht eine Lüge sagen können.
»Siehst du, wie ich dir alles an den Augen ablese!« meinte sie in glücklichem Selbstbewußtsein. »Nun bist du endlich mein wahrer Ritter geworden. Du wirst dein Röschen rächen, und dafür wird sie dir voller Huld die Hand zum Kuß reichen und dir noch ein Andenken geben. Was, das muß ich mir erst überlegen. Jetzt weiß ich alles, und nun kann ich zu Mama zurückkehren.« – »Was wirst du ihr sagen?« – »Alles. Du denkst doch nicht, daß ich meiner Mama etwas verschweigen soll?« – »Davor behüte mich Gott, du reine, lautere Seele!« rief er in überströmendem Gefühl. »Sage ihr alles, doch sage ihr auch, daß sie nicht Angst haben solle, daß die Forderung noch nicht geschehen sei und daß ich um ihre Verschwiegenheit bitte.« – »Das werde ich tun, und Mama wird deine Bitten erfüllen. Gute Nacht, mein lieber Kurt.« – »Gute Nacht, meine liebe, teure Rosita!«
Sie streckte ihm beide Hände entgegen und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. Doch an der Tür blieb sie nachdenklich stehen, drehte sich noch einmal um und sagte mit einem engelhaften, kindlich schönen Lächeln:
»Fast hätte ich eine wichtige Sache vergessen! Wenn du mein Ritter bist, so muß ich es doch machen wie die Burgfräulein und dir eine Schleife mit in den Kampf geben. Ist die gut, die ich auf dem Kleid trage, Kurt?«
Er hätte vor Wonne aufjauchzen mögen. Diese kindlich-zarte und doch zugleich bereits jungfräulich-holde Naivität schwellte seine Brust vor Entzücken und trieb ihm das Blut mit zehnfacher Schnelligkeit durch die Pulse. Er fühlte seine Schläfen klopfen, als er antwortete:
»Oh, sie ist schön, sie ist herrlich! Willst du sie mir wirklich geben?« – »Sehr gern, mein guter Kurt!« Sie nestelte die seidene Schleife von ihrem Kleid los und streckte sie ihm entgegen. »Wenn du in den Kampf gehst, so steckst du sie dir auf die Brust. Oder nein! Da sieht man sie! Diese Menschen sind nicht wert, daß sie das Zeichen sehen, das du von mir trägst. Aber wo willst du sie sonst befestigen?« – »Nicht auf dem Rock, sondern unter demselben, auf meinem Herzen!«
Ein liebliches Rot flog über ihre Wangen; sie senkte die langen, seidenen Wimpern, hob aber dann das Auge schnell zuversichtlich zu ihm und meinte:
»Ja, so magst du es tun, denn das ist der beste Platz. Ich werde sie dann mit großem Stolz wieder tragen.« – »Wie? Ich soll sie dir wiedergeben?« rief er. – »Etwa nicht?« fragte sie. – »Ja, wenn du willst«, meinte er, und beinahe verlegen fügte er hinzu: »Aber dann müßtest du sie einlösen, wie es die Ritterfräulein gemacht haben.« – Einlösen? Womit?« – »Mit einem Kuß.«
Jetzt färbten sich ihre Wangen dunkler als vorher, aber sie überwand dieses ihr unerklärliche Gefühl und fragte:
»Haben das die Ritterfräulein wirklich getan?« – »Ja, ganz gewiß, Röschen.« – »Das habe ich allerdings nicht gewußt. Wenn ich dir aber die Schleife ganz schenke, so brauche ich sie auch nicht einzulösen?« – »Allerdings nicht.« – »Nun, so will ich es mir noch überlegen, ob ich sie wieder tragen werde oder nicht. Was von beiden ist dir lieber, Kurt?«
Er nahm sich ein Herz und antwortete mutig:
»Am liebsten ist es mir, wenn ich den Kuß erhalte und die Schleife behalten darf.« – »Geh! Damit würdest du mich übervorteilen! Diese Sache ist nicht so leicht, als wie man denken sollte. Es wird mich viel Nachdenken kosten, einen richtigen Entschluß zu fassen. Behalte die Schleife jetzt, ich werde dir mitteilen, was geschehen soll!«
Sie ging, und er blieb zurück mit übervollem Herzen. Jetzt trat zum ersten Male hell der Gedanke vor seine Seele, daß dieses herrliche Wesen einst einem anderen gehören werde. Er preßte die Schleife an seine Lippen, von der noch der feine Resedaduft ausströmte, den Röschen so sehr liebte. So lieblich, so keusch wie dieses Parfüm war ihr ganzes Wesen. Dann sank er auf das Sofa und dachte an sie lange, lange Zeit. Die Augen fielen ihm endlich zu, ohne daß er es merkte, und dann träumte er von ihr, bis er erwachte. Da schien die Sonne hell zum Fenster herein, und er merkte, daß er das Bett nicht berührt, sondern auf dem Sofa geschlafen hatte, das gestern begnadigt worden war, die Gestalt der Heißgeliebten zu tragen.
Da unten auf dem Teppich lag die Schleife, die während des Schlafes seiner Hand entfallen war. Dies dünkte ihm eine sündhafte Entweihung, ein Sakrilegium, und er hob sie empor, um sie einzuschließen und aufzubewahren, bis sie beim Renkontre als Schutz und Talisman auf seinem Herzen liegen sollte.
Er unternahm hierauf eine Morgenpromenade in den Garten, und als er dann zum ersten Frühstück in das Speisezimmer kam, waren dort die anderen alle bereits versammelt. Er warf einen schnellen, forschenden Blick auf Röschen. Sie sah blaß aus, als ob sie wenig geschlafen habe, und senkte vor ihm die Augen. Hatte das Nachdenken über den Kuß ihr den Schlaf geraubt?
Ihre Mutter ließ die schönen, ruhigen Augen forschend auf sein Gesicht fallen, und er glaubte in ihnen die stille Zusage zu lesen, daß sein Geheimnis nicht verraten werden solle.
Dann kam die Zeit, sich zur Schwadron zu begeben. Ludwig, der jetzt sein Diener war, hatte ihm das Pferd gesattelt. Es war ein prächtiger andalusischer Rapphengst, den ihm der Herzog geschenkt hatte. Er stieg auf und ritt nach der Kaserne. Als er in den geräumigen Hof derselben einbog, waren die Schwadronen bereits aufgeritten. Er kam nicht zu früh, denn die Offiziere waren bereits vollzählig anwesend und warteten nur noch des Obersten, um die Exerzitien zu beginnen.
Aller Augen fielen auf ihn. Auch Ravenow war da. Er hatte sich von seinem gestrigen Sturz erholt und wandte sich ab, als er den Nahenden bemerkte.
»Alle Teufel, welch ein Pferd!« meinte Branden, der Adjutant. »Womit hat der Schifferssohn dieses edle, kostbare Tier bezahlt! Und das will der Kerl im gewöhnlichen Dienst reiten? Das kann sich nur ein Millionär bieten!«
Kurt salutierte vor den Kameraden, die diesen Gruß kaum erwiderten. Nur Platen ritt zu ihm heran, reichte ihm freundlich die Hand und sagte so laut, daß alle es hören konnten:
»Guten Morgen, Helmers! Ein feiner Hengst! Hast du mehrere von dieser Schönheit im Stall?« – »Es ist mein Dienstpferd«, antwortete der Gefragte. »Die anderen muß ich schonen.« – »Donnerwetter!« brummte der Adjutant seinem Nachbarn zu. »Dieses Pack tut ja, als ob die anderen noch kostbarer seien. Ich glaube, der Kerl schneidet auf. Aber dieser Platen wirft sich weg; ich werde ihm einmal in die Zügel greifen!«
Da kam der Oberst geritten. Sein Gesicht war finster, als ob er eine stillverhaltene Wut kaum bemeistern könne. Der Adjutant ritt ihm salutierend entgegen.
»Etwas außer dem Alltäglichen zu melden?« fragte der Chef. – »Zu Befehl, mein Herr Oberst«, lautete die Antwort. »Leutnant Helmers zum Eintritt in die Schwadron bereit.« – »Leutnant Helmers, vor!« kommandierte der Oberst mit scharfer Stimme.
Kurt ritt heran und hielt vor ihm still, als sei er nebst dem Pferd aus Erz gegossen. Der Vorgesetzte musterte seinen Anzug, sein Reitzeug, sein Pferd. Er hätte gern etwas Ordnungswidriges entdeckt, fand das zu seinem Bedauern aber rein unmöglich. Dann sagte er mit einem verächtlichen Augenzwinkern:
»Sie können heimreiten. Werde Ihnen sagen lassen, ob ich Sie überhaupt brauche und wann.«
Kurt salutierte, ohne eine Miene zu verziehen, zog sein Pferd empor und schoß in eleganten Lancaden zum Tor hinaus.
»Feiner Reiter!« brummte der Adjutant, ihm mit den Augen folgend. »Wo der Bengel das nur her hat!«
Helmers durchschaute die Absicht des Obersten. Er wollte ihn gar nicht erst in Dienst treten lassen, da zwei Herausforderungen Grund genug waren, ihn wenigstens einstweilen für den Dienst unmöglich zu machen. Selbst wenn der bürgerliche Leutnant in beiden Duellen, falls diese ja stattfanden, Sieger blieb, war ihm doch eine längere Festungshaft gewiß.
Kurt lächelte darüber. Er kehrte nach Hause zurück und sagte da, um seine zeitige Rückkehr zu erklären, daß man seinen Eintritt für heute noch nicht für notwendig gehalten habe.
11. Kapitel
Die Übung dauerte über eine Stunde. Der Oberst war kaum erst zurückgekehrt und wollte es sich eben bequem machen, als Platen bei ihm eintrat.
»Ah, recht, daß Sie kommen, Leutnant von Platen«, meinte der Chef in einem ungnädigen Ton. »Ich habe Ihnen über gestern abend die Bemerkung zu machen, daß ich Ihr Verhalten nicht begreife. Warum ließen Sie diesen Menschen neben sich Platz nehmen und spielten sogar Schach mit ihm?« – »Weil ich der Ansicht bin, daß Unhöflichkeit jeden Menschen schändet, einen Offizier am allermeisten. Und weil ich annahm, daß, wenn der Kriegsminister uns einen Kameraden gibt, er von uns erwartet, daß wir ihn als solchen behandeln.« – »Aber Sie kannten unsere Abmachung!« – »Ich habe mich an derselben nicht beteiligt.« – »Sie sind sogar mit ihm fortgegangen, wie es mir scheint.« – »Allerdings«, antwortete Platen furchtlos. »Ich finde in ihm einen Charakter, den ich achten muß. Wir sind Freunde geworden.« – »Ah!« rief der Oberst zornig. »Das ist mir allerdings sonderbar zu hören. Wissen Sie, daß Sie sich damit Ihren Kameraden feindlich gegenüberstellen? Oder glauben Sie vielleicht, daß man es unbeachtet vorübergehen lassen wird, daß Sie ein räudiges Schaf in Ihren Schutz nehmen?« – »Ich habe erwähnt, daß Leutnant Helmers sich meine Achtung und Freundschaft erworben hat, und ich muß daher bitten, in meiner Gegenwart Vergleiche, wie der letztere ist, gütigst zu vermeiden. Helmers scheint mir nicht einem Schaf, sondern einem ganz anderen, edlen Tier vergleichbar zu sein, mit dem nicht zu spaßen ist. Übrigens habe ich mir nur auf seine Veranlassung erlaubt, Ihnen meinen Besuch zu machen.« – »Ah, doch nicht etwa als Kartellträger?« – »Allerdings als solcher.« – »Donnerwetter, er wagt es also wirklich, mich zu fordern?« – »Ich habe in seinem Auftrag um Satisfaktion zu bitten.« – »Das ist höchst unvorsichtig von Ihnen! Wissen Sie, daß ich Ihr Vorgesetzter bin?«
Diese letztere Frage war in einem sehr drohenden Ton gesprochen; Platen jedoch antwortete freimütig:
»In dienstlicher Beziehung bin ich Ihnen untergeben, in Ehrensachen aber hoffe ich, einem jeden gleichzustehen. Drohungen muß ich streng zurückweisen. Mein Freund verlangt Genugtuung und hat mich gebeten, meine Vereinbarungen mit Ihnen zu treffen.«
Der Oberst schritt erregt im Zimmer auf und ab; er sah sich in eine weit mehr als unangenehme Lage gebracht, aus welcher es nur einen höchst zweifelhaften Ausweg gab. Er betrat denselben, indem er erklärte:
»Ich schlage mich nur mit einem Edelmann.« – »Sie betrachten Helmers nicht als einen Kavalier?« – »Nein.« – »Und verweigern ihm also die Genugtuung?« – »Ich verweigere sie.« – »So werde ich auf seine Anweisung hin mich zum Major von Palm begeben, der der Ehrenrat unseres Regimentes ist und ein Ehrengericht berufen wird, um zu bestimmen, ob mein Freund nicht satisfaktionsfähig ist. Da der Dienst für heute beendet ist, so wird dieses Ehrengericht noch im Laufe des Nachmittags zusammentreten können, und ich hoffe, daß es im Sinn meines Freundes entscheiden wird. Adieu!«
Er ging, aber kaum hatte er den Obersten verlassen, so verließ auch dieser seine Wohnung, um bei den Mitgliedern des Ehrengerichts die geeigneten Schritte zu tun, das Duell zu hintertreiben.
Platen hingegen suchte zunächst den Leutnant von Ravenow auf. Dieser empfing ihn in einer sehr gemessenen Haltung und fragte:
»Was verschafft mir die Ehre deines Besuches, Platen?« – »Die Ehre meines Besuches? Hm, so fremd und zeremoniell!« – »Allerdings. Du bist zum Feind übergegangen; ich kann mit dir nur noch im Ton kühlster Höflichkeit verkehren und bitte, dich desselben auch zu befleißigen.«
Platen verbeugte sich und antwortete:
»Ganz, wie du denkst. Wer einen Unschuldigen gegen das Vorurteil verteidigt, muß auf alles gefaßt sein. Ich werde dich übrigens nicht lange belästigen, da mich nur die Absicht herbeiführt, dir die Wohnung meines Freundes Helmers mitzuteilen. – »Ah! Wozu?« – »Ich denke, daß du sie wissen mußt, um ihm irgendeine dringende Mitteilung machen zu lassen.« – »Du hast es erraten. Übrigens brauche ich seine Wohnung wohl nicht zu wissen, denn ich vermute mit Recht, daß du seine Vollmacht hast.« – »Allerdings. Er stellt sich dir durch mich zur Verfügung.« – »Das genügt. Golzen wird mir sekundieren. Welche Waffe wählt dein sogenannter Freund?« – »Er überläßt die Wahl dir.«
Das Auge Ravenows leuchtete grimmig auf.
»Ah«, sagte er, »fühlt er sich so sicher? Er tut ja, als ob er Meister aller Waffen sei! Hast du gesagt, daß ich der beste Fechter des Regimentes bin?« – »Nein.« – »Warum nicht?« – »Weil ich ihn damit beleidigt hätte. Übrigens fürchtet er sich nicht vor dir; er hat es ja bewiesen, wenn ich mich nicht irre.« – »Pah, das war Überraschung! Es gilt also, was ich wähle?« – »Ganz bestimmt.« – »Nun wohl, so soll er sich in mir verrechnet haben. Ich habe mich längere Zeit mit einem Tscherkessen geübt, der Meister der orientalischen Hiebwaffen war. Ich wähle krummen, türkischen Säbel, oben stark und schwer und unten ohne Parierstange, das beste Instrument zum Kopfabsäbeln.« – »Bist du des Teufels!« rief Platen entsetzt. »Diese Waffe ist ja hier nicht gebräuchlich.« – »Er hat mir die Wahl gelassen; es bleibt dabei!« – »Aber es gibt ja gar keine Handschare oder Yatagans oder wie dieser Säbel genannt werden muß!« – »Ich habe zwei.« – »Aber das ist unehrlich! Du bist in der Waffe geübt, und er nicht!« – »Ich wiederhole, daß er so frech gewesen ist, mir die Wahl zu überlassen; er mag es büßen. Von einer Unehrlichkeit kann keine Rede sein.« – »So gehst du auf Leben und Tod? Das ist schrecklich!« – »Jammere nicht! Er hat mich tödlich beleidigt, indem er mich zur Erde warf, und da er auf keinen Fall im Regiment bleiben darf, so stelle ich die Bedingung, daß so lange gefochten wird, bis einer von uns zweien entweder tot oder dienstunfähig ist.« – »Das ist zu viel. Er hat dich geschont. Er konnte dich durch eine Ohrfeige entehren, wie du es mit ihm vorhattest. Ich muß dir das in Erinnerung bringen.« – »Eine jede Erinnerung ist nur geeignet mich in meinem Vorhaben zu bestärken. Gib dir also nicht die geringste Mühe mehr.« – »Gut es falle alles auf dein Gewissen! Und die Zeit und der Ort?« – »Hm!« machte Ravenow nachdenklich. »Hat er den Obersten gefordert?« – »Ja, soeben.« – »Was sagte dieser?« – »Er verweigert die Genugtuung; ich werde mich sogleich zum Ehrenrat begeben.« – »Ich begreife den Obersten nicht. Sein Verhalten scheint mir entweder feig oder wenigstens höchst inkonsequent zu sein. Er beleidigte den Fremden, läßt sich auf das schönste von ihm blamieren und weigert sich schließlich, zum Ausgleich der Waffen zu schreiten. Ich möchte, daß beide Fälle nebeneinander erledigt werden. Wenn das Ehrengericht sich für den Zweikampf entscheidet, akzeptiere ich denselben Ort und dieselbe Zeit, die zwischen dem Obersten und seinem Gegner vereinbart wird. Im entgegengesetzten Fall aber werde ich meine eigenen Bestimmungen treffen. Hast du mir noch etwas zu sagen?« – »Nein. Ich darf also in ›kalter Höflichkeit‹ von dir scheiden. Adieu!«
Platen ging zum Major Palm, dem Ehrenrat der, versprach, die Angelegenheit sogleich in die Hand zu nehmen. Als er zu Kurt kam und diesem die Mitteilung machte, daß Ravenow sich für türkische Säbel entschieden habe, zuckte dieser höchst gleichmütig die Achsel und sagte:
»Dieser Ehrenmann will mich beseitigen, auf alle Fälle und auf jede Art und Weise. Er kennt keine Schonung, und so mag er zusehen, ob ich vielleicht so großmütig bin, Nachsicht zu üben. Der Oberst ist ein Feigling. Es ist ganz unmöglich, daß das Ehrengericht sich gegen mich entscheidet. Er wird sich wahrscheinlich für Pistolen und eine weite Distanz entscheiden, und ich bin bereit, ihn zu schonen, die Festung ist Strafe genug für ihn. Wann kann ich die Entscheidung erwarten?« – »Noch vor Anbruch des Abends.« – »Sie werden mir die Nachricht bringen?« – »Ja, noch bevor ich mich zur Soiree des Großherzogs nach Monbijou begebe. Das ist auch ein Streich, den man Ihnen gespielt hat. Sie waren berechtigt, eine Karte zu erhalten, man hat sie Ihnen vorenthalten.« – »Lassen Sie das gut sein!« lächelte Kurt. »Ich bedarf dieser Karte nicht, denn ich habe eine Privateinladung des Großherzogs.« – »Ah!« rief Platen. »Sie werden also auch kommen?« – »Jedenfalls. Ich will Ihnen sagen, daß ich das Wohlwollen des Großherzogs besitze, er hat gehört, in welcher Art und Weise man mir entgegenkommt, und mir noch gestern abend, als ich nach Hause kam, erklärt, daß er die Soiree veranstaltet habe, um mir eine öffentliche Genugtuung zu geben.«
Platen machte eine Bewegung des höchsten Erstaunens.
»Glückskind!« rief er. »Sie sind ein Günstling des Großherzogs?« – »Er war mir stets freundlich gesinnt«, sagte Kurt einfach. »Übrigens ersuche ich Sie, keinen Menschen wissen zu lassen, daß ich kommen werde. Ich freue mich auf die Enttäuschung der Herren Kameraden, die mich nur für einen unwillkommenen Eindringling halten. Sie können mir Ihre Nachricht also in Monbijou bringen, und ich werde Sie zur Revanche dafür dem Großherzog, dem Herzog von Olsunna, dem Lord Lindsay und einigen Damen vorstellen.« – »Alle Himmel, welch ein Glück!« meinte der Leutnant ganz begeistert. »Sie sind bei Gott ein Rätsel, aber ich gestehe, daß es gar nicht unvorteilhaft ist, Ihr Freund zu sein. Werden Sie mich auch der wundervollen Dame vorstellen, auf welche sich jene unglückliche Wette bezieht?« – »Jawohl. Sie ist zwar die Enkelin des Herzogs von Olsunna, und ihre Mama ist die spanische Gräfin de Rodriganda, Sie werden beide aber einstweilen unter dem Namen Sternau kennenlernen. Für jetzt aber wollen wir scheiden, mein lieber Freund, um uns zum Fest vorzubereiten.«
Sie trennten sich, beide dem Abend mit Spannung entgegensehend, nach dem sich das ganze Offizierskorps der Gardehusaren sehnte.
Im Laufe des Nachmittags trat das Ehrengericht zusammen. Die Mitglieder desselben bestanden alle aus Angehörigen des hohen Adels, sie sahen Helmers als ein »räudiges Schaf« an, wie sich der Oberst ausgedrückt hatte, waren übrigens von demselben beeinflußt worden, und so kam es, daß die Fassung des Urteils dahin ging, Leutnant Helmers habe den Obersten gedächtnisschwach genannt, dies sei eine Beleidigung, und da beide Beleidigungen als einander aufhebend zu betrachten seien, so habe Helmers kein Recht, Satisfaktion zu fordern, und der Oberst sei nicht verbunden, solche zu geben, von einem Duell könne also keine Rede sein. Daran schloß sich die Bemerkung, daß das Verhalten des Leutnants Helmers ein rücksichtsloses genannt werden müsse, welches nicht geeignet sei, ihm die freundliche Gesinnung des Offizierskorps zu erringen, er tue sehr klug, sich an einen anderen Ort versetzen zu lassen, zumal weder seine Abstammung noch seine Gesinnung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen des Gardekorps im Einklang ständen.
Dieses Urteil wurde zu Protokoll genommen, von welchem Platen eine Abschrift bekam, um sie Helmers zu überbringen. Er sah, daß man irgendeine Bemerkung von ihm erwartete, doch steckte er schweigend die Abschrift zu sich und entfernte sich. Er hatte die feste Überzeugung, daß mit dieser Sitzung die Angelegenheit noch nicht beendet sei.
Der Oberst aber fühlte sich als Sieger. Er hielt dafür, daß Kurt es nun nicht wagen werde, auf dem Eintritt in das Regiment zu beharren, und kehrte mit dem Gefühl der Genugtuung nach Hause zurück, um sich in seine Galauniform zu werfen und seine Damen abzuholen, da unterdessen der Abend hereingebrochen war und man den hohen Festgeber nicht warten lassen durfte.
12. Kapitel
Das Gartenschloß Monbijou befindet sich an der Spree im Spandauer Viertel, ist reizend gelegen und war heute ganz besonders festlich geschmückt worden. Im Garten brannten zahllose Lampions, welche die Bosketts in einen Feenschimmer hüllten, in den Zimmern flutete ein Meer von Licht, geschäftige Domestiken eilten hin und her, und unter dem Eingang stand der Hofmeister des Großherzogs, um die zahlreichen Gäste zu empfangen.
Nach dem Grundsatz, daß Verzögerung vornehm sei, hatten sich die Leutnants zuerst eingestellt, dann waren die anderen nach und nach gekommen, je höher der Rang, um so später und mit desto größerer Grandezza. Sie wurden im Vorzimmer von dem Adjutanten des Großherzogs empfangen und nach ihren Plätzen geleitet oder gewiesen. Zuletzt kamen der Brigade– und Divisionsgeneral mit einem ganzen Schweif von Damen.
Im großen Saal erblickte man das Musikkorps, das zum Tanz aufspielen sollte, jetzt herrschte noch jene Erwartung, in welcher man sich nur halblaut zu unterhalten pflegt. Die Diener reichten kleine Erfrischungen herum, vom Speisesaal aber hörte man bereits das Klirren von Glas und Porzellan, das dem Feinschmecker eine Verheißung ersehnter Genüsse bedeutet.
Da endlich wurde die Tür aufgerissen und die Ankunft des Großherzogs gemeldet. Er trat herbei, am Arm Rosa de Rodriganda, die jetzige Frau Sternau. Ihm folgten der Herzog von Olsunna mit Amy Lindsay, dann Sir Lindsay mit der Herzogin Olsunna, der früheren Erzieherin, und hinter diesem Paar kam Kurt mit Röschen am Arm.
Bei seinem Anblick rissen die Herren Husaren die Augen weit auf. Er trug auf der Brust den österreichischen Orden der Eisernen Krone und den militärischen Maria Theresien-Orden, ferner den hessischen Ludwigsorden, den Löwenorden und noch den Orden vom Eisernen Helm neben dem Kreuz für Militärverdienste.
Die Augen aller Damen richteten sich nach dem schmucken Leutnant, den keine von ihnen kannte, die Augen der Herren aber auf seine Dame, die in bestrickender Lieblichkeit neben ihm ging und so eng und so vertraut an seinem Arm hing, als ob sie seine Schwester sei.
Die Anwesenden hatten sich natürlich erhoben. Der Großherzog schritt auf den Divisionsgeneral zu und ließ sich seine Damen vorstellen, worauf er die Namen seiner Begleitung nannte.
Es läßt sich denken, welchen Eindruck das Erscheinen Kurts hinter dem Großherzog auf die Herren Leutnants machte. Adjutant Branden riß die Augen auf und murmelte zu Golzen hinüber:
»Du, sehe ich recht! Ist das nicht dieser Helmers?« – »Bei Gott, er ist es! Du hast recht!« antwortete dieser. »Wie kommt der Kerl in das Gefolge des Großherzogs?«
Branden hatte noch immer den Mund offen, aber dennoch gelangen ihm die Worte:
»Hole mich der Teufel! Fünf Orden und ein Verdienstkreuz! Bin ich behext?« – »Und an seinem Arm die Kutscherstochter! Ich glaube, Branden, wir sind fürchterlich düpiert worden!« – »Werden sehen, werden sehen! Seine Hoheit stellen jetzt die Herren vor. Horch! Ah, der Herzog von Olsunna nebst Miß Lindsay!« – »Jetzt Lord Lindsay mit der Herzogin von Olsunna. He, Platen, haben Sie den Namen der schönen Dame gehört, die der Großherzog selbst führt?« – »Er stellte sie als Frau Sternau vor, aber das ist inkognito. Sie ist eine Gräfin de Rodriganda und die zukünftige Herzogin von Olsunna«, antwortete Platen, der sich der Namen aus der Unterredung mit Kurt entsann. – »Horcht!« meinte Branden nochmals. »Jetzt kommt der Leutnant Hört! Ah, Leutnant Helmers und Fräulein Sternau! Was soll man da denken?« – »Auch inkognito«, antwortete Platen. »Fräulein Sternau ist die Enkelin des Herzogs von Olsunna und die Duzfreundin des Leutnants. Ravenow hat sich von dem schlauen Diener eines Freundes Helmers arg mystifizieren lassen.
Ravenow stand dabei, hörte diese Worte und knirschte mit den Zähnen.
»Donnerwetter! Was sagte jetzt der Großherzog zu unserem General en chef?« fragte Branden.
Platen lächelte und antwortete:
»Er übergab ihm den Leutnant Helmers und dessen Dame und forderte ihn auf, beide den Offizieren des Gardekorps vorzustellen.« »Ja soll mich gleich der Teufel holen, wenn ich schon so etwas erlebt habe!« rief Branden ziemlich laut. »Das scheint ja ganz, als ob es auf eine großartige Genugtuung abgesehen sei, die dieser Leutnant erhalten soll!« – »Das ist es auch«, bestätigte Platen. »Ich weiß aus ganz sicherem Munde, daß diese Soiree dansante nur Helmers‘ wegen veranstaltet ist. Helmers ist ein Liebling des Großherzogs, und dieser letztere erteilt gegenwärtig den Herren Gardehusaren einen Verweis, der gar nicht eklatanter ausfallen kann. Ein Oberst hatte gestern den Namen des Leutnants vergessen; heute bekommen er und wir alle diesen Namen aus dem Mund des Chefs der ganzen Garde zu hören.« – »Das ist noch nie dagewesen, das ist großartig, das ist pyramidal, auf Ehre!« meinte Golzen. »Jetzt geht der Leutnant aus einer Hand in die andere. Jetzt kommt er zum Obersten. Horcht! Der Kerl hat etwas vor; ich sehe seine Augen blitzen.«
Der Korpsgeneral trat soeben mit Helmers und Röschen zu dem Obersten.
»Herr Oberst«, sagte er, »ich gebe mir die Ehre, Ihnen hiermit Fräulein Sternau und den Herrn Leutnant Helmers vorzustellen. Er tritt in Ihr Regiment ein, und ich empfehle ihn Ihrer freundlichen Fürsorge.«
Dem Oberst würgte es im Hals; er brachte kein einziges Wort hervor und konnte sich nur verbindlich zustimmend verbeugen. Da wandte Helmers sich an den General:
»Exzellenz«, sagte er, »wir haben Ihre Güte bereits zu sehr in Anspruch genommen; gestatten Sie, daß es der Herr Oberst an Ihrer Stelle unternimmt, mich mit den Herren weiter bekanntzumachen?« – »Ein Teufelskerl! Ich ahnte so etwas, es lag in seinem Auge«, brummte Branden, der Adjutant. »Jetzt zwingt er den Oberst, den er gefordert hat und der ihn nicht für satisfaktionsfähig hält, sein gestriges Verhalten zu desavouieren und ihn in aller Form uns vorzustellen.«
Der General verbeugte sich und meinte freundlich:
»Es ist mir ein Vergnügen, Ihnen diesen Dienst zu erweisen; aber da Sie es selbst wünschen, so übergebe ich Sie dem Herrn Oberst.«
Er ging, und nun mußte der Oberst wohl oder übel in den für ihn gewiß sehr sauren Apfel beißen. Auf seinen Wink traten die Offiziere seines Regiments heran, und er sah sich zu der nicht angenehmen Arbeit gezwungen, dem von ihm so schwer Beleidigten die lange Reihe ihrer Namen zu nennen.
»Ich danke, Herr Oberst!« sagte Kurt kühl zu ihm, als dies beendet war. Dann trat er zu Platen, stellte ihn und Röschen einander vor und fügte hinzu: »Er ist mein Freund. Willst du ihn nicht dem Großherzog empfehlen?«
Sie reichte Platen ihre Hand, die er an seine Lippen zog, und fragte:
»Tanzen Sie, Herr Leutnant?« – »Leidenschaftlich, gnädiges Fräulein«, antwortete er, indem ihm die Röte der Freude in das Gesicht stieg. – »So mag Ihnen Kurt nachher meine Karte bringen, damit Sie sich notieren. Seinem Freund gewähre ich nach ihm den ersten Tanz. Jetzt aber kommen Sie mit uns zum Großherzog, damit wir Sie den Herrschaften vorstellen.«
Sie entfernten sich, und nun stand der Oberst allein bei seinen Offizieren. Er nahm das Taschentuch, wischte sich, tief aufatmend, den Schweiß von der Stirn und gestand:
»Ich glaube, ich werde ohnmächtig! Mir ist weiß Gott gerade so, als ob ich eine Schlacht verloren hätte!« – »Hm!« brummte Branden, der Adjutant. »Dieser Helmers ist ein ausgezeichneter Schachspieler.« – »Das heißt, ein guter Stratege und Diplomat«, fügte Golzen hinzu. – »Ich muß mich setzen«, seufzte der Oberst.
Er ging zu seiner Frau, um sich bei ihr Trost zu holen. Es bildeten sich jetzt einzelne Gruppen, doch das Gespräch aller drehte sich meist um Helmers und die ungeheure Lektion, die dieser bürgerliche Leutnant dem Gardekorps gegeben hatte. Die Damen begeisterten sich für ihn. Er hatte bewiesen, daß er nicht nur ein schöner Mann, sondern überhaupt ein Mann im vollsten Sinne des Wortes sei. Die Herren begannen, ihn auch mit anderen Augen zu betrachten. Doch es sollte noch anders kommen. Die hohen Flügeltüren wurden aufgerissen, und es ertönte die laute Anmeldung:
»Seine Majestät, der König.«
Sofort schritt der Großherzog auf die Tür zu, um den hohen Gast zu empfangen. Dieser trat ein, und zwar an der Seite Bismarcks, der Kriegsminister und ein Kammerherr folgten. Der letztere trug einen Gegenstand in der Hand, den man bei näherem Hinblicken als ein Saffianetui erkannte.
»Ich konnte mir nicht versagen, einige Minuten bei Euer Hoheit einzutreten«, meinte der hohe Herr zum Großherzog. »Lassen Sie Ihre Gäste sehen!«
Bald waren die hervorragenden der anwesenden Herrschaften um die Majestät versammelt, während die anderen lauschend oder in leiser Unterredung von ferne standen.
Branden, der Adjutant, schien nicht leicht schweigen zu können.
»Der König, Bismarck und der Kriegsminister hier?« sagte er. »Das ist eine große Auszeichnung für unser Regiment. Wir können stolz sein. Ah, seht ihr das Etui in der Hand des Kammerherrn? Ich lasse mich köpfen, wenn das nicht einen Orden gibt, jedenfalls erhält ihn der Großherzog in dieser öffentlichen, doppelt ehrenden Weise. Seht, da zieht sich der Herzog von Olsunna mit dem Kriegsminister in die Fensternische zurück. Sie sprechen leise, ihre Mienen sind sehr ernst, und ihre Blicke treffen den Oberst. Meine Herren, ziehen wir uns ein wenig nach dem Obersten hin, es gibt etwas, ich kenne das! Man hat als Adjutant so seine Erfahrungen gemacht.«
Er hatte recht, denn bereits nach kurzer Zeit kam der Kriegsminister langsam auf den Obersten zugeschritten. Dieser erhob sich ehrfurchtsvoll, als er den Nahenden bemerkte, und ging ihm einige Schritte entgegen.
»Herr Oberst, haben Sie mein Handbillett betreffs des Leutnant Helmers empfangen?« fragte die Exzellenz in einem nicht sehr freundlichen Ton. – »Ich habe die Ehre gehabt«, lautete die Antwort. – »Und es auch gelesen?« – »Sofort, wie alles, was aus der Hand Euer Exzellenz kommt.« – »So ist es zu verwundern, daß diese Zeilen gerade das Gegenteil des Erfolges bewirkten, den ich beabsichtigte. Sie werden sich erinnern, daß ich Ihnen den Leutnant dringend empfahl?« – »Gewiß«, antwortete der Oberst.
Er hätte in den Boden sinken mögen. Es war geradezu eine Unmöglichkeit, wegen eines einfachen, noch dazu bürgerlichen Leutnants solch Aufhebens zu machen. Er hätte sich lieber an die Spitze einer Sturmkolonne gestellt, als vor einem Examen zu stehen, das nur zu seinem Schaden ausfallen konnte.
»Und dennoch erfahre ich, daß man ihn allerorts mit förmlich impertinenter Abweisung empfangen hat. Gar mancher hochgeborene Kopf ist hohl und steht nur aus Rücksicht auf seine Geburt in Reih und Glied. Der Leiter der militärischen Angelegenheiten ist stets erfreut, wenn er einen Mann findet, der brauchbar zu verwenden ist, und muß es um so schmerzlicher beklagen, wenn gerade solche Männer auf ungerechtfertigte, oftmals vielleicht sogar böswillige Schwierigkeiten stoßen. Ich erwarte mit aller Bestimmtheit, daß ich baldigst das Gegenteil von dem höre, was ich zu meinem Erstaunen gewahren muß.«
Er drehte sich scharf auf dem Absatz herum und schritt davon, während der Oberst einige Augenblicke wie geistesabwesend stehen blieb und dann auf seinen Sitz zurückkehrte. Selbst wer die Unterredung nicht vernommen hatte, mußte es ihm ansehen, daß er einen ganz ungewöhnlichen Verweis erhalten habe.
»Der ist für heute moralisch tot und physisch zerschmettert«, brummte der Adjutant. »Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Dieser Leutnant ist in unser Stilleben wie ein Teufel gefahren, wie eine Bombe unter uns hineingeplatzt, und nun fliegen einem die Stücke an den Kopf. Wo steckt er denn?« – »Dort am Spiegel. Bismarck spricht mit ihm«, antwortete Golzen. – »Bismarck? Bei Gott, es ist wahr. Welche Auszeichnung! Ich gäbe zwanzig Monatsgagen, wenn Bismarck mir nur einmal zunicken wollte, und dort steht dieser Helmers und plaudert mit dem Gewaltigen, als ob sie miteinander auf der Schulbank gesessen hätten. Heiliger Himmel, da geht weiß Gott sogar der König auf ihn los. Nun wird es mir ganz wirr im Kopf.«
Die Anwesenden blickten mit Staunen nach der Stelle hin, an der der junge Mann stand, mit dem die beiden Gewaltigen so herablassend sprachen. Man stand zu ferne, als daß man ein Wort hätte verstehen können, aber man sah an den wohlwollenden Zügen des Herrschers, daß es nur Ausdrücke der Güte waren.
Da winkte der König plötzlich dem Kammerherrn. Dieser trat in die Mitte des Saales und verkündigte mit lauter Stimme:
»Meine Herrschaften, ich gebe mir die Ehre, Ihnen im allerhöchsten Auftrag mitzuteilen, daß Seine Majestät geruhen, den Herrn Leutnant Helmers zum Ritter der zweiten Klasse des Roten Adlerordens zu ernennen, und zwar in Anbetracht der höchst wichtigen Dienste, die er seit seiner so kurzen Anwesenheit bei uns dem Vaterland geleistet hat. Seine Majestät haben zugleich befohlen, dem genannten Herrn die Insignien des Ordens auszuhändigen, und behalten sich vor, das weitere zu verfügen.«
Er öffnete das Etui, schritt auf Helmers, der bleich auf seinem Platz stand, zu und heftete ihm den Stern zu den anderen auf die Brust.
Es herrschte im Saal eine Stille wie in der Kirche. Welche Dienste waren das? In so kurzer Zeit geleistet. Sie mußten bedeutend sein, denn der Rote Adlerorden hat vier Klassen. Dieser Leutnant wurde vom Glück ja förmlich überschüttet!
Diese Gedanken und noch verschiedene andere gingen durch die Herzen der Anwesenden. Es bildete sich um den glücklichen jungen Mann ein Kreis von Gratulanten, denen der König das Beispiel gab. Bismarck und der Kriegsminister folgten und verabschiedeten sich dann von den Herrschaften.
13. Kapitel
Nach dem Verschwinden der drei hohen Herren, denen natürlich der Kammerherr folgte, ließ man sich eher gehen, und ein lautes, vielstimmiges Summen zeugte von dem Eifer, mit dem das Ereignis besprochen wurde. Bereits hatten alle höheren Offiziere Kurt gratuliert, und er stand gerade einige Augenblicke allein, da kam Röschen auf ihn zu.
»Lieber Kurt, welch eine freudige Überraschung!« sagte sie mit leuchtenden Augen. »Hättest du an solche Huld gedacht?« – »Nie! Ich bin noch immer starr vor Erstaunen und Entzücken«, gestand er aufrichtig. »Ich befinde mich beinahe wie in einem Traum.« – »Höre, Kurt, der Dienst, von dem du allerdings bereits gestern sprachst, scheint ein ganz bedeutender zu sein, aber ich darf deine Diskretion nicht auf die Probe stellen, ich will dir lieber gratulieren, von Herzen gratulieren. Deine Feinde sind furchtbar beschämt, furchtbar gedemütigt worden. Du bist nicht allein mein Ritter, sondern Ritter von nun sechs Orden. Ich möchte den sehen, der sich gegen dich in die Schranken wagt! Doch sage, wie steht es mit dem Duell? Hat der Oberst deine Forderung angenommen?« – »Nein, wie mir Platen berichtete.« – »Ja, was wird denn nun?« – »Man hat ein Ehrengericht gehalten und erklärt, daß ich nicht das Recht habe, Genugtuung zu fordern.« – »Woher weißt du das?« – »Platen war ja dabei. Er hat mir vor zehn Minuten das Protokoll eingehändigt, das die Verhandlung und das Urteil enthält.« – »Wo hast du es? In der Tasche?« – Ja.« – »Bitte zeige es mir, lieber Kurt. Ich möchte es sehr gern lesen.« – »Jetzt? In dieser Umgebung? Magst du nicht warten, bis wir nach Hause gekommen sind, liebes Röschen?« – »Nein. Diese Angelegenheit ist mir so außerordentlichen interessant, daß ich nicht so lange warten mag. Übrigens mußt du bedenken, daß du mein Ritter bist, und als solcher hast du alle Wünsche deiner Dame genau und schnell zu erfüllen.« – »Nun wohl, hier ist es.«
Er gab ihr das Kuvert, in dem die Abschrift steckte. Sie nahm es an sich, bedeckte es mit ihrem Taschentuch, damit es nicht gesehen werde, und begab sich in ein Nebenzimmer, um den Inhalt kennenzulernen. Bereits nach kurzer Zeit stand sie wieder unter der Tür. Ihr schönes Angesicht war vor Zorn gerötet, und ihre blitzenden Augen suchten nach dem Obersten. Er stand mit Rittmeister von Palm, seinem Adjutanten von Branden und dem Leutnant Ravenow beisammen. Sie eilte mit raschen Schritten auf diese Gruppe zu, verbeugte sich kurz und energisch und sagte:
»Die Herren entschuldigen, daß ich störe. Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Herr Oberst.« – »Ich stehe zur Disposition, mein gnädiges Fräulein«, antwortete er mit einer sehr höflichen Verneigung, indem er eine Bewegung machte, mit ihr zur Seite zu treten. – »O bitte«, meinte sie, »wir können bleiben. Diese Herren dürfen anhören, was ich Ihnen zu sagen habe. Sie sind von Herrn Leutnant Helmers gefordert worden?« – »Leider ja«, antwortete er, verlegen werdend. – »Und haben erklärt, daß Sie ihn nicht für satisfaktionsfähig halten?« – »Gnädiges Fräulein«, stotterte er, »ich muß Ihnen sagen, daß ich …« – »Schon gut!« unterbrach sie ihn. »Man hat ein Ehrengericht beauftragt, sich mit diesem Fall zu befassen, und dieses hat sich gegen den Herrn Leutnant erklärt. Hier ist das Protokoll. Ich sage Ihnen, daß der Herr Leutnant des Königs Uniform trägt, er ist in Ehrensachen Ihnen gleichstehend, als Ritter zahlreicher Orden steht er hinter keinem Kavalier zurück, und ich sage Ihnen, daß ich Sie für einen Feigling halte, wenn Sie die Forderung zurückweisen. Beleidigungen eines Ehrenmannes müssen ebenso gezüchtigt werden wie freche Überfälle auf Damen, die man zum Gegenstand einer rohen Wette macht. Die Entscheidung Ihres Ehrenrates zeigt nicht, daß die betreffenden Richter sich mit der Ehre viel beschäftigen. Das sagt Ihnen eine Dame, Herr Oberst. Ich würde hier vor allen Zeugen das Protokoll zerreißen und Ihnen vor die Füße werfen, wenn ich es nicht als Beleg zu einer persönlichen Bitte an den König brauchte. Erklären Sie nicht noch heute abend dem Leutnant Helmers, daß Sie sich ihm stellen wollen, so bin ich morgen beim König, um ihm zu sagen, welches Quantum von Mut die Obersten seiner Garde besitzen und wie man mit einem Ehrenmann umzugehen wagt, der sich die bedeutendsten Verdienste erworben hat und von der Majestät dafür ausgezeichnet wurde. Es tut mir leid, daß ich nicht ein Mann bin, Herr Oberst, und also meine gegenwärtigen Worte nicht mit einer Pistole oder einem Degen bekräftigen kann. Adieu!«
Sie rauschte in stolzer Haltung davon und ließ die Herren in einer unbeschreiblichen Stimmung stehen. Der Oberst war kreidebleich geworden.
»Mir das! Mir!« knirschte er. »Dieser Hund von Helmers hat ihr die Abschrift gegeben. Ich werde ihn niederschießen wie einen tollen Hund!« – »Und mich«, sagte Ravenow finster, »meinte sie mit diesem ›frech‹ und ›roh‹. Oh, ich bedauere ebenso, daß sie kein Mann ist, ich würde sie zu züchtigen wissen. Aber ihr Schützling soll es mir büßen!« – »Eine verdammte Hexe ist sie«, brummte der Adjutant wohlgefällig. »Ich lasse mich vom Teufel holen, wenn sie nicht wirklich imstande ist, zum König zu gehen. Was werden Sie tun, Herr Oberst?« – »Was meinen Sie, Rittmeister? Sie sind Ehrenrat«, sagte der Oberst – »Ich meine, daß es jetzt ganz unmöglich ist, beim Entschluß des Ehrengerichtes zu beharren. Es hat sich heute abend gezeigt, daß Helmers doch der Mann ist, dem man Genugtuung nicht verweigern kann. Und der Angriff dieser Dame ist so übermütig, daß er nur mit Blut beantwortet werden kann.« – »Das ist nun auch meine Meinung«, sagte der Oberst. »Nun ich mich überzeugt habe, daß ich meine Ehre nicht schädige, wenn ich mich mit Helmers auf die Mensur stelle, werde ich mich natürlich nicht länger weigern, ihm zu Diensten zu sein. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich mir alle Mühe geben werde, ihn zu töten.« – »Das überlassen Sie mir, Herr Oberst«, meinte Ravenow. »Ich habe ihn auf türkische Säbel gefordert, er kann mir nicht entgehen. Wir schlagen uns, bis einer von beiden tot oder wenigstens dienstunfähig ist.« – »Wann und wo ist das Rendezvous?« fragte der Oberst. – »Das ist noch unbestimmt«, antwortete Ravenow. »Ich erwarte Ihre Entscheidung, da es jedenfalls am besten ist, daß beide Angelegenheiten neben– oder hintereinander ausgefochten werden. Meinen Sie nicht?« – »Ich stimme bei und werde sofort Platen sagen, daß ich die Forderung annehme. Welchen Ort würden Sie vorschlagen, Leutnant?« – »Was sagen Sie zu dem Park hinter der Brauerei auf dem Blocksberg?« – »Ausgezeichnet passend. Und die Zeit?« – »Ich mag keine Minute verlieren, denn ich brenne vor Begierde, diesem Helmers den Schädel zu spalten. Ich stimme für sofort. Man wird hier nicht sehr spät nach Mitternacht aufbrechen; eine Stunde genügt, um unsere persönlichen Angelegenheiten zu ordnen. Was sagen Sie zu vier Uhr früh?« – »Mir recht.« – »Schön. Aber ich habe eine dringende Bitte, Herr Oberst. Sie sind Familienvater, ich aber nicht, auch ist Ihre dienstliche Stellung eine ganz andere als die meinige, unsere Chancen stehen sich also nicht gleich. Mag die Angelegenheit ausfallen, wie sie will, so fallen die Folgen viel schwerer auf Sie als auf mich. Ich ersuche Sie daher, mir die Vorhand zu lassen.«
In Berücksichtigung seines höheren Ranges hätte der Oberst auf diesen Vorschlag nicht eingehen sollen, aber er dachte an seine Familie, er dachte an die Strafen, die das Duell nach sich zieht, er berechnete, daß er vielleicht gar nicht zum Kampf kommen werde, da Ravenow, den man für unbesiegbar hielt, den Gegner töten wollte, und so antwortete er:
»Sie sind ein braver Kerl, Leutnant, ich will Ihnen Ihre Bitte nicht abschlagen. Rittmeister Palm, Sie müssen als Ehrenrat bei der Partie sein. Branden, wollen Sie mir sekundieren?« – »Mit größtem Vergnügen, Herr Oberst«, antwortete der Gefragte. – »So gehen Sie sogleich zu Platen, dem Sekundanten Helmers‘, und sagen Sie ihm, daß ich den Gegner morgen früh vier Uhr an dem angegebenen Ort erwarte. Ich werde Pistolen mitbringen. Wir nehmen zwanzig Schritt feste Distanz und schießen so lange, bis einer von beiden tot oder dienstunfähig ist. Für den Arzt werde ich sorgen, dessen Aufgabe es übrigens sein wird, bei einer Verwundung zu bestimmen, ob sie dienstuntauglich macht oder nicht.« – »In welchen Intervallen wird geschossen?« – »Auf Kommando und zu gleicher Zeit.« – »Ihre Bedingungen sind ebenso streng wie die meinigen«, sagte Ravenow. »Helmers wird den Platz nicht verlassen. Was versteht der Kerl von türkischen Säbeln! Ich haue ihm gleich beim ersten Hieb den Kopf auseinander. Es ist geradezu unmöglich, daß er entkommen kann; sollte aber der Teufel doch sein Spiel haben, so fällt er dann von Ihrer Kugel, denn es ist bekannt, daß Sie, Herr Oberst, ein ausgezeichneter Pistolenschütze sind. Ich werde sogleich mit Golzen sprechen. Er ist mein Sekundant und soll sofort zu Platen gehen, um ihm unsere Bedingungen mitzuteilen.«
Nach einiger Zeit kamen von Golzen, der Adjutant und Platen zu Kurt, der an der Seite Röschens auf einem Diwan saß.
»Herr Leutnant, wir haben mit Ihnen zu sprechen«, meinte Platen. – »Kommen Sie in das Nebenzimmer«, sagte Kurt »Die Dame wird mich auf einige Augenblicke entschuldigen.« – »Nein, das tue ich nicht«, sagte Röschen energisch. »Ich vermute, daß sich Ihr Gespräch auf die Duellangelegenheit beziehen wird; ist es nicht so, meine Herren?«
Der Adjutant nickte und meinte dann mit einem Seitenblick auf Kurt:
»Sie haben richtig geraten, mein Fräulein. Da Herr Helmers den so ganz und gar ungewöhnlichen Weg eingeschlagen hat, Ihnen, einer Dame, von diesem Ehrenhandel Mitteilung zu machen, so sehe ich keinen Grund ein, Ihnen den Zweck unseres Kommens zu verschweigen.« – »Es kann gegen meinen Freund keinerlei Vorwurf aus seiner Aufrichtigkeit gegen mich entspringen«, parierte Röschen den in des Adjutanten Worten gegen Helmers enthaltenen Hieb. »Ich bin in einer Weise in ihn gedrungen, daß es ihm unmöglich war, zu leugnen, wenn er mich nicht belügen sollte. Und einer Unwahrheit macht er sich niemals schuldig. Übrigens habe ich das größte Recht, mich mit dieser Angelegenheit zu befassen, da eigentlich ich es bin, die von dem einen seiner Gegner beleidigt wurde. Ich erwarte daher, daß Sie auch jetzt sich nicht zurückziehen, sondern die Angelegenheit in meiner Gegenwart besprechen.«
Die Herren wechselten einen fragenden Blick untereinander, worauf Golzen das Wort nahm, um Kurt zu fragen:
»Was sagt der Herr Leutnant dazu?« – »Oh, mir ist alles gleich«, antwortete dieser kalt. »Die Sache erscheint mir gar nicht wichtig und bedeutend genug, als daß ich aus ihr viel Wesens machen mag.«
Darauf antwortete der Adjutant in einer beinahe zornigen Aufwallung: »Sie werden gleich bemerken, daß sie denn doch bedeutend genug ist, wenigstens für Sie. Sie werden zwei bewährten Männern gegenüberstehen, und es wird sich um Leben und Tod handeln. In unseren Kreisen betrachtet man ein Duell nicht als eine Spielerei; wir sind keineswegs Realschüler oder pauksüchtige Kommisvoyageurs! Sie können sich darauf verlassen, daß es keinem Ihrer Gegner beikommen wird, Sie im mindesten zu schonen.« – »Ich weiß es«, sagte Kurt sehr ruhig. »Es fällt mir auch gar nicht ein, um Nachsicht zu bitten.« – »So darf die Dame unsere Vorschläge mit anhören?« – »Sie hat darum gebeten, und ich schlage ihr diese Bitte nicht ab.« – »Gut, so wollen wir uns kurz fassen.«
Der Adjutant wollte beginnen, aber Platen unterbrach ihn mit einer Handbewegung und bemerkte mit fast bewegtem Ton:
»Lieber Freund, es handelt sich hier um sehr ernste, fast harte Bedingungen, die nicht für das Ohr einer Dame sind. Ich habe mich bereits geweigert, auf dieselben einzugehen. Deshalb brachte ich die Herren zu Ihnen.« – »Pah, lieber Platen, ich gehe auf jede Bedingung ein, vorausgesetzt, daß sie von beiden Seiten respektiert wird. Reden Sie, Herr von Branden.«
Die beiden Sekundanten teilten ihm nun ihre Aufträge mit. Als sie geendet hatten, sagte er mit einem sorglosen Lächeln:
»Ich sehe allerdings, daß es meine Gegner geradezu auf mein Leben abgesehen haben. Ich gestehe aufrichtig, daß ich sie schonen wollte. Es lag mir nur daran, ihnen eine möglichst genügende Züchtigung zu erteilen. Ihre Bedingungen aber sind derart, daß ich geradezu ein Selbstmörder wäre, wenn ich die Waffen in so nachsichtiger Weise gebrauchen wollte, wie es erst meine Absicht war. Der Leutnant von Ravenow hat mir eine fremdländische Hiebwaffe vorgeschlagen, in der er erfahren ist, während er meint, daß ich sie nicht zu führen weiß. Meine Herren, ich habe mich in den türkischen Waffen bereits als Knabe geübt, ein Meister war mein Lehrer, ich habe Ravenow nicht zu fürchten. Ich habe ihm die Wahl der Waffen überlassen, nicht um ihn zu beleidigen, sondern weil es mir gleichgültig war, für welche er sich entschied, denn ich kenne sie alle. Ich nehme Ihre Bedingungen an, aber weil ich kein Raufbold bin, so erkläre ich mich bereit, mein Ohr dem Sühneversuch nicht zu verschließen, den der Rittmeister Palm als Ehrenrat unternehmen wird. Eine aufrichtige Abbitte oder Ehrenerklärung hat für mich, der ich Mensch bin, denselben Wert als eine blutige Genugtuung.«
Die Offiziere hatten diese Worte ruhig mit angehört, nun aber erklärte der Adjutant mit einem zweideutigen Lächeln:
»Herr Leutnant, von einer Abbitte wird nie die Rede sein, so weit ich die beiden Herren kenne. Und was Ihre Bereitwilligkeit betrifft, auf einen Sühneversuch einzugehen, so will ich meinem Auftraggeber lieber davon keine Mitteilung machen, da er jedenfalls annehmen würde, daß sie aus Mangel an Mut entspringe.« – »O bitte, sprechen Sie immerhin davon. Was er vor dem Kampf von meinem Mut denkt, ist mir gleichgültig, nach der Entscheidung erst wird er mich genau taxieren können. Sie werden mich Punkt vier Uhr am Platz finden.« – »Das also ist abgemacht«, sagte Röschen rasch. »Nun aber, Herr Leutnant von Golzen, sagen Sie dem Herrn von Ravenow, daß auch ich erscheinen werde.« – »Ah!« riefen erstaunt die Herren, und Kurt sagte, schnell einfallend: »Das geht nicht, liebes Röschen! Das würde ganz und gar gegen Gebrauch und Herkommen sein!« – »Rede mir nicht darein, Kurt«, entgegnete sie. »Dieser freche Bube hat mich öffentlich überfallen, er hat öffentlich gelogen, aber hinter meinem Rücken; nun soll er gestraft werden nicht hinter meinem Rücken, sondern vor meinen Augen. Mag das herkömmlich sein oder nicht, ich will es, denn es ist das richtige. An dem Platz, auf dem die Genugtuung gegeben wird, soll er mir gestehen, daß er ein Lügner ist und daß er aus meinem Wagen springen mußte, um den Händen eines Schutzmannes zu entgehen. Ich habe das zu verlangen, und ich verlange es.« – »Mein Fräulein, auf Ihre Gegenwart können wir nicht eingehen«, meinte Golzen kopfschüttelnd.
Sie stand mit leuchtenden Augen auf, blickte ihm fest in das Gesicht und sagte:
»Herr von Golzen, man hat mich hier nur mit dem Namen Sternau genannt, doch in meinen Adern fließt das Blut der Herzöge von Olsunna und der Grafen von Rodriganda. Ich weiß, was ich meinen Ahnen schuldig bin. Ich bestehe fest darauf, dem Duell beiwohnen zu können. Sprechen Sie mit Ihrem Bevollmächtigten. Habe ich bis zur Tafel noch nicht gehört, daß man mir den Willen tut, so gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich während des Essens laut erzählen werde, in welcher Weise ich dazu gekommen bin, mit einem Herrn von Ravenow spazierfahren zu müssen. Die Gegner meines Freundes kennen keine Schonung, nun wohl, so mögen sie auch auf die meinige verzichten. Für jetzt sind Sie entlassen.«
Sie verabschiedete sie mit einer Bewegung der Hand und in einer so königlichen Haltung, daß sie sich entfernten, ohne ein Wort der Entgegnung zu wagen.
Kurt ließ den Blick mit großer Bewunderung auf ihr haften. War denn dies wirklich das stille, sanfte Wesen, dessen Kinderspielen er so oft beigewohnt hatte?
»Du hast viel verlangt, Röschen«, sagte er. – »Man wird es mir gewähren«, antwortete sie selbstbewußt. »Ravenow wird nicht an öffentlicher Tafel blamiert sein wollen.« – »Aber es wird ihm einen furchtbaren Kampf kosten, seine Einwilligung zu geben. Es ist nichts Kleines, vor den Sekundanten zu gestehen, daß man gelogen hat. Ich wollte nach dem Rendezvous reiten, da dies weniger auffällig ist, nun du aber dabei bist, werde ich einen Wagen nehmen müssen, das wird man bemerken.« – »Man wird es nicht bemerken. Du beauftragst deinen Sekundanten, den Wagen zu besorgen und mit demselben an einem bestimmten Ort auf uns zu warten. So können wir unsere Wohnung verlassen, ohne daß es auffällt.«
Er widersprach ihr nicht weiter. Er wußte, daß er ihren Vorsatz, morgen bei ihm zu sein, nicht wankend machen konnte, und so ließ er sie gewähren.
Der Oberst stand mit Golzen, Ravenow und dem Adjutanten in einer Ecke, und ein aufmerksamer Beobachter konnte leicht sehen, daß sie eine höchst lebhafte Unterhaltung führten über einen Gegenstand, über den sie sich nur schwer einigen zu können schienen.
Da öffneten sich die Türen des Speisesaals, und es wurde verkündet, daß angerichtet sei. Der Großherzog ergriff den Arm der Herzogin von Olsunna, und hinter ihm bildeten sich die Paare zu einer langen Reihe, um sich nach dem Speisesaal zu begeben.
»Es ist hohe Zeit, keinen Augenblick mehr zu verlieren«, sagte Golzen zu Ravenow. »Soll ich ihr die Einwilligung bringen, oder willst du dich blamieren lassen?«
Im Gesicht des Gefragten kämpften Zorn und Verlegenheit, Wut und Scham miteinander. Dann antwortete er mit sichtlicher Selbstüberwindung:
»Nun, meinetwegen, in drei Teufels Namen! So gehe hin und sage ihr, daß ihrem Erscheinen nichts im Wege stehe.«
Golzen ging, und die anderen wandten sich ab. Es war also wahr, was Kurt im Kasino behauptete, daß Ravenow gelogen hatte. Mit der an Röschen gegebenen Erlaubnis hatte er eingestanden, daß sich das Unrecht auf seiner Seite befinde.
Das Souper war köstlich, fast königlich zu nennen, und die Stimmung eine sehr animierte, Ravenow und den Obersten ausgenommen. Der erstere fühlte sich tief erniedrigt dadurch, daß er, wenn auch nicht in Worten, so doch durch die Tat ein Eingeständnis seiner Schuld gegeben hatte, und dem letzteren quollen selbst die feinsten Leckerbissen bei dem Gedanken im Mund, daß es doch noch nicht so ganz erwiesen sei, daß Ravenow seinen Gegner töten werde. Die Bemerkungen, mit denen Kurt auf die Bedingungen seines Gegners eingegangen war, schienen nicht darauf hinzuweisen, daß er sich fürchte. Wurde Helmers von Ravenow getötet oder kampfunfähig gemacht, so konnte der Oberst ruhig nach Hause zurückkehren; er hatte nicht die geringsten Unannehmlichkeiten zu befürchten. Kam aber der Kampf auch an ihn, so war die Festung ihm gewiß, ganz abgesehen davon, daß er, ein Stabsoffizier, sich mit einem Leutnant eingelassen hatte, und auch davon, daß er der Empfehlung des Kriegsministers nicht gehorsam gewesen war. Er, als Oberst, hatte darauf zu sehen, daß im Bereich seines Regimentes alle Gesetzwidrigkeiten vermieden wurden, und nun gab er selbst das eklatanteste Beispiel eines Zweikampfes mit einem Offizier, der ihn nicht beleidigt hatte und ihm sogar von der obersten Militärbehörde ganz dringend empfohlen worden war.
»Verfluchte Geschichte!« dachte er. »Ich warte auf Avancement, wäre vielleicht nach den nächsten Herbstmanövern zum General befördert worden, und nun reißt mich alten Kerl der adlige Hochmut zu einer Dummheit fort, die mich um alles bringt. Als Festungsgefangener avanciert man nicht!«
Nach der Tafel begann der Tanz. Röschen schwebte am Arm Kurts durch den Saal und dann mit Platen. Sie tanzte nur mit diesen beiden und einigen der höheren Offiziere, denen die Etikette gebot, den Damen, die der Großherzog eingeführt hatte, diesen Ehrendienst zu erweisen. Ein anderer aber wagte nicht, sie um eine Tour zu ersuchen.
Kurz vor Mittemacht zog sich der Großherzog zurück; auch der Herzog von Olsunna fuhr mit den Seinen nach Hause, und die Exzellenzen taten dasselbe. Nun wußten sich die anderen vom Zwang frei, und die Geselligkeit nahm an Frohsinn und Ungezwungenheit bedeutend zu.
14. Kapitel
Die Herren, die beim Duell beteiligt waren, warteten das Ende des Vergnügens nicht ab, sondern begaben sich auch nach Hause, um sich vorzubereiten. Kurt saß beim Licht in seinem Zimmer und las in des Generals von Clausewitz berühmten Werken. Der Morgen brach an und begann das Licht seiner Lampe zu schwächen. Da klopfte es leise an seine Tür, und auf sein »Herein!« trat Röschen ein, vollständig zum Ausfahren gerüstet.
»Guten Morgen, Kurt!« grüßte sie, ihm die Hand bietend. »Hast du geschlafen?« – »Nein«, antwortete er. – »Aus Angst!« lachte sie. – »Oh, du weißt ganz gewiß, daß ich keine Angst habe.« – »Aber dein Testament hast du gemacht?« fragte sie scherzend.
Er machte ein sehr ernstes Gesicht, als er antwortete:
»Mein liebes Röschen, ein Duell ist selbst für den besten Fechter und den sichersten Schützen eine bedenkliche Sache. Ob man auch Meister in allen Waffen sein möge, man ist doch verwundbar. Und kommt man glücklich davon, so ist der Gedanke, einen Menschen verwundet oder gar getötet zu haben, auf jeden Fall niederdrückend.« – »Du hast recht wie immer, lieber Kurt. Aber ich bringe es zu keiner Besorgnis um dich. Du bist der Schüler meines armen, verschollenen Vaters; er war ein Held, und ich kann dich mir auch nur als einen Helden denken. Und was deine Gegner betrifft, so kommt es ja nur auf dich an, alle Gewissensbisse zu vermeiden. Du hast gehört, daß sie deinen Tod wollen.« – »Aber ich werde sie nicht töten.« – »Ah! Wirklich nicht?« – »Nein.« – »Du bist großmütig, und das liebe ich sehr. Aber ich ersuche dich dringend, deine Nachsicht nicht so weit zu treiben, daß du dich selbst in Gefahr bringst. Man hat davon gesprochen, daß Ravenow ein höchst tüchtiger Fechter und der Oberst ein ausgezeichneter Schütze sei.« – »Trage keine Sorge! Ich fühle mich beiden überlegen.« – »Und meine Schleife, lieber Kurt? Sie soll dein Talisman sein.« – »Ich trage sie bereits auf meinem Herzen«, lächelte er glücklich. »Hast du dir überlegt, ob du sie zurückfordern wirst?« – »Das soll davon abhängen, ob ich mit deinem Betragen gegen deine Feinde zufrieden bin«, sagte sie. »Aber, es ist bereits halb vier Uhr.« – »Gerade zu dieser Zeit habe ich Platen bestellt.« – »Wohin?« – »An die nächste Ecke.« – »So laß uns leise gehen.«
Sie hatte ihren Mantel am Arm hängen. Kurt nahm ihn, um ihn ihr über die Schulter zu legen. Er wagte sogar, die Halsagraffe zu schließen. Bei dieser Gelegenheit standen sie Gesicht an Gesicht voreinander.
»O Kurt, wenn dich dennoch eine Kugel träfe!« sagte sie leise.
Ihre Augen zeigten einen feuchten Schimmer. Er beruhigte sie und antwortete:
»Sorge nicht, Röschen. Ich kenne ein sicheres Mittel, die Kugel des Gegners unschädlich zu machen.« – »Welches ist es?« – »Man zielt genau auf die Mündung seines Pistols und schießt genau in demselben Augenblick wie er. Dann prallen die Kugeln aneinander und fliegen zur Seite oder nach oben oder unten.« – »Aber immerhin ein gefährliches Mittel.« – »Ich habe es geübt. Komm, laß uns gehen. Du wirst mit mir zufrieden sein.«
Sie verließen das Zimmer und das Haus so leise, daß sie von niemandem gehört wurden. Am Ende der Straße wartete Platen in einer zweispännigen Kutsche auf sie. Sein Diener machte den Kutscher. Er begrüßte sie, und sie stiegen ein. Als ihm Kurt die Hand reichte, hielt er sie fest und legte den Finger auf den Puls. Kurt ließ es lächelnd geschehen.
»Hm, das klopft so ruhig, als lägen Sie auf dem Sofa und hätten nichts zu erwarten als eine angenehme Lektüre, mein bester Helmers«, sagte der Sekundant. – »Ich zittere nie, mein lieber Platen«, antwortete Kurt.
Aus einer Seitenstraße bogen jetzt hinter ihnen zwei andere Equipagen ein.
»Der Oberst und Ravenow«, sagte Platen, der auf dem Rücksitz saß und die Insassen der beiden Wagen also sehen konnte. »Sie sind so pünktlich wie wir, aber wir werden doch die Ehre haben, zuerst anzukommen. Heinrich, laß dich von denen da hinten nicht ausstechen!«
Der Diener gab den Pferden die Peitsche als Zeichen, daß er seinen Herrn verstanden habe.
Bald darauf ging es zum Halleschen Tor hinaus und dem Berg zu. Als man an die Brauerei kam, fehlten noch zehn Minuten an vier. Der Park wurde erreicht; die Kutsche bog in einen Seitenweg ein und hielt endlich an einem freien Platz, der von Buschwerk und Bäumen umgeben war. Man stieg aus.
Bald kamen auch die anderen Wagen an. Man begrüßte sich durch ernstes, stummes Kopfnicken. Die Diener wurden als Wachtposten ausgestellt, um jede Störung fernzuhalten, und der Arzt zog sein Besteck und die Bandagen hervor, um sofort bereit zu sein.
Kurt nahm eine Decke und legte sie bei einer alten Fichte auf die Erde.
»Willst du nicht hier Platz nehmen, Röschen?« fragte er. »Das Gras ist naß; hier stehst du nun trocken und kannst den Platz genau übersehen.« – »Ich danke dir«, antwortete sie, indem sie ihre Füßchen auf die Decke setzte und sich bequem an den Baum lehnte.
Platen und Golzen untersuchten den Platz und teilten Wind und Sonne ab. Sie hatten als Sekundanten die Pflicht, es zu tun. Dann trat Golzen an Ravenows Wagen und brachte die türkischen Säbel hervor.
»Geh, lieber Kurt«, sagte Röschen leise, »Ravenow erwartet dich bereits.« – »Wirst du den Anblick des Blutes ertragen können?« fragte er besorgt. – »Ich vermute es, denn es wird ganz sicher nicht das deinige sein.«
Ravenow stand bereits bei dem einen der Säbel, die Golzen an die Erde gelegt hatte; Kurt trat zum anderen. Der Oberst und sein Adjutant schritten herbei, um in größerer Nähe Zeuge des Kampfes zu sein. Rittmeister Palm war bei ihnen. Als Ehrenrat hatte er die Verpflichtung, eine Aussöhnung der Parteien zu versuchen, er näherte sich ihnen daher und fragte:
»Erlauben die Herren, ein Wort zu Ihnen zu sprechen?« – »Ich erlaube es«, antwortete Kurt. – »Aber ich nicht«, rief Ravenow. »Ich bin tödlich beleidigt worden und erkläre, daß ich nichts unterlassen werde, meinen Gegner zu töten. Ein jeder Sühneversuch ist nutzlos. Man kennt meine Bedingungen, und ich weiche um kein Jota von denselben ab.« – »So habe ich nichts weiter zu sagen. Ich war bereit, den Herrn Rittmeister anzuhören; ich bitte, dies zu bemerken«, erklärte Kurt. – »Wer sich bereitwillig erklärt, zurückzutreten, ist ein Feigling«, sagte Ravenow, indem er den Säbel vom Boden aufnahm. »Laßt es losgehen!«
Auch Kurt nahm seine Waffe auf; er betrachtete sie genau.
»Echt Damaszener«, bemerkte Platen. – »Pah!« antwortete Kurt ruhig. »Es ist Solinger Ware. Echte Damaszener kennt man; ich habe andere Säbel zur Hand gehabt.«
Nun zogen auch die beiden Sekundanten ihre Degen und stellten sich ihren Bevollmächtigern zur Seite. Der Kampf konnte beginnen, sobald Rittmeister Palm das Zeichen gab. Da hörte man die Stimme Röschens:
»Warten Sie noch einen Augenblick, meine Herren! Ehe losgeschlagen wird, muß ich den Leutnant Ravenow denn doch erst noch fragen, ob er noch immer behauptet, mich nach Hause begleitet zu haben.«
Da aller Augen sich auf den Gefragten richteten, so sah er sich gezwungen, zu sprechen. Er sagte höhnisch:
»Ich werde meine Antwort geben, nämlich mit dem Säbel. Auf solche Fragen antwortet man nur mit Blut, und das wird das meines Gegners sein.«
Er riß seinen Rock herunter, warf ihn zur Erde und setzte hinzu:
»Herunter mit dem Kittel. Das ist das beste und sicherste Zeichen, daß einer zum Teufel fahren wird.« – »Nun wohl«, sagte Kurt ruhig, indem er auch seinen Rock auszog, »ich bin bereit zu der Unhöflichkeit, einer Dame die Ärmel meines Hemdes zu zeigen. Aber da nur immer von meinem Blut gesprochen wird, erkläre ich hiermit, daß auch nicht ein einziger Tropfen desselben fließen soll. Ich bin nicht blutgierig; ich werde den Leutnant Ravenow nicht töten, sondern ihn nur dienstunfähig machen, wie es ja seine eigenen Bedingungen verlangen. Ich werde ihm mit meinem dritten Hieb die rechte Hand abhauen. Herr Doktor, machen Sie sich bereit, ihm den Armstummel zu verbinden!« – »Elende Gaskonade!« knirschte Ravenow, braun vor Wut im Gesicht. »Rittmeister, geben Sie endlich das Zeichen!«
Die beiden Gegner stand voreinander, Kurt ruhig und ernst, der andere aber mit fest zusammengekniffenen Lippen und bebenden Nasenflügeln. Es war ein ernster Augenblick. Da sagte der Rittmeister:
»Meine Herren, die Situation ist eine so furchtbare, daß ich es für meine Pflicht halte, zum zweiten Male den Versuch zu …« – »Still!« gebot Ravenow. »Jeder Sühneversuch ist eine Beleidigung für mich. Ich wäre gezwungen, den, der ihn macht, zu fordern.« – »Nun wohl, so habe ich meine Pflicht getan; ich erkläre, daß ich unschuldig bin an dem, was geschehen wird!« Mit diesen Worten trat der Ehrenrat zurück und erhob die Hand als Zeichen, daß der Kampf beginnen könne.
