-------
| bookZ.ru collection
|-------
| Ole Rölvaag Edward
|
| Das Schweigen der Prärie
-------
Ole Edward Rölvaag
DAS SCHWEIGEN DER PRÄRIE
Denen aus meinem Volke
die bei der großen Landnahme
dabei gewesen sind – ihnen und
ihren Geschlechtern widme ich
diese Aufzeichnungen
O. E. Rölvaag St. Olafs College Northfield, Minn.
Die Riesen waren auf Erden in
jenen Zeiten ...; das sind die
Recken der Ur-Zeit, die hochberühmten.
Genesis 6, Vers 4.
Der sinkenden Sonne nach
I
Endlose Ebene. – Ebene ringsum, Ebene bis zum Horizont. Darüber ein Himmel – sprühend klar, heute und morgen und alle Tage.
Und Sonne! – Und immer noch mehr Sonne!
Jeden Morgen ließ sie den Himmel aufflammen; stieg tagsüber in bebendem Gelb empor; verglomm zum Abend in allen Tönen von Rot und Purpur. Fegte mit einem Windhauch die weite Fläche, wellte sie gelb und blau und grün. Auch ein Schwarz jagte bisweilen wie ein wogender Schatten darüber hin – bisweilen.
Jetzt war es später Nachmittag. Durch das Gras bahnte ein Häuflein Menschen sich seinen Weg. Ihre Fährte nahm sich aus wie der Strudel hinter einem Boot, nur daß sie sich wieder schloß, statt sich zu weiten.
»Tissch-ah,« sagte das Gras. – »Tissch-ah, tissch-ah!« schrie es und richtete sich sogleich wieder auf, um diesem merkwürdig Harten nachzuschauen, das es so geschwinde zu Boden zwang und sogleich seines Weges weiterzog. —
Ein breitschultriger, stämmiger Mann schritt an der Spitze des Zugs. Er sah in dem hohen Gras und unter dem grobstrohigen, breitkrempigen Hut kürzer aus, als er eigentlich war. Ein paar Schritt hinter ihm kam ein etwa neunjähriger Bub. Sein helles Haar hob sich scharf von dem nußbraunen Nacken ab; bei dem Mann an der Spitze waren Haar und Nacken von gleichem Braun. Nach dem Aussehen und mehr noch dem Gang war leicht zu erraten, daß hier Vater und Sohn gingen.
Hinter den beiden stampfte bedächtig ein Gespann Ochsen vor einem Gefährt, das vermutlich einstmals ein Wagen gewesen war, jetzt aber ob mannigfacher und erklecklicher Gebrechen längst zum Gerümpel gehörte, – wo der Mann es denn auch tatsächlich gefunden hatte.
Über dem Wagengestell bogen sich lange Weidengerten zu Bögen wie im Chor einer Kirche, – sechs waren‘s im ganzen. Darüber lagen, sorgsam am Wagen befestigt, zu unterst zwei handgewebte Decken, die in alten Zeiten den Wänden eines Herrensitzes zur Zierde gereicht hätten; über den Decken wieder lagen zwei Schafpelze mit der Wolle nach innen. – Das Wageninnere war bis an den Planhimmel vollgepackt: eine Auswandererlade stand zu unterst – sie war ungemein groß und beanspruchte das meiste des Raumes; rings um sie und darüber waren Möbel, Werkzeug, Geräte, Kleidung dicht verstaut.
Rückwärts an dem Wagen war noch ein Gefährt vertäut, unverkennbar selbstgefertigt und höchst eigenartig, jedoch so solide gebaut, daß es schon allein darum einen Platz in einem Museum verdient hätte. War übrigens tatsächlich so etwas wie ein Wagen oder wenigstens als solcher beabsichtigt. Es verfügte über zwei aus Bretterenden zusammengezimmerte Räder und ein Gestell, das bedeutend geräumiger war als das des vorderen Wagens. Auch hier war alles vollgeladen und gehörig festgeseilt. Beide Wagen quietschten und krachten geradezu grausig, so oft sie über einen Grasschopf in eine Bodensenkung kippten oder aus einem Loch heraufrumpelten.
Ein gut Stück hinterher zockelte eine rotscheckige Kuh; der Zug karrte so gemächlich dahin, daß sie sich ab und zu ein paar Maulvoll Gras abrupfen konnte. Und die hatte sie auch nötig; denn nun war sie schon den ganzen lieben langen Tag schwanzschwingend hinterher getrödelt und hatte abends für die Milch zum Habermus für alle die Menschen da vor ihr aufzukommen.
Über das Gestell des vorderen Wagens war ein ungehobeltes Brett quer gelegt. Darauf saß rechts eine Frau mit einem Kopftuch; sie lenkte die Ochsen. An ihrem linken Schenkel lehnte der blonde Kopf eines schlummernden Dirnleins; bisweilen strich die Hand der Mutter leise darüber hin, um die Mücken zu verscheuchen, die sich mit dem Abend einstellten. Zur Linken des Kindes wieder saß ein Bub von etwa sieben Jahren– gutgewachsen, sonnengebräunt und mit etwas Leuchtendem im Blick. Er hatte die Hände ums Knie gefaltet und guckte ins Weite.
Das war der Per Hansen mit den Seinen und aller seiner Habe, auf Wanderung begriffen von Filmore County, Minnesota, nach Dakota Territory; dort wollte er Land nehmen und sich einen Hof erbauen, den man weit und breit rühmen sollte; dort draußen fehlte es, wie er gehört, nicht an Gelegenheit. – Per Hansen schritt voran, um die Richtung festzulegen; Ole, der Bub, ›der Olamann‹ genannt, hielt sich dicht dahinter und ›befuhr die Strecke‹; die Beret, Per Hansens Weib, lenkte die Ochsen und hütete Klein-Annemarie, die im Hausgebrauch das Gössel Junges Gänschen. hieß und gar so putzig war. Hans Christian – stets zum Unterschied von seinem Paten, der auch Hans hieß, der ›Große-Hans‹ genannt – saß neben der Mutter und paßte auf, daß jeder das Seine tat. – Und Buntscheck, die Kuh, folgte den Schweif schwingend und wedelnd dem Trupp immer weiter in die Unendlichkeit hinein.
»Tissch-ah, tissch-ah!« schrie das Gras. – »Tissch-ah, tissch-ah!«
II
Wie jämmerlich und zwergenhaft sich der Trupp ausnahm, als er durch die endlose Einöde am Himmelsrand entlang kroch! Keine Spuren von Weg oder Steg. Und hatte sich das Gras erst wieder aufgerichtet, so vermochte niemand mehr zu sagen, woher das Häuflein Menschen gekommen oder wohin es gegangen war. Der Per Hansen mit Weib und Kindern, mit Wagen und Kuh und allem, was sein war, hätte soeben vom Himmel herabgefallen sein können. Jedenfalls schien er jetzt vorzuhaben, in den Himmel hineinzuwandern; denn der Kurs blieb stets der nämliche: geradeaus auf den westlichen Himmelsrand zu.
Einsam karrte sich der Zug weiter in die blaugrüne Unendlichkeit hinein, – immer tiefer hinein, und abermals tiefer hinein.
Und es ging der sinkenden Sonne nach.
Jetzt waren sie schon über drei Wochen unterwegs. Sie hatten Blue Earth durchfahren, Chain Lakes hinter sich gelassen, waren eines Tages in Jackson am Demoines River eingezogen. Menschenalter schienen seither verstrichen. – Von dort war es weiter gegangen nach Westen, bis nach Worthington; darauf an den Rock River. Und dann hatte der Per Hansen westlich vom Rock River plötzlich die Spur verloren. War auch später nicht wieder auf sie gestoßen.
Und wußte jetzt nicht, wo er sich eigentlich befand. Aber er hatte es gewissermaßen im Gefühl, daß Split Rock Creek Creek = Bach. hier so irgendwo herum lag, in der Westsonne. Und kam er überhaupt einmal an den, dann war er auch der Mann, sich weiter zurechtzufinden! – War nur so merkwürdig, daß er nicht schon längst beim Split Rock Creek war? Hätte eigentlich schon seit etwa drei Tagen dort sein müssen. Und immer noch nicht die leiseste Andeutung!
Die Wagen knirschten und krachten. Per Hansens Augen suchten und suchten; das bärtige Antlitz wandte sich von Südwest nach Nordost und wieder nach Südwest. Zwischendurch suchte er die Ebene ab von sich bis zum Himmelsrand. Dann wieder schnupperte er, etwa wie ein Tier, das Witterung sucht. Unablässig guckte er auf die alte Silberuhr in seiner Linken, ließ den Blick spähend über den halben Horizont gleiten.
Die Uhr ging jetzt schon auf sechs; seit drei Uhr heute nachmittag war er des Kurses wieder sicher gewesen; denn da hatte er mit Hilfe von Uhr und Sonne Peilung genommen. – Ja, hier hieß es, unbekümmert die Zeit ausnutzen.
So wanderten sie schweigend vorwärts. —
Endlich sagte er zu dem Buben hinter ihm, ohne aber seinen Schritt zu mäßigen:
»Treib du jetzt eine Weile die Ochsen an, du Ola; und schwätz dabei ein wenig mit der Mutter, daß ihr die Zeit nicht so lang wird. – Und halt derweile Ausguck, so gut du kannst.«
»Ich bin aber noch gar nicht müd!« zauderte der Bub.
»Geh du nur! Ich spür‘s doch auch; wollen uns bald ein Mus kochen. Mußt aber noch eine Weile aufs Abendrot zusteuern.«
»Glaubst du, wir erreichen die anderen heut abend?« Der Bub zögerte noch immer.
»Aber nein! Bist nicht gescheit! Die sind weit voraus. – Schau gut um dich, und entdeckst du Verdächtiges, so rufe.«
Der Per Hansen sah wieder auf die Uhr und schritt unverdrossen weiter. Der Ole sträubte sich nicht mehr, trat neben die Fährte und wartete auf den nachfolgenden Wagenzug. Der Große-Hans sprang schnell herunter, und der andere kletterte hinauf.
»Habt ihr etwas von ihnen entdeckt?« fragte die Mutter.
»O nein – vorläufig noch nicht,« sagte der Olamann leichthin.
»Kriegen wir sie überhaupt je wieder zu Gesicht, dann mag es auch noch eine Weile währen!« sagte sie vor sich hin. »Hier geht‘s gewiß bis ans Ende der Welt und noch ein Stück weiter!«
Der Große-Hans, der noch neben dem Wagen herlief, hörte es und sah auf; kindliche Unerschrockenheit strahlte von dem braunen Gesicht, – wie konnte die Mutter nur alles so trüb ansehen! »Aber wenn die und wir immer der Sonne nachfahren, dann müssen wir ja doch am selben Orte landen? – Die Sonne, die hält Kurs!«
Das hatte er gestern abend den Vater sagen hören. Er fand das so sonnenklar, erstens, weil der Vater es gesagt, zweitens, weil es sich so selbstverständlich und richtig anhörte. – Aber jetzt lief er zum Vater vor und faßte dessen Hand; so fühlte er sich am besten geborgen.
Die beiden wanderten nebeneinander her; bisweilen lugte der Bub verstohlen in das Gesicht über ihm, das so ernst und unerschütterlich war wie die Prärie selber. Er hätte eigentlich gern ein wenig geplaudert, aber es fiel ihm nichts ein, was sich männlich genug ausgenommen hätte. – Allmählich aber schien ihm das Schweigen doch gar zu lang zu werden; er versuchte so ganz nebenher und möglichst wie der Vater, ein paar Wörter fallen zu lassen:
»Wenn ich erst groß bin und Pferde habe, dann baue ich einen Weg über dies ewige Flachland hier, und dann – und dann ramme ich Pfähle ein, nach denen sich die Leut richten können. – Glaubst du wohl, daß das geht?«
Ein Lächeln blinkte in dem Bart: »Aber gewiß, Großer-Hans, das bringst du alleweil fertig. – Vielleicht, daß ich dann auch die Zeit hab, dir ein paar Arbeitsschichten dabei zu helfen!«
Der Bub merkte am Tonfall, daß der Vater gut aufgelegt war, und das stimmte ihn so fröhlich, daß er sich vergaß und tat, was die Mutter nicht leiden konnte: er fing an zu pfeifen, und er versuchte ebenso große Schritte zu nehmen wie der Vater. Aber bei ihm sagte das Gras bloß: »Swisch-ih, swisch-ih!«
Und weiter ging es nach Westen – tiefer hinein ins Abendrot.
Die Mutter hatte Klein-Annemarie auf den Schoß genommen und lehnte sich zurück; das tat dem müden Rücken wohl. Das Spielen und Kosen und Plaudern des Kindes ließen sie Sorge und Furcht vergessen – und die Unendlichkeit, die sie von allen Seiten umdrohte. – Der Ole neben ihr lenkte die Ochsen wie ein Großer; und woran es auch liegen mochte: er brachte den Ochsenbeinen mehr Beweglichkeit bei als sie – das sah sie selber; seine geschwinden Augen ließen nichts in der Nähe oder Ferne unbeachtet.
Die große Ebene stieg jetzt am Horizont an; es glich eigentlich einer Schwellung unter der Haut. Der Per Hansen hielt scharf auf den höchsten Punkt zu, obgleich es ein wenig vom Kurse abwich.
Die Nachmittagsbrise flaute ab. Die Sonne verlor unmerklich ihren Goldglanz, bekam ein rotes Licht, das seltsam und matt erglänzte und doch noch viel Macht besaß, – verglomm dann in Rotviolett. Sie wuchs zu gewaltiger Größe an, sank der Ebene näher und näher, sank mit eins fröstelnd geschwinde. – Die Erhabenheit des Abends nahm sie alle gefangen; die Ochsen schüttelten die Ohren, Buntscheck machte sich Luft in einem langgedehnten Brüllen, das in der Stille zähe dahinstarb. Gerade als die Sonne ihr Auge schloß, wuchs die gewaltige Einöde empor. Es wurde plötzlich so öde über der Landschaft; etwas Kaltes, Erloschenes verwebte sich mit der Stille. Hinter ihnen lag jetzt tief grüne Widde Die Bezeichnung für die weite öde norwegische Hochebene, hier von den norwegischen Fischerwirten auf die Prärie angewandt. mit schwarzblauem Dunkel darüber. – – – Dicht über der Höhe in Nordwest schwebten leichte Gutwetterwolken; sie hatten sich mit blankgeputzte Goldkanten geschmückt, die milde leuchteten. Die Wolken schwebten so leicht dahin, als wären sie ohne Schwere.
Die Mutter saß wieder aufrecht; das Kind hielt sie noch immer auf dem Schoß. Per Hansen und der Große-Hans schritten weit voran durch den Abend.
Während der beiden letzten Tage war der Per immer gar so weit vorausgegangen, und sie meinte zu wissen weshalb.
»Per,« rief sie müde, »rüsten wir nicht bald zur Nacht?«
»O gewiß.« Er ging jedoch keineswegs langsamer.
Die Mutter weinte jetzt leise. Der Olamann tat, als merke er nichts, obwohl er große Klumpen im Halse hinabwürgen mußte; er spähte unermüdlich umher.
»Vater!« rief er nach einer Weile, »ich sehe im Westen Wald!«
»Ho, wirklich, du Gernegroß? Den haben der Große-Hans und ich schon lange gesehen!«
»Wo ist er, wo?« fragte der Große-Hans eifrig.
»Da unten links am Höhenzug fängt er an und zieht sich nach hinten herum. – Sieht übrigens nicht gerad nach viel was aus.«
»Glaubst du, Vater, daß sie dort sind?«
»Aber nein! – Doch haben wir die Richtung.«
»Sind die anderen hier gewesen?«
»Freilich, – jedenfalls nicht weit ab. – Ein Bach soll da sein, der so etwas wie Split Rock Creek heißt, oder wie‘s der Kuckuck auf Englisch nennen mag.«
»Wohnen hier Menschen, glaubst du?«
»Menschen? Bist nicht gescheit, Bub! In diesen Gegenden gibt‘s überhaupt keine Menschen!«
Die blaudunkle Finsternis legte sich jetzt schnell und dicht um die kleine Schar; man konnte die Nacht kommen fühlen; sie atmete Kühle aus.
Endlich blieb Per Hansen stehen: »Nein, jetzt aber stopp; am Ende krepieren wir sonst noch mitsamt den Tieren.« Damit wandte er sich nach den Ochsen um, streckte die Arme seitwärts wie Querbalken an einem Kreuz, rief ein langgezogenes »Ho-o!« – und damit hatte das Karren für diesen Tag ein Ende.
III
Die Vorbereitungen zum Abend und zur Nacht waren schnell getroffen; jeder hatte seine bestimmte Obliegenheit und war jetzt gut eingeübt.
Der Große-Hans sorgte fürs Holz; das Holzbündel hing unter dem hinteren Wagen und bestand aus Kleinholz und Reisig vom letzten Wäldchen, an dem sie vorbeigekommen waren. – Der Ole richtete die Feuerstätte her; zwei an dem einen Ende gespaltene Eisenstäbe wurden in die Erde gebohrt und ein dritter quer darüber gelegt. Ferner war der Ole dafür verantwortlich, daß bei jeder Rast genug Wasser in dem Holzfäßchen war. Außerdem hatte er der Mutter zur Hand zu gehen. – Der Vater besorgte das Vieh. Er hob zuerst das Joch von den Ochsen und koppelte sie los; dann molk er Buntscheck und ließ sie laufen. Zuletzt richtete er unter dem Wagen das Nachtlager ein für sich und die Seinen. – Während die Mutter das Aufkochen im Kessel abwartete, deckte sie den Tisch. Sie breitete eine Decke auf dem Erdboden aus, legte für jeden einen Löffel darauf, setzte zwei Schalen zur Milch hin und holte eine Schüssel für das Mus. – Und außerdem durfte sie das Gössel nicht aus den Augen verlieren, das im Grase herumtappelte, hinfiel, vergnügt quietschte, wieder aufstand, mit dem Fuß in das lange Röckchen trat, von neuem hinpurzelte und lachte, daß es durch den Abend trillerte; von Zeit zu Zeit ließ sich die warnende Stimme der Mutter vernehmen.
Der Große-Hans war zuerst mit der Arbeit fertig. Er zögerte einen Augenblick, begab sich dann aber doch auf eigene Faust auf eine Spritztour nach Westen. Wie weit mochte es wohl bis zu dem Hügel da vorne sein? Spaßig zu sehen, wie es wieder westlich von dem aussah! Vielleicht waren die anderen dort? Denn irgendwo mußten sie doch sein? Dann wollte er sie mit Indianergeheul überraschen und ihnen fürchterliche Angst einjagen! – Er war schon ein gut Stück gegangen, als er sich umsah. Und da durchfuhr ihn ein Schreck: die Wagen waren jetzt Pünktchen auf dem Boden eines unendlichen schummerigen Raumes! Ich muß schauen, schleunigst wieder heimzukommen, überlegte er mit offenem Mund; die Mutter hat jetzt auch gewiß das Mus bereit! Und er machte unverzüglich kehrt. Aber selbst der Gedanke an Mutter und Mus gaben ihm noch nicht das entbehrte Sicherheitsgefühl, und so nahm er seine Zuflucht zu einem Kirchenlied, das er laut und herzlich falsch vor sich hersang, bis ihm der Atem verging. Aber da wuchsen sich die Wagen auch schon wieder groß, und es war nicht mehr ganz so gefahrvoll.
Die Mutter rief jetzt zum Essen. Auf der Decke standen zwei Schalen mit dem Habermus, eine größere für den Vater und die beiden Buben, eine kleinere für die Mutter und das Gössel. Die gesamte Abendmilch war auf die beiden Schalen verteilt. Die arme Buntscheck gab in diesen Wandertagen nicht viel her! – Der Vater verzichtete auch heute abend auf seine Milch: sie habe Beigeschmack, und er trinke lieber Wasser zum Mus. Als aber auch der Ole sich über den Geschmack der Milch zu beschweren begann und lieber Wasser haben wollte, da hieß ihn der Vater gefälligst den Schluck Milch hinuntertrinken. – Mehr als die Milch und die beiden Schüsseln Mus bescherte der Abendbrottisch nicht.
Plötzlich gerieten der Ole und der Große-Hans sich in die Haare; der eine warf dem andern vor, er esse zu weit da hinein, wo das Mus schon kalt geworden. Der Vater hörte erheitert zu. Dann stellte er Frieden her, indem er mit seinem Löffel drei Linien über die Musoberfläche zog.
»Schaut her, ihr Buben! Dies ist dein Landstück, Großer-Hans; nimm es in Besitz und gib dich damit zufrieden! Der Ole muß einen Morgen Land mehr haben, weil er größer ist als du. Und nun stopft euch die Mäuler!« Der Per Hansen selbst bekam an dem Abend das kleinste Mus-Areal.
Im übrigen wurde bei Tisch nicht gesprochen. Auf ihnen allen lastete etwas, und sie vermochten es nicht abzuschütteln.
Als der Vater gegessen, leckte er den Löffel gründlich ab, wischte ihn am Hemdärmel trocken und warf ihn auf das Tischtuch. Die Buben machten‘s ihm nach; nur das Gössel wollte seinen Löffel in sein Röcklein einwickeln und ihn bis morgen früh da aufheben.
Jetzt waren sie fertig. Und das Kleinste sagte mit feinem Stimmchen das Tischgebet her: »Hab Dank, o Gott im Himmelreich, der du uns geschaffen hast ... – Und jetzt lege ich mich zu dir!« erklärte sie, kaum daß sie das Amen vorgebracht, kletterte in den Schoß der Mutter und hing sich ihr an den Hals.
Die Mutter drückte das Kind an sich. – »Huff, wie schnell es hier finster wird!« entfiel es ihr.
»O ja,« meinte Per Hansen trocken und wiegte den Oberkörper, »desto schneller wird es wohl morgen früh wieder hell!«
Und jetzt braute sich weit weit weg, dort hinten, wo sie hergekommen waren, etwas zusammen. Das Himmelsgewölbe wurde vom Rande her in trollhafte Helle getaucht, – mattgelb, grünspanfarben, mit einem Fünkchen Rot darin. Die Helle verbreiterte sich nach oben, wurde farbenfrischer, gewaltiger, – noch zauberischer kupfergrün.
Sie schauten stumm zu.
Das Gössel vermochte zuerst die Zunge wieder zu rühren, und am Halse der Mutter hängend, rief es: »Nein, schaut die Sonne! – – Da ist ja die Sonne!«
Ernst erhob sich über der Einöde der Mond. Schon mehrere Abende war er so früh aufgegangen, und doch erschien ihnen der Anblick jedesmal gleich neu und gewaltig. Wie am Abend zuvor irgendwo weiter östlich auf der Prärie sahen sie ihn langsam über dem Himmelsrand aufsteigen. Die Silberstreifen verstärkten sich, das erste mattgrüne Kupferlicht fing an zu zittern, wechselte in grünblaue, gelbgrüne Nebel hinein.
Das Gössel war ganz überzeugt, daß der Mond heute abend noch viel größer sei. Das war sie auch gestern schon gewesen; trotzdem versuchte der Große-Hans sich noch einmal mit der Erklärung, daß der Mond doch wohl ebensogut wachsen dürfe, wie sie selbst! Das fand sie auch recht und billig und wollte nur noch von der Mutter wissen, ob denn auch der liebe Mond jeden Abend Mus und Milch bekomme wie sie.
Der Per Hansen hatte derweil, auf der Wagenstange sitzend, seine Pfeife geraucht. Jetzt stand er auf, klopfte die Asche aus, steckte die Pfeife in die Tasche, sah auf die Uhr und kommandierte alle Mann in die Kojen.
Gleich darauf streckten sie sich unter die Decken und sahen in das grünblaue Licht,
Als die Mutter glaubte, daß die Kinder schliefen, sagte sie sorgenvoll: »Glaubst du, daß wir sie wieder auffinden?«
Der Per Hansen antwortete so sonderbar gedehnt: »Das meine ich wohl. Wenn sie nicht geradeswegs in die Erde gesunken sind!« Und dann gähnte er lange und nachdrücklich, als sei er entsetzlich schläfrig, und legte sich auf die andre Seite.
Da sagte auch sie nichts mehr.
IV
Aber der Per Hansen war. in jener Nacht keineswegs schläfrig. Er lag völlig wach und sah in die Ferne. Trotz der nächtlichen Kühle schwitzte er bei den Gedanken, die sich ihm jetzt unwiderstehlich aufdrängten.
Und er hatte dazu allen Grund! Denn wie war das doch alles gekommen? – Übrigens war ihm nicht bloß heute abend so; es war ihm schon den ganzen Tag so gegangen und gestern abend und vorher auch, – er wurde gar nicht mehr damit fertig. Und jetzt überfielen sie ihn wieder mit neuer Gewalt, alle die Besorgnisse und Einwände der Frau, bevor sie sich auf diese Fahrt begeben hatten, die ausgesprochenen sowohl wie auch die, die keine Worte gefunden. Und gerade die letzten wurden, während sie hier im Ungewissen herumtappten, mit jedem Tage schlimmer. – Dumm war sie keineswegs, die Frau, – und um die Wahrheit zu sagen, so hatte sie reichlich soviel Witz wie andere Leut!
Nein, es war ihm nicht leicht ums Herz, dem Per Hansen! Aber das war‘s ihm in keiner Nacht gewesen, seit er neulich nachmittags diesseits Jackson das Pech gehabt; da hatte sich der größere Wagen in einem Moorloch festgefahren und war beim Herausziehen so rettungslos kaputt gewesen, daß er wieder nach Jackson zurückgemußt, um Reparaturwerkzeug zu holen. Damals war es ihm überflüssig und sinnlos vorgekommen, daß der ganze Auswandererzug volle vier Tage auf ihn warten solle, und er hatte nichts davon hören wollen; denn sie hätten bis zum Winter noch den Erdhüttenbau vor sich und müßten auch Neuland umbrechen, wollten sie dies Jahr noch Saat in die Erde bringen, – nein, keineswegs sollten sie auf ihn warten, – er wisse sich schon zu helfen! Und er hatte sich genau über Weg und Kurs und Rastplätze unterrichten lassen. Alles war ihm so überaus einfach erschienen, – damals. Und da waren die andern halt ihres Weges gezogen, sowohl Tönset‘n, der landeskundig war, wie auch der Hans Olsen und die beiden Solumbuben. Die hatten Pferde und brauchbare Wagen, die kamen schnell vorwärts, die Kerle!
Hätte er doch auf den Hans Olsen, seinen alten Lofot-Gefährten, gehört, der durchaus hatte warten wollen! Aber – er hatte es also an jenem Tage nicht gekonnt.
Und neulich, da hatte er sich also verirrt; Nebel und Regenschauer bis weit in den Nachmittag hinein; er hatte nicht mehr gewußt, wo er tappte und taumelte. Da war er darauf verfallen, möglichst weit vorauszumarschieren, – um den Fragen der andern, die er doch nicht beantworten konnte, zu entgehen! —
Nur eines wußte er sicher: er hatte die Spur nicht; denn sonst hätte er doch irgendeinen verlassenen Lagerplatz finden müssen! – Und jetzt galt es bald das Leben, sie wieder aufzufinden. – Bis zum Stillen Ozean war es gewiß noch weit! Und bis dahin hielt der Wagen nimmer. – Wahrhaftig: es galt das Leben. Kaum noch Vorrat war in den Wagen. – Dem Per Hansen entrang sich ein schwerer Seufzer, den er nicht mehr rechtzeitig zu unterdrücken vermochte.
Ach ja, für den Hans Olsen war alles nicht so schlimm! Der war wohlhabend und hatte die Mittel, gleich im großen anzufangen, – hatte ein Weib, das keine Furcht kannte! – – Der Herrgott mochte wissen, ob die Fahrtgenossen sich jetzt östlich oder westlich von ihm befanden! – Und Tönset‘n mit seiner Kjersti, die beide in Amerika groß geworden, die Sprache und alles kannten, waren mit bei denen. Und die Solumbuben, die sogar hier geboren waren. – Ja, denen konnt‘s freilich einerlei sein, wo sie heute nacht lagerten!
Aber er, der Neuankömmling, der nichts hatte und nichts kannte und mit den Seinen in dieser Grenzenlosigkeit umhertaperte! – – Die Beret hatte auch gar so wenig Lust zu dieser Fahrt gehabt, und sie war doch in mancher Hinsicht verständiger als er.
Wahrlich – er hatte sich bequem gebettet!
War ihm auch ganz unbegreiflich, warum er nicht die kurze Spanne Zeit in Filmore hatte warten wollen! Hätte sich ja dort Arbeit suchen können, bis die Frau vom Wochenbett genesen war, und zum nächsten Frühjahr hinausziehen können; – das war es gewiß, was sie gewollt, obwohl sie es nicht mit so vielen Worten gesagt hatte! —
Die Decke wurde so schwer und warm, daß er sie sich von der Brust zurückschlagen mußte.
Sonderbar auch, wie lange es heute abend dauerte, bis die Beret neben ihm zur Ruhe kam. Warum schlief sie jetzt nicht gleich ein? Sie wußte doch, daß ihnen auch morgen wieder ein mühevoller Tag bevorstand! —
Wenn bloß der verdammte Wagen nicht wieder zusammenkrachte!
V
Die Zeit verstrich. Die Kinder schliefen ruhig und geborgen. – Die Mutter schien auch eingeschlafen zu sein.
Der Per Hansen fing an, ganz sachte von ihr wegzurücken. Er legte wie im Schlaf die Hand zwischen sich und ihr auf die Decke. – Nein, rührte sie sich etwa? – Er lag wieder eine Weile still, rutschte dann wieder ein wenig weiter. Dabei berührte er unversehens die Hand vom Großen-Hans; die war so rundlich und so gut und warm; und schon recht fest im Fleisch dafür, daß es nur eine Kinderhand war. – Er hielt die Bubenhand lange umschlossen. Und die schweren Gedanken schwanden, der Mut kam zurück: freilich würden sie sich durchhelfen! Er schob vorsichtig die Decke fort, kroch leise wie ein Mäuslein darunter hervor, schlüpfte in die Hosen und zog die Schuhe an.
Draußen flimmerte der Nebel so stark, daß er blendete; die nächste Umgebung schwamm in kupfergrünem Licht; weiter weg ging alles in Blau über, das wiederum in einer blauschwarzen, grünlich getönten Finsternis verschwand.
Der Per Hansen suchte sich den Nordstern, drehte sich, bis er ihn über der rechten Schulter hatte, sah auf die Uhr, tat ein paar Schritt, wandte sich und sah nach den Wagen und dem Stern, machte darauf geschwinde kehrt und schritt nach Westen aus.
Die Bewegung tat gut und er lief beinahe. Dort grasten die Ochsen, – armes Vieh! Die hatten es verdient, sich den Wanst zu füllen! Er bereute auch nicht, daß er sie sich eingehandelt hatte. Buntscheck lag näher bei den Wagen, er sah sie nur als dunklen Fleck im Dunst. Der Kuh mußte der Schatten, der so geschwinde davonglitt, aufgefallen sein; sie gab ein langes Brüllen von sich. Ärgerlich rannte der Per Hansen ein Stück, damit sie sich nicht noch einmal versuchte: Wenn sie jetzt bloß nicht die Beret geweckt hatte! —
Er steuerte in der Richtung, wo sich nach seiner Meinung der höchste Punkt befand; von Zeit zu Zeit hielt er an, um zu sehen, ob er noch die Wagen erkennen könne. Schließlich versanken sie in Nacht; es schluckte in seiner Kehle; er biß die Zähne zusammen und marschierte drauflos.
Die Anhöhe war weiter entfernt, als er es sich gedacht. Als er endlich oben anlangte, war er bereits über eine Stunde unterwegs; er rechnete aus, daß er mindestens vier Meilen Gemeint sind stets englische Meilen = 1,609 km. vom Lager entfernt sein müsse. – Jetzt gab er sich daran, das Gelände zu befahren, aber nicht ohne vorher noch einmal auf die Uhr, den Nordstern und den Stand des Mondes zu sehen und sich die Richtung zum Lager einzuprägen.
Jenseits des Hügels änderte die Landschaft ihr Aussehen; das Gelände fiel stärker ab; der Buschwald stand dichter. Das Mondlicht flimmerte seltsam zwischen dem Geäst.
Aber Per Hansen war jetzt ruhig und gefaßt. Jeder Sinn war gespannt. Zunächst durchsuchte er den Höhenzug oberhalb der Waldgrenze nach Norden zu, vornübergebeugt, die Augen an den Boden geheftet. Und als er nichts, aber auch gar nichts von dem fand, was er suchte, ging er zum Ausgangspunkt zurück und begann von neuem, durchsuchte ungefähr dieselbe Strecke in genau entgegengesetzter Richtung. Auch bei diesem Kreuzen entdeckte er nichts.
Jetzt begann er längs des Waldsaumes aus– und einzugehen; jedes grasfreie Fleckchen beschnupperte er, schürfte darin mit den Hacken, kreuzte dann weiter. Der Schweiß lief an ihm herunter.
So hatte er sich wohl eine Viertelstunde lang gemüht, als er hart am Waldrand wieder auf eine größere flache Lichtung gelangte; in ihrer Mitte war im Grase ein großer runder Fleck. Der Per Hansen witterte; er warf sich vor ihm auf die Knie wie der Geizige vor einem kostbaren Schatz. Er bebte; die Hand, die nach unten griff, zitterte – richtig! hier hatte ein Feuer gebrannt! Es konnten seither noch nicht viele Tage vergangen sein, die Asche roch noch frisch. Er fühlte, daß ihm die Augen naß wurden, so trübe, daß er sie trocknen mußte.
Und jetzt begann er auf allen vieren auf dem Abhang herumzukriechen. Plötzlich richtete er sich auf den Knien auf: er hielt etwas in der Hand: »Ja, Gott‘s Tod! Das ist doch ein frischer Pferdeapfel!« Freude jauchzte aus ihm. Er zerrieb den köstlichen Fund zwischen den Fingern, roch daran: es war kein Zweifel möglich!
``Sollt‘ mich doch wundern, ob die heut nacht weit ab sind?«
Er stand auf, ging rank und stolz wie einer, der einen ausnehmend guten Fischzug getan, und machte sich daran, die ganze Höhe bergab zu untersuchen: Schadete nicht, wenn er die Furt heut nacht schon fand; dann verlor er morgen damit keine Zelt! – Das Gestrüpp wurde dichter, je tiefer er hinabkam. Ja, das hier war also Split Rock Creek. Und hier hatten sie gelagert, ganz wie Tönset‘n es gesagt. – Als er erst das Bachufer erreicht hatte, fand er auch bald den Übergang, den die andern benutzt hatten; denn da lagen die Wagenspuren so tief und frisch, als seien sie erst von heute. – Er sah sich eine Weile am Ufer um. War das auch wirklich die beste Stelle ? Das Ufer auf der andern Seite schien ein Steilhang zu sein? – Er durchwatete in Stiefeln den Bach. – Nun, die Steigung war nicht schlimmer, als daß die Ochsen sie gut zwingen konnten; hinterm Bachrand kam ein kleiner Absatz, dann ging es in mäßiger Steigung bergauf. – Gerade wollte er den Fuß auf die Kante der Böschung setzen, da blieb er wie auf den Hügel genagelt stehen.
»Was in Gottes weiter Welt – !«
Er bückte sich, hob etwas auf, hielt es gegen das Licht, drehte es nach rechts und links, roch daran. Und dann biß er herzhaft hinein.
»Potztausend, liegt hier nicht einer von Hans Olsens gedörrten Hammelschinken!«
Dann richtete er sich auf und blickte voll tiefer Dankbarkeit in das flimmernde grünblaue Licht: »Ja, so geht‘s halt, wenn die Leut mehr haben, als sie bewirtschaften können!«
Er nahm den Schinken unter den Arm, fing unwillkürlich an, ein Nordlandslied Das nördliche Norwegen nennen die Norweger kurz das ›Nordland‹; entsprechend heißt es stets: das ›Westland‹, ›Südland‹, ›Ostland‹. zu pfeifen, und überquerte wieder den Bach.
Er sputete sich nicht sonderlich zum Lagerplatz zurück. Es stand nichts mehr auf dem Spiel, die Nacht war schön und warm, und er war gar nicht müde. Frau und Kinder schliefen; zu essen hatten sie noch reichlich für ein paar Wochen, und jetzt hatte er bombensicher die richtige Fährte bis ganz nach Sioux Falls. – – Wenn bloß der elende Wagen noch ein paar Tage hielt! —
Als er aber den beiden Wagen so nahe war, daß er sie im Dunst deutlich unterscheiden konnte, stutzte er; es durchrieselte ihn kalt.
Saß dort auf der Wagenstange nicht ein Mensch ? – Ja freilich! – Er schritt zögernd näher.
»Kannst du mir sagen, Beret, was du mitten in der Nacht hier tust?« Die Stimme klang weich vor ängstlicher Sorge.
»Es war so sonderbar, hier allein zu liegen, nachdem du gegangen warst, – ich meint‘, ich könnt‘ nicht atmen; da stand ich auf.«
Sie brachte es mühsam hervor, und er hörte, daß die Stimme wundgeweint war; er mußte sich zusammennehmen, um nicht selber loszuflennen.
»Du bist wach gewesen? – Du sollst doch aber nachts nicht wachliegen,« sagte er vorwurfsvoll.
»Wie sollt‘ ich schlafen können, wenn du dich drehst und wendest und nur immer schweigst; du hättest mir‘s wohl sagen dürfen, —ich weiß, was auf dem Spiel steht!«
Erschöpft stand sie auf, kam zu ihm hin und lehnte sich an ihn. Ihre Selbstbeherrschung zerbrach, sie schluchzte und bebte.
»Halt ein, – nein, halt ein, du meine Gold-Beret!« Er hielt sie herzlich umfaßt, aber das Sprechen fiel ihm schwer: »Siehst du denn nicht, daß ich hier einen von Hans Olsens gedörrten Hammelschinken hab‘!« —
In dieser Nacht waren der Per Hansen und sein Weib miteinander glücklich.
Die eigene Scholle
I
Auf einem Höhenzug, der den vielen Schlingen eines Präriebaches folgte und sich nach Südost leicht abdachte, baute Hans Olsen an einer Gamme. Rasen– oder Erdhütte, insbesondere der Art, wie sie bei den Lappen und Finnen Nordnorwegens gebräuchlich ist. Eine Wand war halbwegs aufgeschichtet; das halbfertige Bauwerk ähnelte eher einer trutzigen Schanze als einer künftigen Behausung für Menschen; die großen Stapel Rasenstücke an jeder Ecke konnten leicht für Munitionsvorrat gehalten werden.
Hans Olsens Bewegungen waren für seine stattliche Größe ungewöhnlich hurtig und geschmeidig. Aber heute ging es ihm nur langsam und mit vielen Pausen von der Hand. Er geriet oft ins Nachdenken; dann reckte er sich plötzlich auf, tat mit dem Rockärmel einen Wischer über das ernste Gesicht – der Ärmel wurde jedesmal feuchter – und ließ den Blick über die östliche Prärie wandern. Jetzt kannten seine Augen bereits jeden Grasschopf! – – Nein, noch immer nichts! – Er arbeitete von neuem eine Weile emsig drauflos, vergaß sich und spähte die Gegend bis zum Horizont wieder eingehend ab.
Unweit der Gamme stand ein Zelt; dicht daneben war ein Wagen vertäut. Vor dem Zelte standen ein eiserner Kochherd, ein paar Stühle und andere Möbelstücke. Ein rundliches, behäbiges Weib mit einem guten, klugen Gesicht machte sich hier zu schaffen und richtete das Mittagessen. Sie sang bei der Arbeit. Ein zehnjähriges Dirnlein half ihr, – bisweilen auch beim Singen. Die Frau rief sie Sofie.
Eine knappe Viertelmeile weiter südost guckte eine fertige Erdhütte über den Kamm. Rauch stieg aus ihr auf. Sie war schon im letzten Herbst errichtet worden und gehörte Syvert Tönset‘n.
Ein gut Stück nördlich vom Hans Olsen waren zwei weitere Hütten im Entstehen; eine runde Hügelkuppe verdeckte sie. Dort hatten die ›Solumbuben‹ ihre Wohnmarken eingerammt und waren jetzt eifrig beim Bauen.
Tönset‘ns fertige Gamme und die drei andern halbfertigen bildeten den ersten Kern der Ansiedlung westlich von Spring Creek.
Die Frau, die beim Zelt so geschäftig umherging, rief jetzt dem Mann zu, das Essen sei fertig, er müsse sogleich kommen! Er antwortete ›ja‹ zurück, richtete sich auf, wischte sich die Hände an den Hosen, sah nach Osten. – – Nein! Noch immer keine Seele zu sehen! – Heh-heh-heh, seufzte er und begab sieh langsam zum Zelt.
Er ging hinein. Drin war‘s geräumig und hell, aber jetzt, wo die Sonne senkrecht darüberstand, sehr warm. Zwei säuberlich gerichtete Betten je mit einer großen Auswandererlade am Kopfende nahmen den Hauptplatz ein. Die Stange in der Zeltmitte war von unten bis oben mit Nägeln besät und mit Kleidungsstücken behängt. Möbel und Gerätschaften standen an zwei von den Wänden, alles hübsch ordentlich, so daß es geradezu behaglich war.
Auf einem Stuhl stand eine große Schüssel mit Wasser für ihn bereit; er wusch sich, ging hinaus und hockte sich auf den Erdboden, auf dem die Frau angerichtet hatte. Mutter und Tochter warteten schon auf ihn.
»Siehst du etwas von ihnen?« fragte die Frau.
»Nein, – noch nicht!«
»Begreifst du, was aus ihnen geworden sein kann?«
»Nein, wer‘s bloß könnte!«
Der Mann sah so vergrübelt aus, daß ihr gutes Herz ihn trösten mußte: »Sollst sehen, sie kommen schon noch zum Vorschein!« Aber sie brachte es nicht mit solcher Zuversicht heraus, wie sie gern gewollt.
»O gewiß,« lachte das Dirnlein, »der Große-Hans und der Ola haben gute Augen; die sehen uns schon!«
Der Vater schaute das Mägdlein ernst an, wünschte sich sichtlich, daß es fortfahre; aber es schwieg. – Stumm aß er weiter; als er fertig war, warf er den Löffel aufs Tischtuch, sagte ›Dank‘ schön fürs Essen‹, Die norwegische Redensart für unser ›Gesegnete Mahlzeit‹. ging zu der halbfertigen Rasenwand und setzte sich darauf, um nach Osten zu spähen. Die derben, knorrigen Gesichtszüge waren voll düsterer Besorgnis. – »Herre Gott,« seufzte er und faltete die großen Hände, »was mag dem Per Hansen nur zugestoßen sein.«
Die Frau sah es, trug der Tochter auf, abzuwaschen und ging zu ihm hinüber.
Da machte er sich sogleich an die Arbeit.
»Du Hans,« sagte sie entschlossen; »ich meine, ihr solltet nach ihnen suchen!«
Er antwortete erst, als er das Rasenstück, das er in der Hand hielt, zurechtgelegt hatte: »Das ist nun auch nicht gerad so einfach, – nämlich, wenn man nicht weiß, wo man suchen soll, – bei solchen Entfernungen.«
»Nein, nein; aber es würde uns dabei allen leichter ums Herz.«
Der Hans Olsen packte ein neues Rasenstück hin, richtete sich auf und dachte laut, während er in die Weite starrte. »Das weiß ich, daß man nach einem gescheiteren Kerl als dem Per Hansen lange suchen kann, – deshalb ist es ja gerad so merkwürdig! – Seine Ochsen laufen wohl nicht so schnell; und doch weiß ich wiederum, daß er sie stark wird angetrieben haben. – Wir andern sind nicht einmal so schnell gefahren; – und es ist nun schon der fünfte Tag, daß wir herkamen. – Hat er sich das Mondlicht an den Abenden zunutze gemacht, und das glaube ich, dann ist er eher schon im Westen von uns als noch im Osten – und deshalb ist es halt nicht leicht zu sagen, wo man suchen soll!«
Der Hans Olsen setzte sich mit einem Ruck, die Frau suchte sich neben ihm Platz. Seine Besorgnis und mehr noch die Vermutung, die er eben angedeutet, beunruhigten ihr unerschrockenes Herz.
»Mir ist so leid um die arme Beret und um die Kleinen! – Er konnte mit ihr auch nicht gar so schnell vorwärts, weißt du; – sie trägt gewiß wieder ein Kind!« Nach einer Weile setzte sie hinzu: »Heut nacht träumte ich so bös von ihnen.«
Der Mann sah ihr ins Gesicht. »An derlei dürfen wir uns nicht kehren. – Übrigens bedeuten böse Träume nur Gutes; das sagte die Mutter immer. – Aber ich werde mir meiner Lebtag nicht verzeihen, daß ich nicht auf ihn habe warten können!« Er stand auf und legte wieder Rasen zurecht. »So war‘s freilich immer mit dem Per Hansen, daß er nie jemandes Hilfe annehmen wollte; und das kann auch zu weit gehen !«
Jetzt kam ein stämmiger, kurzer, blondbärtiger Mann von der südlichen Erdhütte her den Abhang herauf. Er hatte rote Backen, einen hurtigen Gang, geschwinde Augen und bewies, als er zu sprechen begann, ein gewandtes Mundwerk. Die Hände hatte er im Hosengurt stecken, die Ellbogen standen weit ab, – der Mann sah breiter aus, als er war.
»Da kommt Tönset‘n,« sagte die Frau; »red‘ jetzt mit ihm. Ich meine bestimmt, ihr solltet nach ihnen ausschauen!«
»Hast sie schon im Fernrohr, Hans Olsen?« fragte der Ankommende, ohne erst zu grüßen. »Da gibt‘s ein warmes Nest, wo mit Weiberhilfe gebaut wird!«
Hans Olsen richtete sich auf. »Hast sie wohl auch nicht gesehen, du Syvert?«
»Gesehen? Das ist es ja gerade, was ich hier immerfort erzähle! Seit mehr als einer Stunde hab‘ ich sie observiert! Und einer, der so hoch in die Luft hinaufragt wie du, wird sie doch erst recht haben sehen können! Gleich sind sie hier!«
»Nein, was du nicht sagst! Wo sind sie denn?« riefen der Hans Olsen und die Sörine zugleich.
»Ja schau, er ist mit seinen Ochsen halt ein wenig vom Kurs abgekommen. Hat wohl Ebbe und Flut nicht genügend berechnet! – Guckt einmal nach Westnordwest! – – – Nein, der Bursch legt sich nicht zum Ersaufen hin, wo so wenig Wasser ist wie hier! – Bin doch neugierig, wieviel zu weit nach West er geraten ist?«
Die beiden andern sahen in die angedeutete Richtung. Wahrhaftig! Dort schneckte sich ein Wagenzug durch die Ebene heran.
»Meiner Treu, ich glaube, da haben wir sie!« sagte der Hans Olsen leise, fast, als wage er nicht, sich seiner Freude ganz zu überlassen.
»Da sind sie also! Im Westen! – Nein, o nein!« rief die Sörine.
»Setz‘ du nur geschwind deinen Kaffeekessel auf, Mutter Sörrina!« Mundartliche Aussprache von Sörine. ermunterte Tönset‘n. »Die Kjersti kommt sogleich und bringt unter der Schürze etwas mit, vermute ich recht. – In einer halben Stunde sind die verlorenen Schafe wieder in der Hürde.«
»Freilich, Sörrina!« pflichtete der Hans Olsen bei. »Hol das Beste heran, was du zu bieten hast. – Nein, du Per, du Per! – Und von Westen!«
Tönset‘n räusperte sich jetzt und zwinkerte verschmitzt der Frau zu. »Du, Mutter Sörrina,« tuschelte er geheimnisvoll, »wenn du gar so lieb wärst und nachschauen tätest, ob noch ein Tropfen in des Hans Olsen großer Flasche ist! Ja, nicht als wollte ich etwas haben – bewahre mich, wo werd‘ ich! Aber das arme Weib, das so lange hat karren müssen! Und des Per Hansen Eingeweide sind halt vielleicht auch ein bissel durcheinander!«
Alle drei lachten und Tönset‘n am meisten. Und er half Rasenstücke tragen, während die Sörine ging, um alles zum Empfang vorzubereiten.
II
Kaum war die halbe Stunde um, so kam der Zug über die Anhöhe herabgesickert. Der Per Hansen ging noch immer voran, der Große-Hans daneben, der Ole den Ochsen als Treiber zur Seite, und die Beret und das Gössel saßen im Wagen, – Buntscheck zottelte hinterher und ließ ein langes, kräftiges Begrüßungsbrüllen erschallen, als sie das andere Vieh auf der Prärie weiden sah.
Und bei des Hans Olsen Zelt standen sie zum Empfang bereit: der Hans Olsen und die Sörine und Tönset‘n mit seiner Kjersti; das Dirnlein aber hatte nicht Geduld zum Warten; es lief dem Zug entgegen, nahm den Großen-Hans bei der Hand und wollte vor allen Dingen wissen, ob es ihn in den Nächten auch sehr gegruselt habe.
Die Ochsen mußten sich hügelauf tüchtig in die Sielen legen.
»Nein, aber vertrödelt doch nicht so die Zeit!« rief ihnen der Per Hansen entgegen. »Es ist doch mitten in der Schicht, – ihr habt wohl hier im Westen nichts zu tun?«
»Vesperzeit, siehst du, Per Hansen!« kicherte Tönset‘n. »‘s ist akkurat Vesperzeit! Und da haben wir halt gemeint, wir könnten auf dich warten!«
»Hast schließlich doch hergefunden?« schmunzelte der Hans Olsen und wollte des Per Hansen Hand gar nicht mehr loslassen.
»Hergefunden? —Das mußt‘ einer doch, wo es nur immer geradeaus der Nase lang geht! Und ihr hattet auch die ganze Strecke ordentlich und nett abgesteckt. – – So! Und dies also wäre Gosen im Lande Ägypten ?«
»Höh-höh!« nickte Tönset‘n. »Akkurat Gosen! Jawohl! Wir haben vor, ihm diesen Namen beizulegen, falls dir nicht andere Narreteien einfallen.«
Die Beret und das Gössel waren inzwischen glücklich von dem Bretterende heruntergeklettert; die beiden andern Frauen wollten sich ihrer sogleich annehmen. Aber die Beret mußte sich erst einmal lange umschauen, ehe sie mit ihnen ging.
– Hier also sollten sie bleiben? – – Hier? – Sie betrachtete die halbfertigen Gammen, die Menschen, und es fuhr ihr durch den Sinn, daß sich hier Verkehrtes zusammenbraue; – die Vorstellung ängstigte sie nun schon tagelang, und sie vermochte sie nicht zu verjagen. Sie würgte sie. Nein, es hieß sich mit aller Macht zusammennehmen, – sie konnte doch nicht inmitten des Jubels um sie herum losweinen!
Sie ging den beiden andern Frauen ins Zelt nach und mußte sich schnell setzen.
Sörine umsorgte sie freundlich: »Zieh dich aus, Beret; es wird dich erfrischen, die Kleider zu wechseln. Hier ist ein weiter Rock, den kannst du derweile überwerfen! – Und hier ist Wasser; mach dir das Haar und laß dir gute Zeit, dich herzurichten, – laß dich nicht stören, wenn ich und die Kjersti aus und ein laufen!«
Die beiden andern gingen; sie saß immer noch reglos. Kaum aber waren die beiden draußen, da trieb es sie an den Zelteingang, sie mußte hinaussehen. – Ich begreife nicht, wie Menschen es hier aushalten? dachte sie. Hier gibt es ja nichts, wohinter man sich verbergen kann! – Das edelgeschnittene, schöne Gesicht war von Nachdenken beschwert. Sie wandte sich ins Zeltinnere und begann sich die Kleider aufzunesteln, hielt aber gleich darauf inne, um die Zeltstange mit all den Kleidungsstücken anzustaunen; die glich leibhaftig dem Riesen, den sie sich als Kind immer vorgestellt hatte, – sie konnte das Bild lange nicht loswerden. —
Inzwischen wartete draußen der Ole, die Hand auf dem einen der Ochsen; die Erwachsenen schienen vergessen zu haben, daß auch er noch auf der Welt war; das wurde nächstens langweilig, – die wurden ja niemals fertig mit dem Geschwätz, und er hatte doch auch noch etwas mitzureden!
»Wollen wir ausspannen, Vater?«
Der Per Hansen kehrte sich dem Buben zu:
»Ja, da sagtest du etwas Gescheites, du Ola! – Vielleicht bleiben wir nachtüber hier, da wir schon mal auf gute Bekannte gestoßen sind?
Wie steht‘s denn, Mannsleut,« wandte er sich an die beiden andern, »gibt‘s hier in der Nähe noch Land?«
»Land? Land?! – Kannst akkurat so viel davon nehmen, wie du willst, von hier bis zum Stillen Ozean!« Tönset‘n war so begeistert, daß ihm sogar eine Hand aus dem Hosengurt fuhr, um einen weiten Bogen in der Luft zu beschreiben.
»Mußt dich selber umtun,« sagte der Hans Olsen, »und nehmen, was dir am meisten zusagt. Aber eigentlich habe ich auf dem Quart nördlich von mir ein Merkzeichen für dich eingerammt. Kannst es dir ja später ansehen. – Der eine Solumbub wollte es anfänglich nehmen; aber ich sagte ihm, es sei das beste, er ließe es, bis du kommst. – Dort grenztest du auch an den Bach, und ich und du würden nächste Nachbarn, wie wir von Anfang an gewollt. – Der Bub könnt‘ wirklich gerad so gut den Quart neben dem Bruder nehmen.«
Der Per Hansen atmete heftig. Er hatte ein unendlich wohltuendes Gefühl: Hier hatte der Hans Olsen während der ganzen Zeit alles für ihn vorausbedacht und geordnet und prächtig zurechtgelegt. »Gut, darüber reden wir später, Hans Olsen, – ich sage nur: einstweilen danke! – – Spann‘ die Ochsen aus, Ola! – – Und froh wäre ich, hättet ihr jetzt etwas Eßbares oder Trinkbares!«
»Oder vielleicht auch beides, Per Hansen?« rief Tönset‘n.
»O ja, gern auch das, Syvert!«
Bald darauf standen alle um ein weißes Tuch herum, das die Sörine auf dem Erdboden ausgebreitet hatte. Auf ihm aber lag ein ganzer gedörrter Hammelschinken und ein großer Haufe echt norwegischen Flachbrotes; und Käse und Butter und Quark; inmitten des nahrhaften Kreises aber stand eine große Schüssel süßer Vollmilch; und vom Kochherd trug ihnen die Brise einen angenehmen Duft von gebratenem Speck und starkem Kaffee zu. Die Sörine richtete her und trug auf und nötigte sie, sich einen recht bequemen Sitz zu suchen. Und Per Hansens gedrungene Gestalt rollte sich in paradiesischem Wohlbehagen zusammen, als er sich jetzt auf die gekreuzten Beine niederließ:
»Jetzt komm du aber schleunigst selber, Sörine. – Jaja, da zeigt sich‘s, daß wir bei Herrenleuten gestrandet sind! – Kannst gut den Pharao höchstselbst vorstellen, Hans Olsen!«
»Und wo bleibe ich?« wollte Tönset‘n wissen.
»Du, Syvert? Ich weiß nicht recht, was ich mit dir machen soll! Du wärest wohl am liebsten Mundschenk; doch der Mensch soll nie im Übermaß begehren; denn du weißt wohl, wie es dem Mundschenk ging? Sollten wir dich nicht lieber zum Bäcker machen? Was meinst du dazu, Hans Olsen?«
Und wieder lachten alle.