Ravenow fiel sofort mit einer Force aus, als ob es gelte, einen Elefanten niederzuschlagen; doch Kurt parierte diesen Herkuleshieb mit einer Leichtigkeit und Grazie, als habe er einen Schulknaben vor sich, der anstatt des Säbels eine Gerte in der Hand trägt. Mit fast mehr als Gedankenschnelligkeit folgte sein Hieb dem meisterhaften Parieren, und in diesem Gegenhieb, der von der Seite kam, lag eine so außerordentliche Kraft, daß Ravenow der Säbel aus der Hand weit fortgeschleudert wurde.
»Mein erster Hieb!« zählte Kurt gelassen, indem er seine Waffe senkte. – »Alle Wetter, das geht mit dem Teufel zu!« rief Ravenow. »Das ist mir noch nicht passiert und wird mir auch nicht wieder passieren!«
Die Sekundanten kreuzten ihre Degen zwischen die Gegner, damit Kurt den jetzt wehrlosen Ravenow nicht angreifen könne. Der Arzt hatte den Säbel geholt und gab ihn seinem Besitzer zurück, der nun sofort wieder auf Kurt eindrang.
»Herbei, Bursche, jetzt gilt‘s!« brüllte er.
Seine Waffe, oben stärker als am Griff, sauste mit fürchterlicher Gewalt durch die Luft. Vom Baum her ließ sich ein halblauter Schrei vernehmen. Röschen stieß ihn aus. Es war ihr, als müsse Kurt im nächsten Augenblick mit gespaltenem Schädel zu Boden sinken, aber – niemand wußte, wie dies möglich sein könne – er parierte auch diesen Hieb, und im nächsten Moment flog Ravenows Säbel abermals weit fort.
»Mein zweiter Hieb!« erklang es kalt und fest. – »Alle Millionen Teufel!« zischte Ravenow, indem er selbst die Mensur verließ, um seine Waffe wieder aufzunehmen. »Habe ich es denn mit dem Satan zu tun? Aber ich bin wieder da. Jetzt gilt‘s das Leben!«
Er holte abermals aus.
»Nein, nur die Hand!« antwortete Kurt.
Die zwei schweren Klingen blitzten gegeneinander; ein scharfes Klingen, und ein lauter Schrei erscholl. Er kam aus Ravenows Mund. Sein Säbel flog in einem hohen Bogen über die Lichtung, und mit Entsetzen sahen alle, daß eine abgehauene Hand den Griff desselben noch umfaßt hielt.
»Mein dritter Hieb!« zählte Kurt, indem er abermals den Säbel senkte. »Herr Doktor, sehen Sie, ob einer von uns beiden dienstuntauglich geworden ist. Das war ja doch die Bedingung des Herrn von Ravenow.«
Dieser stand mit starren Augen unbeweglich auf dem Fleck; aus dem noch vom Hieb hoch erhobenen Armstumpf schoß ein dicker Strahl roten Blutes. Dann wankte er, weniger wegen seiner Wunde, sondern vor Entsetzen über die fast übernatürliche Geschicklichkeit seines Feindes.
Sein Sekundant trat zu ihm, um ihn zu unterstützen. Der Verwundete brachte keinen Laut hervor. Er ließ sich von dem Arzt in das Gras niederziehen, betrachtete die Stelle, an der sich die Hand befanden hatte, und schloß die Augen, jedenfalls teils vor Scham und teils im Eindruck des Bewußtseins, daß es nun mit seiner Karriere für immer zu Ende sei.
»Nun, Doktor, wie steht es?« fragte Kurt. – »Die Hand ist unwiederbringlich fort«, antwortete dieser. – »Das wußte ich, als sie noch daran war. Ich aber meine, ob eine Bedingung dieses Renkontres erfüllt ist?« – »Ja, der Herr Leutnant wird aus dem Dienst treten.« – »So habe ich mein Wort gehalten und darf abtreten.« – »Und ich ebenso«, meinte Platen. »Aber ich muß bemerken, daß Herr Leutnant Helmers bis zum Ende auf der Stelle blieb, die er bei Beginn des Kampfes einnahm, während Herr von Golzen dem Leutnant Ravenow erlaubte, die Mensur zu verlassen. Ich muß sehr bitten, solche Unzuträglichkeiten nicht wieder vorkommen zu lassen.«
Und zu Kurt sagte er dann leise:
»Aber, um Gottes willen, was sind Sie denn für ein Mensch? Sie stehen wie ein Gott und fechten wie ein Teufel! So etwas habe ich bisher für unmöglich gehalten! Ravenow wurde noch nie besiegt, und bei seinem zweiten Ausfall glaubte ich Sie rettungslos verloren. Sie sind wirklich so etwas wie ein überirdisches Wesen. Sie haben sich meisterhaft benommen und eine Gewandtheit entwickelt, die man kaum für möglich hält. Dieses Duell wird von sich reden machen. Sind Sie mit der Pistole ebenso vertraut?« – »Ich denke es.« – »So brauche ich mich um Sie nicht zu sorgen. Aber entschuldigen Sie, ich muß doch einmal nach Ravenow sehen.« – »Gehen Sie immerhin; denn ich habe meine Dame zu berücksichtigen.«
Kurt schritt auf Röschen zu, die ihm entgegenkam und ihm beide Hände bot.
»Du Starker, du Herrlicher!« sagte sie. »Ja, du bist ein würdiger Schüler meines Vaters, du bist ein wirklicher und ganzer Held. Ich wußte es, aber einmal durchzuckte mich doch die fürchterlichste Todesangst.« – »Ich hörte deinen Schrei.« – »Du hast ihn gehört? Ich dachte, du würdest mitten entzweigehauen.« – »Liebes Röschen, in dieser Gefahr stand ich allerdings, aber nicht der Überlegenheit Ravenows, sondern eben dieses Schreies wegen.« – »Ah, warum?« – »Dieser Angstschrei hätte das Auge jedes anderen von seinem Gegner ab– und zu dir hingelenkt. Geschah das bei mir, so war ich verloren. In einem Kampf, bei dem es um das Leben geht und bei dem zwei solche Fechter ihre Kräfte messen, kann der geringste störende Laut den Tod bringen.« – »O mein Gott, wie unvorsichtig bin ich gewesen!« rief das Mädchen, noch hinterher vor Schreck erbleichend. – »Laß es gut sein«, beruhigte er sie. »Mich würde selbst ein Kanonenschlag nicht stören. Dein Angstruf ist mir vielmehr von Nutzen gewesen, denn als du ihn ausstießest, flog der Blick Ravenows unwillkürlich zu dir hinüber, seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, und dadurch gelang mir mein Kunsthieb leichter und besser, als ich erwartet hatte.« – »Aber dennoch werde ich es nicht wieder tun!« – »Ich bitte dich darum, denn bei dem Obersten würde ein Ablenken meines Blickes, das Zucken der kleinsten Muskelfaser noch viel gefährlicher für mich sein. Es ist keine Kleinigkeit, bei der vereinbarten Distanz auf die Mündung einer Pistole zu zielen und zugleich den Augenblick zu erhaschen, an dem der Finger des Gegners den Drücker berührt. Den zehnten Teil eines Momentes zu früh oder zu spät, den fünften Teil einer Linie zu weit rechts oder links, zu weit oben oder unten, ist unbedingt verhängnisvoll für mich.« – »Oh, verlaß dich sicher darauf, daß ich nicht die Lippe rühren werde!«
Während dieses Gespräches waren die anderen um Ravenow beschäftigt. Der Arzt arbeitete mit Sonde und Zange, um die Ader zu suchen, an dem glatt abgehauenen Stumpf herum, und es dauerte lange Zeit, ehe die Blutung bewältigt und die Wunde verbunden war. Man hörte dabei das Knirschen von Ravenows Zähnen, es mochte vor Wut und auch vor Schmerz sein. Er hielt die jetzt offenen Augen auf die Hände des Arztes gerichtet und schoß nur zuweilen einen haßerfüllten Blick zu Kurt hinüber.
Da trat Platens Diener herbei und brachte den Säbel, der in der Nähe seines Wagens zur Erde geflogen war. Die Waffe bot einen schaurigen Anblick, denn die Hand des Verwundeten hielt noch immer den Griff umspannt. Die Finger mußten einzeln geöffnet werden, um das abgehauene Glied zu lösen. Dieser Anblick gab dem Verwundeten die Sprache wieder.
»Ein Krüppel!« stöhnte er. »Ein elender Krüppel! Oberst, wenn Sie mich nicht rächen, so zeigen alle Kinder auf Sie. Versprechen Sie mir, ihn niederzuschießen?« – »Ich verspreche es!« antwortete der Gefragte, überwältigt von dem Anblick des Verwundeten. – »Sie werden ihn nicht schonen?« – »Nein!« – »Auf Ihr Ehrenwort?« – »Auf mein Ehrenwort!« – »Sie weisen jeden Sühneversuch zurück, ganz so wie ich?« – »Das versteht sich ganz von selbst.« – »Gut, das gibt mir meine Kräfte wieder. Doktor, ich muß den Kampf mit ansehen, Sie dürfen nicht widersprechen.«
Der Arzt machte ein bedenkliches Gesicht, sagte aber doch:
»Bei einer Verwundung, wie die Ihrige ist, muß jede Aufregung schaden; aber dennoch will ich gestatten, daß Sie bleiben. Herr von Golzen mag Sie stützen. Eigentlich sollten Sie in Ihrem Wagen sofort nach Hause fahren.« – »Das würde gerade die größte Aufregung geben; sie würde mich töten. Nein, ich muß diesen Menschen fallen sehen, durchbohrt von der Kugel des Obersten. Dann will ich gern auf meine Hand verzichten und ein Krüppel sein. Lassen Sie mich nicht warten, sondern beginnen Sie sofort.«
Platen hatte dieses Gespräch mit angehört, ohne für Kurt das Wort zu ergreifen. Jetzt winkte er dem Adjutanten:
»Herr Kamerad, ich bin bereit, wenn es Ihnen gefällig ist«
Branden nickte, und die beiden begaben sich nach der Mitte des Platzes, um hier Wind und Sonne zu verteilen. Die Distanz wurde durch zwei in die Erde gesteckte Degen markiert, und dann holte der Adjutant den Pistolenkasten des Obersten. Als Kurt dies bemerkte, verließ er Röschen und kam langsam herangeschritten, ergriff eine der Pistolen, betrachtete sie mit Kennermiene und sagte:
»Sehr gut. Da ich auf sie nicht eingeübt bin, ist es mir hoffentlich gestattet einen Probeschuß zu tun?« – »Schießen Sie«, sagte der Sekundant seines Gegners kurz.
Über das Gesicht des Verwundeten glitt ein höhnisches Lächeln. Ein guter Schütze hat nicht nötig, einen Probeschuß zu tun.
Kurt lud die Pistole und blickte sich nach einem Ziel um. An dem weit hervorragenden Ast einer Fichte hing ein großer Zapfen. Er deutete auf denselben und sagte:
»Also diesen Zapfen treffen!«
Er zielte lange, um seines Schusses sicher zu sein, und drückte dann los. Ein vielstimmiges Hm und Räuspern ließen sich hören. Er hatte nicht den Zapfen getroffen, sondern in der Entfernung von einer Elle davon den Zweig, der herabfiel.
»Gott sei Dank, er schießt schlecht!« dachte der Oberst
Ganz dasselbe dachten die anderen. Platen nahm Gelegenheit, ihn zur Seite zu ziehen, und meinte in höchster Besorgnis:
»Aber um Gottes willen, lieber Helmers, wenn Sie der Pistole nicht besser mächtig sind, so sind Sie verloren! Der Oberst hat Ravenow sein Ehrenwort gegeben, daß er Sie ohne Gnade und Barmherzigkeit erschießen will.« – »Er mag es versuchen«, lautete die Antwort. »Übrigens habe ich gefunden, daß diese Pistolen wirklich ausgezeichnet gearbeitet sind.« – »Wie? Sie spaßen noch? Trotz der Güte der Pistole haben Sie Ihr Ziel nicht getroffen.« – »Im Gegenteil, ich habe es sehr genau getroffen. Den Zapfen gab ich nur zum Schein an, in Wirklichkeit aber zielte ich gerade auf den Punkt des Zweiges, den ich getroffen habe. Sie wissen wohl, wem es gelingt, seinen Gegner irrezuleiten, der hat bereits halb gesiegt.« – »Ach, Sie sind, bei Gott, ein fürchterlicher Gegner«, sagte Platen. »Ich möchte mich um keinen Preis mit Ihnen schlagen. Jetzt wollen wir laden!«
Die beiden Sekundanten luden die Pistolen mit größer Gewissenhaftigkeit. Es wurde ein Tuch darüber gedeckt, und nun zog sich jeder der Feinde eine der Waffen unter demselben hervor, um sich dann an Ort und Stelle zu begeben. Jetzt war die Zeit wiederum für den Rittmeister gekommen.
»Meine Herren«, begann er, »ich fühle die Verpflichtung …« – »Ruhig, Kamerad!« rief ihm da der Oberst zu. »Ich mag kein Wort hören!«
Er hatte gesehen, wie schlecht Kurt scheinbar schoß, und fühlte nun die Überzeugung, daß er ihn töten werde. Dies kräftigte sein Selbstbewußtsein und seine Sicherheit.
»Aber ich ersuche den Herrn Rittmeister, zu sprechen«, meinte Kurt. »Man soll sich nicht morden, wenn es andere Wege zum Ausgleich gibt. Ich erkläre mich für völlig zufriedengestellt, wenn der Herr Oberst mich um Verzeihung bittet.« – »Um Verzeihung?« rief dieser. »So kann nur ein Wahnsinniger sprechen! Ich halte unsere Vereinbarung fest, denn ich habe mein Ehrenwort gegeben, daß einer von uns auf dem Platz bleibt.« – »Das genügt, um Ihrem Ehrenwort das meinige entgegenzusetzen. Wer sein Wort nicht einlöst, also einer von uns beiden, ist ein Schurke. Sie geben Ihr Ehrenwort, daß einer von uns beiden bleiben soll, und das soll ich sein; ich aber gebe mein Ehrenwort, daß einer von uns beiden dienstunfähig gemacht wird, und das werden natürlich Sie sein. Ich erkläre, daß unsere ersten beiden Schüsse nicht treffen werden, daß ich Ihnen aber mit meiner dritten Kugel die rechte Hand vollständig zerschmettern werde. Beginnen wir!« – »Ja, beginnen wir!« gebot der Oberst mit einem verächtlichen Lächeln. »Wir werden nicht Komödie spielen.«
Die gewöhnliche Aufstellung der Kämpfenden und Zeugen erfolgte. Die beiden Gegner erhoben ihre Waffen. Der Oberst zielte nach der Brust Kurts, dieser aber nach dem Pistolenlauf des ersteren. Da begann der Rittmeister langsam zu zählen: »Eins – zwei – drei!«
Bei drei krachten die beiden Schösse – keine Kugel hatte getroffen.
»Der erste Schuß!« sagte Kurt gleichmütig, indem er seine Pistole an Platen gab, um sie wieder laden zu lassen.
Nach zwei Minuten war man fertig, und des Rittmeisters Stimme klang:
»Eins – zwei – drei!«
Es blitzte hüben und drüben auf, aber beide Gegner standen abermals unversehrt.
»Der zweite Schuß!« zählte Kurt.
Der Oberst zuckte zornig die Achsel.
»Das ist nur ein verdammter Zufall!« rief er. »Zum dritten Male werde ich nicht wieder fehlen. Jetzt gilt es das Leben!« – »Nein, nur die Hand!«
Bei diesen Worten nahm Kurt die wieder geladene Pistole in Empfang und erhob sie. Der Oberst zielte so genau wie möglich. Er war bereits unruhig geworden. Woher die Fehlschüsse? Verstand dieser Helmers zu zaubern? Er zählte jetzt die Schüsse in demselben Ton und mit derselben Kaltblütigkeit, wie er vorhin die Hiebe gezählt hatte!
Diese Gedanken raubten dem Oberst seine Unbefangenheit. Kurt zielte nicht auf die Mündung der Pistole, sondern auf die Hand, die dieselbe umspannt hielt. Ein Neigen seines Kopfes nach der Seite hin, auf der der Rittmeister stand, deutete an, daß er den Kommandoworten desselben jetzt mehr Aufmerksamkeit schenkte als vorher. Es galt, dem Gegner zuvorzukommen; natürlich durfte dies nicht ein so bemerkbares Intervall betragen, daß man es unehrlich hätte nennen können; es handelte sich darum, nur einen kleinen Augenblick eher abzudrücken. Jetzt begann der Rittmeister zum dritten Male:
»Eins – zwei – drei!«
Die Schüsse krachten.
»Herrgott!« rief zu gleicher Zeit der Oberst und fuhr einige Schritte zurück. – »Der dritte Schuß!« zählte Kurt mit unbewegten Gesichtszügen.
Das abgeschossene Pistol des Obersten fiel zur Erde, während er selbst mit seiner linken Hand nach dem rechten Arm langte.
»Sind Sie getroffen?« fragte der Sekundant, indem er herbeisprang. – »Ja, in die Hand«, antwortete der Verwundete.
Auch der Arzt eilte herbei und ergriff den Arm, um die Verwundung zu untersuchen. Er schüttelte den Kopf und blickte mit einer Art von Entsetzen zu Kurt herüber, der kalt und unbeweglich auf seinem Platz stand.
»Zerschmettert, vollständig zerschmettert«, erklärte er, indem er mit der Schere den Ärmel bis zum Ellbogen aufschnitt. »Die Kugel ist durch die Hand gegangen, hat sodann das Handgelenk zerrissen und ist in den Unterarm eingedrungen. Da hat sie die Röhre zerschmettert und ist hier durch den Rock wieder herausgedrungen. Sie kann nicht weit von hier liegen.« – »Kann die Hand gerettet werden?« fragte der Oberst voller Angst. – »Nein, ganz unmöglich; sie muß herunter!« – »Also dienstunfähig?« fragte Kurt. – »Vollständig!« antwortete der Arzt, dem es vor Kurt fast zu grauen begann. – »So kann ich meinen Posten hier verlassen«, meinte dieser. »Die Herren werden mir zugeben, daß ich mein Ehrenwort eingelöst habe; dasjenige des Herrn Obersten nehme ich mit, er hat nun keines mehr.«
Er warf das Pistol zur Erde und schritt davon. Röschen erwartete ihn leuchtenden Auges. Es lag eine ganze Welt voll Stolz in ihren Blicken.
»Du hast wieder gesiegt!« sagte sie in unterdrücktem, aber doch fast aufjauchzendem Ton. »Ich wußte es, dich kann keiner überwinden. Ist seine Hand wirklich verloren, lieber Kurt?« – »Ja, er kann niemals wieder den Säbel führen.« – »Das ist gerecht und doch schaurig zugleich. Komm, laß uns fortgehen.« – »Wir müssen doch auf Platen warten, liebe Rosita. Ich will dir sagen, daß ich jetzt wieder Atem hole. Ich bin meines Schusses zwar sicher, aber das Gelingen desselben hängt von vielem ab. Ich ziele ganz genau auf die Mündung meines Gegners, aber dieser darf während des Abdrückens ein wenig wanken, so treffen sich die Kugeln nicht, sondern uns. Darum muß man dieses Wanken des Feindes verhüten, und zwar dadurch, daß man ihn sicher macht, so daß er ruhig zielt. Zu diesem Zweck habe ich zuvor einen scheinbaren Fehlschuß getan.« – »Ah, du wolltest den Zapfen nicht treffen?« – »Nein. Daß ich ihn nicht traf, gab dem Obersten seine ganze Besonnenheit zurück. Sein Visieren war infolgedessen fest und genau, darum das meinige auch, und so gelangen mir meine drei Schüsse. Doch komm, laß uns einstweilen zum Wagen gehen. Platen wird bald nachkommen.«
Dieser war allerdings auf dem Kampfplatz stehengeblieben. Er konnte nicht begreifen, wie Kurt den Verlauf des Kampfes so genau hatte vorher bestimmen können, und sah dem Arzt zu, der sein Messer in einer Weise gebrauchte, daß der Oberst den Schmerz nicht verbeißen konnte.
»Auch ich ein Krüppel, auch ich!« rief dieser. »Ravenow, hören Sie es?« – »Ob ich es höre?« antwortete dieser, trotz seiner Schwäche am Arm Golzens herbeitretend. »Ich höre es nicht bloß, sondern ich sehe es auch. Mit diesem Menschen ist der Satan im Bund. Ich hoffe, daß er ihn bald zur Hölle holt!« – »Du irrst«, meinte Platen ernst. »Was du Satan nennst, besteht nur in einer vollendeten Übung in Führung der Waffen. Er ist mein Freund, und ich darf nicht ruhig zuhören, wenn man nach solchen Beweisen von Mut, Ehrgefühl, Hochsinn und Brauchbarkeit, wie er sie gegeben hat, noch immer fortfährt, ihn zu lästern. Nicht er ist es gewesen, der beleidigt hat, und dennoch wollte er kein Blut, trotzdem er den Ausgang genau kannte, den wir hier leider vor uns sehen. Ihr wolltet ihn töten oder dienstunfähig machen, nun seid ihr es selbst. Dazu kommt die Strafe, die euch erwartet, und der ihr nur dann entgeht, wenn euch sein Einfluß vor ihr rettet. Wer nach Tatsachen, die so laut für ihn sprechen, ihn noch immer schändet, der ist kein Ehren– und auch kein verständiger Mann. Verliere ich wegen dieser meiner Offenheit eure Freundschaft, so muß ich es tragen, doch die seinige wird mich entschädigen. Gleich sein erstes Auftreten hat mir bewiesen, daß er kein Alltagsmensch ist, den man in gewöhnlicher Weise beurteilen darf, das konnte jeder bemerken. Ich habe vermitteln wollen, man hat es jedoch nicht berücksichtigt; ich sage, wie vorhin der Herr Rittmeister, als man seinen Sühneversuch zurückwies: Ich wasche meine Hände in Unschuld. Adieu!«
Platen ging, ohne eine Antwort abzuwarten, und fuhr mit Kurt und Röschen davon. Er hatte als wahrer Freund Kurts gehandelt und gesprochen.
»Ich bin ganz steif vor Staunen«, rief Ravenow. »Dieser Platen hat ein sehr gutes Talent zum Beichtvater. Wäre ich nicht verwundet, so forderte ich ihn vor die Klinge, um ihm eine Tonsur zu scheren!« – »Der Löwe ist verwundet, da bellen ihn die Schakale an«, fügte der Oberst hinzu. »Aber es ist doch noch nicht zu Ende mit uns. Au, Doktor! Was schneiden Sie denn? Glauben Sie ein Kotelett vor sich zu haben?« – »Sie müssen es aushalten, Herr Oberst«, antwortete der Gescholtene. »Ich habe nur noch diesen Hautfetzen übrig, dann ist die Hand herunter.« – »Daß es auch die Rechte ist!« stöhnte Ravenow vor Grimm. »Aber ich werde mich mit der Linken üben, und sobald ich einen sicheren Schuß habe, fordere ich ihn. Dann soll er mir nicht zum zweiten Male entgehen!« – »Regen Sie sich nicht weiter auf«, bat der Arzt. »Herr von Golzen, führen Sie den Herrn Leutnant nach seinem Wagen. Er mag nach Hause fahren, ich werde in einer Stunde bei ihm sein.« – »Meinetwegen«, sagte Ravenow. »Hier ist doch nichts mehr zu tun.« Und mit höhnischem Lächeln setzte er hinzu: »Herr Oberst, ich bin unwohl, darf ich um einigen Urlaub bitten?« – »Gehen Sie!« brummte der Vorgesetzte. »Ich befinde mich genau in derselben Lage und bin neugierig, wie diese Krankheit sich nach oben hin entwickeln wird. Machen Sie, daß Sie zu Ende kommen, Doktor; oder halten Sie es für eine Annehmlichkeit, an Ihr verdammtes Messer geliefert zu sein?«
In kurzer Zeit rollten die Wagen von dannen, und die Waldblöße lag im Morgenlicht wieder so still und einsam da wie vorher. Man nennt den Zweikampf ein Gottesgericht, er ist es nicht immer, hier aber war er es gewesen.
15. Kapitel
An derselben Ecke, an der er sie erwartet hatte, nahmen Kurt und Röschen Abschied von Platen.
»Was werden Sie tun?« fragte dieser. »Sich freiwillig melden?« – »Ich weiß es noch nicht«, antwortete Kurt. »Die freiwillige Meldung wird wohl das beste sein. Zunächst bin ich müde und werde mich ausruhen, dann wird es sich ja finden, was zu beschließen ist.« – »Bei mir ist von Schlaf keine Rede, denn der Dienst hält mich wach. Nun fehlen der Oberst und Ravenow. Ich ahne, daß ich heute einen sehr unruhigen Tag haben werde. Adieu, lieber Helmers. Adieu, gnädiges Fräulein!«
Platen fuhr mit seinem Wagen davon, während das schöne junge Paar die kurze Strecke bis zum Palais zu Fuß zurücklegte.
Dort war noch niemand wach, und sie konnten eintreten, ohne bemerkt zu werden. Röschen begleitete Kurt zunächst nach seinem Zimmer, der Weg nach dem ihrigen führte dort vorüber. Er öffnete und trat ein, und sie folgte, um sich da von ihm zu verabschieden.
»Weißt du wirklich nicht, was du tun wirst?« fragte sie ihn. – »Nein. Eigentlich hätte ich meinem Obersten Mitteilung von der Sache zu machen, da dieser aber selbst beteiligt war, so verbietet sich das von selbst. Wir wollen ausruhen, Röschen, dann werden wir uns überlegen, was zu tun ist. Für jetzt danke ich Gott, daß ich dem Tode entgangen bin, dem ich geweiht war. Weißt du, unter welchem Schutz ich in dieser Gefahr gestanden habe?« – »Nun?« – »Unter dem deinigen.« – »O nein«, lächelte sie. »Du hättest ja sogar meinen dummen Angstruf fast mit dem Leben bezahlen müssen!« – »Aber ich hatte den Talisman bei mir, den du mir gegeben hast.« – »Ah, meine Schleife! Ja, du warst ein tapferer Ritter und hast die Ehre deines Burgfräuleins gar wacker verteidigt.« – »Was aber soll mit dem Talisman werden? Forderst du ihn zurück?«
Sie errötete, sagte aber:
»Das wird sich auch finden, wenn wir ausgeruht haben. Solche wichtigen Dinge müssen genau überlegt sein.« – »Jetzt bist du einmal eine recht böse Rosita!« schmollte er. – »Warum?« – »Weil du nicht Wort hältst. Du versprachst mir ja die Entscheidung für jetzt. Sie sollte von dem Kampf abhängen.« – »Hm, ja, es ist möglich, daß ich dies gesagt habe. Aber ist es mit dieser Entscheidung denn gar so sehr eilig?« – »Das versteht sich!« lachte er fröhlich. »Ich muß wirklich wissen, ob der Talisman eingelöst werden soll oder nicht« – »Mit einem Kuß?« – »Ja, mit einem Kuß.«
Sie stand vor ihm so hold und lieblich. Die Morgensonne blickte zum Fenster herein und umarmte das schöne Mädchen mit warmen Strahlen. Waren diese Strahlen schuld oder etwas anderes, daß ihre Augen auf einmal so tief erglänzten und ihre Wangen sich so zauberisch färbten?
Da legte sie ihm die Hand auf den Arm und sagte:
»Lieber Kurt, weißt du, daß ich mit dir recht sehr zufrieden bin? Du warst ein wirklicher, echter Held, du konntest beide töten und hast es doch nicht getan. Du hast, um mich zu rächen, dein Leben gewagt, darum will ich den Talisman einlösen, wenn es dir recht ist.« – »Mit einem Kuß?« fragte er, jetzt beinahe selbst errötend. – »Ja, denn so war es doch ausgemacht.« – »Und jetzt gleich?« – »Natürlich! Du hattest es ja sogar sehr eilig!«
Da griff er in die Brust zog die Schleife hervor und reichte sie ihr hin.
»Hier ist sie, Rosita.« – »Und hier ist der Kuß.«
Sie legte ihm schnell die kleinen Händchen auf die Schultern, näherte ihr gespitztes Mündchen seinen Lippen und gab ihm einen Kuß, so fein, so vorsichtig, wie ein spielendes Kind seine Puppe küßt.
»Ah, das ist ein Kuß?« fragte er, doch ein wenig enttäuscht.
Er hatte nicht einmal den Arm um sie legen können, so schnell war sie zurückgewichen.
»Ich denke«, lachte sie schelmisch. »Oder war es etwas anderes?« – »Es war ein Kuß, aber so einer, wie man zum Beispiel eine alte Tante küßt, die eine recht häßliche, lange Nase hat und einige Warzen darauf.« – »Hast du schon viele Tanten geküßt, weil du das so genau weißt?« – »O nein, denn alte Tanten küßt man nicht sehr gern.« – »Wen sonst?« – »Junge, hübsche Röschen!« antwortete er. – »Geh, das sollst du mir nicht sagen! Dafür muß ich dich bestrafen. Ich mag nun deinen Talisman gar nicht. Hier, nimm ihn wieder.«
Er griff hastig nach der Schleife, legte sie hinter sich auf den Tisch und meinte mit einer sehr wichtigen Miene.
»Aber das geht nicht so schnell!« – »Was denn, lieber Kurt?« – »Die Rücklieferung eines Talismans. In so wichtigen Dingen muß man sehr gerecht und uneigennützig handeln.« – »Das bist du stets. Aber wie ist das hier gemeint?« – »Du hattest den Talisman bezahlt. Wenn du mir ihn wiedergibst, so bin ich verpflichtet, dir den Preis zurückzuerstatten.«
Er sah sie mit Augen an, wie sie es bei ihm noch nicht bemerkt hatte. Ihr Herzchen klopfte, es wurde ihr so warm auf der Stirn und an den Schläfen, so heißt auf den Wangen, es war ihr, als ob ihre Knie ein wenig zitterten. Und plötzlich wurde es ihr so rot vor den Augen, dann dunkler und immer dunkler. Sah sie nicht mehr, oder hatte sie die Augen zugemacht? Sie wußte es selbst nicht. Sie fühlte nur, daß sich ein Arm ihr um die Schulter legte, dann schlang sich ein anderer um ihre Taille. Sie stand gar nicht mehr im Zimmer, sondern sie flog durch den Äther, ja wirklich, sie hatte Flügel, und rund um sie glänzten tausend Sonnen, Millionen Engel sangen wundersüße Psalmen, und der liebe Gott blickte so gnädig in all den Jubel drein. Das sah und das hörte, das fühlte sie. Und doch war es nur ein Traum, der höchstens einige Augenblicke gedauert hatte, denn sie war ja wieder auf der Erde, hier im Zimmer. Sie fühlte sich von den beiden Armen leise gezogen, bis ihr Köpfchen an einem Herzen lag, welches sie laut und heftig pochen hörte. Und dann legten sich zwei Finger warm unter ihr Kinn, um dasselbe sanft und leise emporzuheben, und eine Stimme, die sie gar wohl kannte, aber noch nie so mild, so tief erzitternd gehört hatte, sagte in flehendem Ton:
»Rosita, bitte, mache deine lieben Augen auf!«
Sie konnte nicht antworten, denn ihr Herz war zum Zerspringen voll, aber es war kein einziges Wort darin. Und wieder bat diese klare, innige Stimme:
»Röschen, liebes Röschen, blicke mich doch einmal an.« – »Nein!« hauchte sie, so daß er es kaum hören konnte. – »Warum nicht?« – »Ich kann nicht.« – »Weshalb nicht?« – »Weil – weil ich mich so sehr fürchte.« – »Vor mir etwa? Bist du mir vielleicht bös, meine Rosita?« – »O nein, lieber Kurt!« – »Gar nicht?« – »Gar nicht!« flüsterte sie. – »Oh, dann will ich dir die Augen heilen, die du nicht öffnen kannst«
Und jetzt fühlte sie zwei warme Lippen erst auf dem rechten und dann auf dem linken Auge. Nun drückten sie sich gar auf die beiden neckischen Grübchen in den Wangen. Das war doch sonderbar, so daß man die Augen wirklich öffnen mußte, wenn auch nur ein ganz klein wenig. Aber sie schlossen sich sofort wieder, denn sie wurden förmlich geblendet von einem Blick, der von oben herab in sie hineinleuchtete wie ein heller, wonniger Sonnenstrahl in das kristallene Blau eines tiefen, jungfräulichen Bergsees. Und dann erschrak sie so sehr, daß sie am ganzen Körper zusammenzuckte, denn die beiden warmen Lippen berührten nun sogar ihren Mund, erst leise, wie sich die Augenwimpern auf die Lider legen, dann fester und fester – war denn das ein Kuß? Nein, das war ein großer, ein gewaltiger Raub, ihre Seele wurde ihr genommen, sie fühlte, wie dieselbe durch die Lippen entwich, hinüber zu dem, in dessen Armen sie lag, in den Armen, die sich jetzt um sie schlangen, so warm und fest und innig. Und seine Lippen lösten und senkten sich immer wieder auf ihren Mund. Sollte sie sich wehren? O nein, sie war ja gefangen, sie konnte ja nicht. Und bös war sie ja auch nicht auf ihn, denn da jetzt seine leise Frage erklang: »Zürnst du mir, meine Rosita?«, da trieb es sie aus der tiefsten Tiefe ihres Inneren, ihm zu antworten:
»Nein, mein lieber Kurt.«
Und nun küßte er sie wieder, sie konnte gar nicht zählen, wie viele Male, bis draußen auf dem Korridor der schlürfende Schritt des Hausmeisters erklang, der sein Tagewerk beginnen wollte.
Jetzt öffnete sie die Augen, denn Kurt hatte seine Arme von ihr genommen, so rasch, als ob der alte Hausmeister hätte eintreten wollen. Er stand vor ihr, so wie sie ihn noch niemals gesehen hatte. Das waren seine Augen nicht mehr und auch sein Gesicht nicht, und dennoch war er es. Kam es vielleicht daher, daß ihre Seele zu ihm hinübergegangen war? Und jetzt nahm er sie bei den Händen, schaute ihr tief in die Augen und sagte mit einem Lächeln, wie sie es vorhin bei den Engeln im Himmel gesehen hatte:
»Siehst du, meine liebe Rosita, das war ein Kuß.«
Bei diesem Ton seiner Stimme kehrte ihr voriges Wesen zurück, so daß sie neckisch fragen konnte:
»Nicht wie bei einer Tante?« – »Bei einer alten!« – »Mit einer langen Nase?« – »Und vielen Warzen darauf!«
Und nun lachten die beiden so herzlich über die Tante und die Nase und die Warzen, daß sie es gar nicht merkte, daß er ihr wieder einen Kuß gab und noch einen und noch mehrere und viele, bis die Nase doch nicht ganz so lang war wie die lange Reihe von Küssen und sie endlich voreinanderstanden und sich nur noch bei den Händen hielten, um Abschied voneinander zu nehmen.
Sie hatten beide das Duell vergessen, er hatte ferner ganz und gar vergessen, daß sein Vater ein Schiffer sei, und sie ebenso, daß sie die Enkelin eines Herzogs war. Und daran war nur der lange, süße Kuß schuld gewesen.
»Nun gehe ich«, sagte sie, als müsse sie sich entschuldigen. »Oh, wie ist das so schade«, antwortete er, als habe er ein entsetzlich großes Recht auf ihre Gegenwart.
Dafür mußte er gestraft werden. Daher entzog sie ihm ihre beiden kleinen Händchen und wandte sich nach der Tür, um zu gehen. Aber der Mensch ist leider so inkonsequent, sie drehte sich gleich wieder herum, gab ihm ihre Hände zurück und meinte:
»Ich muß aber dennoch gehen, lieber Kurt. Nicht wahr, das siehst du auch ein?«
Er machte nun zwar ein Gesicht, als ob er das ganz und gar nicht einsehe, aber ein tapferer Ritter gibt seinem Burgfräulein immer recht, er ist ihr dies schuldig, und darum stimmte er so ziemlich bei, indem er antwortete:
»Ja, liebes Röschen, es scheint mir wirklich so, als ob ich es beinahe einsehe.« – »Siehst du! So schlafe dich aus. Gute Nacht!« – »Gute Nacht, Rosita!«
Und nun ging sie wirklich, denn sie öffnete wahrhaftig die Tür, ehe sie dieselbe wieder heranzog, wobei sie eine Miene machte, als ob sie sich auf etwas Hochwichtiges besonnen habe. Dann hob sie warnend den rosigen Finger empor, zog die dunklen Brauen geheimnisvoll in die Höhe und flüsterte im Ton einer intimen Bekanntmachung:
»Wir hätten eigentlich nicht gute Nacht sagen sollen, sondern guten Morgen.«
Er sah sich nach dem Fenster um, um zu sehen, ob sie recht habe, doch wunderbar, er kam ihr dabei immer näher, obgleich zwischen ihr und dem Fenster, durch das er sah, das ganze Zimmer lag. Und als er sich ein genügendes Urteil über die da draußen herrschende Morgenhelle gebildet hatte und sich umdrehte, da fühlte er, daß auf eine ganz unbegreifliche Weise ihre Hand in die seinige gekommen war. Ihr Gesichtchen befand sich merkwürdig nahe an dem seinigen, und er fühlte sich darüber so erschrocken, daß er auf ihre wiederholte Erkundigung: »Nicht wahr, lieber Kurt?« zuerst mit einem Kuß antwortete und dann erst in regelrechter Weise sein Gutachten abgab:
»Ja, mir scheint es auch so.«
Er bewies die Wahrheit dieser Ansicht mit einem zweiten Kuß, der eine so feste Überzeugung in ihrem Herzen bewirkte, daß sie nun außer allem Zweifel war und infolgedessen unter seinem letzten Händedruck ihn bat:
»So wollen wir sagen: Guten Morgen, lieber Kurt!« – »Guten Morgen, meine liebe Rosita! Ich werde ganz gewiß von dir träumen!« – »Schönes?« – »Sehr Liebes und Schönes!« – »Du wirst es mir erzählen?« – »Sehr gern!« – »Und nichts weglassen?« – »Gar nichts!«
Aber weil ihm doch vom vielen und langen Küssen träumen würde und er bei der Erzählung vielleicht einen vergessen konnte, war er so klug, sich gerade diesen einen noch vorweg zu nehmen, wobei beide bereits draußen auf dem Korridor standen. Doch dauerte dieser Kuß nicht allzu lange, denn die Hausglocke erschallte, und ein sehr unmelodisches, blechernes Klirren ließ vermuten, daß die Milchfrau unten stehe. Die beiden fuhren auseinander, er in sein Zimmer hinein und sie mit leisen Schritten den Korridor entlang in das ihrige. Und als sie beide nun allein waren, stand er hinter seiner Tür und flüsterte, die Hände auf dem Herzen:
»Oh, wie liebe, wie liebe ich sie!«
Und sie stand hinter der ihrigen, holte tief Atem, hielt die Hände über dem Busen gefaltet, der seine Hülle beinahe zersprengen wollte, und flüsterte:
»Was war das? Was habe ich getan! O mein Gott, das darf ich Mama gar nicht sagen, nein, niemals, niemals!«
Sie ging in ihrem Zimmer auf und ab, sie wußte nicht, was sie fühlte und dachte. So wanderte sie langsam, aber ruhelos, bis endlich geklopft wurde und sie das Mädchen einlassen mußte, das sie zu bedienen hatte. Dieses wunderte sich, die Herrin bereits wach zu finden, aber sein Erstaunen wuchs, als es in das Nebenkabinett trat und das unberührte Bett bemerkte.
»Mein Gott, Sie haben gar nicht geschlafen?« fragte es. – »Nein«, lautete die kurze Antwort. »Bringe die Schokolade, und dann kleide ich mich an.« – »Welche Robe?« – »Die penseeseidene. Ich fahre aus.« – »So früh?!« – »Es ist notwendig. Sage dem Kutscher, daß er anspannen möge.«
Es war acht Uhr und noch gar keine Visitenzeit, als der Diener den Schlag öffnete, um Rosita in die Equipage steigen zu lassen.
»Zum Kriegsminister«, befahl sie dem Kutscher.
Der Wagen rollte fort, ohne daß Kurt ihn sah oder hörte, denn er lag jetzt eben in den schönen Träumen, die er seiner Rosita erzählen wollte.
Seine Exzellenz waren noch nicht zu sprechen, und so mußte man warten, der Kutscher unten auf der Straße auf seinem Bock und Röschen oben im Salon, denn der Diener hatte es nicht gewagt, ihr zuzumuten, im Vorzimmer zu bleiben.
Als der Minister sich erhob, hörte er, daß ein Fräulein Sternau ihn um eine Unterredung ersuche, die so dringlich sei, daß sie es gewagt habe, ihn in so früher Stunde zu belästigen. Er kannte diesen Namen nur zu gut und beeilte sich in seiner Toilette so, daß er bereits nach zehn Minuten vor ihr stand.
Der im Vorzimmer postierte Diener hörte die Dame viel und zusammenhängend sprechen, sie schien etwas zu erzählen. Dann folgte ein lebhaftes Zwiegespräch, und als Fräulein Sternau den Salon verließ, glänzte auf ihrem Gesicht die Freude eines errungenen Erfolges. Seine Exzellenz begleitete sie höchstselbst bis zum Wagen und gab, in das Zimmer zurückkehrend, den Befehl, sofort den Leutnant Platen von den Gardehusaren zur Audienz zu beordern.
Als Röschen nach Hause zurückkehrte, fand sie die Ihrigen versammelt. Man hatte sich gewundert, daß sie ausgefahren war, und als sie fallenließ, daß sie vom Kriegsminister komme, richtete man eine solche Menge von Fragen an sie, daß sie es endlich am geratensten hielt, alles zu erzählen.
16. Kapitel
Unterdessen erschrak Platen nicht wenig, als er erfuhr, daß er zum Kriegsminister solle. Er befand sich auf dem Kasernenhof und eilte schleunigst nach seiner Wohnung, um die große Uniform anzulegen. Er war überzeugt, daß es sich nur allein um das Duell handle, aber woher hatte der Minister Kenntnis davon erhalten?
Als er in das Vorzimmer trat, schien er von dem Diener bereits erwartet worden zu sein, denn dieser fragte:
»Herr Leutnant von Platen?« – »Ja.« – »Exzellenz sind noch beschäftigt. Treten Sie einstweilen hier ein.«
Er führte ihn an mehreren Türen vorüber nach einem Eingang, den er öffnete. Platen fuhr beinahe erschrocken zurück, denn er sah vor sich einen kleinen, höchst reich ausgestatteten Damensalon, in dem die – Frau Minister saß, mit einem Buch in der Hand. Bei seinem Anblick erhob sie sich leicht, nickte ihm wohlwollend zu und sagte:
»Treten Sie nur näher, Herr von Platen! Mein Mann hat noch eine Kleinigkeit zu ordnen, und so habe ich Sie zu mir führen lassen, um mich bei Ihnen unterdessen nach einem höchst interessanten Ereignis zu erkundigen, dessen Zeuge Sie gewesen sind, wie man mir berichtet hat.«
Er nahm nach einem ehrfurchtsvollen Gruß auf dem Fauteuil Platz, welchen sie ihm bezeichnete, und wartete gespannt des Weiteren. Eine Tür, die in ein Nebenzimmer führte, war um eine kleine Spalte geöffnet, und durch diese Spalte fiel ein Schatten herein, der nur von einem Menschen herrühren konnte. Diese Beobachtung ließ den Leutnant die ganze Situation begreifen. Der Minister hatte über das Duell Nachricht erhalten, er hatte Gründe, die Angelegenheit zunächst nicht auf dienstlichem Weg kennenzulernen, und so sollte Platen der Frau erzählen, während der Minister im Nebenzimmer Wort für Wort hörte und seine Entschließungen treffen konnte. Daß man gerade ihn, den Sekundanten Kurts, herbeigerufen habe, ließ ihn vermuten, daß man besonders um des letzteren willen solche Rücksicht walten lasse.
»Man sagt, Sie kennen den Leutnant Helmers von den Gardehusaren?« begann die hohe Frau. – »Ich habe die Ehre, sein Freund zu sein«, antwortete Platen. – »So bin ich also gut unterrichtet worden. Lassen Sie mich ohne Umschweife auf den Gegenstand eingehen. Dieser Leutnant hat sich heute früh geschlagen?« – »Allerdings. Ich habe keinen Auftrag, diese Tatsache in Abrede zu stellen.« – »Mit wem?« – »Mit seinem Obersten und dem Leutnant Ravenow von seiner Schwadron.« – »Und der Ausgang dieser außerordentlichen Affäre?« – »Helmers hat Ravenow die rechte Hand abgehauen und dem Obersten die rechte Hand vollständig zerschmettert. Beide sind dadurch unfähig geworden, länger zu dienen.« – »Mein Gott, welch ein Unglück! Aber beiden die rechte Hand! Gewiß ein Zufall!« – »Verzeihung, Exzellenz, es war nicht Zufall, sondern Absicht.« – »Absicht? Schrecklich! Erzählen Sie! Aber ausführlich und objektiv!«
Platen berichtete der Frau des Kriegsministers von der förmlichen Verschwörung, die sich gegen Helmers Eintritt in das Regiment entsponnen hatte, von dem Empfang, der ihm bei allen Vorgesetzten geworden war, von der geradezu empörenden Art und Weise, in der man ihn behandelt hatte, und von dem männlichen, besonnenen Benehmen des Angegriffenen. Er schilderte die Wahrheit, und zwar als Freund, so daß auf Helmers nicht der leiseste Schatten eines Vorwurfes fiel. Und so kam es, daß, als er geendet hatte, die Dame im Ton des allerhöchsten Interesses ausrief:
»Ich danke Ihnen, Herr Leutnant. Ihr Freund ist ja ein ganz außerordentlicher Mensch. Nach dem, was ich von Ihnen höre, hat er das Zeug, sich eine glänzende Zukunft zu schaffen. Was aber beabsichtigt er zu tun, um den Folgen dieses unglücklichen Duells zu entgehen?« – »Zu entgehen?« fragte Platen. »Exzellenz, Helmers ist nicht der Mann, den Konsequenzen eines Ereignisses, zumal wenn er dasselbe nicht verschuldet hat, zu entgehen. Ich bin überzeugt, daß er sich der kompetenten Behörde stellen wird.« – »Sie scheinen ihm Ihr ganzes Vertrauen zu widmen.« – »Exzellenz, es gibt Menschen, die sich das Vertrauen im Sturm erobern und gar nicht imstande sind, es jemals zu täuschen. Helmers gehört zu ihnen.« – »Dennoch bleibt diese Angelegenheit höchst fatal. Man spricht nicht gern von ihr, und auch ich ersuche Sie dringend, nicht zu erwähnen, daß sie Gegenstand unseres Gespräches gewesen ist.«
Er bemerkte jetzt, daß der vorhin erwähnte Schatten verschwunden war, mit demselben jedenfalls auch der Minister. Die Dame machte ihm unter einem protegierenden Lächeln die Abschiedsverbeugung, und er empfahl sich ihr durch eine tiefe Verneigung. Kaum hatte er draußen die Tür zugedrückt, so bat ihn der Diener, in das Kabinett seiner Exzellenz einzutreten, die jetzt zu sprechen sei.
Er trat in das Arbeitskabinett des Ministers und fand diesen anscheinend in ein Aktenheft vertieft, das vor ihm lag. Beim Erscheinen des Leutnants jedoch schlug er dieses Heft zusammen, erhob sich und nickte ihm mit mildem Lächeln zu. Nachdem er die elegante Erscheinung des jungen Mannes mit prüfendem Blick überflogen hatte, begann er in freundlichem Ton:
»Ich habe Sie rufen lassen, um Ihnen einen etwas ungewöhnlichen Auftrag zu geben, Herr von Platen.« Und nachdem er einige Augenblicke wie nach Worten gesucht hatte, fuhr er fort: »Ich höre, Sie sind heute morgen bei einem kleinen Jagdunternehmen beteiligt gewesen, Leutnant?«
Platen wußte sofort, woran er war. Der Minister wollte das Renkontre als Jagdpartie gelten lassen, bei der zufälligerweise zwei Offiziere verwundet worden seien. Darum antwortete er mit einer leichten, zustimmenden Verneigung:
»Zu Befehl, Exzellenz!« – »Leider vernehme ich«, fuhr der Minister fort, »daß dieses Unternehmen nicht ganz glücklich abgelaufen ist. Zwei der betreffenden Herren scheinen nicht beachtet zu haben, daß man mit gefährlichen Waffen stets vorsichtig umzugehen hat. Sie sind verletzt worden?« – »Leider, Exzellenz.« – »Schwer?« – »Lebensgefährlich zwar nicht, unglücklicherweise aber doch so, daß nach dem Ausspruch des Arztes eine dauernde Dienstuntauglichkeit die Folge sein wird.« – »Das ist schwer zu beklagen. Ich habe mir sagen lassen, daß die Schuld diese beiden Herren ganz allein trifft. Ist die Angelegenheit bereits in weitere Kreise gedrungen?« – »Ich bin vom Gegenteil überzeugt, Exzellenz.« – »So wünsche ich, daß man bis auf weiteres das tiefste Schweigen beobachte. Sie begeben sich sofort zu den beteiligten Herren, um ihnen dies streng anzudeuten. Die beiden Verwundeten werden wohl kaum die Absicht haben, ihr Zimmer zu verlassen, es soll aber auch niemand ihren Zustand sehen, und darum befehle ich ihnen durch Sie, keinen Besuch anzunehmen. Die Herren haben sich ganz so zu verhalten, als ob sie mit Zimmerarrest belegt seien. Ich habe Konferenz mit Majestät und werde diese Angelegenheit dabei zum Vortrag bringen. Punkt elf Uhr melden Sie sich dann bei mir, um das Weitere zu vernehmen.«
Eine leichte Handbewegung deutete dem Leutnant an, daß er entlassen sei. Er ging, und zwar zunächst zum Obersten, indem er sich vornahm, weder mit diesem noch mit Ravenow in zu großer Milde zu verhandeln.
Er fand den Obersten im Bett liegen, umgeben von den Gliedern seiner Familie. Die Hausfrau trat ihm mit vor Zorn gerötetem Angesicht entgegen und rief:
»Ah, Leutnant Platen, ich habe Ihnen zu sagen …« – »Bitte«, unterbrach er sie schnell, »so kurzweg Leutnant Platen werde ich nur von Kameraden genannt, und zwar auch nur von denen unter ihnen, denen die Freundschaft die Erlaubnis erteilt, sich in dieser sonst nicht gebräuchlichen Kürze auszudrücken.«
Sie stockte, fuhr aber dann mit noch mehr erhöhter Stimme fort:
»Nun wohl, mein verehrtester Herr Leutnant von Platen, ich habe Ihnen zu sagen, daß es geradezu eine Schändlichkeit ist, meinen Mann in dieser Weise zuzurichten!«
Platen erwartete natürlich, daß der Oberst diesen gewaltsamen Ausfall mit einer Zurechtweisung bedenken werde, da dies aber nicht geschah, so antwortete er:
»Wenn hier von einer Schändlichkeit die Rede sein kann, so ist sie wenigstens nicht dem Herrn Obersten widerfahren. Ich will über diesen starken Ausdruck hinwegsehen, weil Sie eine Dame sind und als Gattin die Angelegenheit nicht unparteiisch beurteilen.« – »Oh, ich beurteile diese Angelegenheit sehr gerecht. Ich werde mich noch an diesem Vormittag zum General begeben und verlangen, daß man diesen Menschen, der seinen Vorgesetzten verstümmelt, zur Rechenschaft ziehe.« – »Ich bin in der Lage, Ihnen diesen Schritt zu ersparen, denn ich komme als Ordonnanz Seiner Exzellenz des Kriegsministers.« – »Ah!« sagte sie erschrocken.
Der Verwundete erhob überrascht den Kopf, und auch die anwesenden Kinder desselben gaben Zeichen ihres großen Erstaunens.
»Von der Exzellenz?« fragte der Oberst. »Was werde ich hören?« – »Ich habe Ihnen den Befehl zu überbringen, daß kein Mensch über unsere Angelegenheit bis auf weiteres sprechen soll. Sie dürfen Ihr Zimmer nicht verlassen und auch keinen Besuch empfangen.« – »Ah, so bin ich Gefangener?« – »Das eben meinte Exzellenz. Übrigens bewahrheitete sich das, was ich Ihnen sagte, bevor ich das Rendezvous verließ: Mit Rücksicht auf meinen Freund Helmers hat der Minister die außerordentliche Gewogenheit, anzunehmen, daß Sie auf einer Jagdpartie zufälligerweise verwundet worden sind. Es steht also zu erwarten, daß der Einfluß Ihres verachteten Gegners Sie vor der Festungsstrafe bewahren wird. Adieu, Herr Oberst!«
Nach einer sehr zeremoniellen Verbeugung schritt er hinaus, ohne sich um den Eindruck zu bekümmern, den seine Worte hinterließen.
Ravenow, zu dem er nun ging, nahm seine Worte mit grimmigem Schweigen entgegen. Nachdem auch die beiden Sekundanten, der Ehrenrichter und der Arzt benachrichtigt waren, begab sich Platen zu Helmers. Da dieser noch schlief, wurde er einstweilen von dem Herzog von Olsunna empfangen, der den Schlafenden wecken ließ. Dieser war ganz erstaunt zu hören, daß der Minister bereits Kenntnis von der Sache habe, und als Platen äußerte, daß er sich diesen Umstand allerdings auch nicht erklären könne, erzählte der Herzog, was er von Röschen erfahren. Er bat Platen, ihn vorstellen zu dürfen, doch mußte dieser sich entschuldigen, da er vom Dienst gerufen werde. Doch versprach er, wiederzukommen, sobald er vom Minister entlassen sei. Er empfahl sich, und die beiden anderen begaben sich in den Gesellschaftssalon, wo sich die Bewohner des Hauses befanden.
Hier ergriff Kurt die Hand Röschens und sagte unter einem Lächeln des Dankes:
»Du also bist bereits für mich tätig gewesen! Aber weiß du, Röschen, daß du sehr viel gewagt hast?«
Sie lächelte so lieblich, so schelmisch, daß er sie am liebsten hätte umarmen mögen, trotz der Zeugen, die zugegen waren, und antwortete ihm:
»Ich mußte ja handeln, da du es vorzogst, zu schlafen. Ob ich sehr viel gewagt habe, das ist nicht so sicher und gewiß. Die Entscheidung des Ministers scheint vielmehr das Gegenteil zu beweisen.«
Auch ihre Mutter war zugegen, ebenso Lord Lindsay mit Amy, seiner Tochter. Das Gespräch, das sich auf das Duell bezog, war natürlich ein sehr angeregtes. Kurt hatte eine Menge freundlicher Vorwürfe anzuhören, die sich auch gegen Röschen richteten, die seine Vertraute und Begleiterin gewesen war, ohne ihn zu verraten. Rosa, ihre Mutter, zitterte bei dem Gedanken, daß ihr zartes, schönes Töchterchen es gewagt hatte, einem Kampf beizuwohnen, bei dem es die beiden Gegner auf das Leben Kurts abgesehen gehabt hatten.
»Sie ist ein echtes Kind ihres Vaters«, bemerkte der Herzog mit heimlichem Stolz darauf, daß er der Vater dieses Vaters sei. – »Und Sie haben wirklich noch keine Nachricht von ihm, von Herrn Sternau?« fragte da der Engländer. – »Leider nicht die geringste«, antwortete der Herzog. »Was Sie uns gestern erzählten, ist das letzte, was wir von ihm hörten.«
Der Lord hatte nämlich berichtet, was er von dem alten Haziendero erfahren.
»Aber die Sendung des Haziendero haben Sie erhalten?« fragte Amy. – »Welche Sendung?« – »Nun, sie war allerdings nicht an Sie, sondern an Herrn Leutnant Helmers gerichtet.«
Kurt horchte auf.
»An mich?« fragte er. »Ich habe nichts erhalten!«
Jetzt kam die Reihe, zu staunen, an Amy und ihren Vater.
»Sie sind doch der Sohn des Steuermanns Helmers?« fragte letzterer. – »Gewiß«, lautete die Antwort. – »Nun, ich habe, allerdings in Ihrer Abwesenheit, gestern das Erlebnis Ihres Oheims in der Höhle des Königsschatzes erzählt. Ihr Oheim hat von Büffelstirn einen Teil dieser Schätze erhalten, einen kleinen Teil, der aber doch ein großes Vermögen repräsentiert. Es ist bestimmt worden, daß die Hälfte davon nach der Heimat gesandt werde, um Ihnen die Mittel zu Ihrer Ausbildung zu bieten. Man wußte in Mexiko nicht, daß Sie hier so freundliche Gönner und Beschützer gefunden haben. Nach dem Verschwinden Sternaus kam der Haziendero Pedro Arbellez nach Mexiko und übergab die Wertsachen dem damaligen Oberrichter Benito Juarez, der sie nach Europa sandte.« – »Ich habe nicht das mindeste erhalten«, wiederholte Kurt. »Die Sendung ist entweder verlorengegangen oder an eine falsche Adresse gerichtet worden.« – »Der Haziendero kannte Ihre Adresse gar nicht, er wußte nur, daß Sie auf einem Schloß in der Nähe von Mainz zu finden seien, daß Ihr Vater der Seemann Helmers sei und daß dies Schloß von einem Hauptmann von Rodenstein bewohnt werde. Darum wurde die Sendung an ein Mainzer Bankhaus adressiert, dessen Chef Sie ausfindig machen sollte.« – »Er müßte mich gefunden haben. Die Sendung ist jedenfalls unterwegs verunglückt.« – »Der Oberrichter hat sie versichert.« – »So bliebe der Wert mir doch erhalten. Es gälte nur, zu erfahren, welches Bankhaus es gewesen ist.« – »Ich habe den Namen aus dem Mund des Haziendero gehört, ihn aber im Laufe der später folgenden Ereignisse aus dem Gedächtnis verloren. Doch wird eine Nachforschung zum Resultat führen. Ich wurde mit meiner Tochter vom Panther des Südens des Nachts gefangengenommen und nach dem südlichsten Teil von Mexiko transportiert. Dort waren wir gefangen, bis der Einfluß von Juarez sich so ausdehnte, daß er auch unsere Berge erreichte. Ich erhielt erst vor acht Monaten meine Freiheit wieder. Sie werden mir gewiß verzeihen, daß ich einen Namen vergessen habe, der mich weniger interessieren konnte.« – »Oh, Mylord, es kann Sie gar nicht der geringste Vorwurf treffen. Ich bin Ihnen im Gegenteil herzlich dankbar, daß ich durch Sie von dieser Sache erfahre. Sie sprechen von Wertsachen. Geld also war es wohl nicht?« – »Nein. Obgleich ich die Gegenstände nicht gesehen habe, weiß ich doch, daß sie in Geschmeide und Kostbarkeiten bestanden, Ketten, Armbändern, Ringen, aus den Zeiten des alten Mexiko stammend und mit kostbaren Steinen besetzt.« – »Ah!« machte Kurt nachdenklich.
Er hatte an der Hand seines Freundes Platen einen Ring gesehen, dessen Form ihm aufgefallen war. Der Reif trug eine eigentümlich gebildete goldene Sonne, deren Mittelpunkt aus einem erhabenen Mosaik von Smaragden und Rubinen bestand. Die Arbeit war eine echte, altmexikanische gewesen.
»Sie haben einen Gedanken?« fragte Amy. – »Ich glaube, irgendwo bei einem meiner Bekannten einen Ring gesehen zu haben, dessen Fassung mexikanisch zu sein schien«, antwortete er ausweichend. »Doch steht dies jedenfalls in keinem Zusammenhang mit unserer Angelegenheit Ich würde also ein Vermögen besitzen, wenn ich mein Eigentum erhalten hätte. Dieser Gedanke hat etwas Eigentümliches. Ich bin keineswegs geldgierig, aber ich werde dennoch in Mainz Nachforschungen anstellen. Ich bin dazu verpflichtet, schon um des Vaters und des Oheims willen, als deren Vermächtnis ich die Gegenstände betrachten muß.«
Während diese Angelegenheit im Verlauf des Gesprächs weiter verfolgt wurde, gab sich Platen seinen dienstlichen Pflichten hin und fuhr zum Minister, bei dem er sich melden ließ. Dieser empfing ihn freundlich. Er stand an einem Tisch, auf dem mehrere versiegelte Schreiben lagen und sagte:
»Sie sind pünktlich, Herr Leutnant, das ist mir lieb, da ich weiß, daß die Herren Ihres Regimentes sich jetzt zum zweiten Frühstück versammeln werden. Sie nehmen jedenfalls daran teil?« – »Ich bin es so gewöhnt, Exzellenz«, antwortete Platen. – »Nun wohl, die Jagdpartie, von der wir heute sprachen, hat sich im Kasino angesponnen und soll dort ihr Ende finden. Das ist folgerichtig. Sie begeben sich zu Oberst Marzfeld von der Infanterie und übergeben ihm diese Dokumente. Er hat dieselben im Kasino zu öffnen und vorzulesen, und zwar in Gegenwart Ihres Freundes Helmers, den Sie benachrichtigen. Das ist alles. Ihr Verhalten in dieser Affäre hat meinen Beifall. Adieu!«
Während dieser Worte hatte er die Schriftstücke in ein Kuvert geschlossen, das er Platen übergab. Dieser entfernte sich mit freudeerfülltem Herzen. Das direkte Lob eines solchen Mannes ist eine Seltenheit.
Er nahm, um rascher vorwärts zu kommen, eine Droschke und fuhr zunächst bei Helmers vor, um diesen zu benachrichtigen. Er wurde geladen, länger zu bleiben, mußte aber dem ihm gewordenen Befehl Folge leisten und sich zum Obersten Märzfeld begeben.
17. Kapitel
Kurt war begierig zu erfahren, was es im Kasino geben werde, er säumte daher nicht, sondern machte sich sogleich auf den Weg. Als er das Lokal betrat, war Platen noch nicht da, doch gab es fast keinen leeren Platz im Raum. Die Soiree des Großherzogs mußte besprochen werden, und daher hatten sich alle eingefunden.
Nur der Oberst und Ravenow fehlten. Man ahnte, weshalb, aber man fragte nicht, obgleich der Ehrenrichter und die beiden Sekundanten, die zugegen waren, Auskunft hätten erteilen können.
Als Kurt eintrat, machte sich doch eine sichtbare Verlegenheit geltend. Man hatte gegen ihn Front gemacht, aber auf der Soiree gesehen, unter welcher mächtigen Protektion er stehe. Sich selbst desavouieren wollte man nicht, aber ignorieren durfte man ihn doch auch nicht, und so erwiderte man seinen Gruß in jener Art und Weise, die weder höflich noch beleidigend ist. Er kehrte sich nicht daran, sondern nahm Platz, ließ sich ein Glas Wein geben und beschäftigte sich mit einer Zeitung.
Nach einiger Zeit kam Platen herein und setzte sich zu ihm.
»Kommt der Oberst?« fragte Kurt. – »Natürlich«, antwortete Platen. »Er war ganz erstaunt über den Befehl, den ich ihm überbrachte. Ich habe so meine Gedanken über das, was er hier soll.« – »Das ist nicht schwer zu erraten. Oberst Märzfeld erhält unser Regiment; da er von der Linieninfanterie ist, so ist dies eine außerordentliche Bevorzugung für ihn, für das Offizierskorps unseres Regimentes aber eine Strafe, die gar nicht größer und fühlbarer sein könnte.« – »Aber die anderen Schreiben? Was enthalten sie?« – »Wir werden es abwarten.«
Sie brauchten nicht lange zu warten, denn bereits nach kurzem erschien der Oberst. Als er eintrat, wandten sich aller Augen mit Befremden nach ihm. Ein Oberst von der Linieninfanterie? Was wollte er hier? Warum kam er in großer Uniform, mit seinen Orden auf der Brust?
Man erhob sich allgemein, um ihn seinem Rang gemäß zu begrüßen. Der Oberstleutnant und die Majors gingen ihm entgegen, um ihn zu bewillkommnen. Er drückte den dreien die Hand und sagte:
»Ich danke für den Willkommen, meine Herren! Es führt mich eine dienstliche Angelegenheit zu Ihnen, nicht der Wunsch, an Ihrem Frühstück teilzunehmen.« Er zog das Kuvert, das er empfangen, hervor und fuhr fort: »Seine Exzellenz, der Herr Kriegsminister, schickte mir nämlich durch Herrn von Platen den Befehl, hier vor Ihnen, meine Herren, dieses Kuvert zu öffnen, um Ihnen Mitteilung von dem Inhalt desselben zu machen.«
Ein allgemeines »Ah!« der Verwunderung ließ sich hören. Eine ministerielle Bekanntmachung im Kasino? Kein Regimentsbefehl? Das war noch niemals dagewesen! Und diesen Befehl sollte ein Oberst von der Linieninfanterie publizieren? Platen hatte ihm denselben überbracht? Wie kam der dazu?
Die Blicke der Anwesenden schweiften zwischen dem Obersten und Platen hin und her. Der letztere tat, als bemerke er es nicht; der erstere aber öffnete das Kuvert und zog die verschiedenen versiegelten Schreiben hervor, die es enthielt; sie waren numeriert.
»Ich ersuche um Ihre Aufmerksamkeit, meine Herren. Nummer eins!«
Er las die kurzen Zeilen vor. Sie enthielten den Abschied des Regimentsobersten, ohne Pension, da er nicht im Dienst unfähig geworden sei. Diese Bekanntmachung rief eine förmliche Sensation hervor. Man trat von einem zum anderen, man sprach wirr durcheinander. Man fragte, ob ein Duell wirklich stattgefunden habe und welches der Ausgang desselben gewesen sei.
»Nummer zwei, meine Herren!« rief der Oberst in die Aufregung hinein. Der Lärm verstummte augenblicklich. Doch was man hörte, war ebenso erstaunlich wie das vorherige. Leutnant Ravenow wurde verabschiedet, ohne Pension wie der Oberst. Es war von keinem Abschiedsgesuch die Rede. Die beiderseitige Verabschiedung kam also geradezu aus heiterem Himmel.
»Nummer drei!«
Man lauschte mit erhöhter Spannung. Der Oberleutnant von Branden wurde seiner Adjutantur enthoben und mit dem Leutnant von Golzen zum Train versetzt. Dies war dem Regimentskommandeur des letzteren, der ja bei den Gardekürassieren stand, zu melden.
Die beiden Betreffenden waren anwesend. Auf ihren bleichen Zügen lagerte der Schreck. Von der Garde zum gemeinen Train versetzt, das war geradezu eine ehrenschändende Degradierung. Man wollte ihnen kondolieren, aber man wagte es nicht. Aller Blicke richteten sich auf Kurt. Man begriff, daß dieser es sei, dem eine so schneidige Genugtuung gegeben werden solle.
»Nummer vier!«
Also noch nicht zu Ende? Was sollte noch kommen? Sie erfuhren es nur gar zu bald. Der Oberstleutnant, der Major, der Rittmeister von Kurts Schwadron wurden zur Linie versetzt – auf ihr eigenes Verlangen, wie es hieß. Auf diese Weise überzuckerte man die Pille, die sie zu nehmen hatten.
Nummer fünf ernannte den Obersten von Märzfeld zum Kommandeur des Gardehusarenregiments, worüber er selbst am meisten in Erstaunen geriet, allerdings in ein höchst freudiges. Platen wurde zum Oberleutnant ernannt und dem Oberst als Adjutant beigegeben. Zum Schluß wurde auch Kurts Name verlesen. Auch er erhielt seine Ernennung zum Oberleutnant der Gardehusaren, wurde jedoch zum Generalstab versetzt.
Das war nun allerdings eine Auszeichnung, um welche man den besten Freund beneiden konnte, wieviel mehr ihn, dem man so feindlich entgegengekommen war. Und dem setzte der Oberst die Krone auf, indem er zu Kurt trat, ihm die Hand kräftig schüttelte und laut sagte:
»Herr Oberleutnant, es freut mich, daß ich es bin, durch den Sie Ihre Beförderung erfahren. Es tut mir leid, Sie einstweilen nicht in den Reihen meines Regiments zu sehen, doch bin ich überzeugt, daß Sie beim großen Stab, wo man Sie zu schätzen scheint, Ihr Glück eher machen werden, als in Reih und Glied, wo die Befähigung so leicht Gefahr läuft, verkannt oder übersehen zu werden. Ich habe Ihnen noch zu bemerken, daß Seine Exzellenz Punkt vier Uhr bereit sind, Ihren Dank persönlich entgegenzunehmen.«
Jetzt mußte der Neid die höchste Spitze erreichen, nur bei einem nicht, nämlich bei Platen. Dieser umarmte den Freund herzlich und flüsterte ihm zu:
»Wer hätte, als ich dir aus reinem Mitleid nachlief, gedacht, daß ich deinetwegen avancieren würde! Schau, Kurt, wie die stolzen Herren von der Garde dem alten Märzfeld gratulieren! Sie wünschen ihn zum Teufel, gehen aber teilweise selbst zu diesem, nämlich zum Train. Komm, laß uns aufbrechen, dir ist die glänzendste Genugtuung geworden; wir haben hier nichts mehr zu suchen. Ich will mich nur von dem neuen Kommandeur verabschieden und um einen Urlaub bitten. Ich muß nach Mainz.« – »Nach Mainz?« fragte Kurt. »Also in die Nähe meiner Heimat?« – »Ja. Onkel Wallner schreibt. Es handelt sich um eine Erbschaftsregelung, so daß er mich persönlich sprechen muß. Ich glaube, daß ich den Urlaub erhalte, der alte Märzfeld wird jedenfalls selbst einige Zeit brauchen, um sich zu orientieren. Von einem sofortigen Antritt kann keine Rede sein.« – »Ist nicht dein Oheim Bankier?« – »Ja, ich sagte es dir bereits, daß er geradeso wie ich mit unserem bisherigen Major verwandt sei.«
Platen trat zu dem Obersten, um sich den Urlaub zu erbitten und erhielt ihn, dann verließen die beiden Freunde das Lokal, nachdem sie sich dem neuen Vorgesetzten empfohlen hatten. Kurt lud Platen zu sich ein, und dieser sagte zu, heute abend zu kommen. Sie trennten sich auf der Straße, ohne daß Kurt Gelegenheit gefunden hatte, den Ring in Erwähnung zu bringen.
Daheim angekommen, richtete er mit der Nachricht, daß er zum Oberleutnant avanciert und zum großen Generalstab kommandiert sei, große Freude an. Zur angegebenen Zeit fuhr er dann zum Kriegsminister, von dem er mit Auszeichnung empfangen wurde. Nachdem er seinen Dankgefühlen Ausdruck gegeben hatte, sagte die Exzellenz:
»Sie wurden uns warm empfohlen, man stellte mir eine Abschrift der militärischen Berichte zu, die Sie für Ihren bisherigen Kriegsherrn ausarbeiteten, und so konnte ich mir die Ansicht bilden, daß Sie zu verwenden sind. Daher habe ich bestimmt, daß Sie dem Stab zugesellt werden, natürlich aber unter der Voraussetzung, daß Sie sich künftighin vor gewissen Jagdabenteuern hüten, infolge deren man sehr leicht dienstunfähig wird.«
Er sprach diese Worte in scherzhaft drohendem Ton und fuhr dann fort:
»Einstweilen will ich noch unterlassen, Sie unserem Generalstabschef vorzustellen. Es ist möglich, daß man Sie zunächst mit einer Mission beauftragen wird, welche auch eine militärische ist, jedoch einen sehr diplomatischen Charakter hat. Man bedarf dazu eines Mannes, welcher den Mut des Mannes, die Schlauheit eines Polizisten und die Kaltblütigkeit des Alters besitzt und doch jugendlich ist, so unerfahren und ungefährlich erscheint, daß er nicht eine unbequeme Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dazu scheinen Sie der geeignete Mann zu sein. Sie sind noch jung und können, wenn Sie wollen, recht ungefährlich erscheinen, obgleich Sie während Ihrer Jagdpartie bewiesen haben, daß Sie es nicht sind. Es wird sich dabei um eine längere Reise handeln. Bereiten Sie sich zu derselben vor. Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit, behalte mir aber die Kenntnis Ihres Aufenthaltes vor, damit ich Sie benachrichtigen kann, falls man Ihrer eher bedürfen sollte.«
Das waren Worte, die Kurt beglückten. Sie enthielten eine Auszeichnung, die einen hochgestellten Offizier stolz gemacht hätten. Er antwortete:
»Exzellenz, ich bin zu jung, um meiner in jeder Beziehung gewiß zu sein, aber ich werde alle Kraft anstrengen, um die Aufgabe, die man mir erteilt, zu lösen. Mein Aufenthalt während dieser Woche wird Seiner Hoheit, dem Herzog von Olsunna, bekannt sein.« – »Ihre Bescheidenheit ist eine Ehre für Sie. Ich entlasse Sie mit der Bitte, mich dem Herzog zu empfehlen.«
Kurt verließ den Minister um eine Stufe glücklicher noch, als er bereits vorher gewesen war. Er beschloß natürlich, nach Rheinswalden zu gehen, um vor der langen Abwesenheit, die ihm in Aussicht gestellt worden war, seine Mutter und den Hauptmann zu sehen. Er hatte sich von ihnen zu verabschieden, obgleich er nicht wußte, wohin diese Reise gehen werde.
Zu Hause angekommen, erzählte er seine Unterredung und richtete damit große Freude an. Des Abends kam Platen und blieb bis gegen Mitternacht. Weil er morgen nach Mainz wollte, so wurde beschlossen, daß die beiden Freunde miteinander fuhren. Da der Lord mit Amy nach Wien wollte, und zwar in sehr kurzer Zeit, da politische Gründe seine dortige Anwesenheit bald erforderten, so nahm Kurt von den beiden Abschied.
18. Kapitel
Der Morgen brach an, als die beiden Husarenoberleutnants miteinander im Kupee saßen und ihrem Ziel entgegendampften. Während ihrer Unterhaltung zog Platen den Handschuh ab, um Kurt eine Zigarre anzubieten. Dabei fiel die Morgensonne auf den Ring an seiner Hand, und die Reflexe zuckten blitzend in dem kleinen, behaglichen Raum erster Klasse umher.
»Ah, welch ein Ring!« sagte Kurt, indem er tat, als habe er ihn noch gar nicht gesehen. »Er ist gewiß ein altes Erb– und Familienstück?« – »Allerdings«, antwortete Platen. »Aus meiner eigenen Familie stammt er freilich nicht, er ist vielmehr ein Geschenk meines Onkels.« – »Des Bankiers, den du besuchst?« – »Ja, ich leistete ihm einst einen Dienst, der ihm wichtig genug erschien, mir eine kleine Belohnung zu erteilten. Er ist sehr geizig; mit Geld, was einem Offizier doch stets das allerliebste ist, rückte er nie heraus, und so gab er mir den Ring, der zwar höchst wertvoll ist, ihn aber jedenfalls nichts gekostet hat. Willst du dir ihn einmal betrachten?« – »Ich bitte darum.«
Platen zog den Ring vom Finger und gab ihn Kurt, der ihn einer genauen Untersuchung unterwarf und die Steine nach allen Richtungen hin spielen ließ.
»Das ist keine neue Arbeit«, sagte er endlich. – »Auch keine deutsche. Ich bin überhaupt sehr im Zweifel, wie ich diese Arbeit unterbringen soll.« – »Ich halte sie für mexikanisch.« – »Ich auch. Aber wie sollte Onkel Wallner zu diesem Stein kommen? Seine Familie hat niemals Verbindung mit Mexiko oder Spanien gehabt.« – »Oh, was das betrifft, so kann ein Bankier leicht in den Besitz eines solchen Gegenstandes kommen«, meinte Kurt, indem er dem Kameraden den Ring zurückgab. »Ich wäre neugierig, zu erfahren, ob es wirklich ein Erbstück, ein verfallenes Pfand oder so etwas Ähnliches ist. Du mußt nämlich wissen, daß ich mich für solche Sachen lebhaft interessiere. Ein jeder hat sein Steckenpferd, und das meinige ist die Liebhaberei für altes Geschmeide.« – »Diese Frage kann ich dir genau beantworten. Dieser Ring ist wirklich ein Familienstück. Der Onkel besitzt noch andere Sachen, mit denen er aber sehr besorgt tut. Er zeigt sie keinem Menschen. Einmal aber habe ich ihn doch überrascht, als ich unerwartet in sein Arbeitszimmer trat. Er hat nämlich außer dem Kontor noch ein Privatarbeitszimmer im Gartenhaus. Dort befindet er sich sehr oft des Nachts und schläft auch dort. Ich trat unvermutet bei ihm ein und sah einige Schmuckgegenstände auf seinem Tisch liegen. Es waren kostbare Ketten, Diademe, Armringe und anderes Geschmeide von einer außerordentlich fremdartigen Arbeit. Er erschrak sehr, und ich mußte lachen, daß ich in sein Geheimnis eingedrungen war.« – »In sein Geheimnis?« – »Ja«, meinte Platen sorglos. »Es hängt nämlich in diesem Arbeitszimmer eine alte Schwarzwälder Uhr an der Wand. Diese hatte er abgenommen, und nun sah ich, daß sich hinter derselben ein Loch befand, das durch ein eisernes Türchen verschlossen werden konnte. In diesem Loch schien noch anderes Geschmeide zu liegen, denn ich bemerkte da ein Kästchen, aus dem ein Halsband herabhing.« – »Wie lange ist dies her?« – »Bereits drei Jahre.« – »So wird er das Geschmeide seit dieser Zeit an einem anderen Ort aufbewahrt haben; das ist sehr leicht zu denken«, meinte Kurt, indem er sich den Anschein der Gleichgültigkeit zu geben suchte.
Platen bemerkte auch wirklich das Interesse nicht, das Kurt an dieser Unterhaltung nahm, und antwortete lachend:
»O nein. Er scheint keinen anderen Ort zu wissen, denn ich mußte ihm bei meinem Offizierswort geloben, ihn nicht zu verraten. Das verstand sich ja von selbst, und das feierliche Gelöbnis kam mir daher spaßhaft vor. Ich glaube nicht, daß ich es gebrochen habe, indem ich zu dir davon spreche, denn bei dir ist dieses entsetzliche Geheimnis ja ebensogut aufgehoben wie bei mir. Ich glaube nicht, daß du Lust hast, beim Onkel einzubrechen.«
Platen lachte bei diesen Worten abermals. Der Gedanke, den Freund sich als Einbrecher vorstellen zu sollen, kam ihm doch zu komisch vor. Kurt blickte eine Minute lang ernst zum Fenster hinaus und erwiderte:
»Und wenn ich nun doch Lust hätte, den Einbrecher zu machen?« – »Unsinn!« – »Wenigstens mir das Geschmeide einmal zu betrachten?« – »Weshalb? Was sollte das dir nützen?« – »Viel oder wenig, je nachdem. Du weißt gar nicht, wie wertvoll mir deine Mitteilung ist.« – »Du setzt mich in Erstaunen!« meinte Platen. »Was interessiert es dich, ob mein Onkel Goldschmuck besitzt oder nicht?« – »Lieber Platen, wir sind Freunde und wollen als solche handeln! Es ist unbeschränktes Vertrauen von dir, daß du von dem Versteck deines Oheims zu mir gesprochen hast; ich will dasselbe Vertrauen auch zu dir haben.« – »Mensch, du machst mich wirklich neugierig!« meinte Platen, indem er sich eine neue Zigarre ansteckte und sich zurechtsetzte, um die jedenfalls interessante Mitteilung des Freundes bequem entgegenzunehmen.« – »So höre«, begann Kurt. »Mein Vater ging nach Mexiko und traf dort seinen Bruder. Dieser war auf eine Weise, von der ich dir später erzählen werde, in den Besitz eines Schatzes gekommen, der aus alten, kostbaren mexikanischen Schmucksachen bestand.« – »Alle Teufel, das beginnt wirklich interessant zu werden«, meinte Platen. – »Weiter. Die beiden Brüder befanden sich bei einem Haziendero, dessen Tochter die Braut meines Oheims war. Ein Kriegszug rief sie ab, und seitdem sind sie verschollen. Der Onkel hatte bestimmt, daß die Hälfte dieses Schatzes mir gehören solle; die Gegenstände sollten mir geschickt werden, um sie hier zu verwerten und mit dem Ertrag die Kosten meiner Ausbildung zu bestreiten und mir mit dem übrigen einen festen, pekuniären Halt zu geben.« – »Glückskind!« lächelte Platen. – »Daran dachte der alte Haziendero, als die beiden Brüder verschollen waren und nicht zurückkehrten«, fuhr Kurt fort. »Als ein Jahr vergangen war, ohne daß er etwas von ihnen vernommen hatte, nahm er meinen Anteil und trug ihn zur Hauptstadt, wo er ihn Benito Juarez übergab.« – »Dem Präsidenten?« – »Ja; dieser war aber damals noch Oberrichter. Juarez übernahm es, die Gegenstände sicher nach Deutschland zu schicken.« – »Das klingt ganz wie ein Roman. Woher weißt du das alles?« – »Du hast Sir Lindsay und seine Tochter kennengelernt …« – »Allerdings«, fiel Platen ein. »Ein prächtiges Mädchen, wenn auch nicht mehr jung, aber doch eine Schönheit ersten Ranges!« – »Nun, dieser Lindsay befand sich damals als Vertreter Englands in Mexiko und war dem Haziendero bekannt. Zu ihm wollte dieser Haziendero das Geschmeide bringen; da er aber vorher bei Juarez abstieg und mit diesem von der Sache redete, bot sich der Oberrichter selbst an, die Sendung zu besorgen, weil sie, als von ihm ausgehend, sicherer die Küste erreiche als sonst. Er forderte den Haziendero auf, einen Brief beizulegen; da diesem aber das Schreiben schwerfiel, so hat Miß Amy Lindsay den Brief geschrieben.« – »Ist er auch abgegangen?« – »Ja.« – »Mit dem Geschmeide?« – »Mit dem Geschmeide«, nickte Kurt. – »Du bist dessen sicher?« – »Vollständig. Juarez hat die Sendung sogar versichert. Aber sie ist nie angekommen.« – »Donnerwetter! Warum ist nicht nachgeforscht worden?« – »Weil ich nichts von der Sache gewußt habe. Juarez hat geglaubt, daß alles in Ordnung sei. Sir Lindsay wurde kurz darauf mit Miß Amy von einem mexikanischen Bandenführer aufgehoben und gefangen in die Berge geschleppt. Es ist ihm erst seit drei Vierteljahren gelungen, seine Freiheit wiederzuerlangen, und so habe ich erst gestern von der Sache erfahren, auf die er ganz zufällig zu sprechen kam.« – »Sonderbar!« – »Aber noch sonderbarer, als du vielleicht denkst. Der Haziendero wußte meinen Namen, aber nicht mehr meinen Wohnort. Er hatte sich nur gemerkt, daß ich bei Mainz auf einem Schloß zu finden sei, das einem Hauptmann von Rodenstein gehöre. Daher sandte Juarez die Gegenstände an einen Mainzer Bankier mit dem Auftrag, mich ausfindig zu machen und mir die Gegenstände auszuhändigen.«
Platen fuhr empor.
»Himmel Bataillon! Jetzt scheint ein Zusammenhang hervorzutreten!« – »Das meine ich auch. Die Sendung ist nicht nach Rheinswalden gelangt. Eine Meldung, daß sie verlorengegangen sei, ist von keiner Seite aus erfolgt. Dein Oheim ist Bankier in Mainz, du trägst einen mexikanischen Ring, der ein Geschenk von ihm ist, und er besitzt noch ähnliches Geschmeide – schließe weiter!«
Platen lehnte sich in das Kissen zurück. Er war bleich geworden, aber an seinen Schläfen traten die Adern blutig rot hervor. Es war ihm anzusehen, daß er mit seinen Empfindungen kämpfte. Endlich sagte er:
»Kurt, du bist ein entsetzlicher Mensch!« – »Ich erwarte deine Verzeihung oder deine Forderung.« – »Bah, du sagtest selbst, daß wir Freunde sind. Wir wollen diese Angelegenheit mit offenem Auge und ganz objektiv betrachten. Allerdings gestehe ich dir: Hätte ein anderer so zu mir gesprochen, so hätte ich ihm mit der Hand in das Gesicht geschlagen. Du aber bist mein Freund, du sprichst aufrichtig zu mir, obgleich du mir deinen Verdacht verschweigen konntest. Du zeigst mir damit dein vollstes Vertrauen, daß ich dir nicht hinderlich in den Weg treten werde, und du sollst dich nicht getäuscht haben, lieber Helmers. Es scheint allerdings eine Kühnheit, zu behaupten, daß mein Oheim dich beraubt habe, doch er ist ja im Besitz ähnlicher Sachen, und – und …« – »Sprich weiter.« – »Es fällt mir schwer, auf Ehre. Aber zu dir darf ich es sagen, daß ich den Oheim nicht für einen Bankier halte, der jeder Versuchung gewachsen ist. Ich habe gemerkt, daß er zuweilen Geschäfte macht, die ein anderer vielleicht unsauber nennen würde.« – »Vielleicht ist er erst durch zweite oder dritte Hand in den Besitz dieser Sachen gekommen. Vielleicht gehe ich in meiner Vermutung irre, und das Geschmeide, das er besitzt, ist gar kein mexikanisches.« – »Beide Fälle sind möglich. Es gilt uns zu überzeugen!« – »Uns? Du beteiligst dich also bei dieser Angelegenheit?« – »Natürlich. Du sollst zu deinem Eigentum kommen, und ich will wissen, ob mein Verwandter ein Schurke oder ein ehrlicher Mann ist. Das versteht sich ganz von selbst.« – »Nun wohl, ich danke dir! Du wirst einsehen, daß es nicht meine Absicht war, dich zu beleidigen. Ich wünsche dringend, die Gegenstände sehen zu dürfen, erst dann ist es mir möglich, ein Urteil zu fällen.« – »Gut, du sollst sie sehen.« – »Wie?« – »Wir fordern den Onkel auf, sie uns zu zeigen; das ist ebenso einfach wie offen.« – »Vielleicht ebenso unklug. Ist er unschuldig, so beleidigen wir ihn tödlich, ist er aber schuldig, so erreichen wir nichts.« – »Du magst recht haben. Was aber tun?« – »Ohne sein Wissen in das Gartenhaus gehen und die Sachen betrachten.« – »Teufel! Also wirklich einbrechen?« rief Platen. – »Allerdings. Einbrechen, aber nicht stehlen. Die Gegenstände bleiben auf jeden Fall liegen.« – »Hm! Das klingt wie ein Abenteuer, und solche Dinge liebe ich. Wir wollen sehen, was sich tun läßt. Dir gehört dein Eigentum, und im anderen Fall muß mir daran liegen, den Onkel von einem schlimmen Verdacht gereinigt zu sehen. Du wirst mit bei ihm absteigen, ich stelle dich ihm vor.« – »Das geht nicht.« – »Warum nicht?« – »Hat er die Sendung wirklich erhalten, so kennt er auch den Adressaten, an den sie gerichtet war. Mein Name ist ihm bekannt; er hat sich nach mir erkundigt, und wenn ich nun zu ihm komme, so ahnt er vielleicht meine Absicht.« – »So stelle ich dich unter einem anderen Namen vor.« – »Auch das geht nicht. Es ist möglich, daß er mich gesehen hat, mich also persönlich kennt, in diesem Fall bin ich sofort verraten. Oder kennt er mich nicht, so ist es doch unausbleiblich, daß er später meinen wahren Namen erfährt, und falls er unschuldig ist, müßte dies mir verteufelt unangenehm sein.« – »Auch hierin gebe ich dir recht. Du entwickelst hier einen Scharfsinn und eine Umsicht, die einem erfahrenen Polizisten Ehre machen würden. Nur hole der Teufel den Umstand, daß dieser Scharfsinn gerade gegen einen Onkel von mir gerichtet sein muß! Aber was sollen wir tun, lieber Helmers?« – »Du stellst mich gar nicht vor, sondern rekognoszierst einfach das Terrain, Rheinswalden liegt ja nahe bei Mainz, so wird es dir leicht sein, mich zu benachrichtigen, wann es paßt, unbemerkt in das Gartenhaus einzudringen.« – »So soll ich verschweigen, daß ich dich kenne?« – »Das versteht sich. Er darf nicht einmal wissen, daß du nach Rheinswalden kommst.« – »Gut, ich werde dir dienen, so weit es mir möglich ist. Aber was wirst du tun, falls der Onkel wirklich …«
Platen stockte. Es fiel dem braven Offizier schwer, das Wort auszusprechen. Kurt antwortete:
»Trage keine Sorge, lieber Platen. Ich werde mich nach den Umständen richten müssen; aber du kannst auf alle Fälle versichert sein, daß ich die äußerste Rücksicht auf dich nehmen werde.« – »Ich ersuche dich herzlich darum, obgleich es schwer ist, ein Vermögen zu missen, das einem den Eintritt in das Leben so sehr erleichtern kann.« – »Ich habe es nicht vermißt; ich hatte reiche und hohe Gönner genug, die mehr für mich taten, als ich durch ein Vermögen erreichen konnte. Ich bin auch jetzt noch keineswegs auf Reichtum und Genuß versessen, doch es versteht sich ganz von selbst, daß ich auf das Erbteil, das mir gehört, nicht verzichte, nur um es in unrechten Händen zu wissen.«
Platen antwortete nicht. Er lehnte sich zurück, um das soeben Gehörte im stillen, in seinem Inneren zu verarbeiten, und es war auch während der ganzen Reise keine Rede mehr von dieser Angelegenheit, die doch nur eine unerquickliche war.
Sie erreichten Mainz. Auf dem Bahnhof trennten sie sich. Platen nahm eine Droschke, um zu dem Bankier zu fahren, und Kurt wurde von Ludwig erwartet, der zu Pferde war und ihn mit dem Fuchs des Hauptmannes erwartete. Ludwig war nämlich bereits gestern abend von Berlin abgereist, um Kurts Ankunft zu melden.
Beide schlugen den Weg nach Rheinswalden ein. Dort angekommen, stieg Kurt zunächst bei seiner Mutter ab, die den geliebten Sohn, auf den sie so stolz sein konnte, herzlich umarmte; sodann eilte er zum Oberförster.
Dieser erwartete ihn und empfing ihn auf der Freitreppe.
»Willkommen, Herr Oberleutnant!« rief er ihm entgegen, indem er ihn bei den Händen faßte, umarmte und küßte und ihn dann wieder von sich abhielt, um ihn besser betrachten zu können. »Alle Wetter, ist das in diesen paar Tagen ein Kerl geworden! Oberleutnant, Sieger in einem Doppelduell und Hahn im Korb beim alten Moltke, nämlich im Generalstab! Junge, ich küsse dich noch einmal!«
Und abermals drückte er seinen Schnurrbart auf die frischen Lippen des Leutnants.
»So hat Ludwig trotz meines Verbotes geplaudert?« fragte dieser. – »Natürlich! Der Teufel mag den Mund halten, wenn das Herz überläuft. Ich hätte diesen Ludwig kuranzen wollen, wenn er mir diese frohen Botschaften verschwiegen hätte. Na, komm herein! Heute soll‘s hoch hergehen auf Schloß Rheinswalden!« – »Verzeihung, Herr Hauptmann, meine Mutter …« – »Papperlapapp! Die wird geholt, die gehört mit zur Sippschaft. Ich werde doch meinen Paten, den Herrn Oberleutnant der Gardehusaren, Kurt Helmers, bei mir haben dürfen! Heute ist ein Freudentag, und der wird gefeiert!«
Und er wurde gefeiert.
Am anderen Nachmittag stellte sich Platen ein, den Kurt zum Hauptmann führte, der den Freund seines Lieblings mit seiner gewöhnlichen derben Freundlichkeit empfing. Man setzte sich zu vollen Flasche, und erst als der Oberförster sich in einer dienstlichen Angelegenheit entfernen mußte, fanden die beiden Offiziere Zeit, über ihre Angelegenheit zu sprechen.
»Hast du rekognosziert?« fragte Kurt. – »Es gibt nichts zu rekognoszieren«, antwortete Platen. »Es ist uns alles leichter gemacht, als ich dachte. Der Oheim ist geschäftlich abwesend. Er reiste heute morgen nach Köln und wird erst nach Mitternacht zurückkehren. So steht uns also der ganze Abend zur Verfügung, der Sache nachzuforschen.« – »Ich reite mit.« – »Du gehst mit zu mir. Es kann nicht auffallen, daß ein Offizier, ein Kamerad mich besucht. Dann gehen wir in den Garten.« – »Nein. Ich mag mich im Haus nicht sehen lassen. Wir reiten miteinander. Du zeigst mir den Garten, und dann bestimmen wir die Zeit, in der wir uns treffen.« – »Gut, das mag vorsichtiger und sicherer sein. Aber wie kommen wir in das Gartenhaus? Es ist stets verschlossen.« – »In welcher Weise?« – »Es liegt ein starkes Quereisen schräg über der Tür, an dem sich ein großes Hängeschloß befindet, und außerdem ist diese Tür noch mit einem gewöhnlichen Schloß versehen. Das Häuschen besitzt drei Räume, die alle auch verschlossen sind. Woher Schlüssel nehmen? Ich weiß nicht, wo der Oheim die seinigen aufbewahrt.« – »Da ist leicht geholfen. Wir haben hier im Dorf einen ganz tüchtigen Schlosser, der alle Arten Dietriche besitzt; er wird sie mir gern borgen. Bei mir weiß er ja ganz sicher, daß es sich nicht um ein Verbrechen handelt.« – »Das wohl. Aber weißt du denn auch mit diesem Handwerkszeug umzugehen?« – »Hm! Man muß sehr geräuschlos verfahren, und ich habe natürlich keine Übung, ich würde viel kostbare Zeit verlieren. Wenn man den Mann mitnehmen könnte. Das dürfte das beste und klügste sein.« – »Ist er sicher und verschwiegen?« – »Ich stehe für ihn.« – »Gut, so nehmen wir ihn mit.« – »Ich werde zu ihm gehen, während du den Hauptmann unterhältst, denn dieser darf einstweilen noch nichts erfahren.«
Dies geschah. Der Schlosser ging auf Kurts Vorschlag sofort ein. Er wurde bedeutet, sogleich aufzubrechen und in einem bestimmten Gasthof in Mainz zu warten. Der Oberförster hielt es, als Platen später aufbrach, für ganz in der Ordnung, daß Kurt ihn begleitete. Beide erreichten Mainz, als der Abend hereinzubrechen begann.
Die beiden Offiziere ritten durch einige Straßen der Stadt, bogen in ein Seitengäßchen ein und gelangten an eine Gartenmauer, in der sich ein verschlossenes Pförtchen befand.
»Über diese Mauer müßt ihr steigen, wenn ihr es nicht vorzieht, die Pforte zu öffnen«, sagte Platen. – »Das letztere ist zu auffällig, wir werden übersteigen«, antwortete Kurt.
Nun trennten sie sich. Platen ritt nach seiner Wohnung, Kurt nach dem Gasthof, in dem der Schlosser auf ihn wartete. Er fand ihn leicht, und beide verließen ihn zu der Zeit, die Kurt mit dem Freund vereinbart hatte.
19. Kapitel
Es war ein sehr dunkler Abend, Kurt und der Schlosser kamen unbeobachtet an die Mauer, und es gelang ihnen sehr leicht, diese zu übersteigen. Jenseits derselben trafen sie auf Platen.
»Kommt!« sagte dieser leise. – »Sind wir sicher?« fragte Kurt. – »Vollständig. Es kommt niemand mehr in den Garten, und von mir denkt man, daß ich ausgegangen bin.«
Platen führte Kurt und den Schlosser durch gewundene Gänge bis zu einigen hohen Bäumen, die ihre Wipfel auf das Dach des Gartenhauses neigten, das sie suchten.
»Hier ist das Häuschen«, sagte Platen.
Kurt betrachtete es, so weit dies bei der Dunkelheit möglich war. Es war sehr massiv gebaut und mit starken Fensterläden versehen. Auch die Tür bestand aus starker Eiche, und die Eisenstange davor war wohl über einen Zoll dick.
»Also hier soll ich öffnen?« fragte der Schlosser. – »Ja«, lautete die leise Antwort.
Es befühlte das Schloß sorgfältig, drehte es hin und her und meinte:
»Das wird rasch gehen, ich merke bereits, daß ich einen passenden Schlüssel habe.«
Er hatte eine Ledertasche umhängen, in der sich die Dietriche befanden. Er griff hinein. Man hörte ein leises Klingen, dann ein ebenso leises Knirschen und Drehen, und darauf sagte der Mann:
»Das Schloß ist los. Nun zur Haustür!«
Er brauchte kaum zwei Minuten, um diese zu öffnen. Sie traten ein und schlossen hinter sich zu. Platen zog ein Licht hervor und brannte es an. Man befand sich in einem kleinen Raum, der mit Gartenmöbeln ausgestattet war. Eine zweite Tür, die auch leicht geöffnet wurde, führte in ein Zimmer, das eingerichtet war, um hier, in der Luft des Gartens, ein Frühstück oder anderes Mahl einzunehmen. Jetzt wurde die dritte Tür aufgeschlossen, die in das letzte Gemach führte. Es enthielt die Ausstattung eines einfachen Arbeitszimmers, Schreibtisch, Tisch, ein Sofa, einige Stühle, sogar einen Ofen, Waschtisch, eine Uhr, nämlich die erwähnte Schwarzwälder, und einen Spiegel. Der ganze Raum ließ vermuten, daß er sehr oft in Gebrauch genommen wurde.
»Dort ist die Uhr«, sagte Platen, auf die Schwarzwälder deutend. – »Nehmen wir sie herab«, bat Kurt.
Sie wurde von der Wand genommen; man erblickte ein kleines, schwarzeisernes Türchen, an dessen beiden freien Ecken man ein Schlüsselloch bemerkte.
»Ah, zwei Schlösser!« meinte der Schlosser. »Wollen sehen, ob wir sie öffnen können!«
Es gelang. Und nun sah man eine tiefe Öffnung, in der ein Kästchen stand. Kurt nahm es heraus und bemerkte, daß hinter demselben noch mehrere Papiere lagen.
Das Kästchen war verschlossen und hatte ein Gewicht, das auf einen metallenen Inhalt schließen ließ. Der Schlosser versuchte mehrere Schlüssel, ehe er den passenden fand; als dann aber der Deckel zurückgeschlagen wurde, trat der einfache Handwerksmann zurück und rief:
»Herrgott, so eine Pracht und Herrlichkeit habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen!«
Er hatte recht, denn im Schein des Lichtes, das Platen hielt, erfunkelten hunderte von Diamanten und edlen Steinen in tausenden von Facetten. Das Kästchen schien von sprühenden Funken erfüllt zu sein, die in allen möglichen Farben schillerten und brillierten.
Kurt griff hinein und zog die einzelnen Gegenstände heraus, um sie auf den Tisch zu legen. Fast ergriff ihn jenes Fieber, von dem Büffelstirn geredet hatte, ehe er mit Donnerpfeil die Höhle des Königsschatzes betrat.
»Das ist ein Wert von vielen Millionen!« sagte er mit hörbar bebender Stimme. »Wenn das alles wirklich mir gehörte!« – »So einen Reichtum hatte ich allerdings nicht erwartet!« gestand Platen, die vor ihm liegende Pracht mit den Augen verschlingend. »Man kann es begreifen, daß ein sonst ehrlicher Mann hier zum Verbrecher werden mag. Ist dies mexikanische Arbeit?« – »Ganz sicher und gewiß!« antwortete Kurt. »Da, blicke her!«
Sie betrachteten die Gegenstände näher und kamen allerdings zu der Überzeugung, daß Kurt recht hatte. Platen holte schwer und tief Atem und sagte:
»Lieber Helmers, jetzt bin ich überzeugt, daß dein Verdacht der richtige war. Mein Oheim konnte einen Ring, ein einzelnes Armband erwerben, aber diesen Schatz hier konnte er unmöglich bezahlen. Er ist ein – ein – Dieb!« – »Noch dürfen wir ihn nicht verurteilen«, entgegnete Kurt, »denn wir können noch nicht sagen, wie er zu den Kostbarkeiten kam. Ah, was ist das?«
Während er beschäftigt war, das Kästchen bis auf den Boden zu leeren, erblickte er tief unten etwas Weißes. Es waren zwei Briefe, die er hervorbrachte. Er öffnete den einen und blickte nach der Unterschrift.
»Benito Juarez!« rief er. »Es ist der Brief des Oberrichters!« – »So ist keine Täuschung mehr möglich«, sagte Platen. »Bitte, lies den Brief vor.« – »Verstehst du Spanisch?« – »Nein.« – »So werde ich dir die Zeilen übersetzen; sie sind spanisch geschrieben.«
Damit trat Kurt nahe an das Licht heran und las folgenden Inhalt vor:
»Herrn Bankier Wallner, Firma Voigt und Wallner in Mainz. Ich übersende Ihnen das beifolgende Kästchen, enthaltend Juwelen und sonstige Schmuckgegenstände nebst einem genauen Verzeichnis seines Inhaltes. Dieser Inhalt gehört einem Knaben, dessen Vater Seemann ist und Helmers heißt. Der Knabe wohnt in der Nähe von Mainz auf einem Schloß, das einem Hauptmann von Rodenstein gehört. Vater und Oheim dieses Knaben sind leider hier in Mexiko verschollen; darum ist er Erbe der Kostbarkeiten. Sie wollen die Güte haben, ihm dieselben nebst dem noch beifolgenden Brief zu übergeben, wenn Sie ihn ausfindig gemacht haben. Sollte Ihnen dies nicht gelingen, so ersuche ich Sie, mich davon sofort zu benachrichtigen und Kästchen samt Inhalt bei Ihrer Regierungsbehörde zu deponieren.
Der inliegende Brief ist an eine Frau Sternau, geborene Gräfin de Rodriganda adressiert, die auf demselben Schloß wohnt. Ihre Auslagen werden Sie vom Empfänger vergütet erhalten, und bemerke ich zum Schluß noch, daß ich eine Abschrift des Inhaltsverzeichnisses besitze und den Wert der Gegenstände in Versicherung gegeben habe.
Benito Juarez, Oberrichter, Mexiko.«
»Es ist kein Zweifel mehr, der Oheim ist ein Dieb!« sagte Platen, dessen Gesicht die Blässe einer Leiche zeigte. »Nach diesen Angaben mußte er dich finden. Er hat das Kästchen der Behörde nicht abgegeben. Er ist ein Dieb. Lies den zweiten Brief.«
Kurt öffnete denselben und durchflog ihn.
»Er ist von Miß Amy Lindsay an Frau Sternau«, sagte er. »Sein Inhalt ist privater Natur! Er kann dich nicht interessieren.« – »Es ist gut; ich weiß genug! Die Sachen gehören dir. Was wirst du tun?« – »Ich werde sie wieder an ihren Ort stellen und bis morgen überlegen, was ich beginnen werde«, sagte Kurt ruhig. »Dein Oheim soll geschont werden, und möglicherweise will ich die Sache in der Weise arrangieren, daß er nicht ahnt, daß ich durch dich aufmerksam geworden bin. Aber noch fehlt das Inhaltsverzeichnis. Da liegen noch Papiere. Erlaubst du mir, sie durchzusehen?« – »Tue, was du willst Ich bin ermattet; ich bin zerschmettert. Ich mag nichts lesen und nichts sehen.«
Platen gab das Licht dem Schlosser, um zu leuchten, und warf sich auf das Sofa nieder. Kurt griff in das Loch und zog die Papiere hervor. Sie waren in ein Paket zusammengebunden; er löste die Schnur und öffnete das erste Schreiben. Kaum hatte er einen Blick auf den Inhalt desselben geworfen, so wandte er sich ab, damit der Ausdruck seines Gesichtes nicht von Platen bemerkt werden könne. Es waren zwölf einzelne Dokumente; er las sie alle durch, legte dann die Schnur wieder um sie und sagte:
»Das ist Gleichgültiges. Das Verzeichnis fehlt.«
Da warf er noch einen Blick in das Loch und bemerkte ein Papier, das durch das Kästchen ganz nach hinten geschoben worden war. Als er es öffnete, sah er, daß es das gesuchte war. Jetzt verglich er die Gegenstände mit dem Verzeichnis und bemerkte, daß nichts fehlte als nur der Ring, den Platen trug.
»Ich mag ihn nicht haben«, sagte dieser, »ich mag gestohlenes Gut nicht tragen, es brennt mir am Finger. Hier hast du ihn!« – »Behalte ihn!« bat Kurt. »Ich schenke ihn dir.« – »Nachdem ich ihn unrechtmäßigerweise getragen habe? Nein, ich danke dir! Hier ist er.«
Kurt jedoch wies den Ring zurück und erklärte:
»Wenn du ihn nicht annehmen willst, so behalte ihn wenigstens für einstweilen noch. Dein Onkel darf nicht wissen, daß du von der Sache auch nur eine Ahnung hast.« – »Nun gut, ich will dir den Willen tun«, meinte der Offizier, indem er den Ring wieder ansteckte; »aber ich ersuche dich dringend, ihn mir möglichst bald wieder abzunehmen. Willst du dein Eigentum wirklich hier zurücklassen?« – »Einstweilen, ja. Morgen wird sich das Weitere finden.«
Es wurde noch alles genau in seine vorherige Ordnung und Lage gebracht; dann verschloß der Schlosser das Türchen und hing die Uhr wieder davor. Die beiden Offiziere aber verließen das Gartenhaus, dessen Türen sorgfältig verschlossen wurden. Draußen sagte Platen:
»Verzeihe mir, Kurt; ich kann ja nichts dafür!« – »Bah, gräme dich nicht!« lautete die Antwort. »Ich hoffe, daß sich alles glücklich lösen lassen wird.« – »Tue, was du für das Richtige hältst; jetzt aber verabschiede mich. Ich muß allein sein. Ihr findet den Weg aus dem Garten auch ohne mich.«
Platen reichte dem Freund die Hand und entfernte sich leise. Kurt schlich sich mit dem Schlosser nach der Mauer zu. Dort angekommen, horchten beide, ob jenseits alles sicher sei. Da vernahmen sie Schritte, die sich näherten. Man konnte ganz deutlich hören, daß zwei Personen sich Mühe gaben, so unhörbar wie möglich das Pförtchen zu erreichen.
»Halt, man kommt!« flüsterte Kurt. »Warten wir!«
Es wurde ein Schlüssel in die Pforte gesteckt, sie öffnete sich, und zwei Männer traten ein. Während der eine den Eingang wieder verschloß, fragte der andere mit halblauter Stimme, die Kurt bekannt vorzukommen schien:
»Es wird doch niemand im Garten sein?« – »Kein Mensch«, antwortete der zweite. – »Man wird uns nicht belauschen?« – »Ganz sicher nicht. Man glaubt doch, daß ich bis Mitternacht in Köln bin. In meinem Gartenhaus sucht man mich nicht. Kommen Sie!«
Derjenige, der jetzt sprach, war auf jeden Fall der Bankier. Wer aber war der andere? Beide Männer schritten miteinander dem Gartenhäuschen zu, in dessen Inneren sie verschwanden, nachdem man das leise Klirren der Eisenstange und der Schlösser vernommen hatte.
»Kehren Sie einstweilen nach dem Gasthof zurück; ich komme nach!« flüsterte Kurt dem Schlosser zu.
Dieser stieg behutsam über die Mauer; Kurt aber schlich sich unhörbar nach dem Häuschen hin, um womöglich das Gespräch der Männer zu belauschen. Es handelte sich hier auf jeden Fall um eine Heimlichkeit, um ein Unternehmen, welches das Licht zu scheuen hatte, und es konnte von großem Vorteil sein, etwas davon zu vernehmen.
Die Läden der Fenster schlossen so gut, daß auch nicht der feinste Lichtstrahl hindurchdringen konnte, und obgleich Kurt sein Ohr hart daran hielt, vernahm er doch nichts als ein leises Geflüster, das fast gegen eine Stunde währte, von dem er aber doch nicht ein einziges Wort verstehen konnte. Die beiden Männer befanden sich in dem hinteren Zimmer, in dem die Schwarzwälder Uhr hing. Endlich hörte der Lauscher das Rücken von Stühlen, und da er aus demselben schloß, daß die geheimnisvollen Personen jetzt aufbrechen würden, so eilte er an die Mauer zurück, um vielleicht doch noch etwas zu vernehmen, denn es ist nicht selten, daß man beim Abschied den Inhalt eines Gespräches ganz unwillkürlich noch einmal kurz rekapituliert.
Hart an dem Pförtchen stand ein Holunderbusch. Kurt kroch unter die Zweige desselben und legte sich zur Erde nieder. Kaum war dies geschehen, so kamen die beiden langsam herbei. An der Pforte blieben sie stehen, so daß Kurt sie hätte mit der Hand erreichen können und er jedes ihrer Worte zu verstehen vermochte.
»Also die Papiere liegen wirklich sicher bei Ihnen?« fragte der Fremde. – »Ja, keine Sorge!« antwortete der Bankier. »Es gibt in meinem Gartenhäuschen ein Versteck, das kein Mensch finden wird; dort sind sie schon aufgehoben, bis der Bote kommt und sie abholt.« – »Also sagen Sie ihm, daß er nach Berlin eilen solle. Ich weiß bestimmt, daß dort heute ein Emissär Rußlands eingetroffen ist, der ihn unter dem falschen Namen Helbitoff erwarten wird. Mir war es unmöglich, länger in Berlin zu bleiben. Ich mußte fliehen und habe seit gestern bemerkt, daß man mich scharf verfolgt. In welchem Gasthaus Helbitoff logieren wird, weiß ich nicht; die Fremdenliste wird es sagen; er hat einen Paß als Pelzhändler und trägt die Papiere im Futter seines Hutes bei sich. Was Sie mir zu sagen haben, schreiben Sie mir unter der Adresse des Grafen Rodriganda nach Spanien; ich werde längere Zeit bei ihm sein.« – »Ich werde es tun, denn ich halte es mit unserer alten Regierung und mag von Preußen nichts wissen. Aber wird man Wort halten?« – »Wird Preußen gestürzt, so erhebt sich ein neues Königreich Westfalen, dessen Finanzminister Sie werden. Man dürstet in Frankreich nach Rache für Sadowa. Napoleon suchte Österreich an sich zu ketten, indem er einen der Erzherzöge zum Kaiser von Mexiko machte. Und selbst, wenn dies mißglückte, würde sich ein Grund finden lassen, mit dem übermütigen Preußen anzubinden. Vielleicht geben die spanischen Wirren einen Vorwand. Rußland wird so lange bearbeitet, bis es in ein Bündnis mit Frankreich gegen Preußen willigt. Vielleicht enthalten die geheimen Depeschen, die dieser Helbitoff bei sich führt, bereits die Zustimmung. Ich hatte den Auftrag, die Stimmung der Mittelstaaten zu sondieren; da jedoch die Polizei auf meinen Fersen ist, muß ich mich schleunigst über die Grenze retten. Jetzt wissen Sie alles. Gute Nacht!« – »Gute Nacht!«
Mit diesen Worten schloß der Bankier das Pförtchen auf und ließ den anderen hinaus. Dieser war kein anderer als der Seeräuber Landola, der falsche Kapitän Parkert. Welch ein Zusammentreffen! Sollte Kurt aufspringen und ihn festnehmen? Das Terrain war nicht zu einem Kampf geeignet. Landola befand sich bereits außerhalb der Mauer, und wenn es auch gelang, hinauszuspringen und ihn zu überwältigen, so behielt der Bankier, durch den Kampf gewarnt, vollständig Zeit, die Papiere, von denen die Rede gewesen war, entweder zu vernichten oder in ein anderes Versteck zu bringen. Aus diesen Gründen war es ratsam, ihn einstweilen laufenzulassen.
Der Bankier verschloß die Pforte wieder und begab sich nach dem Gartenhäuschen zurück. Dort blieb er längere Zeit, und Kurt nahm an, daß er die betreffenden Papiere hinter die Uhr verstecken werde.
Endlich, es war bis gegen Mitternacht, trat Wallner aus dem Häuschen, verschloß es und verließ den Garten durch das Pförtchen. Jedenfalls wollte er nun so tun, als ob er vom Bahnhof komme. Kurt sprang über die Mauer und folgte ihm. Der Bankier ging durch einige Gassen und blieb dann vor einem Gasthof dritten Ranges stehen, dessen Fenster er sorgfältig musterte.
Sollte hier Landola logiert haben? So fragte sich Kurt. Warum hat Wallner sonst die Fenster beobachtet! Übrigens war es gar nicht nötig, diesem letzteren länger zu folgen. Darum wartete Kurt, bis er sich entfernt hatte, und trat dann in das Gastzimmer, wo noch Gäste vorhanden waren.
Er ließ sich ein Glas Bier geben und fragte die Wirtin, die den Trank brachte:
»Haben Sie heute viele Gäste, Madame?« – »Nein, nur zwei Frauen.« – »Keine Herren?« – »Bis vor einer Viertelstunde hatten wir einen; er entschloß sich aber ganz unerwartet, abzureisen.« – »Mit der Bahn?« – »Nein. Wir mußten ihm den Lohnkutscher Feller besorgen.« – »Wohin?« – »Nach Kreuznach.«
Kurt ließ sich diesen Gast beschreiben und gelangte zu der Überzeugung, daß es allerdings Landola gewesen sei. Er bezahlte, trank sein Bier aus und begab sich sofort auf die Polizei, wo man ihn nach dem Grund seines Besuches fragte.
»Ich bin Oberleutnant Helmers aus Rheinswalden«, sagte er. »Sie wissen, daß von Berlin aus ein Mensch verfolgt wird, der dort unter dem Namen eines amerikanischen Kapitäns Parkert wohnte?« – »Allerdings. Wir erhielten den Steckbrief gestern«, antwortete der Beamte. – »Er war heute hier.« – »Ah, nicht möglich!« klang es erstaunt.
Kurt nannte den betreffenden Gasthof, erzählte, was er dort erfahren hatte, und beantragte eine sofortige Verfolgung des Flüchtlings. Der Beamte versprach, sein möglichstes zu tun, und machte sich sogleich selbst auf den Weg nach dem Gasthof. So hatte Kurt seiner nächsten Pflicht Genüge geleistet und konnte nun auch die zweite erfüllen.
Er begab sich nach dem Telegrafenamt. Der Telegrafist wurde geweckt und erstaunte nicht wenig, als er folgenden Wortlaut von Kurts Depesche las:
»Herrn von Bismarck, Berlin.
Russischen Pelzhändler Helbitoff in irgendeinem Gasthof sofort arretieren. Geheimer Emissär. Papiere im Futter seines Hutes.
Kurt Helmers.«
»Und dieses Telegramm soll ich wirklich abschicken?« fragte der Fernschreiber erstaunt. – »Allerdings. Ich gebe es ja zu diesem Zweck auf.« – »Aber, Herr, wer sind Sie, daß Sie einen so hohen Herrn des Nachts …« – »Das geht Sie nichts an«, unterbrach ihn Kurt. »Ich mache Sie überhaupt auf die Pflicht der dienstlichen Verschwiegenheit aufmerksam. Sie wissen, welche Verantwortung auf Ihnen liegt.«
Er bezahlte sein Telegramm und ging. Jetzt erst konnte er seinen Gasthof aufsuchen, um nach Hause zu reiten, während der Schlosser, reich belohnt und zur Verschwiegenheit ermahnt, seinen Weg zu Fuß zurücklegte.
20. Kapitel
Am anderen Vormittag befand Leutnant Platen sich im Kontor bei seinem Oheim. Sie sprachen über die Erbschaftsangelegenheit, die den ersteren von Berlin herbeigeführt hatte, und der Bankier bemerkte dabei, daß sein Neffe heute ein ganz anderer als sonst sei. Da trat der Kontordiener herein und meldete:
»Herr Wallner, ein Offizier wünscht Sie zu sprechen. Hier ist seine Karte.« – »Jedenfalls wieder ein Darlehn«, meinte der Bankier zu Platen. »Diese Herren brauchen stets mehr, als sie einnehmen.« – »Gilt das auch mir?« fragte der Leutnant. – »Glücklicherweise nicht. Du bist allerdings auch so gut fundiert, daß du keines Vorschusses bedarfst. Hier handelt es sich jedenfalls um einen adligen, sehr vornehmen und auch ebenso derangierten Herrn, der …« Er hielt mitten in der Rede inne. Er hatte die Karte aus der Hand des Dieners genommen und einen Blick auf dieselbe geworfen. Sein Gesicht nahm für einen Augenblick lang den Ausdruck des Nachsinnens an, dann jedoch flog ein rasches Rot über seine bleichen Züge. Er schien sich fassen zu müssen und sagte mit unsicherer Stimme:
»Ah, da irre ich mich! Ein Bürgerlicher! Kurt Helmers, Leutnant! Kennst du vielleicht diesen Herrn?«
Platen war überrascht. Also so schnell hatte Kurt seinen Entschluß gefaßt? Der Leutnant erhob sich und antwortete:
»Ich kenne ihn sogar sehr gut; er ist mein intimster Freund.« – »Ah! Woher stammt er?« – »Aus Rheinswalden.«
Bei dieser Antwort beobachtete Platen seinen Oheim scharf und bemerkte, daß ein leiser Schreck über das Gesicht desselben zuckte. Doch der Bankier nahm sich zusammen und sagte in einem Ton, der leicht und unbefangen klingen sollte:
»So bin ich neugierig, was er bei mir will. Du stehst auf? Ich hoffe, du bleibst, denn es wird dir angenehm sein, einen Freund und Kameraden zu begrüßen. Er mag kommen.«
Diese letzteren Worte waren zu dem Diener gesprochen. Dieser entfernte sich und ließ Kurt eintreten, der in Uniform erschien.
»Herr Bankier Wallner?« fragte er. – »Der bin ich, Herr Leutnant«, antwortete der Gefragte, den Angekommenen mit scharfem Blick fixierend, wie um zu sehen, was er von ihm zu erwarten habe.
Dieser war mit einer sehr ernsten Miene eingetreten, die sich jedoch sofort aufheiterte, als er den Freund erblickte.
»Ah, lieber Platen, du hier?« sagte er. »Ich sage dir guten Morgen.« – »Ich danke dir«, antwortete Platen. Ich vermute, daß du mit dem Onkel allein zu sprechen hast, und will nicht stören, aber ich ersuche dich, mich dann auf meinem Zimmer aufzusuchen.« – »Ich werde dies gern tun, wenn Herr Wallner mir die Erlaubnis dazu nicht vorenthält.« – »Dieser Erlaubnis bedarf er wohl gar nicht«, meinte der Bankier. Und sich an seinen Neffen wendend, fügte er hinzu: »Übrigens sehe ich nicht ein, warum du dich entfernen willst. Der Herr Leutnant wird kommen, um mich um einen Vorschuß zu ersuchen, den ich ihm auch gewähren werde, da er dein Freund ist, das ist alles.«
Platens Stirn rötete sich in zorniger Verlegenheit, als er antwortete:
»Helmers hat jedenfalls nicht nötig, dich um einen Vorschuß zu ersuchen. Es scheint mir nötiger zu sein, mich um deinet– als um seinetwillen zurückzuziehen.« – »Ah, was soll das heißen?« fragte Wallner. »Jetzt verlange ich wirklich, daß du bleibst. Ich denke, nicht nötig zu haben, deine Gegenwart zu scheuen.«
Platen warf einen fragenden Blick auf Helmers, und dieser meinte darauf unter einem gleichgültigen Achselzucken:
»Mir ist es gleich, ob du anwesend bist oder nicht. Ich komme, um eine sehr einfache Bitte auszusprechen, die allerdings keinen Vorschuß betrifft.« – »So sprechen Sie!« sagte der Bankier, dem es bei den Worten Kurts leichter um das Herz wurde. Eine einfache Bitte konnte unmöglich die Auslieferung eines Wertes von Millionen betreffen.« – »Sie erlauben mir zuvor, Platz zu nehmen«, erinnerte Kurt ihn an die verletzte Höflichkeit. Und nachdem er sich gesetzt hatte, fuhr er fort: »Ich komme nämlich, Sie um die Auslieferung einiger Aktenstücke zu ersuchen, Herr Wallner.«
Der Bankier lächelte, schüttelte den Kopf überlegen und antwortete:
»Da haben Sie jedenfalls den Ort verfehlt, Herr Leutnant. Ich bin kein Aktenschreiber und kein Jurist.« – »Ich weiß das«, sagte Kurt kalt. »Da Sie mich in dieser Weise mißverstehen, so sehe ich mich gezwungen, mich Ihnen deutlicher zu erklären. Sie hatten gestern abend Besuch?« – »Besuch? Nein. Ich war im Gegenteil verreist.« – »Verreist nach Köln etwa? Daran glaube ich nicht. Sie hatten den Besuch eines gewissen Kapitän Parkert.«
Der Bankier entfärbte sich und fuhr zurück.
»Herr«, stotterte er, »was fällt Ihnen ein?« – »Dieser Parkert brachte Ihnen geheime Depeschen, um deren Auslieferung ich Sie ersuche«, fuhr Kurt ruhig fort.
Platen hörte mit außerordentlicher Spannung zu. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte geglaubt, Helmers werde von den Juwelen anfangen, und nun sprach er von Depeschen und von jenem Kapitän Parkert. Wallner starrte den Sprecher mit offenen Augen an und rief:
»Aber ich verstehe Sie nicht! Ich weiß von keinem Parkert und von keinen Depeschen etwas!« – »Sie werden sich noch besinnen«, lächelte Kurt. »Zunächst will ich Ihnen sagen, daß dieser Parkert nicht nach Rodriganda kommen wird, denn man ist auf meine Veranlassung hart hinter ihm her. Und sodann mögen Sie erfahren, daß sich ein gewisser Pelzhändler Helbitoff jetzt jedenfalls bereits hinter Schloß und Riegel befindet.«
Da sprang der Bankier auf. Er hatte Mühe, das Zittern der Angst zu verbergen.
»Ich sagte bereits, daß ich Sie gar nicht verstehe!« beteuerte er. – »Nun wohl, so gehe ich wieder«, erklärte Kurt, indem er sich erhob. »Ich kam als Herrn von Platens Freund, um Sie zu schonen; da Sie dies nicht anerkennen, so werden Sie an meiner Stelle die Polizei erscheinen sehen.« – »Ah, Sie wollen mir drohen? Ich fürchte Sie nicht!« – »Man wird suchen!« – »Man wird nichts finden!« – »Pah! Fühlen Sie sich nicht zu sicher! Man wird nicht bloß hier im Haus suchen!« – »Wo noch, Herr Leutnant?« fragte Wallner mit einem höhnischen Lachen, dem aber die geheime Angst anzuhören war. – »Im Garten.« – »Meinetwegen!« – »Sogar im Gartenhaus.« – »Immerzu!« – »Hinter der Schwarzwälder Uhr.« – »Ver …«
Der Fluch blieb dem Bankier im Munde stecken. Er machte ein Gesicht, als ob er einen Keulenschlag erhalten habe.
»Sie sehen, daß ich so ziemlich allwissend bin«, fuhr Kurt fort. »Ich habe die bewußten Papiere an Herrn von Bismarck auszuliefern. Wollen Sie mir dieselben freiwillig überlassen oder nicht?« – »Ich weiß von keinen Papieren!« stieß der Bankier hervor. – »Gut, so wird man hinter der Uhr suchen und nicht nur diese Papiere finden!« – »Was sonst noch?« – »Eine Sammlung von Juwelen, die unterschlagen wurden und deren rechtmäßiger Besitzer vor Ihnen steht. Wollen Sie noch nicht bekennen?«
Da wankte Wallner; er mußte sich an der Lehne seines Stuhles festhalten.
»Ich bin verloren!« stöhnte er. – »Noch nicht«, meinte Kurt ernst, aber mild. »Es gibt keinen Fehler, der nicht vergeben werden könnte, sobald er nur bereut und eingestanden wird. Daß Sie mir mein Eigentum vorenthalten haben, werde ich Ihnen verzeihen, sobald Sie es mir wieder zurückerstatten. Und das andere läßt sich vielleicht noch arrangieren. Herr von Platen kann nicht weiter dienen als Neffe eines Mannes, der sich des Hochverrats schuldig macht. Ich werde aus Rücksicht auf den Freund nach einem Ausweg suchen.« – »Des Hochverrats?« fragte Platen erstaunt. – »Allerdings«, antwortete Kurt. »Sprich mit deinem Onkel. Ich werde mich einstweilen in das Nebenzimmer zurückziehen.«
Er schritt ohne eine Wort abzuwarten, zur Tür hinaus. Im Vorzimmer nahm er auf einem Sessel Platz und wartete. Er hörte die Stimmen der beiden, bald leiser, bald lauter. Es verging eine lange Zeit, bis die Tür geöffnet wurde und Platen ihn bat, einzutreten. Man sah es dem letzteren an, daß er einen schweren Kampf gekämpft habe. Wallner saß wie zerschlagen auf einem Stuhl und holte Atem wie ein Fiebernder. Beim Eintritt Kurts erhob er sich und sagte mechanisch, als hätte er es auswendig gelernt:
»Herr Leutnant, ich erhielt vor längerer Zeit eine Sendung aus Mexiko. Trotz aller Mühe, den Adressaten ausfindig zu machen, ist dies mir erst heute gelungen. Sie sind es. Ich werde Ihnen die Sendung unbeschädigt übergeben.« – »Ich danke Ihnen«, meinte Helmers einfach.
Nach einer Pause, während welcher Wallner nach Luft zu schnappen schien, fuhr er fort:
»Vor einiger Zeit deponierte ein Unbekannter, der sich Parkert nannte, etliche Schriften bei mir. Ich kenne ihren Inhalt nicht, weiß aber, daß ein gewisser Helbitoff ihn erfahren soll. Die Schriften sollten abgeholt werden. Von wem, das weiß ich nicht. Da Sie mir versichern, daß ihr Inhalt ein für mich gefährlicher sei, so bin ich froh, sie Ihnen überliefern zu dürfen, und gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich niemals ein solches Depositum wieder annehmen werde. Wollen Sie sich mit nach dem Gartenhaus bemühen?« – »Gern, Herr Wallner.«
Der Bankier schritt voran, und die anderen folgten ihm. Sie verließen das Zimmer und begaben sich durch den Garten nach dem Gartenhäuschen. Dort öffnete der Bankier und führte sie in die dritte Stube, nahm die Uhr von der Wand und sagte:
»Nehmen Sie, Herr Leutnant.«
Kurt griff zu. Er fand außer dem Kästchen und den gestern abend dabei befindlichen Dokumenten noch einen Pack anderer Papiere, den er öffnete, um Einsicht zu nehmen. Es waren jedenfalls diejenigen Schriftstücke, die Parkert gebracht hatte.
»Ist der Inhalt wirklich so wichtig?« fragte Platen. – »Außerordentlich!« Kurt bemerkte, daß Wallner sich entfernt hatte, und fuhr daher fort: »Es handelt sich um eine großartige Koalition gegen Norddeutschland oder vielmehr Preußen. Einer der Hauptträger derselben war jener Kapitän Parkert, den die Herren von der Garde so scharfsinnig waren, in ihr Kasino einzuladen – eine unsterbliche Blamage, wahrhaftig! Mich wollte man hinausmaßregeln! Ich jagte ihm seine geheimen Depeschen ab. Dies war das Verdienst, von dem gesprochen wurde und das mir den Roten Adler einbrachte, den ich tragen werde, bis er schwarz wird. Gestern abend, als du von mir gingst, war ich so glücklich, diesen Parkert mit deinem Oheim zu belauschen, der sich in diese Agitation eingelassen hat, weil man ihm versprach, daß er Finanzminister eines neuen Königreichs Westfalen werden solle.« – »Der Unglückliche!« – »Nicht unglücklich, sondern kurzsichtig und leichtgläubig. Ich bin gezwungen, diese Skripturen abzuliefern, aber ich werde mein möglichstes tun, ihn zu retten.« – »Tue es, Kurt! Du verdienst dir einen Gotteslohn! Ich habe hart mit ihm zu kämpfen gehabt, aber er hat mir versprochen, daß er sich in Zukunft hüten werde. Nimm dein Eigentum und laß mir das Bewußtsein, daß ich dir für die Gnade danken darf, die du an meinem Verwandten übst!«
Er ergriff das Kästchen, während Kurt die Dokumente nahm, und beide verließen das Gartenhaus, ohne den Bankier zu erblicken. Sie begaben sich nach Platens Zimmer, wo Kurt die eroberten Schriftstücke in einem Paket vereinigte. Noch war er damit beschäftigt, als der Kontordiener erschien.
»Herr von Platen, schnell, schnell, kommen Sie herab zu Herrn Wallner!« rief er. – »Was will er?« fragte Platen. – »Was er will? Oh, nichts, gar nichts will er. Ich denke nur, er ist – er ist …« – »Nun, was ist er?« – »Er ist – krank geworden, sehr krank.« – »Was fehlt ihm? Holt den Arzt.« – »Oh, der Arzt kann ihm nicht mehr helfen.«
Da fuhr Platen auf, sah den Diener starr an und fragte:
»Nicht mehr helfen? Ah, was ist geschehen? Wo ist der Oheim?« – »In seiner Kontorstube. Ich sollte ihm einen Herrn melden, und als ich eintrat, da lag er im Stuhl – und …« – »Nun, und …« – »Und war tot.« – »Unmöglich! Wir haben ja soeben erst mit ihm gesprochen! Ich komme gleich hinab, sogleich!«
Er ging; Kurt blieb zurück. Nach einiger Zeit kam Platen wieder, ernsten, bleichen Angesichts, schritt einige Male im Zimmer auf und ab und sagte dann:
»Du hast recht, lieber Kurt, kurzsichtig war er. Das beweist auch diese letzte Handlung. Er hat nicht gewußt, wo aus, noch ein. Oder hat er den Verlust des ungerechten Gutes nicht überleben mögen? Er ist in seinen Sünden hingegangen. Gott sei seiner armen Seele gnädig!«
Eine Viertelstunde später befand Kurt sich auf dem Heimweg. Sein Pferd trug nicht bloß ihn, sondern auch den Inhalt des hinter der Schwarzwälder Uhr befindlichen Loches. Er hatte ein Vermögen bei sich; mehr wert als dieses waren ihm aber die geheimen Depeschen, durch deren Überreichung er sich dankbar beweisen konnte für die Auszeichnung, die ihm zuteil geworden.
Er stieg natürlich zuerst bei seiner Mutter ab. Welche Augen machte die gute Frau, als er das Kästchen öffnete und sie die funkelnden Geschmeide erblickte. Bald aber stürzten Tränen aus ihren Augen. Sie umarmte ihren Sohn und rief aus:
»Das mag viel, sehr viel wert sein, tausendmal lieber aber wäre es mir, wenn dein Vater gekommen wäre. Tue mit diesen Dingen, was du willst, ich aber mag nichts davon sehen.«
Er übergab ihr das Paket mit den Schriften, von denen der Hauptmann nichts erfahren sollte, aber das Kästchen trug er zu ihm. Er erzählte ihm, welche Bewandtnis es mit demselben hatte, und zeigte ihm dann den Inhalt.
»Donnerwetter, nun wird mir der Junge stolz werden!« brummte Rodenstein in den Bart. »Denn der Reichtum macht stolz und hart!« – »Mich nicht, lieber Pate«, versicherte Kurt lächelnd. – »Nun, meinetwegen! Aber was willst du mit den Dingen tun, he?« – »Ich? Hm! Ich weiß, was ich damit tun werde.« – »Nun, was denn?« – »Ich verschenke alles.« – »Kerl, bist du verrückt!« – »Nein, und dennoch werde ich alles verschenken.« – »An wen denn, he?« – »Röschen bekommt den ganzen Kram.« – »Röschen? Hm, dieser Gedanke ist nicht ganz so dumm und übel. Aber warum denn gerade sie?« – »Weil nur sie allein schön und gut genug ist, solche Schätze zu tragen!«
Bei diesen Worten leuchteten seine Augen in einem solchen Glanz, daß der alte Hauptmann, der sonst in solchen Dingen nicht sehr scharfsinnig zu nennen war, doch aufmerksam wurde. Er drohte mit dem Finger und sagte:
»Du, ich glaube gar, du bist verliebt, Mensch! Mache keine Dummheiten! Wenn du partout ein unglücklicher Kerl werden willst, so suche dir meinetwegen ein Hauskreuz, das Waldröschen aber ist nichts für dich. Der Ort, auf dem sie wächst, ist für dich zu hoch!« – »Lieber Pate, ich kann steigen.« – »Ja«, lachte der Alte, »so ein Leutnant kann‘s himmelhoch bringen; ich sehe es an mir – zum Hauptmann und Oberförster, Gott sei es geklagt. Also mache mit diesem Krimskrams, was du denkst, aber bilde dir nur keine großen Rosinen ein, und laß uns das Waldröschen ungeschoren. Merke dir das …«
Mit dem nächsten Zug saß Kurt wieder im Kupee und dampfte der Residenz entgegen. Ludwig begleitete ihn in einem Waggon zweiter Klasse. Sie kamen am späten Abend in Berlin an, dennoch aber eilte Kurt gleich vom Bahnhof weg nach dem Palais, das Bismarck damals bewohnte.
Die Fenster desselben waren hell erleuchtet. Der Minister hatte jedenfalls Gäste bei sich. Der Portier wollte den Leutnant nach seinem Befehl fragen, doch Kurt eilte an ihm vorüber und die Treppe empor, Lakaien liefen oben auf und ab, und im Vorzimmer stand der Leibdiener, der Kurt entgegenkam.
»Sie wünschen?« fragte er. – »Exzellenz zu sprechen.« – »Geht nicht. Exzellenz befindet sich beim Souper, ist überhaupt nur für die Gäste da.« – »Exzellenz wird aber doch sofort kommen, wenn Sie meinen Namen nennen!«
Der Diener betrachtete den Leutnant mit ironischen Blicken, darum zog dieser seine Karte vor und antwortete, als er ein hochmütiges »Ah!« vernahm:
»Hier, meine Karte. Melden Sie mich sofort!« – »Ich bedaure, dies nicht tun zu dürfen, denn …« – »Ich befehle Ihnen, mich zu melden! Verstanden, Bedientenseele!«
Der Mann fuhr zurück, als er sich in dieser Weise angedonnert hörte. Er wagte keinen Widerspruch mehr und verschwand im Saal. Bereits nach einigen Augenblicken kehrte er zurück.
»Folgen Sie mir!« bat er in sehr achtungsvollem Ton und führte Kurt in ein Gemach, in dem Bismarck bereits stand. Dieser trat dem Leutnant entgegen und sagte: »Für Sie bin ich allerdings zu sprechen, Herr Leutnant. Sie haben dem Staat abermals einen wichtigen Dienst geleistet. Jener Russe wurde infolge Ihrer Depesche festgenommen, und man fand in seinem Hut allerdings Papiere von solcher Wichtigkeit, daß Sie unseres Dankes versichert sein können. Wie aber kamen Sie zur Wissenschaft dieses Geheimnisses?« – »Bevor ich diese Frage beantworte, gestatte ich mir, Eurer Exzellenz diese Dokumente zu überreichen.«
Mit diesen Worten öffnete Kurt das Paket und reichte es dem Kanzler.
»Ich bin engagiert und habe also jetzt keine Muße zum Lesen, aber die Aufschriften werde ich denn doch … Ah!«
Er hatte die erste Schrift geöffnet und blieb nun nicht nur bei der Aufschrift, sondern las weiter. Dann griff er zur zweiten:
»Setzen Sie sich«, gebot er Kurt.
Dieser leistete Gehorsam, während Bismarck weiterlas. Seine Augen schienen die Zeilen förmlich zu verschlingen, und die Spitzen seines Schnurrbartes zeigten jenes verräterische Zucken, was bei ihm stets ein Zeichen innerer Spannung war. Endlich war er fertig, wandte sich zu Kurt, der sich erhob, und richtete sein Auge mit einem so großen, erstaunten Blick auf ihn, daß der Leutnant beinahe verlegen wurde. Dann fragte er langsam und im Ton der höchsten Verwunderung:
»Aber, Herr Leutnant, ich begreife Sie nicht. Sie erscheinen mir wie ein Wunder. Sie, der junge, unbekannte Mann, machen uns Enthüllungen und bringen uns Beweise über Agitationen, für deren Aufdeckung man Königreiche bezahlen könnte. Wie kommen Sie zu diesen Dokumenten?« – »Kapitän Parkert, der uns hier entwich, hat sie dem Bankier Wallner in Mainz in Depositum gegeben, und dieser lieferte sie mir aus, als ich die Überzeugung aussprach, daß der Inhalt für ihn einer Dynamitpatrone gleiche.« – »Aber er kannte den Inhalt?«
Die Augen des großen Mannes waren so voll und scharf auf Kurt gerichtet, daß es ihm unmöglich war, zu lügen.
»Exzellenz, er ist tot«, antwortete er. – »Freiwillig gestorben?« fragte der scharfsinnige Mann. – »Ja.« – »Ah, also ein Kampf und eine Katastrophe. Erzählen Sie kurz.« – »Ich hatte bereits die Ehre, Eurer Exzellenz in Gegenwart Seiner Majestät von meinen Verhältnissen und denjenigen der Familie Rodriganda zu sprechen. Mein letztes Erlebnis steht in innigem Zusammenhang mit denselben.«
Er berichtete nun von dem verschwundenen Teil des Königsschatzes und wie er bei Auffindung desselben zugleich hinter die Geheimnisse der Verräter gekommen war. Er schonte den Bankier, so viel es möglich war, und doch meinte Bismarck, als er geendet hatte, zu ihm:
»Die nachsichtige Fassung Ihres Berichtes ist für Sie eine ebenso große Ehre, als die Enthüllung des Geheimnisses selbst. Sie glauben, Ursache zu haben, in irgendeiner Beziehung Milde walten zu lassen, aber ich versichere Ihnen, daß Sie gegen mich offen sein können, ohne daß Ihre freundliche Absicht in Gefahr gerät. Man wird, wenn es ohne Gefahr geschehen kann, Ihre Gründe gern berücksichtigen. Ich bitte Sie also, aufrichtig zu sprechen.«
Jetzt konnte von einer Verhehlung keine Rede mehr sein. Kurt erzählte alles. Bismarcks Gesicht nahm einen eigentümlich ergriffenen Ausdruck an, und als Kurt geendet hatte, reichte er ihm die Hand und sagte:
»Herr Leutnant, ich schätze Sie! Dieses Wort mag Ihnen ebensoviel bedeuten wie ein Orden. Auf Ihren Freund Platen, der sich ja in den letzten Tagen ausgezeichnet hat, soll nicht der leiseste Schatten fallen. Ihnen aber will ich die Rücksicht, die Sie für den Freund hatten, belohnen, indem ich Sie auffordere, morgen früh zehn Uhr bei mir zu erscheinen. Wir werden miteinander zum König fahren, damit er aus Ihrem eigenen Mund hört, wie es Ihnen gelungen ist, uns diesen weiteren großen Dienst zu leisten. Jetzt aber muß ich mich zurückziehen. Ich erwarte, Sie pünktlich zu sehen.«
Bismarck gab dem jungen Mann abermals die Hand und verschwand sodann im Saal. Wie trunken vor Glück stieg Kurt die Treppe hinab. Er hatte seinen Diener Ludwig vom Bahnhof direkt nach Hause geschickt, und als er nun zu den Seinigen trat, fand er sie um das geöffnete Kästchen versammelt. Sie kamen ihm alle entgegen, um ihn zu beglückwünschen, er aber wies ihre Gratulationen mit den Worten zurück:
»Das ist nichts! Ich habe noch weit Besseres erlebt. Ich komme von Bismarck.« – »Von Bismarck?« tönte es verwundert im Kreis. – »Ja, und er gab mir mehr, als diese Juwelen wert sind. Er sagte zu mir: ›Herr Leutnant, ich schätze Sie! Dieses Wort mag Ihnen ebensoviel bedeuten wie ein Orden.‹ Und dann lud er mich ein, morgen früh zehn Uhr zu ihm zu kommen, um mit ihm zum König zu fahren. Das ist mir lieber als Gold und Diamanten.«
Nun wurde er bestürmt, zu erzählen, wie das alles gekommen sei, er aber nahm eine komisch wichtige Miene an und antwortete:
»Es handelt sich um höchst wichtige Staatsgeheimnisse, die ich nicht verraten darf. Später vielleicht werde ich alles mitteilen dürfen.« – »Seht einmal den Diplomaten!« lachte der Herzog. »Er scheint die rechte Hand Bismarcks zu sein, so brüstet er sich.« – »Oh, was er noch nicht ist, das kann er ja noch werden«, meinte Röschen. Aber kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, so merkte sie, daß sie zu mutig gewesen sei, und eine glühende Röte flog über ihr liebliches Gesichtchen.
Ihre Mutter streichelte ihr die Wangen und stimmte bei:
»Ja, er hat das Zeug zu einem ganzen Mann und auch das gehörige Glück dazu. Ich bin überzeugt, daß er von sich reden machen wird. Aber, lieber Kurt, was beabsichtigen Sie nun mit diesem Geschmeide zu beginnen?« – »Das hat mich bereits der Herr Hauptmann auch gefragt«, meinte er lächelnd. – »Und was haben Sie ihm geantwortet?« – »Ich sagte ihm, daß ich am liebsten alles unserem Waldröschen schenken möchte.«
Alle lachten. Röschen erglühte abermals, und Rosa, ihre Mutter, fragte:
»Und was antwortete der alte, wackere Haudegen?« – »Hm, er meinte, ich solle mir nur keine Rosinen einbilden, denn ich sei ganz und gar nicht der Kerl dazu, Röschen etwas zu schenken.« – »Er hat doch wohl nur gemeint, daß solche Kostbarkeiten einen Schatz bilden, der nicht verschenkt werden darf, sondern gehütet werden muß. Wir wollen gemeinschaftlich über ihn wachen, daß er Ihnen sicher bewahrt bleibe.«
Aber als Kurt sich später auf sein Zimmer zurückgezogen hatte, klopfte es leise an seine Tür, Waldröschen steckte das liebe, süße Köpfchen herein und fragte:
»Kurt, hast du es mir wirklich schenken wollen?« – »Ja, Röschen«, antwortete er. – »Hebe es gut auf, denn später werde ich es annehmen dürfen.« – »Keine andere als du soll es bekommen.«
Bei diesen Worten hatte er das Köpfchen erfaßt und festgehalten, ihre Lippen fanden sich zu einem schnellen Kuß, und dann flüsterte Röschen, bevor sie eilig verschwand:
»Der Hauptmann Rodenstein ist ein alter Bär! Ich erkläre dir ganz feierlich, daß du schon der Kerl bist, mir etwas zu schenken! Nicht wahr, lieber Kurt?«
21. Kapitel
An der westlichen Küste des Golfes von Aden, der das Rote Meer mit dem Indischen Ozean verbindet, liegt ein Land, das ein Seitenstück zu dem berühmten Timbuktu oder dem allerdings fabelhaften Eldorado bildet. Die kühnsten Reisenden haben vergeblich versucht, dasselbe zu erforschen, und nur einem einzigen verwegenen Mann, dem britischen Offizier Richard Burton, ist es gelungen, bis dahin vorzudringen und einige Nachrichten über das abgeschlossene Land mitzubringen.
Dieses Land heißt Harrar. Der Beherrscher ist ursprünglich nur ein Scheich, läßt sich aber gern den stolzeren Titel Emir beilegen.
Es hat allerdings Fremde, ja sogar Europäer gegeben, die dieses Harrar betraten, aber sie konnten keine Kunde von den dortigen Verhältnissen mitbringen, kehrten niemals zurück, sie waren Sklaven.
Zwar war auf Anregung der Engländer, vorzüglich auf Betreiben des edlen Lord Willerforce, eine internationale Vereinbarung zustande gekommen, daß aller Sklavenhandel verboten sei. Die Kriegsschiffe aller Nationen hatten nicht nur das Recht, sondern sogar die Verpflichtung, die Sklavenschiffe wegzunehmen, die Gefangenen zu befreien und die Bemannung vom Kapitän an bis herab zum Schiffsjungen einfach aufzuhängen, aber diese Maßregeln haben bis zum heutigen Tag noch keinen durchschlagenden Erfolg gehabt. Es gibt noch jetzt Länder, in denen der Sklavenhandel floriert. Jeder Besucher von Konstantinopel zum Beispiel kann konstatieren, daß es dort noch immer Häuser gibt, in denen man Menschen von allen Farben kaufen kann. Besonders einträchtig ist die Sklavenjagd in den Nilgegenden und denjenigen Gebieten, die am Roten Meer liegen oder die Ostküste Afrikas bilden. Zu diesen gehört Harrar.