Aber da brachte die Sörine einen Teller, auf dem sich eine ansehnliche Flasche nebst rundlichem Glas befanden. »Nimm mir das aus der Hand, Hans Olsen, der du damit umzugehen weißt!«
Jetzt geriet Tönset‘n rein aus dem Häuschen: »Nein, du Sörrina, du Sörrina! Nein, wer doch auch solch ein Weib hätt‘!«
Da hocken sie nun alle auf dem Boden um das Tuch herum und plauderten und langten zu und fühlten sich so wohl.
Der Hans Olsen war seit Mittag wie ausgewechselt; der ganze lange Körper ringelte sich geschmeidig vor guter Laune; er konnte sich gar nicht satt sehen an Per Hansens bärtigem Schelmengesicht! Der schnitt sich eine tüchtige Ecke aus dem Hammelschinken heraus und betrachtete philosophisch die entstandene Scharte: »Und ihr, ihr habt also alles wohlbehalten hergebracht?«
»Jösses, Jösses, ja,« versicherte der Hans Olsen treuherzig. »Alles – ja also abgesehen davon, daß da irgendwo im Osten der Prärie ein Hammelschinken liegengeblieben ist; aber das ist nicht der Rede wert.«
Der Per Hansen hielt im Kauen an und meinte ganz trübselig zur Sörine: »Aber Sören, Sörine ist die weibliche Form des Eigennamens Sören; Sören = zugleich wohlanständiger Ersatz für den Ausruf ›Satan‹. – du hast einen von deinen Schinken verloren?«
Sie mußte herzlich lachen. »O nein, ganz so schlimm ist es doch nicht, obwohl jener Schinken gute Dienste hätte leisten können, wenn es knapp wird; hier ist dafür nicht allzuviel Ersatz.«
Der Per Hansen kaute fertig, schaute ernsthaft drein und sagte: »So geht es Leuten, die mehr von den Gütern dieser Welt ihr eigen nennen, als sie zu verwalten die Zeit haben; aber setze ich meinen Schießprügel erst einmal in Gang, Sörrina, dann sollst du deinen Schinken wiederhaben! Wie ist‘s damit, ihr Burschen, habt ihr hier draußen schon etwas Eßbares herumlaufen sehen?«
III
Sie blieben beisammen, bis der Abend im Osten der Widde zu blauen begann. Das Gespräch wandte sich ernsten Dingen zu: wie sie sich künftig einrichten wollten, was die Zukunft ihnen wohl bringen werde, wie der Boden zu bearbeiten sei; vor allem aber sprachen sie von dem Reich, das sie im Begriffe waren, zu gründen. – – Niemand sagte es, aber alle fühlten: es war jetzt etwas im Werden! —
Als der Abend über ihnen war, versiegte die Unterhaltung. Eine seltsame Stimmung umhüllte sie alle, wehte mit der Brise heran, entströmte der Macht des Ungezähmten, des Unendlichen rundum; sie entquoll dem Boden, auf dem sie saßen.
Die Stimmung schuf ein dumpfes, schwer deutbares Ahnen. So mancherlei konnte hier draußen geschehen, – ach ja, Gott helfe ihnen allen – so mancherlei!
Weit war es bis zu den Menschen, – kläglich weit!
Die Gesichter waren ernst; aber aus den meisten leuchtete solche Kraft, daß der Ernst nicht sonderlich Oberhand gewann. —
Der Per Hansen war der erste, der die Stimmung abzuschütteln vermochte. Er sprang auf und schudderte sich, wie einer, den‘s friert.
»Ist dir kalt?« fragte die Beret; sie war ihm jetzt wieder herzlicher zugetan; – sie wähnte, sie allein habe das Wunderliche gefühlt.
»Aber nein! Nur glaube ich, wir sind alle miteinander drauf und dran, den gesunden Menschenverstand zu verlieren. Sitzen hier und schmausen am hellichten Sommertag, als wär‘s die Weihnachtszeit! – Komm, Alte, jetzt fahren wir heim zu uns!«
Alle standen auf.
»Ja, tu jetzt, wie es dir recht scheint, Per Hansen,« meinte Hans Olsen, »nimm den Quart oder nimm ihn auch nicht. Aber nach allem, was ich sehe, kannst du einen bessern kaum finden, – pflügbar jeder Fußbreit bis zur Hügelkuppe. Wasser für Volk und Vieh hast du auch. – Und dann kommt noch hinzu, daß ich, komme ich zwischen dich und den Syvert zu sitzen, nicht über die Nachbarn klagen kann. – Doch so weit kennst du mich wohl, daß du um deswillen den Quart nicht zu nehmen brauchtest. – Aber – nimmst du ihn doch, so müssen wir einen von den Solumbuben mit dir nach Sioux Falls schicken, je eher, je besser, damit du das Land sofort belegst. So müssen wir es alle halten, – der eine wie der andere. Es können, bis der Schnee fällt, noch viele Westfahrer kommen, und wir fünf müssen beieinander bleiben! – Ja, das ist also mein Rat.«
»Ja, und der ist,« fiel Tönset‘n ein, »dafür, daß er aus einem so großen und dicken Schädel kommt, keineswegs schlecht. Hier kommt, Gott strafe mich, noch ehe der Sommer vorbei ist, so viel Volk vorüber, daß es kaum mehr Bleibens ist! Dann denkt daran, Kerle: das hat der Syvert vorausgesagt! – Und du, Per Hansen, mußt noch morgigen Tags nach Sioux Falls; und kann keiner von den Solumbuben mit, um für dich zu reden, dann kann ich‘s.«
Der Per Hansen hatte wieder dasselbe gute Gefühl wie heute nachmittag, daß die Dinge sich für ihn gleichsam von selber ordneten, und ihm wurde so wohl zumute! Diese große Strecke schönen Landes, die er hier vor sich sah, die sollte ihm gehören dürfen. Und gute Leute und getreue Nachbarn sowohl im Süden wie im Norden, – Leut, die für ihn sorgten und ihm nur helfen wollten!
Er fragte leise lächelnd: »Habt ihr seit eurer Ankunft hier etwa Zeichen von lebenden Wesen entdeckt?«
»Nein, Kind,« versicherte Tönset‘n, »weder von Waldriesen noch von Indianern! Ich war hier der allererste, siehst du! Aber niemand kann wissen, wann die Lawine losrückt, – nach den Reden, die die Leute im Osten diesen Winter geführt haben. Und zudem ist das Landzuweisungsbüro für diese Gegenden jetzt nach Sioux Falls verlegt worden. Die Regierung tut das nicht ohne Absicht, könnt ihr begreifen!« Tönset‘n redete mit überlegener Sicherheit.
Per Hansens Lachen klang jetzt froher: »Ich sehe jetzt, Syvert: es geht durchaus nicht an, daß du bloß Bäcker bist; wir müssen dich in ein höheres Amt befördern. – – Aber jetzt will ich mir das Kaisertum anschauen, das ihr für mich beiseite gestellt habt. – Komm du mit den Fuhren nach, du Ola!«
Er machte sich auf den Weg, und die beiden andern mußten tüchtig ausschreiten, um mitzukommen.
»Es ist hoch gelegen,« sagte der Per Hansen, als sie sich eine Weile umgesehen hatten. »Herrliche Aussicht hier oben!« Sie standen endlich auf dem höchsten Punkt des Höhenzuges. Nach allen Seiten Weite. Und schön war‘s in der Abenddämmerung. —
Plötzlich fing der Per Hansen an vorsichtig zu gehen; er witterte eifrig, blieb vor einer kleinen Erhöhung des Erdbodens stehen, sah scharf hin, sagte dann ernst:
»Hier liegen also Menschen! Hier ist ein Grabmal.«
Die beiden andern waren so verblüfft, daß sie es zuerst nicht wahrhaben wollten.
Der Hans Olsen hob ein Steinchen auf und drehte es zwischen den Fingern: »Das ist einmal ein sonderbarer Stein! Der sieht aus wie bearbeitet! Schau ihn dir an, du Syvert.«
Tönset‘ns rotes Gesicht wurde lang und nachdenklich. »Gott strafe mich, ich glaube fast, hier sind Indianer gewesen! – – Vertrackt!«
»Das sind sie wohl,« nickte der Per Hansen gelassen und setzte trocken hinzu: »Aber das brauchen wir nicht gerad auf dem Kirchenhügel öffentlich anzukündigen! – Es gehört nur wenig dazu, gewisse Leute zu ängstigen.«
Er stieg hinunter und rief dem Ole zu, er könne dort haltmachen, wandte sich dann zum Hans Olsen und bat, ihm die Grenze seines Grundstücks zu zeigen. »Ich sehe keinen Nutzen darin, daß wir unsere Hütten weiter als gerade nötig voneinander ab bauen. – Es kann den Weibern bisweilen die Zeit lang genug werden.«
Tönset‘n schaukelte heim; – sein Gang schien ein gut Teil beschwerter, als da er am Nachmittag bergan stieg.
IV
Früh am nächsten Morgen fuhren der Per Hansen und einer der Solumbuben die 52 Meilen nach Sioux Falls, wo der Per Hansen den Antrag stellte, den Landquart auf der Nordseite des Stückes von Hans Olsen zugeteilt zu erhalten. Er bekam eine vorläufige Bescheinigung als Ausweis und Beglaubigung. Auf dieser stand der Name: Peder Benjamin Hansen, die Bezeichnung des Landstücks, die Bedingungen, die er erfüllen mußte, um das Eigentumsrecht daran zu erwerben, und das Datum – der 6. Juni 1873. —
Die Sörine hatte die Beret mit den Kindern während der beiden Tage, die der Mann abwesend war, bei sich haben wollen; aber die Beret sagte, das ginge durchaus nicht an; wollten sie das Sommerheim fertig haben, müsse sie sogleich Hand anlegen.
»Sommerheim?« fragte die andere erstaunt, »und wie wird es zum Winter?«
Die Beret merkte, daß sie etwas gesagt, was sie besser verschwiegen hätte, und wich der Frage aus. —
Sie und die Buben hatten so viel zu tun, daß sie sich kaum Essensruhe gönnten. Sie luden beide Wagen ab, stellten den Herd auf, den Tisch zurecht und setzten alles zusammen. Und dann richtete sie den größeren Wagen zum Schlafraum für sie alle ein. Als alles Überflüssige erst hinausgeschafft war, wurde es geräumig da drinnen. Und hübsch hatte sie alles hergerichtet.
Die Buben fanden das Einrichten kurzweilig, und ihr selbst wurde bei der Arbeit der Sinn freier.
Dennoch beruhigte sich ihr Gemüt nicht ganz; sie mußte sich immer wieder umschauen, sich aufrichten und lauschen. Hörte sie etwas? – Der Eindruck, den sie gehabt, als sie gestern aus dem Wagen stieg, stand noch immer lebendig vor ihr: hier ist nichts, wohinter man sich verbergen kann! Als das Wageninnere zum Zimmer umgestaltet und ein Tuch vor den Eingang gehängt war, ließ das Gefühl nach; aber es lag auf der Lauer.
Nachdem sie die Kuh zur Nacht gemolken, Mus gegessen und den Ochsen gut zugeredet hatte, wanderte sie mit den Buben und dem Gössel hinaus. Sie gingen auf die Hügelkuppe; hier setzte sie sich und ließ die Augen schweifen.
Auch hier war es auf eine Weise schön, das gab sie zu. Was sich hier nach allen Seiten dehnte, glich in vielem dem Meere, zumal jetzt im Dämmerlicht. Es erinnerte so stark daran und war doch so anders! – Das hier hatte kein Herz, das schlug, keine Wellen, die leise sangen, und kein Gemüt, das weinte. – —
Die Unendlichkeit rundum hätte ihr Frieden gegeben, wäre nicht die Stille gewesen, die hier noch eindringlicher war als in einer Kirche. Was hätte diese Stille auch unterbrechen können? Hier zogen keine Menschen vorüber; hier sangen keine Vögel; hier gab es nicht einmal eine surrende Fliege; jetzt hatte sich auch der Wind gelegt, und sogar die Grashalme reckten den Hals und lauschten in den Abend hinein. Sie hatte es übrigens auf dem ganzen Wege gemerkt: je weiter es nach Westen ging, um so schlimmer wurde die Stille; jetzt war es gewiß mehr als zwei Wochen her, daß sie einen Vogel hatte singen hören! Konnte sich in dieser grünblauen Unendlichkeit Leben etwa nicht behaupten? – Das muß wohl richtig sein, dachte sie. Soll Leben gedeihen, muß es etwas haben, wohinter es sich verbergen kann! —
Die Kinder spielten in der Nähe. – Wie sie lärmten! Aber man soll sie gewähren lassen. – – Sie dachte an den langen, den unendlich langen Marsch zurück bis dorthin, wo Menschen wohnten. Um sie hatte es keine Not. Aber um ihn, den Armen, und die Buben, – und dann die Ochsen! – – Auch er mußte doch einsehen, daß hier nie eine Menschenheimat entstehen werde – und sie hier niemals Leben werde zur Welt bringen können.
Die Blicke irrten, wanderten in das dicke, blauschwarze Dunkel, das sich langsam auf sie senkte, und eine Verlassenheit überkam sie, die alles Denken hemmte. Sie vermochte nicht dorthin zu sehen, wo dieses satte Schwarzblau sich jetzt zusammenzog. Da legte sie sich ins Gras und blickte aufwärts.
Die Verlassenheit blieb. Und jetzt erst erfaßte sie, wie einsam sie war. – Sie starrte in die stille, nachterfüllte Luft hinauf und durchwanderte in Gedanken wieder die Wegstrecken, die sie zurückgelegt hatten! – – Sie ging in Sandnessjöen Hafenstadt in Nordnorwegen. an Bord. Das Schiff trug sie nach Süden. In Namsos lag ein großes Boot mit vielen weißen Segeln, das sie und die Ihren aufnahm, sie fortbrachte, – immer weiter und weiter fortbrachte. Sie waren Wochen und Wochen gesegelt; die Wochen wurden zu Monaten; sie fuhren über Meere, die niemals ein Ende nahmen. Ja, sie mußte geradezu lachen: Immer ging der Kurs der sinkenden Sonne nach! – Sie kreuzten gegen den Wind auf, und sie segelten vor peitschendem Sturm – immer aber in derselben Himmelsrichtung!
Endlich, endlich waren sie in Quebec gelandet; sie war dort umhergegangen und hatte sich an dem Geräusch der fremden Zungen, das sie nicht in Worte zerlegen konnte, wirr gehört. War das das neue Land Kanaan? – Nein! Jetzt standen sie kaum erst am Anfang der Wanderung! Und es hatte sich etwas in ihr gesträubt: jetzt gehe ich nicht weiter!
Aber es ging weiter, über Widden, durch Einöden, die kein Ende zu nehmen schienen, in Städte hinein, aus Städten hinaus. – – Eines Tages standen sie in Detroit in Michigan. Nein, auch hier war es noch nicht! Und wieder hatte sie den Aufruhr in sich gespürt: Jetzt will ich nicht weiter! – Aber es war, als hätte die Flut der Unendlichkeit sie alle losgerissen und wollte sie mit sich fortspülen – sie immer weiter wirbeln ohne Ziel.
Und weiter war es gegangen. Aber jetzt war wenigstens etwas Erholung gekommen; denn sie fuhr wieder über Wasser und hörte das Plätschern der Wellen an den Schiffsplanken. Das konnte sie verstehen; und darum erschien ihr dieser Teil der Wanderung nicht einmal in gar so schlimmem Licht, obwohl die schnöde Behandlung und das wilde Leben an Bord übel genug gewesen.
Eines schönen Tages legten sie in Milwaukee an. Auch hier hieß es nur wieder: starten und weiter hinaus ins Fremde. – – Weiter und immer weiter. Die Flut strömte und wirbelte unaufhörlich!
Sie kamen schließlich an einen Ort, der etwas wie ›Prairie du Chien‹ hieß, – war‘s nicht im Staate Wisconsin gewesen? – Von dort aus karrten sie sich bis Lansing in Iowa und allmählich nach Filmore County, Minnesota, durch. Und auch hier war es damit noch nicht zu Ende! – —
Jetzt lag sie auf einem kleinen Rasenhügel inmitten einer Unendlichkeit, aus der kein Weg hinausführte! – Es war ihr, als hätte sie viele Leben gelebt. In jedem hatte sie nichts als umherirren und wandern müssen und war immer weiter von ihren Angehörigen weggekommen.
Sie setzte sich seufzend auf. Das eigentümlich Weiche und doch Kraftvolle ihres Gesichts fügte sich in die Umgebung wie ein schönes Bild in einen wohlgewählten Rahmen. —
Die Buben und das Gössel tummelten sich auf dem Gipfel der Kuppe nach Herzenslust. Es gab zwischen den Grasschöpfen so viel Merkwürdiges. Der Große-Hans kam mit einer Handvoll roter Steinplättchen, die aussahen wie willkürlich von einem Felsen abgesplittert, – spitz waren sie an der einen Seite, wurden gleichmäßig breiter wie Speerspitzen; die Kanten waren geschärft; um das breite Ende lief eine Rille. – Da kam auch der Ole mit ein paar an und hatte dem Schwesterlein zwei abgegeben. – Die Mutter tat die Steine auf den Schoß und betrachtete einen nach dem andern. Die müssen von Menschen gemacht sein? dachte sie.
Da machte der Ole noch einen merkwürdigen Fund: einen faustgroßen Stein, der aussah wie ein Vorhammer; in dem war die Rille tief und breit.
Die Mutter stand auf: »Wo findet ihr das alles?«
Die Buben zeigten ihr den Weg, und jetzt stand auch sie an der kleinen Senke auf dem Gipfel, die die Männer gestern abend entdeckt hatten; rundum lagen die Steine.
»Der Ole sagt, die Indianer hätten sie gemacht!« schwätzte der Große-Hans eifrig. »Ist das wahr, Mutter? Glaubst du, sie kommen einmal wieder?«
»Könnte schon sein, wenn wir eine Zeitlang hierbleiben.«
Sie sah nachdenklich in die Erdsenke; derselbe Gedanke, den ihr Mann gestern an der gleichen Stelle gehabt, durchfuhr auch sie: Hier war ein Menschengrab! Er entsetzte sie nicht; aber der Eindruck von der unendlichen Einsamkeit wurde noch gewaltiger.
Der Abenddunst lagerte jetzt tiefer. Es war, als sammle er alle Kraft um sie, und als bewege sich die Ebene von allen Seiten auf sie zu. Die Wagen waren nur noch nichtssagende Punkte in weiter, weiter Ferne; Hans Olsens Zelt nahm sich aus wie ein Grasschöpflein, dessen Spitzen gebleicht waren; Tönset‘ns Gamme ließ sich aus dem Dunkel nicht herausschälen. – Sie war es nicht imstande, die Buben laut zum Heimgehen heranzurufen, sie mußte um die Senke herum, um es ihnen leise zu sagen. – Nein, die Steine dürften sie nicht mitnehmen! Aber sie könnten morgen wieder her und mit ihnen spielen. – —
Die Beret fand in dieser Nacht spät erst Schlaf. Sie war recht ärgerlich über sich selbst: der Kopf hob sich vom Kissen, die Nerven spannten sich, und doch war nichts zu hören – nichts außer dem aufkommenden Nachtwind. – —
Und mit ihm kam so vielerlei. —
V
Der Per Hansen kam spät am nächsten Nachmittag zurück und konnte sie und die Buben gar nicht genug loben, wie flink sie gewesen seien, während er fort war. Ihr wurde davon ganz wirr. Und jetzt war das wieder an ihm, das, vor dem alles andere weichen mußte: nach außen war er lauter Scherz und toller Mutwillen, aber dahinter stand ein Ernst, so kraftvoll, daß sie zitterte, wenn sie bloß daran rührte.
Und jetzt war er auch so gesprächig:
»Hier hast du den vorläufigen Ausweis über unser Königreich, Beretmütterlein – nimm ihn und heb ihn gut auf! – Geht es nicht sonderbarer zu als im Märchen, daß einem Manne so etwas geschenkt wird? – Hm, und obendrein Jahr und Tag, nachdem er die Prinzessin heimgeführt?« Er legte den Kopf auf die Seite: »Weißt, das ist so merkwürdig, daß ich‘s immer noch nicht recht glaube. Und du, Beretmütterlein ?«
Die Beret stand neben dem Wagenhaus, das sie zurechtgemacht, lächelte ihm mit feuchten Augen zu und vermochte nicht viel dazu zu sagen. Was hätte es ihr wohl geholfen, jetzt zu reden? Er war so ganz in seinen Plänen befangen, und sie und ihr Wünschen beachtete er nicht. Was hätte es also gefruchtet, hätte sie ihre Bekümmernisse und ihre Furcht vorgebracht? – und er war so fröhlich und lieb zu ihr, – oh, sie kannte den Per Hansen allzu gut!
»Was sagst du zu all der Herrlichkeit, du Beretmütterlein ?« Er umfaßte sie und schwenkte sie herum.
»Oh, – ich fürcht‘ mich nur so sehr vor dem hier draußen!« Sie lehnte sich an ihn, wollte sich verbergen. »Hier ist‘s so – so ungeschützt. – – Und keine Menschenseele bis ans End‘ der Welt!«
Da lachte der Per Hansen, und sie krümmte sich unter seiner innern Wucht: »Hierher kommen schon noch Leut genug, sollst sehen, Beretmutter!«
Jetzt kam ihm ein andrer Einfall; er führte sie feierlich zu der großen Lade, nötigte sie, sich darauf zu setzen, blieb selbst breitbeinig vor ihr stehen und sah sie groß an:
»Und jetzt hör bloß, worauf ich gestern verfallen bin, nachdem ich die Papiere bekommen hatte: ich habe zehn große Säcke Kartoffeln gekauft. Ach, ich bin so glücklich darüber! Ja, du weißt, was für uns Nordländer die Kartoffeln bedeuten,« lachte er. »Und wir gehen gar nicht zuerst an den Hausbau; die andern, die fangen es dumm an, will ich dir sagen,« – er sprach jetzt leise und eifrig – »am verkehrten Ende! – Jetzt gehe ich noch heute abend zum Hans Olsen und leihe mir seinen Pflug, und morgen zeitig fange ich an, Neuland aufzubrechen; denn, schau, die Kartoffeln, die müssen also sogleich in die Erde! Nein, ich baue erst hinterher, wenn ich Zeit dazu habe. – – O, du Beretmütterlein, – es wird noch alles gut, ja, du sollst sehen, wie ich uns unser Reich erbauen werde!« Er lachte, daß ihm die Augen schmal wurden: »Und kein alter, abgedankter Vater König mit Hängebauch und Hängehosen soll mir kommen und sagen dürfen, so soll es sein und so nicht!«
Und er fuhr fort, ihr alles auszumalen, – und über beide senkte sich erhaben die Nacht. – Aber er gewann sie dennoch nicht ganz für seine Pläne, nein, nicht ganz. Sie hatte selbst vergeblich nach einem Vogellaut gelauert, hatte selbst tagaus, tagein auf dem Querbrett gesessen und gesehen, wie es immer weiter von den Menschen wegging. Und blickte sie jetzt nicht mit ihren eigenen Augen in die grünblaue Stille, die weder eine Grenze hatte noch ein Herz? —
»Weißt du,« sagte sie still, stand auf und lehnte sich an ihn, »ich glaube, droben auf dem Hügel liegt ein Grab.«
»Nein, aber Beret! Bist du auch dort gewesen! Und hast dich gesorgt! – Hm, sollst sehen, der Bursche, der dort liegt, bringt uns nur Glück!«
»O gewiß, – aber es ist doch eigen, daß dicht vor unserer Schwelle ein Mensch in ungeweihter Erde liegt, – da muß es freilich still hier sein! Die Kinder fanden soviel Spielzeug, als wir gestern abend droben saßen; da ließ ich sie auch heute hin. Wir wollen sie jetzt holen. – Es ist schön dort oben.«
Sie seufzte und wandte sich zum Gehen.
Sie wanderten Hand in Hand hinauf.
In ihrer kummervollen Güte heute abend war etwas, womit er nicht fertig wurde. Er hätte jetzt am liebsten zugleich gesungen und geweint. – – – Aber er war ihr so gut, so gut. Seltsam, daß er sie niemals dazu brachte, das ganz zu verstehen! – – O nein, es war wohl so mit ihr, daß sie nicht mit dem Glück zu ringen vermochte, – war wohl zu zart gebaut dazu! – – – Nun, – er wußte einen, der es an ihrer Stelle wagte!
Der Per Hansen hatte so viel zu überdenken und zurechtzulegen, daß er des Nachts lange wach lag. Und jetzt, wo er die Beret so ruhig neben sich schlafen fühlte, hatte er dazu auch die beste Gelegenheit; es hieß die Zeit gut ausnutzen; sonderlich müde war er auch nicht.
Siebenunddreißig Dollar waren sein ganzer Geldbesitz, und wenn er jetzt überlegte, was unentbehrlich war für die nächste Zukunft, dann wurde daraus eine Liste so lang wie der Weg, den er hierher zurückgelegt. – Da waren zunächst Haus und Stall, zu denen Fenster und Türen gehörten. Und Eßwaren und Tabak; und Kleider und Schuh; und Geräte, – ja, Geräte! Hätte er doch Geräte und Pferde! Dann sollte das ganze Landstück bald wie ein Garten daliegen! – Mit den Pferden wurde es vorläufig nichts. Aber mindestens eine Kuh noch mußte er bis zum Herbst angeschafft haben. Das war klar und somit erledigt. – Und Ferkel, – natürlich mußte er sehen, zum Winter Ferkel herzukriegen. Bekam er die Kartoffeln rechtzeitig in die Erde, dann gab es zum Winter auch Futter genug für die Ferkel. – Und Hühner! Die will er besorgen, sobald er an Menschen gelangte. – Es wird die Beret freuen, für all das Viehzeug zu sorgen. – Nein, es war nicht abzusehen, was er alles nötig brauchte – – – Und dann auch der Strich durch die Rechnung, daß die Beret wieder ein Kleines haben sollte! War übrigens ein rechter Gottessegen; nur daß es sie beide sehr aufhielt. – Ja, damit mußte sie nun freilich allein fertig werden, wenn‘s soweit war. – Ein ausnehmend tüchtiges und prächtiges Weib, das war sie wahrhaftig, und ein merkwürdig scharfsinniger und guter Mensch, mit dem man akkurat so umgehen konnte, wie mit dem besten Kameraden.
Der Per Hansen nahm das Bild seines Weibes mit in die Zukunftsgesichte, die jetzt kamen, – gut und willig kamen: Das ganze Land war wohlbestellt und gab seinen Reichtum her; eine große Herde lebte darauf, Pferde und Rinder, jung und alt. Wo er jetzt die Gamme bauen wollte, stand später ein großes Wohnhaus. – Weiß sollte es sein, das Haus; es leuchtete so schmuck in der Sonne; aber die Windbretter an den Hausecken, Per Hansen denkt sich die in Norwegen allgemein üblichen Holzhäuser. die mußten grün sein! – – —
Das erstemal, daß der Per Hansen das Haus vor sich sah, war es weiß mit grünen Windbrettern, und seither behielt es diese Farben. Aber der Kuhstall wie auch der Pferdestall und die andern Nebengebäude, die waren rot gestrichen mit weißen Windbrettern; denn das nahm sich ungemein prächtig aus! – – Oh, die Beret sollte auf einem Königshof wohnen mitsamt ihren Prinzen!
VI
In Per Hansens Wesen sprangen Schleusen auf, von denen er früher nicht gewußt; seine Kräfte wären unerschöpflich. Er begann mit einem Arbeitstag von vierzehn Stunden, kam bald dahinter, daß das für jemanden, dem noch so vieles ungetan lag, wenig Sinn hatte, dehnte also den Tag auf sechzehn Stunden aus, legte sicherheitshalber noch eine Stunde zu und überlegte, ob es nicht anginge, sich im Sommer bei dem guten Wetter mit nur fünf Stunden Schlaf zu begnügen.
Die freundlichen Bilder hatten ihn in jener Nacht sanft in Schlummer gewiegt; er öffnete bei Tagesgrauen die Augen, bekam sofort Licht hinein – es tagte bereits; und er fuhr aus dem Bett.
Da hätte er es fast verschlafen, – hatte man schon so was erlebt! Er aß zum Morgenimbiß ein wenig kalten Brei, sputete sich hinaus, spannte die Ochsen ins Joch und ging mit ihnen stracks zum Hans Olsen wegen des Pfluges. – Bei denen rührte sich noch nichts. Hm, – die hatten‘s vielleicht dazu, den Morgen zu verschlafen; aber er war fünf Tage später angekommen, hatte noch zwei dazu verloren, er mußte sich regen! – Er leitete die Ochsen am Halfter, um möglichst wenig Lärm zu machen.
Er führte ein Stück die Höhe hinauf, hielt und sah sich um. Gewiß, hier mußte er anfangen, die Schollen aufzubrechen! Er setzte den Pflug ein und herrschte die Ochsen an: »Los mit euch, Lumpengesindel!« Aber die Freude, daß er zum erstenmal im Leben den Pflug in eigenen Boden stieß, milderte das Barsche der Stimme; er mußte zu immer kräftigeren Ermunterungen schreiten und dennoch wollten die Ochsen sich zu so früher Morgenstunde nicht kräftig in die Sielen legen. Sie trotteten träge dahin.
Wäre jetzt der Ole zum Antreiben dagewesen, so daß er nur auf den Pflug zu achten gehabt hätte! Nun – davon war nicht die Rede! Der Bub brauchte mindestens noch eine Stunde Schlaf. Das Tagewerk wurde ohnehin schon lang genug für den. Junge Stiere haben mürbe Sehnen, – obwohl der Ole für sein Alter gewiß ein ungemein flinker Bursch war!
Per Hansens erste Furche, die lief nicht nach der Schnur. Und zu lang zog er sie auch. Als er meinte, jetzt sei sie lang genug, und die Ochsen anhielt, da buchtete sich die Furche hinter ihm her wie eine Schlange. Jetzt lenkte er nach Westen und legte eine zweite in entgegengesetzter Richtung daneben. – Nun, schlechter geriet die jedenfalls nicht! – – – Nach der nächsten Runde ließ er die Ochsen verschnaufen, griff zum Spaten und begann an der andern Seite die Grasnarbe auszustechen, – das Baumaterial! So legte er auf der einen Seite die Schollen um und schnitt an der andern die Grasnarbe zum Bau, – o, der Per Hansen hatte sich alles vorher gut zurechtgelegt! —
Zur Frühstückszeit lag ein Haufe Rasenstücke aufgeschichtet. Und kaum hatte er den letzten Bissen geschluckt, da kommandierte er die beiden Buben hinaus, spannte die Ochsen vor den selbstgefertigten Wagen, und fort ging es. »Koch‘ heut zu Mittag eine volle Schüssel Mus,« rief er zurück, »wir werden Futter brauchen, sag‘ ich dir!«
Und jetzt machte sich der Per Hansen ernstlich ans Werk. Er und der Große-Hans und die Ochsen brachen Neuland auf; der Ole arbeitete mit der Hacke, aber es wollte dem armen Burschen nicht recht von der Hand! Die Grasnarbe, die dort in unzähligen Herrgottsjahren ungestört geschlummert hatte, die war widerspenstig und zähhäutig, wenn sie sich kehren sollte. Aber sie mußte sich trotz allem Stück für Stück wenden lassen; schwarzbraun und lecker war sie anzusehen, und wenn sich die Morgensonne darüberlegte, dann schien und glänzte es auf ihr. – Wenn der Per Hansen jeweils nach einigen Umgängen die Ochsen verschnaufen ließ, zeigte er dem Ole, wie er‘s geschickter anfangen könne. »So sollst du‘s machen! Da schau her, so!« Und dann hackte er, daß die Klumpen flogen.
– – – Als sie Mittagspause machten, zogen sich viele Furchen über die Höhe und guckten in die Sonne. Und die drei Mannsleut kamen mit einem mächtigen Haufen Baumaterial nach Hause; die nächste Fuhre brachten sie zur Vesper heim und am Abend noch einmal eine. Da war das Abendessen noch nicht ganz bereit, und deshalb holte Per Hansen geschwind abermals eine, – es sei das beste, die Zeit gut zu nutzen, meinte er.
VII
Noch am gleichen Abend begann der Per Hansen mit dem Hausbau.
»Nein, ruh‘ dich jetzt ein wenig, Per Hansen!« bat die Beret, »nimm doch Vernunft an!« »Freilich ruh‘ ich jetzt aus – das will ich ja gerad! – Komm du jetzt mit, du kannst dir nicht denken, wie kurzweilig es wird, – neues Haus auf eigenem Grund und Boden! – Aber nicht als ob du mit arbeiten sollst! Doch dabei sein mußt du, und zusehen, wie der Königshof aus der Erde wächst.«
Alle kamen mit. Und es war so ausnehmend lustig, daß sie erst aufhörten, als sie nicht mehr genug sehen konnten. Da sagte der Per Hansen stopp; jetzt hätten sie ein gutes Tagewerk hinter sich gebracht, und damit sei es für heute genug; reichlich Lohn bekämen sie alle, nur wollte er im Augenblick nicht die Zeit mit dem Auszahlen vertrödeln!
An dem Abend schlief er vor Müdigkeit sofort und ohne Zukunftsphantasien ein. —
Von da ab baute der Per Hansen jeden Morgen vorm Frühmahl und jeden Abend, sobald sie mit dem Essen fertig waren. Alle taten mit und hatten ihre helle Freude dran.
Für den Hans Olsen wie für Tönset‘n nahm es sich aus, als wären Trolle in des Per Hansen Grund und Boden gefahren; obgleich der mitsamt der ganzen Familie tagsüber den Acker bestellte, wuchs dort aus der Erde eine ungeheuerliche Gamme.
Der Per Hansen pflügte und eggte und hackte, und er baute, und er fand alles miteinander so überaus kurzweilig, daß er nicht auch nur die geringste Zeit mit Schlafen vergeuden konnte. Als er aber am vierten Morgen die Decken abwarf und in die blaue Dämmerung hinauswollte, da lag die Beret wach und paßte ihm auf. Kaum daß er sich regte, nahm sie ihn fest in die Arme: Er müsse liegenbleiben; das gehe keinesfalls so weiter, auch er sei nur ein Mensch! Und so sanft und freundlich redete sie ihm zu, daß er nachgab und liegenblieb. – Aber Ruhe fanden seine Gedanken darum doch nicht. – Die Beret meinte es zwar gut; sie verstand nur nicht, mit wievielerlei er sich zu tragen hatte, – Plänen, die er zusehen mußte, auf der Stelle auszuführen! – Ja, die Beret! Nicht glaubte er, daß es ihresgleichen gab; wie hatte sie sich in den beiden letzten Tagen mit der Hausarbeit beeilt! War dann mit dem Gössel an der Hand zu ihnen auf den Acker gekommen, hatte dort das Kind im Grase spielen lassen und den Mannsleut geholfen und hatte dabei volle Arbeit geleistet, ganz wie ein Mann. Und alles bloß, um es ihm zu erleichtern, – und jetzt wachte sie hier und paßte auf ihn auf! – Und als sie so viel geeggt und zerhackt hatten, daß sich das Pflanzen lohnte, da hatte die Beret aus ihren verschiedenen Fächern und Behältern alle Saatsorten der Welt hervorgesucht, von denen er nicht wußte, wo oder wann sie sie erwischt hatte. Kohlrabi und Möhren, und sowohl Zwiebeln wie auch Tomaten, und wahrhaftig, hatte sie nicht sogar auch Melonen mitgebracht! Ja, so ein Weib! Er konnte ihr gern die Liebe tun, noch ein wenig liegenzubleiben, wenn sie so schön darum bat! – —
Ob es nun mit rechten Dingen zuging oder nicht, jedenfalls war beim Per Hansen ein stattlicher Acker bereits umgepflügt und eine große Hütte wartete auf ihr Dach, als der Hans Olsen und die Solumbuben ihre Behausungen kaum erst gedeckt und mit dem eigentlichen Pflügen gerad erst begonnen hatten. – Tönset‘n war jedoch schon erheblich weiter – der Per Hansen mußte das ja zugeben – und war jetzt schon dabei, Kartoffeln zu setzen. Aber der hatte ja auch nicht soviel im Kopfe gehabt; als der im Frühjahr herkam, war sein Haus bereits instand gewesen, so daß er bloß einzuziehen gehabt, – der winzige Stall, den er sich jetzt dazu gebaut, der war nicht mehr als eine gute Tagesleistung —, und Pferde hatte er auch; nein, für den war‘s keine Sache, vorwärts zu kommen!
Eines Nachmittags spät waren beim Per Hansen alle Kartoffeln, die er aus Sioux Falls mitgebracht hatte, in die Erde gelegt. »Nur ein Auge für jedes Loch, das ist genug bei solchem Boden!« hatte er die Beret ermahnt, die die Knollen zerschnitt. Auch aller Same, den sie so vorbedacht gewesen mitzunehmen, war gepflanzt. – – Der Acker sah größer aus, als er in Wirklichkeit war. Er hob sich von all dem Grün rundum scharf ab; aus der Entfernung machte es einen Eindruck, als hätte jemand einen schwarzen Flicken auf ein unendlich großes grünes Tuch genäht. Für den Per Hansen, der sich jetzt das fertige Werk anschaute, nahm sich der Flicken sehr gut aus. Vor nicht langer Zeit war er hergekommen und hatte doch schon mehr in die Erde gebracht als jemals, seit die Beret und er selbständig zu wirtschaften begonnen. Und wie würde das erst nächstes Frühjahr werden!
»Heute abend gönnen wir uns ein richtiges Festmus, Beretmutter,« sagte er zu ihr, »um damit zu segnen, was in die Erde gekommen ist!« Er stand noch immer an seinem Acker und sah darüber hin; und seine Augen leuchteten.
Die Beret war müd von der Arbeit; der Rücken schmerzte, daß sie meinte, er werde ihr brechen; auch sie sah über die bestellte Flur; aber sie konnte daran keine Freude gewinnen. – Es ist gut, daß wenigstens er sich so freut, dachte sie traurig. Auch mit mir wird es mit der Zeit besser werden. – Sie sprach es nicht aus. Sie nahm das Kind bei der Hand und ging heim. Hier maß sie die Hälfte von dem, was Buntscheck heute morgen gegeben, ab, goß Wasser dazu, bis sie genug hatte, holte Grütze aus einem Beutel und bereitete das Mus. Ehe sie es auftrug, tat sie in jede Schüssel ein kleines Butterauge, – ein Äuglein, das sich gerade noch offenzuhalten vermochte, und streute darauf ein paar Krümel Zucker; das war so üppig angerichtet, wie sie es bieten konnte, und sogar eher mehr. Aber als sie die Freude der Buben sah und all die Lobworte des Per Hansen hörte, da wurde auch ihr ein wenig leichter ums Herz, da nahm sie noch Zucker aus der Tüte und streute ihn oben drauf. – Und dann lächelte sie und war froh, daß sie nichts von dem schmerzenden Rücken gesagt! —
VIII
Die Hütte des Per Hansen wurde wirklich beinahe groß wie ein Königshof! Und das veranlaßte Tönset‘n, als er zu Besuch kam, zu folgendem Ausbruch:
»Kannst du mir sagen, Per Hansen, soll das hier eine Hütte vorstellen? Oder gar am Ende gleich Kirche und Pfarrhof unter demselben Dach? – Ich mein‘, du bist nicht recht gescheit, Mann! Im Leben kriegst du kein Dach zustande über diesem Ungetüm! Schon für die Hälfte gäbe es hier herum nicht genug Weidengerten! – Mach du dich bloß bald dahinter, es wieder abzutragen, Gevatter!«
»Hast freilich recht,« schmunzelte der Per Hansen. »Aber jetzt steht es einmal da. Ich meinte halt, ich könnt‘ gerad so gut gleich auch für meine Söhne bauen; die müssen dann jeweils, wenn sie heiraten, erst ein Stück des Daches decken. Und Dachrasen gibt‘s doch von hier bis zur Küste des Stillen Ozeans!«
Aber Tönset‘n ließ sich in seinem tiefen Ernst nicht erschüttern:
»Das da hat gar keinen Sinn, Per Hansen, – fang du bloß an, wieder abzutragen!«
»Ja, dann muß ich halt wohl!« antwortete der Per Hansen trocken.
Es war durchaus nicht sonderbar, daß Tönset‘n beim Anblick dieses Bauwerks stutzte; es war gänzlich unähnlich dem, was er selber gebaut, und jedem andern, das er bisher gesehen; ob überhaupt in ganz Amerika noch ein zweites so albernes Haus zu finden war! Tönset‘ns eigenes war vierzehn Fuß breit und sechzehn lang; das der Solumbuben war nur vierzehn im Geviert; der Hans Olsen war großartig gewesen und hatte das seine achtzehn Fuß lang und sechzehn Fuß breit angelegt. Aber Per Hansens Hütte, – die war achtzehn Fuß breit und dreißig Fuß lang! Und sie hatte zwei Räume – einen achtzehn zu achtzehn, den anderen zwölf zu achtzehn – durch eine Wand getrennt; des einen Tür ging nach Süden, des andern nach Osten. Zwei Türen in einer Rasenhütte, – du großer Gott, welcher Wahnsinn! Und in dem kleineren Raum hatte er die Erde ausgestochen, so daß hier der Fußboden einen Fuß tiefer lag als in dem andern! – – – Du erlebst es noch, dachte Tönset‘n bei sich, daß der Mann in seiner Verdrehtheit gleich auch einen Turm anbaut!
Tönset‘n mißbilligte! Erstlich war das von dem Per Hansen schiere Großmannssucht – denn es handelte sich doch nur um eine vorläufige Rasenhütte. Sodann aber war es unmöglich! Denn wenn der auch bei Tag mit der Laterne suchte, fand er nie im Leben genug Weidengerten für das Dach; das brauchte ja fast ein ganzes Himmelsgewölbe über sich! Tönset‘n trabte schnurstracks zum Hans Olsen und bat ihn, sofort mit dem Manne ein Wörtlein Vernunft zu reden. – Nein, meinte der, damit wolle er nichts zu tun haben. Der Per Hansen brauche für seine stattliche Familie, die sich vielleicht noch vergrößerte, wohl auch ein stattliches Haus; – übrigens wisse der Mann, was er tue.
»Nein, schau, das tut er eben nicht!« Und damit begab sich Tönset‘n zu den Solumbuben, die in Amerika sowohl geboren wie erzogen waren und wußten, was sich gehörte und sich nicht gehörte. Sie müßten also mit dem Per Hansen reden! Aber auch die wollten nicht heran: es sei des Per Hansen Sache, wie er sich sein Haus bauen wolle. – Da mußte Tönset‘n es aufgeben. Aber es war doch gar zu ärgerlich mit anzusehen, wie ein braver Mann es so dumm anfing! – —
Der Per Hansen hatte schon, seit er die ersten Rasenhütten gesehen, hin und her überlegt, wie er sich mit dem Haus einrichten solle. Auf dem Wege heim von Sioux Falls war ihm ein Einfall gekommen, der ihm zuerst recht merkwürdig vorkam, dann aber immer mehr einleuchtete: Wie wäre es, wenn er Haus und Stall unter ein gemeinsames Dach stellte? Es war ja nur für den Übergang – nur so zum Spaß —, bis er sich einen großen Hof bauen konnte. Er sparte Zeit wie Arbeit, – und Haus und Stall würden wärmer! Und jetzt fiel ihm ein, daß er davon gehört, wie die Menschen der alten Zeiten das oft so gehalten hätten, sogar die Herrenleut! Es war nicht gerade schön, aber es war auch nicht gerade dumm.
Am übelsten werde es der Beret gefallen, dachte er, nahm allen Mut zusammen und erwähnte den Plan vor ihr.
»Stube und Stall im selben Haus?« – Mehr sagte sie nicht, blieb stehen und überlegte. Volk und Vieh unter einem Dach? Es war wohl unratsam, sich so einzurichten? Dann aber fiel ihr ein, wie öde und einsam es hier war, und was für ein lieber Kamerad Buntscheck an dunklen Abenden und in langen, langen Winternächten werden könne. Ihr graute, und sie sagte dem Manne, sie finde es allright, wie er auch baue, wenn es nur dicht und warm sei; aber sie äußerte nichts von dem, was sie dachte.
Da war der Per Hansen froh: »Du bist das verständigste Weib, von dem ich weiß, du Beretmutterl Freilich ist es das beste, auf die Weise zu bauen!«
Jetzt überholte er weiß Gott den Hans Olsen wie auch die Solumbuben; von denen konnte keiner vorläufig an den Stall auch nur denken, und er baute sich beides auf einen Schlag!
IX
Eines Abends kam der Per Hansen mit den Ochsen zum Hans Olsen und wollte dessen neuen Wagen geliehen haben; er wolle weg und Holzwerk zu Dachsparren holen.
Der Per Hansen hatte seine Pläne.
An einem Bach, zehn Meilen weiter südlich, hatten die andern kümmerliches Krummholz gefunden, gerade zum Notbehelf, mehr nicht. Und ihre Dächer taugten nicht viel; fraglich, ob sie bis zum Frühling hielten. Nein, er hatte Besseres vor. Die Frühlingsbestellung hatte er hinter sich; jetzt wollte er verschnaufen und die Prärien rundum ein wenig befahren. Wie er gehört hatte, war Sioux River nur fünfundzwanzig bis dreißig Meilen weit entfernt; da sollten guter Wald und schon seit mehreren Jahren ganze Siedlungen von Tröndern Bewohner des Amtes Trondhjem (Drontheim). sein; und da war gewiß so manches andere noch, was er sich jetzt anschauen wollte. —
Er erzählte dem Hans Olsen von seinen Absichten: »Das wollen wir aber für uns behalten; du weißt ja, wir müssen auf einen Ausweg sinnen, wie wir ausreichend Brennwerk für den Winter bekommen.« —
Er kam mit dem Wagen heim und sagte nur, daß er und der Große-Hans ins Holz fahren wollten. Der Ole habe währenddessen die Farm zu betreuen und gut auf Volk und Vieh zu achten.
Der Große-Hans geriet fast aus dem Häuschen vor Wonne; der Bruder aber hätte am liebsten laut losgeheult über diese unerhörte Ungerechtigkeit. Daß der Vater auch so unverständig war, den Kleinen mitzunehmen und den Erwachsenen untätig daheimzulassen! – Und das schlimmste war, daß der Ole alle Vorbereitungen zur Reise mitansehen mußte; das war ja eine Umständlichkeit, als bereiteten sie sich darauf vor, weiter nach Westen auszuwandern. Ein Kessel wurde mitgenommen, Mehl und Salz, Kaffee und Milch und andere Eßwaren eingepackt. Als er dann aber das Riflegewehr, die Lange Marie, aus der großen Lade herauskommen sah, da flennte er vor Wut. Und Äxte und Taue und Säcke kamen mit, – und dieses Dreckbüblein tat sich obendrein so wichtig, wollt‘ nicht mehr mit ihm reden, schwänzelte bloß um den Vater herum, tuschelte geheimnisvoll und war doch zu nichts nütze und überall im Weg. Die Fragen troffen ja förmlich von dem herab. Sollte dies mit und jenes und das dort? Als er aber auch mit einer langen Ankerkette angezogen kam und behauptete, die sei unentbehrlich, da lachte der Vater auf: »Nein, du Großer-Hans, du Großer-Hans; da wäre ich fast ohne Ankerkette abgesegelt, hättest du es nicht rechtzeitig gemerkt! Und was hätten wir im Forst ohne Ankerkette angefangen?«
Die Beret machte den Mundvorrat zurecht. Das ernste Antlitz war traurig. – Freilich mußte das Haus unter Dach kommen, das sah sie ein; wie hätten sie in einer Hütte ohne Dach wohnen sollen? Aber jetzt blieb er zwei Tage weg, zwei ganze Tage und eine Nacht! – Mit den Tagen ging es zur Not, aber die Nacht!
»Nun gehst du mit den Kindern morgen abend zur Sörrina hinüber,« riet der Per Hansen unbekümmert, »bleibst da den Abend und plauderst mit ihr; dann wird dir die Zeit nicht lang, Sollst du sehen, Beretmutter.«
Sie antwortete darauf weder ja noch nein. Sie wußte zu gut, sie werde es nicht tun. Sie dachte an den Abend, als er in Sioux Falls war und sie mit den Kindern von der Kuppe zu den Wagen kam: wie unheimlich war es damals um sie her gewesen. Die Wagen so grau im Schummerlicht! Und es war gewesen, als sammle sich alle Verlassenheit und lege einen Ring um sie. Sie hatte geradezu sehen können, wo der Ring lag, hatte sich Gewalt antun müssen, über ihn hinwegzusteigen.
Es wurde eine folgenreiche Fahrt sowohl für die, welche sie unternahmen, wie für die Daheimgebliebenen. Diese lebten in tödlicher Angst, weil die beiden gar nicht wiederkehrten. Der erste Tag verging und der nächste; und die Nacht dazwischen und die Nacht darauf; der dritte Tag kam heran, – es wurde Mittag, und noch immer waren sie nicht zu erblicken.
Die Beret war darauf vorbereitet, daß sie nicht so bald zurückkommen würden; der Per Hansen hatte sie geheißen, ihn nicht eher zu erwarten, als bis sie seiner ansichtig werde; gleichwohl begann sie den Himmelsrand nach ihnen abzusuchen, als kaum der Mittag des ersten Tages verstrichen war! Sie sagte sich selber, daß es töricht sei, konnte es aber nicht lassen. – An dem Abend legten sie und die Kinder sich frühzeitig schlafen.
Am nächsten Abend spähten sie alle drei von der Hügelkuppe aus über die östliche Ebene. Im Osten erhob sich der Abenddunst, er ging in schwarzblaues Dämmern über; das barg so vielerlei Seltsamkeit in sich, kroch ihr und den Kindern immer näher. Aber kein Wagen und keine Ochsen kamen daraus hervor. – – Der Ole fand es weit kurzweiliger, nach Steinen zu suchen, als in die Ferne zu starren!
Der Tag war fast hinabgesunken; da fühlte die Beret, sie müsse heute Menschensprache hören von andern als den beiden Kindern, und so ging sie trotz allem zum Hans Olsen.
War der Per Hansen immer noch nicht heimgekommen?
Nein, sie könne auch nicht begreifen, was aus ihm geworden sei; er hätte um diese Zeit schon zu Hause sein müssen, antwortete sie versonnen.
Nun ja, sie dürfe sich seinetwegen keine Sorgen machen, er habe diesmal einen weiten Weg und beabsichtige gewiß, zugleich nach Winterholz herumzuhören.
Nach Winterholz? – Daran hatte sie noch gar nicht gedacht! Aber freilich, falls sie hier den Winter über bleiben wollten, brauchten sie welches. Und verwundert bedachte sie, wieviel doch der Per Hansen zu überlegen und zu betreuen habe; aber sie fühlte doch auch eine gewisse Bitterkeit, weil er ihr nichts gesagt. – Winterholz? Ja freilich brauchten sie Holz zum Winter! —
Die Sörine merkte, daß die Nachbarin heute abend nur gerade noch die allerletzte Beherztheit aufzubringen vermochte. Gewiß war es trübselig für sie, drüben im Wagen allein zu liegen. Beim Aufbruch der Gäste erhob sich auch die Sörine, nahm die Tochter mit und begleitete die andern bis zum Wagen. Sie plauderten fröhlich auf dem ganzen Weg, – – und daher war für die Beret an diesem Abend auch kein Ring zu übersteigen! —
Erst am dritten Tag um die Mittagszeit kamen die zwei Mannsleut wieder heim, mit einer Fuhre so groß, daß die Ochsen sie kaum den Hügel hinaufziehen konnten. – Und es war die reine Märchenfuhre! Ein Dachfirst war da und Pfetten und Sparren. Zu unterst aber lagen sechs Bündel Bäumchen, die Kronen beschnitten und die Wurzelenden sorglich in Erde und Borke gehüllt. »Das hier, das soll ums Haus gepflanzt werden!« erläuterte der Große-Hans. »Und kannst du raten, Mutter, was es ist? Zwölf Pflaumenbäume, – die tragen große, große Pflaumen! Ein Mann hat uns davon erzählt.« Der Große-Hans verschluckte sich rein vor Eifer. Der Ole aber tat bei allem selbstverständlich; wozu waren die denn sonst gefahren!
Und noch weit merkwürdigere Dinge enthielt die Fuhre. Hinten offenbarte sich, als der Vater ablud, eine Höhle, ungefähr so, als wäre dort eine Stube eingebaut. Da drin lagen zwei Säcke, – zwei Säcke voll von seltenen Dingen; in dem einen waren Fische; in dem anderen lag ein ganzes geschlachtetes und gehäutetes Kalb, – wenigstens hielt der Ole es dafür und wollte wissen, wo sie denn das aufgetrieben hätten?
»Kalb!« rief der Große-Hans. »Hö! Glaubst du etwa, das hier sei Kalb?«
Aber da zwinkerte der Per Hansen dem Reisekameraden zu: es sei vielleicht ratsam, jetzt nicht mehr zu sagen – nicht gerad jetzt!
Und da stand nun der Große-Hans zum Platzen voll von den seltsamsten Geheimnissen.
Die Beret nahm all die Herrlichkeiten still und staunend entgegen; sie war so herzensfroh, daß sie wieder alle um sich hatte, daß sie laut hätte weinen mögen; sie streichelte die Ochsen und flüsterte ihnen zu, sie seien tüchtige Kerle, daß sie eine so große Fuhre hätten heimziehen können.
»Well,« sagte der Per Hansen, als er endlich abgeladen hatte, »ich und der Große-Hans beabsichtigten sozusagen zu Mittag frische Fische zu schmausen, auf rechte Nordlandsweise gekocht, mit Suppe und allem Zubehör, – und wir haben fast uns und die Ochsen zuschanden gefahren, um rechtzeitig herzukommen. Aber – was Kuckuck nehmen wir jetzt für Kochgerät, um sowohl die Fische wie auch das Wildbret darin aufzusetzen, du Beretmutter?« —
An dem Tage war der Große-Hans nicht satt zu kriegen; es war, als hätte der Bub keinen Boden mehr. – Der Vater schickte ihn nach dem Mittagessen sofort ins Bett, und der Große-Hans war darüber auch gar nicht ungehalten. Es wurde Abend, und die Mutter versuchte, ihn wieder zum Leben zu erwecken, mußte es aber aufgeben; so weit, daß er im Bette saß, bekam sie ihn zwar, aber auch nicht weiter; dann warf er sich wieder hin und schlief wie ein Stein. —
Diese Ausfahrt des Per Hansen erhielt für die neue Siedlung westlich am Spring Creek große Bedeutung.
Da waren zunächst die Bäume, die er mitgebracht hatte und anpflanzte. Tönset‘n wollte in heller Begeisterung sogleich aufbrechen, sich auch welche zu holen; der Hans Olsen und die Solumbuben meinten jedoch, dazu sei es noch an der Zeit im Herbst, wenn sie ans Holzfahren müßten. So ging es zu, daß hier üppige Haine entstanden, ehe noch sonstwo dort in der Gegend ein Busch zu erblicken war. – Außerdem aber wurden sie mit den Tröndern östlich vom Sioux River bekannt. Hier in Amerika war es nämlich nicht wie auf dem Lofotmeer: hier hatten sie um nichts zu hadern, und Helgeländer Helgeland = Landschaft nördlich von Trondhjem. und Trönder wurden die besten Kameraden der Welt; jene bedurften der Hilfe, und diese waren mehr als willig, ihnen zur Hand zu gehen. – – Der Per Hansen borgte sich sofort bei dem Simon Baarstad einen Acre Waldland und hatte somit reichlich das Holz zur Verfügung, dessen er bedurfte.