Harrar liegt allerdings nicht an der Küste. Es ist von den Seehäfen Seila und Berbera ans zu erreichen, indem man durch das Land der Somalinomaden reist. Diese Somali gehören zu den schönsten Vertretern der schwarzen Rasse, sind ein stolzes kriegerisches Volk und leben mit allen ihren Nachbarn in ewigen Fehden, so daß der Verkehr zwischen Harrar und der Küste großen Gefahren unterworfen ist. Aus diesem Grund ist es auch nur selten einem Sklaven gelungen, aus Harrar zu entfliehen und das rettende Meer zu erreichen.
Diese Einleitung mag vielleicht langweilig erscheinen, aber sie ist notwendig, um das Kommende zu verstehen.
Da wo die Somaliwüste sich gegen Westen, also gegen das Binnenland zu erheben beginnt und der bisher starre, unfruchtbare Fels und der gelbe Sand bereits hier und da wieder eine Spur grüner Vegetation zeigen, bewegte sich eine Karawane der untergehenden Sonne zu.
Sie bestand aus schwerbepackten Kamelen und teils von der Sonne gebräunten, teils von Natur aus tief schwarzen Männern, die alle sehr gut bewaffnet waren.
Ihre Waffen waren allerdings nicht diejenigen, wie sie bei uns getragen werden. Sie bestanden aus Luntenflinten mit langen, persischen Rohren, Kriegskeulen aus Teak– und Ebenholz und Bogen, mit denen gefährliche, vergiftete Pfeile versandt werden. Ein jeder trug außerdem ein langes, scharfes Messer in seinem Gürtel.
Die Kamele gingen nicht frei; sie waren immer eins an das andere gebunden, und zwar in der Weise, daß man das Halfter jedes Tieres an den Schwanz des vorhergehenden befestigt hatte. Alle trugen schwerbeladene Packsättel, ein einziges ausgenommen, auf dessen hohem Rücken eine Art Sänfte zu sehen war, deren vier Seiten mit dünnen, wie Luft durchlassenden Vorhängen verschlossen wurden. Es war zu vermuten, daß sich in dieser Sänfte eine weibliche Person befinde, deren Anblick den Augen Unberufener entzogen werden sollte.
Neben diesem Kamel ritt auf einem starken, weißen Maultier ein Mann, der der Anführer der Karawane zu sein schien. Er trug den langen, weißen Beduinenmantel und einen Turban von gleicher Farbe. Seine Waffen waren ganz diejenigen seiner Gefährten, nur daß der Griff seines Messers und der Schaft seiner Flinte mit Silber ausgelegt waren. Während er neben dem Kamel an er Spitze des Zuges ritt, musterten seine scharfen, stechenden Augen den westlichen Horizont. Dann parierte er sein Maultier und wandte sich an einen seiner Leute zurück.
»Halef, siehst du die Schlucht da vorn?«
Der Angeredete nickte und antwortete in demütigem Ton:
»Ich sehe sie, Herr.« – »Dort werden wir in dieser Nacht lagern«, meinte der Gebieter. »Du warst bereits mehrere Male mit mir in Harrar. Kennst du die Gegend noch?« – »Sehr gut, Emir.« – »Nun wohlan. Von der Schlucht aus hast du nicht weit bis in das Dorf Elaoda, und von da ist es nur eine Stunde bis in die Residenz des Sultans. Binde dein Kamel los und reite hin, um ihm zu melden, daß ich morgen früh bereits bei ihm sein werde.«
Der Mann gehorchte. Während er die Halfter löste, mit denen sein Tier in die Reihen der anderen gefesselt war, fragte er mit einem Wink nach der Sänfte, aber so leise, daß es nur der Emir hören konnte:
»Soll ich dem Sultan sagen, was wir bringen?« – »Sage ihm, daß wir Schals und Seidenzeuge, Messing, gewalztes Kupfer, Messer, Pulver, Zucker und Papier bringen. Dafür will ich Tabak, Elfenbein, Butter und Saflor eintauschen. Aber von der Sklavin sagst du ihm noch nichts.« – »Soll ich den Tribut mitnehmen?« – »Nein. Der Sultan wird nie satt. Wenn ich ihm bereits jetzt Tribut sende, so verlangt er später abermals Geschenke.«
Halef gab seinem Kamel hierauf das Zeichen, auf welches hin es mit seinen langen Beinen im eiligsten Lauf dahinflog.
Dann wandte sich die Karawane nach der Schlucht, von der der Emir gesprochen hatte. Sie lag nahe und wurde also sehr bald erreicht. Als die Reiter kaum von ihren Tieren gestiegen waren, nahte der Augenblick, wo die Sonne den Horizont berührte. Dies geschieht in jenen Gegenden fast immer genau um sechs Uhr nachmittags und ist die Zeit des von dem Propheten Mohammed vorgeschriebenen Abendgebetes.
Nun sind die Beduinen zwar mehr oder weniger alle Räuber, aber sie besitzen doch eine so große Religiosität, daß sie es für die größte Sünde halten, eins der vorgeschriebenen Gebete zu unterlassen. Darum ließen auch die Glieder der gegenwärtigen Karawane alles stehen und knieten nieder, um zu beten. Dabei ist eine Waschung vorgeschrieben; da aber das Wasser fehlte, so bedienten sie sich an Stelle desselben des Sandes, den sie gerade so durch die Finger gleiten ließen, als ob es Wasser sei.
Erst als sie hiermit fertig waren, wurden die Kamele von ihrer Last befreit, und dann ließen sich die Männer nieder, um von dem langen, beschwerlichen Ritt auszuruhen.
Einige von ihnen hatten die Sänfte vom Sattel gebunden. Aber die Person, die sich im Innern derselben befand, kam nicht zum Vorschein. Sie hatte jedenfalls den Befehl erhalten, die Sänfte gar nicht zu verlassen, sondern auch in derselben zu schlafen.
Der Emir nahm einige von den Datteln, die sein Abendbrot bildeten, und goß ein wenig Wasser aus einem der Schläuche in einen ledernen Becher. Damit nahte er sich der Sänfte, schob den Vorhang ein wenig zur Seite und fragte mit unterdrückter Stimme:
»Willst du essen und trinken?«
Es erfolgte keine Antwort, aber eine Hand streckte sich aus und nahm die Früchte und das Wasser in Empfang.
»Allah ist groß, und ich bin vergeßlich«, murmelte er. »Ich denke doch nie daran, daß sie unsere Sprache nicht versteht.«
Er nahm den Becher, der geleert worden war, wieder in Empfang, und kehrte an seinen Platz zurück. Auf seinen stummen Wink erhoben sich dann einige Männer und griffen zu ihren Gewehren. Sie entfernten sich, um das Lager zu bewachen, damit dasselbe von keinem Feind überfallen werde, und ebenso, damit die Gefangene nicht entfliehen könne. Bereits nach kurzer Zeit lag alles im tiefsten Schlaf.
Unterdessen hatte Halef längst das erwähnte Dorf erreicht, war durch dasselbe geritten, ohne anzuhalten, und eilte nun auf Harrar zu. Es war, als er dort ankam, kaum eine Stunde vergangen, seit er seinen Herrn verlassen hatte.
Die Tore dieser Stadt werden mit Sonnenuntergang geschlossen, und kein Mensch darf ohne besondere Erlaubnis des Sultans ein– und auspassieren. Halef klopfte an und mußte dies mehrere Male wiederholen, ehe der Wächter erschien.
»Wer ist draußen?« fragte er von innen. – »Ein Bote an den Sultan Achmed Ben Abubekr«, antwortete der Gefragte. – »Wie heißt du?« – »Mein Name ist Hadschi Halef Iba Mehemmed Ben Hulam.«
Je länger der Name eines Mohammedaners ist, desto größere Ehre hat er zu beanspruchen. Daher horchte der Wächter auf, als er diesen Namen hörte.
»Zu welchem Stamm gehörst du?« fragte er. – »Ich bin ein freier Somali.«
Die Bewohner von Harrar sehen, allerdings ganz ohne Grund, mit Verachtung auf die Araber und Somalis herab, und darum meinte der Wächter:
»Einen Somali darf ich nicht einlassen. Ich würde schlimm bestraft werden, wenn ich eines Somali wegen den Sultan störe.« – »Allerdings wirst du bestraft werden«, entgegnete Halef, »aber nur darum, wenn du nicht meldest, daß ich Einlaß begehre. Ich bin ein Bote des Emirs Arafat.«
Diese Meldung schien den Wächter nachdenklich zu machen. Er wußte, daß der Somali-Emir Arafat der Anführer der Handelskarawanen sei, mit denen der Sultan stets ein gutes Geschäft machte. Darum antwortete er:
»Arafat? Ich will es wagen. Ich werde das Tor einem anderen anvertrauen und selbst gehen, um deine Ankunft zu melden.«
Erst jetzt stieg Halef draußen vom Kamel, um zu warten, bis er eingelassen werde. Der Wächter aber stellte seinen Gehilfen an das Tor und begab sich nach dem Palast des Sultans.
Das Wort Palast steht hier eigentlich am unrechten Ort. Die berühmte Hauptstadt, die man wohl mit noch größerem Recht berüchtigt nennen könnte, ist mit sehr primitiven Mauern umgeben und hat bei einer Länge von einer halben Stunde eine Breite von nur einer Viertelstunde. Die Häuser sind nur steinerne Schuppen zu nennen, und selbst der Palast des Sultans sieht einer Scheune ähnlicher als einem Haus. Dicht neben demselben befindet sich ein aus unbehauenen Steinen errichtetes Gewölbe, in dem man Tag und Nacht Fesseln klirren hört. Es ist das Staatsgefängnis und hat tiefe, unterirdische Keller, in die nie das Licht des Tages dringt. Wehe dem Gefangenen, der dort seinen Aufenthalt nehmen muß! Er erhält niemals vom Sultan Essen und Trinken, und selbst wenn ihm ein Freund oder Verwandter täglich Wasser und den dort gebräuchlichen kalten Brei von Hirsemehl bringt, wird er doch mit der Zeit in seinem eigenen Schmutz verfaulen.
Der Thron des gewaltigen Herrschers, der unumschränkter Herr über Leben und Eigentum seiner Untertanen ist, besteht in einer einfachen Holzbank, wie man sie bei uns in der ärmsten Familie findet Auf dieser sitzt er nach orientalischer Weise mit untergeschlagenen Beinen, entweder in tiefes Nichtdenken versunken oder Audienz erteilend, bei der jeder Nahende zittert, weil die geringste böse Laune des Sultans hinreicht, das Blut des ersten besten fließen zu lassen.
Auch heute abend saß der Herrscher auf seiner Erhöhung. Hinter ihm hingen an der Wand alte, unbrauchbare Luntenflinten, Säbel und eiserne Fesseln mit Hand– und Fußschellen, die Zeichen seiner unbeschränkten Gewalt.
Vor ihm saß sein Wesir nebst einigen mohammedanischen Schriftgelehrten. Im Hintergrund hockten zahlreiche elende, in Fesseln geschlagene Gestalten am Boden. Es waren Sklaven und Gefangene. Der Sultan liebte es, seinen Thronsaal mit diesen unglücklichen Leuten zu schmücken, zum Zeichen seiner Macht und Herrlichkeit.
Seitwärts von ihm stand einer dieser beklagenswerten Männer mit Ketten an Händen und Füßen. Seine Gestalt war lang und hager, mehr vom Gram als vom Alter weit nach vorn gebeugt. Sein erloschener Blick und seine eingefallenen Wangen zeugten von Hunger und von tiefem Seelenleid. Er trug als einziges Kleidungsstück ein Hemd, und auch dieses war vielfach zerrissen.
Er schien soeben gesprochen zu haben, denn aller Augen ruhten auf ihm, auch diejenigen des Sultans, finster und drohend, wie diejenigen eines folternden Henkers.
»Hund!« sagte er zu dem Alten. »Du lügst! Wie kann ein christlicher Herrscher größer und mächtiger sein als ein Anhänger des Propheten. Was sind alle deine König gegen mich, den Sultan von Harrar!«
Da blitzten die Augen des Sklaven auf, und er antwortete:
»Ich war kein König, ich war nur ein Untertan, aber einer der edelsten unseres Landes; dennoch aber war ich tausendmal reicher und glücklicher als du.«
Da streckte der Sultan die zehn Finger vor. Sofort trat einer aus der Ecke heraus, erhob den schweren Bambusstock und gab dem Sklaven die zehn Hiebe, die durch dieses Zeichen anbefohlen worden waren; der Sklave zuckte nicht; er schien diese Behandlung gewöhnt zu sein; die Schläge schmerzten ihn nicht mehr.
»Willst du widerrufen?« fragte der Sultan. – »Nein!«
Der Herrscher gebot, ihm fünfzehn Streiche zu geben. Dies geschah, und dann sagte er:
»Ich werde dir beweisen, welche Macht ich besitze! Du bist ein Christenhund. Ich habe dir befohlen, den Propheten zu verehren, du aber hast es nicht getan. Heute aber gebiete ich dir zum letzten Mal, willst du gehorchen, Wurm?« – »Niemals!« antwortete der Alte mit fester Stimme.»Du hast mir meine Freiheit geraubt, du kannst mir auch das Leben nehmen, meinen Glauben aber nimmermehr. Hier willst du mir deine Macht beweisen? Gerade hier hört sie auf!«
Die Hand des Herrschers ballte sich, und er rief im grimmigsten Ton:
»Ich werde dich in das tiefste Loch meines Kellers werfen lassen!« – »Tue es!« meinte der Sklave unverzagt. »Ich will ja sterben, ich sehne mich nach dem Tod. Dann hört mein Leiden auf, und ich finde endlich Ruhe und Frieden.« – »Gut! Du willst es! Führt ihn ab, aber in den schlechtesten Kerker, den es gibt!«
Auf dieses Gebot des Sultans erfaßte der Henker den Alten und führte ihn hinaus. Draußen traten noch mehrere hinzu und schleppten ihn nach dem Gefängnisgebäude.
Als die Tür geöffnet wurde, quoll ihnen ein unbeschreiblicher Gestank entgegen, und das Geklirr von Ketten und das Gewimmer von Gefangenen ertönte. Man hatte kein Licht mitgenommen, darum konnte der Sklave nichts sehen. Er wurde nach einer Ecke geführt, wo der Henker mit Hilfe der anderen einen schweren Stein emporhob und dann dem Gefangenen einen Stoß gab.
»Hinab mit dir, du Christenhund!« lachte er. »In zwei Tagen bist du aufgefressen!«
Der Alte stürzte in ein enges Loch hinab, das wohl zweimal so tief war, als seine eigene Länge betrug. Er schlug dabei mit dem Gesicht an die Wand und beschädigte sich sehr. Aber er hatte keine Zeit, dies zu beachten, denn kaum hörte er, daß man den Stein über sein Grab legte, so fühlte er Tiere an sich emporspringen, die sich augenblicklich in seine nackten Beine einbissen.
»Mein Gott, soll ich wirklich bei lebendigem Leibe aufgezehrt werden?« rief er erschrocken.
Es waren Ratten, die wer weiß wie lange Zeit gehungert hatten und nun ein neues Opfer erhielten. Er stampfte sie von sich ab und trat sie mit Füßen. Er ergriff sie mit den Händen und würgte sie, aber hundert und aberhundert Bisse verursachten ihm die fürchterlichsten Schmerzen. Das Loch, in dem er steckte, war kaum vier Fuß breit und zwölf Fuß tief. Er stemmte sich mit dem Rücken an die eine und mit den Füßen an die andere Mauer der schmalen Seite und versuchte, sich nach Schornsteinfegerart emporzuarbeiten. Es gelang.
Dabei löste sich durch den Druck, den er ausübte, ein Stein aus der Mauer und fiel auf den Boden hinab. Ein mehrfacher quiekender Laut überzeugte ihn, daß der Stein einige der Ratten getötet habe.
»Ah, Gott sei Dank!« rief er erfreut »Das gibt eine Waffe!«
Er kletterte nun wieder niederwärts, ergriff den Stein und schlug mit demselben nach allen Seiten auf dem Boden herum. So viele der Ratten sich an ihn hängten und so viele Bisse er erhielt, er erschlug doch eine nach der anderen, bis auch die letzte sich nicht mehr regte. Beim Umhertasten erfaßte seine Hand einen runden, hohlen Gegenstand. Er stieß einen Schrei des Schreckens aus, denn er hatte einen Totenschädel ergriffen.
»Das sollte auch mein Schicksal sein und wird es vielleicht auch noch werden«, sagte er. »Gott, o Gott, was habe ich getan, daß ich ein solches Ende finden soll! Einst ein Graf Rodriganda, umgeben von Glück, Reichtum und Ehre, und nun soll ich hier elend verkommen! Und wer ist schuld daran? Cortejo und Landola, diese beiden Schurken! Herr im Himmel, vergilt es ihnen! Möge dir die Holle schlimmer werden als allen Teufeln, dir, Cortejo, und auch dir, du Scheusal Landola!«
Er stand da im Dunkel seines Kerkers und streckte die Fäuste empor. In diesem Augenblick schrak er tief zusammen, denn gerade über ihm erscholl eine Stimme:
»Landola? Ja, er sei verflucht, verflucht, verflucht in alle Ewigkeit!«
Der Ton dieser Stimme klang so grimmig, so knirschend, daß es den Sklaven grausig überlief.
»Wer ist das?« fragte er. »Wer bist du, der hier an diesem Ort spanisch redet, die Sprache meines Heimatlandes?« – »Sage erst, wer du bist«, tönte es von oben herab, »du, der du das Loch in die Mauer meines Gefängnisses gebrochen hast!« – »Ich bin ein Spanier aus Mexiko«, antwortete der Sklave. – »Und wie ist dein Name?« – »Ich bin Graf Ferdinando de Rodriganda.« – »Santa Madonna!« ertönte die Stimme. »Graf Ferdinando, der Bruder des Grafen Emanuel des Rodriganda?« – »Ja. Kennst du ihn, oh, kennst du ihn?« – »Ob ich ihn kenne? Oder vielmehr, ob ich ihn gekannt habe, denn er ist ja längst tot!« – »Tot? Nein, er lebt, er kann nicht gestorben sein!« – »Warum nicht? Ah, ich entsinne mich ja, daß auch Ihr gestorben sein sollt, und dennoch lebt Ihr noch. Sagt, Señor, ob Ihr mich nicht belügt. Sagt mir aufrichtig, ob Ihr wirklich Graf Ferdinando des Rodriganda seid!« – »Ich schwöre es bei Himmel und Erde, bei Gott und allen Heiligen, daß ich es bin!« – »Ah, das ist außerordentlich! Die Toten stehen wieder auf. Ich werde zu Euch hinabkommen, Don Ferdinando. Vielleicht gelingt es mir, mit Eurer Hilfe einen zweiten Stein zu entfernen. Dann wird die Öffnung groß genug sein, daß ich hinüber kann. Wollt Ihr mir helfen, Don Ferdinando?« – »Gern. Ich komme gleich hinauf.«
Der Alte kroch an den beiden engen Wänden empor, und es gelang der vereinten Anstrengung der beiden Gefangenen, einen zweiten Stein zum Weichen zu bringen, und nun war das Loch groß genug, um einen Menschen durchzulassen.
»Steigt hinab, Señor! Ich komme hinüber«, sagte der andere. – »Aber wenn man uns beieinander findet!« warnte der Graf. – »Man wird uns nicht entdecken. Man hat uns verdammt, Hungers zu sterben oder von den Ratten gefressen zu werden, und wird uns allein lassen. Und sollte ja einer von uns beiden Besuch erhalten, so ist es dunkel genug, um unbemerkt die Öffnung passieren zu können. Wir haben miteinander zu sprechen. Ich komme.«
22. Kapitel
»Im glühend heißen Sonnenbrand
Trag‘ ich der Knechtschaft Ketten.
O du mein teures Vaterland,
Gibt‘s niemand, mich zu retten?
Die Sonne sengt mir das Gehirn.
Die Sehnsucht schmilzt das Herze.
Vor Heimweh glühet mir die Stirn,
Die Seele brennt im Schmerze.
Allmächtiger, erbarm‘ dich mein,
Es ist nicht mehr zu tragen.
Von Hoffnung, ach, nur einen Schein,
Dann will ich nicht verzagen!«
Der Graf kletterte hinab, und der andere folgte ihm. Das Gefängnis war so eng, daß sie beinahe Brust an Brust standen, aber dies belästigte sie nicht im mindesten, es war vielmehr dem Grafen eine Seligkeit, einem Menschen nahe zu sein, von dem er erwarten konnte, in ihm einen Freund zu finden. Dieser faßte ihn bei beiden Händen und sagte:
»Verzeiht, Don Ferdinando, daß ich Euch die Hand drücke. Aber ich fühle mich ganz selig, nach so langem Leiden einen Landsmann zu finden. Ich bin nämlich aus Manresa gebürtig.« – »Aus Manresa? So nahe bei Rodriganda?« fragte der Graf überrascht. – »Ja. Ich bin nur ein gewöhnlicher Mann. Ich heiße Bernardo Mendosa, und mein Vater war Barbier.« – »Ach, ich besinne mich seiner. Er ist der Schwager des braven Juan Alimpo, des Kastellans meines Bruders.« – »Ja, Juan Alimpo ist mein Oheim mütterlicherseits. Der andere Oheim, den ich habe, nämlich der Bruder meines Vaters, ist Dominikaner. Oh, Herr, ich habe Euch vielleicht viel, sehr viel zu erzählen! Kennt Ihr diesen Dominikaner?« – »Nein.« – »So sagt mir zunächst, seit wann Ihr aus Mexiko fort seid.« – »Seit langer, langer Zeit. Es ist mir unmöglich geworden, die Tage, Wochen und Monate zu zählen, aber ich glaube, daß ich ungefähr seit zwölf Jahren hier in der Gefangenschaft schmachte.« – »Dios! So wißt Ihr noch gar nicht, daß Euer Herr Bruder, Don Emanuel, gestorben ist?« – »Nein. Sollte er aber wirklich gestorben sein? Wenn ich so über das, was mit mir geschehen ist, nachdenke, so scheint es mir, als ob es Leute gebe, denen an seinem und meinem Verschwinden außerordentlich gelegen ist.« – »Glaubt Ihr das, glaubt Ihr das wirklich?« fragte Bernardo rasch. »Vielleicht habt Ihr recht. Aber was ist mit Euch geschehen?« – »Das mag einstweilen auf sich beruhen«, sagte der Graf zurückhaltend. »Sage mir zunächst, was du von der Heimat und von den Meinigen weißt und wie du hierhergekommen bist.« – »Was Eure Familie betrifft, Señor, so weiß ich also, daß Don Emanuel gestorben ist und daß Don Alfonzo das Erbe angetreten hat.« – »Ah!« rief der Graf.
Er erinnerte sich an die letzten Szenen, die er in Mexiko erlebt hatte. Er dachte an jenes Duell, dem Alfonzo so schändlich entflohen war und das infolgedessen er selbst hatte ausfechten müssen. Er dachte an alles, was ihm die brave Marie Hermoyes erzählt hatte, es war daraus hervorgegangen, daß Alfonzo nicht der echte Nachkomme der Grafen von Rodriganda sei. Er dachte ferner an die furchtbaren, schrecklichen Stunden, in denen er erstarrt war und auf dem Totenbett gelegen hatte. Da hatte Alfonzo heuchlerische Tränen vergossen und eine außerordentliche Traurigkeit gezeigt. Aber das eine Auge des vermeintlichen Toten war nur halb geschlossen gewesen, und so hatte er deutlich gesehen, daß Alfonzo in den Augenblicken, wo er sich unbeobachtet bemerkte, statt der Zeichen des Leides eine höhnische Freude in seinem Gesicht getragen hatte. Er dachte endlich an den Moment, wo er von Kapitän Landola und dem verräterischen Cortejo in die Kajüte des ersteren geschafft worden war. Er hatte da in dem Korb gesteckt, aber trotzdem alles gehört, was diese beiden Menschen miteinander gesprochen hatten. Es war daraus hervorgegangen, daß Alfonzo mit im Komplott stecken müsse.
Es fuhr ihm dabei der Gedanke an das zweite Testament durch den Kopf, das er im Beisein von Marie Hermoyes verfaßt hatte. Dasselbe war in dem mittelsten Kasten seines Schreibtisches versteckt worden. Hatte man es nicht gefunden? Er hatte ja Alfonzo enterbt, und nun war dieser jetzt dennoch Graf von Rodriganda! Das Testament war also entweder unterschlagen worden oder auf irgendeine Weise verlorengegangen!
»Alfonzo?« fragte er. »Er ist Graf? Wie regiert er seine Untertanen?« – »Oh, wie ein echter, richtiger Tyrann. Er ist verhaßt im ganzen Land. Man fürchtet ihn und flüstert sich gar wunderbare Sachen über ihn zu.« – »Welche Sachen sind dies?« – »Ich weiß nicht, ob ich davon reden darf«, antwortete Bernardo geheimnisvoll. – »Ich bitte dich, mir alles aufrichtig zu sagen.« – »Nun, in meiner gegenwärtigen Lage ist ja alles gleich, es kann mir nichts schaden, wenn ich offen spreche. Man sagt nämlich, daß Alfonzo kein Rodriganda sei.« – »Ah!« entfuhr es dem Grafen. »Woraus schließt man dies?« – »Es scheint so in der Luft zu liegen. Außerdem aber habe ich ein Gespräch zwischen Gasparino Cortejo und meinem Oheim, dem Pater Dominikaner belauscht. Dieses Lauschen ist auch schuld, daß ich mich hier befinde, man hat mich unschädlich gemacht.« – »Erzähle, erzähle!« drängte der alte Graf. »Was kann der Dominikaner wissen?« – »Das sollt Ihr sogleich erfahren, Señor. Ich bin nämlich Gärtner und wurde zuweilen auf Schloß Rodriganda beschäftigt. Es gibt da ein kleines Borkenhäuschen, in dem ich meine Werkzeuge aufzubewahren pflegte …« – »Ich weiß das, ich kenne es sehr genau«, fiel Ferdinando ein, denn er erinnerte sich an jenes Häuschen.
»Eines Abends«, fuhr Bernardo fort, »war ich sehr ermüdet und wollte mich in dem Häuschen ein wenig ausruhen. Ich streckte mich also nieder, schlief aber ein. Als ich erwachte, wußte ich nicht, wie lange ich gelegen hatte. Eben als ich mich erheben wollte, hörte ich die Schritte zweier Männer, die langsam daherkamen. Vor dem Häuschen blieben sie zufällig stehen, und ich hörte nun jedes Wort, welches sie sprachen. Wißt Ihr, wer es war?« – »Nun, ich kann es mir denken. Gasparino Cortejo und der Dominikaner.« – »Ja, diese beiden waren es. Und soll ich Euch mitteilen, was sie miteinander sprachen?« – »Natürlich, natürlich! Rede nur schnell!« antwortete ungeduldig Don Ferdinando. – »Sie schienen schon längere Zeit miteinander im Gespräch begriffen zu sein, obgleich ich mir nicht denken konnte, was meinen Onkel Dominikaner bewogen haben könne, zu so später Stunde eine Unterredung mit Cortejo zu suchen. Vielleicht hatten sie sich ganz zufällig getroffen. Als sie so vor dem Häuschen standen, hörte ich den letzteren höhnisch sagen: ›Sie maßen sich zu viel an, frommer Pater! Wie können Sie es wagen, dem Grafen Alfonzo de Rodriganda Vorschriften zu machen! Und wenn Sie ihm etwas mitzuteilen haben, so wenden Sie sich in Zukunft an ihn, nicht aber an mich!‹ – Darauf antwortete mein Oheim mit seiner sanften und doch festen Stimme: ›Sie nennen mein Verhalten eine Anmaßung? Ich bin ein Diener der heiligen Kirche und habe als solcher die Pflicht, zu warnen und zu raten. Graf Alfonzo mag froh sein, daß ich einstweilen nur als warnender Priester einschreite, den es schmerzt, zu sehen, welche Ungerechtigkeiten die Untertanen zu dulden haben. Ich könnte anders gegen ihn auftreten!‹ – ›Ah! Wie denn?‹ – ›Als Ankläger.‹ – Als Ankläger? Ich glaube, Sie sind nicht recht gescheit, mein sehr ehrwürdiger Herr!‹ – ›Ich rühme mich allerdings keiner sehr großen Klugheit, ich verachte vielmehr die Klugheit der Kinder dieser Welt, die nur auf Lug und Trug sinnen. Und wenn Sie mir sagen, daß ich mich an den Grafen, nicht an Sie zu wenden habe, so muß ich Ihnen entgegnen, daß nicht er es ist, sondern daß Sie es sind, der die Zügel führt. Und außer diesen Zügeln befinden sich in Ihrer Hand auch die Fäden jener Angelegenheit, deren Kenntnis mich befähigt, ja beinahe verpflichtet, gegen Sie und den Grafen als Kläger aufzutreten.‹ – Cortejo schwieg einen Augenblick, als ob er erstaunt oder erschrocken sei, dann sagte er: ›Sie schwätzen dummes Zeug! In Ihrem Hirn ist es nicht ganz richtig.‹ – ›Oh, Señor, ich könnte Ihnen sofort beweisen, daß mein Hirn ebenso gesund ist wie das Ihrige.‹ – ›Das dürfte Ihnen schwer werden, mein frommer Vater!‹ höhnte Cortejo. – ›Sehr leicht sogar! Sie halten sich allerdings für klug und weise, Sie glauben, Ihre Schliche so klug und vorsichtig unternommen zu haben, aber Gott bringt alles an das Licht. Er sieht und hört alles, und wenn seine Zeit gekommen ist, macht er es offenbar.‹ – ›Reden Sie keinen Wahnsinn! Was sprechen Sie von Schlichen? Wenn Sie sich nicht einer größeren Höflichkeit befleißigen, werde ich Sie Sitte und Anstand lehren!‹ – Diese Worte hatte Cortejo im Zorn gesprochen, aber der Pater antwortete ruhig: ›Nun, so muß ich Sie an zweierlei erinnern.‹ – ›An was? Ich bin sehr begierig, es zu hören.‹ – ›Zunächst an einen Gasthof in Barcelona. Dort wurde von Ihnen mit Hilfe eines Räuberhauptmanns und seines Genossen ein Kind verwechselt.‹«
Der alte Graf Ferdinando hatte bis jetzt lautlos zugehört. Jetzt aber rief er rasch:
»Ein Kind verwechselt? In Barcelona? Mein Gott, jetzt wird es hell, jetzt endlich nach so langer Zeit erhalte ich Klarheit! Fahre fort! Schnell! Was antwortete Cortejo?« – »Er schwieg zunächst, aber ein leises, hustendes Räuspern zeigte mir an, daß er sehr erschrocken sein und sich in einer großen Verlegenheit befinden müsse. Endlich sagte er: ›Sie sind verrückt, geradezu verrückt!‹ – Aber der Onkel fuhr unbehindert fort: ›Und sodann erinnere ich Sie an ein Schiff des Kapitäns Landola, auf dem ein Gefangener von Verakruz abgeholt wurde. Wissen Sie, wer dieser Gefangene war?‹ – Cortejo war einen Augenblick lang wie gelähmt. Knirschend entgegnete er: ›Mensch, du bist kein Priester, sondern ein Teufel. Fahre zur Hölle, wohin du gehörst!‹ – In diesem Moment blitzte es auf, und ein Schuß krachte. Aber die Kugel traf nicht. Gott beschützte den Priester. Dieser erhob drohend die Hand und rief: ›Gasparino Cortejo, nicht ich bin es, sondern du wirst es sein, der in die Hölle fährt!‹ Nach diesen Worten verschwand er zwischen den Büschen. Cortejo blieb eine Weile ganz bewegungslos stehen, als ob er betäubt sei, worauf ich ihn murmeln hörte: ›Das sollst du mir büßen, du Halunke! Der Kerl weiß alles! Nun sollte uns noch dazu jemand belauscht haben!‹ Es wurde mir bange. Ich zog mich in den tiefsten Winkel des Häuschens zurück, aber er trat ein, fand mich und fragte, als er mich erkannt hatte, grimmig: ›Mensch, was tust du hier?‹ – ›Ich schlief‹, antwortete ich. Jetzt, da er vor mir stand, war es mir nicht mehr bange, denn ich war stärker als er. ›Hast du gehört, was gesprochen wurde?‹ – ›Ja‹, antwortete ich. Ich hielt es für gut, ihn wissen zu lassen, daß ich ihm gefährlich werden könne. – ›Ah! Alles?‹ fragte er. – ›Alles!‹ – ›Der Pfaffe war verrückt; er phantasierte. Aber trotzdem darf niemand erfahren, was er sagte. Kannst du schweigen?‹ – ›Ja, Señor.‹ – ›Nun gut, ich werde dich belohnen. Du bist bisher nur zur Aushilfe hier gewesen?‹ – ›Allerdings.‹ – ›Nun, von heute an bist du fest angestellt. Welches Gehalt du bekommst, wirst du morgen erfahren; aber wehe dir, wenn dir es einfallen sollte, zu plaudern!‹ Damit ging er fort, und ich war zum zweiten Schloßgärtner avanciert. Ich hatte es sehr gut, aber ich bemerkte doch, daß Cortejo mich mit großem Mißtrauen beobachtete, er schien mich zu fürchten. Mein Oheim war seit jener Nacht aus unserer Gegend verschwunden. Dennoch aber schien Cortejo erfahren zu haben, daß der Dominikaner mir nahestand, denn eines Tages, als er mich bei meiner Arbeit im Garten traf, fragte er mich: ›Wie ist dein vollständiger Name?‹ —›Bernardo Mendosa‹, antwortete ich. —›Aus Manresa?‹ – ›Ja.‹ – ›Heißt jener Pater Dominikaner, mit dem ich an jenem Abend von dir am Borkenhäuschen belauscht wurde, ursprünglich nicht auch Mendosa?‹ – ›Ja.‹ – ›Und stammt auch aus Manresa?‹ – ›Ja.‹ – ›So seid ihr wohl verwandt miteinander?› – ›Er ist mein Onkel, der Bruder meines Vaters.‹ – ›Ah! Ich habe ihn längere Zeit nicht gesehen. Weißt du nicht, wo er sich jetzt befindet?‹ – ›Ich weiß gar nichts von ihm.‹ – ›Ich hoffe, daß du die Wahrheit sagst‹, drohte er mit finsterer Miene. ›Wenn du gelernt hast, zu schweigen, so sei alles vergeben und vergessen.‹ Er ging fort, und ich schwieg; aber trotzdem war nichts vergeben und vergessen. Eines Tages ließ er mich zu sich kommen und gab mir den Auftrag, nach Barcelona zu gehen. Im dortigen Hafen lag ein Schiff, dessen Kapitän exotische Gewächse mitgebracht und zu verkaufen hatte. Ich sollte mir die Pflanzen ansehen und mir ein Preisverzeichnis geben lassen. Ich ging, aber ich bin niemals zurückgekehrt.«
Der Erzähler schwieg eine Weile. Die Gedanken an die nun folgenden Ereignisse stürmten zu mächtig auf ihn ein. Endlichaber fuhr er fort:
›Ich richtete meinen Auftrag bei dem Kapitän des Schiffes aus; ich kannte ihn damals noch nicht, es war Henrico Landola. Er hatte gar keine Pflanzen, dies gestand er mir unter schadenfrohem Lachen. Und als ich das Schiff verlassen wollte, wurde ich festgehalten, gebunden und in eine dunkle Koje geworfen. Erst nach längerer Zeit, als wir uns bereits auf hoher See befanden, durfte ich das Deck betreten, um frische Luft zu atmen. Und hierbei wurde mir bedeutet, daß ich Matrose sei und bei Todesstrafe zu gehorchen habe.« – »Schändlich!« sagte der Graf. – »Oh, Don Ferdinando, das war noch lange nicht das Schändlichste! Denn bald bemerkte ich, daß dieser Landola ein Sklavenhändler und Seeräuber sei. Denkt Euch, ich sollte da mittun! Ich sollte die armen Schwarzen mit fangen und verkaufen helfen! Ich sollte andere Schiffe mit überfallen und ausrauben und mich an der Ermordung der Mannschaft beteiligen! Ich weigerte mich, da wurde ich wieder eingesperrt, mußte hungern und erhielt Schläge, die mir die Glieder zerfleischten. Oh, dieser Teufel, dieser Landola! Könnte ich ihn mit glühenden Zangen peinigen, ich würde es sicher tun!« – »Überlaß ihn Gott! Dieser ist gerecht und wird ihn richten. Doch erzähle weiter.« – »Da ich mich trotz des Hungers, der Schläge und aller Schmerzen standhaft weigerte, an den Verbrechen der anderen teilzunehmen, so erklärte Landola, daß er mir die stärkste Strafe, die es gäbe, bestimmt habe; ich sollte als Sklave verkauft werden. Wir segelten damals an der Ostküste Afrikas hinauf. Er ankerte vor Karat und ging an das Land. Nach kurzer Zeit wurde ich abgeholt. Er hatte mich wirklich verkauft. Der Käufer war ein wilder Sklavenfänger, dem ich, mit Ketten belastet, in das Innere des Landes nach Dollo folgen mußte. Dort verkaufte er mich wieder. Mein neuer Herr war ein grausamer Negerfürst. Was ich bei ihm ausgestanden habe, zu erzählen, dazu reicht die menschliche Sprache nicht aus; es ist so furchtbar, daß ich mich noch in meiner Todesstunde darüber entsetzen werde. Ich mußte arbeiten für zehn Mann und die niedrigsten, oft die scheußlichsten Dienste verrichten; ich wurde mißhandelt wie ein Vieh und erhielt nicht halb satt zu essen, aber trotz alledem und trotz der mörderischen Gegend, in der ich mich befand, hielt ich das alles aus, ja, ich wurde kräftiger und stärker, als ich je vorher gewesen war. Da starb mein Herr, und da sein Erbe mich nicht behalten wollte, so verkaufte er mich an einen Mann aus Harrar, der mich mitschleppte und seinem Sultan zum Geschenk machte. So kam ich hierher.« – »Wie lange ist dies her?« – »Es sind erst vierzehn Tage.« – »Ah, darum habe ich dich nicht gesehen. Ich habe nämlich drei Wochen lang entfernt von hier in einer Kaffeepflanzung des Sultans arbeiten müssen. Aber was hast du getan, daß du in das Gefängnis gesteckt worden bist?« – »Ich erhielt gleich bei meiner Ankunft hier den Befehl, Mohammedaner zu werden.« – »Gerade wie ich, aber ich habe stets widerstanden.« – »Ebenso auch ich. Man marterte mich nun, und als ich mich trotzdem weigerte, den falschen Propheten Mohammed anzurufen, wurde ich in dieses Loch geworfen. Heute hörte ich nun Euch, Señor, und es ist in der Tat geradezu ein Wunder, daß wir beide, die wir die gleiche Heimat haben, uns in einem so fremden Land, in ganz derselben Stadt und in ganz demselben Kerker finden! Ich habe nachgesonnen, ob nicht eine Rettung möglich sei, doch vergebens, unser Zusammentreffen aber nehme ich für einen Wink vom Himmel, nicht alle Hoffnung zu verlieren. Gott kann unmöglich wollen, daß Ihr die Enthüllung Eurer Familiengeheimnisse hier findet und dann untergeht. Ich bin ja nur ein schlichter, einfacher Mann, Ihr aber seid ein vornehmer Herr, der mehr Klugheit und Scharfsinn besitzt als ich. Vielleicht gelingt es Euch, ausfindig zu machen, wie wir uns mit vereinter Kraft aus dem Kerker und diesem Land retten zu können. – So, das ist alles, was ich Euch zu sagen habe. Ich überlasse es Euch, ob auch Ihr mir erzählen wollt, wie Ihr nach Harrar gekommen seid.«
Mendosa schwieg. Er erwartete jedenfalls eine Antwort, aber sie blieb aus, der alte Graf war in Gedanken versunken, denn er hatte jetzt so viel gehört, er hatte den ersten Schlüssel zu dem Rätsel gefunden, dessen Lösung ihm bisher unmöglich gewesen war. Durfte er dies als eine Fügung Gottes betrachten, so folgte daraus die Hoffnung, vom Tode und der langjährigen Knechtschaft errettet zu werden. Endlich fragte er den Gärtner:
»Weißt du oder ahnst du vielleicht, woher dein Oheim, der Pater Dominikaner, etwas über jene Kindesverwechslung und über jenen Gefangenen auf dem Schiff des Kapitäns Landola gehört hat?« – »Nein. Ich habe Euch bereits erzählt, daß ich den Oheim noch nicht wieder gesehen habe.«
Der freundliche Leser wird sich entsinnen, daß dieser Pater Dominikaner zweimal die Beichte eines Sterbenden gehört hatte. Einmal in der Räuberhöhle, als der todkranke Bettler Pedro, der eigentlich Manuel Sertano hieß und aus Mataro war, ihm sagte, daß er die Knaben verwechselt habe. Das andere Mal im Kerker zu Barcelona, als der sterbende Steuermann Jacques Garbilot in Sternaus Gegenwart von dem Gefangenen, den Kapitän Landola von Mexiko mitnahm, erzählt hatte. Dies waren die beiden Quellen, aus denen der Priester geschöpft hatte. Don Ferdinando fragte weiter:
»Woran ist denn mein Bruder Emanuel gestorben?« – »Oh, wenn er wirklich gestorben ist, so hat er einen sehr traurigen Tod gehabt, Señor.« – »Der Arme! Erzähle!« – »Er wurde zunächst blind …« – »Das weiß ich. Er war bereits blind, als ich mich noch in Mexiko befand.« – »Später wurde er wahnsinnig …« – »Herrgott, ist das möglich!« rief der Graf. – »Ob es möglich ist, Señor? Jedenfalls. Aber ob er es wirklich war, das ist eine andere Frage.« – »Ich ahne, daß er ein Opfer derselben Machination geworden ist, der auch ich erlegen bin. Hat man ihn denn nicht unter die Obhut eines tüchtigen Arztes gestellt?« – »Darüber raunte man sich sehr eigentümliche Sachen zu, gnädiger Herr.« – »Erzähle, ich will alles hören, alles, verstehst du mich?«
Der Gärtner folgte diesem Gebot nicht sofort. Er schien sich erst besinnen zu müssen. Endlich aber erzählte er den uns bekannten Vorgang auf Schloß Rodriganda, das Erscheinen Doktor Sternaus und dessen mutiges und erfolgreiches Eingreifen in die Geschicke des Grafen Emanuel.
Als schließlich der Gärtner berichtete, daß Doktor Sternau dann mit Rosa nach seiner Heimat geflohen sei und sie dort geheiratet habe, da fuhr Don Ferdinando überrascht auf.
»Sie, eine Gräfin Rodriganda, die Frau eines deutschen Arztes?« sagte er. – »Ja. Ihr dürft Euch nicht darüber wundern, Señor. Sternau war ein Mann, wie ich noch keinen gesehen habe, ein Mann wie ein König, und doch so gut und mild. Er hat es an den Rodrigandas verdient, daß er der Mann Ihrer Tochter geworden ist.« – »Du magst recht haben. Obgleich sich soeben das stolze Blut meiner Väter in mir regen wollte, bin ich doch jetzt nichts als ein elender, hilfloser Sklave. Vielleicht ist meine Nichte in den Armen dieses Mannes glücklicher, als wenn sie das Weib eines Herzogs geworden wäre. Aber sie war ja wahnsinnig. Wie konnte er sie da heiraten?« – »Er hat sie geheilt, wie ihm auch die Heilung Don Emanuels gelungen wäre, wenn man ihn nicht in dem Kerker hätte verschwinden lassen. Er strengte von Deutschland aus einen Prozeß an und erreichte es, daß die von ihm Gerettete als Gräfin Rodriganda anerkannt und ihr das ihr gehörige Erbteil ausgezahlt werde.« – »Und dann weiter! Hat er nicht seine Behauptung aufrechterhalten, daß jene Leiche nicht diejenige meines Bruder sei? Hat er nicht Schritte getan, die verbrecherischen Taten Cortejos, Alfonzos und Clarissas aufzudecken?« – »Jedenfalls, aber er war klug genug, nicht öffentlich gegen sie aufzutreten, sondern seine Minen im geheimen anzulegen. Es kamen Fremde, die sich in Rodriganda, Manresa und Barcelona niederließen und von denen man meinte, daß es fremde Polizisten seien, die Rodriganda beobachten sollten. Mein Vater erhielt von Alimpo aus Deutschland zuweilen einen Brief. Im letzten, den er bekam, ehe ich entführt wurde, stand, daß Sternau Deutschland verlassen habe, um zunächst den Grafen Ferdinando de Rodriganda aufzusuchen, also Euch, gnädiger Herr.« – »Mich?« fragte der alte Mexikaner erstaunt. »Wie kommt das? Hat er vielleicht geahnt, daß ich nicht tot bin?« – »Das weiß ich nicht, aber Sternau war ein sehr, sehr kluger Mann.« – »Das sehe ich ein; wenn er mich gefunden hätte, so hätten wir genug Material gehabt, die Bösewichter zu entlarven. Herrgott, wenn er sich noch jetzt auf meiner Spur befände. Wenn er nach Harrar käme, um mich zu befreien!« – »Das scheint mir nicht wahrscheinlich zu sein, Señor! Denkt an die lange Zeit, die seitdem vergangen ist! Wollen wir wirklich an unsere Befreiung denken, so müssen wir uns vor allen Dingen klarmachen, daß wir nur auf uns angewiesen sind.« – »Das ist wahr. Aber wie entkommen? Heilige Mutter Gottes, hilf uns. Ich habe mich bis zum Wahnsinn gesehnt, vor meinem Tode noch einmal die Heimat wiederzusehen; jetzt aber schreit jeder Tropfen Bluts, jede Faser in mir nach Erlösung. Freiheit, nur jetzt Freiheit. Ich lechze nach Rache, und dann, wenn sie gelungen ist, will ich gern mein Haupt zur Ruhe legen und mich mit der Erde bedecken lassen, die mir so lange Jahre nichts gewährt hat als Gram, Elend und einen fürchterlichen Kampf mit den höllischen Mächten der Verzweiflung. Herrgott im Himmel, laß mich nach Spanien, nach Spanien! Dann will ich in meiner letzten Stunde und mit meinem letzten Hauch aller Welt verkünden, daß du der Herrscher bist, der Allmächtige, dem niemand, selbst kein Satan und kein Teufel, widerstehen kann.«
23. Kapitel
Der Graf hatte betend die Hände gefaltet und war in die Knie gesunken. Bernardo sah dies nicht, aber er fühlte es, und seine ganze Seele schloß sich dem Flehen des Grafen an. Es entstand eine Pause, in der in dem nachtfinsteren Loch die Stille des Todes herrschte, bis endlich der Gärtner sagte:
»Wir wollen uns fassen und ermannen, gnädiger Herr. Gott ist die Liebe, er wird uns helfen, aber nur durch uns selbst!« – »Ja, du hast recht«, antwortete der Angeredete, sich wieder vom Boden erhebend. »Wir wollen trotz unserer elenden Lage nicht verzweifeln, sondern Hoffnung hegen. Wir wollen uns kaltblütig beraten und überlegen, auf welche Weise wir entkommen können.«
Diese Beratung dauerte lange Zeit, doch endlich hatten sie alle Einzelheiten der Flucht erwogen und durften auf die Möglichkeit des Gelingens derselben hoffen.
Der alte Graf war voll Begeisterung für den Fluchtplan, ebenso aber auch der Gärtner. Dieser fiel sofort ein:
»Wollen wir nicht sogleich beginnen?« – »O wie gern! Aber leider geht es nicht an; wir müssen Geduld haben und warten.« – »Warum?« – »Weil wir mehrere Stunden dazu brauchten, um nur hinaus bis zu den Kamelen zu gelangen, und dazu ist es heute zu spät. Man würde unsere Flucht zu zeitig entdecken und uns nahe auf den Fersen bleiben. Dann wären wir jedenfalls verloren.« – »Das sehe ich nicht ein«, warf der Gärtner ein. – »So kennst du dieses Land nicht. Wir wissen noch gar nicht, ob wir uns nach Seila oder Berbera wagen dürfen, und dies sind die beiden Häfen, die uns am nächsten liegen. Vielleicht müssen wir uns an der Küste verstecken, um ein vorübersegelndes Schiff zu erwarten. Dort würden wir ganz sicher eingeholt. Nein, wir müssen unbedingt bis morgen abend warten.« – »Gut, ich füge mich, Don Ferdinando. Aber eins können wir bereits jetzt tun.« – »Was?« – »Wir können versuchen, ob es uns gelingt, den Stein zu bewältigen.« »Da gebe ich dir allerdings recht. Gelingt uns das, so wird uns die Überzeugung beruhigen, daß wir zu jeder Stunde unseren Kerker verlassen können, gelingt es aber nicht, so wissen wir dann doch, daß wir uns einen anderen Weg aus dem Gefängnis bahnen müssen; denn hinaus müssen wir, auf jeden Fall und um jeden Preis.« – »So wollen wir hinüber zu mir gehen. Ich werde voransteigen.«
Der Gärtner turnte sich an der Mauer empor, und der Graf folgte ihm. Sie gelangten ohne besondere Mühe durch die Öffnung hinüber in das andere Loch. Dieses hatte, wie Don Ferdinando sich überzeugen konnte, dieselbe Breite und auch Tiefe wie das seinige. Es war also auch hier möglich, nach Schornsteinfegerart emporzuklettem.
»Fühlt Ihr die Ratten, die ich getötet habe, Señor?« fragte Bernardo. – »Ja. Aber komm, wir wollen in die Höhe.« – »Laßt mich voran, weil ich bereits oben gewesen bin.«
Der Gärtner schob sich in die Höhe, hüben mit dem Rücken und drüben mit den Füßen anliegend; Don Ferdinando folgte ihm schneller nach, als man es bei seinem Alter erwartet hätte. Fünf Fuß vom Boden entfernt machte das Loch eine Biegung zur Seite. Es ging unter der Gefängnismauer schief hindurch und wurde dann etwas weiter. So gelangten sie, ohne sich besonders angestrengt zu haben, zu der Steinplatte, die ihnen die Freiheit verschloß.
»Nun gilt es, Señor«, sagte Bernardo. »Kommt herbei; wir wollen probieren.«
Sie fanden wirklich Platz nebeneinander, und da das Loch nicht senkrecht, sondern in einem halbrechten Winkel hier nach oben führte, so konnten sie festen Halt fassen und doch den größten Teil ihrer Kraft auf die Bewegung der Platte verwenden. Erst schien sie doch zu schwer zu sei, aber bei dem zweiten Stoß wich sie und schob sich ein wenig zur Seite, so daß eine Lücke entstand, durch die der Sternenhimmel zu erblicken war.
»Gott und allen Heiligen sei Dank, es geht«, flüsterte der Graf. »Hier gibt es frische Luft, anstatt des bestialischen Gestanks da unten. Mir ist, als ob uns die Sterne das Gelingen unseres Planes zublinkten. Verstehst du es, an den Sternen die Zeit zu erkennen?« – »Ja. Es ist bereits nach Mitternacht.« – »Es wäre also zu spät, unser Werk zu beginnen. Wie still und lautlos ist es ringsum. Harrar liegt in tiefster Ruhe. Dort drüben bei Hadschi Amandan stehen noch die Dattelsäcke, die er heute erhalten hat; ich erkenne sie, trotzdem es sehr finster ist.« – »Dattelsäcke?« fragte der Gärtner. »Ah, wenn man sich da etwas holen dürfte! Ich habe seit einigen Tagen nichts zu essen bekommen.«
Die Augen des Grafen schweiften forschend zur Lücke hinaus. Nach einer Weile sagte er:
»Eigentlich ist dieser Wunsch unvorsichtig zu nennen, aber wir müssen bedenken, daß wir morgen aller unserer Kräfte bedürfen. Bei mir ist der Durst größer als der Hunger, und ich weiß, daß unter dem Dach des Hadschi ein Schlauch voll Wasser hängt. Wollen wir es wagen, Bernardo?« – »Warum nicht? Wer kann uns bemerken?« – »Gut! Wir heben den Stein vollends fort und kriechen am Boden hin, damit wir ganz sicher sind, daß uns niemand bemerkt.« – »Erst will ich mein Messer holen. Man weiß nicht, was passieren kann.«
Der Gärtner kehrte nach unten zurück und kam bald wieder, das Messer zwischen den Zähnen.
Nun stemmten sie sich abermals mit aller Kraft gegen den Stein und brachten ihn auf die Seite. Jetzt konnten sie heraus zur Erde steigen, dann legten sie sich auf den Boden nieder und krochen auf Händen und Füßen vorwärts, nach dem Gebäude zu, unter dessen Dach die Dattelsäcke standen. Über ihnen hing der Schlauch, von dem der Graf gesprochen hatte. Er trat hinzu und wollte trinken, aber der Gärtner faßte ihn beim Arm und flüsterte:
»Warum jetzt trinken, Señor?« – »Wann sonst?« – »Später. Bedenkt, daß dieser Schlauch uns notwendiger ist, als diesem Hadschi. Ich mache den Vorschlag, wir nehmen ihn mit.« – »Man wird bei Tagesanbruch entdecken, daß er fehlt.« – »Was schadet das uns?«
Der Gärtner warf sich einen der gefüllten Dattelsäcke auf die Schulter und sagte:
»Nehmt Ihr den Schlauch, Señor; dann können wir schmausen und trinken.«
Nach diesen Worten huschte er in größter Eile nach dem Gefängnis hinüber, und der Graf konnte nicht anders, er mußte ihm mit dem Schlauch folgen.
Erst wurde nun der Sack und darauf der Schlauch hinuntergelassen; dann folgten die beiden nach. Sie fanden da unten freilich gerade Platz genug zum Stehen für zwei Männer, aber sie konnten nun doch ihren Hunger und Durst löschen. Dann kehrten sie wieder nach oben zurück, wo es ihnen möglich war, frische Luft zu atmen, bis zur Zeit, in der sich die Bewohner Harras von ihrer Ruhe zu erheben pflegen.
Hier lagen sie vor der Mündung ihres Loches und besprachen die geplante Flucht. Dabei schien der Graf eine Sorge zu haben, denn er sagte:
»Wenn wir nur jetzt nicht eine Dummheit begangen haben, Bernardo. Wir hätten auf die Datteln und auf das Wasser verzichten sollen.« – »Warum?« fragte der Gärtner. – »Weil uns das in eine schlimme Lage bringen und uns unsere ganze Flucht vereiteln kann.« – »Da möchte ich denn doch wissen, wie!« – »Wir müssen bedenken, daß man hier keine Wohnung zu verschließen und alles öffentlich stehen zu lassen pflegt. Die Bewohner dieses Landes sind zwar die niederträchtigsten Räuber und Spitzbuben gegen andere, aber unter sich selbst sind sie die ehrlichsten Kerle. Man wird bei Tagesanbruch den Diebstahl bemerken und sich darüber entsetzen. Man wird Nachforschungen halten, und wenn man dann entdeckt, daß wir die Täter sind, so werden alle Hoffnungen zuschanden, und wir fallen einem fürchterlichen Tode anheim.«
Der Gärtner schüttelte den Kopf und meinte:
»Wenn Ihr weiter keine Sorge habt, so brauchen wir nicht bange zu sein, denn ich wüßte nicht, wie diese Leute entdecken sollten, daß wir die Täter sind.« – »Wenn sie unsere Spur finden.« – »Bah! Es ist ja ganz unmöglich, daß wir eine Spur hinterlassen haben. Wir sind beide barfuß, und der Boden ist so hart und fest wie Stein. An uns wird man am allerwenigsten denken; wir sind ja Gefangene und können unsere Löcher gar nicht verlassen. Übrigens können wir uns einer sehr guten Tat rühmen. Wenn wir fliehen, lassen wir natürlich den Schlauch und die Datteln zurück, und dieser Speisevorrat wird meinem unglücklichen Nachfolger zugute kommen und ihn lange vor dem Verhungern schützen.«
So tauschten diese beiden ihre Meinungen aus, und erst als ein entferntes Geräusch bemerken ließ, daß die Bewohner der Stadt zu erwachen begannen, brachten sie die Platte wieder in ihre Lage und rutschten in das Loch zurück. Dort fragte der Gärtner:
»Bleiben wir beieinander, Señor?« – »Nein«, antwortete der Graf. »Das wäre eine Unvorsichtigkeit. Es ist leicht möglich, daß man einen von uns zu sehen oder zu sprechen verlangt. Ich kehre in mein Loch zurück, und wir setzen einstweilen die ausgebrochenen Steine wieder in die Zwischenwand. Die Vorsicht gebietet uns dies, wenn wir das Gelingen unseres Planes nicht ganz auf das Spiel setzen wollen.«
Sie taten beide nach diesen Worten, und es sollte sich im Laufe des Tages zeigen, daß es sehr klug gewesen war, diese Vorsicht angewandt zu haben.
24. Kapitel
Wir hatten am Abend Halef, den Boten des Karawanenführers, vor dem Stadttor verlassen und gesehen, daß der Wächter zum Sultan gehen wollte, um ihn anzumelden. Er kam an den Palast, als Graf Ferdinando soeben nach dem Gefängnis abgeführt worden war.
Als er in den Audienzsaal trat, saß der Sultan noch auf seiner Thronbank. Das Gesicht des Herrschers war finster, sein Zorn über den Sklaven war noch nicht erloschen. Wer ihn kannte, der wußte, daß es jetzt gefährlich sei, sich ihm zu nahen. Er blickte den Torwächter mit funkelnden Augen an und sagte:
»Was willst du so spät?«
Der Gefragte warf sich auf den Boden nieder; erhob den Kopf ein wenig und antwortete:
»Es ist ein Bote vor dem Tor, der Einlaß begehrt.« – »Wer sendet ihn?« – »Arafat, der Emir der Karawane.« – »Arafat? Ah, ist er endlich da? Er hat mich lange warten lassen und soll meinen Zorn empfinden. Was für einen Boten hat er gesandt?« —»Einen Somali.«
Da machte der Sultan eine Bewegung des Grimms und rief:
»Einen Somali? Du wagst es, du Hund, mich eines armseligen Somali wegen so spät zu belästigen? Gott sei dir gnädiger als ich. Komme herbei!«
Der Wächter kroch näher, bis sein Kopf zu den Füßen der Bank lag, auf der der Sultan saß. Er hatte es nicht gewagt, dem ihm gewordenen Befehl zu widerstehen.
»Erhebe dich auf die Knie und drehe dich um!«
Dieses Gebot sagte dem Armen, was er zu erwarten habe. Der Herrscher von Harrar pflegt nämlich denen, die seinen Grimm erregen, mit seinem scharfen Haumesser einen Hieb in den Nacken zu versetzen. Geht dieser Schlag durch den Halswirbel, so ist der Mann tot, und niemand darf es wagen, ihn zu beklagen. Geht der Hieb aber nicht durch, so kommt der Getroffene allerdings meist mit dem Leben davon, aber es entsteht eine schmerzhafte Wunde, nach deren langsamer Heilung gewöhnlich eine Steife des Halses zurückbleibt. Man sieht in Harrar und Umgegend sehr viele Männer, die einen steifen Hals haben, ein Andenken an den Zorn des liebenswürdigen Herrschers, dem das Leben eines Untertanen nicht mehr gilt als dasjenige einer Fliege.
Der Wächter erhob sich in kniende Stellung, schloß die Augen und drehte dem Sultan den Nacken zu. Dieser zog seinen Yatagan, holte aus und schlug zu. Der Hieb war so kräftig, daß er den Halswirbel trennte. Der Kopf knickte nach vorn herunter; der Körper stürzte zu Boden, und ein starker Blutstrom schoß auf den letzteren hin.
»So muß es allen ergehen, die ungehorsam sind!« rief der Sultan. Dann wandte er sich zu dem Henker, der von dem Gefängnis zurückgekehrt war, und fragte: »Hast du den ungläubigen Sklaven in Sicherheit gebracht?« – »Ja, Herr«, antwortete der Mann, indem er sich niederwarf. – »In das schlechteste Loch?« – »Ja. Er wird einen bösen Kampf mit den Ratten zu bestehen haben.« – »Und er wird nicht fliehen können?« – »Nein; die Flucht ist ihm unmöglich.« – »Gut. Du bist ein gehorsamer Mann, ich werde dich belohnen. Du sollst an die Stelle des Wächters treten. Dein Amt beginnt schon jetzt. Gehe an das Tor und sage diesem verfluchten Somali, daß ihn Allah verderben möge. Er mag zu seinem Herrn zurückkehren und ihm melden, daß ich seine Geschenke zwei Stunden nach Tagesanbruch erwarte. Aber eingelassen wird so spät kein Bewohner von Harrar, viel weniger ein Somali!« – »Soll ich den Emir einlassen, Herr, wenn er mit den Geschenken naht?« – »Nein, er möchte denken, daß ich es nicht erwarten kann, ihn bei mir zu sehen. Er mag vor dem Tor warten, eine ganze Stunde lang, mit allen seinen Leuten. Es ist eine unverdiente Gnade für diesen Hund, wenn ich ihm überhaupt erlaube, meine Residenz zu betreten.«
Der Henker, der nun zum Wächter avanciert war, entfernte sich. Vor dem Tor wartete Halef auf ihn. Er erwartete ganz bestimmt, eingelassen zu werden, und erstaunte nicht wenig, als er die Worte vernahm:
»Kehre zurück zu deinem Herrn und melde ihm, daß kein Somali eingelassen wird!« – »Allah ist groß! Warum nicht?« – »Weil der Sultan die Somali verachtet. Der Wächter ist getötet worden, weil er ihm zugemutet hat, ihm deinetwegen die Schlüssel zu geben. Ich bin sein Nachfolger.« – »Du sagst, ich solle zu meinem Herrn zurückkehren? Du sagst ferner, der Sultan verachte die Somali?« zürnte Halef draußen vor dem Tor. »Weißt du, daß ich keinen Herrn habe? Wir Somali sind freie Männer, ihr aber seid elende Knechte und Sklaven. Euer Leben gehört eurem Tyrannen, er nimmt es euch, wenn es ihm beliebt. Er verachtet uns, sagt er, und doch kauft er unsere Ware, doch handelt und feilscht er mit uns. Wir, wir sind es, die euch verachten. Und Allah möge dich verdammen, wenn du dies nicht einsiehst und im Gedächtnis behältst. Lebe wohl, Sklave deines Henkers!«
Halef stieg auf das Kamel und eilte davon.
Nach kurzer Zeit breitete sich nächtliche Stille über die Stadt. Die beiden Gefangenen und die Angehörigen des hingerichteten Wächters waren wohl die einzigen, die den erquickenden Schlaf nicht suchten.
Am anderen Morgen, zwei Stunden nach Tagesanbruch, kam ein Bote des Sultans an das Tor.
»Ist die Handelskarawane da?« fragte er. – »Nein«, antwortete der neue Wächter. – »So sollst du zu dem Sultan kommen.«
Der Beamte erbleichte. Daß er zum Herrscher beordert wurde, flößte ihm Bedenken ein, aber er mußte gehorchen, und zwar augenblicklich.
Er fand den Herrn bereits auf dem Thron sitzen und warf sich nieder, um die Anrede zu erwarten. Einige Große des Reiches standen dabei.
»Ist der Emir Arafat mit den Geschenken angekommen?« lautete die Frage. – »Noch nicht, Herr.« – »Warum zögert dieser Hund? Hast du diesem Somali, seinem Boten, nicht gesagt, daß ich ihn zwei Stunden nach Aufgang der Sonne erwarte?« – »Nein, ich fand keine Zeit, es ihm zu sagen«, antwortete der Wächter zitternd. – »Warum nicht, du Hund, du Sohn von einem Hund?« brauste der Herrscher auf. – »Weil er zu eilig davonritt.« – »So soll ich deinetwegen warten? Habe ich dich darum zum Wächter bestellt? Allah ist groß und gerecht. Was der Mensch gibt, das erhält er wieder. Du hast als mein Henker viele Leute getötet; es wird nun dein Leben genommen werden. Komm her.«
Es wiederholte sich jetzt dieselbe Prozedur wie gestern abend. Einige Augenblicke später lag der Wächter mit durchhauenem Hals am Boden, und es wurde abermals ein Nachfolger bestellt, der sofort nach dem Tor eilte, dessen Schlüssel er von dem Sultan erhalten hatte.
Dieser befand sich in der gefährlichsten Stimmung. Er hatte allerdings gesagt, daß er die Somali verachte, aber er konnte vor Habgier ihre Geschenke nicht erwarten.
So verging fast der ganze Vormittag, ehe der Emir gemeldet wurde. Jetzt ließ der Herrscher ihn nicht am Tor stehen, wie es gestern abend seine Absicht gewesen war, sondern erteilte den Befehl, ihn sofort einzulassen und nach dem Palast zu bringen.
Nach kurzer Zeit erschien der Karawanenführer. Er hatte fünf Männer bei sich, die ein hochbeladenes Kamel geleiteten. Dieses wurde abgeladen, seine Last bestand in den Geschenken, die für den Sultan bestimmt waren. Die Sachen wurden von den Leuten des Herrschers in Empfang genommen, und Arafat durfte mit seinen Begleitern eintreten, nachdem er jedoch zuvor die Waffen abgelegt und die Schuhe ausgezogen hatte. Er wurde mit höchst unfreundlicher Miene empfangen.
»Warum kniet ihr nicht nieder?« rief der Sultan. – »Wir beugen unsere Knie nur vor Allah«, antwortete der Emir stolz. »Wir sind freie Männer und beten keinen Menschen an.« – »Warum kommst du so spät?«
Der Ton dieser Frage war ein solcher, daß die dunklen Augen des Emirs zornig aufblitzten.
»Weil es mir so gefiel«, sagte er. – »Ah, du hast dich nach meinem Willen zu richten, nicht aber nach deinem Wohlgefallen! Weißt du, daß ich deinetwegen zwei Wächter hingerichtet habe?« – »Ich bin nicht schuld daran. Ich bin gekommen, um mit dir zu handeln, nicht aber, um mich zu zanken oder gar mich beleidigen zu lassen.« – »Deine Sprache ist sehr kühn! Habe ich dich beleidigt?« – »Wer einen Boten kränkt, der kränkt den, dessen Bote er ist. Sage mir, ob du meine Geschenke nehmen und mit mir handeln willst. Wo nicht, so ziehe ich weiter.« – »Was bringst du dieses Mal?« – »Seidene Gewänder und Schals, Messing, Kupfer und Eisen, Pulver, Papier und Zucker.« – »Und was willst du dafür eintauschen?« – »Elfenbein, Tabak, Kaffee, Saflor; Butter, Honig und Gummi.« – »Ich werde sehen. Breitet die Geschenke aus.«
Jetzt legte man dem Sultan die Sachen vor, die ihm der Emir verehren wollte, um den Handel einzuleiten. Sie bestanden in Schießpulver, schönen Gewändern und Eisenwaren, meist in Deutschland gefertigt. Der Blick des Sultans wurde besonders angezogen von drei Revolvern, die sich dabei befanden.
»Diese Waffen sind sehr nützlich«, sagte er. »Ich weiß auch, wie man sie gebraucht, aber wenn die Munition alle ist, kann man sie nicht mehr gebrauchen. Es war einst ein Inglis hier, der mir eine solche Pistole schenkte. Er unterwies mich im Gebrauch derselben, doch kaum war er fort, so hatte ich keine Patronen mehr, und die Waffe war unnütz.« – »Ich habe viele Patronen«, antwortete der Emir. »Du kannst sie alle kaufen!« – »Was? Kaufen?« fragte der Sultan. »Die Waffe schenkst du mir, und die Munition soll ich kaufen? Weißt du nicht, daß die Patronen dazugehören?« – »Sie gehören nicht dazu, und ich habe in Aden ein ungeheures Geld für sie bezahlen müssen. Ich habe auch noch andere Patronen zu zwei schönen Gewehren, die ich dir zum Kauf anbiete. Solche Flinten sind noch nie hier gewesen, sie haben zwei Läufe und sind in Amerika gemacht.« – »Hole sie!« gebot der Sultan. – »Ich werde sie mit den anderen Waren bringen, sobald du mir gesagt hast, daß du mit den Geschenken zufrieden bist und daß der Handel beginnen kann.«
Der Sultan verschlang die Geschenke noch einmal mit seinem Blick und antwortete:
»Ich bin der mächtigste Herrscher aller Länder weit und breit. Dieser Tribut ist eines so großen Sultans nicht würdig, aber Allah ist barmherzig, und auch ich will gnädig sein. Bringe herbei, was du hast. Erst will ich kaufen, und dann sollen Leute nach mir kaufen dürfen.« – »Ich gehe, aber du tust unrecht zu sagen, daß ich nichts hätte, was deiner würdig sei. Ich habe etwas, was kein anderer Fürst, kein anderer Sultan besitzt.« – »Was ist es?« – »Eine Sklavin.« – »Ich brauche sie nicht«, sagte der Herrscher im wegwerfendsten Ton. »Das Leben und das Eigentum aller meiner Untertanen gehört mir, alle Weiber und Töchter sind mein, ich kann unter ihnen wählen, wie es mir beliebt.« – »Du hast recht. Aber so ein Mädchen, wie ich besitze, gibt es in Harrar nicht.« – »Ist es eine Nubierin?« – »Nein.« – »So ist es eine Abessinierin?« – »Auch nicht.« – »Was ist sie sonst?« – »Es ist eine Weiße«, sagte der Emir mit großem Nachdruck.
Da machte der Sultan eine Bewegung freudiger Überraschung und sagte:
»Allah! Es ist eine Türkin!« – »Auch keine Türkin. Eine Türkin würde höchstens fünfhundert Mariatheresientaler kosten, die Sklavin aber, die ich verkaufen will, ist so viel tausend wert.«
Nun fuhr der Sultan hoch von seinem Sitz und rief:
»So ist es eine weiße Christin, eine Ungläubige!«
Man muß nämlich wissen, daß eine europäische Sklavin in jenen Gegenden für das kostbarste Gut gehalten wird, das kaum bezahlt werden kann.
»Ja«, antwortete der Emir. »Es ist eine christliche Sklavin.« – »Ist sie weiß?« – »Wie Elfenbein, das die Sonne bleicht.« – »Schön?« – »Es gibt keine Huri des Paradieses, die sich mit ihr vergleichen könnte.« – »Klein?« – »Nein, hoch und schlank gewachsen wie die Palme, die goldene Früchte trägt.«
Man sah es dem Sultan an, daß seine Gier von Augenblick zu Augenblick größer wurde. Er erkundigte sich sogar nach Einzelheiten, nach denen ein Mohammedaner in Gegenwart anderer niemals fragt, sondern solche Fragen nur in der ausschließlichen Gegenwart des Händlers unter vier Augen ausspricht.
»Beschreibe sie«, gebot er. »Wie sind ihre Hände?« – »Klein und zart wie diejenigen eines Kindes, und ihre Nägel glänzen wie Rosenblätter und wie der erste Traum der Morgenröte.« – »Ihr Mund?« – »Ihre Lippen sind Granaten, zwischen denen die Zähne wie Perlen glänzen. Wer die Sklavin küßt, der kommt in Gefahr, das Leben, die Welt und sich selbst zu vergessen.« – »Allah, du hast sie geküßt!« rief der Sultan, bereits so eifersüchtig, als ob die betreffende Sklavin schon Eigentum seines Harems sei.
Der Emir konnte ein Lächeln der Befriedigung kaum unterdrücken, er erkannte, daß er seine Ware zu einem sehr hohen Preis losschlagen werde.
»Du irrst«, antwortete er. »Es hat noch kein Mensch die Lippen dieses Mädchens berührt« – »Weißt du dies genau?« – »Ich weiß es. Wer wollte sie küssen, da niemand mit ihr sprechen kann?« – »Allah! So ist sie stumm und taub dazu?« – »Nein. Ihre Rede klingt vielmehr wie der Gesang der Nachtigall, aber sie redet eine Sprache, die hier kein Mensch versteht.« – »Welche Sprache ist das?« – »Ich weiß es nicht, ich habe solche Worte noch nie vernommen. Ich habe Araber, Somali, Harrari, Inder, Malaien, Türken, Franzosen und Perser reden hören, aber keiner von ihnen hat gesprochen wie dieses Mädchen.« – »Woher hast du sie?« —»Ich war in Ceylon und traf dort einen chinesischen Mädchenhändler. Ich sah diese Sklavin und gab einen hohen Preis für sie, um sie zu dir zu bringen.« – »So gehe und hole sie nebst den anderen Waren. Aber zaudere nicht, sondern beeile dich.«
Der Emir entfernte sich mit seinen Leuten, um dem sehnsüchtigen Verlangen des Herrschers Folge zu leisten. Unterdessen wurden die Revolver zur Schau im Throngemach aufgehängt. Erst als sich alle Anwesenden auf den Befehl des Sultans zurückgezogen hatten, machte er sich höchst eigenhändig über die anderen Geschenke her, um sie nach der Schatzkammer zu tragen.