»Buntscheck! – Buntscheck!«
I
Die Vorräte schrumpften ein. Tüten und Säcke grinsten leer und hatten kaum noch etwas herzugeben. Man teilte miteinander, solange etwas da war; aber selbst beim Hans Olsen, bei dem doch alles so reichlich vorhanden gewesen, ging der Proviant auf die Neige. Bei den Mannsleuten war der Tabak so rar wie der Golddukaten. —
Der Sommer war auch schon vorgeschritten, so daß man bald ans Heuen denken mußte; kurz, es blieb kein andrer Ausweg: sie mußten jetzt zur Stadt.
Eines Sonntags also kamen die Männer zur Beratung zusammen. Eine Stadtreise war in jenen Tagen eine ernste Angelegenheit und mußte von Anfang bis Ende scharf durchdacht und genau geplant werden; die 70, 80 Meilen über unbewohntes Land waren eine eigne Sache – auf Hin– und Rückfahrt waren vier Tage mindestens zu rechnen, sogar mit Pferden. Schwieriger noch war es fast, in der Stadt auch wirklich alles Nötige zu erledigen; denn alles für das ganze kommende Vierteljahr mußte angeschafft werden, – Essen, Kleidung, Gerätschaft, soweit der Heller nur reichte. Und reichte er nicht, so mußten Auswege ersonnen werden. Noch war am Spring Creek niemand so weit, daß er etwas hätte feilbieten und in Waren oder Geld umsetzen können.
Ein paar von den Männern mußten daheim bleiben; so manches konnte geschehen! Es war seltsam damit: niemand erwähnte es, niemand sprach davon; und doch war wohl keiner in der kleinen Siedlung, der sich hier draußen vollkommen sicher gefühlt hätte. Ein unerklärliches, unbestimmbares Grauen konnte sie ohne jeden Anlaß plötzlich befallen, sich als Ruhelosigkeit über sie wälzen, sie bei allem Tun und Lassen übervorsichtig und -empfindlich machen. Die Mannsleut wurden unter diesem Druck schweigsam und arbeiteten ihn sich von der Seele. Die Weiber befreiten sich von ihm durch Plaudern; oft sprachen sie dann übereifrig und lärmend. Nur wenige waren sich der eigentlichen Ursache bewußt, niemand hätte seine Befürchtungen zugegeben.
Herre Gott! Mannes Macht war bisweilen wenig wert; das bekamen sie zu spüren! Ein rein ungeheuerliches Sturmwetter konnte aufziehen, – und so unbegreiflich jäh! Und die Sörine fürchtete sich so sehr vor den Stürmen. Erst vor einer Woche war Hans Olsens Zelt fortgerissen und die Sörine eingewickelt und mitgeschleppt worden, so daß sie fast erstickt wäre, obwohl der Hans Olsen das Seil über den Rücken gelegt und sich mit seiner ganzen Riesenkraft dagegengestemmt hatte. Er wurde mit weggefegt wie ein Flocken Wolle. Aber es war niemand zu Schaden gekommen.
Und dann die Indianer – die ›Indians‹, wie es den Leuten eingefallen war, die roten Kinder der weiten Steppe zu benennen. Die Kjersti fürchtete nicht den Sturm; der benahm sich doch auf Menschenart, – der skalpierte doch nicht die Leut! In ihr war die Angst vor den Indianern höchst lebendig.
– Einer lag da oben auf dem Quart vom Per Hansen, und wo die Toten lagen, erschienen wohl auch die Lebenden! Seit sie das gehört, starrte sie fast nur noch dort hinauf. – Übrigens war ihre Furcht begreiflich. Die Berichte von den Greueln des Jahres 62 hatten sie und der Syvert so oft gehört, daß sie sie auswendig konnten. Nach Filmore County, wo sie damals gewohnt, waren zwei Flüchtlinge von Norway Lake gekommen; die Erzählungen bauschten sich, während sie von Mund zu Mund wanderten, auf; als sie jetzt hier draußen, wo es kein Vergessen gab, in dem bangen Gemüt erwachten, nahmen sie phantastische Ausmaße an.
Tönset‘n jedoch fürchtete sich vor ›dem Indian‹ keineswegs, – bewahre! Weshalb denn nur? Die seien doch zivilisiert und alles, beruhigte er die andern. Wenn der Per Hansen Tönset‘n so reden hörte, dann grinste er ganz sonderbar: »Ja schau, du Syvert, der ›Indian‹, der ist jetzt in diesen zehn Jahren ein pikfeiner Herrenmann geworden, mit roter Zipfelmütze, Holzschuhen, Langpfeife und so. Keine Sache für einen Wilden, feines Benehmen zu lernen, wo es hier ringsherum von Menschen wimmelt!«
Bei den Tröndern östlich Sioux Creek hatte der Per Hansen nämlich vielerlei Bescheid bekommen; darunter auch den, daß unweit ein Ort sei, der soviel wie Flandreau heiße; westlich davon gehe eine Fährte nach Nebraska; zwischen den beiden Orten mache der rote Mann seine jährlichen Wanderungen. – Sehr wahrscheinlich, daß Per Hansens Quart mitten auf diesem Wege lag! – Nun, das werde sich zeigen, ehe noch der Sommer um war, und niemals lohnt es, den Hut zu lüften, ehe der Mann vor einem steht!
Die Männer sprachen in Gegenwart der Frauen nie von den Rothäuten. Aber der Ole und der Große-Hans hörten mit offenem Munde zu, bis er ihnen wässerte. Es gruselte sie jetzt zwar vor der Hügelkuppe; aber wegbleiben, – nein!
Die Kjersti hatte Angst vor den Indians, die Sörine fürchtete sich vor dem Sturm, und die arme Beret fand, ihr graue vor allem! – —
Das Ergebnis der Beratschlagung an jenem Sonntag entsprach der Lage der Dinge; es machte sich sozusagen ganz von selbst, daß der Hans Olsen, Tönset‘n und der Henry Solum, die alle Pferde und Wagen hatten, fahren sollten, – drei Männer mit je einem Gespann, die mußten wohl alles das heimschaffen können, was die Anwohnerschaft imstande war, auf einmal zu kaufen.
Der Per Hansen war gründlich verstimmt, mürrisch und vergrätzt, ließ kaum ein Wort fallen; – übrigens hätte er auch nicht viel zu sagen gewußt. Es schien von vornherein ausgemacht, daß er, der keine Pferde hatte, zu Hause bleibe, – er und der jüngere Solumbub, sie sollten nach allem sehen, obwohl das nicht besonders gesagt wurde. Und das schien dem Per eine schäbige Aufgabe für einen Mann zu sein! Es war doch klar, daß er für solch eine Fahrt besser taugte als Tönset‘n oder der Solumbub! Aber weder der Herrgott noch sonst wer wußte hier, was not tat! – Sie hätten es jedoch wissen müssen; darum hätte der eine oder andre ihm gern seine Pferde anbieten können. Aber Per Hansen war nicht der Mann, der sich aufdrängte. – Verdammt ärgerlich war es darum doch, daheim bei den Weibern zu hocken, während die andern auf Langfahrt zogen! – – Die Abenteuerlust brannte ihm im Blut.
Als die Männer am Montag in aller Frühe aufbrachen, war er so übelgelaunt, daß er gleichfalls bei Dämmerlicht aufstand, den Ole weckte und die Ochsen vor den Pflug spannte. An dem Tage brach er anderthalb Acre Neuland um und stellte damit – bei den damals verfügbaren Gerätschaften – den Rekord für die ganze Gegend auf. Als er Feierabend machte, das Stück abschritt und sah, was er ausgerichtet, kam ihm so frohe Laune, daß er sich ein Liedlein pfeifen mußte: Fürwahr! Beeilten sich die Kerle nicht, dann hatte er, bis sie heimkamen, die ganze Farm umgepflügt. Dann mochten sie sehen, wer am meisten taugte!—
II
Am folgenden Tag sah er schon alles ruhiger an, verrichtete aber doch noch ein ansehnliches Tagewerk.
Er und der Ole schlenderten heim von der Arbeit, er war wieder guter Stimmung: in diesen Tagen wollte er Tönset‘n einholen wie nichts!
Der Ole hatte müde Beine und eine heisere Kehle; denn er hatte nun schon zwei ganze Tage hintereinander die Ochsen antreiben müssen.
Sie waren noch nicht weit auf dem Heimweg, als der Große-Hans ihnen entgegengelaufen kam und schon von weitem atemlos rief:
»Vater, dort kommen Menschen!«
Diese Nachricht war so unfaßlich, sie kam so unerwartet, daß der Ole plötzlich stehenblieb und sich mit offnem Munde umschaute; der Vater aber sah seinen Herzensbuben, den Großen-Hans, zuversichtlich an und lachte herzlich:
»Aus‘ dir wird, meiner Treu, vielleicht mit der Zeit noch mal ein Mann, – ‚s ist freilich noch weit und hoch bis dahin!«
Doch der Große-Hans war viel zu eifrig, um auf des Vaters Worte zu achten. »Schau – schau dort!« Er zeigte nach Südwest. »Die Mutter meint, es seien Indians!«
Der Per Hansen fegte den westlichen Horizont mit den Augen. »Pöh!« machte er nur kurz und trocken, begann schneller auszuschreiten, beeilte sich mehr, je länger er hinsah, – jetzt ging er so schnell, daß die Buben, um mitzukommen, laufen mußten.
Die Beret stand unweit des Wagens mit dem Gössel auf dem Arm.
»Da haben wir sie,« sagte sie ruhig; aber das schöne, traurige Antlitz sah blaß und gespannt aus.
»Geh du nur hinein und sieh nach dem Essen!« Er sprach schnell, es lag ein harter Klang in der Weisung.
Er ging sogleich zur Hütte, die halb unter Dach war, – die Buben kamen hinterher; er rief sie geschwind und leise heran, – es klang ebenso hart:
»Du, Hans, gehst jetzt zum Sam und erzählst ihm, wer kommt. – Eil‘ dich!«
»Ja.« Der Bub blieb stehen.
»Eil‘ dich, sagt‘ ich!«
»Ja.« Und jetzt fand der Bub seine Beine und sauste davon.
»Und du, Ola, holst die Lange Marie,« wandte er sich an diesen. »Sie liegt in der großen Lade. Das Zubehör ist in der Beilade. Setz alles hinter der Tür zusammen. – Und jetzt paß gut auf: wenn ich pfeife, bringst du sie mir, vorher nicht! – Bist doch wohl nicht etwa bange, Bub?«
»N—nein.« – Der Ole lief davon.
Der Per Hansen machte sich ans Dachdecken, als sei alles in schönster Ordnung; nur die Augen beobachteten scharf den herannahenden Zug. Allmählich verlor sich die Spannung im Gesicht, es bekam wieder den halb schlauen, halb schelmischen Ausdruck, den es immer zeigte, wenn er frohgelaunt war.
Jetzt brachte der Ole die Rifle.
»Nein,« sagte der Vater – und er lachte schon wieder – »bring nur die ganze Geschichte wieder dahin zurück, wo du sie gefunden. Der Große-Hansel ist ein rechter Aff! Wie der uns fast zu Tode erschreckt hat! – Und komm gleich zurück.«
Der Bub lief weg und war im Umsehen wieder zur Stelle. Der Per Hansen saß, unverwandt nach Westen schauend, auf dem Dachrand, während er den Buben anwies: »Geh jetzt zur Sörine und erzähl ihr, wer kommt. Das sind ja ebenso friedliche Leut wie wir. Sag‘ ihr, daß die wohl die Nacht über auf der Hügelkuppe lagern werden; fürchtet sie sich, soll sie nur herkommen. – Und red‘ verständig, daß du die Bäuerin nicht ängstigst!«
Der Ole ging. Per Hansen holte Rasenstücke, legte sie aufs Dach, kletterte selbst hinauf und paßte sie ein.
Der Zug aus dem Westen kam langsam näher. Der Per Hansen überzählte die Wagen und kam auf vierzehn, aber vielleicht waren es noch mehr; sie fuhren dicht hintereinander und in gerader Richtung auf ihn zu. – Ja, ihre Fährte lag wohl wirklich da drüben! —
Plötzlich stand wer unter ihm; die Gestalt tauchte so jäh auf, daß es ihm einen Ruck gab. Der Sam war es, aufgeregt und erschrocken, die Büchse in der Hand. Er war so schnell gelaufen, daß der Große-Hans weit zurückgeblieben war.
»Willst heute abend noch auf die Jagd ?« fragte der Per Hansen trocken.
»Siehst du ihn denn nicht?« keuchte der Sam.
»Wen?«
»Siehst du denn nicht, daß der Indian dort gerad auf uns zukommt!‘«
»Hast Augen wie ein Trottel! – Was fuchtelst du hier mit dem Schießprügel herum ? Stell ihn sofort in die Hütte und hilf mir dann beim Dachdecken, und du, Hans, hilfst drinnen der Mutter.«
Sam tat, wie ihm geheißen, und starrte mit offenem Mund dem Zug entgegen.
Der Per Hansen hatte sich aufs westliche Dach gesetzt und beobachtete den Sam. »Es ist wohl nicht recht, daß wir die Kjersti nicht benachrichtigen, die doch so schreckhaft ist. Ich meine, du gehst und erzählst ihr, jetzt kämen unsere Nachbarn. – Aber schreck‘ sie nicht zu Tode!«
Der Sam zögerte, schien nicht gerad Lust zu dem Auftrag zu spüren.
»Oder sollen wir vielleicht die Indians das Weib skalpieren lassen?«
Der Sam setzte sich in Bewegung; fing plötzlich an zu rennen. Der Per Hansen schüttelte sich vor Lachen. »Nein, flitz nicht davon, als hätt‘st du Feuer im Hosenboden!« rief er ihm nach, »so arg eilt es nicht mit der Kjersti!«
Aber die Kjersti hatte die Herannahenden bereits erblickt; dort kam sie die Anhöhe herauf und zog die Kuh hinter sich her.
Und da kamen auch der Ole, die Sörine und das Dirnlein; Sörine hatte jedoch nicht an die Kuh gedacht, die ein Stück westlich von des Hans Olsens Hütte weidete.
Bald scharten sich alle zusammen, die drei Frauen, der Ole, und der eine Solumbub; nur der Große-Hans meinte, er sei sicherer beim Vater aufgehoben und kroch zu dem aufs Dach. —
Die Kjersti jammerte und schluchzte, daß ihr Syvert auch gerade in der Stunde der Prüfung des Herrn abwesend sein müsse. Die Sörine tröstete nach Kräften, – das seien doch auch nur Menschen, – nur Menschen! – Die Beret hörte schweigend zu.
Der Per Hansen rutschte behende vom Dach und kam zu der Schar.
»Wollt ihr hier einen Frauenverein gründen ? Ich meine, drei so schmucke Frauensleut dürfen sich fremden Männern nicht so zur Schau stellen! Die haben übrigens ihre Weiber mit, – und die mögen das vielleicht nicht! Geht lieber hinein.« —
Die Sörine machte sich sogleich beim Herrichten des Abendessens nützlich, die Kjersti lieh sich einen Eimer und molk ihre Kuh, und der Per Hansen konnte noch vorm Abendessen etliche Rasenstücke packen.
III
Während sie darauf warteten, daß das Abendmus sich abkühle, beobachteten sie den Zug, der den Abhang herauf und auf die Hügelkuppe zulenkte. Der erste Wagen gelangte auf die Kuppe, fuhr ein kleines Stück bergab, hielt; sogleich hielten alle die übrigen in einem Halbmond um den Hügel, dessen Bogen Per Hansens Hütte zugekehrt war. – Sie spannten die Pferde aus und ließen sie weiden. Per Hansens Gesicht erhellte sich immer mehr. Die Leute führten schwerlich etwas Böses im Schilde! —
Aber – da war es, als verlöre Sörines Kuh, die soeben noch friedlich auf der Prärie geweidet, plötzlich den Verstand. Sie gab ein langes Brüllen von sich, warf den Kopf hoch und jagte auf die Wagen zu. – Alle sahen es verdutzt. Der Sörine kam das Weinen, weil sie so kurz von Gedanken gewesen war und die Kuh nicht mitgenommen hatte. Per Hansen schickte dem Biest einen innigen Segenswunsch nach! Und jetzt schlug der Wahnsinn unversehens auch die beiden andern Kühe: kaum hörten sie das Brüllen, so rannten sie hinterher, Buntscheck voran, Kjerstis Kuh Tüpfel hinterher – die Schwänze steil in die Höhe!
»Da ging die Milch zu unserm Mus heidi! Der Böse verpfeffre ihnen gründlich die Hintern!« murmelte der Per Hansen grimmig. Und kaum war‘s heraus, so ertönte ein kräftiges Brüllen aus Norden, und schon kam die Daisy der Solumbuben angehetzt.
Jetzt mußte der Per Hansen aber doch lachen. »Willst du diesen Winter nicht trocknes Mus im Maule mahlen, so sieh zu, wie du die Kuh jetzt einholst!« meinte er, zum Sam gewandt.
Die Weiber nahmen das Unglück jede auf ihre Weise. Die Kjersti wimmerte, es sei das schlimmste, was sie je gehört! Auch bei der Sörine glitzerte etwas in den Augen; die Beret blieb vollkommen ruhig, war eher überrascht als erschrocken. Warum ging keiner der Männer den Kühen nach ? – Als sie sie sitzen bleiben sah, legte sie den Löffel hin und stand auf.
»Wir müssen sogleich nach,« sagte sie; »zieht der Indian heut nacht weiter, gehen die Kühe mit, – das ist ausgemacht!« Sie nahm das Gössel auf den Arm und wollte sich auf den Weg machen.
»Gott tröste mich wegen deiner, Beret, – ich glaub‘, du bist toll!« rief die Kjersti außer sich. Per Hansen aber strahlte seine Frau an, sein Gesicht war jetzt geradezu schön. Ein wackres Weib! Er sprang auf und trat neben sie.
»Iß du nur erst, du Beretmutter! Ich besorg‘ das schon, – das hat Weile, bis wir satt sind. Und – es ist auch unschicklich, sogleich auf Gäste zuzustürzen.« —
Während der Mahlzeit zog er den Sam bös mit der Grausamkeit der Indians auf, so daß es den Weibern kalt über den Rücken lief: »Das habe ich doch gehört wie gelesen, daß die Indians lieber eine Kuh skalpieren als einen Menschen. Du nicht? – Hö! merkwürdig! Die sollen rein wild hinter einem Kuhskalp her sein. Ja siehst du, den trocknen sie und brauchen ihn als Wintermütze!«
Die Beret sah ihn an. Ihr schien, das Geschwätz stände ihm wenig; was konnten die Frauen dafür, daß sie sich fürchteten? »Kannst du mit dem Geflunker nicht aufhören? – ‚s ist kein Heldenstück, Weiberleut, die sich schon ohnehin fürchten, noch mehr zu ängstigen,« sagte sie in ihrer gelassenen Art, ohne aufzusehen.
Per Hansen verstummte plötzlich, wurde feuerrot. In all den Jahren ihres Zusammenlebens hatte sie ihn noch niemals in Gegenwart anderer zurechtgewiesen. – – Er aß weiter; aber ihre Worte spukten und ritzten überall in ihm Schrammen.
Endlich legte er den Löffel hin und stand auf, steckte die kurze Pfeife in den Mund, ohne anzuzünden.
»Eigentlich müßtest du, Sam, der du dich ebenso gut auf österdölsch Mundart der Österdöler, der Bewohner Österdalens (= des Östlichen Tales) in Norwegen. wie auf indianisch zu bewegen verstehst, dein altes Kuhgerippe selber holen, – aber – hm, da drüben sind am End‘ Weiberleut, und vor denen kann man sich nie genug hüten!« warf er hin. »Ist schon das beste, ich gehe selbst.«
Wie der Blitz war der Große-Hans neben ihm, faßte leise seine Hand. Der Per Hansen sah ein Bubengesicht, das ihn schräg, rosig und lächelnd anstrahlte und gar so hübsch bettelte, ohne einen Ton von sich zu geben.
»Was sagst du? Hast recht!« meinte der Vater, nahm ihn fest bei der Hand und machte sich auf den Weg.
»Komm her, Hans!« rief die Mutter; jetzt klang Angst aus ihrer Stimme und eine Bitte.
»Nein,« sagte der Per Hansen kurz, »der Hans geht mit mir,« er wartete die Antwort nicht erst ab und ging.
IV
Der Große-Hans war viel zu sehr in seinen Gedanken, um den Auftritt zwischen den Eltern zu bemerken. Anfangs war er Feuer und Flamme, tat weite, männliche Schritte, schwätzte geschwind und gedämpft, kreiste aber stets um dieselbe Frage: Was wollte der Vater bei dem Indian?
»Was ich will?« weiter kam der Per Hansen nicht. Die Worte der Frau, die alle gehört, schellten unablässig in seiner Seele.
»Ja! Was willst du?«
»Wollen sehen.« Er riß sich aus seinen Grübeleien und setzte noch einmal kräftig hinzu: »Wollen sehen!«
»Willst du – willst du mit ihnen kämpfen?«
»Nein, wir wollen uns damit begnügen, sie zu skalpieren!«
Nun wußte der Große-Hans vom Skalpieren nur, daß es das schlimmste war, was es gab; er fragte also, was das sei, das Skalpieren ?
»O nichts weiter. Weißt du‘s denn noch nicht?«
»Nein; – so sag mir‘s doch, Vater!«
Der Per Hansen schob die kalte Pfeife in den andern Mundwinkel und schmunzelte: »Schau, Großer-Hans, wenn die Haut auf gewissen Köpfen so richtig trocken und reif wird, dann trennt sie ihnen der Indian ab!«.
»Wächst dann wieder eine neue nach?« Der Große-Hans lugte zum Vater auf; – und eine Hand faßte unwillkürlich unter die Mütz‘, ehe es noch verhindert werden konnte.
»O, das tut sie wohl. Freilich!«
»Aber – tut es – tut es nicht gräßlich weh?«
»Nein, gar nicht; das heißt: wenn sie richtig reif und trocken ist. Das ist doch klar!«
Das fand der Große-Hans auch. »Und was machen sie mit der Haut?«
»Was sie mit der Haut machen ? Ja, die brauchen sie wohl zu Fäustlingen und Ähnlichem; kehren halt die Haare nach innen, weißt du.«
»Ach, du flunkerst ja!« sagte der Große-Hans und riß die Beine auseinander, um mitzukommen.
»Könnt schon stimmen! Aber ich meinte halt, du hättest genug Witz es zu merken.«
Der Große-Hans hätte gar zu gern noch mehr gefragt; aber jetzt waren sie dem Lager schon so nahe, daß er vollauf damit beschäftigt war, seine Augen zu brauchen.
Und da gab es zu sehen! In der Lagermitte hatten die Indianer ein großes Zelt errichtet; auf jeder Seite standen vier kleinere. Halbnackte braune Kinder sprangen zwischen den Zelten herum. – Die spielen gewiß, dachte sich der Große-Hans und bekam gleich mehr Mut. Und da waren ja auch Frauen! – nein, hier drohte gewiß nicht Gefahr! —
Die Zelte standen hinter dem Wagenring. In dem Raum zwischen Zelt und Wagen waren jetzt einige Indianer dabei, ein Feuer anzufachen, und holten dazu Brennwerk von den Wagen; um das Feuer herum hockten mehrere Männer auf gekreuzten Beinen.
Alle rauchten, – das merkte sich der Per Hansen als allererstes.
Das Feuer warf einen starken Schein ringsum; die Haut der in der Nähe Sitzenden erschien dadurch noch dunkelbrauner, das Haar noch glänzender schwarz. Schweigend rauchten sie ihre Pfeifen.
Die beiden Ankömmlinge standen im Feuerschein; einer der Männer deutete mit der Pfeife auf sie; es wurde etwas gesagt; im übrigen schien ihr Kommen nicht besonders zu überraschen.
Der Per Hansen trat vor und grüßte, – soviel Englisch konnte er noch. Der Gruß wurde in derselben Sprache beantwortet. – Einer der Männer sagte darauf etwas, was wie eine Frage klang; ein paar andere setzten etwas hinzu. – Nein, der Per Hansen verstand keine Silbe, er war ratlos.
Aber jetzt kam ihm der Große-Hans zu Hilfe – bisher hatte er sich hinter dem Vater gehalten; er flüsterte geschwind: »Sie wollen wissen, ob wir hier wohnen!«
»Yes! – Yes!« nickte der Per Hansen kräftig. »Und sag ihnen, sie könnten sich darauf verlassen, daß wir auch wohnen bleiben, aber sag es durchaus hübsch, hörst du!«
Der Große-Hans trat noch einen Schritt weiter vor und versuchte sich, so gut er konnte, mit den paar Brocken Englisch, die er letzten Winter aufgeschnappt hatte.
Die Antrittsvisite war vorüber; der Per Hansen hatte hier nichts mehr zu tun; die Kühe hatten sich bei den Wagen gemütlich hingelagert – alle viere nebeneinander; die waren bloß zu greifen und heimzuleiten. – Aber der Duft aus den Pfeifen mischte sich so ergötzlich und verlockend in die Abendbrise! Und über zwei Wochen hatte er keinen anständigen Tabak mehr geraucht! Und der hier war kräftiges Kraut, konnte er riechen.
Schließlich vermochte er der Versuchung einfach nicht mehr zu widerstehen. Er suchte sich das Gesicht aus, das ihm am besten gefiel, nahm die Pfeife aus dem Mund und machte Zeichen, daß er gern etwas da hinein haben wollte!
Ja, das verstand das Gesicht ausgezeichnet. Der Mann warf den andern lachend ein paar Worte zu, zog einen großen Beutel, den er an einer Schnur am Halse trug, aus dem Wams, öffnete ihn und bot an. Der Per Hansen griff begierig hinein und stopfte gut. »Dank sollst du haben, Mann! Und kommt der Hans Olsen zurück, ehe du deines Weges ziehst, soll‘s dir bei Gott vergolten werden! Hans, übersetz ihm das, so gut du irgend kannst. – Vertrackt, daß man nicht selber mit so bravem Volk zu reden versteht!« Der Per Hansen trat ans Feuer, scharrte sich ein glimmendes Holzstück heran, legte es auf die Pfeife und zündete mit langem, behaglichem Schmatzen an.
V
Als er vom Lagerfeuer zurücktrat, gewahrte er beängstigend nahe an der Glut ein Gesicht, das ihn aus einer bunten Decke heraus anschaute.
Der Per Hansen mußte es unausgesetzt ansehen; es starrte zurück. Der Gedanke durchfuhr ihn: der Mann hat entsetzliche Schmerzen; die Gesichtsmuskeln sind so verzerrt.
»Großer-Hans!« sagte er kurz, »frag einmal den Mann, ob ihm etwas fehlt; der sieht aus, als ringt er mit dem Tod!«
Wieder versuchte sich der Große-Hans mit seinem geringen Vorrat von Neusiedlerenglisch. Das Gesicht stöhnte schmerzlich auf, gab dann eine Antwort.
»Er sagt, er habe Schmerzen in der Hand!«
»So? – Schad‘ um den Mann! – Sag ihm, ich tät‘ seine Hand gern sehen.«
Aber der Große-Hans brauchte nicht mehr zu dolmetschen. Der Mann hatte sie beide eindringlich beobachtet; er stand jetzt auf, kam zu ihnen hin, wickelte erst die Decke vom Arm, zupfte dann eine Unmenge schmutziger, bunter Lappen von der Hand. Was der Mann da vorzeigte, sah böse aus; die Geschwulst hatte die Größe einer Haselnuß, und nicht nur die Hand, sondern auch Gelenk und Arm waren geschwollen. Das Übel schien von einer eitrigen Wunde in der Handfläche auszugehen. Der Per Hansen besah und befühlte, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan, als geschwollene Hände untersuchen. Die Hand war hart wie ein Holzklotz, die Wunde selbst jedoch geringfügig.
»Ja ja ja, – wird das hier nicht eine gediegene Blutvergiftung, so heiße ich nicht Per! – das heißt, wenn es nicht schon eine ist! – Sag ihm,« wandte er sich zum Großen-Hans »wir müßten sofort warmes Wasser und Lappen haben. Aber rein muß alles sein, hörst du, rein!«
Aber jetzt saß der Große-Hans fest. Daß der Vater warmes Wasser wollte, konnte er ihnen noch begreiflich machen; aber das mit den reinen, weißen Lappen, das ging über sein Vermögen.
Der Indianer hatte den Mann, der mit so kundiger Miene seine Hand untersuchte, nicht aus den Augen gelassen. Die andern waren nach und nach aufgestanden und dazugekommen. Auch die Weiber. Die Jungen ließen ihr Spiel und wutschten zwischen den Großen durch; zum Schluß stand das ganze Lager in dichtem Kreis um sie herum.
Der Per Hansen war ernst, tat aber doch tiefe Züge aus seiner Pfeife. »Ich sehe keinen andern Ausweg,« sagte er endlich, »als daß du, Großer-Hans, nach der Mutter läufst. Erzähl ihr alles und sage ihr, sie solle den kleinen Kessel mitbringen, und all die reinen Flicken, die sie irgend entbehren kann; aber weiß müssen sie sein – und auch eine Prise Salz brauchten wir. Sag ihr: dem Mann müsse noch heute Hilfe werden. – Und jetzt lauf! Fürchtest dich doch nicht etwa?«
O nein, der Große-Hans fürchtete sich nicht mehr; das war das prächtigste, was er je erlebt! – Er hatte sich bereits mit den Ellenbogen durch das Gedränge durchgearbeitet, als dem Vater noch etwas einfiel und er ihn zurückrief.
»Und der Sörrina sag, sie solle nachschauen, ob in des Hans Olsen großer Flasche noch ein Schluck übrig ist; und wär‘s auch nur ein Fingerhut voll. Denn hier geht‘s ums Leben! Und Mutter muß Pfeffer mitbringen. Und nun zeig‘, daß du ein flinker Bursch bist!«
Der Bub rannte.
»Yes, Wasser!« sagte jetzt der Per Hansen, tauchte die Hände und rieb sie sich, und der Mann verstand sogleich und brachte heißes Wasser in einem Blecheimer. Der Per Hansen wusch sich lange und gründlich, goß aus und gab zu verstehen, daß er noch mehr brauche. Mit dem frischen Wasser wusch er die Wunde. Aber schwarzbraun war diese Haut, und schwarzbraun blieb sie. Wie sollte der Per Hansen wissen, ob sie nun auch wirklich sauber sei? – Darauf nahm er den Mann bei der Schulter und setzte sich mit ihm möglichst dicht ans Feuer. Alle seine Erfahrungen als alterfahrener Lofotfischer kramte er aus dem Gedächtnis hervor. Er massierte um die Wunde herum, lange, – dann strich er das Handgelenk und schließlich den Arm; erst in kleinen Kreisen mit der Handfläche, leise und zart, darauf stärker; dazwischen hauchte er kräftig auf die Wunde.
Endlich kam der Große-Hans mit der Mutter und allem Erbetenen. Per Hansen sah, daß sie ihre Sonntagskleider angetan hatte, und das gefiel ihm an ihr. Als sie in den Lichtkreis trat, grüßte sie still und verneigte sich.
»Kannst du mir sagen, was du hier zu suchen hast?« fragte sie leise; in den Worten lag eher ein Vorwurf als Angst.
Erbittert dachte er an den Auftritt von vorhin!
Als sie keine Antwort bekam, setzte sie hinzu: »Die Kjersti weint, und mit den andern steht es nicht viel besser. Jeder möge für das Seine sorgen, – komm gleich mit heim!«
Dieses Verhalten war der Beret so unähnlich, daß Per Hansen sich zu täuschen glaubte.
»Gib jetzt zunächst den Kessel her!« sagte er. Und nun war der Große-Hans ja auch wieder zur Stelle: »Erzähl ihnen, Hans, es müsse reines Wasser sein, – ganz reines – und heiß muß es sein,« wies er ihn an.
Und nun hatte er Zeit für die Frau. »Der Kjersti geschieht heut nacht nichts Schlimmes! Meinst du aber, du könntest nicht dabei mittun, einem Menschen aus großer Not zu helfen, so magst du heimgehen,– gib mir die Sachen!« Ihre Worte von vorhin schellten ihm wieder vor den Ohren, und seine Worte klangen barsch; und er freute sich dessen.
Die Beret schwieg, blickte ihn unsicher an und errötete.
Der Kessel wurde ans Feuer gesetzt.
Und jetzt bereitete der Per Hansen jene bei allen Nordlandsfischern so hochberühmte ›Pferdekur‹ vor. Auf einen guten Eßlöffel Pfeffer und Salz in der Tasse goß er Whisky, setzte die Flasche – sie war noch halb voll – auf die Erde und bedeutete den Mann zu trinken!
Der Mann roch an der Tasse und lächelte, setzte sie an den Mund, nahm einen Schluck, schmatzte – und schnitt entsetzliche Grimassen!
»Sag ihm, du Großer-Hans, er müsse alles auf einmal hintergießen! Er überlebe es sicher; aber kratzen tät‘s freilich.«
Der Mann trank den Rest in einem Zuge.
»Und jetzt hilf mir, Alte! Tröpfle den Whisky auf die Hand, während ich ihn hineinreibe. Tut nichts, wenn‘s auf die Wunde kommt; aber immer nur ein Tropfen auf einmal, – – höh, hast du schon je eine so versaute Hand gesehen!«
Sie folgte seinen Anordnungen; ihre Hand zitterte dabei. Er sah, ihr Gesicht war heiß; an den Augenwimpern hingen Tränen. Und jetzt schellten jene Worte ihm nicht mehr in den Ohren.
Er rieb geraume Zeit und verbrauchte viel Whisky, ließ sich dann von ihr die Flicken geben, tauchte sie in das jetzt kochende Wasser, drückte sie aus und legte sie um, den einen um den andern; er brauchte sie sämtlich. Der Mann stöhnte und wimmerte.
»Und jetzt, Beretmutter, brauchten wir eine reine und trockene Hülle; aber dafür hast du wohl nichts mit?«
Sie überlegte, band sich dann die Schürze ab und reichte sie ihm. Es war ihre beste, wußte er.
»Gerad recht, Beretmütterlein! gerad recht! – Und jetzt gehst du mit der Mutter heim, du Großer-Hans; Grund zum Fürchten ist hier nicht, das seht ihr wohl ? – Die Kühe nehme ich später selber mit!«
»Und du?« fragte sie bange.
»Ich bleibe vorläufig hier. Der Umschlag muß jede halbe Stunde gewechselt werden, sonst geht der Alte, weiß der Kuckuck, drauf. – Und nun geht, ihr beiden!«
Die Beret zögerte; sie sah ihn schweigend an; ihr Mund zuckte. Nahm dann den Großen-Hans bei der Hand und ging.
VI
Der Per Hansen hielt die Nacht über Krankenwache und wechselte die Umschläge nach der Uhr; jedesmal rieb er mit ein paar Tropfen aus Hans Olsens großer Flasche ein. Daß der Schmerz nicht zunahm, war an dem Manne zu sehen; jetzt schlummerte er sogar ab und zu.
Mitternacht kam heran. Das ganze Lager schlief. Die Männer lagen, in ihre bunten Decken gewickelt, wie Mumien, die Füße zum Feuer gekehrt. Von Zeit zu Zeit erhob sich einer und legte Brennwerk auf – immer derselbe.
Die Nacht war still und erhaben.
Der Per Hansen fühlte, daß er müde und schläfrig wurde; jetzt hieß es sich zusammenreißen, wollte er die Hundewache Norw. Seemannsausdruck für die Mittelwache von 12 bis 4 Uhr nachts. bestehen!– – – Da plötzlich setzte er sich hellwach auf: Im Grase raschelten Schritte; – blieben stehen; – lauschten. Der Kranke schlief, ebenso das ganze Lager. Wer mochte das sein? – Er stand auf, trat näher zum Feuer. Da ließen sich die Schritte wieder vernehmen, wurden fest, kamen heran: Die Beret stand im Lichtkreis und sah ihn an.
Der Per Hansen fing ihr Bild ein, und es durchströmte ihn gut und warm.
»Komm du nur her!« sagte er leise. »Hier schlummert das ganze Haus.«
Sie kam mit gesenkten Blicken zu ihm auf die andere Seite des Feuers. Das Gesicht war rot und verschwollen. Sie hat gewiß geweint, dachte er, und es reute ihn bitter, daß er sie mit harten Worten angelassen. Er faßte sie bei der Hand: »Du Armes! Hast dich jetzt wieder gefürchtet?«
Es zuckte in ihrem Gesicht, aber zu reden vermochte sie nicht; sie hockte sich auf den Boden. Er setzte sich daneben, legte den Arm gut um sie und faßte ihre Hand. – Da begann sie leise zu schluchzen; er streichelte ihr die Hand: »Sollst sehen, der Alte übersteht‘s,« fühlte aber sogleich, daß sich das gar seltsam anhörte und fragte nach den andern in der Siedlung.
Sie gab nicht Antwort; er hörte den Indianer sich bewegen und sah hin. Der Mann starrte sie beide mit seinen dunklen Augen an.
Der Per Hansen erneuerte den Verband, der Mann saß jetzt aufrecht; die Beret sah zu. »Wenn du etwas hättest, die Lappen festzubinden, so daß sie sich beim Trocknen nicht lockerten, würden sie die Wärme länger halten,« sagte sie leise.
»Da hast du freilich recht! Wer‘s bloß hätte!«
Sie kehrte sich ab und nestelte an ihren Strümpfen, kam dann schüchtern heran und reichte ihm das eine ihrer Strumpfbänder. »Geht das?«
»Geht das! – O nein, du Beret, du Beret! Gerad, was wir brauchen!« Und er legte den Verband diesmal fester an. »Dem Alten geht‘s besser, – ich seh‘s an seinen Augen, und die Hand ist auch nicht mehr so hart!«
Als der Indianer mit dem Umschlag versehen war, stand er auf, ging zu einem der Wagen, kam mit drei Decken zurück und reichte sie dem Per Hansen.
»Ja, so ist‘s, Beret, wenn man bei redlichen Leuten zu Gast ist! – Jetzt kann der Alte sich eine Stunde allein überlassen bleiben, und wir wollen in die Kojen!« Er wickelte sie in die eine Decke, sich selber in die zweite; dann kehrten sie die Füße zum Feuer und zogen die dritte gut über sich. »Und jetzt schlaf, du meine Gold-Beret!« Sie schlummerte sofort ein und erwachte erst, als über der östlichen Prärie der Morgen sich rötete.
Die Indianer blieben noch einen Tag und eine Nacht.
Erst um die Mittagszeit des dritten Tages zogen sie nach Norden weiter. Die kranke Hand sah noch übel genug aus; aber die Gefahr war einstweilen vorüber. Der Per Hansen hatte eine Armschlinge gemacht, in der der Mann die Hand jetzt trug.
Dort fuhren sie ihres Weges.
Aber was war das? Da kam ja der Alte auf die Hütte zu und führte ein völlig gesatteltes Pferd am Zügel hinter sich her! Weiter oben am Abhang wartete ein Wagen.
Der Mann wollte vielleicht seinen Dank abstatten, dachte der Per Hansen und ging ihm entgegen.
Der Fremde schritt geradeswegs auf den Per Hansen zu und sagte etwas, legte darauf die Zügel des Ponys in des andern Hand und sagte wieder etwas; machte eine kurze, steife Verbeugung, wandte sich und ging. – Es war ein hochgewachsener, stattlicher Mann, männlich und schön anzusehen.
»Ist der Kerl besessen?« rief der Per Hansen. »Verstehst du, was er damit meint?«
»Er will dir das Pferd schenken!« rief der Große-Hans, und seine Augen waren ganz rund.
Der Per Hansen eilte dem Mann nach. »Das geht aber nicht an!« rief er.
Doch der Indianer kletterte schon auf den Wagen und fuhr davon.
»Nein, so etwas!« staunte der Per Hansen; er hatte den Zügel um den Arm. »Und mit Sattel und allem Geschirr!«
Der Große-Hans schlug Rad. Noch nie in seinem ganzen Leben war er je so glücklich gewesen.
VII
Am Abend darauf kamen die Stadtfahrer mit vielen Merkwürdigkeiten heim und wußten die seltsamsten Neuigkeiten zu berichten.
Der Hans Olsen, der für den Per Hansen Waren im Werte von 15 Dollar in bar erhandelt und überdies einen Pflug und eine Egge gegen Bürgschaftsleistung ertrotzt hatte, fuhr zuerst dort vor und lud ab. Nein, die Menge Tüten und Pakete und Säcke und Kruken! Und die Egge so schmuck rot und blau und grün bemalt! Und wie stattlich sie sich auf der Hofreite ausnahm! Ihr Sitz schwebte hoch oben in der Luft, – der sah aus wie ein Thronsessel! Der Große-Hans mußte auch sogleich hinauf und den ausprobieren!
Bei Tönset‘ns stand eine Mähmaschine, die Gras wie auch Weizen mähen konnte; und auch deren Sitz schwebte hoch oben in der Luft!
Beim Hans Olsen war an dem Abend festliche Zusammenkunft. Tönset‘n und der Per Hansen waren als erste zur Stelle. Da gab es viel zu bereden und zu bereinigen. Das geliehene Geld war zurückzuzahlen; und das war keine einfache Sache; denn bald war diese Maßeinheit, bald jene zur Anwendung gelangt. Alle hatten sie gegenseitig Schulden – es wurde zugeteilt und zurückgegeben. Der Hans Olsen, der noch am ehesten aus dem Vollen wirtschaften konnte, war jetzt geradezu Besitzer eines Warenlagers.
Der Per Hansen kümmerte sich im Augenblick weniger um die Waren; er war wissensdurstig und wollte vor allem Bescheid über alle Widerwärtigkeiten unterwegs und in der Stadt. Hatten sie viele Leut gesehen? – Wonach hatten die gefragt? – Hatten sie Westfahrer getroffen? – Wie standen die Aussichten? – – Und sei der, mit dem sie gehandelt und der ihm den Pflug und die Egge auf Borg anvertraut hatte, ein anständiger Bursch? Ob wohl ein ehrliches und treuherziges Gesicht noch mehr auf Borg bekäme – denn er brauche noch viele Herrgottsdinge!
Der Hans Olsen wußte zu berichten, daß der Mann zwar einen ganz guten Eindruck mache, aber Engländer sei, so daß man nicht mit ihm reden könne, – und das, fand der Per Hansen, sei eine schlimme Neuigkeit. »Teuer ist er, meiner Treu, auch, aber was soll man hier draußen anders erwarten?« Daß der mit mehr herausrücke, glaubte der Hans Olsen kaum! Zuerst habe der Mann rundweg alles Borgen abgeschlagen. Aber dann habe der Syvert so lange und so verständig verhandelt, daß der Mann schließlich nachgegeben hatte unter der Bedingung, daß sie sich beide für Pflug und Egge unterschrieben. Übrigens hätten sie da auch schon so viel gekauft gehabt, daß er schon um deswillen nicht gar zu querköpfig hätte sein können.
Trotz all des Erlebten schien es den Stadtfahrern doch, daß die Daheimgebliebenen das Merkwürdigste zu erzählen wußten. Hatte der Per Hansen nicht einen Indianerhäuptling, der schon so gut wie krepiert gewesen, wieder zum Leben erweckt ? So und nicht anders hatte die Kjersti ihrem Manne unverzüglich berichtet.
»Ja,« meinte der Hans Olsen in stiller Bewunderung, »das ist so eigen mit dir, Per Hansen; ob du nun stehst oder gehst, so handelst du richtig und stellst deinen Mann! Ich hatte große Lust, dich auf diese Fahrt mitzunehmen, und wir hätten uns auch so einrichten können – haben es am Abend vorher hin und her überlegt, ich und der Syvert; aber – dann fühlten wir beide, daß wir unbesorgter fahren könnten, wenn du daheimbliebst. – Muß wohl eine Fügung gewesen sein!«
Und Tönset‘n nickte zu dem allen ja und amen.
Der Per Hansen begegnete der Anerkennung mit großer Bescheidenheit; er holte tief Atem, um etwas zu sagen, fand nicht gleich die rechten Worte und mußte noch einmal ansetzen.
»– O ja, – ja ja! Davon wollen wir nicht mehr reden. Übrigens tat ich auch nicht weiter was Besonderes. – Aber gern will ich eingestehen, daß, als ich den Ole nach der Langen Marie schickte, ich gerade nur noch den allernötigsten Mut in mir hatte. – Da kamen sie, dreißig Mann hoch, und hier stand ich mit drei aufsässigen Weibsleuten allein, – das war nicht gerad einfach!«
»Will‘s gern glauben!« lachte der Hans Olsen. »Ein Wunder, daß du nicht von dem ganzen Kram weggelaufen bist!«
»Ja, aber wo hätt‘ ich denn hinsollen? Und die hatten zudem Pferde. – Aber das dacht‘ ich bei mir, daß, wärest du, Hans Olsen, so nahe gewesen, daß ich dich hätte zurückrufen können – ja und dich ebenso, Syvert, – ich hätt‘ gern mehr als die eine Hand dafür gegeben!« —
Bald kamen auch die beiden Solumbuben, und jetzt waren alle beisammen. —
Als es schließlich auch an diesem Abend einmal heimwärts ging, fand die Kjersti, daß der Syvert sich doch gar so sonderbar vorwärts bewege. Wie sie auch ihren Schritt einzurichten suchte, er lief entweder voraus oder zackelte hinterher, und geschah das, so überholte er sie mit einem solchen Schwung, daß er sich eben noch auf den Beinen hielt. Und dann stand er still! Stand! Und immerfort brummelte er dazu vor sich hin.
»Kannst du mir sagen, was du da in einem hin schwätzest und schwaderst, Syvertmann? Gehst du etwa im Schlaf inmitten der Prärie?«
»Ja, wenn ich das wissen tät!« seufzte er tief. »Hab‘ so was noch nicht erlebt. Mir ist – so – so schwindlig in den Füßen!« Und er segelte kopfüber davon wie ein vollgetakeltes Boot über einen mächtigen Wogenkamm. – »Ich meine fast – ja, ich mein‘ bestimmt, das ist der – der – der Schnaps von der Sörrina!«
»Oh, ist es nichts Schlimmeres, dann geht‘s wohl auch vorüber!« tröstete die Kjersti.
VIII
Zwei Tage später traf das große Mißgeschick ein. Und nach Art rechter Mißgeschicke überkam es sie mitten im schönsten Wohlergehen, als niemand Unheil ahnte.
Es war um die Vesperzeit. Der Hans Olsen war beim Heuen; die neue Maschine klirrte und dröhnte über die Prärie, schnitt das Gras so fein und so dicht überm Boden, daß es eine Wonne war zuzuschauen. Ja, das war freilich etwas anderes, als mit einer Sichel auf Felsgrund zu hämmern! – Alle Mannsleut waren beim Start zugegen gewesen; und der Per Hansen war mit dem festen Entschluß heimgegangen, sich zum Winter mindestens noch eine Kuh zu beschaffen, und sollte er sie stehlen müssen. —
Der Per Hansen legte heute die letzte Hand ans Dach. Die Buben halfen; auch die Beret machte sich ab und zu dabei nützlich. Der Vater plauderte mit den Buben und sie mit ihm; bisweilen schwätzten sie so laut und lachten so ausgelassen, daß das Gössel durchaus zu ihnen aufs Dach hinaufkrabbeln wollte. Etwas weiter weg war der Pony angepflöckt; der war bald so zahm, daß sie ihn frei laufen lassen konnten; denn die Buben verhätschelten ihn, wann und wo sie nur konnten!
Tönset‘n brach Neuland auf und ließ sich vom Sam dabei helfen. Der Syvert schaffte jetzt an seinem Acker, daß es verschlug, das sah der Per Hansen wohl. Abwarten, Vater Syvert! – Aber nein, heute mochte er sich nicht sputen. Ab und zu rief er der Beret hinunter, sie müsse einmal schauen, ob es auch dicht werde. Darauf war er zu seiner Kurzweil gekommen; es war halt so lustig, ihre Stimme aus der Stube herauf zu hören; sie sprach stets so leise; aber sollten sie überm Dach etwas verstehen, mußte sie tüchtig laut sprechen! – Es schien ihr jetzt hier draußen schon besser zu gefallen.
Der Henry Solum grub beim Bach einen Brunnen.
Ein jeder war bei seiner Arbeit; die Freude an rüstigem Tun regte sich in der kleinen Siedlung. —
Und dann war es da, – plötzlich!
Die Kjersti entdeckte es. Zur Vesper war sie mit einem Schluck Kaffee und einem Bissen draußen bei den Männern gewesen – seit der Städtereise waren sie mit allem reichlich versehen. Als sie wieder in die Hütte wollte, fiel ihr ein, daß sie Tüpfel, die Kuh, beim Heimkommen weder drüben noch beim Hause gesehen. Die Kuh war doch wohl da? – Sie ging ein Stück und sah sich um. Und sie strengte die Augen an, daß sie tränten, und das Herz pochte; aber die Kuh war auf der ganzen weiten Prärie nicht zu erblicken. Auch von den andern Kühen nicht eine!
Schnurstracks lief sie zur Sörine und rief, in die Hütte stürmend:
»Kannst du mir sagen, wo deine Kuh ist?«
»Kuh?« Mehr vermochte die Sörine beim Anblick des aufgeregten Gesichtes vor ihr nicht vorzubringen.
»Das ist akkurat, was ich dich frage, Sörrina! – Nein, o nein!«
»Du schreckst mir die Seele aus dem Leib! Die Kuh ist doch wohl, wo sie immer ist?«
Beide Frauen eilten vor die Tür.
Und richtig: weit und breit keine Kuh!
»Durchgebrannt sind sie!« kam es verzweifelt von der Kjersti.
»Aber sie sind doch nicht stracks in den Boden gesunken, soviel ich weiß!«
»Wo sind sie aber dann!« jammerte die Kjersti.
»Wir müssen sogleich die Männer benachrichtigen.« Entschlossen rannte die Sörine zu ihrem Mann aufs Feld.
Der Hans Olsen hielt die Pferde an, als er die beiden Frauen hintereinander angelaufen kommen sah.
»Die Rinder? Pö, ist das alles?« Nein, von denen habe er nichts gesehen; die seien gewiß nicht weit weg. – Er saß so hochgemut auf der neuen Maschine, die so prächtig ging, daß er auch nicht daran dachte, sich schrecken zu lassen. »Ist doch arg, wie stutzig die Weiber sind! Du lieber Himmel – die Rinder kommen schon zur Melkzeit ans Tageslicht!«
»Wir müssen sogleich auf die Suche!« Die Sörine sagte das so bestimmt, daß auch er sich bequemen mußte, Umschau zu halten. – – Nirgends ein Vieh zu sehen! Jetzt wurde es auch ihm bedenklich; er stieg herunter, spannte aus, warf sich auf das eine der beiden Pferde und ritt den Hügel hinauf. »Wir müssen auch den Per Hansen benachrichtigen!« entschied die Sörine. Sie war jetzt ärgerlich und ängstlich zugleich.
Auch bei dem Per Hansen hatte sich bisher niemand um die Kühe gekümmert; jeden Tag waren sie sich selbst überlassen gewesen, immer in Sichtweite geblieben, und, wenn es Abend wurde, pünktlich zum Melken heimgekommen.
Der Per Hansen ließ sich ebensowenig aus dem Gleichgewicht bringen: die Rinder taten sich gewiß irgendwo am Bache gütlich und kamen zur Melkzeit schon herauf.
Jetzt aber kam der Hans Olsen geritten und berichtete ernstlich beunruhigt, daß auf der ganzen weiten Prärie nichts Lebendiges zu erblicken sei.
Da kamen auch dem Per Hansen Bedenken; er und die Buben kletterten vom Dach herunter.
»Nimm den Pony, du Ola, und reit‘ an den Bach; erst aufwärts, dann abwärts. Siehst du unterwegs nichts, mußt du Tönset‘n und die Solumbuben benachrichtigen.«
Der Per Hansen blieb einstweilen bei der Meinung, die Kühe kämen zu ihrer Zeit zurück. Es schien heute früh Abend zu werden; waren die Kühe bis dahin nicht sichtbar, mußten die Männer zusammenkommen und beraten; die Biester waren doch wohl nicht vom Erdboden verschlungen.
IX
Der Abend zog herauf. Vor jeder Gamme hielt man Ausschau. Keine Kuh zeigte sich. Die Beunruhigung wuchs und das Grauen, jener schwarze, schleichende Schatten, der sich über alles legt, wo Leben auf unerklärliche Weise verschwindet. Der Südwest blies; Wolkenbänke zogen regnend herauf; sie hingen so tief, daß sich das Gras in der Ferne, wo sich die Ebene unter sie schmiegte, zu beugen schien.
Drückende Unheilstimmung störte das Nachtmahl in jeder der Hütten. Beim Per Hansen weinte das Gössel herzzerbrechend, weil es Buntscheck, als die Mutter sie das letztemal molk, nicht mehr gestreichelt hatte. Es hatte beim Abendbrotrichten sogleich gefragt, ob denn die Mutter heut abend nicht melke, und da hatte die nicht das Herz gehabt, ihm die Wahrheit zu erzählen, sondern gesagt, sie habe bereits gemolken. Das Kind hatte ein Gefühl, als sei es um ein Anrecht betrogen, hatte angefangen zu heulen und sofort zu Buntscheck gewollt. Die Mutter tröstete: Buntscheck sei gleich nach dem Melken fortgereist und komme erst morgen zurück. Jetzt schluchzte das Gössel am Halse der Mutter und forderte von ihr das Versprechen, nie wieder die Kuh ohne es zu melken. Der Große-Hans hörte zu und legte den Löffel weg, – stand leise auf, schlich sich gesenkten Auges hinaus hinter die Hütte. Nein, er konnte nicht weiter essen! Buntscheck, die er so oft umhalst und geherzt hatte, Buntscheck war weg!
Der Ole, der sich für fast erwachsen hielt, schluckte zwar noch immer Mus und Milch mit möglichst gleichgültiger Miene. Er sah dem Bruder nach, als der hinausging, und meinte großartig, die Kühe sollten etwas besehen, wenn er sie erst zu fassen kriegte! Eine ordentliche Tracht aufs Hinterteil, daß sie den Schabernack nicht wiederholten! Der Vater warf dem Buben ein paar Blicke zu, daß der ganz klein wurde, plötzlich auch satt war und den Löffel weglegte. Draußen glaubte er zu hören, wo der Bruder war; er kletterte aber aufs Dach und kauerte sich hin. —
Man versammelte sich auf dem Hügel beim Per Hansen. Zuletzt kamen der Per Hansen selbst, die Beret und das Kind, die ja den kürzesten Weg hatten; der Ole trödelte hinterdrein, der Große-Hans ließ sich nicht blicken.
Der Abend senkte sich über die Ebene. Im Süden, wo sich die Wolken zusammenschoben, zog die Nacht herauf. Lebendiges war nicht zu sehen, kein anderer Laut zu hören als der sausende Wind unter dem lastenden Himmel. – – Der Abend trug den Menschen Erinnerungen zu, – Erinnerungen an Geschichten, die sie vor langen, langen Zeiten in einem fernen, fernen Lande hatten erzählen hören. Da sollte es nicht gar so unerhört gewesen sein, daß Mensch und Vieh durch Trollzauber verschwand. – Ja! Es hauste wohl so mancherlei Seltsamkeit zwischen Himmel und Erde, wenn man‘s bedachte! – Daß sich derlei jedoch auf der flachen Prärie begab, wo nicht einmal eine Felswand oder ein Waldhügel zu finden war, die sich hätten plötzlich auftun und verschlingen können, ja, das war und blieb unerklärlich! —
Stumm dachten sie alle die gleichen Gedanken. – Kühl wehte der Wind, zupfte hie und da ein paar Regentropfen von den Wolkenbänken.
Der Sam begann auf und ab zu schreiten. »Ich glaube nun,« sagte er, »daß wieder einmal der Indian die Hand dabei im Spiele hat.« Er lenkte mit diesen Worten aller Blicke auf sich. »Wir haben ja doch mit eignen Augen gesehen, wie teufelswild die Kühe wurden, als an jenem Abend der Indian kam; und das hat er wohl auch selbst gesehen und ist hier gewesen und hat sie mitgelockt. – Da also müssen wir suchen, Mannsleut!« Der Sam sprach mit Nachdruck und einer gewissen Entschiedenheit; er hatte das Rätsel gelöst, war sich dessen bewußt und fühlte überlegene Ruhe.
Seine Mutmaßung schlug sogleich an, sie bot doch zum mindesten eine Erklärung; die Frauen fanden sie durchaus einleuchtend: daß sie auch gar nicht von selber darauf gekommen waren! – Der Hans Olsen und Tönset‘n grübelten noch eine Weile darüber nach —, äußerten sich aber vorläufig nicht. Wohl hatte die Erklärung das Grauen zerstreut, überlegten sie aber recht, so war der Trost, daß die Indianer die Kühe an sich gelockt, nicht gerade viel wert; denn wo war der Indian jetzt, und wie sollten sie ihm das Vieh wieder abnehmen ? Hatte er es genommen, dann war er auch entschlossen, es zu behalten.
Da ging Tönset‘n schnurstracks auf den Per Hansen los und sagte schnell und entschieden: »Potztausend, Per Hansen, verhält sich das wirklich so, dann mußt du, der du so gut Freund mit den Indians bist, morgen in aller Frühe hinter den Biestern her, – unsere Kühe müssen wir wiederhaben!«
»Ja, meiner Treu,« unterstützte ihn die Kjersti; »wie sollten wir wohl unser Leben fristen, wenn uns der Tropfen Milch fehlen tät? – Brich du nur sogleich auf!«
Der Per Hansen hatte bisher schweigend ins Weite gesehen. Bei Kjerstis Bemerkung war es, als habe ihn plötzlich etwas gestochen, er federte in die Luft wie ein Ball: »Das wäre gerad eine passende Aufgabe für dich, Syvert, und den Sam! – Komm, Alte, jetzt gehn wir heim und legen uns.«
Damit ging er, und alle sahen, jetzt war der Per Hansen zornig.
X
An dem Abend kehrte die Ruhe erst spät in Per Hansens Hütte ein; die Spannung wollte nicht weichen.
Der Große-Hans war nicht mit auf dem Hügel gewesen; aber der Ole hatte ihn, als er nach Hause kam, hinter der Hütte gesucht und erzählt, was der Sam gesagt und auch er selber meine, nämlich, daß der Indian bestimmt die Kühe geraubt habe! Und damit hatte er sich hinein und ins Bett begeben.
Der Vater und die Mutter waren bereits beim Auskleiden; der andre Bub kam immer noch nicht. Die Mutter ging ihn draußen suchen, rief seinen Namen und ging um die Gamme herum. Es war jetzt fast dunkel. Sie bekam Antwort vom Dachfirst; da oben saß der Bub und starrte in die Nacht. Sie mußte ihn erst hart anlassen und mit dem Vater drohen, ehe er schließlich heruntergerutscht kam, hineinschlich, sich die Kleider abstreifte und ins Bett kroch.
Als der Vater und die Mutter soeben am Einschlafen waren, kam ein entsetzliches Aufschluchzen aus dem Bett des Buben; darauf Stille, lautlose Stille; dann wieder ein riesenhaftes Schluchzen. – Die Mutter fragte hinüber, ob ihm denn schlecht sei? Und jetzt brach es erst richtig los. Er warf sich und krümmte sich und heulte, daß ihm der Atem verging. Die Mutter suchte ihn mit lieben Worten zu beruhigen, und das Unwetter im Dunkel schien sich besänftigen zu wollen. Aber da kam ein Kreischen, wie wenn ein Blasebalg sich mit Wind füllt, dann ein tränenersticktes Jammern: »Bunt-scheck! – Bu-hunt-scheck!«
»Nein, bleib du liegen, Beret! Ich stehe auf und nehme das Büblein!« Und der Per Hansen zog sich bereits die Hosen über; er wisperte, daß er kaum zu verstehen war.
»Komm einmal her, mein Hansel; will dir etwas erzählen!« Er hob den Buben auf, nahm eine Jacke von der Wand, wickelte ihn darin ein, und dann ging er mit ihm hinaus. Auf den Holzstoß, den sie vom Sioux River heimgefahren, setzte er sich mit ihm hin. Und da fingen sie dann an zu plaudern; zunächst der Vater allein; aber allmählich begann zwischen den Schluchzern auch der Große-Hans etwas einzuflechten. Der Wind blies ihnen die Regentropfen gerade ins Gesicht, fragte, ob sie toll seien, hier um diese Zeit des Tages zu sitzen, und vermochte doch nicht, sich ihre Beachtung zu erzwingen.
Des Vaters liebes, gemütliches Plaudern linderte des Großen-Hans Kummer.
»Ist auch gar zu verkehrt, daß wir nicht zwei Ponys haben! Sonst hättest du morgen mit mir nach den Kühen reiten müssen!«
Wußte denn der Vater, wo sie seien, kam es zwischen zwei Schluchzern.
»Aber freilich, das kannst du dir doch denken!«
Diese Versicherung veranlaßte den Großen-Hans, sich auf des Vaters Schoß zusammenzukuscheln und sich einem zuversichtlichen Behagen hinzugeben, das überaus guttat.
Hatte der Indian sie geholt?
»Aber bewahre, nein! – das waren redliche Indians, sag‘ ich dir! – Ja, das hast du doch selber gesehen?«
»Aber wo sind denn die Küh‘?«
»Oh, die sind nur so weit vom Hof weggezackelt, daß sie nicht mehr haben heim kommen können. – Morgen in der Frühe reite ich nach ihnen.«
Nach dieser Zusicherung entstand eine lange Pause; der Große-Hans fühlte sich unerhört wohl und geborgen, das Schluchzen versiegte.
»Die Indians skalpieren keine Kühe, oder doch ?«
»Aber nein! Solche Barbaren sind die doch nicht!«
»Das sind auch bloß Menschen?«
»Gewiß, das sind auch bloß Menschen, siehst du!«
»Kühe wären auch nichts für Krieger!«
»Nein, das ist sicher und gewiß!—Noch dazu für Häuptlinge!«
Es war schon spät geworden; der Regen fiel noch immer. Der Vater meinte, jetzt müßten sie zusehen, ins Bett zu kommen. Aber dem Großen-Hans schien es gar zu gut zu gefallen.
»Reitest du zeitig morgen früh?«
»Ja, das werd‘ ich wohl.«
»Bleibst du lange?«
»Das hängt davon ab, wie weit weg ich muß.«
»Und es ist auch gar nicht gefährlich, wenn der Indian zurückkommt, während du weg bist, – ich kann doch mit ihm reden!«
»Und ob du das kannst! Nein, solange ich dich daheim weiß, hat es keine Gefahr!«
Der Per Hansen trug den Buben ins Bett.
Und jetzt war der Große-Hans gleich eingeschlafen. Aber mitten in der Nacht setzte er sich im Bette auf: »Jetzt komme ich, Buntscheck,« rief er, ringelte sich darauf auf dem Kissen zusammen und schlief weiter.
XI
Kaum dämmerte der Tag, da schürte der Per Hansen schon das Feuer im Herd und setzte den Kaffeekessel über. Die Frau war wach. Er hieß sie liegenbleiben; sie stand jedoch schweigend auf, zog sich an und richtete das Essen für ihn. Ein Lämpchen brannte; das Tageslicht war noch zu schwach.
Er saß am Tisch, hatte zu essen begonnen; der Kaffee sollte auch gleich fertig sein; die Frau bereitete ihn am Herd. In ihrem Wesen lag Entschiedenheit; er fühlte es trotz ihres Schweigens.
Die Beret hatte die Nacht durchwacht und dies Bild vor den weitoffenen Augen nicht schwinden sehen: Unendliche grünblaue Stille ohne Zuflucht oder Versteck, flach, gedehnt und stumm. – Ein paar Kühe weideten auf ihr, – jawohl, ein paar Kühe, leibhaftig – und im nächsten Nu waren sie verschwunden!
Es hatte sie aus diesem Bild etwas Unheimliches angeweht. Sie hatte sich mit Befürchtungen und Ängsten gequält und damit ihr Entsetzen nur noch gesteigert – – und jetzt wollte er aufbrechen und Gott weiß wie lange wegbleiben, ohne daß sie wußte, wo er sich aufhielt! – – Gewiß war es der Indian gewesen; denn wer sollte es sonst gewesen sein? – Und er, der Per, stets so schnell zupackend und furchtlos und gleich mit ganzer Seele dabei!– – Der Schweiß brach ihr aus vor Angst um ihn. —
Und das wurde ihr klar: hier draußen war für Menschen kein Bleiben. – Jetzt war sie schon über sechs Wochen hier und sah nur die Gesichter der paar Menschen, die zu ihrer Schar gehörten. Tagereisenweit keine Hütte! – – Kam wirklich einmal jemand vorbei, so waren es Wilde, vor denen man sich fürchten mußte! – – Den Lebensbedarf mußte man sich vier Tage weit heranschaffen und dazu eine Ausrüstung vorbereiten wie zu einer Lofotfahrt.– – Und wenn plötzlich etwas zustieß, – ja, was würde dann geschehen?
Nein, hier war nicht Bleibens für Menschen. – Wenn die Kinder hier aufwuchsen, mußten sie dann nicht werden wie die roten Kinder der Öde, – oder gar noch schlimmer? – – Hier waren ja keine andern, sahen sie keine andern, kamen niemals andere vorbei! Niemals würde es hier anders werden!
Vielleicht war es eine Fügung gewesen, daß die Kühe verschwanden? Auch die andern mußten dann doch einsehen, daß Menschen hier nicht hausen konnten. – Vielleicht sah auch er es ein? – – Sie wußte nicht, ob sie geschlafen hatte, als der Mann sich zu regen begann. Ihr letzter Gedanke aus der durchwachten Nacht fiel ihr ein, und sie entsetzte sich davor, jetzt, wo das Lämplein in der Stube brannte. Nachts war es ihr als Glücksfall erschienen, wenn die Kühe unauffindbar blieben; jetzt erfüllte es sie mit Schrecken.
»Du ziehst doch nicht etwa allein davon?« fragte sie vom Herde her.
Er hatte ihr noch nichts von seinem Vorhaben gesagt.
»Werd‘ halt zusehen.«
»Bleibst du lange?«
»Oh, schau lieber erst nach mir aus, wenn ich komme. – Ich bleibe vielleicht über Nacht.«
Sie schenkte ihm jetzt schweigend den Kaffee ein.
»Wo reitest du hin?« fragte sie dann.
»Das weiß ich noch nicht akkurat genau; – es geht wohl nach Osten.«
»Ich finde es weder recht noch billig, – jetzt sag‘ ich‘s gerad heraus!« Sie ging mit dem Kessel wieder zum Herd. »Nein, es ist weder recht noch billig,« wiederholte sie noch nachdrücklicher.
Etwas in ihrer Stimme hakte sich in ihm fest. »Nein, nein,« sagte er kleinlaut; »aber wir können wohl nicht umhin, die Kuh wieder herzuschaffen.«
»Das müssen doch auch die andern. – Können die sich behelfen, geht es auch an für uns!« kam es erregt.
»Du weißt ja aber doch, Beret,« suchte er versöhnlich darzutun, »daß wir unbedingt nach dem Vieh suchen müssen. – Der Hans Olsen ist jetzt nicht abkömmlich wegen der Mahd; – und den andern traue ich eben nicht gar soviel zu, – hier ist nicht unter vielen zu wählen.«
»Scheint es denn dir recht,« fuhr sie auf, »daß ich mit den Kindern allein bin? Du fährst ins Weite hinaus, ich weiß nicht, bleibst du einen Tag oder eine Woche! – Warum können denn nicht der Sam und der Henry reiten? Auf die wartet niemand daheim!« Sie sah nicht auf; in ihren Worten lag aufgedämmte Leidenschaft.
Nein, jetzt war sie unbillig, fand der Per Hansen; aber sie verstand es wohl nicht besser! »Schau, ich meine halt, es ist zu keines Nutz und Frommen, wenn jene Burschen reiten.«
»Dann muß Tönset‘n heran.«
Jetzt weinte sie, hörte er.
»Ja, der, gewiß – dann kämen die Kühe bestimmt zum Vorschein!« sagte er, und auch ihm war das Weinen nahe.
Sie stand jetzt am Fenster und sah schweigend in einen grauen Tag hinaus.
Der Per Hansen trank eilig den Kaffee, stülpte sich den Hut auf, ging zur Tür, öffnete und trat hinaus. – Er blieb stehen: Durfte er die Beret so zurücklassen? – Er konnte doch gar nicht begreifen, was seit kurzem über sie gekommen war. Sie hatte einen klareren Verstand als irgendein Mensch, den er kannte, und dann redete sie einsichtsloser daher als ein schlechterzogenes Kind? Was war bloß über sie gekommen, seit sie hier draußen waren? – – Nein, er durfte sie gewiß nicht so zurücklassen?
Aber er ging doch zum Holzstoß, nahm Sattel und Zügel und zäumte das Pferd, – zauderte dann wieder.
XII
Ehe er sich noch entschloß in den Sattel zu steigen, hörte er Schritte und wandte sich dem Hause zu. Jetzt kommt sie! durchfuhr es ihn, und dann wird‘s allright, und ich kann weg, – es eilt auch!
Aber die Schritte kamen aus einer andern Richtung; der Hans Olsen kam herbei. Wollte der etwa reiten? Ja, das war etwas anderes; denn so einem Mann gelingt alles. – Aber es schien, als wolle es sich bald aufklären und Heuwetter werden.
– – Der Per Hansen fühlte, als der Nachbar näher kam, so deutlich: der hätte gerade jetzt nicht kommen sollen – nein, nicht gerade jetzt! Und es fehlte die gewohnte Unbefangenheit, als er ihn begrüßte:
»Bist schon so früh unterwegs?«
»Ja, auch du bist zeitig auf den Beinen, sehe ich. Dacht‘ es mir schon und wollte noch mit dir reden. Du willst sie also suchen?«
Der Per Hansen sah vor sich hin und antwortete erst nach einer Weile:
»Einer muß doch wohl reiten. – Es ist das beste, du eilst dich mit der Mahd, daß wir sie hinter uns bringen. Ich versteh mich halt wenig auf solches Gerät.«
»Ich weiß, du bist geschwinder auf solcher Fahrt als ich; drum ist‘s vielleicht das beste, es geschieht nach deinen Worten. – Weißt du, was die Sörrina mir gestern abend erzählte?«
Der Per Hansen antwortete nicht, war just nicht aufgelegt zum Rätselraten. Er sah den Nachbar an, sein Denken aber kreiste um die Hütte. – Sie hörte sie wohl sprechen? Ob sie nicht herauskam?
»Ja, siehst du, die Sörrina hat die Kuh im Verdacht, seit gestern morgen stiertoll zu sein!«
Der Per Hansen kam mit einem gewaltigen Ruck zur Wirklichkeit zurück: »Nein, was du nicht sagst, Hans Olsen!«
»Ja, das also erzählte mir die Sörrina! Die Kuh ist doch nicht etwa darauf verfallen, nach Filmore zurückzutraben und die andern mitzunehmen? – Das war‘s, was mir heute nacht so beiläufig einfiel, und ich meint‘ halt, ich müsse es sogleich mit dir bereden.«
Ja, das war denn doch eine verständigere Lösung als dem Sam sein Gefasel! Der Per Hansen hatte plötzlich alles Herzeleid vergessen, er lachte geradezu bubenhaft ausgelassen.
»Ho ho! Die ist also ins Dorf, deine Kuh, und hat die andern mit in Versuchung und Sünde gelockt!«
»Ja, wer weiß?«
»Ho, da sagst du etwas Gescheites!« Der Per Hansen band das Pferd los und sprang rasch in den Sattel: »Jaja, ich mußt‘ heut nacht an die Trönder denken, und jetzt reite ich dorthin. – Es ist ungewiß, wann du mich wiedersiehst; schau derweil für mich nach dem Rechten.« Er hielt noch einen Augenblick, warf einen Blick auf die Hütte und sagte leise: »Schick unbedingt heut abend die Sörrina her; und eil dich mit der Mahd, – es klärt bald auf!«
Er ritt ans Haus, um die Türseite herum, hielt einen Augenblick, räusperte sich, lauschte und ritt dann seines Weges.
An das Ostfenster preßte sich ein Frauengesicht, rotgeweint, und sah ihn in dem blaugrauen Tag immer kleiner werden, zuletzt verschwinden. Ihr kam es so vor, als sinke er immer tiefer in den Boden; das Blaugraue hob sich und überspülte ihn.
Bald wußten alle, daß der Per Hansen auf der Suche nach den Kühen war, und wußten sich dabei zu beruhigen. Sein Pony ging leicht und war ausdauernd; den andern wäre der Ritt jetzt wenig gelegen gewesen; sie wollten abwarten, wie es mit ihm ablief.
Nicht etwa so zu verstehen, als hätte sich Tönset‘n etwas von Per Hansens Vorhaben versprochen. Er hatte die ganze Nacht vergrübelt, die Kjersti ausgefragt, wie die Kühe sich beim Kommen der Indianer verhalten hätten, und war des Morgens aufgestanden in der unerschütterlichen Überzeugung, daß der Sam des Rätsels Lösung gefunden habe. Für Tönset‘n gab es nur die Frage, wie sie ohne Blutvergießen und Krieg zu den Tieren gelangten. Als er hörte, der Per Hansen sei zu den Tröndern geritten, war er außer sich. Daß der Hans Olsen auch davon nicht abgeraten hatte! Ja, er war geradezu zornig auf den Per Hansen. Der war also gar nicht der mutige Kerl, für den er sich ausgab! Begriff der denn nicht, daß er die Verantwortung für das Finden der Kühe trug? Er war mit dem Raubgesindel gut Freund geworden, hatte sie verhätschelt, statt sie dahin zurückzujagen, wo sie hergekommen waren; hatte sogar Geschenke von ihnen angenommen! Was vertrödelte er die Zeit mit Schmausen bei den Tröndern am Sioux? Die Kühe mußten sie zurück haben und zwar sofort!
– – Tönset‘n hielt mit seiner üblen Laune nicht hinter dem Berge.
Die Mißstimmung drückte übrigens alle; jeder tat seine Arbeit, die Augen waren aber woanders.
Der Abend brachte weder den Per Hansen noch die Kühe. Man spürte nicht Lust, sich schlafen zu legen; man schaute aus, wartete. Hans Olsens ganzer Hausstand saß bei der Beret; Tönset‘n und die Kjersti kamen auch herzu, nachdem sie erst beim Hans hineingeschaut und keine Menschenseele angetroffen hatten. Die Solumbuben fanden es auch nicht spaßig, daheim zu bleiben, und kamen gleichfalls. – – Aber auch bei Per Hansen fehlte die rechte Gemütlichkeit. Die Beret schaffte so wortkarg und abwesend und dabei so wunderlich ruhig, als ginge sie das alles gar nichts an.
Als sie sich aber anschickten zu gehen, sagte sie gelassen, gleichsam grübelnd und wie zu sich selber: »Ich kann das nicht begreifen! Jetzt ist es Nacht; und der Per Hansen tummelt sich draußen in der Endlosigkeit allein herum! Und hier schwätzen vier Männer die Zeit fort? Es ist doch wohl ebensosehr ihr Vieh, wie das seine. Nein, ich begreife es nicht.«
Sie sah niemanden dabei an. Ihre Worte schwebten durch die Stube; niemand äußerte etwas dazu, – es war auch nicht leicht, eine Antwort darauf zu finden; aber das Unbehagen wurde dadurch nicht geringer.– —
Als die andern gegangen waren, verhängte sie die Fenster, dicht und verläßlich. Sie konnte sich nicht legen, solange alles da draußen zu ihr hereinstarrte. – Die große Lade zog sie vor die Tür.
XIII
Am nächsten Tage waren die Buben nicht vom Dach herunterzubekommen; sie waren gleich nach dem Frühstück hinaufgeklettert. Der Vormittag verging; es wurde Mittag. Der Ole kam zwar zum Essen herunter, aber der Große-Hans blieb oben. Der Mutter erschien das verständlich, sie ließ ihn gewähren. Es wurde Vesper, und noch war nichts zu sehen.
Da ließ sich plötzlich vom Dach her eifriges Unterhandeln vernehmen, und der Ole rief mit lauter Stimme herunter:
»Jetzt – jetzt kommt der Vater! ja, dort kommt er!« – —
»Und die Kühe hat er mit!« Das rief der Große-Hans.
»Wir müssen‘s sogleich den andern erzählen!« sagte der Ole. »Aber zu allererst der Mutter!« sagte der Große-Hans; er hatte schon vergessen, daß sie ihr die Nachricht soeben zugebrüllt hatten. Die Buben rutschten mit Windeseile vom Dach, rissen die Tür auf, sagten beide im gleichen Atem, jetzt komme der Vater, sausten davon. Zuerst zum Hans Olsen, dann zu Tönset‘n und schließlich nach Norden zu den Solumbuben. Auf jeder Stelle dieselbe Nachricht: »Jetzt kommt der Vater!« – das war der Ole. »Und die Kühe hat er mit!« – das war der Große-Hans.
Und wirklich: dort kam der Per Hansen auf dem Pony und trieb alle Kühe vor sich her. Sobald der Zug deutlicher sichtbar wurde, überzählte man die Kühe. – – Das war doch aber sonderbar? Sahen sie etwa doppelt? – Und man zählte noch einmal; und das Ergebnis blieb dasselbe: jeder bekam eine Kuh zuviel heraus! Vier sollten es sein, und dort trabten fünf, ein Irrtum war nicht möglich! Sie kamen aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur – der Per Hansen auf dem Pony als letzte!
Als die Leute sich sattgesehen, begab sich jede Menschenseele ganz selbstverständlich zu Per Hansens Gamme. Ein jeder wollte zu seiner Kuh; und alle wollten erfahren, wo er diese beiden Tage zugebracht, und insbesondere: Was hatte es mit der fünften Kuh auf sich?
Der letzte Punkt wurde zuerst aufgeklärt; ehe noch der Zug dicht herankam, erkannten sie, daß die fünfte Kuh gar keine Kuh war! Nein, keine Kuh, sondern ein einjähriger Stier.
Der Per Hansen auf dem Pony war fast nicht wiederzuerkennen; das Gesicht war arg bestaubt und von dem ständig rinnendem Schweiß ganz streifig. Zu allererst jedoch sahen sie etwas, was er vor der Brust hängen hatte, etwas, was gewissermaßen einer Art Spind ähnelte. Du lieber Himmel, war das nicht ein Vogelbauer aus Latten gezimmert? Und innen drin ein Hahn mit zwei Hennen! —
Auch die Beret stand vor der Tür; sie ging ihm entgegen, ohne die andern zu beachten; die verhielten sich übrigens so wunderlich, wagten sich nicht recht zu ihr hin, wichen eher zurück, als sie kam.
»Kannst du mir sagen, was du da mitbringst?« fragte die Beret mit weicher Stimme, aber leise, als scheue sie sich.
Der Per Hansen löste sich den Bauer vom Hals.
»Oh,« sagte er müde, fast stumpf, »da ich schon einmal so weit gereist, hielt ich es fürs beste, zugleich etwas auszurichten.« Er reichte ihr den Bauer. »Hier hast du also deine Hühner. Weiß zwar nicht, ob sie noch lebendig sind?«
Die Beret ging mit dem Bauer zum Haus hinauf. Und jetzt umdrängten sie ihn, die andern, und wollten Bescheid über alle Widerwärtigkeiten, die er erlebt.
Tönset‘n aber redete vorneweg: »Kannst du mir sagen, Per Hansen, was du da für einen Burschen bei den Kühen herumlaufen hast?«
Etwas wie ein Grinsen legte sich über das verschwitzte Gesicht.
»Der da? – oh, das ist bloß ein Trönder.«
»Nein, bist du toll! Ja, dann wird er wohl taugen! – Wo hast du denn den erwischt?«
Der Per Hansen stieg ab und reichte dem Großen-Hans die Zügel. »Gib dem zu saufen und versorge ihn gut! – Wo ich den erwischt habe? – Ich verführte eine nette Trönder-Bäuerin dazu, ihn mir auf ein Jahr zu borgen. Ich versprach ihr zehn Dollar für sein übriges Leben. Das sind genau 2,50 auf deinen Teil, Syvert. Aber schau, das kommt dir auf die Dauer billiger, als alle Jahre ganz Dakota Territory nach deiner Kuh abzusuchen!«
Die Sörine und die Kjersti konnten sich gar nicht genug damit tun, dem Per Hansen warm und nachdrücklich zu danken. Das Gescheiteste aber verlautbarte diesmal die Kjersti, so schien es dem Per. Als sie sich nämlich den ganzen Bericht bis zu Ende angehört hatte, wie weit und wie lang er geritten, da sagte sie still und nachdenklich:
»Wenn die Lust schon in einem stummen Tier so gewaltig ist, wie muß sie dann erst in einem Menschen hausen! – Den Streich vergeß ich dir nimmer, Per Hansen!«
Und sie lachten alle miteinander. —
Die Merkzeichen im Gras
I
Der Per Hansen wurde weiter und weiter in das Märchen hineingetragen, in jenes wundersame Märchen, worinnen er der König und der Prinz zugleich war und alle Herrlichkeiten der Welt besaß. Und es war mit diesem wie mit den andern Märchen: es wurde kurzweiliger und unverlierbar köstlicher, je weiter er hineinkam.
Rast gönnte er sich nur noch, wenn er vor Ermüdung einschlief. Das geschah nicht zu oft; denn es war zum Müdewerden viel zu unterhaltsam. Und je länger es währte, desto schöner wurde es, und die Sonne über dem Schloß strahlte immer heller.
Er besah sich den Acker und lachte, lachte ihn herzlich an wie etwas Schönes und Lustiges. Nein, was für ein Boden! Den Pflug brauchte man bloß hineinzustoßen und die Grasnarbe zu kehren, und die Krume lag vor einem. Und das war nicht etwa gewöhnlicher Boden, der nur Gerste und Hafer, Kartoffeln und Heu und derlei Alltäglichkeiten hergab! O nein, der hier taugte zu Weizen, ja, also zu Weizen, dem König unter den Kornsorten! Diesen Boden hatte der Herrgott eigens für den edlen Samen geschaffen. Und auf 250 Morgen davon ging der Per Hansen herum, und sie waren sein eigen!
Ein schöner, lockender Gedanke war in ihm aufgedämmert: Dieser Quart war bloß für Ackerland bestimmt; der Quart daneben nach Osten zu aber wäre trefflich für Vieh, Weide und Heu! Es ginge ja wohl auch mit dem westlich angrenzenden an; doch der nach Osten war besser, der hatte nämlich fließendes Wasser. Diese beiden Quarte zusammen ergaben jedoch einen prächtigeren Landsitz, als ihn die meisten Könige alter Zeiten gehabt! – Er sagte vorläufig nichts von dem zweiten Quart, erwähnte ihn mit keinem Wort; er sah noch nicht, wie er ihn erwerben könne; aber die Buben wuchsen jeden Tag mehr heran, – und mit der Zeit kam schon auch noch Geld ins Haus.
Und noch viele andere gute und schöne Einfälle kamen, von den Dingen nämlich, die vorerst an die Reihe mußten. Zum Beispiel die Herde. Ansehnlich sollte die mit der Zeit werden! Rösser und Schweine, Rinder und Hühner, Enten und Gänse, Großes und Kleines! Das sollte schnattern und grunzen, brüllen und wiehern aus jedem Winkel. – O, es sollte hier ringsum schon lebendig werden und aufgabenreich für die Beretmutter!
Aber am lustigsten war es, an dem künftigen Königshof zu bauen. Behausung für Hühner und Ferkel, einen geräumigen Stall, ein prächtiges Stabbur. Stabbur = das für norwegische Gehöfte bezeichnende Vorratshaus, auf Pfosten 1—2 m über dem Boden ruhend, meist durch schönes Schnitzwerk vor den übrigen Gebäuden ausgezeichnet. Und dann das eigentliche Schloß! Blitzneu und glänzend sollte der Königshof erstehen, – das Schloß selbst weiß, mit grünen Windbrettern. – Und das alles wollten er und die Buben allein miteinander schaffen!
Ja, es war wie im Märchen! Ringsum lagen die Dinge so geheimnisvoll und hatten die Tarnkappe auf; aber dann berührte er sie, tröpfelte ein paar Tropfen aus dem Zauberhorn auf sie, und die Tarnkappe war verschwunden, die Dinge lagen leuchtend klar vor ihm! – Yes Sir! Da sah er das Schloß vor sich! Ein Zaun um einen großen, großen Garten! Der Zaun weiß, gerad wie das Schloß. Viele Bäume dahinter und davor: Bäume mit Äpfeln darauf, Bäume mit andern Früchten, und – und – Bäume mit Zapfen daran, yes Sir – Bäume mit Tannenzapfen! Es blinkte feucht in des Per Hansen Augen, – denn wirklich, es hingen Tannenzapfen an etlichen von diesen Bäumen! Der Tannenbaum = der Liebling des norwegischen Bauern, ein Symbol seiner Heimat. – Noch wußte er nicht, wo er sie herholen solle; aber haben mußte er sie. —
Der Per Hansen war lauter lebendige frohe Unruhe, er breitete der wundersamsten Zukunft beide Arme entgegen. Er war so schelmisch froh und zärtlich. – – Aber stille sitzen konnte er nicht! Kaum einmal an einem Sonntag! Und dann war er leicht übelgelaunt. Fiel ihm nichts Besseres ein, so unternahm er weite Streifzüge über die Prärien, fand bald diese zur Besiedlung gutgeeignete Stelle, bald jene. Hierher kommen doch gewiß Leute, sich anzubauen! dachte er; dann gehe ich mit ihnen mit und zeige ihnen alles! – Und fast überall war derselbe vortreffliche Boden. Das Besondere lag hier unbegrenzt! – —
II
Die Buben waren eines Sonntags abends rein toll heimgekommen. Sie hatten einen weiten Ausflug zu einigen großen Sümpfen gemacht, die von hohem Gras umgeben und mit weiten Strecken offenen Wassers dazwischen, in der westlichen Prärie lagen. Jetzt berichteten die Buben, daß dort Tausende und aber Tausende von Enten nisteten; die seien nicht scheuer, als daß man sie fast mit der Hand greifen könne. Der Große-Hans erzählte, bis ihm das Wort in der Kehle steckenblieb und er vor Aufregung bibberte, – und der Bruder machte es nicht viel anders. —
Tagelang redeten die Buben nur noch von den Enten. Wie konnte man sie bloß fangen? Eine Schrotflinte hatten sie nicht. Die Lange Marie dürften sie nicht benutzen, sagte der Vater; sie habe schon ohnehin zu wenig Futter, ... und niemand könne wissen, – nein – niemand könne wissen. – Was es war, was ›niemand wissen könne‹, erörterte er nicht näher. Aber soviel begriffen die Buben: mit der Büchse und den Enten war es nichts. – Da trieben sich also die Enten in unabsehbaren Mengen herum, flogen von dem einen Wassertümpel auf, ließen sich auf dem nächsten nieder, wenn die Buben zu nahe herankamen! Und nicht der kleinste Stein in der Gegend aufzutreiben! Vertrackter konnte es gar nicht sein! —
Seit der Entdeckung der Enten waren die Buben jeden Sonntag an den Sümpfen. Der Vater hatte noch nicht Zeit gehabt, sich die Herrlichkeit selber zu besehen. Aber schließlich an einem Sonntagvormittag anfangs August gönnte er sich mit dem Großen-Hans einen Spaziergang nach Westen. Der Ole mußte daheimbleiben. Die Mutter dürfe nicht allein sitzen, wo sie drei ausgewachsene Mannsleut im Hause habe, hatte der Vater gesagt. Und der Ole, als der Größere, müsse zuerst heran. Der Bub benahm sich so ungebärdig, daß die Mutter es für das geratenste hielt, auch ihn gehen zu lassen. Doch der Vater war auf dem Ohr taub; nächsten Sonntag werde er selber daheimbleiben und der Ole freihaben; heute bleibe es bei seiner Anordnung.
So machten denn also er und der Große-Hans diesen Ausflug. Enten gab es da freilich! Das war gerad wie an Finmarkens Finmarken = nördliche Provinz Norwegens. Vogelbergen!
Der Große-Hans zeigte und wisperte unausgesetzt, bis ihm die Augen übergingen und er sich räuspern mußte: Meinte der Vater wirklich nicht, daß es anginge, die zu erwischen ?
Nun, erwiderte der Vater ernsthaft, sie könnten es ja vielleicht einmal mit Salz auf den Bürzeln versuchen!
»Salz auf den Bürzeln? – Geht das?«
Höhö; so hatten sie‘s doch in alten Zeiten immer gemacht! – Aber da mußte der Vater lachen, und damit war der Glaube an das alte Volksmittel zerstört. Der Per Hansen war fast noch froher als sein Büblein über all das Gevögel. Freilich gebe es da einen Rat, wenn er nur erst Zeit gewann, sich recht zu bedenken! Im Märchen stehe nichts davon geschrieben, daß der König eine Schrotflinte gehabt; trotzdem habe er Enten verspeist. Und was einstens getan worden war, könnt‘ einstens wieder getan werden! —
Auf dem Heimweg von diesem Ausflug machte der Per Hansen seine große Entdeckung.
Der Große-Hans ging den nächsten Weg nach Haus, um dem Bruder brühwarm zu erzählen, was er und der Vater heute gesehen.
Der Per Hansen aber liebte es nicht, den Weg, den er gekommen, zurückzugehen, solange soviel Land noch unbefahren war. Er machte also einen großen Bogen. Schon oft hatte er sich gefragt, wie weit ihre Landteile sich wohl nach Westen erstreckten, niemals aber Zeit gehabt, die Grenze abzuschreiten. Jetzt kam er gerade des Wegs und konnte bequem die Westgrenze aller ihrer Reiche abgehen!
Tönset‘ns Südlinie war ihm gut bekannt, ebenso alle Grenzen nach Ost und Nord. Jetzt ging er ins Fahrwasser der Südlinie, auf ihr zunächst ein Stück nach Osten, fand aber, bis ganz zum Ende werde es zu weit und drehte wieder nach Westen ab. Er müsse es heute bei einem Überblick bewenden lassen. – – Hier ungefähr müßte es sein, dachte er, blieb stehen und nahm Gissung auf Nord. Er mochte wohl an die hundert Schritt gegangen sein, als sein Fuß gegen einen Pflock stieß, der sich da schlafend im Grase duckte. Der Per Hansen sah hin, bemerkte den Pflock und blieb mit einem gewaltigen Ruck stehen. – – – War der Syvert auch hier gewesen, und hatte sein Merkzeichen eingerammt? Er war vorbedacht, der Syvert!
Der Per Hansen bückte sich und besah sich den Pflock. Ganz richtig! Da stand die Zuweisung sowohl mit Sektions– wie mit Quartnummer. Aber der Name darunter – der Name? Er kniete hin und starrte, bis ihm schwarz vor den Augen wurde: Da stand keineswegs ›S. H. Tönset‘n‹, nein, da stand ›O‘Hara‹, – nichts andres. Alles eingeschnitzt. Und das Zeichen wies nach Osten! – Als der Per Hansen wieder aufgestanden war, richtete er das zerdrückte Gras sorgfältig mit der Hand wieder auf.
»Jah,« sagte er laut und setzte sich in Bewegung; machte dann aber nochmals kehrt, ging zurück und las den Namen wieder. Um sich ganz zu versichern, daß er richtig sehe, ließ er den Zeigefinger über die geschnitzten Buchstaben gleiten und buchstabierte. Ja, ein Zweifel war nicht möglich!
Der Per Hansen legte den Kurs geradeaus nach Nord und schritt langsam weiter. Das Frohgemute, Freundliche war wie ausgelöscht; er sah müde aus. Plötzlich sputete er sich. Er ging bis zu Hans Olsens Südgrenze; hier machte er sich ans Suchen, zuerst ostwärts, sodann westwärts und ein Stück in den angrenzenden Quart hinein.
Und wieder stand da dieses Merkzeichen! – Er schaute sich nach allen Seiten um. Nein, nirgends war wer zu erblicken; er kniete hin, untersuchte das Zeichen. Die Landzuweisungsziffer machte ihm weniger Sorge; aber der Name, der Name! ›Joe Gill‹ stand auf diesem Pflock, – ›Joe Gill‹. Und es hätte stehen müssen: ›H. P. Olsen‹! – – Er stand auf.
Mechanisch ging er nach Norden weiter bis zur Grenze zwischen seinem und Hans Olsens Landstück; hier kreuzte er lange nach Ost und West hin und her. Aber hier konnte er den Pflock nicht finden; von seinem Vorhandensein war er ganz überzeugt. Sollte sich das Unheil etwa an Tönset‘n und den Hans Olsen herangeschlichen und sich dann nicht weiter nach Norden zu ihm hingetraut haben? Undenkbar! – Schließlich gab er doch sein Suchen auf; er schritt jetzt die gleiche Strecke nach Norden ab, bis zur Scheide zwischen seinem und Henrys Gebiet und stöberte auch auf diesem Quart nach dem Zeichen. – Nein, auch hier nichts zu finden!
Inzwischen war es spät geworden, und er mußte an die Heimkehr denken. – – Vor kaum einer Stunde noch war er frohen und leichten Sinnes gewesen wie ein Kind; als er nach Hause kam, schien ihm, er sei noch nie in seinem Leben so müd gewesen.
III
Das mußten die Trolle sein, die jetzt nach ihm aus waren! – Und es war nur billig, daß er ihnen auf den Widden unversehens begegnete. Aber daß sie darauf verfielen, akkurat in der Form aufzutauchen! Doch Troll bleibt Troll, in jedweder Gestalt! —
Er hätte gern der Frau davon erzählt, um ihre Meinung zu hören; aber sie war schon ohnehin furchtsam genug. – Er ging über den Hof, setzte sich auf den Holzstoß und starrte vor sich hin.
Mit den Trollen war nicht gut streiten, – gewiß nicht! – —
Daß er aber ihre Spur an der Westgrenze seines eigenen Quarts nicht hatte finden können, das war doch das allerseltsamste dabei! —
Die Buben wollten sich mit dem Vater durchaus wegen der Vögel bereden; erst versuchte der eine, dann der andere, und dann versuchten sie gemeinsam; aber sie erhielten nicht Antwort. Die Mutter kam heraus und sagte etwas, aber auch das beachtete der Vater nicht. Er war von einem Ernst umgeben, der so dick war wie eine Mauer.
Er überlegt gewiß wegen der Enten, dachte sich der Große-Hans erfreut. Er konnte sich nicht bändigen; er scharwenzelte so lange um den Vater herum, bis er plötzlich neben ihm stand, ihm die Hände auf den Oberschenkel legte und in stiller Wonne sagte:
»Es waren entsetzlich viele!«
»Was?«
»Hast du schon je so viel Enten gesehen?«
»Enten? – – Nein.« —
»Glaubst du – glaubst du, daß wir sie kriegen?« wisperte der Bub geheimnisvoll.
Aber der Vater war mit den Gedanken schon wieder woanders. – Jetzt kam die Mutter mit dem Melkeimer heraus und lockte Buntscheck. Das hörte er aber doch, stand auf, ging hin und nahm ihr den Eimer ab. »Das kann ich doch gern tun, wenn ich ohnehin nichts anderes schaffe.« Aber er sagte es so geistesabwesend, daß sie ihn anschauen mußte; wie er zum Melken ging, hingen ihm Kopf und Schultern, und er sah klein aus.
Am nächsten Morgen stand er früher auf als sonst in letzter Zeit, ging fort, ohne zu sagen wohin.
Sie sah ihm durchs Fenster nach. – Es dämmerte kaum erst; er ging nach Westen; bald verbarg ihn der Hügelzug. – – Vielleicht geht er nach den Enten? dachte sie. Oh, da hätten doch wenigstens er und die Buben ihre Freude! – Übrigens hätte es damit noch Weile gehabt; mit derlei brauchte er sich nicht abzuäschern. – – Beret wandte sich vom Fenster; das Gesicht war kummerbeschwert.
Als er zurückkam, waren die Buben bereits auf, und das Morgenessen stand auf dem Tisch. Er mußte sehr schnell gegangen sein, denn ihm war heiß, konnte sie sehen. Aber – sie mußte noch einmal und schärfer hinsehen, es lag etwas Besonderes auf dem Gesicht – es war so verschlossen; und obwohl es schwitzig war, hatte es nicht Farbe. Sie fragte unwillkürlich:
»Ist dir nicht gut?«
»Doch.« Aber er sah nicht auf.
IV
Die Beret merkte deutlich an seinem Wesen, daß er sich jetzt mit einer Sorge trug, an die er sie nicht heranließ. Er hörte nur halb, wenn sie ihn einmal unversehens ansprach. Selbst, wenn er sich dann Mühe gab, natürlich mit ihr zu sprechen, so fühlte sie doch kein Nahsein heraus. Es fehlte die Wärme und die kindliche Freude, die ihn sonst immer beseelte. Und von dem frohen, lichten Geplauder vom Märchen, vom Königshof, von dem König und der Königin hörte sie nichts mehr. In den Nächten wachte er viel, warf sich und schlief unruhig. Was war es nur? – Und was gab es hier draußen denn zu verbergen? —
Und die ganze nächste Woche ging es so weiter.
Am Montagmorgen war er wieder zeitig unterwegs. Sie hatte die Nacht wachgelegen und gefühlt, daß ihm etwas nicht Ruhe ließ; aber schließlich war sie doch darüber eingeschlafen. Als sie die Augen aufschlug, fing es gerade an leise zu dämmern; da war er schon fort. Es fühlte sich an in der Hütte, als sei er schon seit langem gegangen; nirgends der geringste Laut. – Die Beret warf sich die Kleider über und ging hinaus. Dort stand der Pflug, sah sie, und die Ochsen lagen nicht weit davon ab; doch er war nirgends zu sehen. – – Ein unheimliches Gefühl von Verlassenheit beschlich sie, als sei sie von aller Welt Trübsal umgeben. Ja, wo war er jetzt wohl ? Was ging nur vor sich ? Und was quälte ihn so, was wollte er vor ihr verbergen? – – Sie rief einige Male nach ihm; dann stieg eine Angst in ihr auf, daß sie den Namen nicht noch einmal auszusprechen wagte. Der Schall verklang, ohne daß ihn jemand auffing. – – Der Beret war, als habe sie die Öde noch nie so lasten gefühlt.
Inzwischen stellte sich der Per Hansen auf der westlichen Prärie höchst sonderbar an. Er war vor Tagesanbruch aufgestanden, hatte sich draußen einen Spaten gesucht, sich dann aufgemacht; mit einem unnötig großen Bogen war er um Hans Olsens Hütte herumgegangen, hatte sich im Vorbeigehen vorsichtig umgeschaut, ob dort jemand auf sei, und sich dann weiter gesputet. – Er kam an die Stelle, wo sich auf Hans Olsens Land ein schwarzer Pfahl im Grase duckte; hier hielt er nach allen Seiten Ausschau. – Nein, niemand war zu sehen! Jetzt flammten seine Augen, die Lippen preßten sich zusammen, das Gesicht war hart und entschlossen. Er faßte den Pflock fest, zog ihn langsam heraus und legte ihn vorsichtig zur Seite. Er untersuchte das Loch eingehend, ehe er sich daran gab, es zuzuschütten; und als er endlich damit fertig war, hätte man schwerlich erkannt, daß ausgerechnet hier ein Stangenende im Boden gesteckt hatte. Er ging äußerst vorsichtig und bedächtig zu Werke. Erst holte er von weither lockere Erde und füllte das Loch bis fast zum Rande; suchte sich dann einen Graspfropfen und spundete damit zu; und in dem Pfropfen stand das Gras ebenso üppig wie ringsum. Und er nahm sich ungemein in acht, das Gras um das Loch nicht zu zertreten; er wagte kaum, den Fuß aufzusetzen.
Endlich betrachtete er prüfend sein Werk. – – »Wenn die jetzt warten, bis das Gras sich hinter mir wieder aufgerichtet hat, dann müßte es sonderbar zugehen, wenn sie den Hans Olsen um des Pflockes willen verjagen könnten!« Und darauf begab sich der Per Hansen schleunigst dahin, wo er das Eigentumszeichen auf Tönset‘ns Land gefunden; hier machte er es ebenso, war nur womöglich noch vorsichtiger. —
Als der Per Hansen – es war noch früher Morgen – heimkam, da kam er nicht von Westen, sondern von Norden. Die Buben saßen am Tisch beim Frühmahl, die Mutter besorgte den Haushalt und ließ das Fenster nicht aus den Augen. Sie sah ihn kommen, sah ihn beim Holzstoß stehenbleiben und einen Spaten wegsetzen, zur Hütte hinübersehen und zaudern. Und da verrichtete sie ihre Hausarbeit weiter, als sei nichts im Wege. Gleich darauf hörte sie seine Schritte draußen längs der Hauswand. Ging er zum Stall ? – Er kam erst nach einer Weile in die Hütte.
Die Beret musterte ihn von der Seite. Ja, da war er also, da war er! Aber im Gesicht war etwas Leuchtendes und glitzernd Hartes. – – Sie wollten heute pflügen, wies er die Buben an; jawohl, pflügen! Heute sollten die Ochsen tüchtig heran! – – Die Stimme klang, wie das Gesicht aussah; – sie klang so stark, sie sprühte geradezu Funken.
Der Stall war noch nicht in Gebrauch; vorläufig diente er als Gerätschaftshaus, als Tischlerwerkstätte und als Stabbur. Die Beret hatte dort alle Kleidungsstücke hängen. Heute ging sie hin, um zu sehen, ob etwas zu flicken sei. Und da fand sie die Pfahlenden, – der Per Hansen hatte sie unter den Kleidern versteckt. – – Die Pflöcke waren zum Schutz vor der Bodenfeuchtigkeit gebrannt, und außerdem waren sie so von der Erdschicht gefärbt, daß sie sie kaum gesehen, hätten nicht die geschnitzten Buchstaben geschimmert. Sie glaubte erst, es läge am Boden ein großer Wurm und sah erstaunt näher zu. Sie hob die Pfahlenden auf, drehte sie untersuchend hin und her. Da standen Zahlen und Buchstaben, und immer mehr Buchstaben, die sich zusammenfügten und zu einem Namen wurden; – ›Joe Gill‹ sagte der eine Pfahl, ›O‘Hara‹ der andere. – – Wunderliche Namen, dachte sie. Ob wohl Menschen so hießen? Gewiß waren es Indianer? Die Pfähle waren zugespitzt; hatten wohl im Erdboden gesteckt, denn es klebte noch immer Erdkrume an ihnen. – – Wo hatte er die wohl gefunden ? – Sie legte sie wieder zurück, suchte sich ein paar ausbesserungsbedürftige Kleider, ging in die Hütte und machte sich ans Ausbessern.
Aber die Pflöcke wollten ihr nicht aus den Gedanken. – – Diese Zahlen? – Zahlen und Buchstaben? Das mußte doch eine Landzuweisung bedeuten? – Und dazu Namen? – – Und im Boden hatten sie gesteckt? – – Ihr fiel ein, daß er sie erst kürzlich versteckt haben könne; denn erst in der letzten Woche hatte sie die Kleider dorthin gehängt. – Hatte er sie heute morgen mitgebracht? – – Sie tat die Arbeit zur Seite, ging hinaus, um die Pflöcke noch einmal zu untersuchen. – Gewiß! Die hatten im Boden gesteckt, und zwar bis zu dem Rand!
Sie saß wieder beim Flicken; die Bewegungen der Hand verlangsamten sich. – – Damit also hatte er sich geplagt und gewollt, daß sie davon fernbleibe? – – Heute hatte er so laut gesprochen und hatte so tatkräftig ausgeschaut. – Da war er wohl heute morgen mit den Pfählen gekommen – – ?
Die Gedanken spannen langsam zusammen. Je länger sie spannen, desto weniger gefiel ihr das Gespinst. Ihr wurde so bange, daß die Hand zitterte und sie aufhören mußte zu nähen.
Mittags wollte sie ihn nach allem fragen; und damit beruhigte sie sich vorläufig.
Und dann kam er heim, noch immer mit dem Starken, Lichten, das Funken sprühte; und das, womit sie sich trug, war so überaus häßlich, daß sie es unmöglich vorbringen konnte. – – Und jetzt war er auch wieder fröhlich – gewissermaßen; und er war doch wenigstens da!
Nach dem Abendessen hörte sie ihn im Stall herumkramen, wieder herauskommen und über den Hof gehen. Sie sah durchs Fenster. Da stand er am Hauklotz und zerhackte ein schwarzes Pfahlende, gebrannt und spitz, das im Erdboden gesteckt hatte! Die Stücke zersplitterte er zu Spänen! – Dann nahm er ein zweites und verfuhr mit ihm ebenso. – – Jetzt kniete er hin und las sorgsam Span auf Span zusammen und, – nein, o nein! – jetzt kam er damit in die Stube!
Die Beret stand verängstigt im Winkel beim Herd. Er sah sie, blickte zur Seite und geradeaus, kam heran, nahm die Ringe heraus und legte die Späne hinein.
»Willst du denn jetzt ein Feuer anmachen?«
»Nur ein wenig Holzabfall verbrennen, der beim Hauklotz lag.«
Sie wollte um den Herd herum und ihn aufhalten. Die Knie versagten ihr den Dienst. Sie wollte ihn etwas fragen, notwendig fragen, und konnte nicht, – die Worte verkrochen sich.
Nein, sie brachte es nicht fertig; denn, was sie argwöhnte, war so häßlich, so unsäglich abscheulich: Herre Gott, vergriff er sich etwa an anderer Leut Landmarken! – – – Schlimmer konnte sich ein Mensch an einem andern kaum versündigen, hatte sie daheim oft gehört. —
Ihr Entsetzen war größer noch als heute morgen, da sie seinen Namen gerufen und nicht Antwort erhalten hatte.
In der Nacht schlief der Per Hansen ungestört; aber jetzt quälte die Beret sich mit etwas, das ihr alle Ruhe nahm.
V
Mit dem Per Hansen war in den nächsten Wochen schlecht umgehen. Der ganze Mann war lauter Rastlosigkeit und ein Wille, der nur einen Weg vor sich sah, den, täglich so viel Neuland unter den Pflug zu legen, wie nur irgend anging. – »Hast du vor, dies Jahr noch den ganzen Quart aufzubrechen?« hatte der Hans Olsen jetzt schon zweimal gefragt. – Auch von der Heiterkeit, die ihn zu Anfang des Sommers erfüllt, war nichts mehr zu spüren. Das leuchtend Starke, das sengen konnte, wollte nicht von ihm weichen; die Stimme klang plötzlich kieselhart.
Per Hansens Gedanken kreisten unablässig um dieselbe bange Frage: Wie überstanden sie den Sturm, wenn die Trolle einmal kamen? Werde er dann imstande sein, ihnen die Köpfe abzuschlagen und den Königshof aus ihrer Gewalt zu befreien? – Bisweilen kam es vor, daß er, wenn er etwas in der Hand hielt, plötzlich hart die Faust darum schloß: Es gehörte Kraft dazu und Übung das Schwert zu schwingen. Denn das hier, das waren Trolle, – Riesentrolle also. Die hatten sich gegen Gesetz und Recht vergangen und sich auf unrechtmäßige Weise Boden angeeignet! Ob diese Burschen aber überhaupt wiederkamen? Ob die nicht, ehe Tönset‘n sich letzten Herbst hier niedergelassen hatte, zufällig vorbeigekommen waren, Gefallen an dem Lande gefunden und ihre Merkzeichen eingerammt hatten und dann entweder später als Tönset‘n auf das Landzuweisungskontor gekommen waren und folglich auf das Landstück hatten verzichten müssen? Oder überhaupt nicht auf das Kontor gegangen waren und aus einem oder anderm Grunde das Land aufgegeben hatten? – – Möglich war‘s.
Aber nein, diese Erklärung reichte doch nicht aus; die Pfähle hatten nicht den ganzen Winter über in der Erde gesteckt! Also waren die Trolle bestimmt nach dem Bau von Tönset‘ns Erdhütte dagewesen, hatten gesehen, daß ›das Land sehr gut war‹, und – ja – im übrigen hieß es abwarten!
Mit keiner Silbe erwähnte der Per Hansen auch nur das geringste von dem, was er getan. Er überlegte lange, ob er dem Hans Olsen alles mitteilen solle, gab es aber auf. Das beste war, den solange als möglich aus dem Spiel zu lassen!
In der Beret spannen derweile die Gedanken unaufhörlich weiter und das Gesponnene hätte sie am liebsten beseitigt; aber sie vermochte es nicht. Er hatte es also getan, – wirklich getan! spannen sie. – Hier sitzen wir auf anderer Leute Grund und Boden, und der Per hat die Absicht auch sitzenzubleiben! – Andrer Leute Eigentumszeichen hat er zerstört! —
Das Vergehen verlor jedoch von seiner Scheußlichkeit, je länger sie es überdachte; hier war Boden genug für alle; ob sie diesen Quart nahmen oder den angrenzenden, tat wohl nicht viel zur Sache; sie sah nicht ein, wie jemand um deswegen viel Aufhebens machen könne. – – Aber es war so häßlich – sie verspürte Ekel. Und Entsetzen, – Entsetzen vor den Folgen. Der Per Hansen, der Arme, verstand es nicht, die Worte geschickt zu setzen! Wie wollte er sich rechtfertigen, wenn es herauskam? – – Was sie in Norwegen wie auch in Filmore von der harthändigen Art gehört, wie man hierzulande Recht und Gesetz selber anwandte, verwebte sich mit dem Gespinst: Da stand er dann, konnte seine Handlungsweise nicht klarlegen, hatte sich nach dem Gesetz so schlimm vergangen, wie überhaupt menschenmöglich war! – Und war noch dazu so heftig und jähzornig, wenn ihm etwas verquer kam! Und dazu war er jetzt stets in einer Laune, daß die Leute sich scheuten, in seine Nähe zu kommen. —
VI
Die Beret hatte jetzt die Gewohnheit, von der Hüttenschwelle über die Prärie zu spähen; sie suchte sich einen Punkt am Horizont und ließ die Blicke wandern, bis sie die ganze Rundung umkreist hatten. Aber es blieb das gleiche, immer —: Lebendiges gab es nicht. Ein Zauberring lief um den Himmelskreis und am Himmel hinauf. In den Ring drang Leben nicht ein; es war damit, wie mit der Kette um den Garten des Königshofs im Märchen; der Garten konnte nicht Frucht tragen, solange die Kette um ihn lag. – Wie konnten da Menschen hierher gelangen? – O nein, den Ring durchbrachen nur solche, die ins Verderben gelockt worden waren! —
Menschen hatten hier nie gehaust, Menschen kamen niemals her; denn Menschen konnten in dieser offenen, allen Winden preisgegebenen Unendlichkeit keine Heimat finden. – Nur gerade sie waren herverzaubert und -gebannt worden! – – So ging es den Menschen: sie wurden verlockt und waren sich dessen nicht bewußt, kamen in die Wirrnis hinaus, ohne es selber zu spüren, – nur andere sahen es. – – Etliche wurden gerettet und gelangten zurück und waren dann anders wie Menschen sonst, – – etliche kamen niemals wieder. – – O nein, etliche kamen niemals wieder!