Die Kunde, daß eine Handelskarawane angekommen sei, lockte die Bewohner Harrars aus ihren Häusern, doch blieb der Platz vor dem Palast des Sultans leer. Man wußte ja, daß er erst seine Einkäufe machte, ehe andere an die Reihe kamen. Eine Zudringlichkeit hätte das Leben kosten können.
Es dauerte nun nicht lange Zeit, so zog der Emir mit seinen Kamelen und Leuten zum Tor herein, durch die holprigen Gassen dahin und hielt vor dem Palast.
Hier wurden die Tiere von ihrer Bürde befreit, ein einziges ausgenommen, auf dem sich die Sänfte befand. Man breitete große Teppiche auf die Erde und legte da die Waren aus. Als dies geschehen war, kam der Sultan, um sie anzusehen. Er war ganz allein, und niemand durfte dabeisein, während er seine Auswahl traf.
»Wo ist die Sklavin?« war seine erste Frage. – »Dort in der Atuscha – Sänfte—«, antwortete der Emir. – »So will ich sie sehen.«
Der Handelsmann schüttelte den Kopf und sagte:
»Zuerst die tote Ware und dann die lebendige.«
Der Sultan machte ein zorniges Gesicht und erwiderte in strengem Ton:
»Hier in Harrar bin ich der Gebieter. Man hat mir zu gehorchen. Ich will sie sehen!« – »Über meine Sachen bin ich der Gebieter«, sagte Arafat sehr ruhig. »Wer mir von den Sachen viel abkauft, der bekommt die Sklavin zu sehen, sonst keiner. Darf ich mit meinem Eigentum nicht tun, was ich will, so ziehe ich wieder fort.« – »Und wenn ich dich festhalte?« sagte der Sultan drohend. – »Festhalten? Gefangennehmen? Mich?« rief der andere, einen Schritt zurücktretend. – »Ja, dich!« – »Da gibt es tausende von Somalis und Arabern, die kommen werden, mich zu befreien.« – »Sie würden nur deine Leiche zu sehen bekommen. Öffne die Sänfte!« – »Jetzt nicht; später!« – »So werde ich dir beweisen, daß ich der Gebieter bin!«
Er schritt auf die Sänfte zu. Da trat ihm der Emir entgegen und rief drohend:
»Ich weiß, daß du hier mächtiger bist als ich. Ich darf mich nicht an dir vergreifen, aber ich kann mit meinem Eigentum machen, was mir beliebt. Sobald du die Sänfte öffnest und dein Blick auf die Sklavin fällt, jage ich ihr eine Kugel durch den Kopf.«
Damit zog der Emir ein Pistol hervor und spannte den Hahn desselben. Der Sultan erkannte, daß der Emir seine Drohung wahr machen werde. Doch er hielt nach der gehörten Schilderung die Sklavin für so schön, daß er sich bereits entschlossen hatte, sie zu kaufen, und darum beschloß er jetzt, sich zu fügen, allerdings eine Nachgiebigkeit, die bei ihm eine außerordentliche Seltenheit war. Er entgegnete:
»Du sollst deinen Willen haben, aber ich warne dich, meine Nachsicht nicht noch einmal auf die Probe zu stellen, du könntest es bereuen! Zeige deine Sachen!«
Er war in seinen Gedanken zu sehr mit dem Mädchen beschäftigt, als daß er den Waren sehr große Aufmerksamkeit hätte schenken mögen; er traf daher schnell seine Auswahl und feilschte nicht lange. Nur als die beiden Doppelgewehre erschienen, vergaß er die Sklavin auf kurze Zeit, kaufte sie für einen sehr hohen Preis und behielt auch die ganze vorhandene Munition für sich. Die Summe, die er zu bezahlen hatte, war eine ganz bedeutende, wurde aber nicht sofort entrichtet, da der Emir ja auch Sachen von ihm wollte, wonach dann ein Ausgleich stattfinden mußte.
Der Händler war sehr zufrieden mit seinem geschäftlichen Erfolg. Er hatte einen Preis erzielt, der bedeutend höher war, als er erwartet hatte. Darum weigerte er sich auch nicht länger, als der Sultan das Mädchen endlich zu sehen verlangte, nur machte er die Bedingung, daß dies nicht hier, sondern im Inneren des Palastes zu geschehen habe.
Da klatschte der Sultan in die Hände. Sogleich erschienen seine Leute, denen er den Auftrag gab, die gekauften Waren fortzuschaffen. Vier von ihnen mußten die Sänfte vom Kamel nehmen und in den Audienzsaal tragen, sich dann aber zurückziehen. Er selbst folgte mit dem Emir nach und gebot ihm, als sie sich allein sahen:
»Nun öffne!«
Der Aufgeforderte schlug die Vorhänge zurück, und man erblickte eine weibliche Gestalt, die in ein feines, weißes, fast durchsichtiges Gewand gehüllt war, deren Gesicht der Sultan jedoch nicht sehen konnte, da sie einen doppelten Schleier trug.
Sofort befahl er, diesen zu entfernen, und er erblickte nun ein Antlitz, wie er es so zart, weiß und schön noch nie gesehen hatte. Ein Paar große, herrliche, mit Tränen gefüllte Augen schauten ihn an, und von den zarten Wangen war die Röte gewichen. Er sprang auf, er war jetzt entschlossen, sich dieses köstliche Wesen nicht entgehen zu lassen, und rief gebieterisch:
»Laß sie aussteigen! Ich muß ihre Gestalt sehen.«
Der Emir gab der Sklavin ein Zeichen, und als sie dies nicht zu verstehen schien, oder nicht verstehen wollte, faßte er sie bei der Hand und zog sie mit halber Gewalt heraus.
Da stand sie nun, hoch und schlank, vor Scham bebend und doch stolz wie eine Fürstin.
Schnell hatte der Sultan den Kaufpreis für die schöne Sklavin, fünftausend Aschrafi, nach deutschem Geld etwas über sechstausend Mark, dem Händler bezahlt und ergriff sie nun, nachdem der Emir sich mit einer tiefen, fast höhnischen Verneigung entfernt hatte, bei der Hand und führte sie nach seinem Schlafzimmer. Dort öffnete er eine verriegelte Tür und trat mit ihr in einen Raum, der trotz seiner nicht ganz unbedeutenden Größe nur ein kleines, schmales Loch als Fenster hatte, durch welches eine sehr spärliche Helle hineindrang. Drei Seiten dieses Raumes waren mit Kästen und Binsenkörben besetzt, die mit starken Stricken zugebunden waren, und von der Decke hing eine große, tönerne, mit Öl gefüllte Schale, aus der mehrere Dochte herausblickten. Dieser Raum war die Schatzkammer des Sultans, an deren Wänden köstliche Waffen und teure Kleidungsstücke hingen, während an der vierten Wand auf der Kante eines persischen Teppichs ein reiches Polsterwerk lag, ganz zum Ruhesitz einer solchen Schönheit, wie die Sklavin war, geeignet.
Er winkte ihr, sich darauf niederzulassen, und sie tat es. Dann richtete er verschiedene Fragen in allen ihm bekannten Dialekten an sie, ohne eine andere Antwort als ein Kopfschütteln zu erhalten.
»Sie versteht mich nicht«, sagte er zu sich selbst, »aber ich weiß ein Mittel, mich ihr verständlich zu machen. Sie ist eine Christin, und der Sklave, den ich gestern in das Loch sperren ließ, ist auch ein Christ. Er behauptete, daß er ein Fürst gewesen sei, und so wird er alle Sprachen der Ungläubigen sprechen können. Er soll mein Dolmetscher sein. Ich aber will ihr mitteilen, daß sie sich nicht bei einem gewöhnlichen Harrari befindet, sondern bei dem Herrn des Landes.«
Damit entfernte er die Stricke von all den Kästen und Körben. Sie folgte seinen Bewegungen mit den Augen und erblickte zu ihrem Erstaunen eine solche Menge von Gold und Silber, von Münzen und Geschmeide, daß sie erkennen mußte, sie sei beim reichsten Mann des Landes. Zwar befand sich in den Schätzen manch ein Gegenstand, der in Europa kaum einen Groschen wert gewesen wäre, aber in Harrar waren diese Dinge doch eine außerordentliche Seltenheit, und der oberflächliche Blick genügte, um zu erkennen, daß hier ein Reichtum von Millionen aufgehäuft worden sei.
Der Sultan hatte die weiße Sklavin aus einem sehr triftigen Grunde hierhergeführt. Einmal wollte er ihr gleich im ersten Augenblick mit seinen Reichtümern imponieren, und zweitens war es seine Absicht, sie zu seiner Lieblingsfrau zu machen; darum führte er sie nicht zu seinen anderen Frauen, um alle Streitigkeiten und Eifersüchteleien zu vermeiden.
Schließlich ging er und brachte ihr höchst eigenhändig zu essen und zu trinken, um sie darauf, nachdem er die Reichtümer wieder verwahrt hatte, zu verlassen. Er mußte seine Leute beaufsichtigen, die beschäftigt waren, die angekauften Gegenstände unterzubringen, und wollte dem neuen Henker, der zugleich das Amt eines Gefangenenwärters versah, befehlen, den alten Christensklaven herbeizubringen.
25. Kapitel
Don Ferdinando lehnte in seinem Kerker und dachte an die heute abend vorzunehmende Flucht. Seine gegenwärtige Lage war eine höchst unbequeme. Er konnte wegen Mangels an Raum sich nicht niederlegen, und zu setzen graute es ihm, der Rattenkadaver wegen, die den Boden bedeckten. Er mußte also stehen, und das ermüdete ihn.
Er hatte die Unbequemlichkeit nur noch bis zum Abend auszuhalten, wie aber mußte es einem Gefangenen zumute sein, der hier mitten unter Ungeziefer verdammt war, den grauenvollen Tod zu erwarten, ohne Hoffnung auf Trost, Erleichterung und Erlösung!
Es konnte nach seiner Vermutung um die Mittagszeit sein, als er ein Geräusch über sich vernahm. Man rückte den Stein weg, der sein Loch verschloß. Dann fragte eine Stimme:
»Bist du der alte Christensklave?« – »Ich bin es«, antwortete er. – »Der Sultan will mit dir sprechen. Haben dich die Ratten verschont, so daß du noch gehen kannst?« – »Ich will es versuchen«, antwortete er vorsichtig. – »So komm herauf! Ich werde dir die Leiter hinunterlassen.«
Bei dem Tagesschimmer, der von oben hereinbrach, erkannte der Graf die Leiter. Sie bestand einfach in einem Baumstamm, in dem man Einschnitte für Hände und Füße angebracht hatte. Sobald sie den Boden berührte, stieg er hinauf.
Welch ein Glück, daß er sich von dem Gärtner getrennt hatte! Hätte er sich drüben bei diesem befunden, so wäre dies jetzt verraten gewesen.
Als er oben ankam, befand er sich in einem kahlen, von steinernen Mauern umgebenen Raum, wo mehr als zwanzig Gefangene angekettet lagen. Er sah ein, daß von seinem Loch aus es ganz unmöglich gewesen sein würde, durch diese Leute hindurch die Flucht unbemerkt zu bewerkstelligen. Zudem war die sehr starke Tür von außen mit festen Riegeln verwahrt, so daß es nicht gelingen konnte, sie von innen zu öffnen. Er dankte daher im stillen Gott, daß er ihn mit Bernardo zusammengeführt hatte, aus dessen Gefängnis man sofort in das Freie gelangte.
Als das helle Tageslicht auf ihn fiel, sah er erst, wie abscheulich ihn die Ratten zugerichtet hatten. Sein ganzer Körper war voller Bißwunden, und sein Hemd war stark zerfetzt. Natürlich war er höchst begierig, zu erfahren, was der Sultan von ihm wollte. Sollte die Strafe etwa verschärft werden? Das war dem Grausamen sehr wohl zuzutrauen.
Er fand den Herrscher im Audienzsaal, aber nicht auf dem Thron sitzend, sondern er stand in einer Haltung da, als ob er bereit sei, den Saal zu verlassen. Die Frage, die er sofort aussprach, erregte das Erstaunen des Gefangenen in nicht geringem Grad.
»Weißt du, wie viele Sprachen die Ungläubigen sprechen?« – »Es sind ihrer sehr viele«, antwortete Don Ferdinando. – »Verstehst du sie?« – »Die hauptsächlichsten davon kann ich sprechen und verstehen. Wir Christen haben einige Sprachen, die alle Unterrichteten verstehen, obgleich sie nicht ihre Muttersprachen sind.« – »So höre, was ich dir sagen werde! Ich habe mir eine Sklavin gekauft, die eine Ungläubige ist. Sie redet eine Sprache, die hier niemand versteht! Ich werde dich jetzt zu ihr führen, um zu sehen, ob vielleicht du sie verstehen kannst. Gelingt es dir, mein Dolmetscher zu werden, so wird dich meine Gnade erleuchten, und du sollst nicht im Gefängnis sterben. Du wirst ihr Unterricht geben, daß sie die Sprache von Harrar lernt und mit mir reden kann. Aber du darfst ihr Angesicht nicht sehen und nichts Böses von mir sagen, sonst wirst du einen tausendfachen Tod erleiden.« – »Ich bin dein Knecht und werde dir gehorchen«, erwiderte der Graf, und während er sich bei diesen Worten bis tief zur Erde herab verbeugte, gingen allerlei Gedanken durch seine Seele.
Eine christliche Sklavin? War sie eine asiatische oder eine europäische Christin? Welche Sprache war die ihrige? Sprach sie eine, die er sprach? Er sollte jetzt von dem Gärtner getrennt werden. War es da nicht klüger, zu tun, als ob er die Sprache der Sklavin nicht verstehe? Aber vielleicht gab es hier Gelegenheit, ein gutes Werk zu verrichten.
»Komm, folge mir«, unterbrach in diesem Augenblick der Sultan seine Gedanken und schritt dem Grafen voran nach dem Schlafzimmer.
Der Sultan gebot dem Grafen, hier zu warten, zog den Riegel einer Tür zurück und trat in die Schatzkammer, um dafür zu sorgen, daß die Sklavin verhüllt sei, und nun erst ließ er ihn eintreten, um hinter ihm die Tür sogleich wieder zuzuziehen.
Don Ferdinando überflog den Raum mit einem scharfen, forschenden Blick. Er ahnte sogleich, daß sich in den Kisten und Körben die Reichtümer des Herrschers befanden.
Die Sklavin ruhte auf dem Lager, sie hatte einen doppelten Schleier über das Gesicht gezogen, durch den sie sehen konnte, ohne daß ihre Züge zu erkennen waren. Beim Eintritt des Grafen wandte sie das Gesicht nach ihm und richtete sich mit einer Bewegung empor, als ob sie über sein Erscheinen im höchsten Grad überrascht sei.
»Rede mit ihr«, gebot der Sultan. »Siehe, ob du ihre Sprache verstehen kannst!«
Don Ferdinando trat einige Schritt vor. Jetzt fiel durch die enge Fensteröffnung der Schein des Lichtes auf sein Gesicht, so daß es hell erleuchtet war. Da machte die Sklavin abermals eine Bewegung der Überraschung. Der Sultan bemerkte das natürlich, aber er dachte, sie sei in Verwunderung darüber, daß er einem männlichen Wesen gestattete, hier Zutritt zu nehmen.
»Quelle est la langue, laquelle vous parlez, Mademoiselle – welches ist die Sprache, die Sie sprechen, mein Fräulein?« fragte er französisch.
Sie lichtete sich beim Klang dieser Stimme noch mehr empor und zögerte, zu antworten. Dies geschah wohl vor freudigem Schreck. Er aber dachte, sie verstehe nicht französisch, und da die englische Sprache wenigstens ebenso verbreitet ist, wie die der Franzosen, so wiederholte er seine Frage englisch:
»Do you perhaps speak English, Miss – sprechen Sie vielleicht englisch, Fräulein?« – »Bendito sea Dios!« antwortete sie endlich spanisch. »Ich verstehe ja englisch und französisch, aber sprechen wir spanisch!«
Jetzt war die Reihe zu erstaunen an ihn gekommen. Als er die heimatlichen Laute hörte, hätte er sich vor Freude und Glück zu ihren Füßen niederwerfen mögen, aber das Unglück hatte ihn geschult und ihm gelehrt, vorsichtig zu sein, darum beherrschte er sich und fragte, indem er dem Ton seiner Stimme die möglichste Gleichgültigkeit gab:
»Mein Gott, Ihr seid eine Spanierin? Aber bleibt ruhig! Verratet keine Überraschung. Man muß in unserer Lage nicht unvorsichtig sein.« – »Ich werde Eurer Warnung folgen, obgleich ich nicht nur erstaunt, sondern förmlich aufgeregt bin«, antwortete sie. »Himmel, ist es möglich, oder täuschen mich meine Augen? Ja, Señor, wir müssen uns beherrschen! Aber welche Freude, welche Seligkeit, wenn ich mich nicht irrte!« – »Was meinen Sie, Señorita?« fragte er gespannt. – »Oh, ich bin nicht nur Spanierin, sondern sogar Mexikanerin«, sagte sie.
Jetzt fehlte nicht viel, so hätte er sich nicht zu beherrschen vermocht, aber er besann sich doch und entgegnete im gleichgültigsten Ton, der ihm möglich war:
»Eine Mexikanerin? Señorita, ich darf mich nicht gehenlassen, denn wir werden von dem scharfen Auge eines Tyrannen beobachtet, aber ich sage Euch, daß ich mir die allergrößte Mühe geben muß, den Aufruhr meiner Empfindungen zu verbergen. So hören Sie also nur, daß auch ich ein Mexikaner bin.« – »Santa Madonna! So wird es ja wahrscheinlich, daß ich mich nicht täusche. Als das Licht durch dieses Fenster auf Euer Gesicht fiel, kam mir dasselbe bekannt vor, ebenso Eure Stimme, als ich dieselbe hörte. Ich bitte Euch, bleibt ruhig, ganz ruhig und gleichgültig. Aber sagt mir, ob Ihr in Mexiko eine Besitzung kennt, die Hacienda del Erina heißt.« – »Die kenne ich. Oh, sie ist mir nur zu wohl bekannt.« – »Kennt Ihr auch den Besitzer derselben?« – »Den guten Pedro Arbellez? Wie sollte ich meinen treuesten, besten Diener nicht kennen?« – »Euren Diener? Oh, ihr heiligen Engel, so ist es wahr! Ja, jetzt, da Ihr Euch zur Seite dreht, sehe ich auch den vernarbten Lanzenstich in Eurer rechten Wange! Ihr seid unser lieber, lieber Don Ferdinando de Rodriganda!«
Jetzt ging es ihm fast über menschliches Vermögen, kaltblütig zu bleiben, aber es gelang ihm doch so leidlich. Trotzdem zitterte seine Stimme vor Aufregung, als er fragte:
»Ihr kennt mich, Señorita? Ihr kennt den Haziendero Arbellez?« – »Ja, ich kenne ihn; ich kenne ihn sogar noch besser als Ihr oder ein anderer ihn kennt. Ich bin ja Emma Arbellez, seine Tochter!«
Jetzt trat eine Pause ein, während welcher kein Laut gehört wurde, aber diese Pause umschloß eine ganze Sturmflut von Empfindungen, die die Herzen der beiden Gefangenen durchwogte, die sich hier so wunderbar gefunden hatten. Der Graf konnte Emmas Gesicht nicht sehen, aber er hatte gehört, daß bei den letzten Worten ihre Stimme brach. Sie weinte. Auch ihm wären die Tränen ganz sicherlich in die Augen getreten, wenn ihn nicht gerade jetzt der Sultan mit harter Stimme gefragt hätte:
»Du verstehst ihre Sprache, wie ich höre?« – »Ja.« – »Welche Sprache ist es?« – »Es ist die eines Landes, das hier niemand kennt.« – »Wie heißt es?« – »Spanien.« – »Dieser Name ist mir unbekannt. Es muß ein kleines, armseliges Ländchen sein.« – »Es ist im Gegenteil sehr groß, und es gehören viele Inseln zu ihm, die in allen Meeren der Erde liegen.« – »Gibt es einen Sultan dort?« – »Es gibt einen mächtigen König dort, dem viele Millionen Menschen untertänig sind.«
Der Sultan machte ein zweifelndes Gesicht Er hatte den Namen Spaniens noch nie gehört, und darum mochte er die Worte des Grafen für Aufschneiderei halten.
»Was hat die Sklavin gesagt?« fragte er. – »Daß sie froh ist, von dir gekauft worden zu sein.«
Da erheiterte sich das Gesicht des Herrschers, und er erkundigte sich weiter:
»Wer ist ihr Erzeuger gewesen?« – »Ihr Vater ist einer der vornehmsten Männer des Landes.« – »Das wußte ich bereits, denn sie ist sehr schön; sie ist schöner als die Blume und lichter wie die Sonne. Wie aber ist sie in die Hände des Emirs gekommen?« – »Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Soll ich sie fragen?« – »Frage sie. Laß es dir erzählen, und dann sagst du mir es wieder.«
Da wandte sich der Graf mit errungener Fassung an Emma:
»Also du, du bist es, meine liebe, liebe Emma! O Gott, wie siehst du mich wieder!«
Erst jetzt dachte er daran, daß er fast unbekleidet vor ihr stand. Dies und der Anblick seiner zerbissenen Glieder mußten einen höchst betrübenden Eindruck auf sie machen, denn er vernahm, daß sie sich mit aller Kraft bestrebte, ein lautes Weinen zu unterdrücken.
»Aber bleiben wir bei der Gegenwart«, fuhr er fort. »Der Sultan will wissen, wie du hierher gekommen bist. Ich muß ihm antworten.« – »Hierher?« fragte sie. »Ich weiß ja nicht einmal, wo ich bin!« – »Dieses Land heißt Harrar und diese Stadt ebenso. Der Mann, in dessen Gewalt wir uns befinden, ist der Sultan, der Herrscher des Landes. Aber beantworte mir vor allen Dingen meine Frage!« – »Ich bin von einem chinesischen Seeräuber nach Ceylon gebracht worden, der mich an den Mann verkaufte, der mich hierher transportiert hat!« – »Und wie kamst du in die Hände des Chinesen? Es ist doch ganz unmöglich, daß ein Chinese nach der Hacienda del Erina gekommen ist, um dich zu rauben.« – »Nein. Ich trieb auf einem Floß in die See hinaus, viele Tage lang, bis ich von einem holländischen Schiff aufgenommen wurde, das jenseits von Java in die Hände des chinesischen Sklavenhändlers fiel.« – »Auf einem Floß? Ich erstaune! Wie kamst du auf die See? Befandest du dich denn an der Küste von Mexiko?« – »Nein. Wir waren ja alle auf der Insel.« – »Alle? Wen meinst du denn, liebe Emma?« – »Nun, Señor Sternau, Mariano, die beiden Helmers, Büffelstirn, Bärenherz und Karja, die Schwester des Mixteka.« – »Das sind für mich lauter Rätsel. Aber da fällt mir ein Name auf. Sternau, wer ist dieser Señor?« – »Ihr kennt ihn nicht? Ah, die Freude, Euch wiederzusehen, nimmt mir die Gedanken. Ich vergesse, daß Ihr von dem allen ja noch gar nichts wißt! Señor Sternau ist ausgezogen, um Euch und den Kapitän Landola zu suchen.« – »Mein Gott, so ist er ganz derselbe, von dem mir Bernardo gestern erzählte! Sage mir, nicht wahr, er ist ein deutscher Arzt, und meine Nichte Rosa ist seine Frau?« – »Ja.« – »Er hat meinen Bruder operiert und sehend gemacht?« – »Ja. Woher wißt Ihr aber dies alles, Don Ferdinando?« – »Das werde ich dir später sagen. Du siehst, daß der Sultan ungeduldig wird. Wie lange bist du bereits aus der Heimat fort?« – »Bereits sechzehn Jahre«, antwortete sie.
Sechzehn Jahre bilden eine geraume Zeit, aber die schöne Tochter des Haziendero hatte sich während derselben kaum verändert. Hier in Harrar, wo der Mensch und besonders das weibliche Geschlecht ganz außerordentlich schnell altert, konnte sie recht gut für höchstens zwanzig Jahre alt gelten. Und dennoch war es überraschend, welchen Eindruck diese Antwort auf den Grafen machte. Er stand ganz erstarrt und mit offenem Mund da. Es dauerte eine Weile, ehe er fragte:
»Sechzehn Jahre? Wo bist du denn seit dieser Zeit gewesen?« – Auf der Insel.« – »Auf welcher Insel, Emma?« – »Ach, ich vergesse schon wieder, daß Ihr das alles noch gar nicht wissen könnt! Landola hat uns in Guaymas gefangengenommen und nach einer unbewohnten Insel des Großen Ozeans gebracht, auf der wir während der ganzen Zeit gelebt haben.« – »Alle Teufel! Ich erstarre vor Verwunderung!«
In diesem Augenblick ergriff der Sultan wieder das Wort. Er hatte dem Gespräch bisher schweigend zugehört, nun aber wurde ihm die Zeit doch zu lang, und er sagte:
»Vergiß nicht, daß ich auf eine Antwort warte! Was hat sie dir erzählt?« – »Daß sie am Ufer der See spazierengegangen und von Seeräubern ergriffen worden ist, die sie gefangennahmen.« – »Waren es Chinesen?« – »Ja.« – »Und sie ist von ihnen auf Ceylon an den Emir verkauft worden?« – »Ja.« – »So hat mir dieser also doch die Wahrheit gesagt. Ist sie eine Frau oder ein Mädchen?« – »Ein Mädchen.« – »Ich bin zufrieden. Hat sie ein Wort über mich gesagt?«
Der Graf verneigte sich tief und antwortete:
»Ich bin dein gehorsamer Sklave und denke stets zuerst an dich, o Sultan. Darum habe ich unternommen, ihre Augen auf dich zu lenken und sie zu fragen, was ihr Herz bei deinem Anblick spricht.«
Das Gesicht des Herrschers nahm einen sehr wohlgefälligen und dabei gespannten Ausdruck an. Er strich mit der Hand über den Bart und fragte, sichtlich in sehr guter Stimmung:
»Was hat sie dir darauf geantwortet?« – »Sie sagte, du seiest der erste Mann, bei dem sie überhaupt die Stimme ihres Herzens vernommen habe.« – »Warum?« – »Weil dein Antlitz voll Hoheit ist und dein Auge voll Kraft. Dein Gang ist stolz, und die Würde deiner Gestalt ist erhaben wie die Größe eines Kalifen. So sagte sie.« – »Ich bin mit dir sehr zufrieden, Sklave, und auch mit ihr. Du meinst also, daß ihr Herz mir gehören wird, ohne daß ich es ihr zu befehlen brauche?« – »Der Mann soll sich nie die Liebe des Weibes mit Gewalt erzwingen. Er soll sein Auge voll Milde über sie leuchten lassen, dann sprießt die Liebe von selbst hervor wie die Pflanze, die der Strahl der Sonne zum Leben weckt.« – »Du hast recht! Ich werde dieser Sklavin meine ganze Gnade zeigen.« – »Weißt du, o Herrscher, daß die Liebe erst in Worten spricht, ehe sie sich durch die Tat beweist? Diese Sklavin sehnt sich sehr, in deiner Sprache mit dir reden zu können, damit dir ihr eigener Mund sagen kann, was ihre Seele empfindet« – »Dieser Wunsch soll ihr erfüllt werden. Du wirst ihr Lehrer sein. Wie lange wird es dauern, ehe sie mit mir sprechen kann?« – »Das kommt darauf an, wann der Unterricht beginnen soll und wie lange er täglich dauern darf.« – »Dieses Weib hat mein ganzes Herz gefangengenommen, ich kann es kaum erwarten, von ihren Lippen zu hören, daß sie mein Weib werden will. Darum befehle ich dir, den Unterricht noch heute zu beginnen.« – »Ich werde gehorchen, o Sultan.« – »Sind drei Stunden des Tages genug, Sklave?« – »Wenn ich täglich drei Stunden mit ihr sprechen kann, so wird sie bereits in einer Woche die Sprache der Harrari so weit verstehen, daß sie dir zu sagen vermag, daß du glücklich sein wirst. Aber die Töchter ihres Landes sind nicht gewöhnt, einen Mann unbekleidet zu sehen. Sie nimmt Anstoß an meinem Gewand.« – »Du sollst ein anderes haben, ein viel besseres und auch nicht in das Gefängnis zurückzukehren brauchen. Auch sollst du Fleisch, Reis und Wasser erhalten, so viel du haben willst, damit dein Aussehen besser wird, als es in dieser Stunde ist.« – »Ich danke dir! Wann soll heute der Unterricht beginnen?« – »Sogleich, nachdem du dich umgekleidet hast. Ich habe nicht Zeit, dabeizusein. Ich werde dir einen Eunuchen geben, der euch bewacht. Komm jetzt.« – »Darf ich ihr vorher sagen, daß du ihre Bitte, deine Sprache zu erlernen, erfüllt hast?« – »Sage es ihr.«
Der Graf, der froh war, so viel erreicht zu haben, wandte sich nun an Emma:
»Ich muß jetzt leider fort, doch werden wir in kurzer Zeit uns alles erzählen können. Ich habe nämlich vom Sultan die Erlaubnis erlangt, dir Unterricht in seiner Sprache zu erteilen. Wir werden nachher drei Stunden lang hier zusammensein. Bis dahin müssen wir unsere Wißbegierde zügeln. Vor allen Dingen aber will ich dich durch die Mitteilung beruhigen, daß Rettung möglich ist. Ich hatte die Absicht, heute abend von hier zu entfliehen. Vielleicht gelingt es, diesen Plan noch auszuführen.«
Nach diesen Worten folgte er dem Sultan, der jetzt ging, die Tür hinter sich verschloß und einem seiner Kämmerlinge den Befehl erteilte, dem Sklaven gute Kleider zu geben und ihn auch mit hinreichendem Essen zu versorgen. Dies geschah, und kaum hatte der Graf sein frugales Mahl zu sich genommen, so erhielt er auch bereits die Weisung, wieder zu dem Sultan zu kommen, auf den die schöne Sklavin einen solchen Eindruck gemacht hatte, daß er seiner Ungeduld kaum Zügel anzulegen vermochte.
Er empfing den Grafen und führte ihn selbst nach der Schatzkammer, deren Tür er sehr vorsichtig hinter ihm verschloß. Er ahnte nicht, worin der Sprachunterricht bestehen werde.
26. Kapitel
Als Don Ferdinando eintrat, fand er Emma auf derselben Stelle, wo er sie verlassen hatte. Sie war ebenso tief verschleiert wie vorher. Ihr gegenüber saß die schwarze Gestalt des Eunuchen.
Der Neger wußte, daß der Weiße ein Sklave war, darum erhob er sich bei dem Eintritt desselben nicht, sondern nahm eine sehr befehlshaberische Miene an und sagte:
»Du sollst ihr Lehrer sein?« – »Ja«, antwortete der Graf kurz. – »Aber sie muß verschleiert bleiben!« – »Das versteht sich.« – »Du darfst sie nicht anrühren.« – »Ich habe gar keine Lust dazu.« – »Und du darfst nichts Böses über uns zu ihr sagen, sonst zeige ich dich dem Sultan an!« – »Wie willst du hören, ob ich Gutes oder Böses sage, da du doch die Sprache nicht verstehst, in der wir reden?« fragte Ferdinando lächelnd. – »Ich werde es in deiner Miene lesen.«
Der Mann war doch nicht so dumm, wie man ihn vielleicht nach seinem feisten Aussehen geschätzt hatte. Er erhob sich jetzt, ergriff eine Decke, breitete sie in der Nähe der Sklavin aus und gebot dem Grafen:
»Hier soll dein Platz sein, so hat es der Sultan befohlen. Setze dich und beginne.« – »Wie lange soll der Unterricht währen?« fragte der Graf. – »Drei Stunden.« – »Womit willst du diese Zeit genau abmessen?« – »Mit dieser Uhr.«
Der Eunuche brachte unter seinem faltigen Gewand eine Sanduhr hervor, die er dem Grafen zeigte. Der Sultan hatte also dafür gesorgt, daß die vorgeschriebene Zeit zwar genau eingehalten, aber auch nicht überschritten werde. Nun ließ sich Don Ferdinando nieder und begann:
»Jetzt, liebe Emma, können wir volle drei Stunden lang miteinander sprechen, ohne verstanden und gestört zu werden. Wir haben nur dafür zu sorgen, daß dieser Schwarze unser Gespräch wirklich für einen Unterricht hält. Darum werde ich dir zuweilen einige harrarische Worte vorsagen, die du nachzusprechen hast. Im übrigen aber brauchen wir uns weniger Zwang anzutun, als vorhin in Gegenwart des Sultans. Also sechzehn Jahre lang habt ihr auf einer wüsten Insel gewohnt?« – » Als wir dort ausgesetzt wurden, war sie beinahe wüst, aber es ist uns gelungen, dort Bäume zu ziehen. Unser ganzes Streben ging dahin, Holz zu erlangen, um einen Kahn oder ein Floß bauen zu können.« – »Erzähle, erzähle! Ich brenne vor Ungeduld, zu hören, was während meiner Abwesenheit mit euch und den Meinigen geschehen ist.«
Emma begann den erbetenen Bericht. Ihre Erzählung interessierte den Grafen natürlich im höchsten Grad. Er unterbrach den Fluß ihrer Rede oft durch Ausrufe des Schreckens, des Mitleids, der Verwunderung oder des Zorns und des Abscheus. Jetzt wurde ihm vieles klar, was ihm bisher noch dunkel gewesen war, und er erkannte, was für einen Verräter er an Cortejo bei sich gehabt hatte und daß Alfonzo nicht sein Neffe sei. Er schloß sich gern und sofort dem Glauben an, daß Mariano der umgetauschte Knabe sei, und mußte sich, bei dem Eindruck, den die Erzählung auf ihn machte, oft mit Gewalt darauf besinnen, daß er ja hier als Lehrer sitze. Dann aber nahm er einige Worte aus der Sprache des Landes her, ließ sie von Emma auswendig lernen und erklärte ihr die Bedeutung derselben. Es waren die Ausdrücke: »Du bist ein großer Fürst«, »Du bist die Wonne der Frauen«, »Dein Anblick labt meine Seele« und »Sei gnädig, dann liebt dich mein Herz!«
So war Emma bis zur Ausschiffung auf der Insel gekommen.
»Wo liegt dieses Eiland?« fragte der Graf. – »Davon hatten wir gar keine Ahnung«, antwortete die Tochter des Haziendero. »Erst nach Verlauf mehrerer Jahre gelang es Sternau, aus der Beobachtung der Sterne und anderer Verhältnisse, von denen ich nichts verstehe, zu berechnen, daß wir uns jedenfalls auf dem vierzigsten Graf südlicher Breite und ungefähr dem zweiundzwanzigsten westlich von Ferro befänden. Er sagte, daß wir dreizehn Grad südlich von den Osterinseln wohnten und daß wir diese sogar auf einem Floß erreichen könnten, wenn wir erst Holz genug hätten, um ein solches zu bauen.« – »Welches Unglück, so nahe der Rettung und doch so fern von derselben! Ihr hattet also keine Bäume?« – »Nein. Und selbst wenn wir welche gehabt hätten, so besaßen wir doch keine Instrumente, dieselben zu bearbeiten. Erst nach und nach gelang es uns, Stücke, die wir aus Korallenriffen brachen, so zu schleifen, daß sie uns als Beile und Messer oder dergleichen dienen konnten. Wir nahmen nun den Sträuchern, die wir vorfanden, die untersten Äste und zwangen sie dadurch, die Gestalt von Bäumen anzunehmen.« – »Aber wovon lebtet Ihr?« – »Erst von Wurzeln, Früchten und Eiern. Später lernten wir Netze und Angeln verfertigen, um Fische zu fangen. Denn wir fanden nur eine Art von Muscheln, die wir wie die Austern essen konnten, auch lernten wir Pfeile und Bogen machen, womit wir Vögel erlegten. Eine Art von Kaninchen, die in Masse auf der Insel lebten, züchteten wir förmlich, um sie als Kochfleisch und Braten zu genießen.« – »Kochfleisch und Braten? Ich denke, dieser Landola hat euch nicht einmal Feuerzeug gegeben?« – »Oh, Feuer hatten wir gar bald. Sternau hat viele Länder bereist, deren Bewohner mit zwei Stucken Holz oder mit verfaultem Holz Feuer zu machen verstehen. Wir mußten da aber sehr sparsam sein, da es notwendig war, das Material zu schonen.« – »Und wie stand es mit der Kleidung?« – »Die unsrige war auf dem Schiff sehr mitgenommen, diejenige der Männer sogar halb verfault. Wir mußten uns also mit Kaninchenfellen behelfen, die wir vorzurichten lernten. Unsere Wohnungen waren sehr primitiv; Erdhütten mit Löchern als Fenster. Die Garçons aßen bei den beiden verheirateten Paaren. Sie waren da in Kost, wenn auch nicht in Logis.« – »Bei den verheirateten Paaren?« fragte der Graf. »Ah, ich verstehe«, fügte er lächelnd hinzu.»Der brave Bärenherz hat Karja, die Tochter der Mixtekas, zur Frau genommen. Bei den Indianern bedarf es zu einer Heirat ja keiner Vorbereitungen. Aber wie stand es mit dem anderen Paar?«
Sie schwieg eine Weile, und wer hinter ihren Schleier zu blicken vermocht hätte, der hätte sehen können, daß eine tiefe Röte ihr Gesicht übergoß. Dann antwortete sie zögernd:
»Oh, gnädiger Herr, bedenkt unsere Lage! So einsam und ganz nur auf uns allein angewiesen, für viele, lange Jahre ohne Hoffnung auf Errettung! Wir hatten uns so lieb, ich und mein guter Antonio. Wir beschlossen, Mann und Weib zu werden, und die anderen gaben uns alle recht. Wir dachten immer, daß uns die Hand des Priesters ja doch noch segnen werde, wenn es uns glücken sollte, die Freiheit zu erlangen. Ob ich ihn und die Gefährten meines Elends wiedersehen werde! Wie mögen sie erschrocken sein, als ich fortgegangen war und nicht zurückkehrte!« – »Eben, wie du von der Insel fortgekommen bist, das zu wissen, bin ich neugierig.« – »Oh, das war traurig, sehr traurig und fürchterlich, daß ich es gar nicht beschreiben kann, ja, daß es mir noch graut, wenn ich nur daran denke.«
Ein tiefer, schwerer Seufzer hob Emmas Brust, und Graf Ferdinando bemerkt trotz des Schleiers und des weiten Gewandes, daß die hohe, schöne Gestalt ein Zittern durchlief.
»Erzähle, Emma«, bat er. »Wenn dich auch die Erinnerung erschreckt, ich muß es ja dennoch erfahren. Das, was ich erlebt habe, wird nicht minder schrecklich sein.« – »Es war uns endlich gelungen, so starkes und langes Holz zu ziehen, daß wir daran denken konnten, ein Floß zu bauen. Ach, es kostete uns viele Mühe, mit unseren schlechten Werkzeugen damit zustande zu kommen. Aber es war groß genug, um uns alle und auch die Vorräte aufzunehmen. Wir hatten es mit einem Steuer und mit einem Mast versehen und aus Kaninchenfellen ein Segel verfertigt. Endlich lag es zur Abfahrt am Ufer, und wir wollten wagen, damit die Brandung zu durchschiffen, die selbst bei ruhigem Wetter die Insel umtobt. Da, in der Nacht vor unserer Abfahrt, erweckte mich ein Heulen. Ich horchte auf. Es war ein Sturm ausgebrochen. Ich dachte an die Vorräte, die sich auf dem Floß befanden, und wollte sehen, ob das letztere auch fest genug am Land befestigt sei, und da die anderen am Tag viel gearbeitet hatten, so wollte ich sie nicht wecken und ging allein zum Ufer. Da sah ich, daß das Floß von den empörten Wogen hoch– und niedergerissen wurde. Das Tau, an dem es hing, war nur aus Fellen geschnitten und zusammengedreht; es konnte leicht reißen, da Kaninchenleder nicht fest ist. Auf dem Floß lag ein ähnliches Tau. Sollte ich zurückkehren, um die Freunde zu wecken? Nein, das ging nicht, denn unterdessen konnte ja das Floß verloren gehen. Ich sprang also auf dasselbe, um das zweite Tau aufzunehmen und das letztere damit doppelt anzubinden. Aber kaum stand ich auf den Planken, so rollte eine haushohe Woge herbei, stürzte sich auf das Floß und riß es los. Im nächsten Augenblick flog es schon in die stürmische See hinaus, und ich sank vor Schreck nieder und verlor das Bewußtsein.«
Bei der letzten Schilderung war es dem Grafen so angst geworden, daß er sich schüttelte.
»Weiter, weiter«, bat er. – »Was zunächst geschah, weiß ich nicht; ebensowenig kann ich sagen, wie das Floß über den Klippenring hinweggekommen ist.« – »Das ist leicht zu erklären. Die See ist so hoch gestiegen gewesen, daß die Klippen nicht mehr zu sehen waren; sie boten kein Hindernis mehr.« – »Ich hörte wie im Traum die See um mich brüllen«, fuhr Emma fort; ich hörte den Donner, und ich sah die Blitze, die die Nacht durchzuckten. Als ich endlich zu völligen Besinnung kam, schien die Sonne, der Regen hatte aufgehört, und die See begann sich zu beruhigen. Jetzt war es eine Lebensfrage, ob die Vorräte noch vorhanden waren. Sie waren noch da, alle; die Wogen hatten sie nicht hinweggespült. Wie das Roß diesem Orkan hat widerstehen können, das weiß ich nicht; aber meine Insel war verschwunden, und rund um mich her war Wasser. Wo lag die Insel? Was sollte ich tun? Oh, ich weinte und betete stundenlang, bis es Nacht wurde. Ich weinte und betete diese Nacht und den kommenden Tag hindurch, aber das brachte mich nicht zur Insel zurück. Endlich sank ich vor Aufregung und Ermattung in einen tiefen Schlaf. Als ich aus demselben erwachte, hatte ich das Zeitmaß verloren, denn ich wußte nicht, wie lange ich so gelegen; aber nun dachte ich an das, woran ich zuerst hätte denken sollen.« – »An das Steuerruder und das Segel, nicht wahr?« – »Ja. Ich war jedenfalls nach Ost getrieben worden und mußte nach West segeln. Jetzt weiß ich, daß das Entgegengesetzte richtig gewesen wäre. Ich zog nun mit Anstrengung aller Kräfte das Segel auf. Zwar verstand ich nichts von der Schiffahrt, aber es gelang mir doch, dem Segel eine solche Richtung zu geben, daß das Floß nach West getrieben wurde. Des Tages stand ich dann am Steuer, und des Nachts band ich dasselbe fest. So vergingen fünfzehn Tage und Nächte. Soll ich sagen, was ich während dieser Zeit ausgestanden habe? Es ist unmöglich.« – »Ich glaube es dir, meine arme Emma«, versetzte der Graf. »Es ist zu verwundern, daß du nicht zugrunde gegangen oder wahnsinnig geworden bist.« – »Am sechzehnten Tag erblickte ich ein Schiff, und auch das Floß wurde gesehen. Es stieß ein Boot ab, und man nahm mich an Bord. Das Schiff war ein holländisches und nach Batavia bestimmt Ich erfuhr von dem Kapitän, daß wir uns zwischen den Karolinen und den Pelewinseln befanden! Er sagte, der Sturm müsse das Floß mit einer ungewöhnlichen Geschwindigkeit nach West getrieben haben. Ich hatte den Archipel passiert, ohne eine einziger seiner Inseln in Sicht zu bekommen. Der Kapitän ließ mir vom Schiffsschneider weibliche Kleider anfertigen und tröstete mich mit der Hoffnung, daß ich in Batavia sicher Hilfe finden werde. Als wir später die Sundastraße passierten, wurden wir von einem chinesischen Korsaren, deren es dort viele geben soll, angegriffen. Er siegte und tötete die ganze Bemannung, ich allein wurde verschont Das übrige wißt Ihr ja, Don Ferdinando. Ich wurde nach Ceylon gebracht und dort verkauft. Der Emir wiederum verkaufte mich an diesen Sultan von Harrar. Die Zeit ist uns jetzt kurz zugemessen, darum habe ich mich auch kurz gefaßt. Später kann ich ja alles einmal ausführlicher erzählen.«
Der Graf nickte.
»Kind«, sagte er in weichem Ton, »es gibt einen gütigen Gott, der alles, was uns ein Unglück scheint, zum Besten zu lenken vermag. Wer weiß, ob es euch allen gelungen wäre, eine Insel zu erreichen. Gott hat wohl gewußt, daß ihr zugrunde gehen würdet. Darum sandte er den Sturm. Die heilige Schrift sagt: ›Er macht seine Engel zu Winden und seine Diener zu Feuerflammen.‹ Der Sturm hat dich nach West geführt. Es war Gottes Wille, daß du mich finden solltest, und daraus ziehe ich die freudige Überzeugung, daß er alles noch herrlich hinausführen wird.« – »Oh, wenn sich diese Hoffnung doch erfüllen wollte! Ich sage Euch, Don Ferdinando, daß ich lieber sterbe, ehe ich das Weib dieses Menschen werde.« – »Du sollst weder sterben, noch ihm angehören, mein Kind. Heute nacht fliehen wir.« – »Wirklich?« fragte sie im freudigsten Ton. – »Ja. Denke dir, daß ich im hiesigen Gefängnis einen braven Mann gefunden habe, der in Rodriganda Gärtner gewesen ist. Dieser Schurke Landola hat auch ihn verkauft, weil er zu viel von Cortejos Schlichen wußte. Landola muß an einer förmlichen Manie, seine Anbefohlenen auszusetzen, leiden. Ich vermute, daß wir alle haben getötet werden sollen, daß Landola es aber vorgezogen hat, uns am Leben zu lassen, um später gebotenen Falles eine Waffe gegen Cortejo zu besitzen. Also mit diesem Gärtner, der Bernardo Mendosa heißt, habe ich mich verabredet, nächste Nacht zu entfliehen. Gott hat dich gesandt, uns zu überzeugen, daß diese Flucht gelingen werde.« – »Aber wie wollt Ihr es anfangen, zu entkommen, Señor?« – »Das möchte ich dir wohl gern sagen, aber siehe, da zieht der Schwarze die Uhr bereits zum zweiten Male heraus; unser Sand ist bald verronnen.« – »Und ich habe noch ganz und gar nichts von Euren Schicksalen und Erlebnissen gehört.« – »Ich wollte sie dir erzählen, aber dazu finden wir später Zeit. Es stehen uns nur noch einige Minuten zu Gebote, und diese müssen wir verwenden, die Worte zu wiederholen, die du gelernt hast. Ich werde heute abend mit dem Gärtner bei dir eintreten, und du hast nichts zu tun, als die größte Geräuschlosigkeit zu beobachten. Sollte sich jedoch ein Hindernis einstellen, so komme ich morgen wieder, um den Unterricht fortzusetzen.«
Der Graf übte nun mit Emma die bereits genannten Redensarten ein, zu denen der Eunuche beifällig mit dem Kopf nickte. Kaum aber war seine Stundenuhr zum dritten Mal abgelaufen, so erhob er sich gravitätisch und sagte in gebieterischem Ton:
»Deine Zeit ist um. Folge mir!«
Der Graf stand von seiner Decke auf und gehorchte ihm. Noch aber hatten sie die Tür nicht erreicht, so öffnete sich dieselbe, und der Sultan trat ein.
»Allah, ihr seid pünktlich!« sagte er wohlgefällig. Und sich zu dem Eunuchen wendend, fragte er: »Hast du alles gehört?« – »Alles, o Herr«, antwortete der Gefragte in jenem hohen Fistelton, der Eunuchen eigentümlich ist. – »Hat er Gutes gesprochen oder Schlechtes?« – »Nur Gutes, sehr Gutes!« – »Weißt du dies genau?« – »Ganz genau, denn ich habe es gehört.«
Da nickte der Sultan zufrieden, wandte sich zu dem Grafen und fragte:
»Hat sie bereits etwas gelernt?« – Ja«,antwortete der Gefragte zuversichtlich. – »Was? Kann ich es hören?« – »Ja, wenn du es befiehlst. Ich habe sehr viel mit ihr von dir gesprochen. Frage sie einmal, für wen sie dich hält!«
Da wandte sich der Sultan neugierig zu der Sklavin und fragte:
»Sage mir einmal aufrichtig, für wen du mich hältst!«
Der Graf nickte ihr zu, und so antwortete sie in harrarischer Sprache mit der ersten Formel, die er ihr eingelernt hatte:
»Du bist ein großer Fürst.«
Der Sultan nickte mit einem außerordentlich freundlichen Lächeln und fragte weiter:
»Kann sie noch mehr?« – »Frage sie einmal, ob sie dich für liebenswürdig hält!« meinte der Graf. – »Glaubst du, daß ein Weib mich hassen oder mir widerstehen könnte?« fragte der Herrscher. – »Du bist die Wonne der Frauen«, klang es hinter dem Schleier hervor. – »Frage sie auch, ob sie diese Wonne fühlte!« fuhr der Graf fort. – »Bin ich auch deine Wonne?« fragte der Sultan. – »Dein Anblick labt meine Seele«, lautete die Antwort.
Man sah es dem Sultan an, daß er ganz entzückt über diesen Erfolg des ersten Unterrichts sei. Er klopfte, was bei ihm sonst niemals vorkam, dem Sklaven belobigend auf die Schulter, nickte ihm herablassend zu und sagte:
»Du bist der beste Lehrer, den es geben kann! Diese Sklavin wird noch heute mein Weib, und du sollst belohnt werden, nicht als ob du ein Sklave seist, sondern ein Freier!« – Herr, eile nicht so sehr!« bat Don Ferdinando. »Bedenke, daß ihr Herz noch an die Ihrigen denkt und daß sie erst heute dein Eigentum geworden ist. Habe noch einige Tage Geduld und laß sie erst zur Ruhe kommen. Je freundlicher du bist, desto leichter eroberst du ihr Herz. Frage sie selbst, so wird sie es dir sagen.«
Da wandte sich der Sultan abermals an Emma:
»Ist es wahr, daß du dies von mir wünschest?« – »Sei gnädig, dann liebt dich mein Herz«, lautete die letzte eingelernte Redensart. – »Sie liebt mich; sie will mich lieben!« rief der Sultan. »Ich werde tun, um was sie mich bittet. Du aber sollst wohnen in einem Raum meines zweiten Palastes, den du nicht verlassen darfst, um stets dazusein, wenn ich dich brauche!«
Der Graf verließ jetzt die Schatzkammer.
Der Eunuche aber zog sich zurück, und der Sultan erteilte in Gegenwart des Grafen die Befehle, die die Umquartierung desselben betrafen.
Don Ferdinando erhielt eine Stube des zweiten Palastes zur Wohnung. Freilich darf man sich unter diesem zweiten Palast nicht ein herrliches Bauwerk denken; er war weiter nichts als ein Nebenhaus des Hauptgebäudes, und in der Wohnung befand sich weiter nichts als eine Matte, die als Sitz und Lagerstätte diente.
Daß der Sultan dem gestern so streng bestraften Sklaven heute gnädiger gesinnt sei, erfuhr derselbe, als ihm eine Pfeife und ein kleiner Vorrat von Tabak gebracht wurden. Es war dies für ihn ein Genuß, den er lange Jahre schwer entbehrt hatte.
Wie hatten sich seit gestern doch überhaupt die Verhältnisse so sehr geändert! Der Graf war von einer freudigen Hoffnung, ja Überzeugung durchdrungen, daß die Flucht gelingen und alles noch ein gutes Ende nehmen werde. Er ging zwar sehr großen Gefahren entgegen, und doch fand sich nicht eine Spur von Besorgnis in seinem Herzen.
Daß sein Glaube, Gott werde ihm beistehen, ein berechtigter sei, erfuhr er kurz vor Einbruch der Nacht.
Um diese Zeit wurden nämlich vier der besten Kamele von der Weide hereingebracht und in einem Schuppen untergestellt, in dem sich der beste Teil des herrschaftlichen Reit– und Packzeugs befand, und als der Graf sich dem Mann daraufhin näherte, der die Tiere gebracht hatte, und ihn fragte: »Warum bleiben die Tiere nicht auf der Weide?«, antwortete dieser: »Weil es der Sultan befohlen hat.« – »So wird er ausreiten?« – »Ja. Er reitet morgen am Vormittag mit seinem ältesten Weib zu ihrem Vater, wo sie einige Zeit lang bleiben wird. Ich habe zwei Reitsättel, eine Frauensänfte und einen Packsattel für sie bereitzuhalten.«
Da war es dem Grafen, als ob ihm ein großes Geschenk gemacht worden sei. Zwei Reitsättel, das paßte gerade für ihn und den Gärtner; eine Frauensänfte, die war für Emma, und auf den Packsattel konnte man alles Nötige verladen. Es war klar, daß der Sultan seine erste Frau fortbrachte, um sich der neuen Sklavin ungestörter widmen zu können.
»Darf ich dir helfen?« fragte Don Ferdinando den Treiber. – »Tue es. Ich bin müde und möchte bald schlafen gehen«, antwortete der Mann.
Nichts konnte dem Grafen lieber sein als dies. Er fütterte und tränkte die Kamele, und als der Treiber sich nach Einbruch der Finsternis entfernte, versprach er ihm noch dazu, während der Nacht bei den Kamelen zu schlafen, damit den Lieblingstieren des Sultans ja nichts zustoße. Eine Pfeife Tabak war die Belohnung für dieses scheinbar so großmütige Anerbieten.
27. Kapitel
Unterdessen stak der Gärtner Bernardo in seinem Gefängnis und sehnte den Abend herbei. Als nach seiner Zeitberechnung derselbe herangekommen war, kletterte er an der Wand empor und warf den Stein herab. Dadurch entstand das Loch, das hinüber zum Gefängnis des Grafen führte.
»Don Ferdinando!« rief er halblaut.
Keine Antwort ertönte.
»Don Ferdinando!« wiederholte er.
Es herrschte dieselbe Stille wie zuvor.
»Gnädiger Herr! Señor! Don Ferdinando!«
Es ließ sich kein Laut hören.
»Mein Gott, was ist das?« murmelte da der Gärtner voller Angst »Ist ihm etwas zugestoßen? Oder hat man ihn aus dem Loch herausgeholt? In beiden Fällen wäre es schlecht um mich bestellt falls ihm draußen ein Unglück widerfahren wäre. Ich werde doch hinübersteigen, um mich zu überzeugen.«
Er warf also noch einen Stein aus der Zwischenwand, um die Öffnung zu vergrößern, und stieg in die benachbarte Kerkerzelle. Der Graf war nicht da. Der Suchende fand nur die toten Ratten am Boden.
»Er ist fort; man hat ihn geholt«, dachte der Gärtner. »Aber weshalb und wozu? Alle Teufel, sollte der Diebstahl entdeckt worden sein? Doch nein. Dann hätten die Spuren ja zu mir geführt und nicht zu ihm! Ist er begnadigt worden? Dann wäre es ja möglich, daß er dennoch Wort halten könnte. Ich werde dies abwarten müssen.«
Von Unruhe und Bangigkeit erfüllt, stieg er in sein Gefängnis zurück und wartete. Endlich, als ihm die Zeit zu lang wurde, schob er sich bis zum Eingang empor und lauschte hinter dem Stein, ob noch ein Geräusch sich hören lasse, das darauf schließen ließ, daß noch Leben in der Stadt herrsche. Er horchte, aber alles war ruhig. Er hätte gern einmal hinausgeblickt, aber er wußte ja, daß er allein den Stein nicht entfernen könne.
So verging eine lange, angstvolle Zeit. Schon gab der Harrende alle Hoffnung auf, als er plötzlich über sich ein Geräusch vernahm. Man arbeitete an dem Stein herum. Wer war das? War es der Henker, oder war es der Graf? Der Gärtner fragte sich, ob er helfen solle oder nicht. Er beschloß, es nicht zu tun. Kam der Henker, ihn zu holen, so hatte er jedenfalls jemand mitgebracht, der ihm helfen mußte, den Stein zu heben.
Da klopfte es einige Male vernehmlich von außen auf die Platte, und eine Stimme fragte:
»Bernardo, bist du da?«
Der Gärtner, der die Worte vernehmen konnte, da der Sprechende den Mund nahe an den Stein legte, antwortete:
»Ja, Señor!« – »Schiebe von innen; allein bin ich zu schwach!«
Jetzt stemmte er sich mit aller Gewalt gegen die Platte, die endlich wich.
»Gott sei Dank, ich dachte schon, es ginge nicht!« flüsterte es draußen.
Nun war es leicht, das Hindernis ganz zur Seite zu schieben, und Bernardo kroch hinaus.
»O Dios, was habe ich für Angst ausgestanden!« sagte er. »Ich war in Eurem Gefängnis, Don Ferdinando, und fand es leer. Wo seid Ihr gewesen?« – »Ich wurde zum Sultan geholt; ich habe Außerordentliches erlebt, mein guter Bernardo. Denke dir, der Sultan hat heute eine weiße, christliche Sklavin gekauft, die eine fremde Sprache redete; darum schickte er zu mir, um zu sehen, ob ich sie verstehen könne. Und weißt du, wen ich in der Sklavin gefunden habe? Ein abermaliges Opfer dieses Landola, eine Landsmännin von mir, eine Mexikanerin, die den echten Rodriganda kennt und auch jenen Doktor Sternau, von dem nun auch ich sagen muß, daß er ein außerordentlicher Mensch ist, der es verdient, der Gemahl der Gräfin Rosa de Rodriganda y Sevilla zu sein.« – »Das ist erstaunlich, Señor!« – »Ja. Aber es ist nicht Zeit zum Erzählen, sondern wir müssen handeln.« – »Aber jene Dame, jene Mexikanerin? Was wird mit ihr? Lassen wir sie hier?« – »O nein. Wir nehmen sie mit Denke dir, die Kamele stehen bereits gesattelt im Stall!« – »Im Stall? Ich denke …« – »Nichts, nichts hast du zu denken! Du wirst alles erfahren. Hast du dein Messer?« – »Ja. Aber ich glaube gar, Señor, daß Ihr ein neues Gewand tragt!« – »Ich bekam es vom Sultan. Aber das ist Nebensache. Es bleibt bei unserem gestrigen Entschluß: zuerst die Schildwache. Ich möchte den armen Teufel nicht ohne Not töten. Ich werde mich heranschleichen und ihn beim Hals nehmen, daß er nicht schreien kann. Während ich ihn halte, bindest du ihm Hände und Füße so, daß er sich nicht rühren kann, und steckst ihm einen Zipfel seines Gewandes als Knebel in den Mund. Darauf zum Sultan. Komm!«
Sie wälzten aus Vorsicht den Stein wieder auf das Loch und glitten dann nach dem Palast hin. Die Schildwache stand am Tor. Es war so dunkel, daß man kaum drei Schritte weit zu sehen vermochte. So gelang es den beiden, sich, auf der Erde kriechend, bis an den Mann heranzuschleichen. Nun erhob sich der Graf schnell, faßte ihn mit beiden Händen bei der Gurgel und drückte ihm dieselbe mit solcher Gewalt zu, daß ihm der Atem verging und er vor Todesangst den Mund weit aufsperrte. Im Nu hatte er den Knebel darin, und einige Augenblicke später war er so stark gefesselt, daß er sich nicht zu rühren vermochte und nach dem Schuppen getragen werden konnte, wo sich die Kamele befanden, denen der Graf bereits die Sättel aufgelegt hatte, so daß man sie nur zu beladen oder zu besteigen brauchte.
Jetzt stand ihnen der Weg in das Haus offen.
Sie schlichen vorsichtig durch den Eingang nach dem Audienzsaal, wo der Graf ein Messer von der Wand nahm, um für alle Fälle bewaffnet zu sein. Als er die Matte, die die nächste Tür bildete, vorsichtig zurückschlug, fand er das Schlafzimmer finster, und kein Laut verriet, daß der Sultan anwesend sei. Bei schärferer Beobachtung aber erblickten die beiden einen lichten Strich, der senkrecht herniederging.
»Was ist das?« flüsterte der Gärtner. – »Ah«, antwortete der Graf ebenso leise, »er ist noch wach. Er ist bei der Sklavin, die sich dort in der Schatzkammer befindet« – »Dort ist die Schatzkammer? Alle Teufel, das ist bequem.« – »Ich war heute drei Stunden lang darin. Es wird alles gut ablaufen. Komm näher.«
Sie glitten zur Tür hin, die eine schmale Lücke offen ließ, durch die der erwähnte Lichtschein herausdrang. Indem der Graf die Lücke vorsichtig ein wenig erweiterte, konnten sie das Innere der Schatzkammer deutlich sehen.
Auf dem Polster saß Emma, vollständig entschleiert, und in einiger Entfernung saß ihr der Sultan gegenüber, tief in ihren Anblick versunken. Man konnte es ihm nicht übelnehmen, daß er, nur die schwarzen oder kaffeebraunen Gesichter gewöhnt, sich so rasch und tief in die Mexikanerin verliebt hatte. Sie saß wirklich da wie das vom Himmel gestiegene Bild der Liebesgöttin, und der brave Bernardo fragte leise, den Grafen anstoßend:
»Donnerwetter, ist das die Sklavin?« – »Ja.« – »Da habt Ihr recht. Die dürfen wir nicht hierlassen, die muß gerettet werden. Vorwärts, Señor.« – »Der Sultan dreht uns den Rücken zu, und ich habe heute aufgemerkt und gesehen, daß diese Tür ganz ohne Geräusch aufgeht. Es kommt also nur darauf an, daß Emma unser Kommen nicht verrät und er keine Zeit erhält, zu rufen oder sich zu verteidigen. Ich werde vorantreten und ihr ein Zeichen geben.«
Damit schob der Graf die Tür etwas weiter auf und trat leise ein. Emma sah ihn zwar, aber sie hatte ihn schon längst erwartet, sie blickte darum, ohne überrascht worden zu sein, von ihm ruhig hinweg und dem Sultan in das Gesicht.
Jetzt galt es! Zwei rasche Schritte, und Graf Ferdinando hatte den Herrscher beim Hals. Sogleich stand auch Bernardo dabei, ballte einen Zipfel von dem Gewand des Überfallenen zusammen und steckte es ihm in den Mund. Der Graf hatte sich im Stall genügend mit Stricken versehen, so daß auch hier die Arbeit des Fesselns schnell vonstatten ging. Dann wurde der Geknebelte auf das Lager geworfen, von welchem sich die Mexikanerin schnell erhoben hatte.
»Endlich!« seufzte sie erleichtert auf. »Ich begann schon, die Hoffnung zu verlieren.«
Der Graf antwortete ihr nicht, sondern trat zunächst nach der Tür und zog sie so fest zu, daß kein Lichtschein mehr hinausfallen konnte. Sodann betrachtete er den Sultan. Dieser war nicht ohnmächtig geworden, sondern betrachtete die Szene mit einem Blick, in dem sich die höchste Wut aussprach. Ferdinando de Rodriganda aber bog sich zu ihm nieder und sagte halblaut, so daß es draußen nicht zu hören war:
»Da liegst du nun, du, der größte Herrscher, hilflos und gefangen! Jetzt sind wir drei Christensklaven mächtiger als du. Wir könnten dich töten, aber wir schenken dir das Leben. Wir geben uns die Freiheit und nehmen nur das von dir, was wir dazu brauchen und was du erst anderen geraubt hast Aber merke dir Sobald du das geringste Geräusch verursachst, fährt dir dieses Messer in das Herz!«
Jetzt erst wandte Don Ferdinando sich an Emma und sagte:
»Ich pflege Wort zu halten, wenn es nur immer möglich ist. Ich halte eine Sänfte für dich bereit. Aber dennoch wirst du Männerkleider anlegen müssen, um unsere etwaigen Verfolger zu täuschen. Auch wir brauchen gute Anzüge, um für vornehme Reisende zu gelten. Hier ist Vorrat genug an der Wand. Ich werde auswählen.«
Don Ferdinando tat dies. Dann zog er von einer Wand zur anderen eine Schnur und hing einige arabische Mäntel daran, so daß eine Scheidewand entstand, hinter der sich die Mexikanerin umkleiden konnte.
Dies ging alles so schnell, daß nach kaum zehn Minuten die Kleider angelegt waren. Sie waren sehr reich und ganz geeignet, ihre Träger bei den Stämmen der Somali in Ansehen zu bringen.
»Nun zunächst Waffen!« sagte der Graf. – »Ich weiß welche!« meinte Emma. »Der Sultan brachte vorhin zwei Revolver, zwei Doppelbüchsen und die nötige Munition. Er tat alles in den Kasten dort.«
Der Kasten wurde geöffnet und die Waffen nebst den Patronen herausgenommen. Dazu legte der Graf noch mehrere kostbare Yatagans und drei Säbel mit eingelegten Griffen, die sicher einen hohen Wert besaßen.
»Nun öffnen wir die anderen Kisten und Körbe, um zu sehen, wo sich das Geld befindet«, meinte Don Ferdinando. »Wir brauchen es.« – »Ich weiß alles liegen«, sagte Emma. »Er hat mir heute alle seine Schätze gezeigt« – »Hat er Gold?« – »Ja. Der Kasten dort scheint voll zu sein.« – »Und das Silber?« – »Befindet sich in den drei Kästen, die daneben stehen. Er hat auch Juwelen und Geschmeide.« – »Ah, das ist noch besser«, meinte der Graf. »Es ist ja möglich, daß wir uns ein Schiff mieten oder gar kaufen müssen, um nach der Insel unserer Freunde zu gelangen, und da brauchen wir Geld, sehr viel Geld.«
Und während er die Stricke von den bezeichneten Kästen nahm, fragte er:
»Wo befinden sich die Schmucksachen?« – »Hier im mittelsten Kasten liegen mehrere Kartons und Etuis, die gefüllt sind.« – »Wir werden uns diese Sachen ansehen, die wir mitnehmen können. Sechzehn Jahre Sklaverei für einen Grafen Rodriganda, dafür ist wohl keine Entschädigung groß genug, und wenn sie ein Königreich ausmachte.«
Das Silber, das sie fanden, bestand meist in Mariatheresientalern und das Gold in spanischen Dublonen, englischen Guineen und französischen Napoleondore. Das Geschmeide aber repräsentierte einen Wert von mehreren Millionen, die hier vergraben lagen, ohne irgendwelchen Nutzen zu bringen. Die Schmucksachen verlangten den geringsten Raum im Verhältnis zu ihrem Wert. Sie wurden alle genommen. Von den Talern jedoch nahm der Graf nur so viel, als er unterwegs zu gebrauchen glaubte, da die Stämme, mit denen er in Berührung kam, nur diese Bezahlung annahmen. Das übrige konnte aus Gold bestehen.
Es waren genug Säckchen vorhanden, um das alles unterzubringen. Man legte nun diese Sachen auf einen Haufen kostbarer Decken und Teppiche, einige prachtvolle Pfeifen nebst Tabak hinzu, worauf die beiden Männer alles nach dem Kamelschuppen trugen, um es aufzuladen, während Emma bei dem Sultan Wache hielt.
Zu erwähnen ist noch, daß der Graf vor der Umkleidung natürlich den Schraubenschlüssel geholt hatte, um sich und dem Gefährten die Fesseln abzunehmen.
Das Fortschaffen der annektierten Gegenstände erforderte eine lange Zeit, da die beiden Männer sehr vorsichtig sein und das leiseste Geräusch vermeiden mußten. Wasserschläuche und einige Säcke für Lebensmittel, die unterwegs eingekauft werden sollten, mußten auch gesucht werden, und so war es bereits nach Mitternacht, als Emma hörte, daß man aufbrechen könne.
»Welche Gedanken wird der gute Sultan von Harrar jetzt haben«, sagte er Graf. »Er wird vor Grimm innerlich kochen. In seinen Augen sind wir natürlich die größten Räuber, und wehe uns, wenn er uns einholen sollte. Er würde uns an tausendfachen Qualen sterben lassen.« – »Ihr glaubt nicht, daß er uns einholt?« fragte Emma ängstlich. – »Ich glaube nicht, denn wir haben seine besten Kamele, und sodann werden wir gegen Abend die Grenzen seines Reiches und seiner Macht hinter uns haben. Zwar ist es möglich, daß man uns ihm ausliefern könnte, aber wir werden uns einen Beschützer, einen Abban, besorgen. Ah, da kommt mir ein Gedanke! Weißt du, Bernardo, wo wir den besten, den treuesten, den aufopferndsten finden werden?« – »Nun?« – »Im hiesigen Gefängnis.«– »Einen Gefangenen? Wird der uns beschützen können?« – »So lange er Gefangener ist, nein; aber wenn wir ihn befreien, wird seine Dankbarkeit keine Grenzen kennen.« – Aber haben wir auch Zeit dazu?« – »Wir brauchen nur eine halbe Stunde zu opfern. Komm, Bernardo! Die Señora mag einstweilen hier noch Wache halten!«
Es wurde Emma doch bange, als sie hörte, daß sie abermals allein bleiben solle, und sie sagte:
»Ihr begebt Euch vielleicht in Gefahr, Don Ferdinando.« – »O nein. So lange der Sultan schläft, darf sich auf dem Palastplatz kein Mensch sehen lassen. Wir sind vollständig sicher.« – »Aber ich nicht! Wie leicht kann jemand kommen und alles entdecken.« – »Du irrst, meine Tochter. Wir sind nicht in Spanien oder Mexiko. Die Bewohner des Palastes glauben, daß der Herrscher schläft. Es wird keiner wagen, seine Gemächer zu betreten und seine Ruhe zu stören, nicht einmal eine seiner Frauen. Ich kenne das hiesige Leben sehr genau und versichere dir, daß du keine Angst zu haben brauchst.«
Damit huschte der Graf mit dem Gärtner fort. Bei der Weichheit des Schuhwerks, das in jenen Gegenden getragen wird und das sie dem Vorrat des Sultans entnommen hatten, wurde es ihnen nicht schwer, ihre Schritt unhörbar zu machen. So gelangten sie vor die Tür des Gefängnisses, ohne bemerkt zu werden. Die Wache, die dort zu stehen hatte, lehnte an der anderen Ecke und schien sich tiefen Betrachtungen hingegeben zu haben.
»Wir binden und knebeln ihn wie die anderen«, flüsterte der Graf. – »Womit?« fragte der Gärtner.»Habt Ihr noch Stricke?« – »Nein, aber wir haben Messer, sein Gewand in Schnüre zu zerschneiden.« – »Das werde ich tun, während Ihr in haltet« – »Gut! Also vorwärts!«
Nach einigen raschen Schritten standen sie vor dem Mann. Ehe er noch ein Wort sagen konnte, fühlte er seine Kehle zugeschnürt, und nach wenigen Augenblicken lag er gebunden am Boden, mit einem aus zusammengedrehten Fetzen bestehenden Knebel im Mund. Dieser Wächter der Gefangenen war nur mit einem Stock bewaffnet gewesen.
Die Eingangstür hatte kein Schloß, sondern zwei Riegel, die der Graf zurückschob. Als sie öffneten, drang ihnen ein fürchterliche Dunst entgegen. Die Gefangenen erwachten und ließen ihre Ketten klirren.
»Bleibe vor der Tür und halte Wache, damit ich nicht überrascht werde!« sagte Graf Ferdinando, trat ein und zog die Tür wieder hinter sich zu. Es herrschte jetzt die Stille der Erwartung in dem Raum. Man hatte jemand kommen hören; das konnte bei der Grausamkeit des Sultans für denjenigen, dem der Besuch galt, den Tod bringen.