Wie hoffnungslose Traurigkeit konnten solche Vorstellungen sie befallen. Sie sah den Ring, und obwohl er so ferne ab lag, war es, als wolle er sie erwürgen.
Sie wurde wortkarg und machte sich sehr viel Gedanken. – —
Und dann geschah das Unglaubliche: es kamen andere in den Zauberring hinein.
Es war um die Abendzeit. Der Ole war auf dem Pony an den westlichen Sumpf geritten; auf dem Heimweg wurde er im Osten einen großen, weißen Fleck gewahr, der sich im Abenddunst bewegte. Der war nicht weit ab, und er kroch immer näher. Der Bub war so erstaunt, daß er sein Herz pochen hörte; er mußte durchaus in Erfahrung bringen, was das war. Der Pony trabte schnell, ein kleiner Umweg nach Osten machte wohl nichts. Und so ritt er auf den Fleck zu. – Als er sich überzeugt hatte, daß hier Westfahrer kamen, – das bewiesen ihm die Wagen, – machte er schnurstracks kehrt und galoppierte, daß der Pony mit dem Bauch fast die Erde streifte. Er unterrichtete im Vorüberreiten Tönset‘n, brachte dem Hans Olsen die Nachricht, jagte heim und rief, jetzt sollten sie alle herauskommen und sehen, – und zwar sofort!
Nein, aber das war doch merkwürdig! Da kamen doch zwei Pferde vor einem Wagen? – Und der Wagen hatte genau so ein Dach wie einstmals ihr eigner. – – Und er karrte sich langsam aus dem östlichen Abenddunst heraus und steuerte auf Sonnenuntergang zu? – – Ach ja, es waren noch andere auf Irrspur geraten!
Der Wagen hielt Kurs auf Tönset‘ns Hütte, langte an und hielt. Die Begebenheit war so ungewöhnlich, daß die Bewohner der kleinen Neusiedlung alle gute Sitte vergaßen und sich unverzüglich zu Tönset‘n begaben. Selbst die Beret band sich eine reine Schürze vor, nahm das Gössel bei der Hand und ging hinüber. Die gesamte Siedlung, jung und alt, war bei ihrer Ankunft versammelt, alle außer dem Per Hansen. Er kam zuletzt, in der Hand trug er eine Holzstange.
Der Zug bestand aus vier Männern; sie kamen aus Jowa. —
Nein, sie wollten hier nicht bleiben, wollten siebzig Meilen weiter nach Südwest; hier herum war alles Land aufgeteilt, hätten sie gehört. – – Tönset‘n und die Solumbuben schwätzten mit ihnen, der Hans Olsen und die Frauen und die Kinder standen im Kreis um sie herum und hörten andächtig zu; der Per Hansen aber war ganz Auge und Ohr, er durchforschte mit seinen Blicken die vier von der Fußsohle bis zum Scheitel – der Griff um die Stange lockerte sich; sagten sie nicht, sie wollten siebzig Meilen weiter ? Der Per Hansen wurde ungeduldig; er faßte Tönset‘n so fest beim Arm, daß der den Kopf drehte, – aber nur für einen Augenblick.
»Was für Leut sind das?«
»Deutsche, – halt mich nicht auf!«
»Du mußt sie bitten, nicht zu bleiben. – Wir brauchen Norweger, siehst du!«
»Sei still, ich werd‘ hier schon alleine fertig!«
Tönset‘n hatte jetzt nicht Zeit zu einem Schwatz mit dem Per Hansen!
Da kamen eines schönen Abends vier fremde Männer, wollten nachtsüber rasten und am nächsten Morgen weiter; sie hatten sie nie zuvor gesehen, sahen sie vielleicht niemals wieder, und dennoch war das die größte Begebenheit seit ihrer Ankunft – das fühlten sie alle. – – Die wollten also noch siebzig Meilen weiter ins Abendrot hinein, die Burschen, – ganze siebzig Meilen! Dann war diese Stätte hier also nicht mehr der alleräußerste Rand des Lebens! – – Menschen kamen, jawohl; Menschen, die einen Wohnsitz begründen wollten! Eine Mauer von Leben zwischen ihnen und dem Unsagbaren dort draußen! – – —
Ehe die Deutschen weiterwanderten, kamen sie noch zum Per Hansen hinüber, um sich seine Hütte zu besehen. Tönset‘n habe ihnen erzählt, hier sei ein Mann, der habe sich Stube und Stall unter dem gleichen Dach errichtet, und dieses Bauwerk schien ihnen einer Besichtigung wert. Und so erhielt der Per Hansen Gelegenheit, ihnen für 2,25 Dollar Kartoffeln und Gemüse zu verkaufen. Und das war der erste Ertrag, der in dem Settlement am Spring Creek verkauft wurde. – – Tönset‘n gefiel das nicht so recht; das hätte er selber tun können; aber wer kommt auch gleich auf so etwas? Er war hinterher, der Per Hansen, das mußte man ihm lassen.
VII
Der Wagen fuhr seines Weges; man sah ihn kleiner und kleiner werden, bis er sich nur noch als Punkt kaum merklich am Himmelsrand hinbewegte; schließlich verschwand er; niemand hätte sagen können, ob in die Erde oder in den Himmel. —
Dieser Besuch übte auf die einzelnen Gemüter eine verschiedenartige Wirkung. Bei allen weckte er von neuem Hoffnungen und Zukunftsträume. – Tönset‘n und sein Weib hatten von allen den zähesten Glauben bewiesen. Von jetzt ab aber hatte der Syvert, wenn er von der Zukunft sprach, die Kraft der Überzeugung, und die Kjersti eine stille Innigkeit des Blicks, wenn sie ihm zuhörte. Auch in den Solumbuben bestand kaum noch ein Zweifel; denn dieser Wagen war nur ein Vorläufer! – Danach kam die Sörine; ihr verlieh die Zuversicht eine fröhliche Ruhe. Der Hans Olsen dagegen ließ jeden Tag seine eigene Plage haben, freute sich des Glaubens der andern und schaffte wacker alle Tage das Erforderliche. Es ging ihm nicht zu schnell von der Hand, dafür aber um so zuverlässiger und steter. Ihm war es weniger darum zu tun, daß noch so und so viele nachkämen, als vielmehr darum, daß sich die, die bereits da waren, gut durchschlügen. – Der Per Hansen lieh seinem Glauben noch weit vernehmlicheren Ausdruck als Tönset‘n, wenigstens meistens. Es gab jetzt Augenblicke, in denen er überzeugt war, er werde noch den Tag sehen, an dem der größte Teil des Grund und Bodens dieser Gegend angebaut sei. Und in solchen Stunden lag über ihm etwas Bestechendes. Kraft strahlte aus von der stämmigen Gestalt; der ganze Mann wurde schön, das Gesicht milde; alle Worte waren eitel Frohsinn. Trat aber eine Pause in dem Märchenspiel ein, dann schwieg der Per Hansen sich über die Zukunft aus, arbeitete rastlos, wurde oft heftig und in seinen Ausdrücken unwirsch, und der Umgang mit ihm war nicht leicht.
Die Beret sah in dem Besuch nichts als eine kleine Abwechslung in der Einsamkeit. Die Tatsachen blieben, und es ging nicht an, sich von denen wegzuzaubern: vor ihnen allen lag die Unendlichkeit und erstreckte sich bis in das Ewige. Daß hier jemals alles besiedelt sein werde, würde ein größeres Wunder sein, als daß die Toten aufstanden und wandelten! —
Aber da geschah es eine Woche darauf, daß mit der Abenddämmerung ein anderer Zug herangesickert kam, diesmal eine ansehnliche Schar, – sechs Gespanne Pferde mit ebenso vielen Wagen. Eine ganze Herde folgte hinterdrein. Es dunkelte bereits. Per Hansens beide Buben wollten stracks davon und rauften bereits darum, wer dem Zug entgegenreiten solle. Aber der Vater kam dazu und hieß sie daheim bleiben, und zwar so nachdrücklich, daß sie einsahen, Aufmucken half nicht. Sie sollten sich den Fremden nicht an den Hals werfen, sagte der Vater, als hätten sie noch niemals Menschen gesehen, – es sei noch morgen zeitig genug, mit denen zu schwätzen! – Er selber wollte hinüberspazieren, bloß um zu hören, ob sie etwa Kartoffeln brauchten. Und damit ging er.
Beim Hans Olsen hatte man den Zug noch nicht entdeckt; es brannte drinnen Licht, sah der Per Hansen und ging vorbei. Tönset‘n stand draußen, als er kam.
»Du bekommst Gäste,« begrüßte ihn der Per Hansen.
»So scheint es!« kluckerte es in Tönset‘n vor Freude; »aber – halten sie nicht gar zu weit westlich?«
Die Männer ließen die Wagen herankommen; jetzt mochten sie keine hundert Ellen mehr ab sein; im Schummerlicht waren die kutschierenden Männer soeben noch zu erkennen. – Die Kjersti stand lächelnd in der Tür und überlegte, wie sie wohl heute nacht alle miteinander unterbringe. Nun, ging es nicht anders, so mußte der Per Hansen ein paar mit sich heimnehmen.
»Was mögen das für Leut sein?« brummte Tönset‘n. »Sollt‘ mich wundernehmen, wenn die Kerle nicht daran denken, an bewohnter Stätte vorüberzuziehen?«
»Schaut fast so aus,« sagte der Per Hansen kurz.
»Sehen müssen sie uns doch?«
»Wenn sie Augen im Kopf haben, müßten sie‘s fast.«
Der Zug befand sich jetzt im Westen gerade ihnen gegenüber, und zwar so nahe, daß sie die Pferde schnaufen hörten. Die Kjersti überzählte die Kühe und kam auf achtzehn. – Der Wagen an der Spitze bog ab und legte den Kurs noch westlicher. Die andern folgten; es war offenbar, daß sie nicht hier für die Nacht Anker zu werfen gedachten. »Du mußt hin und mit ihnen reden, Syvert!« meinte die Kjersti. »Wir finden schon noch Platz für sie.«
Per Hansens Augen schleuderten scharfe, stahlgraue Blitze in den Abend; das Gesicht hatte wieder das Starke, Leuchtende, von dem die Funken stoben. »Ich meine, darum sorgen wir uns heut noch nicht. – Könnt‘ sein, daß sie sich ihre Leut aussuchen und zum Hans Olsen hinwollen oder zu mir!«
Der Zug bewegte sich nach Nordwesten bis etwa zur Grenzhöhe zwischen Hans Olsen und Tönset‘n; hier hielt er, die Pferde wurden ausgespannt; – die Kerle beabsichtigten wohl gar, dort zu lagern?
»So etwas habe ich noch nicht erlebt!« sagte Tönset‘n. »Kannst du begreifen, daß sie in eine Ortschaft hineinfahren, wo Haus an Haus steht, und dann nicht mit den Leuten reden wollen! – Haben die Angst vor uns?«
»Oh, die haben wohl Mädel an Bord und meinen, hier seien lauter Junggesellen,« erklärte der Per Hansen ruhig.
Die Dämmerung war jetzt so tief, daß sie nicht mehr unterscheiden konnten, was die Fremden sich vornahmen. – Sie schienen sich am Abhang ein Feuer gemacht zu haben; denn ein Schein leuchtete auf, schwand hin und kam wieder, schien vorwärts und rückwärts zu flackern.
»Was meinst du, Syvert,« schlug der Per Hansen vor, »wenn diese Kerls nicht mit uns reden wollen, müssen wir uns wohl zu ihnen hinbegeben ? – Vielleicht, daß wir Kartoffeln an sie loswerden? Wir müssen die Gelegenheit benutzen.« Der Schalk blitzte aus seinen Worten.
Tönset‘n hatte nichts gegen Per Hansens Vorschlag einzuwenden; er fand zwar freilich, daß er sich nicht wenig vergab, wenn er Leute begrüßen ging, die ihn nicht hatten begrüßen wollen.
Sie hatten noch nicht viele Schritte zurückgelegt, als Tönset‘n stehenblieb. »Wollen wir nicht den Hans Olsen mitnehmen? Er hätt‘ vielleicht auch Lust, sie willkommen zu heißen?«
»Nein, – das wollen wir durchaus nicht,« antwortete der Per Hansen entschieden. Hans Olsens Englisch tauge ebensoviel wie seins; und es sei so leidig, fremde Leute anzuglotzen, ohne verstehen zu können. Es würde ihm auch niemals einfallen, hinzugehen, wenn‘s nicht um der Kartoffeln willen wäre.
Wieder setzten sie sich in Bewegung; aber bald blieb Tönset‘n wieder stehen: »Könnten es nicht zufällig vielleicht Skandinaven sein?«
O keineswegs! – Der Per Hansen ging unbeirrt weiter. – Weder Schweden noch Dänen würden sich so benehmen. Und übrigens hätten sie sich, wie es schien, bei dem Hans niedergelassen; die machten zeitig Feierabend.
Das Lagerfeuer drüben brannte lustig; vier Weiber gingen hin und her und stellten Essen auf ein großes grünes Tuch, das auf den Boden gebreitet war; einige der Männer hatten sich bereits darum gelagert; andere machten sich an den Wagen zu schaffen. – Der Per Hansen zählte im ganzen zehn Mann, forschte flüchtig in den Gesichtern, die er nach und nach zu sehen bekam, fand keines, das ihm zusagte. – Tönset‘n trat ans Feuer und grüßte die dort sitzenden Männer; ebenso der Per Hansen. Die Männer grinsten zum Gruß und riefen sich gegenseitig etwas zu, was Per Hansen nicht verstand.
Wo die Männer herkämen, fragte Tönset‘n.
Aus Jowa.
Wollten sie weiter nach Westen?
No! —
So weit war der Per Hansen imstande, dem Gespräch zu folgen, aber dann hörte es für ihn auf. Die Männer redeten so schauderhaft schnell, und Tönset‘n nicht ein Haar besser. Übrigens war das auch gleich; er wußte bereits, was er wissen wollte: – das waren sie also! – Von der übrigen Unterredung begriff er nur, daß die Männer Tönset‘n hänselten, dieser in Wut geriet und immer unsinniger losratterte. – Unbegreiflich, wie schnell der Syvert das alles auf Englisch heraussprudeln konnte! – Sie zogen ihn jetzt wohl böse auf; das konnte er aus ihrem Lachen heraushören. Verdammt noch eins, daß er nicht mitreden konnte!
»Hö!« wandte sich Tönset‘n plötzlich zum Nachbar. »Kannst du dir vorstellen, was die hier behaupten? Daß sowohl mein Quart wie auch der vom Hans Olsen ihnen gehöre!«
»Nein, Schwerenot! – Und meiner?« Aber Tönset‘n hörte ihn schon nicht mehr; er kabbelte sich mit den Irländern herum und wurde immer aufgeregter. Der Per Hansen schloß aus dem Getöse, daß er jetzt beschwichtigend eingreifen müsse, sonst fing der Syvert entweder an zu brüllen, oder er verschluckte sich; und er faßte ihn kräftig beim Arm.
»Kannst du mir erzählen, was die da sagen?«
»Die sagen, daß sie alle die Quarte zwischen dem Bach und den Sümpfen im Westen in einer Breite von zwei Quart in Besitz genommen hätten. – Und was für häßliche Redensarten sie führen!«
»Wann sind sie denn hier gewesen?«
»Vorigen Sommer, und im Spätherbst und jetzt im Frühjahr!«
»Was haben sie angebaut, um das Gesetz zu erfüllen?« Der Per Hansen fragte ruhig und bedächtig.
»Sie behaupten, sie hätten als Bürgerkriegssoldaten von der Regierung Aufschub erlangt! Hast du schon so was gehört!«
»Laß dir die Papiere zeigen!«
»Sie sagen, wir würden die Papiere morgen zu sehen bekommen!«
»Ja, alsdann können wir ja heim und ins Bett!« sagte der Per Hansen ruhig. »Aber vergiß nur nicht zu fragen, ob sie Kartoffeln brauchen!« setzte er spöttisch hinzu.
Tönset‘n war bereits wieder mitten im Wortgefecht und hörte ihn nicht. Alle Männer waren aufgestanden, die von den Wagen waren hinzugekommen; ein enger Kreis bildete sich um die beiden Norweger. Der Per Hansen beobachtete schweigend, die kalte Pfeife im Mundwinkel; er durchforschte noch einmal jedes Gesicht; traf er auf ein Paar Augen, dann hielt er sie fest und bohrte eine Weile den Blick in sie, ehe er losließ.
»Na—ah,« sagte er trocken, als er heraushörte, daß Tönset‘n wieder einmal verschnaufen mußte, »wollen die uns Kartoffeln abkaufen?«
»Du solltest bloß ihre greulichen Ausdrücke hören! Solchem Lumpenpack wie uns brauchten sie Papiere überhaupt nicht vorzuzeigen!«
»Nein, nein. – Haben sie auch ihre Grenzpfähle an Ort und Stelle?«
»Auf beiden Quarten!«
Der Per Hansen glaubte aus Tönset‘ns Tonfall schließen zu können, daß dem das Flennen nahe war, und das, fand er, sei für sie alle beide genierlich.
»Komm jetzt, Syvert, jetzt gehen wir heim und ins Bett; – es wird ja doch nichts mit den Kartoffeln!«
Und damit begann der Per Hansen sich ganz ruhig aus dem Kreis hinauszuellbogen. Trönset‘n sah es, bekam‘s mit der Angst und beeilte sich nachzukommen. Es mußte ihm jemand ein Bein gestellt haben, er stolperte, hätte fast das Gleichgewicht verloren; und jetzt lachten sie alle, – einer aber mit einer besonders rohen, ungewaschenen Kehle.
Der Per Hansen machte stracks kehrt und musterte sie. Tönset‘n warf ihm eingeschüchtert ängstliche Blicke zu. »Komm jetzt lieber!« stieß er mühsam hervor und rannte davon.
»O nein, wart halt ein bissel!« Der Per Hansen suchte, bis er das Gesicht, aus dem das Brüllen gekommen war, herausgefunden hatte und schritt geradeswegs darauf zu. In seinen eigenen Zügen lag breitester Hohn. Er streckte dem Mann die Faust unter die Nase, duckte den Kopf, um mehr Wucht zu erhalten, und sagte herausfordernd trocken in derbstem Nordländisch: »Jetzt hältst du, Schockschwerenot, dein verdammtes Satansmaul!« Flammte den Mann mit den Augen an, reckte sich auf und musterte die andern der Reihe nach.
Das Gelächter verebbte.
Jetzt hatte der Per Hansen hier nichts mehr zu tun; mit ihnen reden konnte er doch nicht, und so ging er. Irgendwo aus dem Dunkel rief ihn Tönset‘n an, leise und furchtsam.
»Ich werde morgen die Papiere mitnehmen und sie ihnen zeigen,« quiemte er weinerlich, als der Per Hansen ihn eingeholt hatte. »Aber du solltest nicht gar so heftig sein! Denk‘ bloß, wenn die uns überfallen hätten!«
»O ja, versuch‘s halt mit den Papieren; aber laß mich dir sagen, Gevatter Syvert: Bei diesen Kerlen hilft weder Katechismus noch Erklärung, – denn die richten sich nicht nach der Schrift!«
Sie verabredeten eine gemeinsame Beratung für den nächsten Morgen. Per Hansen sollte die Solumbuben und den Hans Olsen benachrichtigen und mit allen dreien zu Tönset‘n kommen.
»Aber sag beileibe nicht der Kjersti, wie die Sachen stehen!« warnte der Per Hansen. »Denn kommen die Weiberleut hinter die Geschichte, brennen sie uns durch vor Angst. Und du sollst sehen, wir schaffen‘s schon!«
VIII
Der Per Hansen, der jetzt heimging, war ein anderer Mensch, als der vor ein paar Stunden zu Tönset‘n gekommen war. Jener war ein von schweren Kümmernissen bedrückter Mann; dieser schritt leicht und froh daher, höchst zufrieden mit der Entwicklung der Dinge. Das Rechenexempel klärte sich und ging richtig auf. – Ausgemacht, daß es Gesindel war! Und er war dessen so froh, daß er am liebsten dem Herrgott gleich einen Lobgesang angestimmt hätte. Denn hätten die ›reines Mehl im Sack‹ gehabt, dann wären ihre Papiere wohl nicht weiter weg gewesen, als daß sie sie noch heute abend hätten vorsuchen können. – Er pfiff eine alte Polka von verwegenstem Schmiß vor sich hin. – Daß sie nicht ihn zu vertreiben beabsichtigten, spielte in seine Freude nicht hinein. Aber jetzt war ihm ums Herz wie einem Gerechtfertigten, und er fühlte sich so erleichtert, daß er hätte fliegen mögen. – Im Augenblick sah er zwar noch nicht, wie er die Nachbarn aus der Gewalt der Trolle befreien werde; doch der rechte Ausweg zeigt sich zur rechten Zeit – fand er erst das Schwert, werde er es schon zu gebrauchen wissen! —
Daheim erwarteten ihn die Buben ausgezogen im Bett; die Beret brannte auf dem Herd in einem Kessel Kartoffelkaffee; die Stube war voller Dunst, und die Tür stand weit offen. Sie sah ihn in dem schwachen Licht der Lampe forschend an. Aus dem Gesicht sprach nur Gutes, sah sie; eine Gefahr drohte wohl also nicht. – Am Ende kamen mit den Jahren doch mehr Menschen her?
Die Buben fragten wild durcheinander; bisweilen flocht auch sie leise eine Frage ein. Aber das Unwetter im Bubenbett tobte so gewaltig, daß sie sich nicht Gehör verschaffen konnte. Der Vater mußte denen da, um sie etwas zu dämpfen, erst eine Maulschelle verabfolgen. Als es dann aber doch nicht zu richtiger Wichse aufzog, wurde das Gelächter und Gefrage nur um so ärger. Ihre Entrüstung, daß sie ihn nicht hatten begleiten dürfen, war gänzlich vergessen! Was das für Leut wären? wieviele? blieben sie hier? ihre Rösser? die Kühe? Hühner? waren‘s bloß Mannsleut? was hatten sie in den Fuhren? und so fort ohne Ende. – Der Vater war so sehr in der Gutwetterecke, daß er auf alles, ob es Sinn hatte oder nicht, antwortete und sich von der Stimmung der Buben anstecken ließ; und daher war in dem, was er berichtete, schließlich auch nicht mehr unmäßig viel Vernunft zu spüren. Das seien bloß Iren, ihre Weiberleut scheußliche Trollweiber mit Nasen so lang wie ein Rechenstiel! Hierbleiben? O weit gefehlt! Nein, die wollten bis ans Ende der Welt und noch ein Stück darüber hinaus. Weit, weit schlimmer seien sie als die Indianer! Kartoffeln aber würden sie kaum kaufen. Trollweiber, die fräßen nur Christenfleisch und nicht Kartoffeln, – wüßten die Buben das etwa noch nicht? Aber er wolle trotzdem morgen zeitig hinüber und mit ein paar Säcken versuchen. – Er schwätzte so arg und mutwillig, daß der Beret ganz angst wurde; doch klang seine Stimme so strahlend froh, so warm und sicher, daß sie ihm nichts zu sagen vermochte. Als sie sich legten, umfaßte er sie herzlich und fest und war sofort eingeschlafen. Da wußte sie, diesmal drohte keine Gefahr.
Ehe sie noch erwachte, und ehe sich Tag in der Stube andeutete, war der Per Hansen auf, suchte sich einen kalten Breirest vom gestrigen Abend, steckte sich die Eigentumsurkunde in die Tasche und eilte zu den Solumbuben. Er holte sie aus den Betten und dann ging er weiter zum Hans Olsen.
Auf dem Wege dorthin erklärte er ihnen die Sachlage und entwickelte einen Teil seines Plans, wie er sich in ihm geformt hatte. »Du, Henry, verstehst deinen Mund gut zu gebrauchen; du mußt also gewissermaßen den Wortführer machen. Weißt, Tönset‘n alteriert sich halt gar so leicht. Und du, Sam, mußt mir und dem Hans Olsen so geschwind übersetzen, daß wir dem Gang der Dinge folgen können. – Heraus müssen sie mit den Papieren; schau mir ja genau nach Datum und Unterschrift und allem sonst, und daß nicht daran gefingert worden ist! – Und dann verlangen wir auch Aufklärung wegen ihrer Grenzzeichen hier! Sag ihnen nur rein heraus, daß wir hier sind und hier bleiben, bis wir hinausgeworfen werden, – und sag‘s ihnen recht deutlich!«
Die Solumbuben benahmen sich nach des Per Hansens Meinung durchaus verständig. Der Henry fand sogar, das sei einmal eine kurzweilige Abwechselung; es sei doch zu spaßig, daß Menschen verjagt werden sollten, wo sich Menschen nicht vorfanden!
Der Per Hansen hieß beide zu Tönset‘n vorausgehn, er werde mit dem Hans Olsen nachkommen; es sei nicht unbedingt vonnöten, daß sie hier drei Mann hoch einträten.
IX
An dem Hans Olsen war alles Körperliche ins Übermaß geraten: das war eine Gestalt, bei deren Anblick Fremde stehenblieben, um sich danach umzusehen; sie schien den Raum zu sprengen, wenn sie sich reckte; die Körperkräfte entsprachen dem Äußeren; es war vorgekommen, daß harte Gegenstände in seinen Händen unversehens knickten. – Gedanken aber fanden nicht leicht Eingang hinter der großen Stirn; gewöhnlich mußte er ein Ding erst lange gründlich und von allen Seiten betrachten, ehe er etwas davon begriff; aber dafür bewahrheitete es sich wiederum an ihm, daß, wenn er erst einmal eine Sache wohlbehalten hinter der Türe hatte, sie dort in klarem Lichte stehenblieb. Denn es ging ihm auch hier wie mit den Gegenständen: er faßte sie behutsam und gern langsam an, aber dann glitten sie ihm dafür auch nicht aus der Hand, hielt er sie erst einmal umschlossen. Darum fiel es ihm auch schwer, auf begonnenem Wege umzukehren. Richtig und falsch waren für ihn ewige und stehende Begriffe, an denen nicht zu deuteln und zu drehen war. Recht bleibe recht, und falsch bleibe falsch, meinte er; so sei es gewesen, und so müsse es sein, solange die Welt bestehe. —
Als der Per Hansen an dem Morgen in die nachbarliche Hütte trat, da schien ihm guter Rat teuer; denn Mann und Frau waren beide auf, und er mochte doch in Gegenwart der Sörine nicht gern berichten, wie die Dinge standen; die Weiberleut mußten durchaus von dem allen ferngehalten werden! – Aber andererseits hatte er Eile und nicht Zeit zu weitläufigen Erklärungen; der Hans Olsen und die Frau hatten inzwischen auch das Lager auf ihrem westlichen Landstück entdeckt und waren im Begriff, zu Tönset‘n zu gehen, der ja Englisch reden konnte, um mit ihm das Volk drüben aufzusuchen. – Der Per Hansen überlegte noch. Aber dann fiel sein Blick auf Sörines Gesicht, und er sah, wie gut und verständig das war, und da erzählte er ohne Umschweif alles, was ihm und Tönset‘n gestern abend begegnet war.
»Und jetzt, Sörrina, sei so gescheit, daß du schweigst,« setzte er frisch hinzu. »Die Beret weiß von nichts, und die Kjersti auch nicht, und es ist unnötig, Leut zu erschrecken, die ohnehin furchtsam genug sind, – nicht jedoch, als ob von dem hier viel Aufhebens zu machen sei. Ich bin überzeugt, daß wir sie im guten fortbekommen, wenn wir ihnen unsre Papiere vorzeigen. – – Jetzt müssen wir uns aber beeilen! Vergiß deine Papiere nicht, Hans Olsen!«
Nun konnte sich aber der Hans Olsen in einer solchen Sachlage unmöglich beeilen; er mußte erst fragen und immer wieder fragen. – Fakta seien nun einmal Fakta, und hier lägen sie klar genug. Er selber habe auf dem Landkontor gestanden; Tönset‘n habe akkurat auf diesen Quart hier gezeigt und an seiner Statt gefragt, ob er den nehmen dürfe. Und es sei dem nichts im Wege gewesen, auch nicht das geringste. Das stehe hier auf dem Papier zu lesen; und er sei auch schnurstracks hinausgezogen und habe alles getan, was das Gesetz vorschreibt. Sei hier also etwas verkehrt, so habe die Obrigkeit das zu ordnen, – doch verkehrt könne hier eben nichts sein!
»O weißt du,« erwiderte der Per Hansen ruhig, »die Obrigkeit, die ist gewiß am Platz, kein Mensch zweifelt an ihr! Aber – sie ist heut bloß gar so weit weg – ja, das ist der Haken.« —
»Die beabsichtigen doch wohl nicht, uns von hier zu verjagen?« fragte der Hans Olsen erstaunt; der gewaltige Körper straffte sich, ohne sich dessen bewußt zu sein.
»Wenn ich sie recht verstanden habe, so haben sie so etwas allerdings vor. – Und jetzt müssen wir schleunigst hin und ihnen unser Anrecht schwarz auf weiß zeigen.« Der Per Hansen warf der Frau einen Blick zu.
»Nein, das ist doch wohl nicht möglich! – Sind es – sind es viele?«
»Ich zählte zwölf Männer und vier Weiber, mehr, glaube ich, sind es nicht.« Über Per Hansens Gesicht kroch ein winziges Lächeln.
Der Hans Olsen saß mit der zusammengefalteten Urkunde in der Hand, breitete sie nochmals aus und besah sie. Das meiste darauf konnte er zwar nicht lesen, aber das wichtigste zwang er: das Datum, die Landzuweisung, die Unterschrift der Regierung sowie seine eigene. Alles stand da recht und richtig; bisher hatte er die Seite des Vertrages, die sich auf ihn bezog, erfüllt, wie das Gesetz es gebot. – Er reichte dem Per Hansen das Papier und sagte ernst und unerschütterlich: »Kannst du etwas Verkehrtes daran entdecken?«
In dem Per Hansen regte sich jetzt doch die Ungeduld; hier saßen sie und saßen sie und vertrödelten die Zeit und erreichten nichts; er lachte, und es klang hart:
»Nein, siehst du, mit dir ist wohl alles recht und richtig; mit den Burschen aber, die sich auf dem westlichen Teil deines Quarts niedergelassen haben, mit denen ist es verkehrt!«
»Sehen sie aus wie friedliches Volk?« fragte die Sörine.
»O freilich, ‚s sind ja Weiberleut dabei!«
»Ja, da müssen wir vielleicht wohl doch am Ende hin und mit ihnen reden?« fragte der Hans Olsen langsam und bedächtig.
»Ja freilich, das müssen wir! – steck du nur die Urkunde in die Tasche, und dann wollen wir machen, daß wir weiterkommen!«
X
Tönset‘n und die Solumbuben warteten bereits auf sie. Gleich darauf kam‘s an den Tag, daß Tönset‘n seinem Eheweibe gestern abend sofort bei der Heimkunft alles brühwarm anvertraut und demzufolge keines von beiden in der letzten Nacht Schlaf gekostet hatte.
– Tönset‘n zappelte vor Ungeduld und wollte sogleich aufbrechen.
»Nein, das geht nicht an,« sagte der Per Hansen fest; »wir können doch nicht so Hals über Kopf loslegen. – Wie wollen wir uns denn bei ihnen verhalten?«
»Wegbekommen müssen wir sie!« fuchtelte Tönset‘n aufgeregt.
»Akkurat! – die Frage ist bloß, auf welche Art?«
»Wir müssen halt versuchen, sie davon zu überzeugen, daß wir hier zufolge Gesetz und Recht wohnen,« meinte der Hans Olsen sanftmütig.
»Freilich!« fiel ihm der Per Hansen übergeschwind ins Wort. »Hast du dein Papier bereit, Syvert?«
Nein, das hatte Tönset‘n nicht; er habe ja zwar auch daran gedacht, es vielleicht mitzunehmen; sei es aber am Ende nicht doch gar zu riskant? »Sie könnten‘s mir vielleicht wegnehmen, und dann stände ich schön da!«
Da aber trat der Per Hansen mündig auf. »Jetzt holst du sogleich das Papier, Syvert, damit wir endlich von der Stelle kommen! – – Wollen schon aufpassen, daß dich niemand antastet!«
Und dann gingen sie.
Unterwegs erklärte der Per Hansen ihnen noch einmal, wie sie es angreifen wollten: Der Henry und Tönset‘n sollten die Sprecher sein, der Sam Dolmetscher. Und der Sam sollte richtig und vor allem schnell übersetzen. »Ich glaube, es ist das beste, daß der Henry anfängt, dann setzest du fort, Syvert, wenn du hörst, daß es dessen bedarf. Red‘ aber bloß nicht zu fix, Syvert! – Du weißt, du gerätst so leicht außer Atem, und wir haben ja den ganzen, langen Tag vor uns!« —
Tönset‘n war überaus unzufrieden mit Per Hansens Plan, vermochte sich jedoch nicht zu Einwänden zu bequemen – es war ohnehin alles mitsamt so verkehrt, daß es schlimmer kaum werden konnte. Die Fremden schienen nicht verschlafen zu haben; trotz der frühen Morgenstunde waren alle bereits in voller Tätigkeit, als die fünf Männer zum Lager kamen. Zwei von den Wagen waren abgeladen, einige von den Männern machten sich an den andern Wagen zu schaffen, andere waren dabei, ein großes Zelt aufzustellen.
Der Per Hansen und der Henry gingen voran, dann kamen der Hans Olsen und der Sam; Tönset‘n hatte anfangs mit den Vorangehenden Schritt gehalten, ging jetzt aber hinterher. —
»Hö-hö! Die wollen sich hier fest niederlassen, sieht‘s aus,« sagte der Per Hansen zu den Kameraden. »Jetzt bitte sie zuerst, uns ihre Papiere vorzuweisen, Henry, sodann die Merkzeichen – bestehe auf den Merkzeichen! Sprich anfangs nett zu ihnen, – – es macht auch nichts, siehst du, wenn du mit ihnen Possen treibst! Werden sie grob, so spaßest du bloß mit ihnen!«
Die fünf Männer grüßten im Herankommen; sie bekamen gleichgültig Bescheid; die Fremden schienen kein Mitteilungsbedürfnis zu haben und ließen sich nicht stören.
Was sie hier vorhätten, fragte der Henry. Dieser Quart sei seit langem schon in Besitz genommen.
So, das sei er also? Zwei von denen beim Zelt hielten inne und antworteten.
Ja; der Mann, dem der Quart gehöre, stehe hier neben ihm. – Der Henry wies auf den Hans Olsen. Der Mann habe seine Papiere mit, und jetzt sollten auch die Fremden ihre Papiere vorzeigen. Wenn das Landkontor zwei verschiedenen Personen dasselbe Landstück zugewiesen hätte, dann liege wohl ein Fehler vor, und es müsse möglich sein, ihn herauszufinden.
So, sie wollten also die Papiere sehen? Hatten sie aber auch Brillen mit ? – Ein schallendes Gelächter der andern begleitete diese Frage; der Spaßvogel lachte nicht gerade, er hielt den Kopf schief, und das Gesicht, war eine einzige höhnische Grimasse.
Der Sam übersetzte so gut und schnell er konnte.
Ja, meinte der Henry, und sein Ton wurde immer fester und entschiedener, sie seien gekommen, um sowohl Papiere als auch Eigentumszeichen zu sehen. In Sioux Falls sei eine Obrigkeit, wenn es einer solchen bedürfe. Sie hätten jetzt hier den ganzen Sommer gewohnt und dächten auch gar nicht daran fortzuziehen!
Der Per Hansen merkte an Henrys Tonfall, daß der jetzt seine Sache gut mache. »Recht so, Henry, gib‘s ihnen ordentlich!«
Der Grinsende warf den Vorhammer fort und kam herzu: »Allright, boys! Da die uns nicht auf unser Wort glauben, müssen wir‘s ihnen wohl schwarz auf weiß zeigen.« Die Papiere hätten sie zwar verschlossen und könnten gerad im Augenblick nicht gut heran, – das müsse auf später verschoben werden; jedoch die Eigentumszeichen wolle er ihnen zeigen. Aber sputen müßten sie sich; sie hätten hier viel zu tun, wollten noch pflügen und bauen, ehe der Schnee fiel!
Der Fremde begann, nach Westen zu gehen. Der Per Hansen war ihm dicht auf den Fersen; er ließ einen tiefsinnigen Seufzer gen Himmel steigen, daß das Gras sich inzwischen wieder hübsch aufgerichtet haben möge!
Der Mann schien wegen des Weges nicht im Zweifel zu sein. Als sie sich dem fraglichen Orte näherten, verlangsamte er seine Schritte und schob das Gras mit dem Fuß zur Seite. Der Per Hansen sah die bewußte Stelle zuerst, und beinahe hätte er sich vergessen und laut losgelacht. Ach ja, des Herrgotts Sonne und Regen hatten, seit er zuletzt hier gewesen, getan, was sie hatten tun sollen: auch nicht ein einziger geknickter Halm war zu entdecken! Übrigens irrte sich jetzt der Mann, auch ging zu weit nach Norden und zu weit nach Westen, ehe er hinkniete und sich umsah. – Er suchte und suchte die Kreuz und die Quer, anfänglich geschwind, als sei es die einfachste Sache von der Welt, das Merkzeichen zu finden; dann immer langsamer und vorsichtiger. – Jetzt fluchte er auch noch dazu greulich. So viel Englisch verstand der Per Hansen immerhin; kein Wunder übrigens, daß ein Mann sich unter sotanen Verhältnissen unbeherrscht äußerte!
Der Ire rief ein paar der andern zu sich heran. Ein kleiner Mann mit gelbrotem Haar und einem Gesicht so sommersprossig wie ein Heidehügel im Herbst kam aus dem Lager herüber. Und jetzt begannen die beiden leise miteinander zu verhandeln; sie warfen dem Hans Olsen einen Blick zu, kreuzten die ganze Linie ab, fanden aber nichts.
Der Hans Olsen verfolgte die Dinge, so gut er konnte. Das große, grobknochige Gesicht mit den kantigen Zügen, das sonst die fleischgewordene Ehrlichkeit in Person vorstellte, war jetzt sonderbar zu beobachten. Er sah die beiden Männer dort hin– und herlaufen, eifrig damit beschäftigt, zu beweisen, daß er ein Schurke sei, hörte aus Sams Übersetzung, mit welch freundlichen Bezeichnungen sie ihn bedachten, und hinter den schweren Zügen zeigte sich ein Erwachen; die großen Kinderaugen blickten erstaunt und hell, es schimmerte in ihnen; er bebte unbewußt.
Plötzlich gaben die beiden ihr Suchen auf, wechselten einige Worte miteinander und gingen, ohne einen Muck zu sagen, zum Lager zurück. Die fünfe folgten hinterher.
»Haben die nicht besseres Glück mit den Papieren,« meinte der Per Hansen, »dann steht‘s für sie nicht gut!«
Als die fünf zum Lager kamen, standen alle zwölf Mann in aufgeregter Unterredung dichtgeschart beisammen. Die Frauen waren nicht zu erblicken. Ein kräftig gebauter, stattlicher Mann löste sich aus dem Haufen; es schien der Führer zu sein. »Jetzt mußt du weiß Gott brav übersetzen!« flüsterte der Per Hansen dem Sam zu. – Aus den Mienen der Männer war leicht zu lesen, daß sich hier etwas zusammenbraue. Der Große hatte den Vorhammer in der Hand, auch das merkte sich der Per Hansen.
»Wo ist der, der behauptet, diesen Quart rechtmäßig zu besitzen?« höhnte der Mann.
»Diese beiden hier!« Der Henry zeigte auf Tönset‘n und den Hans Olsen.
»Hat der Kerl denn nicht selber ein Maul, daß er den Schlund nicht aufmacht?« Der Ire sah aus, als wolle er den Henry verschlucken.
O, der sei allright; nur gerade Englisch könne er nicht schwätzen.
Der Sam übersetzte ständig so gut es ging.
Well, er möge ihn grüßen und ihm sagen, er sei ein Lump und ein Dieb, der eines Fremden Eigentumsmarke zerstört habe —!
Der Sam übersetzte leise und furchtsam.
Der Ire trat näher: Und wenn er und die andern sich jetzt nicht bald packten, und zwar schneller als üblich, so wolle er ihnen Eile beibringen!
Der Mann kam jetzt mit dem Hammer fuchtelnd dicht heran.
»Obacht!« rief der Per Hansen. »Jetzt donnert‘s gleich!«
Und das tat es auch wirklich, nur daß es um vieles schneller eintraf, als sie vorausberechnet hatten. Als nämlich der Hans Olsen den Mann so auf sich loskommen sah, stierte er ihn an; plötzlich hob sich der mächtige Oberkörper, er tat einen Schritt zur Seite, als wolle er ausweichen, und dann fuhr die linke Faust heraus und dem Mann hinters Ohr. Da krachte etwas und zerbrach; mit einem wüsten Brüllen sank der Mann zu einem Haufen zusammen.
»Jetzt aufgepaßt, Henry,« sagte der Per Hansen leise. »Nimm du jetzt deinen aufs Korn, dann werd‘ ich meinen schon kriegen! – – Halt! Wart ein wenig!«
Der Menschenknäuel vor einem der leeren Wagen schien ratlos zu sein. Der Hans Olsen starrte sie an, tat einen Schritt vor und stolperte über den Klumpen Mensch vor seinen Füßen. Als er wieder im Gleichgewicht war, hielt er inne, bückte sich, faßte mit beiden Fäusten in den Klumpen und warf den quer über die Köpfe der Männer auf den dahinter stehenden Wagen, – der wackelte bedrohlich unter der Wucht des fallenden Körpers. – – Und jetzt löste sich das Knäuel und nahm Reißaus über die Prärie.
Der Hans Olsen bebte. Er schien nicht bei klarem Bewußtsein zu sein.
Jetzt aber lief der Per Hansen zu ihm hin und klopfte ihn auf die Schulter: »Das sage ich, Hans Olsen, und das hab ich immer gesagt: Deinesgleichen gibt es nicht! – – Jetzt meine ich, gehen wir heim, – die Leut dort wollen kaum noch mit uns über unsere Quarte rechten!«
Hans Olsen kam wieder zur Besinnung; er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, seufzte schwer wie einer, der einen Anfall überwunden hat.
»Ich verfuhr gewiß ein wenig hart mit ihm; – es wäre das beste, du sähest einmal nach ihm, Per Hansen!«
Da lachte der Per Hansen. »Nein,« sagte er vergnügt, »hört jetzt einmal auf mich! Jetzt gehen wir gerad alle miteinander heim. Wenn der Tag etwas weiter vorgeschritten ist, werde ich gern bei denen nachschauen!« Und dabei blieb‘s. —
Tönset‘n ließ sich nirgends blicken; er war schon lange weggerannt.
Im Laufe des Nachmittags ging der Per Hansen zu den Iren, um zu hören, ob sie der Hilfe bedurften; den Großen-Hans hatte er als Dolmetscher mit. Da war das ganze Lager auf die beiden Quarte gezogen, die westlich an Tönset‘n und den Hans Olsen angrenzten.
Und der Per Hansen besuchte die Iren noch öfter. Ehe der dritte Tag um war, hatte er für über zehn Dollar an sie verkauft.
Die Iren siedelten sich im Westen an. Die jetzt gekommen waren, fuhren bald darauf wieder nach Osten zurück, um dem Herbstschnee zu entgehen; zeitig im nächsten Frühjahr kamen sie wieder und brachten viele Landsleute mit.
XI
An dem Morgen, da die Männer auszogen, um mit den Iren zu verhandeln, blieb die Kjersti allein in der Gamme und fühlte sich gar so schwer und unpäßlich, sowohl im Körper wie im Gemüt. Wenig Schlaf hatte sie des Nachts gefunden; denn der Syvert hatte sich gedreht und gewendet und immer wieder auf und ab dasselbe erzählt, – fürchterliche Menschen seien da gekommen, er und der Hans Olsen müßten jetzt beide noch einmal von vorne anfangen. – Vielleicht, daß sie am besten wieder nach dem Osten zurückzögen?
Schließlich aber da war er ihr mit seinem Wehgeklage zuwider geworden, und das hatte sie ihm auch gesagt. Vorläufig habe doch noch keiner Leib und Leben dabei zugesetzt, ihre Papiere seien in Ordnung, Gesetz und Obrigkeit im Lande, und fünf gesunde Mannsleut liefen hier herum – ja, jedenfalls also viere!
Alles das und noch mehr dazu hatte sie dem Syvert gesagt. Und es war gar nicht einmal so bös gemeint gewesen. Aber er war darüber gar so zornig geworden, hatte sie beschuldigt, weder Witz noch Verstand zu besitzen, und so war denn ein Wort zum anderen gekommen. Als das Unwetter zwischen ihnen sich endlich besänftigt hatte, da befand sich jeder innerlich auf der entgegengesetzten Seite des Erdballs, obwohl sie äußerlich Seite an Seite in demselben Bette lagen.
Es war ihr einsam, als die Männer am Morgen gegangen waren; der Kaffeekessel stand auf dem Herd, sie legte ein paar Holzscheite unter, – er mochte wohl einen Schluck, wenn er zurückkam. Und dann setzte sie sich seinen alten Hut auf und ging zur Beret hinüber, um zu hören, was denn der Per Hansen gesagt habe, als er gestern abend heimgekommen war.
Dort erhielt sie nicht gerade ausgiebigen Bescheid.
Sie erzählte zunächst einmal das meiste von dem, was Tönset‘n berichtet; habe sich der Per Hansen denn gar nicht darüber ausgelassen?
Beide Buben verspeisten ihr Frühmahl, die Beret kleidete beim Herd das Kind an; sie antwortete nicht sogleich, wurde rot und sah nicht auf.
Aber der Ole machte sich lachend sofort daran, die Flausen des Vaters vom Abend zuvor haarklein zu wiederholen; der Große-Hans aber wußte noch genauere Auskunft zu geben, und die Buben erzählten in heller Begeisterung, so daß die Kjersti sich bekreuzigte.
Die Mutter hörte es eine Weile mit an; sie vermochte nicht einzuschreiten – ein Gedanke verscheuchte alle andern; er hatte anderer Leute Wohnmarken zerstört und wollte sie jetzt vertreiben! – Herr im Himmel – war so etwas möglich?
Aber jetzt wurden ihr die Buben zu unbändig, sie lachten so gellend und brauchten häßliche Ausdrücke. So geht es, dachte sie; die Saat, die im Verborgenen gesät wird, offenbart sich am Licht des Tages. – – Sie erhob sich mit dem Kind auf dem Arm, kam zum Tisch und wies die Buben mit strengen und ernsten Worten zurecht.
Die Kjersti bedurfte des Trostes und sagte deshalb selbst: »Du weißt doch wohl, daß zum Klagen kein Grund ist, – wir haben das Land rechtmäßig zugesprochen erhalten, und wir waren die ersten!«
»Und Per Hansens Land?« fragte die Beret.
»Das beanspruchen sie nach dem, was der Syvert sagt, überhaupt gar nicht – und auch das ist merkwürdig!«
»Es ist dabei wohl kaum etwas zu machen,« sagte die Beret leise; »es ist schwer zu wissen, wer sich hier draußen getummelt hat, ehe daß wir kamen – es können ihrer viele gewesen sein.«
Eine so unverständige Rede erzürnte die Kjersti: »Das müssen doch wohl die wissen, die angestellt sind, das alles zu ordnen, meine ich! – Wäre nicht der Syvert so ein Piephähnlein, so liefe er stracks zum Sheriff, – – für so etwas kommt man in Amerika ins Staatsgefängnis!«
Die Beret schwieg eine Weile, neigte sich über das Kind mit feuerrotem Gesicht. Dann aber sagte sie leise: »Die Strafe verdienen, bekommen sie wohl!« Kaum hatte sie es gesagt, setzte sie das Kind hin, ging hinaus und sah nach Westen über die Prärie. So fand sie die Kjersti, als sie herauskam.
»Dort kommen sie jetzt, sehe ich!« äußerte die Beret.
Und da mußte die Kjersti sich schleunigst heimbegeben, um dem Syvert das Frühmahl zu richten. —
Die Iren bildeten lange Zeit das Tagesgespräch der kleinen Siedlung.
Jedesmal, wenn die Rede auf sie kam, verstummte die Beret; sie hatte keinen Teil an der Freude der andern; denn es waren Tatsachen damit verknüpft, die sie nicht verwinden konnte: Er hatte die Merkzeichen zerstört und, seltsam genug: er erwähnte es vor niemandem, – nicht einmal vor ihr!
O nein, er schämte sich wohl. – Wohl waren die Merkzeichen dort auf ungesetzliche Weise eingerammt worden; aber gesetzt, es hätte sich anders verhalten, – würde er dann nicht akkurat ebenso gehandelt haben? – – War das der Mensch, von dem sie einst überzeugt gewesen, es gebe in ihm nichts Böses? – War er vielleicht schon früher so gewesen?
Aber es verhielt sich wohl so: Diese Einöde konnte nur Böses hervorrufen. Hier lag Land über Tausende von Meilen derselben Güte wie das ihre; und diese Menschen hatten ihnen entreißen wollen, was sie bereits in Besitz genommen hatten, und gemeint, das ginge an, bloß, weil sie die stärkeren waren; – ihre, Berets, eigene Leute hatten Ränke und Gewalt angewendet, um sie zu vertreiben, und jetzt sollte alles miteinander sehr gut sein!
Was sollte aus den Kindern werden, wenn die in dieser Luft aufwuchsen? – Und aus deren Kindern wieder? – Sie hatte gesehen, wie die Buben in den Berichten von dem, was geschehen, geradezu geschwelgt hatten, und es überlief sie kalt. —
An einem Nachmittag, ein paar Tage nach jenem Auftritt, kamen die Iren zum Per Hansen und kauften Kartoffeln. Sie hielten sich eine ganze Weile auf, fragten nach diesem und jenem, was die Buben, so gut sie konnten, dem Vater dolmetschten, und der Per Hansen fand, das sei vortreffliches Volk.
Bei Tönset‘ns und Hans Olsens hatte man die Iren kommen und gehen sehen, und am Abend kam man, um zu hören, wie sie sich aufgeführt hätten.
»Die nettesten Kerle der Welt!« versicherte der Per Hansen; er ging auf und ab und war so froh, daß er dem auf irgendeine Weise Luft schaffen mußte. Kaum hatte er sich gesetzt, so sprang er schon wieder auf; sein Humor hatte etwas Ansteckendes; Tönset‘n wieherte unaufhörlich, und die Kjersti und die Sörine, die jede mit ihrem Strickzeug auf dem einen Bett saßen, ließen die Arbeit sinken und lachten schallend über Tönset‘n und ihn. Die Beret hatte gerade das Kind hingelegt und saß auf dessen Bettrand; beide Buben horchten wie gebannt auf das Geplauder der Erwachsenen.
An dem Abend erzählte der Per Hansen von den Grenzzeichen, wie er sie gefunden, was er sich gedacht und dann mit ihnen getan hätte. Er erzählte laut und fröhlich, und es klang wie ein Märchen, und es wurde an Lob über seine kluge Handlungsweise nicht gespart. Besonders Tönset‘n strömte über vor Begeisterung – – nein solch ein guter und getreuer Nachbar!
»Das muß ich sagen,« meinte der Hans Olsen, »hierbei setztest du alles auf eine Karte; – es war wohl Gottes Fügung, daß du‘s verschwiegst; denn hätten die mir ihren Grenzpflock auf meinem Lande vorzeigen können, dann bauten wir wohl jetzt an neuen Gammen weiter nach Westen, und die Arbeit dieses Sommers genössen dann andere – ich sage dir Dank, Per Hansen!«
Die Beret hörte den Per Hansen erzählen und mußte ihn immer dabei ansehen; denn das war er ja doch gar nicht! Sie dachte daran, wie er jenen Morgen mit den Pflöcken heimgekommen, sie zerspalten und in den Ofen gesteckt hatte, und wie er in jener Zeit nicht in die Hand zu nehmen gewesen war, – der hier war ein anderer Mensch!
So weit war es mit ihm gekommen, daß er sich seiner eigenen Schändlichkeit nicht schämte, – und achtbare Menschen teilten seine Freude! Ihr verging der Atem, und sie stand auf. Ohne zu wissen, was sie tat, sagte sie: »Dort, wo wir herkommen, ist es allezeit als entsetzliche Sünde angesehen worden, anderer Leute Wohnmarken zu zerstören, – jetzt höre ich, daß man sich darüber auch freuen kann!«
Die andern verstummten nach ihrem Ausfall, nur nicht der Per Hansen. Er griff ausgelassen nach ihr und lachte: »Red nicht darüber, du Beret! Böses muß mit Bösem vertrieben werden – das ist gute Scheuerregel!«
»Das verstehe ich wohl, obgleich es schlechtes Christentum ist, dem nachzuleben. – Du warst an jenem Abend, als du am Hackblock die Merkzeichen zerspaltetest, keineswegs so sicher, wie es sich verhielt, – ich meine, wir müssen uns vorsehen, daß wir nicht alle miteinander hier draußen zu Tieren werden.«
Der Per Hansen lachte ganz unnötig ausgelassen, hielt dann plötzlich inne und sagte: »Ehe wir‘s uns versehen, Alte, wird noch aus dir ein Prädikant!«
Sie antwortete nicht, sondern ging hinaus; es war dunkel, und sie wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Auf der Hofreite wäre sie fast über den Pflug gefallen, und sie setzte sich auf den Pflugbaum. – Und wie sie hier saß, dämpfte sich der Aufruhr in ihrem Herzen, und tiefe Trübsal kam statt dessen zurück; hier saß sie noch lange, nachdem die anderen gegangen waren; – er kam nicht heraus, nach ihr zu sehen. Als sie hineinkam, hatte er sich gelegt; ob er schlief, konnte sie nicht sagen, aber sie sprach ihn nicht an, – die Buben lagen auch bereits.
In den nächsten Tagen fielen die Worte keineswegs leicht zwischen dem Per Hansen und seiner Frau.
Vor der großen Öde
I
Anfang Oktober traf für die Neusiedler westlich vom Spring Creek eine große Begebenheit ein. Sie war das größte Geschehnis des Jahres und sie wußte ihre Zeit zu wählen.
Mittag war soeben vorüber. Morgens waren der Per Hansen, der Hans Olsen und der Henry Solum in den Wald östlich am Sioux River nach Brennholz gefahren. Tönset‘n war so von der Gicht geplagt gewesen, daß er sich zum Mitfahren nicht hatte entschließen können.
Die Beret saß daheim am Fenster und strickte an etwas Rundem, was so winzig war, daß der Große-Hans hatte fragen müssen, ob das ein neuer Daumen für des Vaters große Fäustlinge sei. Die Mutter hatte zu der Frage so eigen gelächelt und gemeint, ja vielleicht sei es das. – —
Die Beret war ernster geworden, seit es zu herbsteln begann, wortkarger und verschlossener; sie trug an einer Schwermut, die sie, so gut sie konnte, vor dem Manne zu verbergen suchte. Jetzt klapperten die Stricknadeln gleichförmig und taktmäßig; aber der Sinn war nicht mit bei der Arbeit; sie warf nur dann einen Blick auf das Strickzeug, wenn eine neue Nadel begann. Ihre Augen schweiften hinaus, irrten über dem Teil der Widde, der sich ihnen bot, hin und her. Das Gesicht wies den müden, erschöpften Ausdruck auf, den es jetzt immer trug, wenn sie allein war. Es lag eine Traurigkeit darauf, die so tief war, daß die ganze Gestalt davon etwas Geisterhaftes erhielt. – —
Runde fügte sich an Runde. Der Blick wanderte.
Aber jetzt fanden sie etwas, woran sie sich heften konnten. Das Strickzeug sank in den Schoß; die Beret blickte scharf hin. In ihren Trübsinn mischte sich tiefstes Mitleid, wie bei einem, der gern sein Leben hingäbe, um ein anderes aus der Not zu befreien.
Waren in dem dort herannahenden Zuge viele Menschen? Sie beugte sich vor und versuchte zu zählen. – Nein, sie kam zu keinem Ergebnis. – Der Zug hatte sich jetzt vom Himmelsrand gelöst und war bereits mitten in der grünblauen Stille zwischen dem und ihr.
Da waren also wieder welche auf Irrspur geraten? – —
Die armen Leute, – die armen Leute!
Der Gedanke durchfuhr sie, daß sie etwas unternehmen müsse, um diese Menschen zu retten; ihnen entgegengehen, um sie zur Umkehr zu bewegen, ja, zur Umkehr, ehe sie sich noch weiter in das Unsägliche verloren.
Sie legte das Strickzeug auf den Tisch, ging hinaus, blieb vor der Tür stehen und schaute aus. – Waren es nicht fünf Wagen? Dann waren wohl viele Menschen dabei?
»Du großer Gott, zeig jetzt dein Erbarmen mit den Menschen!« seufzte sie. »Laß nicht alle diese in der Wildnis umkommen! Du weißt es doch, nur ich habe mich so schlimm gegen dich versündigt!« —
Der Ole war mit dem Vater zum Wald, der Große-Hans kam soeben vom Bach heraufgeritten, wo er den Pony getränkt hatte; er sah die Mutter vor der Türe und ritt zu ihr hin.
»Was willst du, Mutter?«
Seine Frage weckte sie, sie fing an zu gehen, hielt aber gleich wieder inne. – Was nützte es, daß sie ging? Das waren ja doch nicht Leute, mit denen sie hätte reden können! – Das Gefühl unendlicher Verlassenheit befiel sie. Ließ sich etwas so Entsetzliches ermessen: sie war mitten in die Unendlichkeit hinein gebannt; ein seltenes Mal geschah es, daß menschliche Wesen vorbeizogen, und dann konnte sie nicht einmal mit ihnen reden!
– – Konnte der Herrgott wirklich einen Menschen so schwer schlagen ?
– Die Beret preßte die Hand an die Brust.
»Was willst du, Mutter?«
»Reite – reite ihnen entgegen, und sieh zu, – ob du ihnen auf irgendeine Weise behilflich sein kannst!«
Bebendes Leben fuhr in den Buben, er riß den Gaul herum, folgte dem Blick der Mutter und hatte sofort den Zug aufgefangen.
»Wir müssen sofort den Syvert benachrichtigen!« Der Große-Hans sah zur Mutter zurück, um sich ihrer Meinung zu vergewissern.
»Den Syvert?« – Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. Was für Hilfe konnte wohl der Syvert diesen Menschen in der Not, in der die jetzt steckten, angedeihen lassen! Sie seufzte vor Ratlosigkeit. »O nein, reite du ihnen entgegen und biete ihnen deine Hilfe an. Und sage ihnen, dein Vater sei nicht daheim.«
Der Große-Hans entsann sich nicht, die Mutter schon je so verständig haben raten zu hören; er reckte sich im Sattel, saß wie ein erwachsener Mann; dann redete er dem Pony gut zu, klopfte ihm den Hals und rief: »Jetzt reite ich, Mutter! – Geh du zum Syvert und erzähle es ihm!« —
Andere Augen schienen den Horizont gleichfalls abgesucht zu haben. Da kam der Sam herzugelaufen, um die Neuigkeit zu überbringen, blieb gerade so lange, als zum Berichten nötig war und lief sogleich zu Tönset‘n weiter. – Die Beret ging hinein, weckte das schlummernde Gössel, nahm es auf den Arm; und dann ging es zur Sörine hinüber; denn die mußte doch auch unterrichtet werden. – Wie gut war es jetzt doch, daß der Per nicht daheim war!
II
Bald darauf sahen sie alle vor Tönset‘ns Gamme erwartungsvoll dem nahenden Zuge entgegen. Jetzt war bereits jeder Wagen zu erkennen; der Große-Hans ritt neben dem vordersten.
Tönset‘n schwaderte und zappelte hin und her und ließ vor Aufregung nicht einmal die Hände im Hosengurt. – Herrjemine, dachte er, kommen da etwa noch mehr Iren? – Und der Hans Olsen so weit weg am Sioux! Ja, das sah vielversprechend aus!
Aber da kam der Große-Hans angeritten und berichtete so Merkwürdiges, daß sie alle vor Staunen verstummten.
»Norweger!« rief er ihnen schon von weitem zu. »Norweger!«
»Nein, was du nicht sagst!« brüllte Tönset‘n los.
»Jawohl, allesamt Norweger, denke dir! Und gleich einen ganzen Krug voll davon, – die wollen her und reden norwegisch allesamt.«
»Bist nicht recht gescheit!« rief Tönset‘n zurück.
Und jetzt kam‘s ihm selber echt norwegisch, und er kommandierte die Kjersti an den Kaffeekessel und die anderen Weiber ihr zu Hilfe. »Hört ihr denn nicht, was der Große-Hans sagt, Norweger sind es! So braves Volk müssen wir nach alter Väter Sitte bewirten!«
Er tat wie der Patriarch der alten Zeit und nahm den Sam mit: er schritt den Fremden entgegen und lud sie ein, unter sein geringes Dach zu treten.
Ja, das war freilich ein Ereignis! Der Zug bestand aus fünf Wagen und ebenso vielen Gespannen Pferde. Und gute Pferde waren es – Tönset‘n konnte das sehen; es waren im ganzen zwanzig Mann und nur Leute aus Sogn und Voss. Leute von Sognefjord und der Gegend um Voss, also aus dem norwegischen ›Westland‹. Die meisten waren verheiratet; einige hatten große Familien im Osten von Minnesota. Alle waren auf der Suche nach Siedelland für sich und die Ihren; sie wollten diesen Herbst wieder nach dem Osten zurück, doch zum Frühjahr im Westen seßhaft werden. In Sioux Falls hatten sie auf dem Landzuweisungsbüro angefragt, ob hier draußen irgendwo ein Settlement sei, und jetzt wollten sie halt hereinschauen und sich die Stelle ansehen. Im übrigen gedächten sie mehr nach Südwest zu ziehen, etwa zum James River.
Die Westfahrer waren herzlich froh, hier in der blauen Ferne auf Erdhütten mit Norweger Volk zu stoßen und auf diesen gesprächigen Mann, der hin und her trippelte und ihnen auf alle Art behilflich sein wollte.
Sie lagerten sich auf Tönset‘ns Hofreite. Als er aber sah, wie viele ihrer waren, unterließ er‘s, den Kaffee noch einmal zu erwähnen. Dafür kam er mit Kartoffeln und Gemüse, und die Abendmilch teilte er brüderlich mit ihnen. Und draußen nächtigen sollten sie auch nicht. »Noch schöner!« rief er, »wenn sie zu Norwegern kämen, die sich soeben Hütten errichtet!« —
Und am Abend krabbelten die Kjersti und er zunächst ins Bett und dann wurde den Gästen der Fußboden überlassen, soweit er reichte; und was noch übrig war, legte sich in den Stall.
Tönset‘n schlief in dieser Nacht nicht allzuviel. Das schlimmste war, daß er sich mit der Kjersti nicht beraten konnte, wo er dessen doch so bitterlich bedurfte. Du schlechte Zeit! Die Verantwortung der ganzen Welt war plötzlich über ihn gestülpt! Ein ganzes großes Settlement von nur Norwegern schlief hier vor seinem Bette. Redliches Volk, vortreffliches Volk allesamt!
– – Jemine! Und der Per Hansen beim Kuckuck in Sioux River! – – Wenn er‘s jetzt deichselte, diese Kerle zu bereden, sich hier niederzulassen, dann war die Zukunft gesichert, sowohl für ihn wie für die Nachbarn, ja, – und da sollt‘ einer sich nur stumm im Bette umdrehen dürfen und schlafen müssen! – Ob er noch heut in der Nacht den Per Hansen holte, der solch gesegnete Gnadengabe hatte, mit Leuten zu reden ? – Aber mit der Kjersti konnte er sich nicht besprechen, und hinaus konnte er halt auch nicht, – da lag schnarchend Mann an Mann vom Bett bis zur Tür. Als die Leute aus Sogn und Voss sich am Morgen erst aus der Stube hinausgewunden hatten, so daß er und die Kjersti aus dem Bette konnten, vermeinte Tönset‘n in der Nacht kein Auge zugetan zu haben; doch eins war ihm klar: er stand vor der bedeutsamsten Stunde seines Lebens.
Er nahm sich nicht einmal recht Zeit zum Frühstück, war ganz in die Unterredung mit den Westfahrern über das Land hier am Spring Creek vertieft. – Ja, sie wollten doch wohl nicht etwa weiter, ohne es besichtigt zu haben! Wie? – Nein, denn das wäre also nämlich ein großer Mißgriff. – Er komme gern mit, um es ihnen zu zeigen; Besseres gebe es nicht, darüber könne er, der hier ortskundig war, wohl ein Urteil haben. – Er sei es nämlich gewesen, der die Stelle entdeckt, sie ausgesucht und auch als erster besiedelt habe. Und er habe doch wohl gewußt, was er tat, als er sich akkurat hier niederließ, – er, der sich zuvor sowohl in Fox River, in Muskego, auf Kaskeland und in ganz Minnesota umgeschaut habe, ja und obendrein auch in großen Strecken von Dakota Territory! – Und Tönset‘n verbreitete sich über seine Fahrt im letzten Herbst. Über das Land um Vermillion wisse er ausnehmend gut Bescheid; Yangton habe er sogar mit eigenen Augen gesehen. – Und hier schmuggelte er ein Flunkerchen ein, das er heute nacht zusammengeschmiedet – es war nicht geradezu wahr, aber es hätte gut wahr sein können; er berichtete nämlich von einem Mann, den er in Yangton getroffen, einen verarmten Schotten, der sich zwei geschlagene Jahre oben beim James River versucht habe. Aber die Indians und die Flöhe seien dort so versessen gewesen, daß er es hätte aufgeben müssen. Alles war dem Manne mißlungen, seine Bäuerin sei ihm verreckt und die Kuh habe der Indian gestohlen! Tönset‘n trug diese Geschichte sozusagen mit begeistertem Mitleid vor.
Die Leute aus Sogn und Voss waren wißbegieriges Volk, das viel zu fragen hatte. Selbstredend wollten sie sich umtun, ehe sie weiterfuhren, – um deswillen waren sie ja ausgezogen.
Sobald sie sich gestärkt, machten sie sich auf. Der Sam tat mit, und der Sam war gar nicht einmal so unbrauchbar beim Reden und Darlegen.
Die Westfahrer besichtigten und fragten und wußten nicht akkurat, was sie meinen sollten. Die Gegend gefalle ihnen und sie gefalle ihnen auch wieder nicht. Der Boden sei gewiß gut; er liege auch hübsch bequem und müsse sich leicht bewirtschaften lassen; aber, huff, wie nackt es hier sei und so endlos für‘s Auge! – Hier sei ja ringsherum nichts als der nackte Himmel! – Müsse häßlich hier sein im Winter, – nicht einmal soviel wie ein Birkengestrüpp zu Schutz und Versteck. – Und womit solle man feuern? Womit bauen? Man könne doch nicht sein Lebelang in Erdgammen wohnen? – Ja, da gab es viele Bedenken und mehr kamen noch hinzu.
Tönset‘n begriff, was auf dem Spiele stand. Er bebte vor Spannung. Er redete an jenem Tage, bis ihm das Kreuz weh tat und er sich setzen mußte. Aber dafür wich er auch vor keinem Einwand, den sie vorbrachten, zurück. – »Wald zu Schutz und Brennwerk?« Und seine Vortragsweise wurde gar so einfach und innig, die Hände durchwühlten die Luft: »Wald? Du lieber Himmel!« Gerade das mit dem Wald sei ja einer der großen Vorzüge! Denn hier könne man nämlich akkurat soviel Wald kriegen, als man haben wolle, – nicht mehr, aber auch keineswegs weniger! Einer der Nachbarn habe diesen Sommer einen halben Acre bepflanzt; jetzt sei er nach mehr gefahren und bringe voraussichtlich noch für einen weiteren halben Acre mit heim; das sei mehr, als der Mann nebst Nachkommen jemals verbrauchen würden. – »Ich will euch sagen, ihr Männer, wenn‘s euch nur um den Wald zu tun ist, so könnt ihr getrost nach Sioux reisen, sobald ihr die Wagen abgeladen habt, und noch diesen Herbst so viel Wald in den Boden pflanzen, daß ihr euch damit bis ins tausendste Glied behelfen könnt! – Ich komme gern mit und bin behilflich, und es soll euch keinen Cent kosten! – Nein, Leute, geradezu dankbar müssen wir sein, daß hier in der Nähe kein Wald ist! Jetzt haben wir in den sechs Wochen seit unserer Ankunft mehr Acker umgelegt, als du im Waldland kaum in ganzen sechs Jahren fertiggebracht hättest. – O nein, lieben Leute, redet mir nicht von Waldland!«
Es strahlte aus Tönset‘n gleichsam eine prophetische Inbrunst, wenn er sich daran gab, die Zukunft vor ihnen auszumalen. Der hellrote Bart wurde feuriger, die Augen leuchteten, die Stimme bebte, die Arme beschrieben Bogen, der ganze Kerl stand in zitternder Erregung. Er erzählte von den Schulen und von der Kirche, die sie gemeinschaftlich bauen wollten; von den Städten, die rings herum aus dem Erdboden hervorwachsen, von den Eisenbahnen, die die Prärie kreuz und quer durchschneiden würden, – gehe die Bahn nicht bereits bis Worthington? Bestimmt komme sie bald bis Sioux Falls! Dann hätten sie bloß noch fünfundzwanzig Meilen bis zur Stadt, – begriffen sie: bloße fünf—und—zwan—zig Meilen! Tönset‘n hackte das Wort in Stücke und wies ihnen jedes Stück einzeln vor. »Wartet nur ab, dann seht ihr‘s selber!« – – Es war, als breite sich die ganze Zukunft kartiert vor Tönset‘n aus.
Und zum Frühjahr kämen andere Norweger nach. Und dann wären sie alles Norweger, nur Norweger unter sich. Ja, dann war das Settlement fertig! – Gesetzt aber den Fall, sie zögen dorthin, wo niemand ansässig war? Denn das sähen sie doch wohl ein, daß ganz Dakota Territory nie bevölkert werden könne, – denn dazu gebe es nämlich einfach gar nicht genug Menschen auf der Welt, und kommen täten die auch nie und nimmer. – – Und gesetzt nun den Fall, daß sie das Pech hätten, sich anzusiedeln, wohin später kein Zuzug kam? – Well?
Die Gäste mußten einräumen, daß an dem, was der Mann da sagte, viel Wahres sei.
Sie kamen erst am späten Nachmittag von der Besichtigung zurück und kochten sich von Tönset‘ns Kartoffeln ein Gericht, das verschlug. Darauf wurde zur Beratung geschritten und die meisten stimmten für Spring Creek, und zwar wollten sie auf dem östlichen Bachufer nach Süden zu siedeln.
Tönset‘n hörte es schmunzelnd. Er lief stracks zu der Kjersti und erzählte es ihr – und der kamen die Freudetränen – und flitzte sogleich wieder hinaus. Er fühlte, daß das Geschick sich diesmal ihn zum Werkzeug erkoren hatte. Hier hatte er auf einen Schlag zwanzig gute Nachbarn eingefangen, noch dazu Norweger jede einzige Schnauz‘!
III
Der Beret graute vor der Stadtreise, die jetzt für den Per bevorstand; denn das bedeutete, daß er vielleicht eine ganze Woche fortblieb. Die Abende waren schon lang, die Nacht lastete schwer auf der Hütte, und es gab so viel, womit sie jetzt rang, – so viel, und immer mehr wurde es. Obwohl sie es nicht über sich gewann, mit ihm davon zu sprechen – weil er doch nicht helfen konnte – war es ihr leichter ums Herz, wenn sie ihn in der Nähe wußte; dann wagte das Entsetzen sich nicht heran. Und war er auch nur für eine Halbtagsschicht bei einem der Nachbarn, so kam bereits die Angst. Und jetzt blieb er vielleicht eine ganze Woche fort! —
Freilich, sie brauchten Vorräte für den Winter, die Kinder Bekleidung, er selbst bedurfte des einen und andern. Aber das alles wurde immer unwirklicher für sie: sie stand wie außerhalb; es ging sie im Grunde nichts an. – Aber davon sagte sie nichts: Herregott, was hätte es wohl genützt?
Sie half ihm bei den Vorbereitungen, als stände nichts Außerordentliches bevor. Fragte er sie, was er für sie oder das Haus einkaufen solle, so konnte sie mit einem abwesenden Gesichtsausdruck grübeln, als suche sie sich an Dinge zu erinnern, die ihr im Augenblick entfallen waren. Dann spaßte er mit ihr, sagte, sie dürfe nicht schüchtern sein, denn die Heller im Hause seien jetzt nicht mehr so rar. Doch er bekam entweder gar keine Antwort, oder sie äußerte sich so teilnahmslos, als ginge es sie nichts an. – Der Per Hansen sah seiner Frau forschend ins Gesicht und seufzte; oder er faßte sie auch um und schwenkte sie rund.
Übrigens war er jetzt anderweitig so beschäftigt, daß ihm an ihr nichts sonderlich auffiel. Diesmal sollte er doch mit auf Fahrt! Tönset‘n hatte ihm Pferde und Wagen angeboten und wollte daheim nach allem sehen. Die Leute aus Sogn und Voss seien noch immer da, die brauchten ihn mit Rat und Tat. – Tönset‘n war für sie Vorsehung und Vater zugleich.
Es gab diesmal für den Per Hansen vorher nicht wenig zu überdenken. Und gar so schlecht mit dem Geld stand es auch nicht. Die Iren hatten die Kartoffeln zu schätzen gewußt und waren gute Kunden gewesen. Und die Leute aus Sogn und Voss waren fast noch mehr hinter den Kartoffeln her; an die hatte er jetzt für über 10 Dollar verkauft. Kurz und gut, wie es auch gekommen sein mochte, jedenfalls hatte er jetzt mehr Cents, als da er im Sommer herkam.
Aber dafür war auch gar nicht abzusehen, was er alles nötig brauchte; er hatte sich eine lange Liste aufgestellt von Gegenständen, die er kaufen mußte, und eine noch längere von solchen, die er kaufen müßte, wofern die Heller reichten.
Er beredete jetzt viel mit den Buben, wenn die Mutter es nicht hörte, was sie alles in seiner Abwesenheit zu besorgen hätten. Der Ole bekam als der ältere die Verantwortung für die Außenwirtschaft; da waren die Ochsen und Indi, der Pony, und ›Buntscheck‹. Und dann das Holz! Er müsse vor allem gut mit dem Holz umgehen. – Der Große-Hans sollte der Mutter im Hause zur Hand sein; und schon für einen großen und tüchtigen Mann sei das ein schwerer Job – das verstehe er wohl?
Die Buben waren über diese Anordnungen keineswegs begeistert. Der Ole hatte sich starken Hoffnungen hingegeben, daß der Vater diesmal ihn mitnehmen werde und war, kaum daß von der Fahrt die Rede gewesen, hinterher, sich auf alle Weise nützlich zu machen. Auch der Große-Hans hatte heimlich erwartet, daß der Vater diesmal zu der Einsicht käme, wie ungemein praktisch es sei, gerade ihn mitzuhaben, der so behende und fix war. Und er und der Bruder hatten sich förmlich um die Aufträge des Vaters gebalgt. Die Enttäuschung war am bittersten für den Großen-Hans. Er sollte die Magd spielen, akkurat wie ‚n Mädel! Er greinte und maulte und er raufte mit dem Bruder, aber es half nichts.
Der Vater hatte jedoch Verständnis; er nahm ihn mit in den Stall und redete lange und vertraulich mit ihm, gerad als wäre er ein alter Mann mit langem Bart am Kinn. »Schau, es ist mit der Mutter jetzt nicht so bestellt, daß wir sie alle beide allein lassen könnten,« erklärte der Vater kameradschaftlich; »wenn du fährst, muß halt ich daheim bleiben.«
Das konnte der Große-Hans doch wirklich nicht begreifen! Fehlte ihr denn etwas? Sie sah doch so gesund und rot aus im Gesicht. Aber vielleicht kam das daher, daß es jetzt kälter wurde?
»Oh, gesund ist sie, Großer-Hans, das ist es nicht, aber – « – der Vater flüsterte so seltsam: – es sei das beste, daß er es dem Bruder verschweige! »Es kommt vielleicht noch ein kleiner Großer-Hans um die Weihnachtszeit dazu, und für dies Stück Arbeit muß die Mutter freilich allein einstehen! – – Und jetzt verstehst du, warum wir sie nicht alle beide allein lassen können!«
Der Große-Hans bekam ganz verwunderte Augen. – Es sollte noch einer dazukommen, – noch einer? Er wagte nicht zu fragen; er hatte das Gesicht abgewandt und fühlte, daß er puterrot war. – – Aber jetzt wußte er mit einmal, was der Traum von neulich Nacht zu bedeuten gehabt. Da hatte er sowohl Joseph wie Benjamin um die Hütte spielen sehen; und dann war da außerdem noch so ein winziges Kerli dabeigewesen, von dem in der biblischen Geschichte nichts gesagt war!
O doch, – doch, er wolle schon auf die Mutter aufpassen! – Aber meine der Vater nicht, daß er in der Stadt eine Schrotflinte auftreiben könne? Als er, der Hans, letztes Mal bei den Sümpfen gewesen, hätten da noch viel, viel mehr Enten genistet. – Und die Iren seien gar nicht weit ab!
Well, der Vater wollte zusehen; er habe sich übrigens eine andere Art ausgedacht, die Enten zu erwischen; aber damit wolle er erst später herausrücken. —
Ja, der Per Hansen hatte zu überlegen! Im Keller lagen mehr Kartoffeln, als sie im Winter verzehren und im Frühjahr zur Saat gebrauchen konnten. Und jetzt sollte er mit Wagen und Pferd zur Stadt. Seltsam mußte es zugehen, wenn dort nicht Menschen wohnten, die Kartoffeln benötigten!
Jetzt war es bereits der zwölfte Oktober. Es gab schon Nachtfröste, und die Kartoffel ist gegen Kälte empfindlich. Freilich: seit der Erschaffung der Welt verstand es der Nordländer, sie wohlbehalten mit sich nach dem Lofot zu führen, und das mitten im Januar!
Der Per Hansen machte Pläne, beobachtete das Wetter, schnupperte und schmeckte an der Luft herum. Am Nachmittag vor der Abreise entschloß er sich: es waren mehr Kartoffeln da, als er verbrauchen konnte; froren die, so froren die, – er wollte es auf alle Fälle versuchen! Damit holte er sich Tönset‘ns Wagen, tat eine dicke Unterschicht Heu hinein, fütterte die Seiten damit, und dann lud er die Kartoffeln auf. Oben drüber packte er zwei Säcke Kohlrüben, einen Sack Möhren und dazu einige der schönsten Melonen, die noch im Keller waren; diese verstaute er zwischen die Säcke, bedeckte alles gründlich, unten mit Heu und drüber mit Decken.
Früh am nächsten Morgen brachen sie auf – er und der Henry Solum und der Hans Olsen.
IV
Die Wagen krochen den lieben langen Tag in satter, schläfriger Herbstsonne und blauer Luft dahin, auf einen fernen Himmelsbogen zu, von dem ein flimmernd gelber Schleier herabhing. Dem Bogen kamen sie den ganzen Tag nicht näher. Als aber der Abend zu blauen begann, schien es doch, als gelangten sie noch einmal ans Ziel.
Für den Per Hansen war es der reine Festtag. Jetzt fuhr er in der Richtung, die er im Sommer, als er herkam, hätte einhalten sollen, durchfuhr jetzt an einem Tag die ganze Strecke, die damals vier Tage beansprucht hatte.
Der Wagenzug las die Richtung vom Himmel ab und legte den Kurs geradeaus.
– – Und jetzt hatte der Per Hansen Muße, sich umzuschauen: Hier war es ausnehmend schön! – – Auch für die anderen, die den Weg schon kannten, gab es viel des Neuen zu sehen, je weiter sie in den gelbblauen Dunst vordrangen: hier, wo im Sommer noch nichts gewesen als die Hügel der Erd-Eichhörnchen, guckte jetzt eine Erdhütte, und dort wieder eine, aus dem Boden hervor.
Sie gedachten an diesem Abend am Split Rock Creek zu rasten. Und wirklich, sie gelangten bis hin und rechneten sich aus, daß sie an dem Tage runde achtunddreißig Meilen zurückgelegt hatten. Vor des Per Hansens schwer befrachteten Wagen hatten sie öfter die Pferde gewechselt, um schneller vorwärts zu kommen.
Sie fanden eine Furt im Fluß, fuhren durch und schlugen ihr Lager am Ostufer auf. Als sie einst den Sioux River überquert hatten – es schien ihnen unendlich lange her zu sein —, da hatten sie so lange Rast gemacht, bis sie sich drei große Hechte gefangen hatten. Auch heute hängte der Per Hansen einen Kessel übers Feuer und kochte zum Abend frische Fische; die Kartoffeln grub er neben den Kessel in die Asche. Und bald saßen sie am Ufer beim köstlichsten Herrenschmaus. Neben ihnen floß mit leisem Plätschern das Wasser und rief so manche Erinnerung wach. – Die Unterhaltung verstummte, als sie satt waren. Sie warfen Holz aufs Feuer, zogen die Pfeifen hervor und hörten jetzt deutlicher, wovon das Wasser murmelte und sang. – – Ein großer Stern am Westhimmel sah ihnen ins Gesicht.
Als die Pfeifen zum zweitenmal ausgeraucht waren, standen sie auf, besorgten die Pferde für die Nacht, lagerten sich unter die Wagen und schliefen, bis der Tag die blaue Wand im Osten zu vergolden begann.
Kaffee wurde gebrüht, Kartoffeln gekocht, von gestern abend war noch genügend kalter Fisch übrig.
Bald saß wieder jeder auf dem humpelnden Wagen und entfernte sich noch weiter von einer Stelle – einer Stelle – nun – einer Stelle weit weg unterm Westhimmel, wo ein paar Erdhütten lagen! Da draußen war doch irgendwo einmal solch eine Stelle gewesen? – Der Per Hansen riß sich zusammen, dachte eindringlich an die Beret und den Großen-Hans, und die Gamme lebte wieder für ihn auf.
Die arme, liebe Beret! Wenn ihr nur nicht die Zeit lang wurde, während er weg war! —
Unerwartetes gab es auch heute genug. Erdgammen mickerten sich durch, wo eigentlich keine hätten sein sollen, soweit der Solumbub und der Hans Olsen sich entsannen. Du große Welt, wo waren die alle auf einmal hergekommen ? Die mußten rein wie die Ameisen im Sommer aus der Erde hervorgewimmelt sein! – – Nun, allzu viele waren es nicht; aber es hätten hier eben überhaupt keine sein sollen. —
Im Laufe des Vormittags kamen sie an solch eine kleine Neusiedlung. – Trübselig lag sie da – nur zwei winzige Gammen —, gerade an der Wegrichtung. Sie mußten hineinschauen und nachhören, was das für Menschen seien. – Unweit der Gamme waren welche beim Aufbrechen von Neuland. Die Grasnarbe schien auch hier zähe zu sein. Der Blick blieb zuerst am Vorspann des Pfluges hängen: da schritt ein Ochse mit blanken Messingkugeln an den Spitzen eines gewaltigen Hörnerpaares Seite an Seite mit einer hornlosen, mageren Kuh. – Ein Weib ging nebenher und trieb an; ein Mann mit einem Patriarchenbart lenkte den Pflug und schob aus Leibeskräften nach.
Die Leute waren Hallinger. Aus der schwedischen Landschaft Halland am Kattegatt. Und das freute den Per Hansen und den Hans Olsen ungemein. Mit einem Halling ließ sich plaudern! – Das reine Märchen! Der Halling hatte seine gesamte Habe den ganzen Weg von Jowa bis her – wohl über vierhundert Meilen – und mit diesem Gespann befördert, »ein mühselig langer Weg,« erklärte der Halling.
Und wie lange hatte das gedauert? fragte der Per Hansen.
Oh, nicht gar so lange. – Übrigens genau sieben Wochen und zwei Tage. Sie hätten sich um der Kuh willen nicht mehr sputen können, denn die schaffte ja das meiste der Nahrung herbei, da konnten sie nicht zu hart mit ihr umgehen.
»Kannst du mir sagen,« fragte der Per Hansen verblüfft, »ob sie denn Milch gibt, deine Kuh?«
»Freilich gibt sie Milch, – wenn wir sie nicht gar zu arg plagen.«
»Das ist eine Prachtkuh! – – Kannst du mir sagen, ob du wohl Kartoffeln zur Milch brauchst ? Ich hab eine ganze Fuhre mit, die ich zusehen will zu verkaufen.«
Der Halling glotzte, öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen; es kam aber nichts; unter dem Bart bewegte es sich, als schmunzele der Mann; als aber der Hansen genauer hinsah, da hatte der die Augen voll Wasser.
Der Mann wischte sich die Tränen und starrte den Per Hansen an. Die Frau stand daneben; ihr Gesicht war so schmal und abgehärmt, – sie weinte.
»Habt ihr im Haus was zu essen?« fragte der Per.
»– O ja, – – so lange die Kuh Milch gab.« Die Frau kam mit dieser Auskunft.
Da mußte der Per Hansen lachen. »Nein, jetzt hol schnell einen Kübel, du Mutter, dann werden euch eure Gäste ein anständiges Mahl auftischen!«
Und weiß Gott: die Frau war bald mit dem Kübel zurück. Er nahm ihn ihr ab, füllte ihn mit Kartoffeln, sah sie an und sah sie noch einmal an – schüttete den Kübel auf den Boden aus, füllte ihn noch einmal.
»Schau, einen Kübel voll für jeden von euch; übereßt euch aber jetzt nicht daran!«
Der Halling räusperte sich stark und meinte: »Das ist solch ein glücklicher Zufall! Gib uns halt noch vier Kübel dazu; dann sollst du einen ganzen Dollar dafür haben, wenn ich ihn einmal bekomme. – Und stirbst du vorher, hast du für die Kartoffeln auch nicht Verwendung.«
»Nein, aber es könnte sein, ich brauchte den Dollar!« lachte der Per Hansen. »Dank für das Angebot! – Aber was meinst du zu acht Kübel und zwei Dollar, wenn du sie einstens hast?«
Da lachte der Halling, daß der Patriarchenbart wackelte.
»Nein, weißt du was, Mann: da ist es noch besser, es bei sechzehn Kübeln und vier Dollar zu belassen! Wie? – Das Geld bekommst du schon noch einmal; – wir haben halt nicht allzuviel Essen im Haus.«
Die Frau hatte den Kübel hineingebracht, war wieder herausgekommen und sammelte jetzt auf den Knien die Kartoffeln vom Boden gierig mit beiden Händen in ihre Schürze; sie warf dem Per Hansen scheue Blicke zu.
Der Per Hansen lachte den Halling an. »Dann will ich dir akkurat sagen, wie wir es einrichten wollen: du hast jetzt vorläufig genug; wenn ich wieder heimkomme, will ich dir eine ganze Fuhre anfahren. Du mußt doch zu essen haben, Mann! – Auf das Geld will ich warten.«
Und sie wurden handelseinig. – Ehe die Stadtfahrer aber wieder aufbrachen, hatte der Per Hansen noch einen von den übriggebliebenen Fischen dazu geschenkt, einen halben Kübel aus dem Möhrensack geholt und eine der leckersten Wassermelonen dazugelegt. »Eßt euch jetzt aber nicht krank!« war das letzte, was er den Hallingen riet.
Dann karrte er auf der Fuhre wieder in den blaugoldenen Himmel hinein und entsann sich nicht, daß er schon je so einen artigen Tag wie heute erlebt hatte.
V
Um die Mittagszeit hielten die drei Wagen ihren Einzug in Worthington. Der Ort hatte damals noch nichts Städtisches an sich; ein paar Dutzend Häuser standen, von denen die meisten Schuppen waren, die anderen Erdhütten, und alles trug durchaus das Gepräge des Vorläufigen. Der Ort machte den Eindruck eines Lagers, das heute hier aufgeschlagen war, morgen aber vielleicht darauf verfiel, Dutzende von Meilen weiter weg zu sein. – Aber ein paar Läden waren immerhin vorhanden, und das wichtigste von allem: die Eisenbahn, die Schlagader im Leben des Westens, hatte sich bereits herangewunden.
Der Per Hansen fuhr von Haus zu Haus, grinste freundlich und bot auf breitestem Nordländisch seine Kartoffeln an. – Das Glück erwartete ihn hier, schien‘s, nicht an der Schwelle, es ging träge mit dem Verkauf. Erst als er am anderen Ende der Stadt war, schloß er einen nennenswerten Handel ab.
Hier traf er nämlich auf eine Witwe mit zwei halberwachsenen Buben. Die Witwe war Dänin und betrieb einen kleinen Hühnerhof. – Gewiß, sie brauche allemal Kartoffeln, sowohl für sich, wie für die Jungen und die Hühner! Geld gebe es im Hause zwar nicht; aber Hühner, die habe sie. Wolle er vielleicht Kartoffeln gegen Hühner austauschen?
Das wollte der Per Hansen gern. Und er erwarb sich drei Junghühner für neun Kübel Kartoffeln.
Dieser Tausch ist höchst vorteilhaft, dachte er; die Hallinge sind braves Volk, aber die Dänen beinah noch besser. »Nimmst noch drei Kübel dazu, mein Schatz, für eine vierte Henne, gelt?« Die Witwe ging darauf ein, und der Per Hansen war von seinem trefflichen Handel überzeugt. – Auch die Witwe schien ausnehmend zufrieden.
Der Per Hansen wandte sich zum Gehen. Aber davon wollte die Witwe nichts wissen. Er müsse bleiben! Sie habe auf dem Herde einen alten Hahn, der schon seit heute früh koche und vielleicht bald mürbe sei. Wo genug sei für drei, finde sich Rat auch für den vierten!
Und in Per Hansens Mund gab es kein Nein.
Als der Per Hansen eintrat, war er fast noch überraschter über die Gamme als vorher über die Witwe. Das gemütlichste Heim, daß er je gesehen! Bloß eine Erdhütte, kleiner als seine eigene – aber aus jedem Winkel strahlte Behagen. Hier waren die Wände nicht schwarz wie bei ihm daheim; nein, weiß waren die, so leuchtend weiß, daß ein Gelb darin spiegelte. – Die reinste Märchenhütte!
Der Per Hansen vergaß ganz, sich zu setzen. »Nein, Mutter, guck jetzt nicht nach dem Essen! Erzähl lieber, wie du das so unvergleichlich schön hergerichtet hast! – Kannst du mir sagen: ist das Anstrich? Der ist dann wohl entsetzlich teuer?«
Das Gesicht da sah sie schräg mit so deutlichem Wohlgefallen und unverfälschter Bewunderung an, daß sie froh und herzlich darüber lachte und es seit Jahren zu kennen meinte.
Bewahre! Das sei ganz gewöhnlicher Kalk mit Wasser.
Die Witwe bereitete das Essen und erklärte ihm gleichzeitig, wie er‘s anfangen müsse. Und hier sei ein Norweger, der mit Holz– und Baumaterialien handle. Vielleicht, daß der Kalk gegen Kartoffeln eintausche? – Ja, und so und so müsse er den Kalk anrühren.
»Nein, glaubst du wirklich, Mutter, daß er Kartoffeln eintauscht?« rief der Per Hansen; er hätte die Witwe am liebsten ans Herz gedrückt. »Und das schwöre ich dir, Mutter, wär‘ ich dir rechtzeitig begegnet, da hätt‘ ich sicherlich um dich gefreit!«
Zwei Büblein mit roten Backen und blanken Augen, die genau aussahen wie die Mutter, kamen jetzt herein. Auch an denen konnte der Per Hansen sich gar nicht satt sehen; und jetzt fielen ihm die Melonen ein, und er holte die schönste und legte sie auf die Erde. – Und darauf verspeiste er den alten Hahn gemeinschaftlich mit ihr und den Buben und kam sich vor wie im Märchenland. Es war ja doch sonnenklar, daß das Glück noch immer neben ihm saß! – —
Ja, das Glück hielt an diesem Tage wirklich zum Per Hansen, daran war nicht zu zweifeln. Von der Witwe fuhr er stracks zu dem Mann, der mit Baumaterial handelte, und fragte, ob es anginge, etwas Waren für Kartoffeln und viele andere Leckerbissen einzutauschen. Der Mann trat herzu und besah sich die Fuhre. Oh, ausgeschlossen sei es gerade nicht, meinte er. Was wolle er denn dafür haben?
Da lachte der Per Hansen: »Eigentlich alles, was hier steht; aber ich will mich mit ein paar Säcken Kalk und ein paar Bretterenden begnügen. —Du hast doch wohl Kalk?«
Er bekam so viel Kalk, als er wollte, und mehr Bretter, als er erwartet, und obendrein als Zugabe Nägel. Die Bretter waren gehobelt; der Per Hansen ging mit ihnen um, als wären sie die Seiten eines kostbaren Buchs.
»Ja, meiner Treu! Das gibt ein schmuckes Boot für‘s Knäblein, – jetzt mag es kommen!« Und zum Mann gewendet, sagte er: »Zum Herbst kauf ich dir dein ganzes Lager ab; ich kann es brauchen und noch mehr dazu, sollst du wissen.«
Er mußte durchaus mit dem Mann noch eins schwätzen. War doch zu lustig, hier einen Norweger anzutreffen. – Der Per Hansen blieb noch lange bei dem Landsmann sitzen.
Mittlerweile hatten die Reisegenossen schon seit geraumer Zeit ihre Einkäufe abgeschlossen und Mittag gehalten und waren dabei, ihre Waren zu verstauen, als er endlich angefahren kam. – Da ging‘s mit allen dreien wieder in den Laden zurück. Da lag soviel und vielerlei. Und alles duftete ergötzlich, und nun gar der kräftige Whiskygeruch, der alles durchdrang. – Der Per Hansen trat von einem Fuß auf den andern und schnupperte und konnte gar nicht stille stehen.
»Nein, sapperment! Wer jetzt ein paar Heller übrig hätte! Aber es schadet nichts, zu wissen, wo die Dinge zu finden sind, wenn einmal die Münzen kommen, – was meint ihr, Kerle?«
Vor allen Dingen mußte er zuvörderst das mit der Egge und dem Pflug, die auf ihn gebucht standen, ins reine bringen. Der Solumbub machte den Dolmetscher.
Nach langem Feilschen wurde es schließlich, wie sich‘s der Per Hansen gewünscht: er zahlte 15 Dollar und der Rest blieb bis zum Herbst gegen 15% Verzinsung stehen.
Und jetzt hatte der Per Hansen freie Bahn für seine Einkäufe. Das erste, was er wollte, war Netzgarn! – Da wollten sich der Solumbub und auch der Hans Olsen schütteln vor Lachen; wolle er etwa in der Prärie Netze stricken? – Jawohl, Garn brauche er, vor allen anderen Dingen Garn. Als er schließlich eine Sorte fand, die ihm einigermaßen zusagte, kaufte er gleich mehrere Knäule. – Und ferner brauche er Schnüre, Schnüre zum Aufreihen des Netzes – selbstredend!
Den Kameraden schien es, als verjuxe er seine Heller. Bis zum Sioux River sei es weit und nur die notwendigsten Fahrten dorthin ausführbar.
»Verlange du nur die Schnur, du Henry!« gab der Per Hansen zur Antwort.
Darauf kamen die eigentlichen Einkäufe, die, um derentwillen er den langen Weg gefahren war. Zunächst aber noch ein paar Kleinigkeiten, über die er sich ganz leise und so verschämt zum Henry ausließ, daß der immer noch einmal fragen mußte. Also ein wenig Kaliko mit großen bunten Rosen darauf, etwas Band und feinen Zwirn und ein wenig feines weißes Baumwollzeug. Und dann durchaus Hoffmannstropfen und etwas Feinöl in einem Fläschlein! – War doch gar zu leidig, den Solumbuben bei solchen Dingen als Dolmetscher gebrauchen zu müssen, den Junggesellen, der noch rein gar nichts erlebt hatt‘! – Und nun waren die Wirtschaftseinkäufe dran; als wichtigstes Mehl; sodann Stoff und Tabak, Streichhölzer und Petroleum; Kaffee und Sirup. Und Salz. Beim Salz kam den Kameraden wieder das schiere Staunen; denn der Per Hansen verlangte davon weit mehr, als die anderen alle zusammen, und grübelte noch, ob es nicht doch zu wenig sei.
Und jetzt war er fertig; denn das Geld war zu Ende. »Sollten wir uns wirklich auf dieser Fahrt nicht ein einziges Schlücklein gönnen?« meinte der Hans Olsen nachdenklich.
»Da sagtest du was Gescheites!« stimmte der Per Hansen schnell bei. »Und da hätt‘ ich auch beinah die drei Flaschen für den Syvert vergessen. Aber – die Kjersti darf davon beileibe nichts wissen; denkt mir daran, Kerle, wenn wir heimkommen; – soll wohl Schmieröl abgeben für seinen Kutter.«
Der Handelsmann gab, ehe er die Flaschen füllte, eine Runde. Der Henry nahm zwei Flaschen für sich und eine für den Bruder, der Hans Olsen hatte seine Riesenflasche mit, meinte aber, das sei doch sehr knapp, ließ sich noch eine kleinere geben und steckte die zu sich in die Tasche. Der Per Hansen nahm zwei für sich und drei für Tönset‘n. – Nach dem Flaschenfüllen fand nun aber der Krämer, er habe mit diesen Männern einen so ansehnlichen Handel abgeschlossen, daß er getrost noch eine Runde spendieren könne, – schien braves Volk zu sein. Und ehe sie aufbrachen, mußten sie nach gutem altem Brauch noch ein ganz klein wenig gegenseitig beieinander kosten. Herr Gott, man kam doch auch nicht jeden Tag in die Stadt! – – Der Hans Olsen gebrauchte die Füße ungemein vorsichtig als er hinterher auf den Wagen kletterte und setzte sich überaus nachdrücklich auf den Kutschsitz; aber dafür saß er dann auch verläßlich.
Es war schon später Nachmittag, als sie sich endlich aufmachten. Neunzig lange Meilen dehnten sich vor ihnen; aber keiner schenkte dem einen Gedanken. Essen hatten sie reichlich mit, Obdach unterm Himmel, wo immer sie rasteten, und das Wetter war gut. Der Per Hansen fuhr an der Spitze und schnalzte unaufhörlich die Pferde an. Er blickte immer wieder zum Westhimmel auf, der bereits in kräftigem Abendrot aufstrahlte: Herre Gott, wie war hier draußen doch alles so herrlich! – – Ob es wohl anginge, die Nacht durchzufahren?
Als sie sich schließlich doch zum Lageraufschlagen entschlossen hatten, der Hans Olsen das Feuer zum Brennen gebracht und den Muskessel darübergehängt hatte, schnitzte der Per Hansen im Feuerschein Netznadeln Langer, flacher Holzstock mit gabelförmigen Enden zum Netzestricken. und dann ein rundes Strickholz.
Die Kameraden lachten ihn aus, erst schmeiße er sein Geld für Garn hinaus und dann vertändele er die Zeit mit solchem Kram!
»O ja,« lachte der Per Hansen dazu, »ein jeder schwätzt halt, wie er Verstand dazu hat!« und arbeitete, bis er fertig war. —
VI
Die Zeit wurde den Buben lang in des Vaters Abwesenheit. Dem Ole war es bald leid am Holzklotz zu stehen, wenn der Bruder nicht daneben stand; er machte sich oft in der Hütte zu schaffen, um nach Zeitvertreib zu suchen. Mit dem Großen-Hans war es kaum besser bestellt; er hatte sich zwar dadurch, daß der Vater ihm ein sonderbares Geheimnis anvertraut hatte, sehr gehoben gefühlt, aber dieses Geheimnis war nicht sonderbar genug, um nicht bei dem Gedanken an die Enten in den westlichen Sümpfen gänzlich zu verblassen. Der Vater brachte bestimmt aus der Stadt etwas für die Enten mit, und eigentlich müßten der Bruder und er jetzt nachschauen gehen. Und die Iren waren jetzt abgefahren; da standen nun ihre Gammen leer; ob es da nicht Merkwürdiges gab ? – – Und mit der Mutter ließ sich jetzt gar zu schlecht plaudern. Wenn er mit ihr sprach, konnte sie plötzlich wie abwesend sein, bloß noch ›ha‹ und ›ja‹ antworten. Das kam gewiß von dem Seltsamen, das ihr bevorstand und woran sie so sehr denken müsse, meinte der Große-Hans. Er ließ jedoch des Vaters Auftrag nicht außer acht, ging ungern hinaus, trotz der Langeweile in der Hütte.
Ein paar Tage nach der Abreise der Stadtfahrer schickte sie den Großen-Hans zur Kjersti nach einer Stopfnadel; die ihre hatte sie so gut aufgehoben, daß sie sie nicht wiederfinden konnte. Der Ole bastelte in der Stube an einer Schleuder, die er sich ausgedacht hatte.
Plötzlich kam der Hans mit der Stopfnadel hereingestürmt. Keuchend berichtete er, daß Tönset‘n ein gewaltiges Tier getötet habe; es sei fürchterlich groß, fast wie ein Bär, – ja Tönset‘n habe also gesagt, es sei ein Bär. Die Kjersti habe ihn einen Eimer holen heißen, dann bekämen sie heut zum Abend frisches Fleisch.
Beide Buben bettelten und greinten, sich das Tier ansehen zu dürfen; die Mutter ließ sich nicht weiter über den Fall aus, gab ihnen einen Kübel mit, und sie sollten bald wiederkommen.
Als die Buben den Abhang heruntergerannt kamen, war die Kjersti gerade dabei, den Körper zu zerlegen; Tönset‘n bemühte sich, das Fell an der Stalltür aufzuspannen; er hatte Nägel im Mund, blutige Hände und bot einen grauslichen Anblick.
»Was hast du da ergattert?« fragte der Ole.
»Einen Bären, Bub!« nickte Tönset‘n, nahm die Nägel aus dem Mund und spuckte braun.
»Ho! einen Bären!« schnob der Ole verächtlich.
»Etwa nicht, Gevatter? – O ja, alles vorhanden, was dazu gehört!« Tönset‘n äußerte sich so entschieden, daß man ihm nicht mehr gut widersprechen konnte.
»Wo überraschtest du ihn denn?« fragte der Große-Hans.
»Etwas westlich von den Iren. – Waren übrigens zwei; hatten sich zum Winterschlaf eingegraben; das hier ist also das Junge, die Alte riß aus.«
»Du hast ja aber gar keine Flinte« wandte der Ole ein.
»Da hab‘ ich doch aber, was weit besser ist! Ich nahm halt die Eisenstange!« Tönset‘n spuckte gewaltig und guckte die Buben bedeutsam an. »Ich zerkrachte ihm einfach den Kopf! – Mit der Eisenstange hier gehe ich gern auf jeden Tiger und jedes Nashorn los!«
»Was wurde denn aus der Alten?« fragte der Ole; Tönset‘ns Begeisterung begann anzustecken.
»Sie jagte nach Norden über die Prärie. Kommt jetzt, nehmt ein paar Bissen mit heim, – das gibt eine leckere Suppe. Es gibt nichts Feineres als Bärenfleisch!«
Die Buben kamen mit und die Kjersti teilte zu. Es mußte ein gewaltiger Körper gewesen sein; da lag ein mächtiger Haufen Fleisch. »Ist das wirklich Bärenfleisch?« fragte der Ole sie, jetzt zwar etwas schüchterner.
»Da ist ordentlich was dran!« meinte die Kjersti. »Zeig deinen Kübel her: die Beret hat eine tüchtige Stärkung nötig.
– Gebt auch der Sörine im Vorbeigehen ein wenig ab.« Die Buben brauchten lange für den Heimweg. Immer wieder mußten sie den Kübel hinsetzen, um sich zu wundern, daß hier Bären in der Nähe herumstrichen. Dann waren doch sicher Tiger und Löwen und anderes Merkwürdige auch nicht weit ab! Sie bebten vor Entzücken!
Endlich gelangten sie zur Sörine, wo sie sich wieder lange aufhielten, denn es mußte selbstredend umständlich von dem Meisterstreich, den Tönset‘n heute geführt, Bericht erstattet werden.
Und als sie schließlich aufbrachen, kam die Sofie mit hinaus, um zu beobachten, ob sie sich nicht fürchteten. Da mußten die Buben halt wieder verweilen, um vor ihr auszumalen, wie sie jetzt die Lange Marie holen und Mutter Bär selber aufpirschen wollten. – »Und bange sei ihnen gar nicht?« fragte die Sofie. – »Bange? Pö! Bewahre!« rief der Große-Hans. »Bange sind überhaupt bloß Mädel und alte Weiber,« meinte der Ole. – Da lachte die Sofie sie gewaltig aus; und jetzt spreizten sie sich und versuchten zu spucken wie Tönset‘n; aber braun wurde es nicht. —
Die Mutter bekam es schon mit der Angst. Sie ging vor die Tür und sah nach ihnen aus. Als die Buben endlich heimgelangten, waren sie so von ihren Erlebnissen besessen, daß sie sich ganz unbändig anstellten, und das machte die Mutter nur noch besorgter. Sie packte sie fest bei der Schulter und schüttelte sie. Auf der Stelle sollten sie sich hinter ihre Bücher setzen! Draußen gebe es heute nichts mehr herumzulungern.
Das war doch nicht auszuhalten! Der Ole fing an, mit der Mutter zu rechten, und sein Gesicht blitzte sie förmlich an: begreife sie denn gar nicht, ein wirklicher Bär laufe auf der Prärie herum; ein Riesenbär also! Und – und – der Vater sei nicht daheim, aber die Flinte stehe geladen und bereit; für alles übrige würden schon er und der Große-Hans sorgen! In einer Stunde sei der Bär erlegt, – der Große-Hans glaube sogar zu wissen, wo seine Höhle sei. Mitten in die Schläfe solle er‘s kriegen!
Die Buben tobten wie ein Unwetter. Die Mutter mußte sie mit Gewalt zur Tür hineindrängen.
In der Stube blickten sie sich um wie wütende Stierkälber. Erst nachdem die Mutter sie wiederholt ermahnt hatte, suchten sie die Bücher. Aber schließlich hatte der Ole doch den Katechismus gefunden und der Bruder die Biblische Geschichte. Sie setzten sich an den Tisch vorm Fenster und wollten lernen.
Aber auch dort ging alles verkehrt; sie gerieten sich in die Haare, weil sie beide denselben Platz am Fenster haben wollten. Eine arge Rauferei entstand. Der Ole war stärker, der Bruder behender. Der Ole glaubte, er sei als der ältere in des Vaters Abwesenheit selbstverständlich der Herr im Hause und dürfe sich allerlei bezähmen: er warf jetzt mit Redensarten um sich, die er von den Erwachsenen aufgeschnappt, wenn denen die Arbeit nicht nach Wunsch von der Hand ging. Kaum hörte das der Große-Hans, so wollte er nicht zurückstehen – getraute sich‘s der Ole, getraute er sich‘s noch allemal; er kannte diese Redensarten auch und obendrein noch viel bessere! – Der Tisch stürzte fast um; die Bücher flogen auf die Erde und litten Schaden. Das Gössel sah ihr Treiben, bekam‘s mit der Angst und heulte laut auf.
Beim Herde wusch die Mutter das Fleisch, legte es in den Kessel und setzte es über. Sie vernahm alles, machte ihre Arbeit, ohne ein Wort zu sagen; aber das Gesicht wurde noch grauer.
Sobald sie jedoch fertig war, fuhr sie hinaus und kam mit einer Weidengerte wieder. Und jetzt ging sie strenge vor, schlug, wo es hintraf, ohne Aufhören, ohne ein Wort zu sagen. Die Gerte sauste und traf und verursachte Schmerzensgewimmer. – Die Buben ließen das Raufen, sahen die Mutter entsetzt an, – sie hatte doch noch niemals Hand an sie gelegt! – Und wie seltsam jetzt ihre Augen blickten?
Sie stürzten sich über die am Boden liegenden Bücher, während die Prügel niederhagelten. Das Gössel stand in der Mitte der Stube und brüllte vor Entsetzen.
Erst als die Mutter versehentlich die Tischkante traf und die Gerte zerknickte, hielt sie inne und schien zur Besinnung zu kommen. Sie ging zur Hütte hinaus, ohne auf das Kind zu achten, blieb lange draußen; als sie wieder hereinkam, brachte sie einen Arm voll Holz mit, ging zum Herd damit und heizte ein. Hob dann das Gössel auf und legte sich mit ihm aufs Bett. – Die Buben saßen am Tisch und lernten; keiner hob den Blick vom Buch.
Unendlich still war‘s jetzt in der Hütte. Der Ole stopfte sich die Finger in die Ohren, um die Stille nicht zu hören, der Bruder begann laut zu lesen. Schlimm nagte die Reue am Ole, aber noch böser am Großen-Hans; er erinnerte sich jetzt deutlich dessen, was der Vater ihm anvertraut und was er selber versprochen hatte, und da war er fast den ganzen Tag weggewesen! Er fühlte am ganzen Körper brennende Hitze. – – Er hatte im Buch die Auserwählung der zwölf Jünger aufgeschlagen; aber die paßte jetzt nicht! – Er blätterte, bis er an Samson kam, las ein wenig davon und später von David und Goliath; und dann nahm er die Abschnitte von Joseph und seinen Brüdern vor. Da wurde ihm leichter ums Herz, – denn gerade so ein Bub wie der Joseph wollte auch er einst werden!
Der Ole schämte sich gewaltig, als er die Mutter mit dem Holz hereinkommen sah; obwohl – war das etwa seine Sache? Der Bruder sollte ja doch die Magd spielen. Und dann wurde er wütend: diesmal also war‘s dem Großen-Hans seine Schuld.