»Ist ein freier Somali hier?« fragte der Graf. »Ja«, antworteten zwei Stimmen. – »Also zwei?« – »Ja«, antwortete es abermals doppelt. – »Von welchem Stamm?« – »Vom Stamm der Zareb.« – »Ah, ihr seid von einem und demselben Stamm?« – »Ja, wir sind Vater und Sohn«, antwortete der eine. – »Gut, ihr habt mir jetzt zu folgen, ohne einen Laut auszustoßen. Je folgsamer ihr seid, desto besser ist es für euch. Der Gehorsam bringt euch die Freiheit.«
Er zog den mitgebrachten Schraubenschlüssel hervor und trat zu dem einen, der zuletzt geantwortet hatte, um ihn von der Kette, die ihn an der Mauer hielt, zu lösen. Die Hand– und Fußschellen nahm er ihm aber nicht ab.
»Wo ist der andere?« fragte er darauf.
Der Betreffende meldete sich, und trotzdem der Graf bei der hier herrschenden Dunkelheit nur nach dem Gefühl arbeiten konnte, war auch dieser bald befreit.
»Nun kommt heraus!« rief der Graf.
Vor der Tür angekommen, mußten die beiden stehenbleiben, bis Don Ferdinando mit Hilfe seines Gefährten den überrumpelten Wächter in das Innere getragen und die Riegel wieder vorgeschoben hatte. Dann wurden sie ein Stück fortgeführt, damit die anderen Gefangenen nichts von der Unterredung verstehen konnten, und nun erst sagte der Graf:
»Redet so leise, daß nur wir beide euch hören können. Weshalb seid ihr gefangen?« – »Wir waren friedliche Leute«, antwortete der ältere, »Aber der Sultan ließ uns aufgreifen, weil einer unseres Stammes ihm ein Pferd gestohlen hatte.« – »Wie lange seid ihr bereits gefangen?« – »Zwei Jahre.« – »Das ist grausam. Wollt ihr wieder frei sein?« – »Wir sehnen uns zu den Unsrigen zurück. Wer bist du, Herr, der du so geheimnisvoll kommst und fragst?« – »Ihr seid freie Somali, und darum vertraue ich euch. Wir beide waren bisher Gefangene wie ihr, aber wir haben den Sultan überlistet und werden jetzt fliehen. Wir wollen auf dem schnellsten Weg nach dem Meer und brauchen einen Führer, der unser Abban sein will. An der Küste empfangen wir Silber und werden ihn bezahlen. Will einer von euch unser Führer und Beschützer sein, so werden wir ihn von seinen Fesseln befreien und mitnehmen. Antwortet schnell, ich habe keine Zeit« – »Herr, nimm uns beide mit!« baten sie da. – »Gut! Wollt ihr schwören, mich vor den Einigen und allen Feinden zu beschützen, mich und die bei mir sind?« – »Wir schwören es.« – »Bei Allah und dem Propheten?« – »Bei Allah, dem Propheten und allen heiligen Kalifen! Aber hast du Kamele?« – »Für euch noch nicht jedoch draußen vor der Stadt sollt ihr welche haben.« – »Unsere Kleider sind zerrissen; auch haben wir keine Waffen.« – »Ich werde für alles sorgen. Kommt jetzt; aber seid vorsichtig, daß uns das Klirren eurer Ketten nicht in Gefahr bringt gehört zu werden.«
Sie gingen leise nach dem Kamelschuppen. Dort gab Don Ferdinando dem Gärtner den Schlüssel, und nun, da die Somali ihm ihren Schwur geleistet hatten, den kein Mohammedaner bricht, löste er ihnen auch die übrigen Fesseln und kehrte zu Emma zurück.
Diese war sichtlich erfreut und beruhigt als sie den Grafen kommen sah. Sie mußte jetzt ihr Haar hoch knüpfen, worauf Don Ferdinando ihr einen feinen, ostindischen Schal als Turban um den Kopf band, so daß sie nun für einen jungen Türken gehalten werden mußte.
Ferner suchte der Graf zwei Flinten, Pulver und Blei, Kleider, Messer und Yagatans für die beiden Somali aus.
Nun galt es noch den richtigen Torschlüssel zu finden. Harrar hat fünf Tore. An jedem der Schlüssel befand sich ein Blech, das eine Nummer trug.
Der Graf vermochte sich also nicht zu irren, welchen Schlüssel er zu nehmen hatte. Nun erst konnte er sich entfernen, nahm den Pack auf und bat Emma, ihm zu folgen. Als sie in dem Schuppen anlangten, warteten die beiden Somali bereits ihrer mit Ungeduld.
»Hier habt ihr Kleider, Waffen, Pulver und Blei«, sagte der Graf. »Zieht euch schnell an; es wird gehen, obgleich es dunkel ist Die beiden Teppiche sind für eure Kamele, die wir uns draußen verschaffen werden. Aber eilt wir müssen uns sputen.« – »Herr«, entgegnete da der Vater, »wir kennen dich nicht aber unser Leben ist wie das deinige; es gehört dir. Wir kennen alle Wege und werden dich an das Meer bringen, ohne daß du die Verfolger zu fürchten brauchst. Du sollst uns nicht bezahlen, denn du gibst uns die Freiheit die mehr wert ist als Silber und Gold.« – »Deine Rede ist die eines dankbaren Mannes. Ich werde euch allerdings nicht bezahlen, aber ich werde euch ein Geschenk geben, das so groß ist wie die Treue, die ihr uns erweisen wollt. Hier sind vier Kamele, drei ums uns zu tragen und eins für das Gepäck. Mein junger Gefährte ist zwar kein Weib, aber da einmal die Sänfte vorhanden ist, so mag er sich ihrer bedienen. Wir reiten zum Tor hinaus, das nach Gafra führt. Ihr beiden geht uns zur Seite und tut, als ob ihr unsere Diener seid. Ich werde mich am Tür für den Sultan ausgeben. Hier ist der Schlüssel. Du schließt das Tor auf und von draußen wieder zu; das ist alles, was ihr jetzt zu tun habt. Vorwärts.«
Die Kamele wurden bestiegen, und der Ritt begann. Als sie das Tor erreichten, schlief der Wächter. Der Somali schloß auf, und dieses Geräusch weckte den Schlafenden. Er kam eiligst mit dem Stab, dem Zeichen seiner Würde, herbei; aber da er keine Zeit gehabt hatte, ein Licht anzubrennen, so konnte er die Reiter nicht erkennen.
»Wer seid ihr?« fragte er. »Halt! Ohne Erlaubnis des Sultans darf niemand durch das Tor. Ich verbiete euch, es zu öffnen.« – »Was wagst du, Hund!« rief ihm da der Graf zu, indem er die Stimme des Herrschers nachzuahmen versuchte. »Weißt du nicht, daß ich zu dem Vater meines Weibes reiten will? Oder kennst du deinen Herrn nicht? Morgen sollst du im Staub vor mir kriechen, du Sohn eines Schakals!«
Da warf sich der Mann voller Angst zur Erde nieder und getraute sich kein Wort zu sagen, die Flüchtlinge passierten nunmehr das Tor, das der Somali wieder verschloß.
Auf der anderen Seite brannten die Wachtfeuer der Handelskarawanen, die ihre Geschäfte in Harrar noch nicht beendigt hatten. Der Graf ritt eine Weile vorwärts, ließ endlich halten und stieg vom Kamel.
»Kommt!« sagte er. »Da drüben weiden die Tiere des Sultans, und daneben ist ein Schuppen, wo es Sättel und Schläuche gibt. Wir wollen versuchen, die Wächter zu überlisten und ihnen zwei gute Reittiere abzunehmen.«
Die beiden Männer folgten ihm. Sie waren Nomaden, also geborene Räuber, hatten Waffen und waren deshalb ihres Erfolges sicher. Als aber die drei den Weideplatz erreichten, fand es sich, daß kein einziger Wächter zugegen war.
»Wo mögen sie sein?« fragte der eine der Somali. – »Ah, sie sind hinüber zur Karawane, wo es nicht so einsam ist wie hier«, antwortete der Graf. »Sie machen uns unser Werk leicht. Sucht euch Kamele heraus, während ich nach dem Schuppen gehe und zwei Sättel wählen will.«
Es dauerte keine Viertelstunde, so waren die Somali mit zwei tüchtigen Eilkamelen beritten, und nun setzte sich die flüchtige Karawane, sechs Tiere stark, in Bewegung. Als Emma gestern die Stadt erblickte, hätte sie wohl nicht gedacht, sie heute als Türke verkleidet frei wieder verlassen zu können.
28. Kapitel
Vielleicht eine Woche später segelte eine Brigg durch die Straße Bab al-Mandab. Das Fahrzeug war sehr schmuck gebaut, und vom Mast wehte die deutsche Handelsflagge. Auch ohne diese Flagge mußte man sehen, daß die Brigg ein Handels– nicht aber ein Kriegsfahrzeug sei, doch standen auf dem Deck vier Kanonen, die dem Schiff ein kriegerisches Aussehen gaben.
Das Vorhandensein der Geschütze ließ sich aus dem Umstand erklären, daß die Sicherheit in jenen Meeresteilen auch heute noch eine nicht sehr große ist Besonders muß ein Kapitän, der sich mit Küstenhandel beschäftigt darauf sehen, gut bewaffnet zu sein, denn er kommt mit Menschen in Berührung, denen nie ganz zu trauen ist und die imstande sind, durch Verrat sich eines Fahrzeugs zu bemächtigen, um die Ladung desselben in die Hand zu bekommen.
Die Sonne brannte heiß hernieder, zwar wehte eine leichte Brise, doch war die Wärme so stark, daß die Bemannung der Brigg unter den aufgespannten Segeln lag und sich fast sämtlicher Kleidung entledigt hatte. Der Steuermann, er hatte das Steuer mittels eines Taus angebunden, saß im Schatten eines Teppichs, den er über sich im Tauwerk befestigt hatte.
Auch dem Kapitän schien es in seiner Kajüte zu schwül zu werden. Er kam langsam heraufgestiegen, warf einen kurzen Blick über das Deck, einen zweiten an den Horizont und ging zum Steuermann.
Dieser schien sich, dem vorgeschriebenen Respekt gemäß, erheben zu wollen, der Kapitän aber winkte ihm, sitzen zu bleiben und ließ sich neben ihm nieder.
»Verteufelte Hitze!« sagte er nach kurzer Seemannsart – »Wahr!« nickte der Steuermann zustimmend – »Ich lob mir den Norden«, fuhr der Kapitän nach einer kurzen Pause fort, »aber da muß es dem Reeder einfallen, uns nach dieser Küste zu senden. Ich bin begierig, zu erfahren, ob wir da wirklich die guten Geschäfte machen werden, die er sich einbildet.« – »Der Dolmetscher glaubt es ja!« – »Aber gerade das ärgert mich, daß man hier einen Dolmetscher braucht. Wer dieses verteufelte Arabisch gelernt hätte, der brauchte sich nicht in die Gefahr zu begeben, von diesem fremden Volk betrogen zu werden. Aber da schau, dort kommt einer gesegelt! Was mag er für ein Landsmann sein?«
Die Brigg hielt gerade nach Süden, und in dieser Richtung erblickten die beiden jetzt einen Punkt, der ein Fahrzeug sein mußte. Der Steuermann griff zu dem Fernrohr, das neben ihm lag, zog es aus, setzte es an das Auge und blickte lange und aufmerksam hindurch. Er schien sich nicht klarzuwerden und meinte endlich:
»So ein Ding ist mir noch nicht unter die Augen gekommen. Sieh selbst hindurch!«
Jetzt bediente sich auch der Kapitän des Rohres. Er hatte sich eher eine Ansicht gebildet, denn er sagte mit verächtlichem Lächeln:
»Dies muß ein arabisches Fahrzeug sein. In einer Stunde haben wir es erreicht, dann wollen wir es einmal anreden.«
Auch die Matrosen hatten das fremde Segel erblickt und behielten es aufmerksam im Auge. Die beiden Fahrzeuge näherten sich einander immer mehr, bis man von der Brigg aus ohne Fernrohr erkennen konnte, daß der Fremde nur einen einzigen Mast hatte, der schief nach vorn befestigt war und zwei eigentümlich geformte Segel trug. Auf seinem Deck standen Männer in Turbanen, die ihrerseits die Brigg ebenso musterten, wie sie von dieser aus beobachtet wurden.
»Soll ich feuern lassen?« fragte der Steuermann. – »Ja. Schick mir den Dolmetscher her.«
Der Steuermann trat an eine der Kanonen und winkte zu gleicher Zeit dem Mann, der, in arabischer Tracht gekleidet, vorn am Spriet auf einer Matte saß und eine lange Pfeife rauchte. Dieser erhob sich langsam und begab sich nach dem Steuer. Dort beschattete er seine Augen mit der Hand, warf einen langen Blick auf das andere Fahrzeug und fragte den Kapitän:
»Du willst ihn anreden?« – »Ja«, lautete die Antwort. – »Was willst du von ihm wissen?« – »Zunächst, was für ein Fahrzeug es ist.« – »Das kannst du bereits von mir erfahren. Es ist ein Wachtschiff des Gouverneurs von Seila.« – »Also eine Art von Kriegsschiff?« – »Ja. Die Leute sind alle bewaffnet.« – »Wozu dienen diese Art Schiffe?« – »Gewöhnlich dienen sie dem Handel oder dem Transport wie andere Fahrzeuge, und nur auf ganz seltene Veranlassung hin werden sie mit Kriegern bemannt Es muß in Seila etwas Wichtiges passiert sein.« – »Das müssen wir erfahren, da wir ja nach Seila wollen. Du wirst die Fragen, die ich stelle, und die Antworten, die ich erhalte, genau übersetzen.«
Jetzt waren sich die Schiffe so nahe gekommen, daß man gegenseitig die Gesichtszüge erkennen konnte. Eben war der Steuermann im Begriff, durch einen Kanonenschuß das Zeichen zu geben, daß der Araber beidrehen solle, um angesprochen werden zu können, als vom Verdeck desselben eine Flintensalve erscholl. Er also selbst forderte die Brigg auf, die Segel fallen zu lassen.
Der Kapitän lachte laut auf. Es gab ihm Spaß, daß dieses Fahrzeug sich ihm gegenüber das Ansehen eines Kriegsschiffes gab.
»Hörst du es?« rief er dem Steuermann zu. »Dieser Knirps gibt uns Befehle! Laß den Schuß stecken. Wir wollen ihm Gehorsam leisten, und ich bin neugierig, was er von uns verlangen wird. Dreht bei, Jungens!«
Das anbefohlene Manöver wurde ausgeführt die Brigg verlor den Wind und machte eine Schwenkung. Der Araber tat dasselbe und lag nun fast Seite an Seite mit dem Deutschen. Er hatte vielleicht fünfzehn Bewaffnete an Bord. Der Kapitän stand auf einer Erhöhung und fragte mit erhobener Stimme:
»Wie heißt dieses Schiff?« – »Seejungfer!« übersetzte der Dolmetscher die Antwort des Kapitäns. – »Wo ist es her?« – »Aus Kiel.« – »Wo liegt diese Stadt?« – »In Deutschland.« – »Das muß ein kleines, armseliges Ländchen sein, denn ich kenne es nicht«, meinte der Araber stolz. »Was habt Ihr geladen?« – »Handelsware.« – »Und Menschen?« – »Nein. Wir haben keine Passagiere.« »Auch keine entlaufenen Sklaven?« – »Nein.« – »Ich werde auf euer Schiff kommen, um zu sehen, ob ihr die Wahrheit redet.«
Das war dem deutschen Kapitän denn doch zu viel. Er ließ fragen:
»Wer bist du denn?« – »Ich bin ein Kapitän des Sultans von Seila.« – »In Seila gibt es einen Gouverneur, aber keinen Sultan. Ich habe weder ihm noch einem seiner Diener zu gehorchen.« – »So weigerst du dich, dein Schiff untersuchen zu lassen?« – »Ja, du hast nicht das Recht dazu. Umgekehrt wäre es richtiger. Wenn ich dein Fahrzeug betreten wollte, könntest du es mir nicht verweigern.« – »Ich würde dir es doch verbieten, denn ich bin ein Krieger«, antwortete der Araber in verächtlichem Ton. »Ich werde dich zwingen, mich und meine Leute an Bord zu lassen, um dein Schiff durchzusuchen.« – »Wie willst du dies anfangen?« – »Zähle meine Leute«, antwortete der andere stolz. »Ich werde ihnen befehlen, Löcher in dein Schiff zu schießen, wenn du mir nicht gehorchst!«
Da konnte sich der Deutsche eines lauten Lachens, in das alle seine Leute einstimmten, nicht enthalten und ließ durch den Dolmetscher antworten:
»Deine Kugeln gehen nicht durch das Holz meines Schiffes, sie tun uns keinen Schaden, ich jedoch habe Kanonen, mit denen ich dich sofort in den Grund bohren würde.« – »Allah ist groß, er würde dich daran zu hindern wissen und deine Kugeln gegen dich selbst richten. Du kommst mir verdächtig vor. Ich werde dein Schiff arretieren und es nach Seila bringen.« – »Weshalb bin ich dir verdächtig?« – »Wir suchen Sklaven, die aus Harrar entflohen sind, du verweigerst es uns, dein Schiff untersuchen zu lassen, folglich hast du diese Sklaven an Bord.« – »Sie sind nicht bei mir. Sie können gar nicht bei mir sein, denn ich komme vom Norden und bin noch nicht an eurer Küste gewesen.« – »Das sagst du, aber ich glaube es nicht. Ich werde mit einem Tau dein Schiff an das meinige befestigen und dich nach Seila bringen. Dort mag der Gouverneur es untersuchen.«
Das war eine geradezu wahnsinnig lächerliche Drohung, darum antwortete der Kapitän:
»Ich glaube, daß sich dein Verstand nicht ganz in Ordnung befindet. Wie wolltest du mich zwingen, dein Tau an Bord zu nehmen. Deutschland ist ein großes Reich, was ist dein Seila dagegen? Unsere Könige sind mächtig, die geringsten ihrer haben mehr gesehen und gelernt, als dein Gouverneur, wie soll es dir gelingen, mich zu arretieren? Ich lache darüber.« – »Lache du jetzt, aber dein Lachen wird sich in Weinen verkehren. Ich befehle dir, drei meiner Leute zu empfangen, die dir das Tau an Bord bringen werden.«
Der Kapitän besann sich. Er war, wie fast ein jeder deutsche Seemann, Freund eines guten Juxes, hier nun gab es Gelegenheit zu einem solchen, und darum sagte er nach einer Weile, während welcher er seinen Leuten listig zugenickt hatte:
»Gut, ich will dir den Willen tun, ich will das Tau an Bord nehmen, aber nicht, weil ich dir zu gehorchen hätte, sondern um dir zu beweisen, welch eine Dummheit du begehst, indem du es wagst, mir Befehle zu erteilen und mein Schiff arretieren zu wollen. Sende deine Leute, du magst mich in das Schlepptau nehmen.«
Auf einen befehlenden Wink des Arabers stiegen jetzt drei seiner Männer in ein Boot und nahmen das Tau auf, das sie an Bord der Brigg brachten und dort am Bug befestigten. Sie benahmen sich dabei ganz wie die Herren des Schiffes und gaben das Zeichen, daß die Fahrt nun beginnen könne.
»Verdammt schlaue Kerle!« lachte der Steuermann. »Ihr Tau ist ja viel zu schwach, um uns schleppen zu können, es muß zerreißen.« – »Aber es ist stark genug, um sie von uns schleppen zu lassen«, meinte der Kapitän. »Warte nur, bis sie sich in Fahrt befinden.«
Der Araber zog seine Segel auf und wandte sich nach Süden. Der Wind legte sich in die Leinwand. Das Schiff setzte sich in Bewegung und zog das Tau scharf an. Es hätte zerreißen müssen, wenn es nicht Absicht des Deutschen gewesen wäre, dem Spaß noch eine andere Seite abzugewinnen.
»Holla, die Segel auf!« kommandierte er. »Wir müssen ihnen behilflich sein.«
Einige Minuten später befand sich die Brigg in voller Fahrt, und da sie schneller segelte als der Araber, mußte sie mit ihm zusammenstoßen. Der Deutsche wandte sich nun durch seinen Dolmetscher an die drei Araber
»Ruft euren Leuten zu, schneller zu segeln, sonst fahre ich sie in die See!«
Sie schüttelten die Köpfe, sie wagten es nicht, ihrem Anführer einen Befehl zu geben, dieser jedoch bemerkte die Gefahr und rief zurück:
»Fahrt langsamer, ihr Schurken! Seht ihr denn nicht, daß wir zusammenstoßen!« – »Segle du schneller, du Narr!« antwortete der Kapitän. »Nimm kein Fahrzeug ins Schlepptau, wenn es dir überlegen ist!«
Noch einige Augenblicke, und der Zusammenstoß mußte erfolgen. Da griff der Kapitän selbst in das Steuer, um die Richtung ein wenig zu ändern.
»Übersegeln will ich sie nicht, aber eine Lehre will ich ihnen doch geben«, sagte er. »Holla, Jungens, aufgepaßt! Kappt alles fremde Zeug, was an unserem Bord erscheint!«
Jetzt hatte die Brigg den Araber erreicht, der ein sehr niedriges Deck hatte. Sie stieß daher nicht auf die Mitte seines breiten Hinterteils, sondern ihr Bugspriet ging hart an demselben vorüber, aber die Katastrophe war dennoch kräftig genug, um den Mohammedanern später als Lehre dienen zu können.
Das Steuerbord des Deutschen schliff nämlich fest und scharf an dem Backbord des Arabers weg und riß ihm alles Takelwerk fort. Die beiden Rahen des letzteren verfitzten sich in dem festen Tauwerk des ersteren und wurden von den Matrosen, die schnell bei der Hand waren, gekappt. Im nächsten Augenblick befand sich der Deutsche vor dem Araber, statt hinter demselben. Das Schlepptau spannte sich wieder und zog, da es am Hinterteil des letzteren befestigt war, diesen herum, so daß er wandte und sein Vorderteil nach hinten kam.
Auf dem Deck des Deutschen erscholl ein vielstimmiges Gelächter, von demjenigen des Arabers aber hörte man gerade das Gegenteil. Seine Rahen waren zerhackt und seine Segel herabgerissen, sein laufendes Tauwerk hing in Fetzen, und das Schiff drohte in seiner verkehrten Lage zu kentern und unterzugehen. Der Anführer fluchte und wetterte, seine Leute brüllten und heulten. Anstatt ihr Tau, womit sie an den Deutschen befestigt waren, zu kappen und dadurch von ihm frei zu kommen, schossen sie ihre Flinten auf ihn ab, aber keine Kugel richtete irgendeinen Schaden an.
Da trat einer der drei, die sich an Bord der Brigg befanden, zu dem Kapitän und ließ ihm durch den Dolmetscher sagen:
»Ich befehle dir, anzuhalten und unser Fahrzeug auszubessern!«
Das hieß denn doch, die Anmaßung und Lächerlichkeit auf die Spitze zu treiben.
»Du hast mir nichts zu befehlen!« antwortete der Kapitän.
Da zog der Mann das Messer, das er im Gürtel hatte, und drohte:
»Wenn du mir nicht sogleich gehorchst, so werde ich dich züchtigen! Bist du ein Moslem?« – »Nein, ein Christ.« – »So hast du mir Gehorsam zu leisten, Hund!« – »Ah, Hund, sagst du? Da hast du die Antwort!«
Der Kapitän holte aus und gab dem Araber eine Ohrfeige, die so stark war, daß dieser sofort niederstürzte und sich überkugelte. Die beiden anderen zogen jetzt auch ihre Messer und wollten sich auf den Kapitän werfen, kamen aber dabei sehr an den Unrechten. Er besaß nämlich eine echte deutsche Seemannsfaust, das heißt eine Hand hart wie Stahl. Mit zwei raschen Hieben hatte er sie kampfunfähig gemacht
»Jungens, bindet mir einmal dieser Kerle an die Masten!« gebot darauf der Kapitän. »Wir wollen sie einmal lehren, was es heißt einen Deutschen einen Hund zu nennen!«
Diesem Befehl wurde sehr gern und schleunigst Folge geleistet Die Matrosen nahmen den Arabern die Waffen und banden sie so fest, daß sie sich nicht zu rühren vermochten.
Unterdessen war die Lage des arabischen Fahrzeugs gefährlicher geworden. Es wurde von der Brigg am Hinterteil gezogen und begann, da es einen niedrigen Bord hatte, bereits Wasser zu schöpfen.
»Haltet an, ihr Schurken!« brüllte da der Anführer. »Seht ihr denn nicht daß wir ertrinken müssen, wenn ihr nicht gehorcht?« – »Mir ist‘s gleich, ob ihr ersauft oder nicht«, antwortete der Deutsche. »Kappt euer Tau, wenn ihr euch retten wollt!« – »Ich darf es nicht zerhacken, es gehört nicht mir, sondern dem Gouverneur!« – »Nun, so schluckt für den Gouverneur Seewasser, bis ihr platzt!« – »Wir selbst können ja das Tau kappen«, meinte der Steuermann. – »Fällt mir nicht ein!« antwortete der Kapitän. »Ich gebe ihnen eine Lehre und rühre keine Hand für sie. Ich bin noch nie in diesen Breiten gewesen, aber ich habe sehr viel von der Arroganz dieser Menschen gehört. Diese Sklaven und Diener, diese Speichellecker kleiner, obskurer Potentaten und Beamten, denken Wunder wer sie sind. Jeder Andersgläubige gilt für einen Hund, dessen Berührung sie verunreinigt. Ich verstehe ihre Sprache nicht und kenne auch ihre Gebräuche nicht, aber meine Gebräuche sollen sie kennenlernen. Wir sind es unserer deutschen Flagge schuldig, uns bei ihnen in Respekt zu setzen.« – »Aber wir fahren ja nach Seila und werden also mit dem Gouverneur in Berührung kommen!« – »Nun, was weiter?« – »Er wird sich rächen!« – »Er mag es nur versuchen!«
In diesem Augenblick ertönte ein vielstimmiger Schrei. Das arabische Fahrzeug hatte sich so weit zur Seite geneigt, daß es zu sinken drohte. Es schluckte Wasser, und zwar so viel, daß es sich nicht wieder aufrichten konnte.
»Seid ihr denn wirklich so erbärmlich dumm? Kappt doch endlich das Tau!« ließ ihnen der Kapitän durch den Dolmetscher zurufen.
Sie aber waren so verwirrt, daß sie ihm nicht folgten, sondern in das Wasser sprangen und auf die Brigg zuschwammen.
»Werft ihnen Taue zu, daß sie herauf können!« gebot nun der Kapitän. »Sie haben die Komödie begonnen und mögen sie auch zu Ende spielen. Aber laßt sie auf dem Vorderdeck zusammentreten und richtet die Geschütze auf sie.«
Es gelang wirklich, die Araber alle an Bord zu bringen, worauf der Dolmetscher ihnen die Weisung gab, sich nach dem Vorderdeck zu begeben. Sie gehorchten, nur der Anführer weigerte sich. Er trat auf den Kapitän zu und fragte:
»Bist du der Befehlshaber dieses Schiffes?« – »Ja.« – »So bist du mein Gefangener. Ich werde dich streng bestrafen lassen.«
Der Deutsche blickte ihm lächelnd in das braune, hagere Gesicht und antwortete:
»Mache dich nicht lächerlich! Ich habe in deine erste Albernheit eingewilligt, und nun siehst du, was du davon hast. So wird es dir auch weitergehen, wenn du es nicht aufgibst, dich als Herr zu gebärden. Kennst du die Völkergesetze?« – »Ich brauche sie nicht zu kennen. Ich kenne den Koran und die Gesetze des Propheten.« – »Ich habe mich weder nach dem Koran, noch nach deinem Propheten zu richten. Ich gehe nach dem Völkerrecht, und das wird von allen Seefahrern anerkannt. Dieses Schiff ist deutscher Grund und Boden; wer sich bei mir an Bord befindet, hat mir zu gehorchen. Ich bin Herr über Leben und Tod, verstehst du wohl. Ich werde jede Anmaßung und jeden Widerstand sehr streng bestrafen.« – »Das wirst du nicht wagen!« sagte der Araber stolz. – »Warum nicht?« – »Weil ich ein Vetter des Gouverneurs bin.« – »Das gilt nichts! Auf meinem Schiff bin ich König und Kaiser, Sultan und Großmogul; dein Gouverneur ist mir vollständig gleichgültig. Ich segle zwar nach Seila, aber ich stehe unter dem Schutz meiner Flagge und werde nicht dulden, daß man mir feindselig begegnet.« – »Ah, du fährst nach Seila? So wirst du uns Rechenschaft gegen, vorher aber unser Fahrzeug retten.« – »Ich sehe, daß du unverbesserlich bist, und darum werde ich dir zeigen, daß ich das tue, was mir gefällt. Vielleicht wäre dein Schiff zu retten, ich aber erkläre, daß sich das meinige in Gefahr befindet, so lange es mit dem deinigen zusammenhängt! Ich muß mich selbst vor Schaden bewahren.«
Damit griff der Kapitän zum Beil und durchhieb das Schlepptau, so daß das arabische Fahrzeug nun sich selbst überlassen blieb. Da trat der andere zornig auf ihn zu und rief:
»Was wagst du, Hund? Du opferst mein Schiff, und jetzt sehe ich auch, daß du meine drei Krieger gefesselt hast! Hätte ich mein Gewehr mitgenommen, so würde ich dich erschießen wie einen Schakal, aber mein Messer wird dir zeigen, wer hier Herr ist!«
Der Araber zog wirklich das Messer ans dem Gürtel, in demselben Augenblick aber traf ihn die gewaltige Faust des Deutschen so, daß er zusammenbrach. Als das die übrigen Araber sahen, machten sie Miene, ihren Anführer zu befreien, aber der Dolmetscher rief ihnen zu:
»Um des Propheten willen, bleibt ruhig, sonst werdet ihr erschossen, die Kanonen sind auf euch gerichtet. Dieser Mann ist Herr des Schiffes, was er befiehlt, das geschieht Euer Leben ist in seine Hand gegeben.«
Jetzt erst begriffen die braunen Kerle ihre Lage und bequemten sich dazu, auf allen Widerstand zu verzichten. Ihr Anführer wurde gefesselt und unter Deck gebracht Ihnen nahm man alle Waffen ab und steckte sie darauf in den Kielraum, wohin auch ihre drei Gefährten geschafft wurden, die bis jetzt am Mast befestigt gewesen waren.
»Du wagst viel!« sagte der Dolmetscher zum Kapitän. »Der Gouverneur wird wirklich Rechenschaft von dir verlangen.« »Du irrst«, antwortete der Deutsche lächelnd. »Ich werde Rechenschaft von ihm verlangen, denn seine Diener haben gegen die Gesetze gehandelt und mich persönlich beleidigt« – »Aber selbst wenn er dich nicht bestrafen kann, wirst du doch großen Schaden haben. Der Gouverneur wird dir verbieten, zu handeln und deine Waren zu verkaufen.« – »Das werde ich abwarten. Verbietet er es mir wirklich, so weiß ich bereits genau, was ich tun muß, um diesen Schaden ersetzt zu bekommen.«
Um der Gefangenen sicher zu sein, stellte er einen der Matrosen als Wachtposten vor den Kielraum und sah dem Kommenden ohne Sorge entgegen.
Da Seila keinen Hafen besitzt und die Schiffe auf der dortigen Reede ankern müssen, zu der die Einfahrt wegen der vorliegenden Felsen eine schwierige ist so mußte die Brigg, die die Nähe der Stadt erreicht hatte, während der Nacht lavieren und konnte erst am Morgen den Eingang gewinnen. Sie begrüßte die Stadt mit Kanonenschüssen und ließ die Anker fallen.
29. Kapitel
Seila, das ungefähr viertausend Einwohner zählt, besteht aus vielleicht einem Dutzend großer, steinerner Häuser, die weiß getüncht sind, und einigen hundert Hütten, die man aus dem einfachsten Material errichtet hat. Die Stadtmauern sind nur aus Korallenstücken und Schlamm gebaut, haben weder Schießscharten noch Kanonen und sind außerdem an vielen Stellen eingefallen. Es macht von der See aus, besonders da es auf einer niedrigen Sandbank liegt, keineswegs einen sehr imponierenden Eindruck.
Dennoch beherrscht es die Hafenplätze der Umgegend nebst der ganzen Küste und ist der Sammel– oder Zielpunkt zahlreicher Karawanen, die aus dem Innern kommen oder von hier aus in das Binnenland gehen, um ihre Waren dort abzusetzen.
Vom Verdeck der Brigg aus bemerkte man zahlreiche Menschen, Kamele und Pferde, die in der Nähe der Stadt lagerten. Es waren jedenfalls Handelskarawanen angekommen, und so gab sich der Kapitän sogleich der angenehmen Hoffnung hin, hier ein gutes Geschäft zu machen.
Nachdem die Anker gefallen waren, kam ein Boot, aus dem ein Araber an Bord stieg, der sich einer würdevollen Haltung befleißigte. Es war der Hafenmeister. Er verlangte die Schiffspapiere zu sehen, um sie dem Gouverneur vorzulegen, da von diesem die Erlaubnis, hier zu ankern, abhängig war, und fragte, woher das Schiff komme, was es geladen habe und ob ihm ein Fahrzeug mit entflohenen Sklaven begegnet sei. Der Kapitän gab ihm Auskunft und überreichte ihm die begehrten Papiere, vermied aber, ihm zu sagen, daß er Gefangene an Bord habe. Der Hafenmeister schien befriedigt und entfernte sich.
Erst nach einigen Stunden kehrte er zurück und meldete, daß der Gouverneur seine Erlaubnis, zu verweilen und Handel zu treiben, gegeben habe, dagegen aber die Entrichtung der hier gebräuchlichen Abgabe und eines guten Geschenkes für ihn erwarte.
»Der Gouverneur«, fuhr er fort, »wird euch einige Soldaten senden, um euch vor allen Gefahren zu schützen. Diese Soldaten habt ihr zu bezahlen und zu beköstigen.« – »Wir bedürfen dieser Soldaten nicht«, entgegnete der Kapitän, »wenn wir uns in Gefahr befänden, wären sie doch nicht imstande, uns zu schützen.« – »Oh, sie sind sehr tapfer«, meinte der Hafenmeister. – »Das glaube ich nicht, denn ich habe das Gegenteil gesehen. Sie sind anmaßend, leichtsinnig und würden uns mehr Schaden als Schutz bringen.« – »Wie willst du sie kennen, du hast mir ja gesagt, daß du noch nie hier gewesen bist!« – »Du wirst bald erfahren, woher ich sie kenne. Ich werde den Gouverneur benachrichtigen und ihm beweisen, daß ich mich selbst zu schützen verstehe.«
Der Hafenmeister wurde dann bewirtet, erhielt ein Geschenk, das seine ganze Zufriedenheit zu erregen schien, und kehrte nach der Stadt zurück.
Jetzt befahl der Kapitän, einen der Gefangenen zu sich zu bringen.
»Wir sind vor Seila angekommen«, ließ er ihm mit Hilfe des Dolmetschers sagen, »ich gebe dir die Freiheit zurück, doch nur unter der Bedingung, daß du zum Gouverneur gehst und ihm meldest, was geschehen ist. Er mag selbst an Bord kommen und mit mir über das Schicksal deiner Gefährten verhandeln. Sage ihm, daß ich ein friedlicher Mann sei und bereit mich in Güte mit ihm zu verständigen, er muß aber selbst kommen, denn mit Unterhändlern werde ich nicht sprechen. Mein Rang ist wenigstens ebenso hoch wie der seinige. Einigen wir uns nicht so werde ich die Gefangenen mitnehmen und auf das strengste bestrafen lassen!«
Der Mann gab kein Wort zur Antwort, aber an seinen Blicken war zu erkennen, daß sein Bericht feindselig lauten werde. Er stieg über Bord und glitt an einem Tau in das noch dahängende Boot hinab, auf dem gestern die drei Araber das Schlepptau an Deck gebracht hatten.
Als er langsam nach der Stadt ruderte, sagte der Dolmetscher zu dem Kapitän:
»Dein Spiel ist ein gefährliches. Der Gouverneur ist mächtig, er wird dich infolge deiner Botschaft sicherlich als Feind betrachten und behandeln.« – »Er mag es versuchen!«
Diese kurzen Worte zeigten, daß der Deutsche seiner Sache sicher sei, und er traf auch sofort die Maßregeln, die er für geeignet hielt, seinen Willen durchzusetzen. Er gebot seinen Leuten, sich zu bewaffnen, und ließ die Enternetze rings um das Schiff befestigen. Es sind dies Drahtnetze, die es sehr schwer, wo nicht unmöglich machen, daß der Feind an Bord gelangt
Die Brigg war nicht mit einem Wall-, sondern nur mit einem Seeanker befestigt, den man im Notfall sofort aufnehmen konnte. Alle Boote befanden sich an Bord, und die Mannschaft hielt sich bereit, die Segel zu ziehen, um gegebenenfalls das Schiff schnell manövrierfähig zu machen.
Das Haus, in dem der Gouverneur wohnte, war deutlich zu sehen, der Kapitän ließ es sich von dem Dolmetscher, der bereits einmal in Seila gewesen war, zeigen und beschloß, es bei einer ausbrechenden Feindseligkeit als erstes Ziel zu benutzen.
Ob sich in Seila mehrere Kanonen befanden, wußte er nicht, eine aber war jedenfalls vorhanden, sie stand am Strand, und man hatte mit ihr die Begrüßungsschüsse der Brigg beantwortet. Fremde Schiffe gab es nicht, es waren kaum zehn Fahrzeuge vorhanden, die nicht zu fürchten waren, denn sie waren klein und ähnlich gebaut wie das Wachtschiff, das gestern so wenig Effekt gemacht hatte.
Es verging unter aufmerksamem Warten eine längere Zeit, bis man aus dem Nordtor der Stadt, das zum Meer führt, eine Schar Bewaffneter kommen sah, die sich auf einzelne Boote verteilten und nach der Reede gerudert kamen. Es konnte kein Zweifel sein, daß ihr Besuch der Brigg galt.
Die Schar mochte dreißig Mann stark sein. Sie war mit Luntenflinten, Spießen und Yatagans bewaffnet. Im vordersten Boot schien der Anführer zu sitzen, denn die anderen hielten sich in respektvoller Entfernung hinter ihm.
Als dieses erste Boot in solche Nähe gekommen war, daß man sich verstehen konnte, erhob sich der Anführer und rief:
»Bist du der Mann, der unsere Gefährten gefangenhält?« – »Ja«, antwortete der Kapitän mit Hilfe des Dolmetschers. – »Gib sie heraus!« – »Wer bist du?« lautete die rasche Gegenfrage. – »Ich bin der General der hiesigen Truppen.« – »So habe ich mit dir nicht zu unterhandeln. Ich werde mit dem Gouverneur sprechen, ich habe das bereits sagen lassen.« – »Steige in unser Boot, ich werde dich zu ihm bringen.« – »Er mag zu mir kommen, wenn er seine Leute wiederhaben will.« – »Wenn du nicht mit uns kommst oder sie herausgibst, werden wir zu dir an Bord kommen und sie uns holen, dann bist du unser Gefangener, und dein Fahrzeug ist unser Eigentum. So hat der Gouverneur befohlen.« – »Ich habe dir bereits gesagt, daß ich nur mit ihm verhandle. Gegen einen Angriff werde ich mich zu verteidigen wissen.«
Der Mann ließ noch mehrere Fragen und Drohungen hören, als er aber keine Antwort erhielt, winkte er die anderen Boote zu sich heran und besprach sich mit den Insassen derselben. Er hatte jedenfalls Furcht vor der Brigg, ebenso bange war es ihm aber auch vor dem Gouverneur, dessen Befehle er erfüllen sollte.
Endlich gab er ein Zeichen, er kam mit seinen Booten näher und rief:
»Gibst du die Gefangenen heraus?«
Es erfolgte keine Antwort
»Nun, so holen wir sie uns. Schießt sie tot die Ungläubigen.«
Die Araber richteten ihre Gewehre auf das Deck, und die Salve erfolgte. Die Kugeln schlugen in das Takelwerk und in die Masten, trafen aber niemanden. Auch einige Wurfspeere kamen geflogen, blieben jedoch in den Enternetzen hängen, ohne jemanden zu verletzen. Die Feindseligkeit hatte also begonnen.
»Sollen wir antworten?« fragte der Steuermann. – »Ja«, nickte der Kapitän. »Aber schießt noch nicht auf die Kerle; sie wären ja verloren. Gib dem Gebäude des Gouverneurs einige Kugeln; er hat das Ding angestiftet und mag nun auch die ersten Folgen tragen.«
Da trat der Steuermann zu einem der Geschütze, richtete es sorgfältig, zielte lange Zeit um sicher zu sein, und gab dann Feuer. Fast in demselben Augenblick, als der Schuß krachte, flogen die Steinsplitter von der Mauer des Hauses, auf das er gezielt hatte. Der Schuß war ein Kernschuß gewesen.
Die Araber in den Kähnen erhoben ein Wutgeschrei und schossen abermals nach dem Schiff.
»So war es gut!« rief der Kapitän dem Steuermann zu. »Fahre so fort!«
Der Angeredete gab noch mehrere Schüsse ab, von denen kein einziger fehlging. Das Mauerwerk wich den Kugeln, es flog in Stücke, und beim vierten Schuß war ein großes Loch zu bemerken. In der Stadt erhob sich ein lautes Wehgeschrei, und die Karawanenleute, die vor dem Ort gehalten hatten, zogen sich mit ihren Tieren ängstlich in eine sichere Entfernung zurück.
Da öffnete sich das Tor; ein Mann trat heraus und winkte. Auf dieses Zeichen ruderten die Kähne schleunigst nach der Stadt zurück.
»Soll ich eine Kugel unter sie schicken?« fragte der Steuermann.
Er war stolz auf seine artilleristischen Erfolge; die Aufregung des Kampfes hatte ihn ergriffen, und er wollte noch weitere Proben seiner Geschicklichkeit geben.
»Nein, wir wollen sie noch schonen«, antwortete der Kapitän.
»Aber siehst du dort rechts das Gebäude? Es ist sicher eine Moschee. Wenn wir uns an das Heiligtum dieser Muselmänner machen, werden sie doppelt erschrecken und schneller einlenken. – Siehe, ob du sie treffen kannst.« – »Soll schon geschehen; sie steht ja groß und breit genug da!«
Indem der Steuermann unter einem selbstgefälligen Schmunzeln diese Worte sprach, lud er sehr sorgfältig. Er machte seine Worte wahr, der erste Schuß traf, der zweite noch besser, und bei dem dritten brach das Dach des Gebäudes ein. Ein lautes Wehgeschrei drang nun hinter den Stadtmauern heraus, und in kurzem öffnete sich das Tor abermals. Zunächst war ein Mann zu sehen, der als Friedenszeichen einen weißen Burnus schwenkte, und darauf erschien eine Sänfte, die nach dem Ufer getragen wurde. Aus ihr stieg ein Mann, der in den Kahn des Anführers, der sich dorthin zurückgezogen hatte, stieg, eine kleine Weile mit ihm sprach und, begleitet von den anderen Kähnen, herbeiruderte.
Er ließ in Sprechweite von dem Schiff, das jetzt das Feuer eingestellt hatte, halten, erhob sich, so daß seine ganze Gestalt zu sehen war, und rief:
»Warum schießt ihr auf Allahs Haus und auf das meinige?« – »Warum schießt ihr auf mein Schiff?« entgegnete der Kapitän. – »Weil ihr ungläubige Empörer und Verräter seid und mir nicht gehorchen wollt.« – »Wer bist du, daß du es wagst, Gehorsam von uns zu fordern?« – »Ich bin der Beherrscher dieser Stadt, dem alle gehorchen müssen, die sich hier befinden.« – »Bist du der Gouverneur, so komm herauf zu mir, damit ich mit dir sprechen kann!« – »Komm herab zu mir, ich bin mehr als du.« – »Wenn du nicht kommst, so werden dir meine Kugeln zeigen, wer von uns beiden der höhere ist, ich oder du!«
Der Gouverneur beriet sich nun mit den Seinigen und antwortete:
»Du handelst als unser Feind, ich darf mich dir nicht anvertrauen.« – »Ich gebe dir mein Wort, daß dir nichts Böses geschehen soll.« – »Und daß ich dein Schiff wieder verlassen kann, sobald es mir gefällt?« – »Ja.« – »Schwöre es mir.« – »Ich schwöre es.« – »So werde ich mir überlegen, ob ich kommen werde.« – »Überlege es dir. Ich gebe dir zwei Minuten Zeit; ist diese Frist verflossen, so beginnt bei mir das Schießen wieder.«
Der Gouverneur beriet von neuem; der Steuermann aber hielt den Lauf eines der Geschütze nach dem Haus dieses Mannes gerichtet, und als zwei Minuten verstrichen waren und der Araber sich noch immer unschlüssig zeigte, befahl der Kapitän: »Feuer!«
Nun krachte ein Schuß, und abermals flog das von der Kugel zerrissene Mauerwerk nach allen Seiten auseinander. Das entschied; der Gouverneur merkte nun doch, daß mit diesen Fremden nicht zu scherzen sei, und rief eiligst:
»Halt, ich komme! Aber ich bringe meine Leute mit, um mich zu schützen.« – »Mein Schwur ist dein Schutz«, antwortete der Kapitän. »Du wirst allein das Schiff besteigen, auf jeden anderen werde ich schießen lassen.«
Er hatte sich vorgenommen, seinen Willen ohne alle Nachsicht durchzusetzen. Hatten andere Nationalitäten aus Handelsrücksichten es vorgezogen, sich von diesen Mohammedanern alles gefallen zu lassen, so wollte er dem deutschen Namen Ehre machen und den Leuten zeigen, daß sie nicht die Kerle seien, vor denen man sich zu fürchten hatte.
Der Gouverneur sah sich endlich gezwungen, nachzugeben, und kam an Bord, als man ein Feld des Enternetzes entfernte und die Falltreppe niederließ.
Mit finsteren Blicken musterte er die anwesende Bemannung, und als er alles in allem nur vierzehn Männer zählte, fragte er, ohne vorher zu grüßen:
»Sind dies alle deine Leute?« – »Ja.« – »Und mit diesen wenigen wagst du es, mir zu widerstehen?« – »Du hast gesehen und erfahren, daß ich es wagen kann. Wir sind Deutsche, und ein einziger Deutscher nimmt es mit zwanzig deiner Leute auf.«
Diese stolzen Worte waren zwar im Superlativ gesprochen, aber sie verfehlten dennoch ihre Wirkung nicht Der Gouverneur ließ sich nach dem Hinterdeck führen, wo er auf einem Teppich Platz nahm. Ihm gegenüber setzte sich der Kapitän; rechts stand der Steuermann und links der Dolmetscher. Die Hälfte der Mannschaft stand in der Nähe, während die anderen die feindlichen Boote zu beobachten hatten.
Der Kapitän hatte es unterlassen, den bei jeder Besprechung in diesen Ländern sonst üblichen Kaffee nebst obligaten Tabakspfeifen reichen zu lassen. Man stand sich ja noch als Feind gegenüber, so daß die geringste gastliche Erweisung ein Fehler gewesen wäre.
Die beiden Unterhandelnden betrachteten zunächst einander forschend. Das wettergebräunte Gesicht des Kapitäns stach mit seinen ehrlichen, biederen Zügen höchst vorteilhaft gegen die schlaue Miene des Gouverneurs ab. Dieser war bereits bei Jahren, aber trotz des Anfluges von Ehrwürdigkeit, der ihm nicht abzuleugnen war, tat ihm doch der Zug jener bigotten Pfiffigkeit Eintrag, der den Arabern der Küste eigentümlich zu sein pflegt. Erst nach einer Weile begann er das Gespräch:
»Ich bin gekommen, dich zur Rechenschaft zu ziehen. Du sitzt als Sünder und Verbrecher vor mir und wirst deine Strafe erleiden.« – »Du irrst«, antwortete der Deutsche. »Ich bin es, der dich hat kommen lassen, um dich zur Rechenschaft zu ziehen. Du hast meinen Willen befolgt und bist gekommen; dies ist der beste Beweis, daß nicht ich der Sünder und Verbrecher bin. Von einer Strafe könnte übrigens nie die Rede sein, denn du bist der Mann nicht, den ich als Richter über mich anerkennen würde. Um dir aber zu zeigen, daß ich gerecht bin, werde ich geneigt sein, anzuhören, welche Ursachen zu Beschwerden du zu haben meinst.« – »Du sollst sie hören; es sind ihrer viele. Du hast dich geweigert, dein Schiff durchsuchen zu lassen, du hast meine Leute gefangengenommen, du bist schuld, daß mir ein Fahrzeug verlorengegangen ist. Und anstatt Abbitte und Ersatz zu leisten, hast du die Moschee und mein Haus eingeschossen. Deine Strafe wird eine sehr große sein.«
Das war eine ganze Reihe von Anschuldigungen, von deren Berechtigung der Gouverneur vielleicht selbst überzeugt war, denn er besaß keine Kenntnis des herkömmlichen und verbrieften Völkerrechts. Er glaubte, den Deutschen mit seiner Anklage niedergeschmettert zu haben; dieser aber antwortete ruhig und überlegen:
»Du irrst abermals. Das Recht, ein anderes Schiff zu untersuchen, hat nur das Kriegsschiff einer anerkannten Nation. Wer hat dein Fahrzeug anerkannt? Welcher gute Seemann wäre so dumm, es für ein Kriegsschiff zu halten? Es hat ja nicht einmal eine Flagge geführt, und du wirst wenigstens so viel wissen, daß man ein Schiff nur dann respektiert, wenn es seine Flagge zeigt.« – »Der Anführer hat dir aber gesagt, daß das Fahrzeug mir gehört und daß er in meinem Namen handelte.« – »Das geht mich nichts an, da ich nicht dein Untertan bin. Sodann habe ich drei deiner Leute festgenommen, weil sie mich einen Hund nannten. Ich würde auch dich niedergeschlagen haben, wenn du dies gewagt hättest. Ich habe euch gezeigt, daß ich euer Meister bin, und werde keine Beschimpfung dulden. Ich habe trotzdem deinem Befehlshaber gestattet, mein Schiff ins Schlepptau zu nehmen, obgleich ich wußte, daß dies die größte Albernheit war. Er selbst ist schuld, daß es niedergefahren worden ist Ich hätte ihn ertrinken lassen sollen mit allen seinen Leuten, und doch habe ich ihn und sie gerettet. Anstatt mir dafür zu danken, hat er mich beleidigt indem er mich einen Schurken nannte. Darum habe ich ihn festgenommen, um ihn dir zur Bestrafung zu übergeben. Ich hielt dich für weise und für klug genug, nicht mit einem Mann anzubinden, der dir überlegen ist Du aber hast auf mein Schiff schießen lassen. Nun hatte ich das Recht mich zu verteidigen. Noch ist kein Menschenblut geflossen, aber ich sage dir, daß ich nicht eher von hier gehen werde, bis ich Genugtuung erlangt haben werde.«
Der Gouverneur sah die Sache jetzt ganz anders dargestellt als vorhin. Er wollte das Wort ergreifen, aber der kluge Deutsche fiel schnell ein:
»Ich habe weder Lust noch Zeit, meine Worte zu verschwenden. Höre, was ich dir sage. Du bestrafst deine Leute, die mich beleidigt haben. Du erlaubst den Einwohnern von Seila und allen, die sich in und bei der Stadt befinden, mein Schiff zu besuchen und Handel mit mir zu treiben, und du gibst mir eine schriftliche Abbitte der Beleidigungen, die mir durch die Zungen und Waffen deiner Leute zugefügt worden sind. Ich ziehe mich jetzt zurück und lasse dir meinen Steuermann hier, mit dem du verhandeln kannst, aber ich gehe von meinen Bedingungen nicht um ein Wort ab. Hast du sie in Zeit von einer Viertelstunde noch nicht zugestanden, so setze ich das Bombardement auf Seila fort und schieße alles in Grund und Boden. Du hast gesehen, daß keine unserer Kugeln fehlgeht. Außerdem richte ich meine Geschütze auf deine Schiffe und demoliere sie. Und endlich nehme ich meine Gefangenen mit fort und lasse sie bestrafen, oder ich hänge sie an die Rahe auf, und einen jeden dazu, der mir und meinem Schiff mit der Waffe in der Hand auf Schußweite nahe kommt Du dünkst dich ein großer Herr zu sein, in meinem Vaterland ist der geringste Schreiber besser unterrichtet als du. Bei uns wird jeder Fremde mit Ehrerbietung behandelt, selbst wenn er tiefer steht als wir, denn wir wünschen, daß man uns als höfliche und gastfreundliche Leute kennenlernt. Ihr aber empfangt uns mit Waffen in der Hand und mit Schimpfworten. Es muß einmal einen geben, der sich nicht einen Hund schimpfen läßt, und dieser Mann bin ich! Du weißt jetzt was ich verlange, und ich hoffe, daß du tust, was ich von dir fordere. Ich scherze nicht mit euch.«
Als der Kapitän ausgesprochen hatte, erhob er sich und ging nach seiner Kajüte. Vorher jedoch gab er den leisen Befehl, den Gouverneur durch Herbeischaffung von Kugeln, aller Art von Munition und Waffen einzuschüchtern.
Bereits nach kurzer Zeit sandte der Gouverneur einen der Matrosen zu ihm, um ihn zu milderen Forderungen zu bewegen, er gab jedoch die Antwort, daß er vor der angegebenen Zeit von einer Viertelstunde nicht zu sprechen sei, dann aber nur durch seine Geschütze reden werde.
Die Zeit verging, und als er auf das Deck trat und von dem Steuermann erfuhr, daß der Gouverneur zu allem bereit sei, nur nicht zur schriftlichen Abbitte, befahl er: »Gib seinem Haus sofort eine Kugel!« und nahm, während der Steuermann sich erhob, um diesem Befehl Folge zu leisten, wie früher Platz. Der Araber ließ ihm jetzt durch seinen Dolmetscher seine Meinung zu erkennen geben, hatte aber noch nicht ausgesprochen, so fiel er ihm in bestimmtem Ton in die Rede: »Ich habe dir meine Forderungen gesagt; die Frist, die ich dir gegeben habe, ist verflossen. Deiner Person soll zwar nichts Böses geschehen, du darfst unangefochten das Schiff verlassen, aber da, blicke hin!«
Der Gouverneur sah sich um, und zwar gerade noch zur rechten Zeit, um den Schuß des Steuermanns aufblitzen zu sehen. Beim Krachen desselben sprang er erschrocken auf, und als er die Verwüstung bemerkte, welche die Kugel anrichtete, rief er:
»Halt ein! Ich werde tun, was du verlangst!« – »Gut!« sagte der Kapitän. »Hast du die Papiere bei dir, die dir der Hafenmeister von mir gebracht hat?« – »Ja.« – »Gib sie heraus!«
Das geschah, und nun fuhr der Kapitän fort:
»Den Hafenzoll werde ich bezahlen, aber weiter nichts. Geschenke erhältst du nicht, denn du hast sie verscherzt. Ich werde dir sofort Papier holen lassen, damit du die Entschuldigung schreiben kannst.« – »Ich werde sie in meiner Wohnung schreiben«, warf der Mann listig ein. – »Nein, du wirst sie hier schreiben und sogar dazufügen, daß du mir nichts Hinderliches oder gar Schädliches in den Weg legen willst. Erweist du dich unehrlich, so wird ein jeder erfahren, was mit dir geschehen ist. Meine Gefangenen aber liefere ich dir erst kurz vor meiner Abreise aus; sie bleiben als Geiseln bei mir, und ich werde dann bei ihrer Bestrafung zugegen sein.«
Der Gouverneur sah, daß der Steuermann wartend bei der bereits wieder geladenen Kanone stand. Er mußte einwilligen und sagte:
»Ich werde tun, was du verlangst, aber hättest du dein Schiff durchsuchen lassen, obgleich ich nicht dein Herr bin, so wäre dies alles nicht geschehen.« – »Ich hätte dich dadurch als meinen Herrn anerkannt. Weißt du nicht, daß es für eine Schande gilt, sein Schiff von einem Fremden durchsuchen lassen zu müssen?« – »Man hat nur sehen wollen, ob du die entflohenen Sklaven bei dir hast.« – »Waren deine Sklaven so wertvoll, daß du dich ihretwegen einer solchen Gefahr aussetztest?« – »Sie gehören nicht mir.« – »Ah! Wem sonst? Der Mann, dem sie gehörten, muß dir sehr wert sein!« – »Sie gehörten dem Sultan von Harrar!« – »Pah! So sind es doch nur wertlose Kerle gewesen!« meinte der Kapitän wegwerfend. – »Nein. Es waren zwei weiße Christen und eine junge, schöne Christin, die herrlich sein soll wie die Bergspitze in der Morgenröte.«
30. Kapitel
Der Gouverneur beging mit seinen Eröffnungen über die entflohenen weißen Sklaven eine große Unvorsichtigkeit, denn der Kapitän wurde aufmerksam. Weiße Christen, also Europäer! sagte er sich. Vielleicht galt es hier, ein Bubenstück zu hintertreiben, darum fragte en
»Weißt du, aus welchem Land diese Leute waren?« – »Ja. Man nennt es Espania.«
Espania, also Spanien! Der Kapitän fand seine Vermutung bestätigt.
»Und woher war die Sklavin?« fragte er weiter. – »Das weiß der Sultan nicht.« – »Welche Sprache redet sie?« – »Diejenige, die der eine Gefangene redete. Sie haben den Sultan gebunden und seine ganze Schatzkammer ausgeraubt Sie haben ferner seine Kamele genommen und sind mit zwei Somali entflohen, die jedenfalls ihre Führer und Beschützer gewesen sind. Am anderen Morgen haben die Diener den Sultan gefunden und von seinen Banden befreit« – »Was hat er dann getan?« – »Er hat sogleich eine große Menge Krieger zur Verfolgung ausgesandt« – »Wohin?« – »Nach der Küste, denn die Flüchtlinge hatten keine andere Gelegenheit zu entkommen, als nur durch ein Schiff, das sie zufällig an der Küste treffen konnten. Der ganze Meeresstrand ist besetzt. Der Sultan hat seinen Wesir nach Berbera geschickt, er selbst aber ist zu mir nach Seila gekommen. Er ist sehr mächtig; man muß tun, was er will, sonst würde er sich an uns rächen.« – »Sind die mitgenommenen Schätze groß?« – »Viel Gold, schöne Kleider und Sachen und dann Edelsteine, die viele Millionen kosten. Man kann ein ganzes Land dafür kaufen.« – »So sind die Sklaven wohl entkommen?« – »Nein. Sie haben sich zwar die besten und schnellsten Kamele geraubt und infolgedessen die Küste eher erreicht als ihre Verfolger, doch wissen wir ganz genau, daß sich in der letzten Zeit kein einziges Schiff hat sehen lassen. Es herrschte ein starker Südwind, der für unsere See so gefährlich ist, daß jedes Schiff sie meiden muß, und um ganz sicher zu gehen, habe ich die meisten meiner Schiffe ausgesandt, um zu kreuzen. Sie werden die Flüchtlinge treffen, wenn diese ein Fahrzeug gefunden haben oder noch finden sollten.«
Der Kapitän blickte nachdenklich vor sich nieder. Es ging ihm ein Gedanke durch den Kopf. Die beiden Männer waren Spanier, das Mädchen jedenfalls auch. Wie waren sie in die Hände des als so grausam verrufenen Sultans von Harrar gekommen? Klug, mutig, ja, verwegene und umsichtige Männer waren sie sicher, also wohl nicht von gewöhnlichem Stand. Sie befanden sich jedenfalls in einer höchst schlimmen Lage, und vielleicht war es möglich, sie aus derselben zu befreien. Als Christ und als wackerer, gutmütiger Deutscher fühlte der Kapitän die Verpflichtung zu versuchen, ob er nicht etwas für sie tun könne. Darum fragte er in ziemlich gleichgültigem Ton:
»Und ihr habt gar nichts über sie erforschen können? Ihr habt gar keine Spur von ihnen gefunden?«
Das Gesicht des Gouverneurs nahm einen boshaften Ausdruck an, seine Augen blitzte heimtückisch, und im Ton wilder Befriedigung antwortete er:
»Eine Spur haben wir nicht gefunden, sondern etwas viel Besseres.« – »Was?« – »Sage erst, daß du sie nicht bei dir hast!« – »Nein. Ich habe gar nichts von ihnen gewußt.« – »Ist dies wahr?« – »Vollständig wahr.« – »Kannst du es mir beschwören?« – »Ich schwöre es dir.« – »Gut, ich will dir Glauben schenken und dir also sagen, daß wir einen der beiden Somali gefangen haben, welche die Flüchtlinge begleiten.« – »Ah!« – »Ja. Ich sandte meine Krieger aus, die ganze Küstengegend zu durchforschen. In der Nähe des Elmasberges, da, wo er sich zur See absenkt, fanden sie einen jungen Somali. Sie überraschten ihn, als er an einer Quelle ausruhte. Er fand keine Zeit, zu entfliehen, obgleich er ein ausgezeichnetes Kamel ritt, und wurde gefangen, obgleich er sich wie ein Teufel verteidigte und sogar mehrere meiner Krieger verwundete. Sie fragen ihn aus; er aber antwortete nicht, und auch als sie ihn zu mir hierher nach Seila brachten, hat er mir noch kein Wort geantwortet« – »So weiß er nichts von den Flüchtlingen!« – »O doch! Der Sultan von Harrar hat ihn sogleich erkannt; er ist der jüngere der beiden Somali, die Vater und Sohn waren. Und auch in dem Kamel hat der Sultan eines seiner Tiere erkannt Es ist demselben das Zeichen in die Ohren geschnitten.« – »Ah! So muß man ihn so lange fragen, bis er antwortet.« – Er spricht kein Wort. Aber morgen soll er gemartert werden, bis er redet!« – »Und wenn er lieber stirbt, als daß er spricht?« – »So wird er in die Hölle fahren, und wir wissen nicht was wir tun sollen!« – »Ihr werdet euch vergebens Mühe geben, denn eure Krieger taugen nichts und eure Schiffe noch weniger.« – »Willst du mich beleidigen?« – »Nein. Aber du hast gesehen, daß ich dir und ganz Seila überlegen bin, obgleich wir nur vierzehn Männer sind. Wie wollt ihr die Flüchtlinge fangen, wenn sie ein Fahrzeug gefunden haben? Habt ihr solche Waffen und Kanonen wie ich? Habt ihr ein solches Schiff wie ich, das so schnell segelt, daß ihm kein Flüchtling entkommen kann? Ich wiederhole es: Ihr werdet sie nicht fangen!«
Der Gouverneur blickte nachdenklich zu Boden. Die Gründe des Kapitäns schienen ihm einzuleuchten. Er hatte ja selbst erfahren, wie klug, tatkräftig und umsichtig derselbe aufgetreten war. Darum sagte er zustimmend:
»Ja, wenn wir nur ein solches Schiff hätten, wie das deinige!« – »Ihr habt es aber nicht!« meinte der schlaue Deutsche, ihn heimlich beobachtend. – »Oder so kluge Leute, wie du hast!« – »Ja, auf meine Männer kann man sich verlassen. Ich wollte wetten, daß ich diese Flüchtlinge fangen würde, wenn ich mich damit befassen wollte.« – »Der Sultan hat einen großen Preis auf sie gesetzt Zwanzig starke Kamele mit Kaffee beladen.« – »Himmel! Das ist ja ein Reichtum!«
Über das Gesicht des Arabers glitt ein Zug häßlicher Habgier, und diese nahm seine Klugheit und Vorsicht so gefangen, daß er ausrief:
»Wieviel von diesem Preis verlangst du, wenn es dir gelingt sie zu fangen?« – »Wer sagt dir denn, daß ich Lust habe, mich mit ihnen abzugeben?« – »Du wirst ja den Preis mit gewinnen.« – »Oh, er würde ganz mein sein!« – »Aber du würdest mir doch einen Teil davon geben, da ich es dir ja erst erzählt habe!«
Da stimmte der Deutsche ein sehr gut geheucheltes Lachen an und erwiderte:
»Bah, ich bin reicher als du, ich brauche deinen Kaffee gar nicht!« – »Auch nicht die Kamele?« – »Nein. Ich bin Seemann. Was sollen sie mir nützen!« – »Du kannst sie ja verkaufen.« – »Ich habe dir bereits gesagt, daß ich reich genug bin! Aber ich würde es mir zum Spaß machen, die Entflohenen aufzusuchen.« – »Tue es, tue es!« rief da der Araber, dem es gewaltig in die Augen stach, daß er den ganzen Preis bekommen sollte, ohne dabei etwas tun zu müssen. – »Es geht nicht«, entgegnete der Deutsche im Ton des Bedauerns. »Ich muß hierbleiben, um meine Ladung zu verkaufen.« – »Oh, die hast du in einigen Stunden verkauft, wenn ich es will.« – »Ah! Das ist unmöglich!«
Der Kapitän konnte so etwas nicht glauben, aber wenn es dennoch möglich war, so erwuchs ihm neben dem Erfolg in Beziehung auf die flüchtigen Spanier noch ein zweiter, ungeheurer Vorteil. Darum fragte er:
»Wie willst du dies anfangen?« – »Es sind vier große Karawanen da aus Abessinien, Dankeli, Efat und Gurage. Ich selbst brauche viel, die Bewohner von Seila auch, und der Sultan von Harrar würde sehr viel kaufen, nur daß du fahren könntest.« – »Ich denke, er ist jetzt arm, weil ihm der Schatz geraubt worden ist?« – »Er hat viel Silber bei sich, das die Spanier nicht mitgenommen haben. Auch hat er den Bewohnern von Harrar alles Geld genommen. Was ihnen gehört, ist sein Eigentum, und er braucht ja viel Gold und Silber, um die Verfolgung bezahlen zu können.« – »Und womit bezahlen die Karawanen?« – »Mit Elfenbein und Butter. In Seila zahlen wir jetzt mit Perlen, die an der Küste gefischt werden. Wenn ich befehle, daß nur heute von dir gekauft werden kann, so hast du bereits heute abend keine Ladung mehr.«
Das stach dem Kapitän bedeutend in die Augen. Zunächst war es ja ein ganz außerordentlicher Vorteil für ihn, an einem einzigen Nachmittag verkaufen zu können, anstatt wochen– oder monatelang hier zu liegen oder von einem Hafen zum anderen fahren zu müssen, und sodann waren ihm auch die angebotenen Tauschartikel höchst willkommen. Elfenbein und Perlen, hier so billig, hatten in Deutschland einen hohen Wert, und die Butter, die er hier erhielt, konnte er zu guten Preisen in Ostindien losschlagen, er brauchte nur nach Kalkutta zu segeln. Darum sagte er
»Wird der Sultan zustimmen?« – »Sogleich! Du mußt nur selbst mit ihm sprechen. Ich werde dich ihm empfehlen!«
Aber jetzt erst schien dem Gouverneur der Gedanke zu kommen, den er längst schon hätte haben sollen. Er fragte nämlich mit besorgtem Ton:
»Aber du bist ja auch ein Christ, wie die Spanier! Wohnt ihr in einem Land?« – »Nein. Es ist ein sehr großes Reich dazwischen.« – »Aber ihr habt eine Religion?« – »Nein, wir glauben anders als sie. Sie sind Katholiken, wir aber Protestanten.« – »Was heißt das?«
Da fiel dem Kapitän ein trefflicher Vergleich ein. Er antwortete:
»Das ist wie bei euch die Sunniten und Schiiten.« – »Ah, da darf ich keine Sorge haben!« sagte der Gouverneur beruhigt. »Wir Sunniten hassen die Schiiten mehr als die Ungläubigen, ihr haßt euch auch, und so sind wir deiner sicher. Ich werde mich sogleich aufmachen, um mit dem Sultan zu sprechen und den Befehl des Verkaufs zu geben.« – »Ja, aber vorher wirst du die Abbitte unterschreiben.«
Das war dem Araber außerordentlich unlieb. Er sah sich gezwungen, sich selbst zu blamieren, dies behagte ihm nicht, daher fragte er:
»Willst du mir dies nicht erlassen?« – »Jetzt nicht. Aber das will ich dir versprechen, wenn ich mit dir zufrieden bin, so gebe ich dir die Schrift zurück und will auch nicht auf die Bestrafung deiner Diener dringen. Du siehst, daß ich es gut mit dir meine, ich hoffe, daß ich mich nicht in dir täusche!«
Diese Zugeständnisse erregten die Freude des Arabers in so hohem Maße, und die Hoffnung, zwanzig Ladungen Kaffee nebst den Kamelen zu erhalten, nahm ihn so sehr ein, daß er ausrief:
»Ich bin dein Freund! Wie ist dein Name?« – »Ich heiße Wagner«, antwortete der Gefragte. – »Dieser Name ist sehr schwer auszusprechen, fast geht dabei die Zunge auseinander, aber dies soll nichts an unserer Freundschaft ändern. Willst du nicht mit mir nach Seila fahren?« – »Warum?« —»Du sollst selbst mit dem Sultan von Harrar sprechen!«
Dies war eigentlich ein ganz annehmbarer Vorschlag, der Kapitän konnte sich dabei den Somali ansehen und ihm ein Zeichen geben. Aber wie stand es mit der persönlichen Sicherheit?
»Werde ich unbeschädigt zurückkehren können?« fragte er darum. – »Ich schwöre dir bei Allah, bei dem Barte des Propheten und bei allen heiligen Kalifen, daß du als freier Mann kommen und gehen darfst und daß ich jeden töten lassen werde, der dich beleidigt. Du kannst deine Waren ohne Furcht nach der Stadt schaffen lassen und dort verkaufen.« – »Nein, das tue ich nicht, denn es könnten nicht alle Käufer so ehrlich sein wie du. Ich lasse die Kisten und Pakete auf das Deck schaffen und öffnen, und nur immer zehn Männer dürfen das Schiff besteigen und sich die Waren ansehen, die ich nicht im einzelnen, sondern im ganzen verkaufen werde. Ich werde dir Papier senden und mich vorbereiten, mit dir an das Land zu gehen, während du schreibst.«
Der Kapitän gab dem Steuermann die nötigen Befehle und trat in seine Kajüte. Er hatte da zweierlei zu tun. Erstens kleidete er sich um und behing sich mit einer ganzen Menge von Waffen, denn er wollte den Eindruck eines vornehmen Mannes machen. Und sodann besaß er ein arabisches Wörterbuch, das er sich angeschafft hatte, um den Dolmetscher einigermaßen kontrollieren zu können. In diesem blätterte er jetzt, indem er halblaut vor sich hinmurmelte:
»Wer doch diese Sprache verstände! Jetzt muß ich die Wörter mühsam zusammensuchen. Was heißt denn eigentlich ›ich‹? Ah, da steht es! Ich heißt ana. Und ›bin‹? Das finde ich nicht, aber hier steht eida, das ›auch‹ bedeutet. Und ›Christ‹ heißt nassrani. Wenn ich also sage: ›Ana eida nassrani‹, so heißt das: ›Ich auch ein Christ‹, und der Somali wird sofort bedenken, daß ich ihn und die anderen retten will. Er wird dann Hoffnung haben. Ah, was heißt ›Hoffnung‹? Hier steht es: amel. Wenn es mir möglich ist, befreie ich ihn, das kann nur des Nachts geschehen. Hm! Hier steht nossf el leel ist Mitternacht. Gut, das schreibe ich nieder, obgleich es mir schwerfallen wird, diese arabischen Buchstaben nachzumalen.«
Er nahm einen kleinen Zettel und schrieb darauf von rechts nach links: »Ana eida nassrani – amel – nossf el leel.«
»So«, brummte er dann vergnügt. »Das heißt auf deutsch und frei übersetzt: ›Ich bin auch ein Christ, habe Hoffnung, ich komme um Mitternacht!‹ Wenn es mir gelingt, dies dem Kerl zuzustecken, so wird er mich verstehen. Wagner, Wagner, wenn das deine Alte daheim wüßte, daß du dich in einen so gefährlichen Roman verstrickst, um so eine wunderschöne Sklavin zu befreien! Na, man hat ein gutes Herz, man hat einen passablen Kopf, und man hat ein Paar tüchtige Fäuste, das ist die Hauptsache!«
Der Kapitän rollte den Zettel ganz klein zusammen, steckte ihn ein und kehrte dann auf das Deck zurück, wo der Gouverneur bereits seiner wartete.
Er ließ sich das angefertigte Schriftstück vorlesen und übersetzen, es erhielt seinen Beifall, und so gab er es dem Steuermann zur einstweiligen Aufbewahrung. Dieser, der ihm mehr Freund als Untergebener war und sich darum auch du mit ihm nannte, sagte in besorgtem Ton zu ihm:
»Du begibst dich in die größte Gefahr. Wie nun, wenn man dich gefangennimmt!« – »Das tut man sicher nicht! Der Gouverneur hat geschworen, und ein Mohammedaner bricht seinen Schwur niemals.« – »Wann kommst du wieder?« – »Das weiß ich nicht« – »Nun, ich denke, daß der Besuch in anderthalb Stunden gemacht sein kann.« – »Ich auch.« – »Nun wohl! Bist du in zwei Stunden nicht zurück, so bombardiere ich die Stadt« – »Dasselbe wollte ich dir sagen. Und bin ich heute abend noch nicht zurück, so hängst du unsere Gefangenen auf, einen neben den anderen.« – »Willst du keine Begleitung mitnehmen?« – »Nein. Es heißt zwar im Orient: Je größer die Begleitung, desto vornehmer der Herr, aber die Kerle könnten wahrhaftig denken, daß ich mich fürchte. Und übrigens brauchst du die Leute hier nötiger als ich. Verkaufen kannst du allerdings erst nach meiner Rückkehr, denn ich muß den Dolmetscher mitnehmen.«
31. Kapitel
Nachdem der Kapitän noch einiges andere angeordnet hatte, stieg er mit dem Gouverneur und dem Dolmetscher in das Boot. Die Krieger des ersteren, die in ihren Kähnen noch immer in der Nähe hielten, wunderten sich nicht wenig, als sie den Feind, den sie hatten vernichten wollen, so ganz ohne Furcht und ohne alle schützende Begleitung mitten unter sich erblickten. Sie sagten aber nichts und folgten in ihren Fahrzeugen nach der Stadt.
Dort stand vor dem Nordtor der Tragsessel, in dem der Gouverneur herbeigekommen war, er verschmähte jedoch einzusteigen, um seinen Gast nicht zu beleidigen, und ging darum zu Fuß mit ihm durch die schlechten, unansehnlichen Gassen der Stadt.
Überall standen Leute, die den Fremden mit finsteren Blicken betrachteten. Sie sahen an seiner reichen Kleidung, daß er der Befehlshaber des Fahrzeuges sei, das eine ihrer Moscheen zertrümmert hatte, und wünschten ihn dafür zur Hölle.
Als sie das Gebäude erreichten, in dem der Gouverneur wohnte, sah der Kapitän erst deutlich, welche Wirkung seine Kugeln gehabt hatten. Nur das Erdgeschoß war gut erhalten. Sie traten in dasselbe ein, und der Araber führte den Deutschen nach einem Zimmer, in dem sich neben einigen Teppichen auch ein Ding befand, das einem Stuhl ähnlich sah. Darauf mußte sich Wagner setzen.
Auf Befehl des Herrn wurden Pfeifen und Kaffee gebracht. Der Gouverneur schien sich zunächst dem gemächlichen Genuß dieser Dinge hingeben zu wollen, doch der Kapitän warnte ihn, indem er fragte:
»Wann werde ich den Sultan sprechen können?«
Der Dolmetscher, der diese Frage übersetzte, saß auf einer Bastmatte und hatte auch eine Pfeife nebst Kaffee erhalten.
»Nachdem wir uns ausgeruht haben, wenn es ihm beliebt.« – »Ah, also wenn es ihm beliebt? So wünsche ich, daß es ihm recht bald beliebt, sonst könntest du es bereuen.« – »Warum?« – »Weil meine Leute wieder auf die Stadt schießen und unsere Gefangenen aufhängen werden, wenn ich nicht bald zurückkehre.«
Das wirkte auf der Stelle. Der Gouverneur sprang sofort erschrocken von seinem Teppich auf, blickte nach oben, ob da vielleicht die Kugeln hereinplatzen, und erwiderte:
»In deinem Land muß es sehr entschlossene und vorsichtige Männer geben! Gedulde dich ein weniges. Ich werde zum Sultan gehen und ihm von dir erzählen.«
Damit entfernte sich der Gouverneur. Der Dolmetscher aber setzte seine Tasse an die Lippen, leerte sie, blickte den Deutschen mit bewunderndem Kopfschütteln an und sagte:
»Solch ein Mann wie du ist mir noch nicht vorgekommen!« – »Warum?« – »Weißt du nicht, daß du dich in der Höhle des Löwen befindest und daß die ganze Bevölkerung von Seila über deinen Tod erfreut sein würde, weil du eines ihrer Heiligtümer geschändet hast?« – »Dieser Löwe sieht mir nicht sehr gefährlich aus!« – »Du hast es verstanden, ihn zu zähmen, aber seine Wildheit kann in jedem Augenblick erwachen. Und der Sultan von Harrar ist ein Tiger.« – »So werde ich mich in einigen Minuten in einer bedeutenden Menagerie befinden: der Gouverneur ein Löwe, der Sultan ein Tiger und du ein Hase.« – »Ich darf nicht über deinen Spott zürnen, denn du bist jetzt mein Gebieter, weil du mich bezahlst, aber auch mein Leben befindet sich in Gefahr. Das Schicksal, das dich trifft, habe ich als dein Dolmetscher zu teilen.« – »Nun, so sei froh, du schwebst in keinerlei Gefahr.«
Sie wurden von einem Schwarzen bedient, der ihre Tassen füllte und ihnen neue Pfeifen reichte, bis der Gouverneur zurückkehrte.
»Komm«, sagte dieser, »der Sultan erwartet dich.« – »Was hat er beschlossen?« – »Er will dich erst sehen.«
Der Kapitän sagte sich, daß der Sultan ein sehr vorsichtiger Mann sein müsse, und ebenso erkannte er, daß es jetzt darauf ankam, einen vorteilhaften Eindruck auf ihn zu machen. Er fühlte zwar keine Furcht, aber es war doch eine Art von Beklemmung, mit der er jetzt dem Gouverneur folgte.
Sie traten in ein größeres Zimmer. Der hintere Teil der Diele desselben war erhöht und mit kostbaren Teppichen besetzt. Darauf saß der Sultan, aus einer langrohrigen Wasserpfeife rauchend. Er warf einen forschenden Blick auf den Kapitän und wandte sich dann an den Dolmetscher.
»Knie nieder, Sklave, wenn ich mit dir spreche!«
Er war es in Harrar gewöhnt, daß seine Untertanen liegend mit ihm sprachen, und hielt es für eine ganz besondere Gunst, wenn er dem Mann erlaubte, nur kniend und nicht auf dem Bauch liegend mit ihm zu reden.
Der Dolmetscher gehorchte und kniete nieder. Wagner, der die arabischen Worte nicht verstanden hatte, sie aber in Verbindung mit der Unterwürfigkeit seines Dieners brachte, fragte diesen:
»Warum kniest du nieder?« – »Der Sultan hat es befohlen.« – »Ah! Wer ist dein Herr?« – »Du.« – »Wem also hast du zu gehorchen?« – »Dir.« – »So befehle ich dir, aufzustehen.« – »Der Sultan würde mich töten lassen.« – »Pah! Vorher jagte ich ihm eine Kugel durch den Kopf. Stehe auf! Wir anderen werden sitzend sprechen, du aber wirst vor uns stehen, das ist Ehrerbietung genug.«
Jetzt erhob sich der Dolmetscher zwar, trat aber zagend einige Schritte zurück, damit ihn das Messer des Sultans nicht erreichen könne, der ihn flammenden Auges anblickte, nach dem Gürtel fuhr, in dem seine Waffen steckten, und fragte:
»Hund, warum stehst du auf? Sofort kniest du nieder, sonst fährt dir meine Kugel durch den Kopf!«
Der Dolmetscher sah zitternd auf den Deutschen und flüsterte ihm zu:
»Er will mich erschießen, wenn ich nicht niederknie.« – »So sage ihm, daß ihn meine Kugel eher treffen werde, als dich die seinige.«
Bei diesen Worten zog der Kapitän den Revolver und richtete ihn nach dem Kopf des Sultans. Dieser erbleichte, ob vor Zorn, ob vor Schreck und Wut, das war nicht zu sagen.
»Was meint dieser Ungläubige?« fragte er den Dolmetscher. – »Daß dich, ehe du deine Pistole ziehst, seine Kugel getroffen haben wird«, war die Antwort.
Da nahm das Angesicht des Sultans einen ganz unbeschreiblichen Ausdruck an. So hatte noch keiner mit ihm zu sprechen gewagt.
Aber die Haltung des Deutschen war eine so entschlossene, daß der Sultan doch die Hand vom Gürtel nahm und ihn nach einer kurzen Pause fragen ließ:
»Warum verbietest du, daß dieser vor mir kniet?« – »Weil er mein Diener ist, nicht der deinige«, antwortete der Kapitän. – »Weißt du auch, wer ich bin?« – »Ja, denn ich sollte zum Sultan von Harrar geführt werden.« – »Nun, so sieh mich an, der bin ich.«
Diese Worte wurden in einem Ton gesprochen, als ob der Sprecher erwarte, daß der Deutsche nun sofort vor Staunen und Demut niederfallen werde, aber dieser antwortete sehr ruhig:
»Und weißt du, wer ich bin?« – »Man hat mir den Befehlshaber eines Schiffes gemeldet, der es gewagt hat, diese Stadt zu beschießen.« – »Nun, so siehe mich an, der bin ich.«
Der Sultan blickte den Deutschen wirklich an, und zwar mit einem Blick, in dem sich ein nicht zu unterdrückendes Staunen aussprach. Einen so furchtlosen Mann, der ihm mit seinen eigenen Worten antwortete, hatte er noch nie vor sich gehabt.
»So bist du Seemann, ich aber bin Sultan eines großen Reiches!« sagte er endlich, um dem Verwegenen doch zu erklären, wen er vor sich habe. – »Dein Reich ist nicht sehr groß«, meinte der Deutsche gleichmütig. »Ich habe mit größeren und berühmteren Männer gesprochen, als du bist. Du bist ein Herr von Sklaven, rühmlicher aber ist es, der Herrscher von freien Männern zu sein. Ich verbiete meinem Diener, vor dir zu knien. Diesen Befehl mußt du respektieren, wenn du nicht haben willst, daß ich mir Achtung erzwinge.«
Der Kapitän setzte sich bei diesen Worten ganz bequem neben dem Sultan nieder und legte seine zwei Revolver vor sich hin. Das war genug gesagt
Der Gouverneur hatte bis jetzt neben ihm gestanden. Er hätte es nie gewagt, sich ohne ganz besondere Aufforderung so nahe zu dem Tyrannen zu setzen. Jetzt aber fühlte er sich durch das Beispiel des Deutschen ermutigt, so daß auch er sich niederließ, doch in einiger Entfernung von den beiden.
Der Sultan schien vor Staunen die Sprache verloren zu haben. Er wußte offenbar nicht wie er sich bei dieser Szene verhalten sollte. Der Deutsche imponierte ihm, besonders beängstigten ihn die beiden Revolver desselben. Ein Mann, der eine ganze Stadt so furchtlos bombardiert, der ist auch imstande, einen Nachbarn, der ihm nicht gefällt, niederzuschießen. Er rückte daher unwillkürlich von ihm weg und sagte:
»Wärst du in Harrar, so ließe ich dich erdolchen.« – »Und wärst du in unserem Reich, so hättest du schon längst den Kopf verloren«, entgegnete Wagner. »Im Abendland pflegt man nämlich den Sultanen, wenn sie dem Volk nicht gefallen, den Kopf abzuschlagen.«
Der Herrscher riß den Mund auf. Seine Augen öffneten sich weit als ob er bereits an den Stufen der Guillotine stehe.
»Warst du auch dabei?« fragte er unwillkürlich. – »Nein, denn ich bin kein Henker. Aber du rauchst, und ich bin gewohnt, mir das nicht zu versagen, was anderen schmeckt. Man gebe mir auch eine Pfeife.«
Der Dolmetscher hatte nie in seinem Leben eine solche Unterhaltung vermittelt, er hatte erst für sich selbst gefürchtet, aber die Furchtlosigkeit des Deutschen, unter dessen Schutz er sich von Sekunde zu Sekunde sicherer fühlte, stärkte auch seinen Mut und so übersetzte er dessen Reden wörtlich, obgleich er ihnen ein etwas höflicheres Gewand hätte geben können.
Der Gouverneur aber befand sich wie im Traum. War es ihm vorhin unglaublich erschienen, daß ein Ungläubiger gegen den Beherrscher von Seila in Wagners Weise auftreten könne, so war es ihm jetzt, als er dessen Verhalten gegen den Sultan sah, als müsse er vor Angst sich verkriechen. Er klatschte in die Hände und befahl dem gleich erscheinenden Schwarzen, Pfeifen zubringen.
Als Wagners Pfeife in Brand gesteckt war, tat er zunächst behaglich einige lange Züge und sagte darauf zu dem Sultan:
»Jetzt kannst du beginnen. Wir wollen von unsere Angelegenheit sprechen!«
Das klang gerade so, als ob er unter den drei anwesenden Herren der höchste und vornehmste sei, der zu bestimmen habe, was gesprochen werden solle. Aber der Eindruck seiner Person und seines Verhaltens war doch ein solcher, daß der Sultan vergebens nach einer Zurechtweisung suchte. Darum erwiderte er:
»Der Gouverneur hat mich von deiner Bitte unterrichtet …« – »Von meiner Bitte?« fragte Wagner mit gut gespieltem Erstaunen. »Ich habe keine Bitte ausgesprochen, sondern ich dachte, einen Wunsch von dir zu hören.«
Auch diese Wendung hatte der Sultan nicht erwartet, der sich jetzt diesem Mann gegenüber so befangen fühlte, wie er es gar nicht für möglich gehalten hätte. Aber der Deutsche hatte doch das Richtige getroffen. Einem Tyrannen kann man nur durch die größte Herzhaftigkeit imponieren, denn ein Tyrann ist im Grunde seines Herzens ein Feigling. So empfand auch der Herrscher von Harrar dem Kapitän gegenüber eine mit Furcht gepaarte Achtung, aus der heraus sich ein schnelles Vertrauen entwickeln wollte, denn er sagte sich im stillen, daß so ein Mann ganz wie geschaffen sei, etwas auszuführen, was anderen nicht gelungen ist. Darum erwiderte er in einem ungewöhnlich milden Ton:
»Ha, ich habe einen Wunsch, aber ich weiß nicht, ob du der Mann bist, ihn zu erfüllen.« – »Probiere es!« sagte der Deutsche einfach. – »Der Gouverneur hat dir alles erzählt?« – »Das weiß ich nicht. Erzähle es mir selbst noch einmal.«
Der Sultan folgte dieser Aufforderung und gab einen Bericht über das, was in Harrar geschehen war, und über die Schritte, die er getan hatte, um die Flüchtlinge in seine Hand zu bekommen. Er verschwieg oder bemäntelte alles, was seinem eigenen Ansehen schaden konnte, aber dennoch sprach aus seiner Darstellung eine Wut, ein Grimm, der sicher zu den raffiniertesten Grausamkeiten griff, wenn die für jetzt Entkommenen das Unglück haben sollten, wieder in seine Hände zu fallen. Als er geendet hatte, fügte er die Frage hinzu:
»Weißt du jetzt genug?« – »Ja«, antwortete Wagner. – »Und hältst du es für möglich, die Flüchtlinge zu erreichen?« – »Ja.« – »Wie? Etwa durch den gefangenen Somali?« – »Nein. Dieser Somali ist ein tapferer Mann, denn er hat viel gewagt. Er wird lieber sterben, ehe er seinen Vater verrät. – »Ich werde ihn zu Tode martern.« – »Das wirst du nicht können, denn er wird sich vorher töten. Ich an seiner Stelle wenigstens würde es tun.« – »Er hat keine Waffen bei sich.« – »Man kann sich auch ohne Waffen töten. Es hat Sklaven gegeben, denen man alles genommen hat, damit sie keinen Selbstmord vollbringen könnten, und die sich doch das Leben genommen haben, indem sie ihre Zunge verschluckten. Und wenn er dies auch nicht tun wird, glaubst du etwa, daß er sich mit seinem Vater und den beiden anderen nicht, bevor er von ihnen ging, um nach einem Schiff auszusehen, genau besprochen hat, was er tun soll, wenn er in eure Hände fällt? Bittet ihn, überredet ihn oder martert ihn, er wird doch nur das tun, worüber er mit ihnen übereingekommen ist« – »Und was wird dies sein?« – »Das weiß ich nicht da ich ihn nicht gesehen habe und ihn nicht kenne. Er kann trotz seiner gegenwärtigen schlimmen Lage noch vieles tun, um euch zu entkommen. Er kann zum Beispiel aus seinem Gefängnis entspringen.« – »Das gelingt ihm nicht« – »Warum nicht? Kann er nicht Helfershelfer finden? Sind keine Somali in der Stadt? Oder kann er euch nicht scheinbar versprechen, euch zu den Flüchtlingen zu führen, und unterwegs entspringt er euch. Oder man stellt euch dann einen Hinterhalt?« – »Wie wäre das möglich?« – »Haben die Spanier nicht deine Schätze bei sich? Können sie nicht Leute genug anwerben und bestechen, um dich zu überfallen?«
Der Sultan schien nachdenklich zu werden. Er blickte eine Zeitlang vor sich nieder und erwiderte:
»Daran habe ich noch nicht gedacht Du bist in der Tat so klug, daß du der Wesir eines Sultan werden könntest. Ich meinte, bereits alles getan zu haben!« – »Und das Einfachste, das Leichteste, das Sicherste hast du nicht getan. Du sagt daß die Flucht nur dann gelingen könne, wenn die Entflohenen an der Küste ein Schiff treffen, auf dem sie Aufnahme finden. Nun, warum hast du ihnen denn nicht Aufnahme auf einem solchen Schiff verschafft?«
Der Sultan blickte den Kapitän mit dem größten Erstaunen an.
»Bist du toll!« rief er. »Ich selbst, dem sie entflohen sind, dessen Schätze sie geraubt haben, der ihnen nachjagt, um sie zu fangen, dem sie sogar die schönste Sklavin entführt haben, sollte ihnen zu weiterer Flucht behilflich sein?« – »Wer sagt denn das?« fragte der Deutsche mit überlegenem Lächeln. »Hast du mich denn wirklich nicht verstanden? Ich an deiner Stelle hätte mich schleunigst in ein Fahrzeug gesetzt und wäre längs der Küste hingesegelt. Sie wären gekommen und hätten um Aufnahme gebeten, ich aber hätte mich versteckt. Sobald sie aber mit den Schätzen das Schiff bestiegen hätten, wäre ich hervorgekommen und hätte mich ihrer bemächtigt.«
Da sprang der Sultan, ganz gegen die gewöhnliche Kaltblütigkeit der Orientalen, auf und rief:
»Allah il Allah! Du hast recht! Du bist klüger als wir alle!«
Auch der Gouverneur machte ein Zeichen der Zustimmung und der Bewunderung.
»Wo sind unsere Sinne gewesen, daß wir nicht auf diesen Gedanken gekommen sind!« sagte er. »Ja, du bist nicht nur furchtlos und tapfer, sondern auch listig und klug!« – »Wir werden dies noch tun und zwar sogleich!« rief der Sultan. »Nicht sogleich; überlegt es euch erst reiflich!« meinte der Deutsche. – »Warum? Du hast ja recht! Auf diese Weise müssen wir sie sicher fangen.« – »Fast ist es jetzt zu spät dazu. Sie haben den jungen Somali als Boten ausgesandt; er ist nicht wiedergekommen; sie wissen also, daß er gefangen ist, und werden sehr vorsichtig sein. Ferner haben sie eure Schiffe bemerkt. Kennen die Somali die Schiffe des Gouverneurs?« – »Ja«, antwortete der letztere. – »Gut, so wissen auch die Flüchtigen, daß sie von diesen Schiffen verfolgt werden. Sie werden sich keinem derselben nähern.« – »Du hast abermals recht«, sagte der Sultan erregt. »Ja, du bist weise und unternehmend. Gib uns einen guten Rat. Wenn wir sie bekommen, so will ich dir dreißig Kamele bezahlen mit ihren vollen Ladungen, anstatt zwanzig.«
Das Herz des Gouverneurs hüpfte bei diesem Versprechen vor Freude. Er blickte den Deutschen voller Erwartung an, was dieser sagen werde.
»Ist dies wahr? Wirst du dein Versprechen halten?« fragte Wagner. – »Ja, ich schwöre es dir!« – »So will ich dir meinen Rat geben: Das Schiff, auf dem du sie suchst, muß ein fremdes sein, damit sie es nicht fürchten, womöglich ein europäisches. Zu einem solchen werden die Spanier sofort Vertrauen haben, sobald sie es nur sehen.« – »Dein Rat ist gut; er ist der beste, den es geben kann«, entgegnete der Sultan. »Aber wo gibt es ein solches Schiff außer dem deinigen?« – »Er wird es dir geben«, meinte da der Gouverneur mit Wonne im ganzen Gesicht. – »Willst du es wirklich?« fragte der Tyrann. – »Ich werde es tun, aber ich stelle meine Bedingungen. Da wir keine Zeit verlieren dürfen, muß meine Ladung noch bis heute abend verkauft sein.« – »Ich werde dafür sorgen, daß dies geschieht«, sagte der Gouverneur. »Ich habe es dir bereits versprochen und werde mein Wort halten.« – »Ich selbst kaufe von dir so viel, als ich Gold und Silber bei mir habe«, rief der Herrscher von Harrar, der so bald wie möglich wieder zu seinen Schätzen und zu seiner schönen Sklavin kommen wollte. »Was hast du für Waren?«
Der Kapitän zählte nun mündlich alles auf, was er auf seinem Schiff geladen hatte.
»Es ist gut, ich werde kaufen, der Gouverneur wird kaufen, und die Karawanen werden kaufen. Hast du noch Bedingungen?« – »Ja, ich will von dem Preis, den du auf die Wiedererlangung der Flüchtlinge gesetzt hast, nichts haben; aber hier der Gouverneur ist mein Freund, er soll alles erhalten. Du gibst mir ein schriftliches Versprechen, das ich ihm schenke, sobald ich sie gefangen habe.«
Der Gouverneur wäre seinem großmütigen ›Freund‹ beinahe um den Hals gefallen; der Sultan aber konnte eine solche Uneigennützigkeit gar nicht begreifen. Ihm schien dies eine reine Unmöglichkeit, darum fragte er
»Habe ich recht verstanden? Du hast gesagt, daß du nichts haben willst?« – »Nichts!« – »Gar nicht?« lautete die womöglich noch erstauntere Frage. – »Gar nichts. Der eine geht gern auf die Jagd, und der andere spielt gern. Meine Leidenschaft aber ist, Flüchtlinge zu fangen. Ich bin belohnt genug durch die Freude, den Fang gemacht zu haben. Darf ich nun meine letzte Bedingung sagen?« – »Sage sie!« – »Ich muß den gefangenen Somali sehen.« – »Warum?« – »Die beiden Spanier werden jetzt seinen Vater auf Kundschaft aussenden. Während mein Schiff an der Küste hingeht, werde ich mit meinem großen Fernrohr diese letztere absuchen und ihn sehen. Jedenfalls sieht der Vater dem Sohn ähnlich. Wenn ich also den Sohn gesehen habe, werde ich den Vater sogleich erkennen.« – »Allah ist groß, und deine Weisheit ist gewaltig!« rief der Sultan. »Du hast es erraten, sie sehen sich sehr ähnlich, man erkennt den einen an dem anderen. Du sollst nun den Gefangenen sehen. Ich selbst werde dich zu ihm führen!« – »Nicht sogleich, sondern erst sollst du uns dein schriftliches Versprechen geben.« – »Das werde ich, und du selbst sollst es mir diktieren. Bringt Pergament, Tinte, Wachs und eine Rohrfeder her! Ich werde schreiben.« – »Warte noch!« sagte der Deutsche. »Wo nimmst du den Kaffee her?« – »Ich sende ihn aus Harrar.« – »Wie lange dauert das?« – »Ich reise hin und die Karawane her. Das dauert mit der Zeit, die ich brauche, um den Kaffee zu erhalten, einen Mondeslauf.« – »Gut, so schreibe.« – Gehorsam tauchte daraufhin der Sultan die Rohrfeder ein und schrieb folgendes Diktat:
»Ich, Ahmed Ben Sultan Abubekr, Emir und Sultan des Reiches Harrar, verspreche bei Allah und dem Propheten, dem Hadschi Scharmarkay Ben Ali Saleh, der da ist Gouverneur der Stadt Seila, einen Mondeslauf, nachdem der Kapitän Wagner die mir entflohenen Leute in seine Gewalt bekommen hat, dreißig Ladungen guten Kaffee nebst den Kamelen, die ihn getragen haben, als Geschenk zu übersenden.«
Er setzte seinen vollständigen Namen darunter, nahm dann das Petschaft, das er am Hals hängen hatte, und drückte es auf das Wachs, das das Siegel bildete.
»So! Bist du nun zufrieden?« fragte er. – »Ja«, antwortete der Deutsche. Und sich an den Gouverneur wendend, fügte er hinzu. »Ich habe vorhin gesagt, daß du dieses Schreiben später von mir bekommen sollst, damit du aber siehst, daß ich die Wahrheit spreche, übergebe ich es dir bereits jetzt.«
Der Gouverneur griff mit beiden Händen zu, so daß Wagner fast gerade hinausgelacht hätte, machte ein vollständig verklärtes Gesicht und rief:
»Ja, du beweist es, daß du ein edler Mann bist. Du bist mein Freund, du bist der Freund der Freunde und der Wohltäter der Wohltäter! Sage mir, was ich tun soll, um deinen Namen zu erheben und deine Güte zu preisen!« – »Ich verlange nichts von dir, als daß du dein Versprechen hältst.« – »In Beziehung auf den Verkauf deiner Ladung?« – »Ja.« – »Ich werde es halten. Ich werde sofort den Befehl geben, daß man bei dir nur bis zum Abend kaufen kann. Ich eile, ich gehe bereits!«
Der Gouverneur erhob sich und stürmte fort. Der Deutsche rief ihm noch nach:
»Sorge auch dafür, daß ich Lebensmittel und Früchte kaufen kann.«
Der Gouverneur hörte zwar diese Worte, aber er nahm sich nicht die Zeit, sie anders zu beantworten, als durch ein Zeichen mit beiden Händen.
Als er verschwunden war, legte der Sultan das Rohr seiner Pfeife beiseite und sagte, nachdem er den anderen noch einmal forschend angeblickt hatte:
»Weißt du, daß ich mich erst beinahe vor dir gefürchtet hätte?«
– »Ich weiß es!« antwortete der Gefragte.
Diese Antwort hatte der Frage denn doch nicht erwartet, darum sagte er:
»Allah ist groß! Also, du hast es gewußt! Du bist ein unerschrockener und ein weiser Mann. Willst du dich nicht zum wahren Glauben bekennen und mit mir nach Harrar gehen, um mein Diener zu sein? Du wirst es zu den höchsten Würden bringen und kannst vielleicht sogar Wesir werden!«
Wagner wiegte den Kopf hin und her und antwortete:
»Ich werde dir das später sagen; jetzt kenne ich dich noch nicht, und du kennst mich nicht« – »Ich kenne dich! Du bist ein Mann, wie ich ihn brauche; ich aber bin Ahmed Ben Sultan Abubekr, der Herrscher von Harrar, das Licht der Fürsten und die Sonne der Sultane. Wer mir dient, der findet Lohn, als ob er Allah selber diente. Jetzt aber komm, ich werde dir den Gefangenen zeigen.« – »Wie heißt er?« – »Murad Hamsadi; aber sein Name wird verlöschen, denn ich werde ihn und sein ganzes Geschlecht ausrotten, sobald ich den Vater gefangen habe. Komm!«
Der Tyrann schritt voran und verließ das Zimmer. Wagner folgte ihm. Sie kamen über einen weiten Hof und traten in einen engeren, der kaum zwanzig Schuh ins Geviert maß. Die Mauern waren ungefähr vier Meter hoch. Kein Mensch war vorhanden, wie Wagner dachte; nur ein alter Binsenkorb stand in der Mitte des Platzes.
»Hier ist er«, sagte der Sultan. – »Wo denn?« fragte der Deutsche, sich vergebens in dem Hof umblickend. – »Da. Nimm den Korb hinweg!«
Der Kapitän tat dies und erblickte nun zu seinem Entsetzen den Gefangenen. Man hatte eine tiefe Grube gemacht ihn hineingestellt und die Grube in der Weise wieder zugefüllt daß nur sein Kopf aus der Erde hervorsah. Trotzdem schien er sich noch bei Kraft und Besinnung zu befinden, denn seine Augen blickten mit einem unendlichen Haß auf den Sultan und mit einem Ausdruck zorniger Neugier auf den Deutschen.
Dieser griff unbemerkt in die Tasche und zog das Papier hervor. Er sah ein, daß er es ihm nicht geben konnte, da es ja dem Gefangenen unmöglich war, seine Arme zu gebrauchen; aber vielleicht konnte ein Augenblick erübrigt werden, ihm die Schrift zu zeigen. Freilich war dies sehr schwer, da außer dem Sultan noch der Dolmetscher zugegen war. Dennoch beschloß Wagner, es zu versuchen. Er hielt das Papier also in der hohlen Hand und klemmte den Daumen ein, um es zu entfalten. Es war so klein, daß es von der Hand vollständig bedeckt wurde.
»Sieh dir den Hund genau an!« sagte der Sultan. – »Willst du nicht versuchen, ob du ihn zum Sprechen bringst?« fragte Wagner. – »Nein, das ist jetzt unnütz. Du wirst seinen Vater und die anderen fangen, auch ohne daß er redet. Dann aber soll er seine Strafe empfangen!« – »Kann er denn nicht aus der Erde heraus? Wenn er sich wendet, wird das Erdreich locker!« – »Er kann nicht, er ist an einen Pfahl gebunden.« – »Wirklich? Mir scheint, als ob er bereits gearbeitet habe.«
Bei diesen Worten beugte sich Wagner vor dem aus der Erde ragenden Kopf nieder, tat, als ob er mit der Linken den Sand untersuche, und hielt dem Gefangenen mit der Rechten das Papier hin, so daß er es lesen konnte, wenn er das Lesen überhaupt verstand. Der Sultan bemerkte davon nichts und erwiderte:
»Die Erde ist fest, sorge dich nicht!« – »Aber wie kannst du ihn ohne Wächter lassen?« – »Am Tag ist keine Wache nötig, des Nachts aber steht ein Krieger bei ihm und ein anderer hier an der Tür. Er kann unmöglich entkommen.« – »So bin ich beruhigt, und wir können gehen.«
Diese letzteren Worte sagte der Kapitän mit großer Befriedigung, denn er erkannte aus dem Blick des Eingegrabenen, daß dieser die Worte gelesen und verstanden habe. Er hatte seinen Zweck erreicht und dem armen Teufel einstweilen Trost und Hoffnung gegeben, die er beide so notwendig brauchte.
In das Zimmer zurückgekehrt, fanden sie den Gouverneur, der ihnen meldete, daß die betreffenden Befehle bereits erteilt seien.
»Ich werde mit auf das Schiff gehen«, sagte der Sultan. – »Ich auch«, erklärte der Herrscher von Seila.
Beide hatten natürlich die Absicht, sich das Beste der Ladung auszusuchen, bevor andere kamen.
»So beeilt euch, denn es ist sehr hohe Zeit«, mahnte Wagner, indem er an seine Uhr blickte.
Und kaum waren diese Worte gesprochen, so krachte ein Schuß, und über den drei Männern erscholl ein fürchterliches Gepolter und Geprassel.
»Allah il Allah, was ist das?« fragte Sultan. – »Man schießt bereits!« rief der Gouverneur. – »Warum?« erkundigte sich der erstere erschrocken. – »Weil die Zeit vorüber ist, und mein Steuermann denkt, daß man mich feindlich empfangen hat. Ich muß eilen, ihn aus dem Irrtum zu reißen!« – »Ja, eile, eile; wir kommen nach!« rief der Sultan.
Der Kapitän verließ nun mit dem Dolmetscher schleunigst das Haus. Draußen auf den Gassen standen erschrockene Männer, die bei seinem Anblick an ihre Messer griffen, ihn aber doch ungehindert gehen ließen. Vor dem Tor angekommen, zog er sein Taschentuch und schwenkte es in der Luft und sogleich hörte er ein lautes Hurra vom Schiff erschallen, und einige Augenblicke später stieß ein Boot ab, um ihn an Bord zu holen.
»Das war eine schlimme Unterredung«, sagte der Dolmetscher. »Im Anfang war es mir um mein und dein Leben bange.« – »Dann aber beruhigtest du dich?« fragte Wagner lachend. – »Ja. Herr, sage mir, ob die Deutschen alle so mutig sind wie du.« – »Alle«, antwortete der Gefragte mit Selbstgefühl, obgleich er sich im stillen sagte, daß dies eine Unwahrheit sei. Aber er als Ungläubiger machte sich kein großes Gewissen daraus, einem »wahren Gläubigen« einmal eine Lüge zu sagen.
Als das Boot an Land stieß, meinte der Bootsmann, der es steuerte:
»Ein Glück, daß Sie kommen, Kapitän! Wir hätten unsere ganze Munition verschossen, um dieses Nest der Erde gleichzumachen. Und die Tauenden waren auch bereits gedreht, an denen die Gefangenen baumeln sollten.« – »Es ist alles gutgegangen«, antwortete Wagner. »Es wird bis zur Nacht und wohl auch noch länger tüchtige Arbeit geben, dafür sollt ihr aber auch eine Extraration haben und, wenn etwas glückt, eine volle Monatslöhnung dazu. Stoßt ab!« – »Hurra, Kapitän Wagner!« riefen die Jungens, während das Boot wie eine Möwe in die Flut hinausschoß.
32. Kapitel
Als Wagner an Bord kam, trat ihm der Steuermann mit einem herzlichen Händedruck entgegen. Man sah ihm die Freude an, die er in diesem Augenblick empfand.
»Gott sei Dank!« sagte er. »Ich gab dich schon verloren!« – »Du hast volle zehn Minuten zu früh geschossen!« – »Das ist hier kein Fehler. Sie haben wenigstens gesehen, daß wir Kerle sind. Und wenn es dir übel ging, konnten diese zehn Minuten dich vielleicht retten. Wie ist es am Land abgelaufen?« – »Ausgezeichnet. Ich werde dir alles später sagen. Jetzt wird der Handel beginnen. Wie steht es mit der Ladung?« – »Da, blicke dich um!«
Der Steuermann sagte dies in einem sehr befriedigten Ton, und er hatte ein Recht dazu, denn das ganze Deck stand voller Kisten und Ballen, die bereits geöffnet waren.
»Ihr seid fleißig gewesen«, nickte der Kapitän freundlich. »Sorge für eine tüchtige Extraration. Bis zum Abend haben wir vielleicht alles verkauft.« – »Also wirklich?« fragte der Steuermann, halb und halb ungläubig. – »Ja. Sieh dort ans Land. Da kommt bereits der Gouverneur.« – »Und wer ist der andere?« – »Der Sultan von Harrar. Sie werden natürlich das Beste für sich nehmen wollen. Wir machen einen Zuschlag von zwanzig Prozent auf unsere Preise und verkaufen nur posten– und ballenweise. Merke dir das!« – »Donnerwetter, das gibt einen guten Handel!«
Mit diesem freudigen Ausruf eilte der Steuermann davon, um seine Pflichten zu erfüllen, die ihn heute mehr als doppelt in Anspruch nahmen.
Als die beiden hohen Herren an Bord erschienen, wurden sie zunächst nach der Kajüte geführt. Sie sollten dort bewirtet werden, doch gaben sie dies nicht zu, da ihre Ungeduld, das Schiff flottzumachen, ihnen eine solche Zeitversäumnis nicht gestattete. Der Sultan hatte einen ganzen Sack von Mariatheresientalern mitgebracht und ein Kästchen Goldsachen, meist Arm– und Fußspangen und Halsketten, die er seinen Untertanen abgenommen hatte. Der Gouverneur zeigte Perlen vor, die jedenfalls auch nicht auf die uneigennützigste Weise in seinen Besitz gekommen waren, und so konnte der Handel beginnen.
Die beiden Männer verlangten das Beste zu sehen. Sie wählten und handelten nicht lange, und als sie ihre Einkäufe in die Boote bringen ließen, sagte sich der Kapitän, daß er einen ganz ungewöhnlichen Profit gemacht habe.
»Siehst du, daß ich Wort gehalten habe?« sagte der Gouverneur zu Wagner, indem er nach dem Strand zeigte. »Dort kommen sie. Wenn du gut auf Ordnung hältst, so wird alles sehr schnell gehen.«
Der ganze Strand war mit Menschen besetzt, die sich Mühe gaben, Kähne zu erlangen, mit deren Hilfe sie ihre Tauschwaren an Bord bringen könnten. In der Nähe der Brigg hielten bereits mehrere Boote, die sich nur noch nicht heranwagten, weil sich der Gouverneur mit dem Sultan an Bord befand.
Der Schuß, den der Steuermann abgefeuert, hatte die Leute zwar zunächst geängstigt, doch ihr Vertrauen war schnell zurückgekehrt, als sie bemerkten, daß die zwei Herren so furchtlos sich auf das Schiff begeben hatten.
»Wann werden wir absegeln können?« fragte der Sultan. – »Das weiß ich nicht genau«, antwortete Wagner. »Ich muß Wind und Flut berücksichtigen. Darf ich einen Boten senden, wenn des Nachts eine günstige Brise eintritt?« – »Sende ihn! Ich werde nicht schlafen, sondern warten.«
Damit verließ er mit dem Gouverneur das Schiff, und die anderen Käufer kamen nun herbei. Jetzt begann ein Leben und Treiben, wie man es hier an Bord noch nie gesehen hatte. Gewöhnlich wird bei Geschäften in diesen Gegenden die Ladung an das Land gebracht, wo dann ein wahrer Jahrmarkt entsteht, der oft wochenlang währt. Hier aber konzentrierte sich alles auf das kleine Deck und auf die kurze Zeit bis zum Abend. Der Dolmetscher hatte fürchterlich zu tun; die anderen ebenfalls, und als es dunkel wurde und die letzten Käufer befriedigt die Brigg verließen, da war fast die ganze Bemannung heiser und dabei fürchterlich ermüdet. Und doch mußte noch tüchtig gearbeitet werden, um die eingetauschten Gegenstände zu stauen und unter Deck zu bringen.
Der Steuermann trat auf das Quarterdeck, um zum ersten Male frei Atem zu holen. Er traf dort den Kapitän, der sich in derselben Absicht hierher zurückgezogen hatte und eine Zigarre rauchte, die ihm vorher versagt gewesen war.
»Das war ein Nachmittag wie noch keiner!« meinte der erstere. – »Und wird wohl auch ein Abend wie noch keiner«, fiel Wagner ein. »Lassen wir jetzt die gewöhnlichen Sachen beiseite. Ich habe anderes mit dir zu besprechen.« – »Ah! Das klingt ja recht wichtig!« – »Ist es auch!« – »So segle los!« – »Hast du einmal einen Roman gelesen?« – »Hm!« brummte der Steuermann verlegen. »Welchen meinst du denn?« – »Nun, irgendeinen!« – »Donnerwetter, den habe ich gerade nicht gelesen!« – »Also gar keinen?« – »Gar keinen! Du wirst es wohl erraten haben. An Bord gibt es andere Arbeit als das Lesen, und am Land halte ich es mit der Kneipe und einem guten Glas. Das Lesen hat mir immer Kopfschmerzen gemacht. Mein Hirnkasten ist sehr zart gebaut.« —
»Das sieht man ihm aber nicht an«, lachte der Kapitän. »Wenigstens weiß ich ganz genau, daß er schon manchen guten Hieb erhalten und auch ausgehalten hat« – »Das ist wahr. Aber das Lesen greift ihn wirklich mehr an, als wenn man mit einem Stuhlbein darauf klopft. Ich hab‘s erfahren.« – »Das ist schade, denn da wirst du mich heute am Ende gar nicht begreifen.« – »Versuche es nur!« – »Nun, da habe ich einmal einen Roman gelesen, der war betitelt: ›Die schöne Karoline oder die verzauberte Kanaille‹, und da …« – »Donnerwetter, der Titel gefällt mir!« fiel der Steuermann ein. »Da war wohl die schöne Karoline eben diese verzauberte Kanaille?« – »Nein, sondern die Kanaille war ihre künftige Schwiegermutter. In diesem Roman kommt eine Prinzessin vor, nämlich die Karoline, die in die Sklaverei geschleppt wird. Dann kommt ein Prinz und rettet sie.« – »Nun, was hat dies heute mit uns zu tun?« – »Sehr viel! Als ich nämlich den Roman las, da dachte ich, daß es doch ungeheuer schön sein müsse, wenn ich auch einmal so eine Karoline retten könnte.« – »Und heiraten!« – »Na, dazu wäre es nun freilich zu spät, denn meine Kanaille habe ich schon. Aber trotzdem muß es schön sein, eine Sklavin zu retten, obgleich man keine Schwiegermutter mehr braucht. Und denke dir, heute hat sie sich gefunden!« – »Wer?« – »Die Karoline.« – »Bist du toll!« – »Nein; ich bin sehr bei Verstand; und den brauche ich auch, denn ich stehe im Begriff, eine gefangene Sklavin zu retten, die aber bereits nicht mehr gefangen ist, sondern erst gefangen werden soll.« – »Das verstehe der Teufel! Ich merke, daß es ein Roman ist, denn die Kopfschmerzen fangen bereits an. Ich hoffe, daß du dich deutlicher erklären wirst!« – »Sogleich! Hast du nicht gehört, was heute morgen der Gouverneur erzählte?« – »Ah! Von den entsprungenen Spaniern und der schönen Sklavin!« – »Ja. Diese werde ich retten. Höre, was ich dir zu sagen habe!«
Wagner berichtete nun, was er erfahren hatte und welche Absichten er hegte. Der Steuermann hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als aber der Kapitän geendet hatte, schlug er mit der Faust auf die Steuerpinne und sagte:
»Der Teufel hole die Schufte, nämlich den Sultan und den Gouverneur! Diese Geschichte geht mich eigentlich ganz und gar nichts an, aber die Spanier müssen tüchtige Kerls sein, um die es jammerschade wäre, wenn sie ihren Verfolgern in die Hände fielen. Ich gehe um Mitternacht mit, um diesen armen Kerl loszumachen.« – »Das ist unmöglich. Du weißt, daß Kapitän und Steuermann in unserer Lage nicht zu gleicher Zeit das Schiff verlassen dürfen. Einer von beiden muß an Bord bleiben.« – »Das ist leider wahr. Du mußt gehen, denn du weißt, wo sich der Somali befindet, und ich muß also bleiben. Aber du willst doch nicht allein gehen?« – »Nein. Ich nehme vier von unseren Kerlen mit. Wir umwickeln die Ruder und machen einen Umweg, um oberhalb der Stadt zu landen. Dort wartet einer bei dem Boot, und mit den anderen werde ich den Weg schon finden.« – »Du brauchst Hacke und Schaufel?« – »Nein; nur den Spaten; denn die Hacke würde zu viel Lärm machen.« – »Und wenn man euch stört und fassen will?« – »So schlagen wir uns durch.« – »Und wenn man euch dennoch festhält?« – »So bombardierst du uns morgen wieder los.« – »Ja, das werde ich tun. Du glaubst also wirklich, daß sich die Flüchtlinge noch an Land befinden und kein Fahrzeug gefunden haben?« – »Ich bin überzeugt davon. Während wir abwesend sind, läßt du die Brigg segelfertig machen. Das übrige wird sich dann von selbst finden.«
Mehr bedurfte es zwischen diesen beiden praktischen Männern nicht; es wußte nun ein jeder, was er zu tun hatte, und sie trennten sich, um wieder an ihre Arbeit zu gehen.
Etwas nach zehn Uhr, als auf der Reede und auch in der Stadt die tiefste Stille herrschte, stieß ein Boot von der Brigg ab. Man hörte keinen Ruderschlag, denn die vier Riemen waren gut umwickelt worden. Kapitän Wagner saß am Steuer und regierte dasselbe so, daß das Boot nicht auf die Stadt zuhielt, sondern einen Bogen schlug. Deshalb erreichte er erst nach einer halben Stunde den Strand, der einsam im nächtlichen Dunkel lag.
Ohne daß ein Wort gewechselt wurde, blieb einer der vier Matrosen sitzen, während der Kapitän mit den anderen ausstieg und davonschritt, nachdem sie sich mit dem mitgenommenen Spaten versehen hatten.
In einer Viertelstunde war die Stadtmauer erreicht.
Sie schritten an derselben hin, um eine eingefallene Stelle zu finden. Dies war bald geschehen, und nun kletterten sie behutsam über den Schutt, um kein Geräusch zu verursachen, und befanden sich im Innern der Stadt. Sie horchten eine Weile aufmerksam, aber es ließ sich nicht das geringste Geräusch hören. Sie schienen allein wach zu sein.
Jetzt zogen sie die Stiefel und Schuhe aus und schlichen weiter. Ihre Schritte waren unhörbar, und sie gelangten glücklich an das Haus des Gouverneurs.
Hier mußte doppelte Vorsicht angewendet werden, da der Sultan gesagt hatte, daß er nicht schlafen werde. War er noch wach, so durften auch die Diener nicht an Ruhe denken. Die vier Männer umschlichen also das Gebäude und gelangten so an die Mauer des großen Hofes. Hier stellte sich einer fest, und die anderen kletterten über seinen Rücken empor, worauf sie auch ihn emporzogen.
Bisher war alles geglückt. Nun aber sprang einer der Matrosen jenseits: hinab, um die anderen an sich hinabsteigen zu lassen und stieß dabei mit dem Spaten, den er in der Hand hielt, gegen die Mauer. Dies gab einen hellen Ton.
»Rasch alle nach, und dann werft euch zur Erde«, flüsterte der Kapitän.
Dieses Manöver wurde zwar ausgeführt, aber der Stoß war doch gehört worden, denn es ließen sich Schritte vernehmen, die sich näherten. Es war der Posten, der seinen Stand am Eingang zum kleinen Höfchen hatte. Das Geräusch war ihm aufgefallen; er schöpfte Verdacht und kam herbei. Als er nichts bemerkte, wollte er sich wieder umdrehen, da aber richtete sich der Kapitän vor ihm auf und versetzte ihm einen solchen Schlag in den Nacken, daß er sofort zusammenbrach.
»Der ist abgetan«, flüsterte er. »Nun weiter.«
Sie schlichen sich leise vorwärts und erreichten den Eingang zu dem kleinen Hof, in dem sich der Gefangene befand. Der Kapitän strengte seine Augen an, um das Dunkel zu durchdringen und den zweiten Posten zu erblicken, der sich nach den Worten des Sultans hier befinden mußte. Da hörte er in ganz leisem Ton, und zwar in englischer Sprache, die Frage:
»Sind Sie da, Kapitän?«
Wer war das? Wer sprach hier englisch? Wer wußte hier, daß ein Kapitän kommen werde? Diese Fragen durchflogen den Kopf Wagners. Aber ehe er noch vermocht hatte, sich eine Antwort zu geben, klang es wieder ganz leise:
»Sie können Vertrauen haben! Ich bin der Posten, aber ein Freund des Gefangenen!«
Jetzt entschloß sich der Kapitän, sich auch hören zu lassen.
»Wer sind Sie?« fragte er. – »Ein Soldat des Gouverneurs. Ich bin Abessinier und habe in Aden gelernt, englisch zu sprechen. Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich heute in der Nacht mit dem Gefangenen die Flucht unternommen.« – »So kann man sich auf Sie verlassen?« – »Ja.« – »Dann rasch! Wir graben ihn aus!«
Das Werk begann. Es kostete viel Mühe, mit dem Spaten kein Geräusch zu verursachen; aber man brachte es dennoch fertig. Nach einer halben Stunde lag der Somali an der Erde. Stehen konnte er nicht, da er kein Gefühl in den Beinen hatte. Er mußte getragen werden.
»Sie gehen doch mit?« fragte der Kapitän den Soldaten. – »Natürlich, wenn Sie mich mitnehmen!« – »Gern. Vorwärts!«
Den kräftigen Matrosen war es jetzt ein leichtes, da sie keine Wache mehr zu fürchten hatten, den Gefangenen über die Mauer zu bringen. Drüben wurde er von zweien auf die Schulter genommen, und dann ging es auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren.
Erst als sie die Stadtmauer hinter sich hatten, fühlten sie sich in vollständiger Sicherheit, und nun konnte sich der Kapitän bei dem Soldaten erkundigen.
»Wie kommen Sie dazu, den Gefangenen befreien zu wollen?« – »Weil es mir in Seila nicht gefällt, und weil er mich dauerte.« – »Haben Sie bereits bei ihm Wache gestanden?« – »Ja, gestern. Ich bin ein abessinischer Christ, und es tat mir leid, daß er so gequält wurde. Ich redete ihn an, so leise, daß es der andere Posten nicht hören konnte. Er erzählte mir alles und sagte mir, daß mich die Spanier sehr belohnen würden, wenn ich ihn befreien wolle. Heute nacht wäre ich mit ihm entflohen, aber da er nicht laufen kann, wäre die Flucht wohl verunglückt. Doch als ich vorhin die Wache betrat, erzählte er mir, daß ein Christ ihm einen Zettel gezeigt habe, auf dem gestanden habe, daß er um Mitternacht hoffen solle. Ich ließ mir den Christen beschreiben, und da ich Sie am Tage gesehen hatte, so wußte ich sogleich, daß Sie es gewesen waren.« – »Ah, das ist die Erklärung! Sie können also mit ihm reden?« – »Ja. Er spricht das Somali und das Arabische.« – »Das ist prächtig. Ich muß mit ihm sprechen und darf doch meinen Dolmetscher nicht in das Geheimnis ziehen, da ich fürchte, daß er mich verraten würde. Da werde ich Sie brauchen. Doch jetzt wollen wir nicht reden, sondern laufen, damit wir an Bord kommen.«
Sie legten die Strecke bis zur Uferstelle, an der das Boot lag, im Laufschritt zurück. Dort angekommen, stellte es sich heraus, daß der Somali bereits zu stehen vermochte. Die rüttelnde Bewegung seiner Träger hatte viel dazu beigetragen, sein stockendes Blut in Umlauf zu setzen. Man stieg ein und stieß vom Land. Unter den kräftigen Ruderschlägen wurde die Brigg in einer halben Stunde erreicht.
Der Steuermann empfing die Kommenden an der Falltreppe.
»Etwas passiert?« fragte der Kapitän. – »Nichts«, lautete die Antwort. – »Wo ist der Dolmetscher?« —»Er schläft. Er hat nichts bemerkt.« – »Das ist gut. Schicke sogleich den Bootsmann mit dem kleinen Boot ab. Er mag die Passagiere benachrichtigen, daß ich sofort in See stechen muß.« – »Du hast den Somali. Wollen wir sie nicht lieber in Seila lassen? Wir brauchen sie ja nicht und erschweren uns mit ihnen nur das Werk.« – »Nein. Sie müssen bestraft werden.«
Der Kapitän ließ darauf den Somali mit dem Abessinier nach der Kajüte bringen, wo es ein Kämmerchen gab, in dem sie versteckt sein konnten, ohne befürchten zu müssen, entdeckt zu werden. Dann war auf Deck alles so ruhig, als ob nichts geschehen sei; von unten aber hörte man die Ruderschläge des sich entfernenden Bootsmannes.
Der Kapitän folgte den beiden in seine Kajüte nach, nachdem er dem Koch den Befehl gegeben hatte, Essen hinabzubringen. Dies geschah aus Fürsorge für den befreiten Somali, der während seiner Gefangenschaft gewiß nur wenig oder vielleicht auch gar nichts genossen hatte. Er fand ihn mit dem Abessinier im Kämmerchen sitzen.
Mit Hilfe des letzteren erfuhr er nun die ganze Fluchtgeschichte. Es war ganz so, wie der Gouverneur angenommen hatte. Der junge Somali war von den anderen abgeschickt worden, um sich nach einem Schiff umzusehen und am Brunnen überfallen worden, von wo man ihn trotz seiner tapferen Gegenwehr nach Seila schleppte.
»O Herr, wie werden dir mein Vater und die anderen danken, daß du mich errettet hast!« sagte er. »Sie werden große Angst ausgestanden haben!« – »Wo befinden sie sich jetzt?« fragte der Kapitän. – »Am Berge Elmas.« – »O weh, so wird man sie bereits entdeckt haben.« – »Warum?« – »Bist du nicht dort in der Nähe ergriffen worden?« – »Ja, ich hatte sie erst kurze Zeit verlassen und wollte nur mein Tier tränken.« – »Nun, wo du bist, da sucht man natürlich auch die übrigen. Man wird nicht unterlassen haben, jeden Winkel des Berges zu durchstöbern.« – »Sie sind dennoch sicher, denn es gibt dort ein Versteck, das nur der Stamm meines Vaters kennt. Kein Fremder hat jemals von diesem Ort gehört.« – »Wo ist dieser Ort? Oder darf auch ich nichts davon wissen?« fragte Wagner. – »Herr, was denkst du!« antwortete der Gefragte. »Du bist unser Retter und sollst alles erfahren. Vor langen Zeiten wohnte mein Stamm an der Küste; er lebte mit den Nachbarn in Feindschaft, und da er oft überfallen wurde, so bauten sich unsere Urväter ein Versteck, in dem ihre Habe sicher verborgen werden konnte. Es befand sich ein tiefer, breiter Riß in der Wand des Berges; dieser wurde zugebaut; man ließ nur unten einen Eingang und oben ein Loch, damit Luft hineindringen könne. Auf das Gemäuer tat man Erde, und ließ Gras und Gebüsch darauf wachsen. Der Raum ist so tief, daß zehn Kamele und zehn Menschen Platz darin finden.« – »Und dort warten die Spanier auf dich?« – »Ja.« – »Aber ob sie sich noch dort befinden werden? Sie müssen, wenn sie aufmerksam gewesen sind, doch bemerkt haben, daß du gefangengenommen worden bist.« – »Das haben sie ganz sicher bemerkt; aber wir haben ausgemacht, daß sie fünf Tage auf mich warten sollen, selbst wenn mir etwas Böses widerfährt.« – »Haben sie Nahrung?« – »Wir haben während unseres Rittes Datteln genug eingekauft. Und an der Quelle, an der ich überrascht wurde, finden sie Wasser für sich und die Kamele, wenn sie des Nachts die Spalte verlassen. Sie liegt nicht weit von ihr.« – »Kennst du den Namen der Spanier?« – »Der eine nennt den anderen Señor Ferdinando; er selbst heißt Bernardo.« – »Ist das Mädchen auch eine Spanierin?« – »Nein. Sie ist aus einem Land, das Mexiko heißt Ihr Name ist Señorita Emma.«
Der Somali erzählte dem Kapitän in Kürze alles, was er von den dreien wußte, war aber damit noch nicht fertig, als man das Geräusch kräftiger Ruderschläge hörte.
»Ah, der Sultan kommt mit dem Gouverneur!« sagte Wagner. – »Um Gottes willen, der Sultan und der Gouverneur!« rief der Abessinier. »Wir sind verloren.« – »Habt keine Sorge«, tröstete der Deutsche. »Ihr befindet euch unter meinem Schutz.« – »Aber sie werden mich erkennen, wenn sie mich sehen.« – »Sie kommen nicht in diese Kammer. Und wenn sie schlafen, so könnt ihr auf das Deck gehen, um Luft zu schöpfen.« – »So werden sie gar mit uns fahren?« fragte der Soldat noch ängstlicher als vorher. – »Ja. Sie wollen die Entflohenen fangen, und ich soll ihnen dabei helfen. Aber fürchtet euch nicht! Ich habe sie nur deshalb an Bord genommen, damit sie die Rettung derjenigen, deren Verderben sie wollen, mit ansehen müssen. Das soll ihre Strafe sein!«
Der Kapitän ging und trat auf das Verdeck. Dort befanden sich bereits die beiden Erwarteten in Begleitung einiger Diener. Der Sultan, der ihn beim Schein der Schiffslaterne sofort erkannte, trat in höchster Aufregung auf ihn zu und redete ihn an. Wagner konnte ihn nicht verstehen, und erst als der Dolmetscher herbeigeholt worden war, hörte er, um was es sich handelte.
»Weißt du bereits, was geschehen ist?« fragte der Herrscher von Harrar. – »Was?« – »Unser Gefangener ist entkommen.« – »Ah!« rief Wagner, scheinbar sehr unangenehm überrascht. – »Ja. Du hast heute doch recht gehabt; die Erde ist bereits gelockert gewesen.« – »Wann hast du es bemerkt?« – »Du sandtest deinen Boten, um uns holen zu lassen. Wir verstanden zwar seine Sprache nicht, aber wir sahen aus seinen Mienen und Bewegungen, daß wir kommen sollten. Ehe ich ging, wollte ich erst nach dem Gefangenen sehen, aber der Hund war fort. Den einen Posten hat er fast erschlagen, und der andere war nicht zu sehen – er wird aus Angst vor der Strafe auch mit davongelaufen sein.« – »Was hast du getan?« – »Wir durften die Abfahrt deines Schiffes nicht versäumen, darum haben wir schleunigst Verfolger ausgesandt, die längs des Strandes nach Süden reiten, denn dorthin wird er fliehen, da sich dort die anderen Flüchtigen befinden.« – »Das ist gut, das ist das beste, was Ihr tun konntet. Jetzt aber nehmt Platz. Ich habe dort auf dem Vorderdeck ein Zelt für euch errichten lassen, von dem aus ihr die ganze Küste überblicken könnt, sobald es Tag geworden ist. Der Dolmetscher mag für eure Verpflegung sorgen; ich muß euch verlassen, um das Kommando zu übernehmen, da wir augenblicklich in See gehen.« – »Kommst du denn des Nachts durch die Klippen?« – »Ich hoffe es. Ich habe mir am Tag die Stelle genau betrachtet, und übrigens steht ein Mann zum Ausguck vorn am Bug, der mich warnen wird.«
Die beiden traten in das Zelt, das groß genug war und Matten zum Sitzen und Liegen für sie enthielt. Bald hörten sie Wagners Stimme erschallen.
Die Ankerwinde knarrte, der Anker ging in die Höhe, die untersten Segel wurden gehißt, so daß das Schiff in langsamem Tempo wandte und vorsichtig gegen die Klippen ging. Es war Ebbezeit, und der Mann am Bug erkannte trotz der Dunkelheit die Schaumkronen, zwischen denen eine dunklere Stelle die gefahrlose Ausfahrt bezeichnete. Bald lagen die Klippen hinter der Brigg, und nun konnte sie auch die oberen Segel ziehen. Der Nachtwind legte sich in dieselben, und bald flog das schöne Schiff stolz in die offene See hinaus.
33. Kapitel
Ungefähr in der Mitte zwischen den beiden Hafenstädten Seila und Berbera erhebt sich der Elmasberg, von dem der gerettete Somali zu dem Kapitän gesprochen hatte. Er steigt, nur eine kurze Strecke von der See entfernt, von allen Seiten rund empor und bildet einen abgestumpften Kegel, an dessen südlicher Seite der Flecken Lamal liegt, der aber eher ein nomadisches Lager, als ein Flecken zu nennen ist. Der Ort dankt seine Entstehung einem kleinen Wasser, das vom Berg fließt, sich aber sehr bald im Sand verliert.
Auf der anderen Seite, halb der See zugewandt, hegt eine Quelle, an der der junge Somali gefangengenommen worden war.
Graf Ferdinando hatte mit seiner Begleitung den gefahrvollen Ritt von Harrar bis zu diesem Berg, von dessen Höhe aus man die See überblicken konnte, glücklich zurückgelegt. Die Somali hatten ihm ihr Versteck gezeigt, und es war beschlossen worden, hier auf ein Schiff zu warten. Aber es verging ein voller Tag, ohne daß sich ein solches sehen ließ. Da nun in dem Flecken Lamal ein Stamm wohnte, dem man nicht trauen durfte, so wurde während der Nacht beschlossen, daß der junge Somali nach Norden reiten solle, um ein Schiff zu besorgen. Er sollte Seila umgehen und den Hafen von Tadschurra aufsuchen, wohin gewiß noch keine Boten des Sultans gelangt waren. Der junge Somali verließ das Versteck, bestieg das Kamel und ritt davon.
Am darauffolgenden Abend führten die Versteckten ihre Kamele aus dem Versteck nach der Quelle, um jene zu tränken, und fanden einen zerbrochenen Bogen dort liegen. Es mußten Leute hier gewesen sein. Der Somali nahm den Bogen auf und befühlte ihn, kaum aber hatte er dies getan, so sagte er erschrocken:
»Hier hat ein Kampf stattgefunden!« – »Wie willst du dies wissen?« fragte Don Ferdinando. – »Dieser Bogen ist nicht zerbrochen, sondern zerschnitten worden; das kann nur im Kampf geschehen sein. Laßt uns weiter suchen, ob wir noch mehr finden!«
Es war dunkel, und so konnten sie also nur den Tastsinn zu Hilfe nehmen. Plötzlich bekam Bernardo eine Schnur in die Hand, an der etwas Rundes hing.
»Hier finde ich etwas«, sagte er. »Was mag dies sein?« – »Zeige es her!« sagte der Somali.
Er befühlte den Gegenstand mit den Fingern; aber kaum hatte er dies getan, so sprang er erschrocken vom Boden auf und stieß einen Ruf der Bestürzung aus.
»Was ist‘s?« fragte Don Ferdinando. – »Es ist der Talisman, den Murad Hamsadi, mein Sohn, am Halse hängen hatte«, antwortete der Gefragte. »Er ist hier überfallen worden.« – »Du wirst dich täuschen. Er wollte hier sein Tier tränken, und dabei hat er den Talisman verloren.« – »Nein, einen Talisman mit so fester Schnur verliert man nicht; sie ist ihm vom Hals gerissen worden. Man hat ihn gefangengenommen und nach Seila gebracht.« – »Unmöglich!« – »Und doch möglich, ja sogar wirklich. Dieser Bogen hat einem Soldaten des Gouverneurs von Seila gehört; ich kann ihn nicht sehen, aber ich kenne die Form der Waffen. Oh, mein Sohn, mein Sohn, du bist verloren, aber ich werde dich rächen.«
Er war nur mit Mühe zum Schweigen zu bringen. Es wurde nun beschlossen, die Stelle bei Tagesanbruch noch einmal zu untersuchen, dann kehrte man mit den Tieren nach dem Versteck zurück, wo Emma heftig über das, was sie erfuhr, erschrak.
Die Nacht wurde schlaflos zugebracht, und schon bei Tagesgrauen begaben sich alle, selbst Emma, nach der Quelle. Das erste, was ihnen in die Augen fiel, war ein Stück Zeug. Der Somali hob es auf und betrachtete es genau.
»Seht, daß ich recht habe!« sagte er. »Es ist der Zipfel eines Gewandes, und zwar vom Gewand meines Sohnes. Er hat hier gekämpft; er hat mit ihnen gerungen, und dabei ist ihm dieses Stück losgerissen worden.«
Der Jammer und der Grimm des Somali waren nicht zu beschreiben, er wollte sein Kamel besteigen und stracks nach Seila reiten. Nur sein Versprechen, unter allen Umständen fünf Tage zu warten, und die Vorstellung, daß sein Sohn ja noch lebe, da seine Leiche nicht hier gelegen habe, hielt ihn ab, diesen Vorsatz auszuführen.
So verging ein trüber Tag. Zuweilen wagte sich einer der Männer aus dem Versteck hinaus und auf den Berg hinauf, um Umschau zu halten, aber kein einziges Schiff war zu sehen, außer den Fahrzeugen des Gouverneurs, die die Küste abzusuchen schienen und die der Somali ganz genau kannte.
»Seht ihr, daß wir verraten sind!« sagte er. »Der Gouverneur läßt bereits nach uns suchen. Laßt euch nicht bemerken, sonst sind wir verloren!«
Der Tag verging. Es war derselbe, an welchem Kapitän Wagner auf seiner Brigg nach Seila gekommen war. Auch die Nacht kam und verschwand, ohne daß etwas passiert wäre. Noch drei so lange Tage untätig auszuharren, schien dem Somali unmöglich. Die Sorge um seinen Sohn verzehrte ihn fast
Am Nachmittag stieg er wieder den Berg hinan und setzte sich da nieder, um den Blick verlangend über die See schweifen zu lassen.
So sah er nur das Meer und die Wogen, welche seinem Innern glichen, aber nicht den Reitertrupp, der sich von Norden her näherte und ihn bereits gesehen hatte. Die Reiter hielten sich mehr rechts in das Land hinein, um ihm nicht so leicht in das Auge zu kommen. Sie waren schon ziemlich nahe, als er sich zufälligerweise umdrehte und sie sah.
Sofort erhob er sich und rannte den Berg herab; sie aber setzten auch ihre Pferde in Galopp und erreichten den Fuß des Berges fast zu gleicher Zeit mit ihm.
Es war ein Somali, das sahen sie an der Tour seines Haares, und schon glaubten die Soldaten, ihn sicher zu haben, als er plötzlich unerklärlich vor ihren Augen verschwand, als ob ihn die Erde verschlungen hätte.
Er hatte noch glücklich das Versteck erreicht wo er den Gefährten zurief:
»Rüstet euch zum Kampf! Es kommen acht Reiter des Gouverneurs.« – »Sie werden vorüberreiten«, sagte Don Ferdinando. – »Nein. Sie haben mich überrascht ich konnte nicht schnell genug sein, und so müssen sie bemerkt haben, wo ich hingekommen bin.« – »So gilt es, unser Leben, unsere Freiheit und das Geheimnis unseres Versteckes zu bewahren. Sie müssen sterben, wenn sie das letztere finden.«
Ferdinando erhob sich vom Boden und nahm seine Waffen zur Hand, Bernardo tat desgleichen, und auch der Somali bewaffnete sich vollständiger, als er es vorher gewesen war.
Da hörten sie draußen vor dem Eingang Stimmen.
»Hier ist er verschwunden«, sagte jemand. »Ich habe es ganz deutlich gesehen.« – »Wie kann er in der Erde hinein verschwinden«, klang eine andere Stimme; »das ist ja ganz unmöglich!« – »Kann die Erde hier nicht ein Loch oder eine Höhle haben? Kommt laßt uns suchen und auf den Boden klopfen, ob er hohl klingt.«
Die Lauschenden hörten nun das Fußgestampfe vieler Männer, bis einer rief:
»Kommt hierher! Ich habe es. Hier hat es hohl geklungen, aber nicht der Boden, sondern die Seite des Berges. Hier muß eine Höhle sein. Laßt uns hineinstechen!«
Gleich darauf kam zwischen den jungen, mit Erde bedeckten Palmhölzern, die die Tür bildeten, ein Speer zum Vorschein, und zugleich rief der Besitzer desselben:
»Ja, hier ist es. Mein Speer geht ohne Widerstand bis an den Riemen hinein.« – »Öffnen!« befahl da Don Ferdinando. »Unser Leben gilt mehr als das ihrige.«
Der Somali stieß den Eingang auf,, und die Soldaten prallten erschrocken zurück, als sie einen tiefen Schlund bemerkten, in dessen Vordergrund drei wohlbewaffnete Männer standen.
»Feuer!« kommandierte der Graf.
Sofort krachten die beiden Doppelgewehre, jedes zweimal; auch der Somali drückte los, und das übrige taten die Revolver; die acht Verfolger waren tot, wenigstens schien es so. Als aber die Verteidiger des Versteckes hinaustraten, um die Gefallenen zu untersuchen, fanden sie, daß einer noch lebte. Die Revolverkugel war ihm in die Brust gedrungen, doch zeigte der Ausdruck seines Gesichts, daß er nur noch Sekunden zu leben habe. Der Somali kniete zu ihm nieder und sagte:
»Ihr kamt von Seila? Rede die Wahrheit, denn du stehst an der Brücke des Todes, die entweder in das Paradies oder in die Hölle führt!« – »Ja«, lautete die leise Antwort. – »Ist gestern ein Somali gefangen worden?« – »Ja.« – »Wie hieß er?« – »Murad Hamsadi«, hauchte er leise. – »Wo ist er?« – »Wieder entkommen.« – »Wann?« – »Gestern abend. Wir sind ausgezogen, ihn zu suchen.«
Diese lange Antwort war zu viel für den Sterbenden; ein Blutstrom quoll aus seinem Mund, und dann war er tot. Der Somali aber rief jubelnd:
»Er ist entkommen! Allah sei Dank! Er lebt, er ist frei, ich werde ihn wiedersehen. Dieser Tote hat mir die Kunde gebracht, er soll nicht ohne das Gebet eines Gläubigen den Weg des Todes gehen.«
Er kniete neben der Leiche nieder und betete; dann trug er einen Toten nach dem anderen nach dem Meer und warf sie in die Fluten. Die Pferde waren durch das laute Krachen der Salve erschreckt davongerannt – das Geheimnis des Somaliverstecks war gerettet worden.
Nun, da die Flüchtlinge wußten, daß ihr Bote nicht mehr gefangen sei, zog neue, frische Hoffnung in ihr Herz ein. Sie glaubten wieder fest an ihre Rettung und sahen ruhig die Nacht herankommen, die Nacht, die ihnen Erlösung brachte, ohne daß sie es ahnten.
Kapitän Wagner war nämlich wegen der Dunkelheit der Nacht weit hinaus in die offene See gefahren; erst am Morgen kehrte er zur Küste zurück. Ein widriger Wind hinderte ihn, rasch vorwärts zu kommen, und so mußte er mit Lavieren seine Zeit verschwenden, so daß er bei Einbruch der Dunkelheit den Elmasberg nur erst durch das Fernrohr sehen konnte.
Diese langsame Fahrt vermerkten der Sultan und der Gouverneur höchst übel. Sie hatten sich überhaupt diesen Kapitän Wagner ganz anders gedacht. Seit sie sich an Bord befanden, sprach er nur selten ein Wort zu ihnen, und dann geschah es in einem Ton, als ob sie seine Sklaven seien. Nach eingetretener Dunkelheit ging er langsam an ihrem Zelt vorüber, dies benutzte der Sultan und sagte zu ihm:
»Wenn das so fortgeht, werden wir niemand fangen. Wir haben heute die Küste nur für einige kurze Augenblicke gesehen. Wie willst du dein Wort halten?« – »Still!« gebot ihm der Deutsche durch den Dolmetscher, der sich stets in der Nähe befand.»Du bist nicht in Harrar, wo du tyrannisieren kannst. Ich habe dir mein Wort gegeben, die Flüchtlinge zu fangen, und ich werde es halten!« – »In welchem Ton redest du?« brauste der Sultan auf.
Der Kapitän zuckte verächtlich die Achseln und wandte sich zum Koch, dem er ein Papier gab.
»Tue dieses Pulver in den Kaffee der Mohammedaner«, sagte er. »Sie und ihre Diener sollen einschlafen.«
Er hatte eine Schiffsapotheke an Bord, der er das Pulver entnommen hatte. Der Koch gehorchte, und eine Stunde später schliefen die Passagiere fest. Jetzt trat Wagner in die Kajüte, um noch einmal genau zu berechnen, wo er sich befand, und ging dann in das Kämmerchen, in dem der Abessinier und der Somali waren.
»Es wird Zeit sein«, sagte er. »Wir nähern uns dem Berg, und er wird in einer Viertelstunde durch das Nachtrohr in Sicht sein. Macht euch fertig.« – »O Allah, wird sich mein Vater freuen!« sagte der Somali. – »Brennen sie Licht in dem Versteck?« – »Ja. Sie haben dünne Fackeln von Dattelfasern und wildem Wachs, die wir uns während unseres Rittes gemacht haben.« – »So brauchen wir uns keine Lichte mitzunehmen. Kommt«
Wagner stieg mit ihnen auf das Verdeck, wo er zum Nachtrohr griff. Er beobachtete die Küste längere Zeit, dann trat er zum Steuermann.
»Stopp!« sagte er. »Hier werfen wir den Anker und lassen die beiden Boote aus. Wir sind am Ziel. Die Herren Sultan und Gouverneur werden sich wundern.« – »Ich wollte, ich könnte mit, um die glücklichen Gesichter zu sehen!« entgegnete der Steuermann. »Na, hast du jetzt die Freude, so hattest du auch die Gefahr vorneweg.«
Die Segel wurden gerefft, der Anker fiel, und als das Schiff keine Fahrt mehr machte, wurden die beiden Boote in See gelassen und bemannt. Nur der Somali und der Kapitän stiegen ein. Letzterer nahm eine ziemlich gefüllte Handtasche mit.