Klar! Hätte der ihm den Platz nicht überlassen können? – – Er rackerte sich aber doch brav durch den dritten Artikel durch, den er übrigens schon recht ordentlich konnte. – Als seine Entrüstung sich gedämpft hatte, gab er sich daran, zu überdenken, wie fürchterlich Tönset‘n sie beide doch zum Narren gemacht – der und einen Bären totschlagen! Ein elender alter Dachs war das. Und jetzt schmorte diese Schweinerei dahinten auf dem Herd, – sollte ihr Abendessen vorstellen! Und die Mutter so zornig, daß es nicht anging, ihr‘s zu sagen! – Und vor ihm ochste der Bruder und jappte und zog durch die Nase hoch; ein jeder könnt‘ sehen, daß aus dem nie und nimmer ein Mann wurd‘. – – Der Ole schlug das Buch zu und ging hinaus zum Holzhacken. Er wagte nicht, zum Bett hinzuschauen.
Der Große-Hans saß über seinem Buch, bis es dunkel geworden war und er die Buchstaben nicht mehr unterscheiden konnte. Er wagte jetzt ab und zu aufzublicken. Die Mutter lag noch immer mit abgekehrtem Gesicht; und das Gössel lag schlummernd hoch oben auf dem Kissen. – – Der Bub stand lautlos auf, sah sich um, nahm einen leeren Wasserzuber und ging nach Wasser. Draußen setzte er ihn neben die Tür und ließ Buntscheck, Indi und die beiden Ochsen in den Stall und band sie fest. Er ranzte sie heute abend tüchtig an: Die Mutter sollte hören, daß er die Wirtschaft zuverlässig besorgte! – Als er endlich mit dem Wasserzuber hineinkam, war die Mutter aufgestanden; er konnte nichts Außergewöhnliches an ihr bemerken.
Nein, diesmal hatte sie wohl nicht geweint? Der Große-Hans war darüber so erfreut, daß er sogleich zum Bruder hinausmußte; der betätigte sich beim Hauklotz so eifrig, daß ihm der Schweiß troff. Die Buben blieben draußen bis zur Dunkelheit; sie schwätzten eifrig – von allen erdenklichen Dingen. Aber was ihnen am meisten das Herz bedrückte – das Gesicht der Mutter, als sie sie prügelte – das brachten sie nicht fertig zu erwähnen.
In der Stube brannte die Lampe. Das Gössel krabbelte wieder beruhigt mit seinen Siebensachen auf dem Boden herum. Beide Buben kamen still hereingeschlichen und setzten sich hinter die Bücher. Aber es wurde nichts Rechtes mit dem Lernen. – – Endlich war ›das‹ fertig, was auf dem Herd schmorte; die Mutter deckte auf; die Buben setzten sich an den Tisch – der Ole zaudernd. »Schling jetzt bloß das Trollfutter runter!« tuschelte er dem Bruder zu und schnitt eine Fratze. – Der Große-Hans stocherte mit seinem Löffel in einer der Tischritzen; sie waren groß, die Ritzen; er konnte das Auge darauf legen und weit über den Boden sehen. Der Lehmboden war in dem matten Lampenlicht so sonderbar braun; die Ritzen legten Streifen darüber; das war hübsch anzusehen, und der Große-Hans fand, es müsse artig sein, wenn der Fußboden auch bei Tageslicht so aussehen würde.
Die Mutter schöpfte aus dem Kessel in die große Schüssel und setzte sie auf den Tisch; sie war voller Suppe, Kartoffeln und Möhren, und unten lagen die Fleischstücke. Es sah lecker aus; aber die Buben beeilten sich trotzdem durchaus nicht mit dem Zulangen. Jetzt setzten sich die Mutter und das Gössel dazu; das Kind freute sich so sehr auf das schöne Essen, daß es sich mit dem Tischgebet möglichst beeilte.
Die Mutter und das Kind fingen sogleich an zu löffeln, und da konnten die Buben nicht länger dabeisitzen. Der Große-Hans nahm einen Löffel Suppe, pustete, schloß die Augen und ließ es hinuntergleiten. – Der Ole nahm einen, hustete gleich, als habe er sich verschluckt, bückte sich unter den Tisch und spuckte wieder aus. Die Mutter fragte leise, wie es ihnen schmecke. Da konnte der Ole sich nicht länger halten; er sah die Mutter flehend an und sagte mit tränenerstickter Stimme:
»Ich mein‘, es schmeckt nach Hund.« Und damit tat er den Löffel weg.
Der Große-Hans fand es recht häßlich, daß der Ole so von dem Essen spreche, das die Mutter für sie hergerichtet hatte, und goß Löffel auf Löffel in sich hinein; aber er schwitzte.
»Ich habe nun so viele Male sagen hören,« meinte die Mutter ruhig, »daß Bärenfleisch gut schmecke; – die Suppe hat Beigeschmack, merke ich, aber sie geht an; wir müssen halt das Fleisch beiseite tun.«
»Das ist ja gar nicht Bärenfleisch!« rief der Ole verzweifelt.
»Was sagst du da?« Die Mutter ließ erschreckt den Löffel sinken.
»Nein, – ein alter verlauster Dachs ist das, – der Vater hat oft gesagt, der sei nicht eßbar!«
»Ja, und es ist alles wahr!« fiel der Große-Hans ängstlich ein und quetschte seinen Löffel in eine Tischritze. »Ich hab‘s an dem Schwanzende gesehen, – der Syvert hatte es nicht abgeschnitten. – Und jetzt wird mir übel!«
Die Beret erhob sich zitternd, nahm die Schüssel und ging damit hinaus, trug sie weit ins Dunkel hinein und schüttete den Inhalt weg; das Gössel tappelte weinend hinterher. Die Buben warfen sich derweil über den Tisch vorwurfsvolle Blicke zu: »Hättest du‘s Maul nicht halten können?«
Die Mutter kam wieder herein, setzte den Kessel übers Feuer und scheuerte ihn gründlich. Dann kochte sie ihnen einen Brei; aber als der glücklich fertig war, konnte sie selber nichts genießen.
Diese Nacht verhängte sie das Fenster noch dichter als gestern. – Sie saß noch lange auf, konnte sich gleichsam nicht legen.
VII
Sie hatte schon lange gelegen; der Schlaf wollte sich nicht einfinden; die Gedanken schweiften ruhelos umher.
So weit war es jetzt also mit ihnen gekommen! Sie schämten sich nicht, Trollspeise zu essen, sie sogar als Herrenkost von Hof zu Hof zu schicken!
Und es erhob sich in ihr ein gewaltiger Trotz: sie durften zum Winter hier nicht bleiben! – Sobald er jetzt heimkam, mußten sie zusehen, daß sie den Weg nach Osten wieder zurückfänden. Auch er mußte doch verstehen, daß sie hier noch zu Raubtieren wurden. – Nichts sahen sie, nichts lernten sie. – – – Mit den Kindern stand es noch schlimmer – und wie würde es mit den Enkeln gehen? – – Begriffen die Menschen denn nicht, daß der Herrgott, wenn er sich diese Unendlichkeiten bevölkert gewünscht hätte, sie nicht bis jetzt hätte unberührt liegen lassen, wo das Ende nahte!
Ihre Erregung ließ nach; ihr Denken wurde kühl und klug und beschäftigte sich bedächtig damit, wie sie es einrichten müßten, um zu Menschen zurückzugelangen. – —
Am nächsten Morgen war sie früher auf als sonst, machte Feuer auf dem Herd, richtete das Morgenessen an und weckte die Kinder. – Die Zubereitung des Frühmahls beanspruchte wenig Zeit. Die Beret goß etwas Wasser in den Kessel, tat einen Löffel Sirup hinein und rührte um, holte dann ein paar Stücklein Zimt und warf sie dazu. Den kalten Brei, der von gestern abend übrig war, zerschnitt sie und ließ ihn in der großen Schüssel; als der Sirupsaft am Kochen war, goß sie ihn über den Brei. Mehr gab es nicht und mehr wurde auch nicht erwartet.
Während des Essens warf sie von Zeit zu Zeit einen Blick auf die große Lade und versuchte sich zu besinnen, wie alles gepackt gewesen, als sie im Sommer hergekommen waren. – Es war wohl das beste, sogleich mit dem Packen zu beginnen, damit es erledigt war, wenn er heimkam. – – – Am schwierigsten war es mit den Wagen. Ja; denn den kleinsten hatte er zersägt und Tische daraus gemacht, – an dem einen saßen sie jetzt; und der andere Wagen hielt den ganzen Rückweg nicht mehr aus; sie hatte den Per neulich äußern hören, daß er ihn zu etwas Nützlichem verwenden wolle. – – Nun ja, es mußte ihm überlassen bleiben, das Fuhrwerk zu beschaffen. Sie gingen wohl nicht um so eines Wagens willen zugrunde! Hatte sich nicht einst Einer fast einer großen Stadt voller gottloser Menschen erbarmt, nur weil ein guter Mensch darum gebetet hatte?
Ein guter Mensch, ach ja! – Die Beret seufzte tief und faßte sich unter die Brust.
Als die Schüssel leergegessen, stand sie auf, wusch sie ab und stellte sie weg. – Der Ole, der Außendienst hatte, bedeutete dem Bruder durch Zeichen, er solle mit hinauskommen; aber der Große-Hans schüttelte den Kopf. Er ließ den Bruder gehen; ab und zu warf er der Mutter einen Blick zu, er wußte nicht, was vornehmen, fühlte sich unlustig und beschwert; es kam ihn plötzlich Lust an, sich auf die Erde zu werfen und laut loszuheulen.
Die Mutter ging ihrer Beschäftigung nach und verfiel wieder ihren Gedanken an die Rückreise. In dem graublassen, edelgeformten Gesicht, dessen Züge noch immer so sanft und schön waren, zeigte sich Entschiedenheit und Trotz.
Sie ging, sobald sie aufgeräumt hatte, an die Lade, hob den Deckel auf, kniete sich davor hin und machte sich daran, alles, was dort aufgehoben wurde, zurechtzulegen. Das war bald getan. Und jetzt nahm sie die letzthin gewaschene Wäsche, legte sie zusammen und tat auch diese hinein. – – Mit der Kleidung ging es zu Ende. Er mußte doch selber sehen, daß sie bald würden nackend gehen müssen, wenn sie hier blieben! Woher sollte das Geld zu all dem kommen, dessen sie bedurften ? – Die Beret stand auf und sah sich um, was sie zuerst einpacken solle. Auf dem Wandbrett überm Fenster lag eine Bibel, die der Großvater ihr geschenkt hatte; die war so alt, daß man nur mit Mühe in ihr lesen konnte; aber sie war die einzige, die sie hatten. Sie hatte sich seit langem in ihrer Familie vererbt. Der Urgroßvater hatte sie schon besessen, ehe der Großvater sie erbte, und nach ihr sollte der Große-Hans sie einmal bekommen – das hatte sie sich oft ausgedacht. Auf der Bibel lag das Gesangbuch, in dem sie jeden Sonntag, seit sie hergekommen, ein wenig gelesen hatte. Beide Bücher legte sie jetzt in die Lade.
Die Beret sah sich um. Am Ende packte sie auch gleich die Schulbücher ein? Die Jungen waren nicht allzu sehr hinter den Büchern her, – heute mochten sie also frei haben. Der Vater kam wohl heut oder morgen zurück. Sie hieß den Großen-Hans die Bücher herbringen.
Jetzt erst fiel dem Buben auf, was die Mutter tat, und ihm wurde so unheimlich dabei, daß er sich nicht sogleich vom Stuhl rühren konnte.
»Was hast du vor?«
»Wir müssen uns wohl rüsten, denk‘ ich,« sie seufzte und stützte den Leib mit den Händen; es fiel ihr schwer, solange hintereinander gebückt zu stehen.
»Rüsten? – Müss – müssen wir denn weg?« Dem Großen-Hans schnürte sich die Kehle zusammen, seine weitaufgerissenen Augen sahen ängstlich zur Mutter.
»O doch, Hansel; – wir müssen zusehen, Menschen zu erreichen, ehe der Winter uns erreicht,« sagte sie traurig.
Der Bub stand jetzt am Tisch, wollte zur Mutter, konnte sich aber vor Entsetzen nicht vom Fleck rühren; er starrte sie mit offenem Munde an, – stieß endlich hervor:
»Was, glaubst du, sagt der Vater dazu?« Es kam wie eine Anklage, und es klang ein Weinen daraus.
Da sah sie zu ihm hin; mußte noch einmal hinsehen und wußte nichts zu sagen. Das Unausführbare ihres Vorhabens traf sie aus dem Gesicht und der ganzen Haltung des Buben wie mit Strahlen – Strahlen, die es ihr klar machten, wie unmöglich alles war. —
Langsam kehrte sie sich wieder nach der Lade um, klappte den Deckel zu und setzte sich auf ihn. – Jetzt war das Kind in ihrem Leibe wieder so unruhig, stieß und krümmte sich; sie mußte mit den Händen gegenstützen. – – – Herregott, kam auch der jetzt etwa mit Einwänden? – Sollte diese unendliche Wüste dadurch bevölkert werden, daß Leben sich hoffnungslos daran vergeudete?
»So hart kannst du nicht sein, Herre Gott!« wimmerte sie leise. »So etwas wirst du von einem armen Menschenwurm nicht verlangen!«
Sie erhob sich langsam von der Lade, als schleppe sie Blei an den Füßen; sie ging durch die Stube und öffnete die Tür. Die Augen flackerten furchtsam zum Himmelsrand, erreichten ihn, vermochten aber nicht, sich von ihm zu erheben und emporzublicken.
Der Große-Hans starrte ihr nach; er wollte schreien und bekam keinen Laut heraus. – Aber dann lief er ihr nach, legte den Arm um sie und flüsterte heiser unter Schluchzen:
»Wird – wird dir – wird dir jetzt schlecht?«
Die Beret mußte den Kopf streicheln, der sie so hart in die Seite stieß; es strömte starke, frische Wärme von ihm aus; sein Haar war weich und gut. – Sie hockte sich nieder und umfaßte den Buben; er preßte sich so heftig an sie, daß sie fast nicht zu Atem kam. – – Du großer Gott, wie sehr sie heute der Liebkosung bedurfte! – Jetzt weinte sie; aus dem Großen-Hans brach es mit Beben und Schluchzen hervor; das Gössel, das nicht begreifen konnte, was die beiden da vor der Tür vorhatten, kam dazugetappelt, beguckte sie, – öffnete das Mäulchen, stopfte den Zeigefinger hinein und fing an zu schreien, als stecke es am Spieß – – Und da kam der Ole über die Höhe herabgerannt, daß die Füße zum Himmel flogen und brüllte ihnen aus Leibeskräften zu:
»Jetzt kommen die Stadtfahrer! – Jetzt stell‘, Schockschwerenot, geschwind den Kaffeekessel über!« Und der Bub war wieder weg, wie ein Hagelwetter, warf sich aufs Pony und sprengte den Kommenden entgegen.
Die Beret und der Große-Hans waren aufgestanden und hielten jetzt Ausschau. – Wahrhaftig, da kamen sie, weit hinten im Südosten!
Jetzt konnte sich der Große-Hans nicht länger bezwingen – sah die Mutter flehend an und sagte mit bettelnden Augen und mit Nachdruck:
»Glaubst du, daß ich dich jetzt allein lassen darf und dem Vater entgegenlaufen?«
Ein Lächeln zeigte sich auf Berets gespannten Zügen, ein großes, gutes Lächeln.
»Eil dich nur, mein Büblein!«
VIII
Der Vater saß am Tisch mit dem Gössel auf dem Schoß und langte zu. Die Buben standen ihm gegenüber und hörten ihn begeistert von all den absonderlichen Widerwärtigkeiten der Reise berichten; die Mutter ging zwischen Herd und Tisch hin und her.
Unwiderstehlicher Frohsinn strömte von dem Per Hansen aus und von allem, was er erzählte. Und immer war es, als hebe er das Merkwürdigste noch auf, – für eine bessere Gelegenheit. Die Buben wurden geradezu toll vor Übermut, sie konnten sich mit Fragen nicht genug tun und wollten immer noch mehr wissen.
Auch die Beret lächelte jetzt; aber die Hände zitterten ihr. – Jetzt aber mußten die Buben heran und Rechenschaft ablegen, wie sie inzwischen daheim gewirtschaftet hatten. Als er ihren Bericht, der sehr geräuschvoll und nicht gerade wohlgeordnet erstattet wurde, entgegengenommen hatte, – er kam nämlich ruckweise und in einzelnen Ausbrüchen: von Tönset‘n und dem Bären und der Dachsbrühe gestern abend, – da lachte er, daß ihm die Tränen liefen und er die Mahlzeit unterbrechen mußte. Ein wahrhaft herzerquickendes Gelächter! Die Buben sahen jetzt selber, wie komisch alles gewesen, und lachten schallend mit. Sogar die Beret beim Herde wurde mitgerissen, mußte sich aber doch zugleich die Augen wischen. – Wie froh war sie jetzt, daß sie daran gedacht, alles wieder aus der Lade zu nehmen, was sie vor einer Weile hineingepackt hatte.
»Komm einmal her, du Großer-Hans,« sagte der Vater lachend, »kannst du mir sagen, was du da hinten im Nacken hast?«
Der Junge überlegte nicht, kam und stellte sich vor den Vater.
»Hier läuft ja ein roter Streifen? – Hast du versucht, dich aufzuhängen, Bub?«
Da wurde der Große-Hans feuerrot, ihm fielen plötzlich die bösen Hiebe von gestern abend ein.
Der Ole warf der Mutter einen geschwinden Blick zu. »Ach Dreck,« sagte er mannhaft, »das ist nur von dem Hühnchen, das ich gestern mit dem Hans gerupft!«
»So,« meinte der Vater lachend, »das also habt ihr betrieben, während ich fort war? – Und die Mutter hat mit euch viel Plage gehabt, wie? Well, jetzt kommt ein anderer Tanz an die Reihe, denn wir haben so viel zu verrichten, ihr Burschen, daß hier weder bei Tag noch bei Nacht gefeiert wird. – Und ich danke auch schön für das gute Mahl, Beretmutter!«
Damit stand er auf und machte sich mit den Buben daran, den Wagen abzuladen. Das meiste wurde in die Stube gesetzt; einiges mußte jedoch vorderhand im Stalle untergebracht werden.
Das wurde ein arbeitsreicher Tag in der Hütte. Da war zunächst die Fuhre Kartoffeln, die er den, Hallingen im blauen Osten versprochen, die nicht einmal eine Kartoffelschale in den Kessel zu legen hatten; denen mußte er Nahrung bringen. Und als die Beret erfuhr, wie elend es in jener Hütte bestellt war und wie die Frau so lange und schmale Backen hatte und graublau unter den Augen war, da war sie es, die ihn am eifrigsten anfeuerte: Er müsse fahren, solange er noch Wagen und Rösser zur Hand habe. Könne er nicht heute noch aufbrechen?
»Gemach, gemach, mein Schatz!« lachte der Per Hansen in strahlender Laune, »heut nacht schlaf ich nicht bei einer Hallingbäuerin!«
Nein, jetzt war er wieder einmal unwiderstehlich; – so kraftvoll und so gut! Und sie hätte ihn am liebsten beim Haarschopf genommen und tüchtig gezaust.
Der Ole wurde sogleich ans Netzestricken gesetzt. Der Vater hatte bereits vier Faden fertig; das war letzte Nacht beim Schein des Lagerfeuers gewesen, da hatte er gestrickt, als die anderen schon lange in der Koje lagen. – – Die Buben waren ganz toll, als sie das Netz sahen. Wolle er im Sioux River mit Garn fischen? Beide bettelten sofort darum mitzudürfen. »Rühr‘ deine Finger emsig, Olamann, emsig, sag‘ ich dir!« Der Vater tat so geheimnisvoll und wollte nicht mit der Sprache heraus.
Er selber machte sich mit dem Großen-Hans hinter den Kalk; der wurde hineingetragen und in den Winkel gestellt, damit keine Feuchtigkeit herankomme. Aber es war noch viel mit ihm vorzunehmen, ehe er verwandt werden konnte. Zunächst war eine Holzkiste nötig, die so dicht war, daß sie Wasser hielt, nun, das Material dafür hatte er mit! Er fügte einige Bretter zu der Kiste zusammen, trug sie zum Bach und stellte sie ins Wasser Da quoll sie aus, bis er sie einmal brauchte! —
Schließlich kam der Abend eines höchst arbeitsamen und kurzweiligen Tages. Die Buben hatten sich schon gelegt und waren im Nu eingeschlafen.
Aber der Per Hansen hatte noch nicht rechte Muße, sich zu legen. Da war nämlich das Netz, und das mußte heut nacht fertig werden. – Er hatte endlich die Beret dazu überredet, sich ins Bett zu legen; sie war jedoch heute abend gar nicht müde; sie plauderte mit ihm weiter und fädelte die Netznadeln ein. Er setzte ihr auseinander, wie er das Netz anzuwenden gedenke. Zunächst wolle er es in den Sioux River setzen, wenn er ihn morgen überquerte – er glaube nämlich eine leckre Stelle zu wissen – und es stehenlassen, bis er von den Hallingen zurückkam. Gehe alles mit rechten Dingen zu, dann bringe er schon morgen frische Fische mit heim. Das aber sei nur ganz nebenher, müsse sie wissen. Das andre aber – ja sie dürfe keine Silbe davon vor den Buben verlauten lassen – das gebe die große Überraschung für sie, – seien doch auch gar zu prächtige Burschen! – Ja, er habe sich also ausgedacht, die Enten mit dem Netze zu fangen, – akkurat dazu habe er das Garn gekauft. Wenn sich das Wetter nur noch ein paar Tage halte, dann gebe es andere Kost als Dachsbrühe!
Der Beret fiel jetzt ein, daß sie heute ja ganz vergessen hatte, das Fenster zu verhängen. Sie mußte lächeln; was hätte das wohl heute nacht für einen Sinn gehabt? – Du lieber Gott! – —
Der Per Hansen strickte weiter am Netz und plauderte gemütlich, und es lag solche zuversichtliche Fröhlichkeit in allem, was er sagte. Er hatte die Litze an den Bettpfosten gebunden, und es war gerad wie beim Vater daheim! – Sie hörte ihn – hörte ihn nur noch wie aus weiter Ferne; und es wurde daraus das Plätschern und Murmeln der kleinen Wellen eines Meeres, das sich lässig in der Sommernacht dehnt. Das lullte sie ein und sie schlief die ganze Nacht, ohne sich zu rühren.
Als sie am Morgen erwachte, lag der Per Hansen dicht an der Wand, vollständig angezogen; es sah aus, als hätte er sich soeben hingelegt. – Die Dämmerung fiel in die Stube, vor dem Bett lag ein weißer Haufen. Nein, o nein, diese Buben! Hatten die nun wieder einmal ihre Kleider auf die Erde geworfen! Sie wollte die Kleider auf die Bank legen und faßte hinein – und da war es ein neues Netz, aufgereiht und fix und fertig, ganz wie ein gutes Netz sein soll.
Der Arme! Da hatte er die ganze Nacht gestrickt! Sie deckte ihn behutsam mit der Felldecke zu. —
An dem Morgen griff die Beret ihren Weizenmehlvorrat an, um ihm einen Pfannenkuchen zu backen. Einen ausnehmend guten Bissen sollte er zu schmecken bekommen, ehe er sich wieder auf den Weg machte! – – —
Die Beret arbeitete an diesem Tage angestrengt und bewegte vielerlei in ihrem Sinn. – – – Es war wohl so für sie bestimmt! Es gab einen, der alles lenkte, – und der wußte auch, was er tat, und es nützte so wenig, mit ihm zu hadern! —
Sie mußte oft ans Fenster, um nach Osten zu schauen. Mit jedem Male wurde es dunkler und dunkler.
An dem Abend verhängte sie das Fenster wieder dicht. —
Das Gemüt, das die Sonne nicht einzulassen wagte
I
In den ersten Oktobertagen schwebten ein paar weiße Daunen in der Luft, – flatterten umher, – flogen ziellos —, sanken zuletzt im Bogen zur Erde und vergingen.
Die Luft wurde wieder klar. Es folgten etliche schläfrige Sonnenscheintage mit sattgelbem Dunst und lebloser Stille.
Die Sonne hatte keine rechte Gewalt mehr. Jeden Morgen stieg sie auf, glitt über den Himmel, jeden Tag weniger hoch; und erst am Abend, wenn sie sich dem Saum der Widde im Westen näherte, belebte sie sich. Dann wachte sie auf, wurde groß und feurig und bekam einen Glanz, der die Menschen zwang stehenzubleiben und aufzusehen. Dann schäumte und flutete der Westhimmel der kommenden Nacht mit verschwenderischem Reichtum üppiger Farben entgegen. – – Die Menschen sprachen dann nur leise miteinander. Wann hätte man je solche Abendsonne gesehen?
– Tagaus, tagein dasselbe. – Abend auf Abend das gleiche. – – Merkwürdig still war der Tag, der Abend noch geheimnisvoller stumm. – Da verging auch den Menschen jede laute Rede.
Aber dann eines Morgens – Oktober war schon halb vergangen – bekam die Sonne ihr Auge nicht mehr auf. Der Himmel lagerte über der Widde, dicht bepackt mit Grau und Stille. Es war zugig in dem Grau und doch kein Wind zu spüren. – Die Menschen suchten sich wärmere Kleidung heraus und froren doch weiter, als hätten sie nichts an. Blaßgrau und gottverlassen öde lag rings die Unendlichkeit.
Am Nachmittag begann es zu stiemen. Die Flocken segelten aus dem Norden herbei, die Luft füllte sich allmählich ganz mit einem endlosen Gewimmel von grauweißen Punkten, die alle in der gleichen Richtung steuerten. Der Abend dieses Tages war kurz und verlor sich in einer pechschwarzen Nacht, die wunderlich beschwerte.
– – Wieder wurde ein Tag, nur erhellt von dem Licht, das die weißgrauen Punkte gaben. Es schneite. Auch in der Nacht. – Endlich wurde es wieder hell. Der Tag kam heraus, – ohne Sonne. Kalt blies und fegte der Wind um die Ecken, faßte die weiße Decke und schüttelte blasse Wirbel daraus vor. Die Wirbel jagten davon und kamen zurück – – legten sich, rauchten auf, kreiselten weiter. – – Und immer neue kamen. – – Es waren ihrer so viele. —
II
Der Per Hansen und die Buben tummelten sich in den Tagen vor Winters Anbruch. Sie stürmten von Märchen zu Märchen. Rast gab es keine, weder tags noch bei Nacht. Die Beret schaute ihnen nach, wenn sie davonfuhren; und waren sie zurückzuerwarten, so ging sie mit dem Gössel auf dem Arm vor die Tür nach ihnen ausspähen und hatte auf dem Herd etwas Warmes bereit. Die froren jetzt gewiß, arme Mannsleut! – —
Wenn sie dann um den Tisch saßen und das Gespräch von Begebenheit zu Begebenheit hüpfte, dann vermochte die Mutter nicht zu folgen. Die frohe Lebendigkeit und der lachende Lärm der drei scheuchte ihre eigenen schweren Gedanken nur noch tiefer ins Dunkle hinein.
Und doch mußte sie einräumen, daß der Per Hansen sich auf ganz besondere Künste verstand. Niemals werde sie begreifen, wo er das alles gelernt. Da waren zum Beispiel die Wände, auf die er so strahlend stolz war und die der Große-Hans niemals müde wurde zu bewundern.
An die Wände hatte er sich gleich gemacht, nachdem er die Kartoffeln zu den Hallingen gefahren hatte. Den Kalk hatte er nach der Vorschrift gemischt und auf die Wände geschmiert und das in doppelter und dreifacher Lage. Jetzt leuchtete es im Innern der Gamme, daß einem fast die Augen weh taten. Solange noch nicht Schnee lag, hatte die Beret gefunden, es sei artig, in solcher Stube zu wohnen; als es aber draußen, soweit das Auge sah und der Gedanke reichte, weiß und nichts als weiß wurde, da meinte sie, es sei doch verkehrt gewesen, daß er‘s getan. Jetzt schmerzten die Augen draußen und drinnen. Der dunkle Lehmboden wurde zu dem einzigen, auf dem der Blick verweilen und ausruhen konnte. Die Beret sah jetzt stets zur Erde, wenn sie sich drinnen aufhielt.
– Darüber etwas zu sagen, ihm die Freude zu nehmen, nein, das brachte sie nicht fertig. – – Und es konnte ihr ja auch gleich sein. Sie hielt es wohl noch aus die kurze Frist, die ihr gegeben! —
Die vielen Fische aber, die der Per Hansen mit beiden Buben von einem großen Ausflug zum Sioux River mit heimbrachte, bereiteten ihr uneingeschränkte Freude. Und der Per Hansen hatte bei der Gelegenheit gleich bei den Tröndern vielerlei Merkwürdiges erörtert und manche wichtige Aufklärung erhalten. – Jetzt lagen längs der ganzen Hüttenwand gefrorene Fische, und der Per Hansen bewies der Beret, welch eine segensvolle Fügung Gottes es sei, daß der Schnee endlich da war. Du lieber Himmelt wäre der jetzt nicht gekommen, hätte er ihn geradezu holen müssen! Jetzt hätten sie den ganzen Winter über frische Fische.«
»Hei, Alte,« lachte er, wenn sie darüber klagte, daß es, seit der Schnee gekommen, so öde geworden sei. »Du kannst doch wohl begreifen, daß wir ohne den Schnee nicht aus noch ein gewußt hätten! – Hei, weiß und schmuck draußen wie drinnen! Möcht‘ wissen, ob man nicht auch mit dem Fußboden etwas anstellen könnt‘?«
Und jetzt kam es auch an den Tag, was der Per Hansen sich gedacht hatte, als er die Unmenge Salz gekauft: er salzte Fische ein in alle irgend entbehrlichen Gefäße.
Für die Buben jedoch war die Entenjagd mit dem Netz das herrlichste von allen Abenteuern. Während der Große-Hans und der Bruder bloß immer davon geschwätzt, hatte der Vater sich alle Mittel ausgedacht. Narrten die Enten ihn auf die eine Weise, dann übertölpelte er sie auf eine andere – ins Garn mußten sie. – Drei Nächte hatten die drei an den westlichen Sümpfen zugebracht und sich mit all dem Unrat, den Vögel hinterlassen, und den Unbilden der Wildnis und des Wetters herumgeschlagen. Bei Tageshelle kamen sie wieder heim, naß wie Krähen, verklammt am ganzen Körper und blaugefroren im Gesicht. Aber einen Fang hatten sie gemacht! – Kaum brach der Abend herein, so ging es wieder los.
Die Beret bat so bekümmert mit Worten und Gebärden, sie möchten doch nicht wieder hinaus; sie täten sich Schaden auf die Weise. Was sollten sie wohl mit all dem Geflügel? Sie könnten das gar nicht alles aufessen! – – Da mußten die Buben lachen. Das klang akkurat, als hörten sie die Sofie reden; die Weiberleut waren wohl alle gleich unverständig. Hatte man so etwas gehört – keine Enten mehr fangen!
Und der Vater lachte auch und scherzte mit der Mutter. O doch, sie müßten die Nahrung hereinholen, die ihnen gerad vor der Hüttentür lag. Vielleicht friere es schon heute nacht? – »Wart bloß ab, bis die Enten gerupft sind, dann gibt‘s ein feines Federbett sowohl für dich wie für Klein-Per!« – Der Per Hansen sagte das mit ganz weicher Stimme. – »Und im übrigen gibt es auch auf des Königs Tafel keinen größeren Leckerbissen als solche Enten!«
Aber er überzeugte sie nicht. »Wir haben‘s nicht vonnöten!« sagte sie kleinlaut und schwieg.
Die Dämmerung kam, die Mannsleut fuhren davon, und sie blieb mit dem Kind allein. —
Und dann war der Winter gekommen; die Sümpfe froren zu und mit dem Entenfang war‘s für dies Jahr vorbei.
Und jetzt hatte der Per Hansen Zeit, sich ein wenig zu strecken und zu verschnaufen.
»Ja, jetzt meine ich fast, wir tragen den Nachbarn ein wenig Suppenfleisch hin,« sagte er. »Diesmal soll‘s etwas anderes geben als Dachsbrühe!« – —
In der kleinen Siedlung waren alle in den Tagen vor Winters Kommen emsig bei der Arbeit. Sie ahnten sein Nahen und daß es am besten sei, sich zu seinem Empfang zu rüsten. Sowohl der Hans Olsen, wie Tönset‘n und die Solumbuben waren zum Sioux River nach Holz gefahren, zweimal sogar, und waren in der letzten Zeit wenig daheim gewesen. – Man besuchte sich gegenseitig nur selten; jeder war zu sehr beschäftigt. Übrigens suchten sie den Per Hansen überhaupt nicht allzuoft auf. Es war so sonderbar mit der Frau dort im Haus: wenig sagte sie; bisweilen empfanden sie es, als kämen sie ungelegen; sie ließ Worte fallen, über die sie sich wundern mußten.
An dem Tage aber, als die Buben die Enten in alle Hütten brachten und stolz auf die mitgebrachten Herrlichkeiten daneben standen und Dinge verlauten ließen, die sich wie Märchen anhörten, da gingen die Leute zum Per Hansen hinüber, um zu hören, wie er sich beim Vogelfang verhalten habe. Denn damit wollten die Buben nicht heraus, soviel man auch nachforschte. Die Solumbuben waren die ersten, Tönset‘n und die Kjersti ließen nicht lange auf sich warten; zuletzt kam auch der Hans Olsen und sein Weib.
Als sie aber erst in der Hütte standen, vergaßen sie die Entenjagd und starrten bloß die Wände auf und ab.
Nein, o nein, was war denn das! Hatten sie etwa Schnee an die Wände gekleistert? – Der Sam schien das wirklich zu glauben und tupfte daran. – »Was ist es denn aber sonst? Doch nicht Farbe? – Du große Welt, wie schmuck das ist!«
Der Per Hansen saß dabei, sog an der Pfeife und genoß seinen Triumph; er hatte, schien es ihm, die Nachbarn noch nie so lieb gehabt, wie zu dieser Stunde. – – Die Beret ging still umher und hörte zu, hatte heiße Backen und war ein wenig verlegen, – um keinen Preis der Welt hätte sie das mit den Wänden jetzt ungetan gewünscht!
Die Sörine lächelte hübsch und lieb und ging zur Beret und sagte warm: »Jetzt ist‘s doch richtig schmuck in deiner Stube. Sollst sehen, du wirst hier noch gedeihen,« und half ihr bei der Hausarbeit.
Die Kjersti aber klopfte sich die Schenkel: da könnt‘ einer sehen, was sie und die Sörfina für mäßige Männer bekommen hätten! Warum falle denn denen nicht etwas so Artiges ein? Warum saß denn nur dem Per Hansen der Kopf an der rechten Stelle? – Ihr Mann schnappte auch richtig ein; er müsse sie denn doch daran erinnern, daß er es gleichsam gewesen, der die Landsleute aus den Westfjorden eingefangen habe! »Auch weiß ich nicht, was diese Schrulle vom Per Hansen für einen Zweck haben kann; hier ist es, Gott strafe mich, bald so fein, daß man nicht mehr ausspucken darf!« Und Tönset‘n bedachte die Beret mit vorwurfsvollen Blicken; denn des Per Hansen Größenwahnsinn, der schrieb sich selbstverständlich von ihr her, die sich niemals dazu bequemen konnte, wie andre Leut zu sein.
Die Solumbuben hatten ihre helle Freude an den Wänden. Heirateten sie einmal, wollten sie‘s akkurat ebenso machen.
Der Hans Olsen sog an der Pfeife und spendierte nicht viel Worte. Er fand das alles bloß so sonderbar. Er fügte bedächtig die Einzelheiten zusammen, ohne sich einen Reim daraus machen zu können: Sah das dem Per Hansen ähnlich? Ihm, der sich bei jeder erdenklichen Gelegenheit Rat bei ihm zu holen pflegte? Der tat jetzt alles allein? Wenn der wußte, wie eine schwarze Erdwand mit so geringen Kosten weiß und schön zu machen sei, warum hatte er es dann für sich behalten? Hier draußen gab es wahrhaftig nicht allzuviel Behaglichkeit, so daß alle vorhandene und erreichbare allen zugänglich gemacht werden mußte. – Das große derbe Gesicht blickte ernst. Er mußte den Per Hansen immer wieder ansehen: Nein, das war noch das gleiche gute Gesicht, das man gern neben sich wußte! Das war wohl auch nur wieder so ein Schabernack, wie er ihn ständig im Kopf trug. – – Als die beiden eine Weile später vor der Tür dem fallenden Schnee zusahen, da meinte der Hans Olsen ruhig:
»Du hast‘s jetzt bei dir drinnen gar schmuck, Per Hansen; aber der, der deine Außenwände herrichtet, der macht das nun gleichwohl mindestens ebensogut. – Dünke dich nicht groß um deiner eigenen Findigkeit willen!«
»Ach Dreck, Hans Olsen,« lachte der Per Hansen, »was faselst du da! Komm jetzt und such ein paar Enten für die Sörrina aus!«
III
Es sei nur gut, daß der Winter gekommen war, fand der Per Hansen, denn wahrhaftig, jetzt müsse er eine Weile Winterschlaf halten.
Mittags verzehrte er seine tüchtige Portion Enten oder Fische, zündete sich die Pfeife an, streckte sich und sagte:
»Ja, jetzt haben wir‘s so gut, wie Menschen es überhaupt nur haben können, du Beretmutter!« Eine Antwort erwartete er nicht weiter, bekam sie auch selten genug. Nach dem Essen gönnte er sich einen tüchtigen Mittagsschlummer, schlief wohl auch gleich die ganze Nacht durch. – – Das Leben war sehr schön; freilich war es das!
So ging es ein paar Tage; das schlechte Wetter dauerte an. Der Per Hansen futterte tüchtig, beteuerte, wenn er satt war, von neuem, jetzt hätten sie‘s wahrlich gut, und schlief den Schlaf des Gerechten; – er konnte übrigens nicht begreifen, daß er trotzdem niemals ausgeschlafen hatte. – – Bisweilen machte er eine Runde ums Haus, beguckte sich das Wetter und die Nachbarhütten. Nein, draußen könnt‘ sich einer nichts vornehmen. Und da ging er wieder hinein, streckte sich und gähnte.
Die Tage verstrichen.
Ja, die Tage verstrichen. Der eine genau wie der andre. Und der Per Hansen konnte eines nicht begreifen: seines Wissens wurden die Tage jetzt kürzer, mit jedem Abend; aber – wurden sie nicht eigentlich länger?
Gewiß, sie wurden länger! – Zu guter Letzt waren sie so lang, daß er nicht mehr wußte, was er anstellen solle, um sie totzuschlagen. Er sagte sich zwar selbst, es sei alles schön und gut, und er müsse jetzt verschnaufen nach all der wirklich schweren Arbeit im Herbst, und es sei gar so prächtig, eine Weile den Herrenmann spielen zu dürfen, – und es werde sich schon geben, wenn mit dem Frühjahr das gute Wetter kam und sein großer Besitz zugesät werden mußte – nein, er müsse sich durchaus noch ein wenig ausruhen!
Aber die Tage wurden doch länger!
Es war nicht abzuleugnen, daß er anfing, sich zu langweilen. Draußen war es ständig dasselbe, schien niemals anders werden zu wollen. Graue Luft. Rauh und naßkalt. Schneefall und Schneegestöber. Er konnte gerade noch ahnen, wo des Hans Olsen Hütten lagen.
– – Draußen war nicht das geringste zu tun. Der Vorrat an zerhacktem Holz war reichlich groß; das Füttern des Viehs war bald gemacht. – – Ja, dann war also da draußen nichts zu besorgen.
Der Per Hansen setzte sich an den Tisch; er legte sich aufs Bett, wenn er vom Sitzen müde war; er versuchte, so lange zu schlafen, als es irgend ging, wachte auf, drehte sich auf die andre Seite und schlief weiter; stand auf und setzte sich an den Tisch, wenn ihm das Liegen zuviel wurde.
Die Zeit war einfach stehengeblieben! Etwas so Tolles hatte er noch nicht erlebt, – das war schlimmer als das schlimmste Wetterfestliegen auf dem Lofot!
Den Buben ging es nicht viel besser. Auch sie lungerten herum, – saßen, bis sie sich in die Haare gerieten und rauften, so daß der Vater aufstehen und Hand an sie legen mußte. Aber er verfuhr nicht allzu streng. Arme Buben, was hätten sie wohl mit sich anstellen sollen ? – – Die Mutter gemahnte immer an die Bücher. Der Vater sagte, ja freilich müßten sie lernen! In diesem Hause sollten keine Heiden aufwachsen! Und wenn es um ›das Buch‹ Auch in deutschen Bauerngegenden wird noch heute die Bibel als ›das Buch‹ schlechthin bezeichnet. ging, konnte er sogar hart werden. Aber – Buben blieben halt Buben, – er hatte es noch nicht vergessen.
Nein! So ging das unmöglich weiter. Er pfiff aufs Wetter, zog die Jacke an, hieß die Buben das gleiche tun und dann gingen sie an den Holzstapel. – Sie sägten und sie zerkleinerten; sie verstauten zunächst all das Kleinholz, das drinnen Platz hatte; darauf bauten sie ein lustiges Häuslein aus Klobenholz – – so hübsch und geschickt war das Häuslein! – und packten es voll. Das ging geradezu flott, obwohl das Wetter scheußlich kalt und unwirsch war. Sie arbeiteten vom frühen Morgen bis zum späten Abend, gaben sich nur wenig Zeit für die Mittagspause; die Buben fingen schon an, sich zu beschweren, bald könnten sie nicht mehr. – – – Der Holzstoß beschäftigte sie genau vier Tage, dann war der und damit die Außenarbeit zu Ende.
Und dann saßen sie wieder da.
Das Wetter hielt an: Ein kalter durchdringender Wind aus Nordwest blies von morgens bis abends und heulte des Nachts um die Hausecken. Schnee stiemte und Schnee fiel. – —
Keine Sonne. – – Kein Himmel. – – Der aschgraue Nebel, der so häßlich feuchtkalt war, umgab sie und bedeckte sie wie erstarrt.
Des Abends ging jetzt der Vollmond auf. Dann begann der Nebel zu leuchten und lebendig zu werden und war gar wunderlich anzusehen. Der Mond kam Abend für Abend.
Der Per Hansen dachte bei seinem Anblick: jetzt sind draußen gewiß die Trolle unterwegs? —
Eines Abends kamen Tönset‘n und die Kjersti herüber. Sie blieben lange plaudernd sitzen. Dem Syvert war es anzumerken, daß er mißgestimmt war; er rauchte zwar seine Pfeife, war aber mürrisch und betrachtete des Per Hansen Wände, und das wenige, was er vorbrachte, wurde unnötig laut geäußert.
Die Kjersti hielt sich an die Beret; beide saßen auf dem Bett und schienen ungemein viel miteinander bereden zu müssen.
Sie sei heute abend, sagte die Kjersti, eigens gekommen, um zu fragen, ob – ob – ja, ob sie der Beret nicht ein wenig aushelfen dürfe? Sie habe etwas Wollgarn daheim in der Lade, gar so weiches und feines Garn; nehme die Beret es übel, wenn sie für den Neuankömmling, den sie hier erwarteten, ein Paar Strümpfe strickte? Es sei schönes Garn, wirklich! Die Beret möge ihr glauben, die Zeit werde ihr und ihrem Piepmeier lang, die sie so allein in ihrer Hütte säßen und nichts Kleines erwarteten! Sie habe viel Garn und könne die Socken so lang stricken, daß zugleich Hosen draus würden. – Die Arbeit werde kurzweilig sein für sie; ja, auch für den armen Syvert, der kein Kleines bekam!
Ach ja, Gott helfe, der Syvert sei ja an sich recht brav, – da fehle nichts! – Und der Kjersti fiel dabei eine Geschichte ein, die sie einmal gehört, von einem Paar, das sich so sehr ein Kind gewünscht. Die Frau habe nicht besseren Verstand gehabt, als daß sie bei einem Zauberweib Hilfe gesucht und von ihr sowohl Teufelsdreck wie auch Bibergalle bekommen habe; sie habe es sich sowohl außen auf geschmiert, wie auch in sich hineingeschluckt; aber es wurde doch nicht anders mit ihr, nein! – Nicht eher, als bis eines Sommers der Hering in die Bucht geschwärmt kam und mit ihm zugleich viele fremde Schleppnetzfischer. O ja, die Sehnsucht brennt, wenn sie erst da ist! »Aber willst du glauben, daß der Mann das Kind ebenso lieb gewann, als sei er der rechte Vater? Ja, ist das nicht merkwürdig? – Aber als der Bub gut ein Jahr alt war und sie ihn am Sonntag zur Taufe in die Kirche bringen wollten, ja, da war solch ein Unwetter, daß sie, als sie in den Fjord hineinsegelten, umschlugen; und da nahm der Herrgott Mutter und Kind zu sich – nahm sich wieder, was er verweigert hatte zu schenken und nahm obendrein mehr!« Sie habe die Leut sogar recht gut gekannt.
Die Beret hörte aufmerksam zu und kam mit der Nachbarin in ein lebhaftes Plaudern. —
Die Männer am Tisch waren zuletzt auch der Erzählung gefolgt.
Der Per Hansen warf dem Syvert lachend einen Blick zu, der Syvert schaute wieder die Wände auf und ab und sagte hitzig:
»Du solltest lieber über Amerika plaudern, Kjersti; mit dem Trollwesen drüben in Norwegen haben wir jetzt abgeschlossen!« Er erhob sich zum Gehen.
Aber davon wollte der Per Hansen nichts wissen. Wenn sie nun doch schon dem Unwetter getrotzt hätten, sollten sie auch noch eine Weile bleiben: »Und heimwärts hast du Mitwind, Syvert!« —
Eines Nachmittags kam der Hans Olsen mit seinem ganzen Hausstand zu Besuch. Sie blieben bis zur Dunkelheit, ließen etwas davon fallen, daß sie nun wohl bald an den Heimweg denken müßten, machten aber keine Anstalten zum Aufbruch. – – Die Sörine hatte ein Geschenklein für die Beret mitgebracht. Sie habe einige Stoffreste liegen gehabt, mit denen sie nichts anzufangen gewußt. In dieser Zeit des Jahres sei es so langweilig, daß sie sich etwas zu tun suchen müsse; und da habe sie halt etwas für den Ankömmling, auf den sie alle miteinander warteten, genäht. Und die Sörine zog aus dem Busen ein Kinderhäublein; es war aus weißen und roten und blauen Streifen zusammengesetzt, hatte lange Seidenbänder und war mit großer Sorgfalt genäht. Es war ein hübsches Stück. Alle mußten sie das Mützlein bewundern; die Freude war groß und das Lob floß reichlich. – Die Beret sagte am wenigsten; sie nahm mit feuchten Augen die Mütze entgegen und legte sie vorsichtig in die große Lade.
Heute abend war es die Beret, die durchaus, nichts davon hören wollte, daß die Gäste schon gingen. Sie war hartnäckig und entschieden. Hier lägen doch so viele Eßwaren herum, – mehr als sie selbst verzehren könnten! Die Gäste müßten ihnen unbedingt helfen, etwas davon zu vertilgen! – – Das freute den Per Hansen ungemein. Es verhalte sich gerad, wie die Beret sage, sie hätten übergenug, und mehr noch schwimme im Sioux River herum; der heutige Abend müsse durchaus mit frischen Fischen gefeiert werden! – Er lief hinaus nach Gefrierfisch und zerlegte ihn selbst. Und das war akkurat wie auf dem Lofot, und er war wieder bei bester Laune.
Alle fanden es an diesem Abend gemütlich.
IV
Nein, die Tage nahmen kein Ende! – – – Und sie waren erst in der Mitte November! Dem Per Hansen schien, er habe bereits mehrere Winter lang am Tische gesessen, an der Pfeife gekaut und der Beret zugesehen.
Ja, er sah der Beret zu. In den letzten Wochen war ihm mancherlei aufgefallen, was er vorher übersehen. Kleinigkeiten zwar; aber es waren ihrer so viele. Seit er hier saß, ohne auf eine Arbeit kommen zu können, verknüpften die Gedanken, was er sah, und legten es zusammen, vorsichtig und langsam. Und die Summe gefiel ihm immer weniger. – Er versuchte es abzuschütteln, in den Wind zu schlagen. Und es glückte ihm anfangs. Herrgott, alles bloß Kleinigkeiten, wie sie unter solchen Umständen leicht vorkommen! O nein, keine Gefahr, daß die Beret, sie, den Strauß nicht bestehen werde! – Denn das war ja nur ein Naturgesetz, das zu erfüllen dem Menschlein bevorstand. – – Es lag wohl alles nur daran, daß ihr so graute, der Ärmsten? —
Aber sie wiederholten sich, diese Kleinigkeiten; und es waren ihrer so viele. Der Per Hansen vermochte sie nicht wegzudeuten.
War sie diesmal nicht auch viel magerer als sonst, – oder täuschte er sich? – Sie sah nicht gut aus – nein – – —. Warum aß sie nicht reichlicher? Großer Gott, sie sparte sich doch wohl nicht etwa das Essen vom Munde ab ? Sie hatten ja doch haufenweise Vorräte! Fisch und Fleisch und nicht wenig Mehl. Sie sollte, bitt‘ schön, zugreifen, seine Gold-Beret, sonst würde er einmal zu einem anderen Tanz aufspielen! – Eines Tages bei Tisch sagte er zu ihr, sie dürfe doch nicht so tun, als sei sie in ihrem eigenen Hause zu Gast. Er sprach derb und entschieden: sie solle sich gefälligst auftun, wie es sich für einen erwachsenen Menschen gehöre! »Greif zu, Alte!« Und damit faßte er in die Schüssel und legte ihr ein großes Stück Fisch auf den Teller. – Sie pickte daran herum und ließ es liegen.
»Jeder Bissen fällt einem schwer,« sagte sie.
»Aber du kannst doch wohl einsehen, daß du essen mußt, – sowohl für dich selbst wie für —«
»O ja,« sagte sie und stand vom Tische auf, »mit dem Essen geht‘s schon noch.« —
Jetzt fiel ihm auch auf, daß sie des Nachts viel wach lag. Er schlief gewiß immer vor ihr ein, und morgens war sie schon wach, wenn er sich rührte, obwohl er ein Frühaufsteher war. Erwachte er nachts, so konnte er eigentlich immer damit rechnen, auch sie wach zu finden. – – Eines Nachts weckte sie ihn. Sie saß aufrecht im Bett, hatte gewiß geweint, – er konnte es der Stimme anhören. Und dann war es nur, daß sie ihn bat, doch einmal nachzuschauen, was dem Großen-Hans fehle; er habe die ganze Nacht gewimmert, sagte sie. – Der Per Hansen hatte es sogleich getan; aber dem Buben fehlte nichts. – – In der Nacht wurde ihm gründlich angst; denn als er sich wieder legte, begann sie verzweifelt zu weinen. In dem wenigen, was er aus ihr herausbekam, konnte er auch nicht viel Sinn finden. – Seither scheute er sich, lieb zu ihr zu sein; er merkte, daß dann das Weinen erst recht kam. Und das war kein gutes Zeichen!
Er beobachtete die Frau den lieben langen Tag und wurde immer besorgter um sie.
Sie, die so säuberlich war und allem, was sie sich anzog, ein so hübsches Aussehen zu geben verstand, ging jetzt schlampig umher und mochte sich nicht mehr ordentlich halten – ja, jetzt sah er auch das! Selten, daß sie sich das Gesicht wusch. Und das Haar, das schöne Haar, in das er so vernarrt war und mit dem er so gern spielte, wenn sie wohlgelaunt war, das hing jetzt in struppigen Flechten herab. Waren es nicht bereits zwei Tage, daß sie es sich nicht aufgesteckt hatte ? – – Nein, er getraute sich nicht, darüber etwas zu sagen. Wie konnte er wohl mit der Beret darüber sprechen, sich sauber zu halten, mit ihr, die so peinlich mit allem war, daß sie ihn oft schalt, weil er so gleichgültig und nachlässig mit seinem Äußeren sei? – – Nun, nicht als ob sein Beretmädel nicht hübsch genug sei, nein wahrhaftig nicht!
Aber als er sie eines Tages so unsauber vor sich sah, stand er plötzlich auf, ging zum Fenster, sah hinaus und sagte dann:
»Ich glaube fast, du mußt dir dein Haar machen, Beretmütterlein. Ich habe so das Gefühl, als kämen heute Gäste.«
Da schaute sie ihn erschreckt an, wurde brennend rot und ging zur Stube hinaus. – Er hörte sie im Stall. Sie blieb dort lange, und er konnte nicht begreifen, was sie sich dort um diese Tageszeit vornahm. Er war verwundert und beunruhigt. Als sie wieder hereinkam, wagte er nicht, sie anzusehen. – Aber dann fing sie an, sich hübsch herzurichten; sie wusch sich, löste die Flechten auf, kämmte sich und steckte das Haar schön auf. Sie ließ sich auch zu allem gute Zeit. – – Er mußte ihr durchaus dabei zuschauen. Er legte seine ganze Seele in den Blick, sah sie bloß immerwährend an; jetzt hätte er ihr gar zu gern etwas recht Schönes und zu Herzen Dringendes gesagt! Aber sie sah nicht zu ihm hin und da wagte er‘s nicht. Die beiden Buben saßen übrigens auch in der Stube.
Den übrigen Teil des Tages war ihm froher zumute als seit langer Zeit. O, jetzt wurde sie bestimmt allright, seine Beret, – ja – sie war ja doch allright; da fehlte nichts! —
Aber – es kamen der Tage mehr; der Per Hansen wußte sich nichts vorzunehmen, guckte die Frau an, guckte und guckte und sah schließlich nur noch lauter Verkehrtheiten.
So wortkarg und verschlossen war sie doch keines der anderen Male gewesen ? – Er plauderte mit den Buben von der Zukunft, versuchte auf jede Weise, die Frau mit ins Geplauder zu ziehen, und es glückte ihm nicht! Und er fühlte: es lag nicht etwa daran, daß sie nicht wollte, sondern sie war es nicht imstande! Der Schmerz darüber zerrte an ihm wie ein Hungern: Großer Gott, war sie denn so entkräftet! Und dabei konnte sie noch nicht einmal tüchtig essen! Da saß die Beret keine vier Schritt ab und war gleichwohl ganz weit weg. Er redete mit ihr, richtete das Wort jetzt nur an sie und konnte sie doch nicht dazu bringen, den Zauberring zu übersteigen, der sie umgab. Als er das entdeckte, hätte er aufschreien mögen vor Weh.
Und dann war es auch das, daß die handgreiflichsten Dinge ihr völlig entglitten. Er hatte es schon mehrere Male gesehen, es aber nicht weiter beachtet; aber es wiederholte sich. Sie konnte soeben etwas beiseite gelegt haben und gleich darauf danach suchen. Und der Gegenstand lag, wo sie ihn hingelegt. – Das geschah, wie gesagt, oft. Bisweilen mußten er und die Buben miteinander über sie lächeln. – »Ich meine fast, deine Augen sind dir im Weg, Mutter!« rief der Große-Hans und lachte so herzensgut, daß er die anderen ansteckte. Aber der Per Hansen merkte bald, daß sie dieses Lachen nicht mochte.