Die Boote stießen vom Schiff ab und hielten auf das Ufer zu. Als sie gelandet hatten, stiegen die beiden Genannten aus und schritten auf den Berg zu, der dunkel vor ihren Augen lag. Sie dämpften dabei ihre Schritte. Der Somali hatte bereits seine Weisung erhalten. Er blieb an einer Stelle stehen, schob die Hand in den Rasen ein, zog ein wenig, und sogleich sah man, daß durch eine Spalte ein dünner Lichtschein nach außen drang. Der Kapitän blickte hindurch.
Drin saßen die Flüchtlinge auf dem mit Blättern weich gemachten Boden. Don Ferdinando sprach mit Señorita Emma. Wie ehrwürdig sah das Gesicht dieses Mannes aus, der so viel gelitten hatte, und welch eine reizvolle Anmut lag in den Mienen, in jeder Bewegung dieses als Knaben verkleideten Weibes! Wagner verstand so viel Spanisch, wie ein jeder gute Seekapitän verstehen muß; er verstand auch die Worte, die halblaut gesprochen wurden.
»Nur die Heimat will ich schauen und meinen Feinden in das Gesicht sehen, dann mag der Tod kommen!« sagte Don Ferdinando. – »Sie werden über Ihre Feinde siegen und noch lange leben«, antwortete Emma. »Ich hoffe zu Gott, daß er uns hier recht bald einen Retter erscheinen läßt!«
Da erklang vom Eingang her eine sonore, kräftige Stimme:
»Er ist bereits da, dieser Retter!«
Sie alle fuhren empor, bestürzt, erstaunt, erschreckt. Die Tür öffnete sich, und Wagner trat herein, von dem Schein der Fackel hell erleuchtet, hinter ihm Murad.
»Mein Sohn!« rief da der alte Somali, stürzte auf ihn zu und warf die Arme um ihn. – »Mein Gott, wer sind Sie?« fragte Don Ferdinando den Deutschen mit zitternder Stimme. – »Ich bin der deutsche Seekapitän Wagner, Brigg Seejungfer aus Kiel«, lautete die Antwort. Ich komme, Sie an Bord zu nehmen und hinzuführen, wohin Sie wollen.« – »Herr Gott im Himmel, endlich, endlich!«
Der Graf sank in die Knie, so matt wurde er vor Entzücken. Emma kniete neben ihm nieder, um ihn festzuhalten. Sie schlang ihre Arme um ihn, legte den Kopf an den seinen und vereinigte ihre Tränen mit den seinigen.
»Gott, mein Gott«, schluchzte er. »Endlich, nach so langen Jahren zeigst du mir deine Gnade wieder. Dich rühmen die Himmel und dich loben die Welten, ich kann dich nicht genug preisen, ich bin zu schwach dazu, ich muß schweigen!«
Auch Bernardo lehnte tränenden Auges an der Wand, während die Somali sich noch immer umschlungen hielten. Es war eine Szene, die auch das Auge des Seemanns befeuchtete. Der Graf fand zuerst wieder das Wort. Er erhob sich, trat zu dem Kapitän, streckte ihm beide Hände entgegen und sagte:
»Ein Deutscher sind Sie? Nein, ein Engel des Lichtes sind Sie, ein Bote Gottes, vom Himmel gesandt um uns zu retten! Aber wie wissen Sie von uns?« – »Der dort hat es mir gesagt«, sagte Wagner, auf Murad deutend.
Dieser merkte, daß von ihm die Rede sei.
»Er hat mich aus der Gefangenschaft befreit, mit Gefahr seines eigenen Lebens«, sagte er in arabischer Sprache. »Er hat Seila bombardiert und selbst dem Sultan von Harrar Trotz geboten, er ist ein Held, Allah segne ihn, obgleich er ein Ungläubiger ist«
Es folgte nun eine Szene, die gar nicht zu beschrieben ist Niemals hat im brillantesten Salon der Welt ein solches Entzücken geherrscht wie hier im Innern dieses Berges. Wie lange dauerte es doch nur, bis nur die notwendigsten Fragen ausgetauscht waren! Und dann ging es an das Erzählen in arabischer sowie spanischer Sprache und noch anderen Zungen, bis endlich die Herzen ruhiger wurden und die beiden Spanier vom Elend ihrer Sklaverei erzählten.
»Aber bitte, wie soll ich Sie nennen?« fragte der Kapitän den Grafen.
Jetzt erst dachten die drei daran, zu sagen, wer und was sie eigentlich seien. Wagner erschrak fast als er vernahm, daß dieser langjährige Sklave ein Graf sei.
»Verfügen Sie über mich«, sagte er. »Was ich tun kann, um Ihnen dienstbar zu sein, das soll von ganzem Herzen geschehen. Aber darüber läßt sich ja an Bord noch sprechen. Jetzt wollen wir an das denken, was uns zunächst liegt.«
Damit öffnete er die Handtasche und zog einige Weinflaschen nebst Gläsern und Eßwaren hervor. Beim Anblick dieser Gegenstände traten dem Grafen abermals die Tränen in die Augen, denn er erkannte, daß ihm tausenderlei versagt gewesen war, ohne daß er nur daran gedacht hatte. Dinge, so gleichgültig dem Glücklichen, dem Unglücklichen aber unendlich wertvoll, obgleich sie eigentlich gar keinen realen, sondern nur einen eingebildeten Wert besitzen.
Während dieses Mahles wurden die Vorkommnisse von Seila erzählt und die für die nächste Zeit nötigen Dispositionen getroffen. Wagner verstand sich gern dazu, den Grafen, Bernardo und Emma nach Kalkutta zu bringen. Die beiden Somali blieben natürlich hier, erhielten aber aus dem Schatz des Sultans ein reiches Geschenk. Sie beschlossen, bis morgen im Versteck zu bleiben, um sich an der Enttäuschung des Sultans und des Gouverneurs zu weiden.
Bei dieser Gelegenheit fragte der Graf den Kapitän:
»Was denken Sie wohl, ob ich dem Sultan seine Schätze wiedergeben werde?« – »Das muß ich Ihnen überlassen«, war die Antwort. – »So werden Sie mich vielleicht für einen Dieb halten, denn ich bin fest entschlossen, daß er nicht das Geringste zurückerhält.« – »Ich zweifle ganz und gar nicht daran, daß ich an Ihrer Stelle ebenso handeln würde.« – »Einen Grafen Rodriganda so lange Zeit zum Sklaven gehabt zu haben, das kostet Geld, meines braven Bernardo hier gar nicht zu gedenken, der natürlich auch seinen Anteil erhält. Außerdem bricht Not Eisen. Ich brauche nämlich eine ganz bedeutende Summe Geldes zu einem Zweck, von dem ich jetzt wegen der Kürze der Zeit nichts erzählen kann. Später aber werden Sie dies erfahren und mein Vorhaben billigen.« – »O bitte, Sie haben sich gar nicht zu entschuldigen!« wehrte Wagner ab. »Der Tyrann ist eine solche Strafe wert. Was aber tun Sie mit Ihren Kamelen?« – »Die behalten natürlich unsere beiden somalischen Freunde.« – »So können wir vielleicht Ihre Effekten holen lasen?« – »Ja. Geschieden muß doch einmal sein.«
Der Kapitän trat vor den Eingang und stieß einen Pfiff aus. Sogleich kamen die Matrosen herbei und begannen, die vorhandenen Sachen nach den Booten zu schaffen. Sie waren nicht wenig erstaunt, als sie die Höhle erblickten; noch mehr aber wuchs ihr Erstaunen, als sie die Schwere der Säcke bemerkten, die sie zu transportieren hatten. Dennoch ahnten sie wohl nicht, daß sie Millionen in ihren Händen hielten.
Endlich schied man von den Somalis. Beide Parteien hatten einander gleichviel zu verdanken, und so war der Abschied ein herzlicher. Die Boote stießen vom Land, und nun erst fühlten sich die Flüchtigen frei von Sorge und glücklich im vollen Besitz ihrer Selbstbestimmung.
34. Kapitel
Als sie an Bord kamen, schliefen die Mohammedaner noch immer fest. Der Koch hatte die Kajüte des Kapitäns in dieser Zeit recht nett für Emma hergerichtet und sie in ein allerliebstes Damenboudoir verwandelt, und für den Grafen wurde auf dem Hinterdeck einstweilen ein Zelt erbaut
Nun konnte man von den gehabten Strapazen bis zum Morgen ausruhen, was auch alle, mit Ausnahme der Deckwache, taten. Die Schläfer erwachten dennoch schon, als die Sonne im Westen dem Meer entstieg. Große Erregungen beherrschen den Körper so, daß diesem die Ruhe zur Unmöglichkeit werden kann. Nach einem kurzen Frühstück versteckten sich die Hauptpersonen des bisherigen Trauerspiels, und die Mohammedaner wurden geweckt. Sie entrissen sich gähnend dem narkotisch festen Schlaf und ließen sich dann ihren Kaffee kommen.
Während sie denselben schlürften, ging der Kapitän wie zufällig an dem Zelt des Sultans vorüber. Dieser nahm die Gelegenheit wahr, ihn anzurufen:
»Segeln wir heute wieder so langsam wie gestern?« – »Möglich!« – »So wirst du die Schurken niemals fangen. Wir haben uns in dir geirrt.« – »Du hast recht, nur in anderer Weise, als du denkst. Ihr schlaft, und ich arbeite. Ich habe sie heute nacht gefangen.« – »Allah il Allah! Ist es wahr? Heute nacht?« – »Ja.« – »Es fehlt keiner?« – »Gar keiner. Sogar der Somali ist dabei, der mit dem abessinischen Posten entflohen ist.« – »Bei Allah, es wird den beiden schlecht bekommen. Ich muß sie sehen, alle, alle! Ist die Sklavin auch dabei?« – »Ja. Ich sagte doch bereits, daß keiner fehle.« – »So muß ich sie sofort sehen, sofort! Hörst du? Wo sind sie? Wo?« – »Fahre mit uns an das Ufer, wenn du sie sehen willst. Ich werde sogleich ein Boot herablassen für uns. Das deinige, mit dem du an Bord gekommen bist, hängt noch hinten, ich werde es dir an die Seite bringen lassen. Nimm alle deine Leute mit, denn du wirst sie gebrauchen können!«
Dies brachte Leben und Bewegung in den Sultan und den Gouverneur. Sie rannten von einem Ende des Schiffes zum anderen, sie brüllten ihren Untergebenen die widersprechendsten Befehle zu und merkten dabei gar nicht, was für eigentümliche Vorrichtungen an Bord getroffen wurden.
Ihr Boot wurde nämlich längsseits gezogen und das Fallreep niedergelassen. Auf der anderen Seite tat man so, als ob auch hier ein Boot für den Kapitän ausgesetzt werde, doch wurde dasselbe nur bis zur halben Bordwand heruntergelassen, während an der Ankerwinde einige Mann standen und andere sich in den Rahtauen zu schaffen machten, um sich, wie es schien, die Zeit zu vertreiben. Ein aufmerksamer Beobachter aber hätte sehen müssen, daß das Schiff fertiggehalten wurde, in Zeit von einer Minute in See zu gehen.
Endlich waren die Mohammedaner fertig und sahen sich nach dem Kapitän um.
»Einsteigen!« kommandierte dieser und tat zu gleicher Zeit, als ob er sich in das andere Boot hinablasse.
Kaum aber stand der letzte der Diener auf der Falltreppe, so stand Wagner wieder auf Deck. Ein Wink von ihm genügte, der Anker hob sich vom Grund, und die Segel bekamen Leben. Nun schritt er hinüber, blickte über die Brüstung in das Boot des Gouverneurs und sagte zum Sultan:
»Jetzt sollst du sehen, daß ich Wort gehalten und alle Flüchtlinge in meine Hand bekommen habe. Welcher von ihnen ist dir der wertvollste?« – »Die weiße Sklavin«, antwortete der Gefragte. »Aber warum kommst du nicht?« – »Weil ich sie dir zeigen kann, ohne mit dir zu gehen. Blicke her.«
In diesem Augenblick trat Emma an die Brüstung und zeigte sich den Männern, die sich unten im Boot befanden. Der Sultan fuhr erstaunt empor und rief:
»Allah il Allah, das ist sie; ja, das ist sie! Ich muß wieder hinauf!«
Er durchschritt das Boot, um wieder an die Falltreppe zu gelangen, an der das letztere befestigt war.
Da aber gab der Kapitän einem seiner Leute den Wink. Der Mann hatte das Tau, woran das Boot hing, bereits gelöst und hielt es in der Hand. Er warf es über Bord in das Boot hinab, das nun frei wurde und unter den eiligen Schritten des Sultans so zu schaukeln begann, daß dieser niederstürzte. Doch raffte er sich schnell empor und rief:
»Halt, was ist das? Warum bindest du uns los? Ich muß hinauf; ich muß die Sklavin holen; sie ist mein Eigentum! Und wo sind die anderen?« – »Hier!«
Bei diesen Worten zeigte Wagner auf den Grafen Rodriganda und den Gärtner Bernardo, die beide jetzt auch an die Brüstung traten und sich in ihrer vollen Gestalt sehen ließen.
Während der kurzen Dauer dieses Intermezzos hatte der Dolmetscher die Übersetzung der Reden übernommen. Er hatte keine Ahnung gehabt, daß die gesuchten Flüchtlinge sich an Bord befanden. Als er dies jetzt bemerkte, flüsterte er dem Kapitän höchst erschrocken zu:
»Was hast du getan, Herr? Es wird dein und mein Verderben sein!« – »Inwiefern?« fragte Wagner. – »Der Sultan und der Gouverneur werden sich furchtbar rächen.« – »Pah! Ich fürchte sie nicht!« – »Du wohl, aber ich. Ich komme ja öfters nach Seila und Berbera.« – »So gehst du nicht wieder her.« – »So habe ich großen Schaden.« – »Der wird dir vielleicht ersetzt werden.« – »Dennoch darf ich in dieser Sache nicht weiter dein Dolmetscher sein.« – »Das ist auch nicht nötig, ich werde reden.«
Diese letzteren Worte hatte der Graf gesprochen, der die leise Rede des Dolmetschers verstanden hatte und nun näher an die Brüstung trat, so daß ihn der Sultan genau sehen konnte, der mit einer überraschten Handbewegung ausrief:
»Bei Allah, dort sind sie! Ich befehle euch, mich wieder an Bord zu nehmen!« – »Das fällt uns gar nicht ein!« lachte der Graf. – »So kommt herab zu uns! Ich gebiete es euch!« – »Bist du toll? Was hättest du uns zu befehlen? Wir sind jetzt freie Männer.« – »Schurken seid ihr, elende Schurken! Wo habt ihr mein Geld und meine Schätze?« – »Die haben wir bei uns auf dem Schiff.« – »Gebt sie heraus!« – »Das wäre lächerlich. Ein Fürst der Christen ist gezwungen gewesen, dir so lange Jahre zu dienen, er zwingt dich jetzt, ihm ein fürstliches Gehalt auszuzahlen. Lebe wohl und vergiß die Lehre nicht, die du heute von uns erhältst.«
Das Boot trieb vom Schiff ab; aber die Wut des Sultans war so groß, daß er in diesem Augenblick kein Wort sprechen konnte. Er brachte nur einige unartikulierte Laute hervor, an seiner Stelle aber befahl der Gouverneur:
»Ich gebiete euch, uns wieder aufzunehmen. Oder soll ich euch zwingen?« – »Versuche es!« lachte der Graf. – »Der Sultan hat mir eine Schrift ausgestellt, daß ich den Preis erhalten soll.« – »Laß ihn dir auszahlen. Die Bedingungen sind erfüllt. Du sollst den Preis erhalten, sobald wir in die Hände des Kapitäns gekommen sind. Wir befinden uns jetzt in seiner Hand; also müssen die Kamelsladungen ausgezahlt werden!« – »Hund!« knirschte der Gouverneur. »Ihr habt uns betrogen!« – »Aber ihr uns nicht, dazu wart ihr ja zu dumm! Ein Christ wird sich niemals von einem Moslem betrügen lassen, das merke dir; lebe wohl!«
Da zeigte der Gouverneur mit zorniger Gebärde nach dem Schiff und gebot seinen Leuten:
»Nehmt die Ruder. Wir legen wieder an.«
Sie gehorchten. Doch als der Kapitän dies merkte, kommandierte er:
»Holla, Männer! Die Segel in den Wind und das Steuer zum Wenden!«
Dieser Befehl wurde sofort befolgt, und eben, als das Boot das Schiff wieder berühren wollte, machte dasselbe eine rasche Wendung, so daß die Berührung zu einem Zusammenstoß wurde, infolgedessen das Boot umschlug, seine Insassen in das Wasser stürzten und Mühe hatten, sich darin zu erhalten.
Da erscholl vom Ufer her ein lauter Freudenruf. Der Sultan, der von zweien seiner Leute unterstützt wurde, blickte hinüber, und als; er die beiden Somali erkannte, die auf seinen Kamelen am Wasser hielten und laut seinen Fall bejubelten, pustete er, indem er Seewasser schluckte:
»Diese Hunde sind die Führer gewesen; sie haben meine Tiere! Schnell ans Ufer; wir müssen sie fangen!«
Die auf dem Deck des Schiffes Stehenden sahen nun, wie die im Wasser Schwimmenden sich Mühe gaben, das Ufer zu erreichen; kaum aber waren sie dort angelangt, so stießen die beiden Somali einen höhnischen Jubelruf aus und galoppierten auf ihren schnellfüßigen Tieren davon. Die beiden großen Herren hatten auch hier das Nachsehen.
»Man sieht es, daß er vor Wut bersten möchte«, sagte der Graf. »Wehe denjenigen von seinen Leuten, über die sich sein Zorn entladen wird.« – »Es wird ihnen gehen wie mir, wenn ich wieder nach Seila komme«, klagte der Dolmetscher. – »Wieso?« – »Der Gouverneur wird mich gefangensetzen.« – »So gibt es ein sehr vorzügliches Mittel: Du gehst ganz einfach nicht wieder hin, und den Schaden, der dir daraus erwächst, werde ich dir ersetzen.«
Damit schien der Mann zufrieden zu sein.
35. Kapitel
Das Schiff hatte in kurzer Zeit die See wiedergewonnen, und die Küste verschwand nach und nach den Augen. Der Kiel war gegen Osten, nach Indien gerichtet, da der Kapitän ja wußte, daß seine neuen Passagiere nach Kalkutta wollten. Es wurde wenig gesprochen, denn ein jeder hatte mit seinen eigenen Gedanken zu tun.
Im Laufe des Nachmittags begegnete man einem englischen Kauffahrer, der aus Ceylon kam und nach Aden wollte. Er nahm den Dolmetscher, der nun nicht mehr gebraucht wurde, mit an Bord, nachdem derselbe von dem Grafen sehr reichlich beschenkt und für etwaigen Verlust also entschädigt worden war.
Da in jenen Breiten die Hitze eine fast unausstehlich drückende ist, so wurde der Tag entweder verschlafen oder verträumt, denn die Führung des Schiffes erforderte bei dem günstigen Wind keinerlei besondere Arbeit. Als aber der Abend nach der kurzen Dämmerung hereingebrochen war, versammelten sich auf dem Hinterdeck die Passagiere um den Kapitän, um sich mit ihm über das weitere zu besprechen.
Er war natürlich begierig, etwas über die Schicksale der Leute zu vernehmen, zu deren Rettung er so viel beigetragen hatte. Er war ein biederer, gutherziger Deutscher, der gern einem anderen seine Hilfe angedeihen ließ, zumal jetzt, wo das prächtige Geschäft, das er in Seila gemacht, seine gute Stimmung und auch die Bereitwilligkeit erhöht hatte, zum Wohl seiner Nebenmenschen das möglichste beizutragen. Er ahnte, daß hier ganz außerordentliche Verhältnisse vorliegen müßten, und lenkte infolgedessen die Unterhaltung, die zuerst ganz gewöhnliche Dinge zum Gegenstand hatte, auf Näherliegendes.
Der Graf seinerseits, der sehr wohl erkannte, daß er dem Kapitän seine Rettung zu verdanken habe, den er als einen ebenso tatkräftigen, wie aufopferungswilligen Mann kennengelernt hatte, und der sich ferner sagte, daß ihm die weitere Mithilfe des Kapitäns von sehr großem Nutzen sein könne, beschloß aufrichtig gegen ihn zu sein und ihn zum Mitwisser seiner Schicksale zu machen. Aus diesem Grund antwortete er auf die unverblümte Anfrage des Seemanns:
»Sie haben bewiesen, daß ich Sie als Freund betrachten darf; denn ich bin nicht in der Lage, Ihre Bereitwilligkeit, uns Hilfe zu leisten, zurückzuweisen, und muß Ihnen einige Geheimnisse aus meiner Familie mitteilen, damit Sie selbst beurteilen können, wie es Ihnen möglich ist, uns auch fernerhin nützlich zu sein.«
Jetzt sah sich der Kapitän in das richtige Fahrwasser gebracht. Er stieß ein höchst zufriedenes Brummen aus, streckte die Beine behaglich von sich, schob ein neues Stück Kautabak in den Mund und sagte:
»Señor, ich gebe Ihnen mein Wort, daß Sie sich auf mich verlassen können. Was Sie mir erzählten werden, soll kein Mensch weiter erfahren, wenigstens ohne Ihre Erlaubnis nicht, und was ich als ein einfacher Mann für Sie tun kann, das soll ganz sicher geschehen. Der gute Wille dazu ist vollständig vorhanden.« – »Nun wohl, mein lieber Señor Wagner! So sagen Sie mir zunächst, ob Sie vielleicht ein Schiff kennen, das den Namen La Pendola führt?«
Der Kapitän sann einen Augenblick nach und erwiderte:
»La Pendola? Ein spanisches Schiff? Ja. Ich habe es im Hafen von Portsmouth gesehen und bin ihm auch auf hoher See begegnet. Ich war damals noch zweiter Steuermann. Die Pendola war als einer der besten Segler bekannt.« – »Kannten Sie auch den Kapitän dieses Schiffes?« – »Einen gewissen Landola? Ja. Oh, die Seeleute kennen einander alle. Er sollte ein Spanier sein, schien mir aber mehr das Aussehen eines Yankees zu haben.« – »Wie hat Ihnen der Mann gefallen?« – »Hm! Ich habe ihn in Portsmouth in einer Hafentaberne gesehen. Mir hat er keineswegs gefallen. Der Mann hat etwas Abstoßendes an sich. Wir Wasserratten kümmern uns zwar nicht viel um das Gesicht anderer Leute, aber die Augen dieses Mannes sind mir doch aufgefallen, zu seinem Vorteil jedoch nicht.« – »Nun, dann frage ich Sie ferner, ob Sie nicht vielleicht ein anderes Schiff kennen, das Le Lion, ›Der Löwe‹ genannt wurde?« – »Le Lion? Donnerwetter! Meinen Sie vielleicht den berüchtigten Seeräuber?« – »Ja. Kapitän Grandeprise, nicht wahr?« – »Allerdings. Und da fragen Sie, ob ich den nicht kenne? Den kenne ich ebensogut wie jeden anderen Seemann, und vielleicht noch ein wenig besser.«
Im Schein der Schiffslaterne zeigte es sich, daß Wagners Brauen sich finster zusammenzogen und seine Augen zornig leuchteten. Erst nach einer Weile fuhr er fort
»Warum fragen Sie mich nach diesem Halunken?« – »Weil er in meiner Erzählung, überhaupt in meinem Leben, eine große Rolle spielt« – »In dem meinigen auch, Señor. Zwar war diese Rolle nicht sehr groß, denn ich bin gar bald wieder von ihm fortgekommen, aber …« – »Fortgekommen?« unterbrach der Graf den Kapitän schnell. »Sind Sie denn bei ihm gewesen?« – »Ja, freilich!« – »Als Seeräuber?« – »Ja«, nickte der Kapitän. »Als was anderes denn?«
Damit erhob er sich, um seinen Kautabak grimmig über Bord zu spucken, und fuhr fort
»Das wundert Sie? Nicht wahr, nun ist Ihr ganzes Vertrauen zu mir weg? Nun können Sie mich nicht mehr für einen ehrlichen Menschen halten?« – »Pah! Ich kenne einen, der ebenso wie Sie bei Kapitän Grandeprise in Diensten stand und doch ein sehr ehrlicher Mann ist« – »Ah, den möchte ich sehen!« – »Hier sitzt er.«
Bei diesen Worten zeigte der Graf auf den Gärtner; der bei ihnen saß. Der Kapitän blickte diesen betroffen an.
»Sie? Sie sind auf dem Lion gewesen?« fragte er. – »Ja«, antwortete der Gärtner. – »Freiwillig?« – »Gott und die heilige Jungfrau sollen mich bewahren! Ich wurde gepreßt.« – »Gerade wie ich! Aber wie entkamen Sie?« – »Auf eine sehr schlimme Weise. Ich gehorchte nicht und wurde deshalb als Sklave verkauft. So kam ich nach Harrar, von wo ich mit dem Herrn Grafen entflohen bin.« – »Alle Teufel, so sind Sie also doch ein braver Kerl! Na, mit mir war es ganz dasselbe. Auch ich wurde gepreßt und ließ mich nicht dazu bringen, an den Schandtaten dieser Kerle teilzunehmen.« – »Und wie entkamen Sie?« – »Hm! Eigentümlich! Auf eine Art, die ein Beweis dafür war, daß es selbst unter Piraten noch Leute gibt die ein gutes Herz besitzen. Kennen Sie Barcelona?« – »Ei natürlich«, antwortete der Graf. »Rodriganda, mein Stammschloß, liegt ja ganz in der Nähe.« – »Nun gut. Dort war ich also mit einer Stralsunder Barke vor Anker gegangen, das Schiff gehörte dem alten Walter Sömbaum, und sollte Öl und Südfrüchte laden. Kam es glücklich nach Hause, so wollte mir der Alte seine Tochter geben. Wir hatten uns lieb, und ich freute mich bereits wie ein Junge auf die Hochzeit. Aber da in diesem unglücklichen Nest – ah, ich entsinne mich, daß da auch die Pendola lag, Kapitän Landola, und neben ihr eine französische Brigg, ein nettes, schmuckes Ding, das ich mir gern einmal genauer angesehen hätte. Ich bat den Alten, an Land gehen zu dürfen, und erhielt die Erlaubnis dazu. In einer Kneipe traf ich einige Leute von der Brigg, machte mich mit ihnen bekannt, und sie erlaubten mir, ihr Schiff anzusehen und nahmen mich mit. Aber kaum war ich an Bord, so wurde ich in den Kielraum geführt und dort mit Tauen angefesselt. Des Nachts ging die Brigg in See, und am anderen Tag erfuhr ich, daß sie ein Seeräuber sei, erst kürzlich von Grandeprise gekapert worden wäre und unter dem Kommando seines ersten Steuermannes stände. Den Kapitän selbst habe ich niemals gesehen, denn er hatte, wie ich hörte, mit seinem Hauptschiff in Westindien zu tun.« – »Und wohin gingen Sie?« fragte der Graf. – »Erst nach dem mittelländischen Meer und dann, da hier nichts zu machen war, nach Südamerika. Wir umschifften Kap Hoorn, ohne eine Prise machen zu können, und fuhren an Amerika hinauf, bis es mir an der Küste von Peru gelang, mit Hilfe eines braven Kerls, der Erbarmen mit mir hatte, während einer stockdunklen Nacht das kleine Boot in See zu lassen und nach der Küste zu entkommen. Er selbst wollte nicht mit, dennoch werde ich ihn nie vergessen. Er hieß Garbilot.« – »Garbilot? Jacques Garbilot?« fragte da Emma rasch. – »Ja«, antwortete der Kapitän erstaunt. »Kennen Sie ihn etwa?« – »Allerdings.« – »Das ist ja ganz unmöglich, denn es sind viele Jahre – ach, ich Dummkopf! Er kann ja noch leben! Wo haben Sie ihn denn kennengelernt, Señorita?«
Die Mexikanerin antwortete:
»Ich meinte nicht, daß ich ihn persönlich kennengelernt habe. Es wurde mir nur von ihm erzählt. Er lebt nicht mehr. Er ist im Gefängnis zu Barcelona gestorben, und ein Freund von mir, namens Sternau, hat seine Beichte gehört.« Und sich zu dem Grafen wendend, fuhr sie fort: »Dieser Jacques Garbilot ist nämlich der Seemann, der dem Doktor Sternau erzählte, daß er mit dem Seeräuber im Hafen von Verakruz gewesen sei. Dadurch kam Sternau zuerst auf die Vermutung, daß Sie noch leben möchten und an irgendeinen sicheren und geheimen Ort gebracht worden seien.« – »Gottes Wege sind wunderbar«, entgegnete der Graf. »Er zieht seine geheimnisvollen Fäden so, daß man erstaunt, wenn man sie bemerkt. Aber erzählen Sie, wie es Ihnen weiter erging, Kapitän!« – »Wie es mir erging?« fragte dieser mit finsterer Miene. »Schlecht genug! Ich fand kein Schiff, das mich aufnehmen wollte. Ich mußte hungern und warten, bis sich endlich nach drei viertel Jahren ein Holländer meiner erbarmte. So kam ich nach Amsterdam und von da nach Hause. Inzwischen waren zwei Jahre vergangen. Der alte Walter Sömbaum hatte mich für einen Ausreißer gehalten und seine Tochter beredet, einen anderen zu nehmen. Als ich ihr erzählte, wie es mir ergangen war, weinte sie sich fast die Augen aus. Das schlimmste aber ist, daß ich mir dann, freilich erst nach längeren Jahren, eine Niete gezogen habe, eine ganz gewaltige Niete. Und wer ist daran schuld? Der Grandeprise! Alles wollte ich ihm vergeben, aber daß ich die Anna Sömbaum nicht bekommen und an ihrer Stelle einen Schnabeldrachen geheiratet habe, das vergesse ich ihm nie. Hätte ich ihn nur einmal so recht hübsch zwischen meinen Fäusten! Ich wollte ihn kalfatern, daß ihm die Seele aus dem Leib führe wie die Nudeln aus der Kartoffelquetsche!«
Seine Worte klangen komisch, aber sein Zorn war nichtsdestoweniger ein durchaus ernsthafter. Man sah es ihm an, daß er ein tüchtiges Maß von Rachegefühl in seinem Herzen barg. Darum fragte ihn der Graf.
»Wann haben Sie den Kapitän Landola in Portsmouth gesehen? Bevor oder nachdem Sie zum Piraten gepreßt worden waren?« – »Eine Zeit nach meiner Rückkehr. Es war auf meiner ersten Wiederfahrt.« – »Wie schade, wie jammerschade, daß Sie ihn nicht vorher gesehen hatten!« – »Weshalb?« – »Nun, weil Landola und Grandeprise eine und dieselbe Person sind.«
Der Kapitän sprang erstaunt auf und rief:
»Unmöglich!« – »Nicht unmöglich, sondern wirklich!« – »Ah, da geht mir ein gewaltiges Licht auf! Aber da schlage doch sogleich das Wetter drein! Da hätte ich ihn ja packen können! Na, zum zweiten Male soll mir es nicht passieren, daß ich ihn entkommen lasse!« – »Als Piraten werden Sie ihn wohl nicht fangen können. Seit jener Zeit sind lange Jahre vergangen, und die Gegenwart ist diesem gefährlichen Handwerk nicht mehr günstig. Vielleicht hat er sein letztes Stück und zugleich sein Meisterstück an unseren Freunden gespielt, die er auf die Insel aussetzte.« – »Auf welche Insel?« fragte der Kapitän erstaunt. – »Das ist es ja eben, was ich Ihnen erzählen muß, Señor Wagner. Hören Sie also!«
Der Graf berichtete nunmehr dem deutschen Seemann alles, was er für nötig hielt. Kapitän Wagner hörte schweigend zu, ohne ihn zu unterbrechen. Nur das öftere, wechselseitige Überschlagen seiner Beine und sein häufiges, zorniges Ausspucken des Kautabaks verrieten, welchen Eindruck das Gehörte auf ihn machte. Aber als der Graf geendet hatte, stand er auf, schritt zur Beruhigung seines Inneren ein paarmal quer über das Verdeck und sagte endlich:
»Unerhört! Abscheulich! Entsetzlich! Und das alles ist wahr, ist wirklich wahr?« – »Alles«, antwortete Don Ferdinando einfach. – »So soll ihn der Teufel holen! Nein, nicht nur einer, sondern tausend Teufel sollen ihn holen! Was ist da das, was er mir getan hat, dagegen! Was ist da meine Anne Sömbaum dagegen! Schreit da nicht Ihr ganzes Herz nach Rache?« – »Das versteht sich! Sicherlich werden wir uns rächen, wenn er noch lebt.« – »Noch lebt? Solche Halunken sterben schwer, Don Ferdinando. Ich möchte wetten, daß er noch nicht in der Hölle brät. Aber sagen Sie mir um Gottes willen, wie es Ihnen gewesen ist, als Sie scheintot dalagen!« – »Fürchterlich, ich darf kaum daran denken!« – »Ich glaube es Ihnen. Sie hörten alles?« – »Jedes Wort.« – »Und sahen auch alles?« – »Alles. Man hatte vergessen, mir das eine Auge zuzudrücken. Ich vermochte die wahre Trauer von der falschen wohl zu unterscheiden. Dieser Schurke Alfonzo, der sich jetzt für den echten Grafen von Rodriganda ausgibt, konnte seine teuflische Freude nicht verbergen, mich auf dem Paradebett liegen zu sehen. Es gab nur eine einzige Seele, die mich herzhaft beweinte: das war die gute Marie Hermoyes.« – »Und wir? Ich und mein Vater, Don Ferdinando?« fragte Emma vorwurfsvoll. – »Ich spreche ja nur von Personen, die anwesend waren«, antwortete der Graf. »Ihr befandet euch damals auf eurer Hazienda. Ich hatte mein Testament gemacht und mußte zusehen, daß es dieser Cortejo entwendete. Dann wurde ich unter großem Gepränge begraben, nachdem der Arzt konstatiert hatte, daß ich wirklich tot sei. Oh, ich will selbst meinem ärgsten Feind nicht wünschen, das zu leiden, was ich in jenen Augenblicken gelitten und gefühlt habe, nur diesem Cortejo und diesem Landola möchte ich ein Gleiches gönnen.« – »Es muß wirklich entsetzlich gewesen sein«, rief Emma, indem sie sich vor Grauen schüttelte. – »So entsetzlich, daß es nicht zu beschreiben ist«, antwortete der Graf. »Alles sehen, alles hören und doch kein Glied rühren, kein Lebenszeichen geben können! Ich fühlte, daß meine Pulse stockten und mein Atem versagte. Das Blut lag mir wie kaltes Blei in den Adern, und der Luftstrom kroch langsam und eisig wie ein Salamander aus meiner Brust. Das Leben zog sich bis in das Herz zurück, und doch waren alle meine Nerven in angestrengtester Tätigkeit Ich hätte meine Seligkeit für einen einzigen Laut für die Bewegung eines einzigen Fingers bieten mögen und lag doch da, ohne Rettung und ohne Hoffnung, das Opfer eines fürchterlichen Betruges, einer teuflisch raffinierten Gaunerbande!«
Don Ferdinando schüttelte sich. Es war, als ob das damalige Todesgrauen sich selbst in der Erinnerung noch seiner bemächtigen wolle. Doch über ihm glänzten die Sterne des Südens, und unter ihm plätscherten die hellschaumigen Wogen der klaren, durchsichtigen See. Die Kühle des Abends umkoste seine Wangen, und teilnahmsvoll blickten alle auf ihn, und er fühlte die warme Hand Emmas auf seiner Schulter, die von einer Bewegung ihres Herzens nach dieser Stelle getrieben wurde.
»Und dann im Grab?« fragte der Kapitän. – »Fragen Sie Dante, den Dichter der Hölle, er wird Ihnen nicht sagen können, was ich fühlte. Es reicht ja keine Sprache und keine Zunge hin, dies zu beschreiben. Man grub mich aus und transportierte mich auf ein Schiff. Man stellte den Korb aufrecht in die Koje und erwartete mein Erwachen. Es kam langsam. Erst vermochte ich die Zunge zu bewegen, doch ohne sprechen zu können. Von diesem Augenblick an verging fast ein Tag, ehe ich des Gebrauches meiner Glieder mächtig wurde. Inzwischen hatte man mich in den Raum geschafft Landola sagte mir aufrichtig, daß ich nur leben solle, um nötigenfalls als Zwangsmittel zu dienen. So wurde ich in Berbera verkauft und nach Harrar gebracht wo ich erst nach so langen Jahren Rettung fand.«
Don Ferdinando schwieg. Er hatte alles erzählt was nötig war, auch das, was er während seiner Flucht nach der Küste von Emma über die Schicksale der jetzigen Bewohner der Insel gehört hatte. Der Kapitän war der erste, der das Wort ergriff.
»Was gedenken Sie nun zu tun, Don Ferdinando?« fragte er. – »Daß wir nach Kalkutta wollen, wissen Sie …« – »Um ein Schiff zu mieten?« fiel Wagner ein. – »Oder zu kaufen«, antwortete der Graf. – »Alle Wetter, das kostet Geld!« – »Ich bin damit versehen.« – »War der Schatz des Sultans denn so groß?« – »Er reicht zu«, lächelte der Graf. – »Aber Sie möchten jedenfalls kein billiges Fahrzeug nehmen, kein Segelschiff, das vielleicht gar nicht mehr seetüchtig ist.« – »Nein. Die Fahrt der Segelschiffe währt mir zu lange, es gilt den armen Freunden so schnell als möglich Rettung zu bringen.« – »Aber ein Dampfer ist teuer, Señor.« – »Ich bezahle jede Summe.« – Es könnte jedoch der Fall vorhanden sein, daß keiner zu verkaufen ist.« – »Auch nicht, wenn ich Millionen biete?« fragte Don Ferdinando. – »Alle Teufel, dann jedenfalls!« rief der Kapitän. »Ein entflohener Sklave, der mit Millionen nur so um sich wirft, ist jedenfalls eine Merkwürdigkeit!« – »Nun gut. Verstehen Sie sich auf die Führung eines Dampfers?« – »Ich sollte es meinen. Die Hauptsache ist ein tüchtiger Maschinist, denn mit der Maschine hat der Kapitän wenig oder gar nichts zu tun.« – »Ich bin Ihnen bereits zu großem Dank verpflichtet, und darum mag ich Sie kaum fragen, ob Sie den Großen Ozean kennen.« – »Kennen?« lachte Wagner. »Ob ich ihn kenne! Wie meine Tasche! Ich habe als Schiffsjunge und später fast jeden Längen– und Breitengrad durchsegelt. Ich kenne alle Wasser und Wässerchen, nur in der hiesigen See, die wir jetzt vor uns sehen, bin ich noch nicht gewesen. Aber warum fragen Sie?« – »Weil ich Vertrauen zu Ihnen habe. Ich möchte wünschen, daß Sie es wären, der uns nach der Insel bringt.« – »Ich? Holla! Ist das Ihr Ernst?« – »Mein vollständiger.« – »Von Herzen gern«, rief da der Kapitän. »Don Ferdinando, Sie sprechen mir aus der Seele. Ihre Schicksale sind so außerordentlich, daß Ihnen meine vollste Teilnahme gehört. Wollen Sie es wirklich mit mir altem Seehund versuchen, so hoffe ich, daß Sie mit Gottes Hilfe mit mir zufrieden sein werden.« – »Aber dieses Schiff hier?« – »Keine Sorge. Wir haben ganz unvergleichliche Geschäfte gemacht. Ich brauche nur in Kalkutta eine Ladung zu nehmen, so bin ich fertig. Mein Steuermann bringt sie glücklich heim. Er ist zuverlässig und wird mich bei meinem Reeder entschuldigen.« – »Prächtig! So sind wir also einig.« – »Einig«, nickte der Kapitän. – »Topp?« – »Topp!«
Die Hände der beiden schlugen kräftig zusammen, und so war das Engagement getroffen, das sich in der Folge als so günstig erweisen sollte.
36. Kapitel
Der Wind wehte günstig, und das Schiff war kein schlechter Segler; darum wurde Kalkutta glücklich in noch nicht viel über drei Wochen erreicht. Kapitän Wagner fand dort passende Ladung, und während seine Leute beschäftigt waren, dieselbe zu stauen, sah er sich nach einem Dampfer um. Leider war keiner zu finden, der für irgendeinen Preis verkäuflich gewesen wäre, denn diejenigen, die im Hafen lagen, waren Eigentum von Regierungen oder Gesellschaften, so daß nicht eigenmächtig über sie verfügt werden konnte. Schon wollte Wagner zweifeln, ob er hier überhaupt seinen Zweck erreichen könne, als ein Engländer auf einem eigenen Steamer ankam und, da er als Offizier hier bleiben wollte, das Fahrzeug zum Verkauf bot
Diese Gelegenheit kam so günstig und unerwartet daß sie von Wagner augenblicklich benutzt wurde. Er untersuchte das Fahrzeug, fand es neu und vortrefflich, kaufte es zu einem nicht zu hohen Preis und behielt das sämtliche Personal in seinem Dienst was diesen Leuten natürlich sehr willkommen war.
Bei den ungeheuren Reichtümern, die in Kalkutta aufgespeichert liegen, den zahlreichen Millionären, die es dort gibt und dem bedeutenden Handel, den man daselbst mit Edelsteinen und Perlen treibt, wurde es dem Grafen nicht schwer, seine Kostbarkeiten so weit zu verkaufen, daß er eine hinreichende Summe in die Hand bekam.
Der Dampfer wurde sogleich bezahlt, verproviantiert und mit Kohlen und allem Nötigen versehen. Auch sich selbst rüsteten die Reisenden aus. Emma erhielt nun wieder Damenkleider, und der Graf gönnte sich und dem treuen Bernardo alle Annehmlichkeiten, auf die zu verzichten sie beide so lange Zeit gezwungen gewesen waren.
Über sein Vorhaben beobachtete er die größte Verschwiegenheit, da man nicht wissen konnte, ob das Gegenteil von nützlichen Folgen sein werde. Nur dem spanischen Konsul vertraute er sich an, der ihn mit Legitimationen und anderen notwendigen Papieren versah und ihm außerdem in jeder Hinsicht förderlich war. Dann endlich konnten die Anker zur rettenden Fahrt gelichtet werden.
Die Hauptsache war, die Lage der einsamen Insel zu wissen. Emma hatte dieselbe zwar so angegeben, wie sie von Sternau bestimmt worden war; aber dieser hatte nicht die nötigen und genauen Instrumente gehabt, und so mußte trotz des Reichtums seiner Kenntnisse seine Angabe eine mangelhafte sein. Es galt also, in der angegebenen Gegend so lange zu suchen und zu kreuzen, bis die Insel gefunden war.
Da jetzt ein glücklicher Passatwind wehte, so ging die Fahrt unter Zuhilfenahme der Segel rasch vonstatten. Es wurden an mehreren Stellen Kohlen eingenommen, und endlich erreichte der Dampfer Ducie, die östlichste der Pomutu-Inseln.
Fünfzehn Grad nach Süden und dreizehn Grad nach Osten von hier, ganz in der Länge der Osterinseln, sollte nach Sternaus Berechnung das Eiland liegen. Kapitän Wagner begann also zu kreuzen. Dies tat er mehrere Tage lang, aber ohne allen Erfolg. Da man hier sehr leicht auf unterirdische Korallenklippen stößt, so mußte man sehr vorsichtig sein, darum gab er des Nachts keinen Dampf und ließ das Schiff vor schleppendem Anker treiben. Auf diese Weise wurde ein doppelter Zweck erreicht, man vermied die Gefahr, aufzulaufen, und man ersparte Kohlen, von denen der Dampfer nur einen entsprechenden Vorrat aufzunehmen vermochte.
Eines Nachts stand Wagner, der jetzt nur am Tag einige Stunden ruhte, auf der hohen Kommandobrücke und musterte den mit glänzenden Sternen besäten Horizont. Neben ihm stand der Graf, das Nachtrohr am Auge. Da machte der Kapitän eine rasche Bewegung und sagte:
»Bitte, Don Ferdinando, lassen Sie mir einmal das Rohr.« – »Hier! Sehen Sie etwas?« fragte der Graf gespannt. – »Hm! Da hinten, ganz am Meer, bemerke ich einen Stern, dessen Licht mir ungewöhnlich erscheint. Fast möchte ich wetten, daß er unter dem Horizont steht.« – »Dann wäre es ja kein Stern.« – »Nein, sondern ein künstliches Licht, eine Flamme.«
Wagner nahm das Rohr an das Auge und blickte lange Zeit forschend hindurch. Endlich setzte er es ab und sagte im Ton bestimmtester Überzeugung:
»Es ist kein Stern.« – »Ah! Vielleicht die Laterne eines Schiffes, das uns entgegenkommt?« – »Nein. Es ist die Flamme eines Feuers, das am Land brennt.« – »Mein Gott, wir nähern uns also einer Insel?« – »Jedenfalls.« – »Und Sie glauben nicht, daß Sie irren, Kapitän?« – »Nein, ich irre nicht Mein Rohr hat mich noch nie betrogen. Zwar weiß ich aus meiner heutigen Rechnung ganz genau, an welchem Punkte wir uns befinden und daß dort auf meiner sonst ausgezeichneten Karte keine Insel verzeichnet ist, aber daraus ist doch nur zu schließen, daß wir uns einer bisher unbekannten Insel nähern.« – »Gott, wenn das die gesuchte wäre.« – »Ich wünsche es von Herzen!« – »Soll ich Señorita Emma wecken?« – »Nein, noch nicht. Sehen Sie jetzt hin. Das Feuer scheint zu verlöschen.«
Der Graf bemerkte auch, daß der Lichtschein langsam zusammensank.
»Vielleicht war es irgendein Meteor, aber kein künstliches Feuer«, sagte er mit bangem Zweifel. – »O nein, es war ein Feuer, von Menschenhänden angebrannt. Sehen Sie, jetzt ist es vollständig verlöscht, während es vor kaum zwei Minuten noch hoch aufloderte. Was würden Sie aus diesem Umstand schließen, Herr Graf?« – »Daß das Brennmaterial ein sehr leichtes ist.« – »Richtig. Und dies paßt ganz auf das gesuchte Eiland. Ein Feuer, das durch Holzstämme oder ein anderes kräftiges Material genährt wird, fällt nicht so schnell zusammen, und Señorita Emma hat uns gesagt, daß Holz da eine Seltenheit ist.« – »Sie wollen also behaupten, daß dort, wo wir das Licht gesehen haben, jetzt Menschen sich befinden?« – Ja.« – »Werden diese unser Licht sehen?« – »Nein. Das Licht war meiner Schätzung nach ungefähr drei Seemeilen von uns entfernt Seine Flamme flackerte hoch, unsere Laterne gibt nur ein kleines, ruhiges Licht.« – »Und wenn sie es bemerken, werden sie es für einen Stern halten?« – »Jedenfalls. Ich werde ihnen aber ein Zeichen geben.«
Wagner befahl nunmehr, einige Raketen steigen zu lassen. Dies geschah, jedoch ohne allen Erfolg.
»Man bemerkt uns nicht«, meinte Wagner. »Hätten sie unser Signal gesehen, so würden sie jedenfalls geantwortet haben, indem sie die Flamme wieder anfachten. Wir werden wohl bis morgen warten müssen.« – »Wer kann dies aber aushalten!« rief der Graf im Ton der Ungeduld. – »Wir, Señor«, antwortete der Kapitän. – »Können wir nicht Dampf geben, um näher zu kommen?« – »Nein. Señorita Emma hat gesagt, daß die Insel von gefährlichen Klippen umgeben ist, vor denen wir uns hüten müssen. Wir haben Windstille, aber einen leichten Seegang von West nach Ost. Infolgedessen treiben wir vor Anker langsam aber stetig weiter und werden bei Tagesgrauen sehen, was wir vor uns haben.«
Der Graf blieb eine Weile ruhig. Als sich aber in ihm die Überzeugung festgesetzt hatte, daß das Ziel endlich erreicht sei, beendete er die entstandene Pause in der Unterhaltung mit der Frage:
»Wollen wir nicht eine Kanone lösen, Kapitän?« – »Ich möchte davon abraten«, entgegnete der Gefragte. – »Warum?« – »Aus mehreren Gründen. Ist diese Insel eine andere als die gesuchte, so sind die Menschen, die da wohnen, wahrscheinlich Wilde, die sich aus Furcht verstecken würden, wenn sie die Schüsse hörten. Überraschen wir sie aber mit Tagesanbruch, so können wir bei ihnen Erkundigungen einziehen, die uns vielleicht nützlich sein werden.« – »Ist es aber dennoch die gesuchte …« – »So erreichen wir durch die Schüsse nichts weiter, als daß wir den Schlaf dieser armen Leute und auch den von Señorita stören! Dies ist zwar kein stichhaltiger Grund, da er mehr als zur Genüge aufgewogen würde durch die Freude, endlich die ersehnte Rettung nahe zu wissen, aber ich bin ein Egoist, ich möchte diese Leute überraschen.« – »Ah, ich verstehe!« nickte der Graf. – »Ja, und die Señorita auch. Darum werde ich sogar die Laterne auslöschen lassen.«
Wagner gab nun den Befehl dazu und beorderte zugleich einen Mann hinaus in die Sprietwanten, um auf das Geräusch der Wellen zu horchen und vor einer etwaigen Brandung zu warnen.
So verging eine Viertelstunde nach der anderen. Der Kapitän bat den Grafen, endlich sich zur Ruhe zu begeben. Dieser aber konnte sich nicht dazu entschließen. Er wanderte unruhig auf dem Verdeck hin und her. Die Minuten wurden ihm zu Stunden und die Stunden zu Tagen, bis endlich kurz vor Anbruch des Morgens der Ausguck warnte:
»Brandung im Steuer vor uns!« – »Fall ab nach Backbord!« kommandierte der Kapitän.
Das Schiff drehte sich gehorsam nach links und ließ die gefährliche Stelle rechts liegen. Nach einiger Zeit begann es, am östlichen Horizont zu grauen, und wenige Minuten später erkannte man die noch unbestimmten Umrisse einer Insel, die von einem Ring von Korallenklippen umgeben war, durch den es nur eine einzige Pforte zu geben schien. Die See war so ruhig, daß dieser Eingang, wenigstens heute, nicht schwer zu passieren war. Nach einigen Minuten konnte man die Masse der Insel deutlich erkennen. Man bemerkte eine mit Sträuchern bewachsene Höhe, aber keine Spur von einer menschlichen Wohnung, trotzdem diese Sträucher so regelmäßig in Reihen standen, daß anzunehmen war, sie seien auf künstliche Weise gepflanzt worden. Der Graf kam auf die Kommandobrücke herauf und fragte:
»Nun, Kapitän, was denken Sie?«
Seine Stimme zitterte unter einer Erregung, deren er nicht Herr werden konnte.
Da sah ihm der Kapitän ernst und feuchten Blickes in das Auge und antwortete:
»Wir sind am Ziel, Don Ferdinando!« – »Wirklich? Glauben Sie das bestimmt?« rief der Graf in lautem Ton. – »Pst!« warnte Wagner. »Sie werden mir die Señorita wecken!« – »Warum soll sie nicht geweckt werden?« – »Weil ich sie überraschen will. Sie soll die Gefährten an Bord sehen, wenn sie erwacht.« – »Ah, so wollen Sie vorerst ohne sie an das Land?« – »Ja.« – »Aber mich nehmen Sie mit?« – »Das versteht sich ganz von selbst.« – »Aber welche Gründe haben Sie, zu glauben, daß diese Insel die gesuchte ist?« – »Weil sie ganz mit der Beschreibung übereinstimmt, die die Señorita uns von ihr gegeben hat. Ich beginne, auch in nautischer Beziehung alle Achtung vor diesem Sternau zu haben. Er hat trotz des Mangels aller Instrumente die Lage des Eilandes fast ganz genau angegeben. Ich hätte diesen Punkt eher aufsuchen sollen.« – »Ich sehe aber keine Wohnungen!«
Der Kapitän zuckte lächelnd die Achseln und antwortete:
»Sie werden hinter der Anhöhe liegen, wo sie vor den Stürmen geschützt sind. Lassen Sie uns Anker werfen und leise ein Boot aussetzen. Die Bewohner dieses Ländchens werden im tiefsten Morgenschlaf liegen.«
Die Hälfte der Mannschaft, die noch zur Ruhe lag, wurde vorsichtig geweckt, und dann führte man mit möglichster Vermeidung allen Geräusches den Befehl des Kapitäns aus. Er stieg mit dem Grafen und vier Ruderern in das Boot. Die Mannen kannten alle den Zweck der Fahrt und waren begierig, zu erfahren, ob die gesuchte Insel endlich gefunden sei. Sie freuten sich bereits im voraus ganz so, als ob sie eigene Freunde und Verwandte zu entdecken hätten.
Das Boot stieß ab und gelangte glücklich durch die Öffnung der Klippen. Am Strand wurde es angelegt, die Ruderer blieben zurück, während der Kapitän und der Graf langsam und vorsichtig vorwärts schritten.
37. Kapitel
Die Männer umgingen den Hügel und erblickten nun zunächst eine Reihe von niedrigen Hütten, die aus Erde und Zweigen errichtet waren. Die Türen derselben waren durch Felle verhängt, und ringsum bemerkten sie eine Menge Gegenstände, deren Zweck nicht sogleich zu erkennen war, sondern erst erraten werden mußte. Rings um die Hütten standen die Sträucher kräftiger als oben auf dem Hügel. Sie waren meist ihrer Äste beraubt, so daß deutlich das Bestreben zu erkennen war, Stämme aus ihnen zu ziehen, um ein Floß zu bauen.
Die beiden Männer aber bemerkten noch etwas anderes.
Gerade vor ihnen stand an dem letzten der Büsche eine ungewöhnlich hohe und breitschultrige Gestalt. Sie war in eine Hose und eine Jacke gekleidet, die ganz aus Kaninchenfellen gefertigt waren, die Füße steckten in einer Art von Sandalen, und auf dem Kopf saß ein Hut, der augenscheinlich aus einer langblättrigen Grasart geflochten war. Der volle, schöne Bart dieses Mannes reichte bis weit über die Brust, und ebenso floß sein dunkles Haupthaar über die Schultern herab. Seine Gesichtszüge waren von den Stürmen gegerbt, aber edel, und sein großes, offenes Auge, das mit dem Ausdruck der Andacht an der aufsteigenden Morgenröte hing, zeigte Intelligenz, die mit seiner primitiven Kleidung außerordentlich im Widerspruch stand. Es war Sternau.
Was dachte dieser Mann? Welche Gefühle waren es, unter denen seine breite Brust sich sichtlich hob und senkte?
Da, im Osten, wo die Röte des neuen Tages zu erglühen begann, lag Amerika, und noch weiter hinüber die Heimat mit all den Lieben, mit Mutter und Schwester, mit Weib und – Kind. Ja, hatte er wirklich ein Kind? Lebten sie noch, die seinem Herzen so unendlich teuer waren, oder waren sie gestorben vor Gram und Herzeleid? Hier an dieser Stelle hatte er, als erster, der des Morgens seine Hütte verließ, täglich im Gebet gelegen, lange, lange Jahre hindurch. Hier kniete er auch jetzt wieder nieder.
Er hatte die beiden Männer, die seitwärts hinter den Büschen standen, nicht bemerkt; er konnte auch das Schiff nicht sehen, da der Hügel dazwischen lag. Er nahm den Hut ab, faltete die Hände und betete, ohne zu ahnen, daß ein jedes seiner Worte gehört werde, in deutscher Sprache:
»Befiehl du deine Wege
Und was dein Herze kränkt
Der allertreusten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
Gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden,
Wo dein Fuß gehen kann!«
Seine Stimme klang zwar nur halblaut, da er die in ihren Hütten noch schlafenden Gefährten nicht aufwecken wollte, aber voll und wohltönend der nahenden Sonne entgegen. Es lag in diesem Ton eine Erhebung, eine Demut und doch auch ein so freudiges Gottvertrauen, daß dem Kapitän die Tränen in die Augen traten und auch der Graf von Rührung überwältigt wurde. Der Beter fuhr mit der sechsten Strophe des bekannten Liedes fort
»Hoff‘, o du arme Seele,
Hoff‘, und sei unverzagt!
Gott wird dich aus der Höhle,
Da dich der Kummer plagt
Mit großen Gnaden rücken;
Erwarte nur die Zeit
So wirst du schon erblicken
Die Sonn‘ der schönsten Freud‘.«
Jetzt wollte der Graf hervortreten, aber der Kapitän hielt ihn zurück, denn der Kniende betete weiter:
»Ja, Herr, Du Vater aller Deiner Kinder, Du Trost der Traurigen, Du Hilfe der Bedrängten, Dein bin ich, und auf Dich baue ich. Hier in der Öde des weiten Weltmeeres ertönt eine Stimme zu Dir, ein Schrei aus tiefster Not, ein Ruf um Gnade und Erbarmen. Mein Herz will brechen, und mein Leben möchte in Gram zerfließen. Rette, rette uns, o Weltenherrscher! Führe uns fort von hier, wo die Fluten des Elends uns zu ersticken drohen. Sende einen Menschen, der Dein Engel sei und uns erlöst vom Verschmachten in der Tiefe der Verzweiflung. Ist es aber in Deinem Rat beschlossen, daß wir hier ausharren sollen bis zum Tod, so erbarme Dich derer, die daheim für unsere Erlösung beten! Gib ihnen ein starkes Herz, zu ertragen, was Du über sie beschieden hast; träufle Trost und Frieden in ihre Seelen, trockne ihre Tränen und stille ihren Jammer. Du aber sei gelobt und gepriesen für alles, was Du sendest, denn Deine Wege sind wunderbar, und Deine Weisheit ist unerforschlich von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen!«
Jetzt erhob er sich. Die Tränen liefen ihm über die Wangen, aber das Gottvertrauen erhellte seine Züge. Da aber zuckte er plötzlich zusammen, so jäh und so heftig, als hätte er einen schweren Schlag erhalten, denn es hatte sich, obgleich er wußte, daß die anderen noch alle schliefen, eine Hand, also eine fremde, auf seine Schulter gelegt und eine Stimme sagte in deutscher Sprache:
»Ihr Gebet ist erhöret, und der Engel ist da, der Sie erlösen soll!«
Sternau fuhr herum und sah den weinenden Kapitän vor sich stehen, hinter ihm den Grafen. Er taumelte zurück und fiel wieder auf die Knie. Seine Augen waren weit geöffnet, seine Lippen bewegten sich, sie wollten sprechen, brachten aber kein Wort hervor. Er machte beinahe den Eindruck eines geistesgestörten, von einem furchtbaren Schreck gelähmten Menschen.
Der Kapitän erkannte seinen Fehler. Er hatte nicht daran gedacht, daß auch die Freude einen Menschen töten könne, er war höchst unvorsichtig gewesen.
»Mein Gott, was habe ich getan?« sagte er. »Fassen Sie sich, ja, fassen Sie sich!«
Da endlich gurgelte aus Sternaus Mund ein im Anfang noch unverständliches Gemurmel, das aber nach und nach in Laute und Worte überging:
»O – o …! Ah …! O Gott, o Gott! Ist‘s möglich! Wer sind Sie?« – »Ich bin ein deutscher Seekapitän, der Sie von hier wegbringen will. Mein Schiff ankert dort hinter der Höhe.«
Er hatte erwartet, daß Sternau sich nun aus seiner knienden Stellung erheben werde, aber dies geschah nicht, dieser sank vielmehr langsam, wie vernichtet zusammen. Seine Arme fielen herab, sein Kopf neigte sich, und sein doch so starker, riesenkräftiger Körper legte sich matt in das Gras nieder.
Die beiden Männer sahen, daß seine ganze Gestalt bebte, sie hörten sein herzbrechendes Schluchzen, und sie störten ihn nicht. Der Kapitän ahnte, daß sich in dieser Tränenflut die schlimme Wirkung seines unvorsichtigen Tuns auflösen werde, und er hatte recht.
Nach einer Weile stand Sternau langsam auf, sah die beiden noch immer mit dem Ausdruck des Zweifels an und fragte:
»Ist‘s wahr, ist‘s denn wirklich wahr, daß ich Sie sehe? Es sind Menschen da? Es ist ein Schiff gekommen? Gott, mein Gott, welche Seligkeit! Ich danke Dir, aber fast hätte sie mich getötet!« – »Verzeihen Sie!« bat der Kapitän. »Ich bin ganz unverzeihlich unvorsichtig gewesen; aber Sie wurden mir als ein Mann beschrieben, bei dem ich es mir zu getrauen glaubte, ein wenig unvorbereitet zu erscheinen.« – »Ich? Ich Ihnen beschrieben? Unmöglich!« – »Und doch ist es so! Ich müßte mich sehr irren, wenn ich Sie an Ihrer Gestalt nicht sofort als Herrn Doktor Sternau erkennen wollte.« – »Wahrhaftig, Sie kennen mich! Welch ein Rätsel! Wer hat mit Ihnen von mir gesprochen? Woher kommen Sie?« – »Dieser Herr hat mir von Ihnen erzählt.«
Wagner zeigte dabei auf den Grafen. Sternau betrachtete denselben. Seine Wangen röteten sich, und seine Augen leuchteten.
»Sie sagten ›dieser Herr‹, aber Sie wollten statt dessen ›dieser Señor‹ sagen?« fragte er. – »Allerdings«, antwortete der Kapitän erstaunt.
Da richtete sich die Gestalt Sternaus hoch empor, seine Brust tat einen tiefen, kräftigen Atemzug, und dann rief er:
»Ich bat Sie, mir zu sagen, woher Sie kommen; aber ich will …« – »Wir kommen aus …« wollte der Kapitän antworten. – »Aus Harrar«, fiel aber Sternau ein. – »Ja, aus Harrar«, antwortete der Kapitän noch erstaunter als vorher. – »Und dieser Señor ist Don Ferdinando de Rodriganda?« fuhr Sternau fort. – »Ja, der bin ich«, sagte jetzt zum ersten Male der Genannte, und zwar in spanischer Sprache. – »O mein Gott, ich zog aus, Sie zu retten, und nun kommen Sie, mich selbst zu erlösen! Ich habe Sie an Ihren Zügen erkannt, Sie sind Don Emanuel so außerordentlich ähnlich.«
Sternau breitete die Arme aus, und die beiden Schwergeprüften, die einander noch nie gesehen hatten, lagen sich so fest und innig am Herzen, als ob sie bereits von Jugend auf Freunde gewesen seien.
»Uff!« rief es da von einer der Hütten her. Und diesem Ruf folgte nach einer Pause übermächtigen Erstaunens ein dreifaches: »Uff! Uff! Uff!«
Bärenherz, der Häuptling der Apachen, war aufgewacht, hatte die Stimmen vernommen und bei seinem Austritt aus seiner Hütte diesen Ruf ausgestoßen. Sogleich wurden die Türfelle der nebenstehenden Hütte zurückgeschoben, und es erschien Büffelstirn, der Häuptling der Mixtekas. Sein Blick fiel auf die beiden Fremden und blieb auf dem Grafen haften. Er tat einen gewaltigen Sprung vorwärts und rief:
»Uff! Don Ferdinando!«
Er hatte ihn früher auf der Hacienda del Erina bei Pedro Arbellez gesehen und jetzt sofort wiedererkannt. Auch der Graf erkannte ihn.
»Büffelstirn!« rief er.
Seine Arme ließen Sternau los, und im nächsten Augenblick lag der Häuptling an seiner Brust. Ein spanischer Graf und ein halbwilder Indianer; das Entzücken macht alle gleich, und in Beziehung auf das Herz waren sich diese beiden vollständig ebenbürtig. Keiner von den Anwesenden dachte in diesem Augenblick an die Unterschiede, die doch nur auf äußerliche Rangverhältnisse gegründet sind.
Die Ausrufe der beiden Indianer waren so laut gewesen, daß auch die anderen Schläfer erwachten. Die beiden Helmers erschienen, und nach ihnen eine Frauengestalt – Karja, die Tochter der Mixtekas. Sie alle trugen ähnliche Kleidung wie Sternau, nur daß die Hüte fehlten, doch machten sie keineswegs den Eindruck von Wilden oder verwilderten Menschen.
Die nun folgende Szene läßt sich ahnen, aber nicht beschreiben. Keine Hand ist geschickt und keine Feder mächtig dazu. Laute Jubelrufe erschollen und dazwischen hunderte von Fragen. Einer flog aus den Armen des anderen in die des dritten. Sie eilten um die Anhöhe, um das Schiff zu sehen, und als sie es erblickten, schlugen sie die Arme in die Luft und machten Bewegungen, als ob sie unsinnig seien.
Nur einer verhielt sich, ob zwar auch erfreut, doch ruhiger als die anderen – Anton Helmers, von den Indianern Donnerpfeil genannt. Auch in seinen Augen glänzten die Tränen des Entzückens, aber seine Freude war mit Schmerz gemischt.
Der Kapitän bemerkte dies. Er trat zu ihm und sagte:
»Sie freuen sich nicht, auch endlich Erlösung zu finden?« – »Oh, ich freue mich«, lautete die Antwort; »aber meine Freude würde eine hundertfache sein, wenn …«
Er vollendete den Satz nicht, sondern schwieg.
»Wenn …? Bitte fahren Sie fort.« – »Wenn sie noch von jemand geteilt werden könnte.« – »Darf ich fragen, wer dieser Jemand ist?«
Anton Helmers schüttelte wehmütig den Kopf und wandte sich ab. Der Kapitän fand nicht weiter Zeit, in ihn zu dringen, denn Sternau trat zu ihm und fragte:
»Herr Kapitän, dürfen wir an Bord gehen?« – »Natürlich! Freilich!« lautete die Antwort. – »Aber gleich, sofort?« – »Um die Insel zu verlassen?« lächelte Wagner. – »Nein, sondern um den Fuß auf das Fahrzeug setzen zu können, dem wir unsere Rettung zu danken haben werden.« – »Gut. Kommen Sie! Es ist im Boot Raum für uns alle.«
Jetzt begann ein wahrer Wettlauf nach dem Boot; Sternau war der erste, der es erreichte. Selbst die beiden sonst doch so ernsten Indianer sprangen wie die Schulknaben. Als alle eingestiegen waren, schoß das Boot dem Schiff zu. Der Kapitän hatte dort seine Befehle zurückgelassen. Die Kanonen waren geladen worden, und als das Boot durch die Klippen ging, donnerte ein Schoß an Bord. In demselben Augenblick stiegen alle Flaggen und Wimpel in die Höhe, und Schuß auf Schuß wurde gelöst, bis die Geretteten an Bord erschienen.
Emma hatte ruhig geschlafen und nicht bemerkt, daß vor einiger Zeit das Boot vom Schiff gestoßen war. Erst der erste Schuß weckte sie aus dem Schlummer. Sie erschrak. Was war geschehen? Sie mußte es wissen.
Rasch sprang sie vom Lager auf, legte in größter Eile die Kleider an und stieg aufs Deck. Da sah sie die lang gesuchte Insel liegen. Wild aussehende Gestalten stiegen an Bord. Eine derselben blieb erstaunt stehen, stürzte aber dann in desto größerer Eile auf sie zu. Es war Donnerpfeil.
»Emma!« rief er. – »Anton!« jubelte sie.
Sie lagen sich in den Armen. Sie jubelten und weinten. Sie herzten und küßten sich wie Kinder, die ihr Entzücken nicht beherrschen können. Daneben stand der brave Kapitän und weidete sich an ihrem Glück. Endlich fragte er
»Nun, Herr Helmers, ist Ihre Freude jetzt eine hundertfache?« – »Oh, eine tausend-, eine millionenfache!« lautete die Antwort. »Aber sagen Sie mir um Gottes willen, wie Emma auf Ihr Schiff kommt. Wir alle glaubten sie tot, mit dem Floß elend untergegangen.« – »Das werden Sie später ganz ausführlich erfahren. Jetzt aber kommen Sie herunter in die Kajüte. Das Frühstück steht bereit, und Sie sollen nach langen Jahren wieder einmal menschlich essen können.«
Da unten ging es nun fröhlich zu. Es wurde einstimmig beschlossen, jetzt nur das Glück der Rettung und des Wiedersehens zu genießen, sich aber noch aller Fragen zu enthalten. Man hielt auch Wort, obgleich dies jedenfalls einem so schwer fiel als dem anderen. Das Mittagsmahl sollte auf der Insel abgehalten werden, und dann wollte der Kapitän sogleich in See stechen.
»Aber wohin?« fragte Sternau. – »Nach Mexiko, zu meinem Vater«, antwortete Emma. – »Nach Mexiko, zu Cortejo, dem Betrüger«, drohte Don Ferdinando. – »Nach Mexiko, zu den Mixtekas«, sagte Büffelstirn. – »Mach Mexiko, zu den Apachen«, fügte Büffelstirn hinzu. – »Nun wohl, nach Mexiko! Wir alle gehen mit!« entschied Sternau. – »Und wo landen wir?« fragte der Kapitän. – »Da, wo wir in See gingen oder vielmehr in unser Unglück.« – »Also in Guaymas?« – »Ja. Sind wir dort, so werden wir erfahren, was weiter zu tun ist.«
Das Frühstück verlief unter Lachen und Tränen. Das Entzücken über das Glück des Augenblicks wechselte mit dem trauernden Gedanken an die daheim Weilenden. Später kehrte man auf die Insel zurück. Der Kapitän nahm die deutsche Flagge mit und gab so vielen seiner Leute Erlaubnis, mitzukommen, als an Bord entbehrt werden konnten. Es gab während des Diners die feinsten Speisen und Weine, die er von Kalkutta mitgebracht hatte. Die in Felle gekleideten Robinsons speisten wie die Fürsten, aber als die Reihe an den Champagner kam, schob Wagner ihn beiseite und sagte:
»Meine Herren und Damen, dieses flüchtige Getränk nachher. Ich ersuche Sie, vorher mit mir etwas Ernsteres und Gehaltvolleres zu kosten. Folgen Sie mir!«
Sie erhoben sich mit ihm von ihren mitten im Grün improvisierten Sitzen und folgten ihm auf den Hügel, wo sich der höchste Punkt der Insel befand. Dort stand der Bootsmann mit der deutschen Flagge, neben ihm ein Korb edlen Rheinweins. Die Flaschen wurden entkorkt und die Gläser gefüllt. Dann sagte der Kapitän:
»Meine Damen und Herren! Ich habe, bevor wir von der Insel scheiden, eine heilige Pflicht zu erfüllen. Diese Insel ist auf keiner Karte verzeichnet und liegt ohne Namen und Gebieter im weiten Meer. Deutschland, das Vaterland von vier Personen aus unserer Versammlung, hat nie ein Volk aus seinem Land verdrängt und um seinen Besitz gebracht. Es hat der Fürsten viele, aber keinen einzigen Herrn; es besitzt nur sich allein, aber keine Kolonie. Doch wird die Zeit kommen, wo es beides besitzt, und nur zur Bekräftigung dieser meiner Überzeugung nehme ich diese kleine, wertlose Insel im Namen des zu erwartenden deutschen Kaisers in Besitz und gebe ihr den Namen Rodriganda. Erheben Sie Ihre Gläser. Hoch Deutschland! Hoch seine Herrscher! Hoch Rodriganda!« – »Hoch, dreimal hoch!« erscholl es jubelnd im Kreis.
Die Gläser klangen. Der Kapitän schwenkte die Flagge, und während auf dieses Zeichen auf dem Schiff die Kanonen donnerten, steckte er den Schaft der Fahne tief in den Boden.
»So«, sagte er; »ich werde den Namen Rodriganda in meine Karte zeichnen und dafür sorgen, daß er verbreitet wird. Jetzt aber kommen Sie zurück zum Champagner. Ich liebe die Franzosen nicht, aber ich trinke ihren Wein!«
Was nun noch besprochen und beschlossen wurde, das wird der liebe Leser später erfahren. Es gab viel, sehr viel zu erzählen. Die Gesichter wurden ernster. Manches wurde mitgenommen, an sich wertlos, aber als ein Andenken an die traurige Zeit, die jetzt endlich hinter den Verbannten lag. Noch in der ersten Hälfte des Nachmittags lichtete das Schiff den Anker und trug, einen langen Rauchschweif hinter sich werfend, seine glücklichen Passagiere einer neuen, hoffentlich besseren Zukunft entgegen.