Eines Tages suchte sie nach der Schere, obwohl sie sie in der Hand hielt. Die andern mußten ihr schließlich helfen. Plötzlich entdeckte der Ole die Schere in der Hand der Mutter, lief hinzu und riß sie an sich; der Bub schrie vor Lachen. Da brach sie in heftiges Weinen aus, legte alles zur Seite und ging sogleich zu Bett. – Die andern hatten ein unheimliches Gefühl, alle drei.
Und zuzeiten konnte sie gegen alle ungewöhnlich zärtlich sein – besonders gegen den Per Hansen. Ihre Fürsorglichkeit für ihn hatte dann etwas rührend Kindliches, und sie konnte sich weder für ihn noch die Kinder genug tun. Doch diese Stimmung schien dann so leicht zerbrechlich zu sein, daß er nicht wagte, daran zu rühren. – Und dennoch war er froh, wenn diese Laune kam.
Natürlich wurde sie, hinterher, wieder allright! – Und jetzt konnte es nicht mehr gar so weit bis dahin sein! —
V
Der Winter ließ nicht mehr locker, als er erst Fuß gefaßt. Das Schneetreiben tummelte sich gewaltig unter dem niedrigen Himmel, wühlte die Luft zu einem einzigen Wirbel zusammen, fegte mit argem Reiserbesen über die Ebene, rührte ein Gestöber auf, daß man die Augen nicht aufmachen konnte. – – —
Kaum klärte es auf, so zwängte sich der Frosthauch auch durch die winzigste Ritze und hinterließ seinen weißen Dunst. Der Atem stand, kaum daß er den Mund verlassen, gefroren in der Luft. Faßte man Eisen an, blieb ein Stück Haut daran hängen.
Aber bisweilen schob sich dazwischen ein leuchtender Sonnenscheintag. Dann lag die Riesenebene in funkelndem Glitzern von Myriaden Diamanten. – Das war so stark, daß es das Sehvermögen betäubte: wo es nichts gab als leuchtendes Weiß, sah das Auge nur schwarz.
Der Abend, der trollstille Abend, schöner als je ein Kindertraum ihn erfunden! – – – Im Westen sank ein flammendes Antlitz auf ein weißes Lager, steckte es in Brand, in Strahlenbrand, in Goldbrand, der die einzelnen Himmelszonen überflutete. Der Brand ergriff die vielen hunderttausend Millionen Diamanten und ließ sie in gelben, roten, grünen und blauen Flammen aufleuchten. – – —
Diese Abende enthielten Gefahren für jederlei Menschengemüt. In das gesunde legten sie lärmendes Lachen: wer hatte wohl je solche Mondnacht erlebt? – – – In dem Kranken aber weinte es, weinte hoffnungslos. Denn das war nicht mehr Leben, das war die Ewigkeit selber. —
Der Per Hansen hockte in seiner Gamme, aß, sog an der Pfeife, beobachtete angstvoll die Frau und wußte nicht aus noch ein. – Wo hätte er wohl hin gesollt? Es ging doch auch nicht an, die Nachbarn zu besuchen, wenn es daheim so elend stand. – Aber seine Gereiztheit nahm zu; es wurde ihm immer schwerer, die Fäuste feiern zu lassen. Es konnte ihn bisweilen solche Lust ankommen, die Beret, seine prächtige Beret, auf den Schoß zu nehmen wie ein unartiges Kind – jawohl, akkurat so! – und ihr Vernunft zuzusprechen. Denn das war nicht rechtschaffen von ihr gehandelt! Freilich hatte sie‘s jetzt nicht leicht, aber das ging doch einmal vorüber. – Und schau, die Plage lohnte sich wenigstens, war etwas, zu dem ein erwachsener Mensch sich frei bekennen konnte! Und sie hatte dazu noch ihre gesamte gewohnte Hausarbeit zu betreuen. Aber er? Ja, er durfte bloß dasitzen und zuschauen! – —
Nein, das war wohl auch verkehrt gedacht. Er wurde es nur so schauderhaft überdrüssig, hier herumzusitzen und zu warten! Sonderbar auch, daß sich das so lange hinauszog? Es mußte doch fast an der Zeit sein? – —
Er überlegte sich jetzt oft den Namen. Und das stand sogleich bei ihm fest: wurde es ein Dirnlein, sollte es Beret heißen, – das war ausgemacht! Kam sie aber mit einem Buben zu ihm, da wußte er noch nicht so recht? Er versuchte es mit zwei Namen, aber – nun ja, er mußte halt zusehen. – – Kam sie bloß erst mit dem Kinde, dann wollte er‘s mit den Namen schon schaffen!
Er kam sich so jämmerlich vor und fühlte sich geradezu unpäßlich, wenn er um die Hütte herumkroch. – – Wenn er noch geschwind einen Ausflug zu Sioux River machen könnte – es kam über ihn wie eine Versuchung – zu den Tröndern! Das bißchen Kälte war doch nichts! Der Weg war lang, gewiß! Aber er wollte ihn schon hinter sich bringen. Hatte er nicht ein Fünftehalbschottboot mitten in der schwärzesten Winternacht vom südlichen Helgeland bis nach dem westlichen Lofot sicher geführt? Dagegen war das hier ein Nichts. – Und bei den Tröndern, die alteingessen waren, konnte man so vielerlei erfahren. Es war doch merkwürdig, was sie ihm letzthin von den Indianern bei Flandreau und ihrem Pelzhandel erzählt hatten.
Aber das alles hatte ja keinen Sinn. Hier quälte sich die arme Beret mit dem, was auf ihr lag, und dem, was ihr bevorstand, und er durfte nur noch an sie denken.
Und der Per Hansen dachte an sie. – Ihm war aufgefallen, daß sie die Kälte schlecht vertrug; sie klagte nie, aber er sah es. Er sorgte jetzt selber für den Herd, hielt ihn fast den ganzen Tag über auf Rotglut. Dennoch war die Stube in der grimmigsten Kälte nicht genügend erwärmt. Der Lehmboden war immer kalt, und die Beret hatte kälteempfindliche Füße.
Da kam der Per Hansen eines Tages auf etwas, was ihm große Freude und Zerstreuung brachte. Während er und die Buben sich mit dem Holz zu schaffen machten, hatte er die größten astfreisten Stücke ausgesucht und sie viereckig zurechtgeschnitzelt, sie darauf zum Trocknen hinter den Herd gelegt; er wollte diesen Winter etwas recht Schönes daraus machen. – Jetzt suchte er sich die besten aus und fertigte ein Paar echter norwegischer Holzschuhe für die Beret, – er wußte, wie angenehm warm die halten, solange sie neu sind. Er war lange im Zweifel wegen des Oberleders gewesen. Aber dann schnitt er kurzerhand eine Ecke von der Felldecke ab, schor die Wolle kurz und machte daraus die Schuhdecken. Er setzte alles hübsch und nett zusammen und war nicht wenig stolz darüber. – Als er fertig war, trug er sie zur Beret und tat sie ihr an die Füße.
Sie war über das Geschenk gerührt, das sah er deutlich; aber dann sagte sie etwas, das sie, fand er, besser ungesagt gelassen hätte:
»Darauf hättest du früher kommen sollen. Jetzt bin ich schon den ganzen Winter mit kalten Füßen herumgegangen.« Die Worte fielen leise, es lag auch keine Anklage in ihnen, – sie sagte sie nur.
Aber da ging er stracks aus der Stube, blieb vor der Türe stehen, sah lange in den Abend hinein. – – Es spielte dort draußen. – – Dort war nicht Ruhe. – – Rief ihn nicht etwas? —
Der Per Hansen verspürte solchen Zwang zum Weinen. —
VI
Und eines schönen Tages riß dem Per Hansen die Geduld. Er geriet in einen Zorn, der ihn selber erschreckte, streckte die Hand aus, faßte etwas, und es zerbrach unter dem Griff.
Einer der Solumbuben gab den Anlaß. – Der Henry kam eines Vormittags herüber, trat in die Hütte und schwätzte lange, als läge nichts weiter vor. Der Per Hansen freute sich über den Besuch und nötigte ihn zum Bleiben. – Als der Henry sich endlich zum Gehen erhob, fragte er den Per Hansen, ob er ihre Kuh nicht bis zur Frühjahrsbestellung in Kost nehmen wolle. Die Kuh werde im Januar kalben, er also dabei nichts verlieren; Heu sei mehr als genug vorhanden. Der Henry fragte zaudernd und ohne aufzublicken; es war geradezu, als schäme er sich, sein Begehren vorzubringen.
Der Per Hansen zwinkerte mit den Augen; das war so hübsch von dem Henry! Mehr an die Beret und die Kinder zu denken als an sich selbst! Das war so hübsch, daß er es kaum begriff. – Nein, keineswegs könne er solch ein Angebot annehmen! Freilich sei es bei ihnen nicht flott bestellt mit der Milch; aber sie hätten gelernt, sich auch ohne sie gut zu behelfen. Sie äßen halt Suppe statt Mus, und da ginge es. – Nein, er wolle den Solumbuben den Tropfen Milch nicht nehmen, da sie ihn einmal hätten!
Der Henry schaute verlegen zu Boden, wußte augenscheinlich nicht, wie er sich seines Auftrags entledigen solle.
Oh, so war es eigentlich auch nicht gemeint gewesen, sagte er. Er und der Bruder hätten sich einen Schlitten gezimmert; den gedachten sie jetzt zu probieren. – Die Kuh könne nicht zurückbleiben, wenn sie fuhren.
Da lachten Per Hansens Augen; er beugte sich über den Tisch, redete eifrig und geschwind: Nein, blas‘ es der Kuckuck! Wollten sie etwa nach Sioux River? Wie? Ja, denn die Fahrt, die wollte er grausam gern mit ihnen mitmachen! Könnten sie nicht ein wenig auf ihn warten, bis er fertig sei? – Er warf einen geschwinden Blick auf die Frau.
Es sei auch nicht akkurat das, gestand der Henry und wurde noch verlegener. Die Eltern lebten allein im Osten von Minnesota – – und da hätten er und der Sam davon geredet, daß es vielleicht das beste für sie beide sei, sich nach Osten zu trollen und mit den alten Leuten Weihnachten zu feiern. – Es sei hier so einsam für sie – und jetzt ohnehin schwärzester Winter. Sie wollten zurückkommen, sobald es im Frühjahr wegsam geworden. – – Wolle er ihnen den Dienst erweisen, die Kuh zu übernehmen?
Erst war es, als erloschen in Per Hansens Gesicht alle Lichter; dann aber entzündeten sich mit einmal mehrere zugleich, und es fauchte und zischte aus ihnen.
»Dann nimm du nur dein altes Kuhgerippe mit, du Henry! Wir wollen deine Milch nicht!« Es zuckte um Pers Mund.
Well, meinte der Henry ruhig, nehme der Per es auf die Weise, müsse er sich wohl bei anderen umtun; aufnötigen wolle er niemandem die Kuh! Fand sich kein anderer Ausweg, müsse sie geschlachtet werden; denn mitnehmen könnten sie sie unmöglich. Und damit ging er.
Und jetzt war das Unwetter losgebrochen. – Die Buben saßen am Tisch, jeder mit einem Stück Kohle; sie zeichneten Ponys und Indianer auf die Tischplatte; die vom Großen-Hans sollten mit denen vom Ole Krieg führen; die Buben waren so in ihr Spiel vertieft, daß sie kaum merkten, was in der Stube vorging. – Die Beret flickte beim Herd und hatte das Gössel neben sich; das Kind versuchte sich an einem kleinen Läppchen mit Nadel und Faden. – – Der Per Hansen stand am Fenster und sah hinaus.
Da sagte die Beret in ihrer stillen Weise und ohne aufzusehen, sie finde es nicht so sonderbar, daß die Solumbuben weg wollten. Wozu sollten sie hier in der Wüstenei bleiben?
Es war, als hätte jemand plötzlich den Per Hansen gestochen, so fuhr er herum und blitzte die Frau mit harten, funkelnden Augen an.
Nein, sagte er schneidend, wenn diese Kerls Männer und nicht bloß verdammte Läuse wären, fänden sie sich freilich etwas zu tun!
Es trat Stille ein nach diesem Ausfall; er ließ sich schwer auf die Bank fallen. – Aber dann brauste er wieder auf:
Pö, zu tun, – zwei kräftige Mannsleut! – Da lag die leckerste Schlittenbahn vor ihnen, die man sich wünschen könne. Wären die beiden erwachsene Burschen und nicht die reinen Säuglinge, machten sie sich jetzt daran, Zimmerholz zum Hausbau anzufahren! Wenn er nicht hier gerad wie ein altes Weib zu sitzen genötigt wäre, hätte er jetzt genug Zimmerholz daheim zu dem prächtigsten Herrenhof und vielleicht sogar angefangen zu bauen! Sei sie wirklich der Meinung, hier sei nichts zu schaffen?
Die Worte rasselten in dem Stüblein wie eine Feile in einem Sägeblatt.
Wieder trat Stille ein. Er stand auf und steckte sich die Pfeife in den Mund, zündete aber nicht an; er wußte nicht, was er tat.
Sie war‘s, die das Schweigen wieder brach, und obwohl die Frage ganz ruhig klang, schnitt sie tiefer ein als sein Ausfall:
Warum tue er es denn nicht? fragte sie.
Brauche sie das zu fragen? schäumte er. Sei sie etwa in dem Zustand, daß er das Haus verlassen könne?
O, sie sei doch wohl in keinem schlechteren oder besseren Zustand, als in den er sie gebracht, antwortete sie. Und jetzt sprach auch aus ihren Worten Hitze. – Aber ihretwegen dürfe er nicht daheimsitzen, setzte sie noch hinzu.
Da schlug der Per Hansen mit der Faust auf den Tisch, daß es krachte. Die Buben bekamen es mit der Angst, rückten weg, – sie hatten ihn noch nie so gesehen; er sah aus, als könne er im nächsten Nu nach der Mutter schlagen. Das Gössel warf ihre Näharbeit der Mutter in den Schoß, steckte die Hand in den Mund und schrie wie am Spieß.
»Du schwätzest gerad, wie du Verstand dazu hast, – – – ja, weiß Gott!«
Er sah eine Mütze irgendwo an der Wand, griff sie, rannte zur Tür und fuhr zur Stube hinaus.
An dem Tage hielt er sich die ganze Zeit draußen auf. – Aber ehe es Abend wurde, hatte er für jeden der Buben ein Paar Skier hergestellt; die waren zwar recht klobig, aber nicht schlechter, als daß sie sich brauchen ließen. Die Buben rissen vor Freude die Augen auf, wagten aber noch nicht, dem Vater in die Nähe zu kommen. – – – Als er endlich am Abend hereinkam, stand das Essen bereits auf dem Tisch. – Die Beret hatte sich gelegt.
Sobald er gegessen, sagte er den Buben, er habe heute abend beim Olsen etwas zu besorgen; er wisse nicht, wann er heimkomme; bleibe er lange, sollten sie sich legen. – Nein, sie dürften nicht mit!
Er warf einen Blick auf das Bett und ging.
Beim Hans Olsen rief er die Sörine zu sich vor die Tür und bat, sie unter vier Augen sprechen zu dürfen; und jetzt war er verschämt und sonderbar, versuchte es hinter Scherz zu verbergen; aber es wollte nicht recht gelingen. – – – Er bat die Sörine inständig, ob sie nicht so freundlich sein wolle und nach der Beret sehen, – ja, es sei das beste, sie täte es sogleich!
Stehe denn etwas bevor? wollte die Sörine wissen.
Nein, nicht akkurat auf die Weise; – obwohl es jetzt gewiß an der Zeit sei. Aber die Sörine könne glauben, es sei fürwahr nicht so kurzweilig für die Beret, die allein sitze und nicht zur Tür hinauskönne. Weder sehe sie Leut, noch höre sie Leut!
O ja, sie ginge gern hinüber!
Könne sie nicht sogleich gehen ?
Sei es denn so erschrecklich eilig? Dann sei es das beste, daß er sogleich auch die Kjersti hole, – denn den Job wolle sie nicht allein übernehmen!
Nein nein. – Nein, darum handle es sich nicht!
Die Sörine zog sich an, kam wieder heraus und war bereit. – Er begleitete sie ein Stück des Wegs.
Wolle er denn mit? blieb sie stehen, um zu fragen.
Nein, das gerade auch nicht; er habe heute abend noch viel mit dem Hans Olsen zu bereden. – Es sei nur das, daß sie sich so gut auf alles verstehe, und deshalb müsse sie gut nach der Beret sehen. – Und sie dürfe sich diesmal nicht beeilen!
Sörines gutes, verständiges Gesicht schaute ihm gerade in die Augen: »Ich kann hören, daß du heut abend recht sehr in Angst um dein Weib bist, Per Hansen. Das ist hübsch von dir, will ich dir sagen!«
»Gott segne dich inniglich für deine Worte, Sörine!«
Der Per Hansen fühlte sich wie wiedergeboren, vermochte aber nicht aufzublicken. »Ich will dir etwas sagen, Sörrina! Ich bin nicht halb so bange um ihretwillen, als um meiner selbst willen. —Heute hätte ich beinahe Hand an sie gelegt; ja, solch ein feines Mannsbild bin ich, – jetzt weißt du‘s! – Und jetzt geh!«
»Dafür verdientest du eine Tracht Prügel, Per Hansen!« lachte sie, war aber gleich wieder ernst: »O ja, das Leben kann einen jeden von uns einmal hart ankommen. – Jetzt laufe ich gleich hinüber. Du brauchst dich heut abend nicht zu sputen. Bedürfen wir deiner, schicke ich den Ole.«
Der Per Hansen blieb im Winterabend stehen und sah der davoneilenden Gestalt nach, bis sie verschwand – – Nein, solch ein Prachtmensch! Die könnte dreist sowohl Pastor wie Seelsorger sein, die Frau!
VII
Er war kaum recht in die Stube gekommen, hatte er einen Sitz gefunden und die Pfeife angezündet, als sich noch ein Gast einfand. Tönset‘n trat herein und anscheinend in schlechter Laune. – Nein! Er wolle sich nicht setzen; habe übrigens die Absicht, weiterzugehen. – Wußten sie, daß die Solumbuben im Begriff waren, sie zu verlassen?
»Oh, wir wissen wohl soviel wie du, Syvert,« sagte der Per Hansen trocken. »Hier geschieht nicht gar so übermäßig viel zu dieser Jahreszeit.«
»Ja, aber meiner Treu, das geht nicht an, lieben Leute, – das geht einfach nicht an! Es ist, wie die Kjersti sagt: Uns bleibt bald nur der Schnee.«
»Oh, der reist wohl auch eines Tages seines Wegs,« lachte der Per Hansen.
»Ja aber,« fuhr Tönset‘n los, »warum richtet ihr euch auch so schlecht ein?«
»Wir?« fragte der Per Hansen.
»Jawohl, ›wir‹, jawohl!«
»Wir können doch wohl die Buben nicht gut anpflöcken, wenn sie fort wollen,« sagte der Hans Olsen.
»Nein, das können wir nicht!« Tönset‘n stand armfuchtelnd vor ihm. »Aber wir können uns vernünftig einrichten, das können wir!«
»Allright, Vater Syvert, nur heraus mit deiner Vernunft!« meinte der Per Hansen.
»O du schwätzest daher wie ein Trottel, Per Hansen! – Hier druckst ihr beide untätig herum. Aber Kinder habt ihr, und bekommen tut ihr noch mehr! Und da solltet ihr euch zusammentun und den Henry dazu anheuern, für das Kroppzeug im Winter Schule zu halten. Denn es sitzt ein guter Kopf auf dem Henry; viel Wissen hat er wohl nicht, aber der Bursch ist in Amerika geboren und aufgewachsen und kann tüchtig Englisch, das weiß ich. – Ich hab‘ keine Kleinen zu schicken, aber ich will gern ein paar Dollar zum Lohn aussetzen, auch ich, wenn ich zum Herbst erst meinen Weizen ausgedroschen habe.« – Tönset‘n schien sich das Ganze genau zurechtgelegt zu haben.
Die beiden andern hörten ihm schweigend zu. In Per Hansens Augen begannen wieder jene geschwinden kleinen Funken zu tanzen, die zeigten, daß er gut aufgelegt war. – – Der Hans Olsen grübelte über den Vorschlag nach. Es war so wahr, wie ausgesprochen, daß sie eine Schule für die Kinder nötig hatten; wenn sich aber die Buben nun entschlossen hatten zu reisen und bereits fertig waren? —
»Ja, da hockt ihr nun!« meinte Tönset‘n hitzig. »Und jetzt sage ich euch, wir gehen alle drei schnurstracks zu den Solumbuben und reden mit ihnen!«
»Es ist bloß das,« sagte der Hans Olsen langsam, »daß, wenn sie den Entschluß einmal gefaßt haben, dann ist es wohl nicht ganz recht an ihnen gehandelt.«
»Entschluß gefaßt!« schnob Tönset‘n. »Daß du auch solch einen blöden Jux von dir geben magst, Hans Olsen! Wie viele Male hast du nicht einen Entschluß gefaßt und dann abgesagt?
– – Ich will euch sagen, Leute, lassen wir jetzt die Solumbuben fort, dann ist es ziemlich ungewiß, ob wir sie wieder zu sehen bekommen, – unverheiratet und nicht gebunden wie sie sind. Ja, und das meint die Kjersti auch! Und wo sollten wir wohl wieder so gute Nachbarn hernehmen?«
»Wir können wohl immerhin versuchen?« überlegte verwundert der Hans Olsen. »Ja, was meinst du, Per Hansen?«
Der Per Hansen sprang vom Stuhl auf: »Ja, ich will dasselbe wie ihr, Mannsleut! Und es kann wohl dabei nicht schlimmere Schläge setzen als Abschläge.« – Dann besann er sich aber wieder eine Weile: »Eigentlich dürfte ich auf diese Fahrt wohl nicht mit? – Aber, ach Dreck!« Er warf sich den Mantel über und griff nach der Mütze: »Der Henry muß ohnehin Gelegenheit bekommen, mir seine Meinung zu sagen. Also ebensogut jetzt wie später!«
Das wurde eine lange Beratschlagung an jenem Abend bei den Solumbuben. An der Hüttenwand stand der Schlitten bereit, drinnen die Reiselade gepackt; der Henry und der Sam wollten sich gerade legen und waren befangen, als sie die drei Nachbarn vor sich sahen; und auch die benahmen sich so merkwürdig schüchtern.
Der Hans Olsen brachte das Anliegen vor.
Und da mußte der Henry herzlich lachen. Nein! Zum Schulmeister tauge er nicht. Habe übrigens auch an anderes zu denken. Irgendwo in Minnesota warte eine Dirn auf ihn. Finde er sie, brauche auch er wohl mit der Zeit eine Schule für die Kleinen!
Da mischte sich Tönset‘n ein. In seiner Stimme lag etwas, was allen Scherz ausschloß, obwohl sie über ihn lachen mußten:
»Ja, fahrt ihr, dann nehmt nur gleich mich und die Kjersti mit, obwohl ich nicht sehe, was wir in Ost-Minnesota anfangen sollten. Denn sie und ich, wir zogen gleichsam über das rote Meer, als wir letzten Frühling aufbrachen. Für uns führt kein Weg zurück! – – Was, glaubst du wohl, sollen wir anstellen, wenn ihr gefahren seid ? Beim Hans Olsen spielen sie nicht Karten, und der Per Hansen, der Arme, ja, der schleppt sich mit einer kranken Frau. Gott allein weiß, was dann hier werden soll – ja, das sagt auch die Kjersti!«
Der Per Hansen hatte bisher geschwiegen; jetzt klopfte er die Pfeife aus, erhob sich von der Reiselade und wandte sich an den Henry:
»Ich will dir akkurat sagen, wie es uns jetzt geht, und – das ist also Wahrheit: Reisen jetzt du und der Sam von uns weg, dann wird es für uns, die hier zurückbleiben, recht einsam und wunderlich, so daß wir nicht aus noch ein wissen. – Du hast wohl durchschaut, wie es heut um mich stand ? Da kamst du, mir ein schönes Angebot zu machen, und zum Dank dafür fuhr ich dir an den Kragen. – Und du weißt doch wohl, Henry, das ist sonst nicht meine Art.« – – Mehr gelang ihm nicht auf einmal vorzubringen, aber nach einer Weile setzte er hinzu: »Was für einen Schulmeister du abgibst, davon weiß ich wenig. Ich weiß nur so viel, daß ihr, du und dein Bruder, prächtige Burschen seid und keiner von uns euch entbehren mag! – Und nun könnt ihr es damit halten, wie es euch ums Herz ist.«
Der Per Hansen hatte mit einer merkwürdigen Ruhe gesprochen. Sein Ernst steckte sie an. Alle fühlten das gleiche: im nächsten Augenblick hätte er vielleicht angefangen zu flennen.
Es entstand eine lange Pause. Tönset‘n schneuzte sich gewaltig und wischte sich die Hand am Hosenbein.
Endlich sagte der Henry – seine Stimme war weich:
»Für uns ist der Winter weit schlimmer als für euch; wir sind bloß zu zweien, ihr aber dürft euch doch auch mit Weib und Kindern herumschlagen!«
»Kindern?« fragte Tönset‘n und wischte sich die Augen. »Nein, wie du daherred‘st, Henry!«
»Aber das kann sich nun gleichbleiben,« fuhr der Henry ernst fort, »wenn ihr es übernehmen wollt, uns Abendessen zu geben, jeder von euch eine Woche lang umschichtig, und außerdem mit Kleidung auszuhelfen, dann können wir‘s ja wohl versuchen, – oder was meinst du, Sam?«
VIII
Die Tage verstrichen. Tage in Sonne gebadet, – – – Tage in öder Verlassenheit, – Tage von einer Kälte, die alles Leben erstarren ließ.
Jemand aber wurde das Tageslicht nicht gewahr, ob es nun grau war oder golden. Die Beret starrte auf den Lehmboden der Hütte, sah nichts als Nacht rundum. —
Nein, die Beret sah um sich nur Finsternis. Sie versuchte es zwar, die Sonne einzulassen, vermochte es aber nicht. Seit sie hier herausgekommen, hatte sich der Eindruck immer mehr in ihr verstärkt —:
Das war die Vergeltung!
Jetzt kam die Strafe, die Gott der Herr ihr zugemessen hatte. Jetzt mußte sie die Schale seines Zornes trinken. – Weit weg war sie gewandert, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang; aber der Arm seiner Macht reichte weiter. Nein, sie konnte nicht entfliehen, – jetzt kam die Vergeltung! —
In dieser Stille war so guter Anlaß, alles zu überdenken; seit dem Herbst hatte sie nichts anderes getan. Oh, – sie hatte viele Erinnerungen!
Sie hatte den Per Hansen genommen, weil sie nicht anders konnte, obwohl sie niemand dazu zwang. – – Sie war schwanger von ihm geworden auf ungeziemende Weise; dennoch hatte sie keiner zu der Heirat gedrängt; weder Vater, noch Mutter, noch Obrigkeit. Nur sie selber. – Die Eltern hatten sich mit aller Kraft der Heirat widersetzt, sogar noch, als schon das Kind – der Olamann – da war.
Niemals hatte es das geringste verschlagen, was die Eltern oder sonst jemand sagten; sie hatte nur noch Augen für den Per Hansen gehabt! – In seiner Gegenwart vergaß sie das Gebot des Vaters und der Mutter und ihre inständigen Bitten. – Er war für sie das Leben gewesen. Darum hatte sie sich ihm hingegeben, obwohl sie wußte, daß es in Sünden war; hatte sich ihm in wildester Freude gegeben.
O ja! Hier hatte sie Muße gehabt, sich dessen zu erinnern, wie die Eltern gebettelt und gedroht hatten, sie solle von ihm lassen! Alle ihre Worte holte sie jetzt hervor und überdachte sie. – Der Per Hansen sei ein wankelmütiger Geselle, hatten sie gesagt. Er trinke; er raufe; er sei wild und unbändig; zu jederlei Tollheit sei er zu haben; kein ehrbares Weib könne mit einem Mannsbild dieser Art glücklich werden. – Und er halte sich gewiß auch zu andern Weibern, wo er nur dazu kommen könne. – Von all dem andern wußte sie, daß es auf Wahrheit beruhe; nur nicht das letzte, – nein, das nicht! Sie allein von allen Frauen besaß sein Herz. Dieses Bewußtsein hatte für sie des Lebens Süße ausgemacht. – – Was kümmerte sie sich wohl um all das andere! Nichts wog dieses Eine auf! – 0 nein, sie wußte, für ihn war sie die Königstochter!
Jetzt erst wurde ihr klar, was die Eltern alles versucht hatten, um sie beide voneinander zu trennen, und alle die Opfer, die sie gewillt gewesen zu bringen. Damals verstand sie es nicht! – Ach, ihre herzensguten Eltern, von denen sie sich abgekehrt, um an ihm festzuhalten! Wie sie gelitten hatten! Das Kind, das sie und er in Sünden gezeugt, hatten sie zu sich nehmen wollen, ihm Namen und Erbe geben und es an Kindes Statt aufziehen. Ihre teuer erworbenen Ersparnisse hatten sie angreifen wollen, um sie, die Tochter, aus der Schande wegzuschicken, so lieb war sie ihnen gewesen! Aber sie hatte nur nein zu allem gesagt, was die Eltern bereit gewesen, ihr in Liebe zu opfern. – —
Gab es eine Schuld, größer als die ihre?
Doch wie hätte sie anders gekonnt ? Wo der Per Hansen war, blühte für sie der helle Sommer. Wie sollte wohl ein Mensch das eigene Leben aufgeben können, was sein Leben ausmachte? Hörte sie von einer verwegenen Fahrt durch Unwetter und Orkan, bei der er mit seinem und anderer Leben gespielt, wurden ihr die Wangen heiß und der Sinn leicht. So war der nun einmal, den ihr Herz sich erkoren! Und niemand tat es ihm gleich, sang es in ihr. Wenn sie dann in der Sommernacht auf dem Heidekrauthügel saß und er kam und ihr den Kopf in den Schoß legte, den störrischen Kopf, mit dem nur sie fertig zu werden wußte, dann empfand sie es so, als durchschritte sie die Pforte des Paradieses! – – Und hätte sie tausend Leben gehabt, sie hätte sie alle für eine solche Stunde weggeworfen, und wäre obendrein glücklich gewesen!
– O ja, sie erinnerte sich jetzt an all das von damals; hier draußen war es still, und die Erinnerungen kamen so leicht! —
Sie hatte niemals Genaueres darüber erfahren; aber sie wußte wohl, wer den Hans Olsen dazu vermocht, den alten Hof zu verlassen und nach Amerika zu ziehen; nur zu einem Menschen noch außer ihr sah der Per Hansen auf und hatte ihn lieb, – das war der Hans Olsen. – Sie hatte den Hans Olsen darum beneidet, gemeint, er nehme ihr etwas. Selbst an die Sörine, die die Gutherzigkeit selber war, hatte sie sich um dieser Ursache willen nicht so anzuschließen vermocht, wie sie es wohl nötig gehabt hätte – weder in Norwegen noch hier. – – Aber als der Per Hansen jenen Frühling aus dem Lofot heimgekommen war und mutwillig und wild damit um sich geworfen hatte, daß er jetzt nach Amerika durchbrenne, – ob sie gleich mit wolle, oder lieber warten und später nachkommen? Ja, da war in ihrem Munde kein Nein gewesen. Drei Kinder hatte sie gehabt und ein ordentliches Heim nach kleiner Leute Art, – und sie war aufgestanden, hatte die Kinder genommen und war von allem übrigen weggegangen, als sei es ein Nichts!
Wie die Mutter geweint hatte – – und der Vater getrauert, als sie abreisten! Immer war der Vater als Bettler zum Per Hansen gekommen und hatte ihm alle seine Habe angeboten, – Boot und Gerätschaft, Haus und Hof nach seinem Tode, – wenn der Per bloß sich in Norwegen zufriedengeben und ihnen die Tochter nicht wegnehmen wolle. Und dann hatte der Per Hansen alles bloß weggelacht! In der Unerschütterlichkeit seines Entschlusses war etwas gewesen, das sie mit warmen Wellen durchflutet hatte. Sie hatte damals gewiß ein zweifaches Leben geführt, hatte mit den Eltern getrauert und war mit dem Per Hansen fröhlich und guter Dinge gewesen. Er hatte in jenen Tagen gehaust wie ein Sturm, so mutwillig und toll, und so harthändig, wo er zugriff. Nein, hatte er gesagt, akkurat jetzt wollten sie den Ausflug unternehmen! Amerika, das sei ein Land, wo es ein armer Tropf zu etwas bringen könne. Das Endlein Weg sei doch auch nicht weiter lang; gefiel es ihnen nicht, kämen sie halt wieder zurück, sobald eine passende Westwindsbrise aufspringe. – – Da hatten sie alles verkauft, was sie sich mühsam zusammengescharrt, hatten alles hinter sich gelassen wie ein Paar verbrauchter Stiefel – Eltern und Heim, Vaterland und Volk! – Und sie war mit allem einverstanden gewesen und obendrein noch glücklich! – – —
Gab es irgendwo noch eine Sünde wie die ihre? —
IX
Und dann war sie nach Amerika gekommen, und das Land entsprach keineswegs den goldnen Erwartungen, die sie sich gemacht hatte. Sie sah auch hier genug der Armut und des zerrüttenden Abrackerns. – Was nützte dann all der gute Boden, der sich hier ins Endlose dehnte? – Jetzt bekam sie zu spüren, daß ›der Mensch nicht vom Brot allein‹ lebt! – Und im übrigen war es auch mit dem Brot nicht immer allzu üppig bestellt.
Nein, das Schicksal selber hatte sie hierhergeführt. Das Schicksal, jawohl, das unausweichliche Lebenslos, das Gott der Herr von Ewigkeit an für jeden Menschen bestimmt, je nach den Pfaden, die er in seiner Allwissenheit den Menschen künftig wandeln sieht. – Jetzt wartete ihrer die Strafe – die Strafe, weil sie das vierte Gebot übertreten hatte.– – Im Laufe des Herbstes hatte sie ausgerechnet und zusammengelegt, und es stimmte aufs Haar: das Schicksal hatte alles so bequem für sie gefügt, damit die Strafe sie um so sicherer treffe. Es hatte sie dem Per Hansen in die Arme geworfen, und sie konnte nicht einmal bereuen! – Das Schicksal hatte mit Amerika gelockt, und sie beide waren gefahren!
Kaum aber waren sie angekommen, als das Westfieber in den Settlements wie eine Seuche zu wüten begann. So etwas hatte es noch nicht gegeben! Die Menschen waren von verwirrten Phantasien wie betrunken: sie redeten wie im Rausch: »Fahrt nach dem Westen! Fahrt bloß, guten Leute, fahrt! Je weiter nach Westen, desto besser der Boden!« – Die Leute sahen Fiebergesichte: unendliche Ebenen, überströmend von Reichtum, erglühten, wo am Abend der Tag hinabsank – ein seliges Elfenland des Glücks! – – – Sie hätte sich nie geträumt, daß der Herr die Menschen mit solch einer Tollheit schlagen könne. Und wäre es noch die Jugend gewesen! Aber die Älteren waren beinahe noch schlimmer. – Die Leute scharten sich zusammen zu kleinen Zügen und zu großen Zügen, nahmen mit, was mitgeführt werden konnte, verließen die alte Wohnstätte, ohne auch nur einen Seufzer dafür übrig zu haben! Immer weiter ging es nach dem Westen, wo die Sonne am schönsten erglühte, wenn sie am Abend versank. Die Menschen waren wild wie die Vögel am Meer zur Zeit des Brütens. Und sie flogen in kleinen Scharen, in großen Scharen, aber stets in die sinkende Sonne. – – – Jetzt verstand sie es: Hier machte sich der jahrtausendalte Hunger der armen Leute nach Menschenglück Luft.
Und in diese fiebergesättigte Luft waren sie hineingekommen! Hätte das Schicksal es wohl behender fügen können? – Sie wußte noch, wie es gleich in des Per Hansen Augen zu funkeln und zu glühen begonnen hatte! Es war seltsam mit ihm; denn er war zugleich so wundersam gut geworden. Nein, o nein, wie war er doch den letzten Winter und Frühling lieb zu ihr gewesen! Und solch ein Glück solle alles Seufzen und Sorgen nicht aufwiegen, hatte sie sich oft gefragt, ohne eine Antwort zu wissen. – – Nur eins wußte sie: seit diesem Frühling war sie wieder schwanger. Wollte ihr da jemand ausreden, daß das Schicksal hinter ihr aus sei!
Sie hatte von dieser Reise abgeraten; sie sollten sie hinausschieben, bis sie alles überstanden habe: ein Jahr mache wenig aus bei dem Überfluß von Land, wie es da draußen liegen solle. Aber dann rüstete der Hans Olsen, und damit war jede Menschenmöglichkeit, den Per Hansen zurückzuhalten, vernichtet. Alle ihre Besorgnisse wurden bei ihm zu Gelächter und Possen und mutwilliger Verliebtheit. Er hatte sie umfaßt, war mit ihr herumgetanzt, war mit so lustigen Schmeichelreden gekommen, daß sie mitlachen mußte. »Komm, Schätzelein, jetzt fahren wir!« Sie erinnerte sich noch deutlich, wie hübsch das Schmeichelwort an dem Abend in seinem Munde geklungen hatte.
Doch über eins war sie sich klar: den Per Hansen traf keine Schuld. Nein, alle Schuld kam auf sie. So lieb, wie jetzt hier draußen, war er wohl nie zu ihr gewesen. Sie hätte nicht für möglich, gehalten, daß ein Mensch nach einem andern ein so tiefes Verlangen tragen könne. – Und wer wollte sich mit ihm vergleichen! Wer machte ihm das nach, was er geschafft, seit sie sich letztes Frühjahr aufgemacht hatten! Nein, er war wie der Nordwind, der die Wolkenbänke vom Himmel fegt! – Unsagbare Zärtlichkeit trat der Beret bei dem Gedanken in die Augen —: Nein,– nicht wie der Nordwind: wie der sanfte Hauch an einem linden Sommerabend, so war er! – – Und an diesen Mann hatte sie sich gebunden und war ihm nur hinderlich, – eine Fessel am Fuß. War das nicht abermals die Vergeltung, die über ihr schwebte?
X
Die Beret rang mit vielen Gedanken.
War es nicht merkwürdig, wie das Schicksal alles so sinnreich gefügt? —
Am Ende der Welt hatte die Strafe sie jetzt ereilt. Und das stand jetzt endlich sonnenklar vor ihr: niemals werde sie aus dem Bett aufstehen, in das sie sich bald legen mußte. Es war für sie zu Ende.
Sie mußte so oft an den Kirchhof daheim denken. – Rings um den lief eine breite, steinerne Mauer. Man konnte sich nichts Verläßlicheres denken. Als sie noch Vaters kleine Dirn gewesen, hatte sie oft auf ihr gesessen. – Inmitten des Kirchhofs stand die Kirche, und alles in ihrer Nähe war in Schutz und in Sicherheit. Dort herrschte kein Grauen. Sie besann sich noch gut, wie die kleinen Buben über die Gräber zu hüpfen pflegten, und es war so lustig gewesen, daß sie selber mittat. – – Innerhalb dieser Mauer schliefen viele von ihren Angehörigen: zwei ihrer Brüder, auf die sie sich eben noch besann, ein Schwesterlein, dessen sie sich sehr gut erinnerte, obwohl es doch so lange, lange her war. Und alle vier Großeltern ruhten hier, auch der Urgroßvater. Hier lag ihr Geschlecht von Glied zu Glied bis tief in die Vergangenheit hinein vereint, – mehr Anverwandte, als ihr bekannt waren. Um den Kirchhof stand eine Reihe alter ehrwürdiger Bäume und blickte schweigend in den stillen Frieden. – Die schenkten guten Schutz, die Bäume! —
Nein, sie konnte sich nicht denken, wo er sie hier eingraben könne? Und noch dazu jetzt mitten im Winter, wo die Erde gefroren war? – – Wenn er sich nur Zeit nahm, tief zu graben, – die Wölfe heulten des Nachts so grausig. – Sie mußte mit ihm darüber reden, es half nichts; – – aber vorläufig eilte es wohl noch nicht. —
Eines Tages blieb die Beret lange draußen. Sie suchte bei dem zusammengeschmolzenen Holzstapel und beim Holzhäuslein; sie ging in den Stall und kam wieder zurück. – – Wo sollte er nur das Holz zum Sarg herbekommen? – Überall hatte sie nachgeschaut, aber nur ein paar kurze Bretterenden gefunden und ferner die Kalkkiste. – Mußte sie nicht doch gleich mit ihm darüber sprechen? Vielleicht, daß er bei den Tröndern am Sioux River etwas bekam, wenn er dort hinfuhr? – – Aber es hatte vielleicht noch ein paar Tage Zeit.
Oder wenn er die große Lade entbehren könnte! – Die Beret warf einen Blick auf die Lade und ward froh. – Diese Truhe hatte schon dem Urgroßvater gehört, war aber noch weit älter. Dort stand ›anno ... 16‹. Alles übrige war verwetzt. Rings um die Kanten lief schwerer Eisenbeschlag. Die Beret hob den Deckel und schloß ihn wieder. – – Sehr einfach, hier ausreichend Platz zu schaffen, wenn sie ihr nur genug hinter Rücken und Kopf legten! Sie fühlte, in der Lade könne sie gut und sicher schlafen. – – – Ob sie wohl mit der Sörine einmal darüber sprach? —
Eines Tages machte sich die Beret daran, die Lade auszuräumen. Sie hieß den Per Hansen aus der Kalkkiste ein Schränkchen zimmern und legte alles dort hinein – aber erst, als er nicht mehr in der Stube war. —
– Er war doch umsichtig gewesen, als er im Sommer Hütte und Stall unter gleichem Dach errichtete! Sie hatten die wärmste Hütte der ganzen Nachbarschaft. – Und sie hatte auch die Tiere bei sich in der Nähe, wenn sie des Nachts wachte. Es war so behaglich und beruhigend, ihnen zuzuhören. Sie meinte, ihre Wärme zu verspüren. – Sie konnte jedes an seiner Art zu atmen gut unterscheiden. Die Ochsen waren zuletzt mit Wiederkäuen fertig. – Buntscheck lagerte sich zuerst zum Schlafen zurecht. – Indi, der Pony, verhielt sich geheimnisvoll und still und ganz für sich. Ihn konnte sie nur hören, wenn die Wölfe in der Nähe heulten; da schnaufte er und stampfte. – – Die Beret hatte den Pony sehr liebgewonnen.
Und hörte sie die Tiere nicht, so suchte sie sich anderes zum Zeitvertreib. Als sie ein Dirnlein war und die Großmutter, Mutters Mutter, noch lebte, pflegte sie bei ihr über Nacht zu bleiben. Die Großmutter war eine liebe Frau, gut gelaunt und fröhlich, obwohl sie schon so alt war. – Ehe sie einschlief, pflegte sie jeden Abend im Bett kleine ›Herzensseufzer‹, kurze Gebetlein, aufzusagen. Die Beret konnte sich nicht mehr auf jeden der frommen Verse besinnen; aber einige suchte sie sich doch zusammen und sagte sie immer wieder für sich. —
XI
Zwei Tage vor Weihnachten schneite es. Ebenso am Vormittag darauf. Stilles Wetter und trockener Schnee. – – Dunkel war es draußen und nicht viel heller in den Hütten. Die Menschen dösten in all dem Unbehagen mißvergnügt vor sich hin.
Es stand jetzt nicht zum besten beim Per Hansen, das wußten alle und waren um ihn wie um die Beret besorgt. – Niemand hätte hier helfen können; man mußte eben abwarten und zusehen; denn jetzt mußte eine Veränderung eintreten!
Beide Nachbarsfrauen waren umschichtig jeden Tag eine Weile drüben. – Eigentlich, so sahen sie, bedurfte der Per Hansen mehr des Trostes als die Beret; ihr konnten sie nur wenig helfen, aber für ihn und die Kinder ließ sich etwas tun. Jetzt stand Weihnachten vor der Tür, und jetzt sollten die Menschen in den Hütten es gemütlich haben!
Der Per Hansen konnte einen dauern. Er lief umher wie ein zottiger, herrenloser Hund, – mit brennenden Augen, furchtsam und gehetzt. Die Kinder schickte er jeden Tag eine Weile zum Hans Olsen; blieben sie länger, als ihnen erlaubt, schalt er sie nicht darum; bald brachten sie den ganzen Tag dort zu. Daß das für die Beret nicht das richtige war, begriff er nicht. – Er versuchte mit der Frau zu reden, aber die Beret schien keine Antwort zu wissen, sagte zu allem nur ›Ha‹ und ›Ja‹, war so wunderlich still in ihrem Wesen und weit weg. – Aber in dem winzigen Lächeln, das sie ihm schenkte, lag eine Schwermut umschlossen, lastender als das Dämmerlicht überm Polarmeer an einem regengrauen Herbstabend.
Um die Mittagshöhe des Tages vor Heiligabend klärte es sich auf. Ein unsichtbarer Fächer schob sich unter alles, was in der Luft hing, fegte einmal darüber hin, und dann war der Himmel blau und strahlend. Stark leuchtend schwebte die Sonne an ihm; sie ließ den Schnee von den Dächern tröpfeln; zum Abend aber baute sie ein Goldschloß in Elfenland; und beides lag dicht hinterm Indianerhügel.
Die Buben waren beim Hans Olsen; aber das Gössel mußte hinaus und schauen. Die Sofie hatte ihr erzählt, heute sei Christabend, und dann komme Jesus vom Himmel herab. Das Kind hatte nach so vielem gefragt. Kam er im Wagen gefahren ? Und ging es nicht an, ihm den Pony zu leihen? – Die Sofie hatte gemeint, er fahre bestimmt mit einem Engel-Pony!
Der Große-Hans, der dabei war, hatte das alles fürchterlich mädelhaft und dumm gefunden. – Er wußte freilich besser Bescheid, der Große-Hans! Als es Abend wurde, wollte er plötzlich heim, und als der Pate ihm sagte, das ginge nicht, diesen Abend müßten sie alle bei der Sofie bleiben, da war er kaum zu bändigen; und sie mußten ihn mit Gewalt zurückhalten.
– Heute abend war Weihnachten, und er wußte nur zu gut, daß sich daheim ein Spuk zusammenbrauen wollte. Nur das konnte er nicht verstehen, daß die Mutter in der letzten Zeit so angegriffen ausgesehen hatte, und daß der Vater so seltsam gewesen war, daß es gar nicht anging, mit ihm zu reden.
An dem Nachmittag fuhr die Beret Perstochter ins Kindbett. Und diese Fahrt zeichnete den Per Hansen fürs ganze Leben. Vieles hatte er mitgemacht; aber alles war gegen dies hier ein Nichts. Er war auf dem Lofotmeer überquer auf einem kurzen Bootskiel geritten, hatte die Riesenwoge fauchend herankommen und erst den einen und dann den andern der Kameraden wegschnappen sehen, und war froh gewesen bei dem Gedanken, daß es nun auch mit ihm gleich zu Ende sein müsse; – aber das war für nichts zu rechnen gegen dies. – – – Dies war die äußerste Finsternis. – – – Hier war weder Anfang noch Ende. Nur er taumelte noch umher. – —
Die Sörine und die Kjersti waren beide seit langem gekommen. Er hatte Mantel und Hut genommen und war hinausgegangen, vermochte es aber nicht, sich viele Schritte von der Hütte zu entfernen.
Es wurde Abend; er hatte im Stall Buntscheck gemolken, die jetzt gar keine Milch geben wollte, hatte die Ochsen und Indi besorgt, ohne recht zu wissen, was er tat. Er hörte die Beret in der Stube jammern und wimmern, daß es ein Graus war, – das konnte ein armes Menschenkind nicht lange ertragen! – – Und es war noch dazu seine Beret!
Er stand in der Stalltür, weil er nicht wußte, wo er hin sollte; und da fand ihn die Kjersti; er müsse sogleich zu der Beret kommen, sie wolle mit ihm reden. Und die Kjersti lief sogleich wieder weg. – Da ging er hinein, hängte den Mantel an und wusch sich die Hände.
Die Beret saß halb angezogen auf dem Bettrand. Er sah sie an: solch ein Entsetzen hatte er noch in keinem Gesicht gesehen, – das hier ging über Menschenkraft.
Aber sie war bei voller Besinnung. – Sie bat die Nachbarinnen hinauszugehen, sie habe etwas mit ihrem Mann zu bereden. – Das sagte sie gefaßt, und sie taten ihr sogleich den Willen. Als sie sicher zur Tür hinaus waren, trat die Beret auf ihn zu; das Gesicht war verzerrt. Sie legte ihm eine Hand auf jede Schulter, sah ihm einen Augenblick in die Augen; faltete die Hände um seinen Nacken und zog ihn leidenschaftlich an sich. – Er faßte sie gut um, fing sie behutsam auf und trug sie zum Bett. Er legte sie hin und wollte die Decke über sie breiten. Aber sie klammerte sich an ihn; – seine Liebkosungen beachtete sie nicht.
Als er sich losgemacht, sprach sie mit ihm, oft von Stöhnen unterbrochen:
»Heute nacht gehe ich von dir – – ja, ich muß dich verlassen. – – Ich weiß es! Der Herrgott hat mich um meiner Sünde willen gefunden. ›In des lebendigen Gottes Hände fallen‹, stehet geschrieben! – – – Ich begreife nur nicht, wie du dich durchschlagen sollst, wenn du allein zurückbleibst, obwohl ich dir in der letzten Zeit gewiß nur zur Bürde geworden bin. Oh, es ist entsetzlich, daran zu denken! – – Das Gössel mußt du wohl der Kjersti überlassen, – – sie wünscht sich ein Kind, und sie ist gut. – – – Und dann mußt du mit den Buben weiterziehen. – Es wird seltsam sein, glaube mir, für mich, – für mich, – hier allein zu liegen!«
Tränen traten ihr in die Augen, aber sie weinte nicht, redete beherzt und gefaßt zwischen Schmerzensstöhnen:
»Aber jetzt sollst du mir eins geloben: ich muß in der großen Lade liegen dürfen. Ich habe sie ausgeräumt und hergerichtet. Du mußt mich in die große Lade legen! – – Und du mußt dir auch durchaus die Zeit lassen, die Grube tief zu graben! Du hast nicht gehört, wie gräßlich die Wölfe des Nachts heulen, – grabe tief, hörst du wohl, grabe tief!«
Den Per Hansen durchschauerte eisige Kälte, er warf sich vor dem Bett auf die Knie, trocknete ihr mit bebender Hand den kalten Schweiß vom Gesicht.
»Du meine gesegnete Gold-Beret,« hörte er sich wie aus weiter Ferne sagen und hörte aus den Worten Entsetzen. »Das geht doch vorüber, kannst du glauben. – Morgen bist du so quick wie ein junger Vogel!«
Ihre Angst nahm noch zu. Sie gab auf seine Worte nicht acht, redete machtvoll aus der Vorstellung, die sie umfangen hielt:
»Ich gehe heute nacht von hinnen, und die große Lade mußt du nehmen! – Ich hatte erst daran gedacht, dich zu bitten, nicht von mir wegzuziehen, wenn es Frühling wird, – mich nicht allein hier liegen zu lassen; aber es wäre mir leid um dich! – Ich sage dir jetzt: ziehe weiter! Fahre, sobald der Frühling kommt, – hier kann Leben nicht gedeihen, hier werden alle zu Tieren.«
Die Wehen schüttelten sie so gewaltig, daß sie nichts mehr hervorzubringen vermochte. Als sie ihn aber aufstehen sah, bezwang sie sich und setzte sich im Bett auf.
»Ach, geh nicht weg! – Nein, geh nicht weg, siehst du denn nicht, wie nötig ich dich habe? – – Und jetzt soll ich fort! – – – Sei lieb zu mir, – o, sei noch einmal lieb zu mir, Per Hansen!« Und sie lehnte sich an ihn. – – »Du mußt nach Norwegen zurück, – die Kinder mitnehmen, damit sie nicht hier aufwachsen, – – sprich mit dem Vater und der Mutter, und bitte sie von mir um Verzeihung! – Sag dem Vater, ich liege in seiner großen Lade! – – Kannst du die Nacht nicht bei mir bleiben! – – – Ach, da kommen sie nach mir!«
Die Beret stieß einen langen, schneidenden Schrei aus, der durch die Nacht gellte. Sie schluchzte und bettelte, daß sie sie doch noch eine Weile bei dem Per Hansen lassen möchten.
Der war aufgesprungen und fand jetzt endlich seine Stimme wieder:
»Satanas, jetzt laß ab von ihr!« schrie er, riß die Tür auf und brüllte die an, die davorstanden; – dann verschwand er draußen im Dunkel. —
Niemandem fiel es heute nacht ein, sich zur Ruhe zu begeben. Am Abend brannte in vier Hütten Licht; später erlosch es in zweien; aber beim Hans Olsen saßen jetzt alle vier Männer und grämten sich darum, wie es beim Per Hansen stehe. – Wenn sie die Ungewißheit nicht länger ertrugen, wurde einer hinübergeschickt, um Nachricht zu holen.
Tönset‘n erbot sich zuerst. – – Als er zurückkam, war er wie zertrümmert, und es war aus seinem Bericht nicht gerade klug zu werden. Er sei nicht hereingelassen worden, die Weiber seien wie verdreht, das Haus stehe auf dem Kopf, die Beret gebärde sich so überaus gräßlich, und den Per Hansen habe er überhaupt nirgends finden können! »Wir müssen hinaus und nach ihm suchen, Mannsleut. – – Hast du nicht ein Buch, daraus vorzulesen, Hans Olsen? – Es ist, als spuke es hier!«
Sie hockten herum und starrten ins Leere; jeder hing seinen Gedanken nach; und diese Gedanken glichen sich alle auf ein Haar: fuhr die Beret heut nacht von hinnen, dann war es nicht leicht, Per Hansen zu sein, – nein, wahrhaftig nicht. Er würde dann hier kaum länger ausharren? – Zog der aber weiter, dann konnte ein jeder von ihnen ebensogut gleich einpacken! —
Der Sam war drüben gewesen, und der Henry; zuletzt hatte der Hans Olsen sich auf den Weg machen müssen; er hatte ein paar Worte mit der Frau wechseln können, die habe gesagt, daß es die Beret wohl kaum überstehe. – Aber niemand von ihnen hatte den Per Hansen gesehen.
»Kannst du begreifen, wo der Mann heut nacht untergekrochen ist!« sagte Tönset‘n und gab damit der Befürchtung Ausdruck, die sie alle nährten. »– – Der Herr bewahre seinen Verstand, selbst wenn er ihm die Frau nimmt!« —
Der Per Hansen aber lief die ganze Zeit um die Hütte herum; hörte er jemanden kommen, huschte er weit ins Dunkel hinein; – heute nacht vermochte er nicht mit irgendeinem Menschen zu reden. – Sobald sie wieder ihres Weges gegangen waren, näherte er sich der Gamme, umkreiste sie, blieb stehen und lauschte. Er vergoß diese Nacht viele Tränen, ohne sich dessen bewußt zu werden. – – Jedesmal, wenn ein Schrei durch die Hüttenwand gellte, peitschte es ihn davon; sobald er verklang, zerrte es ihn wieder zurück. – – – Von Zeit zu Zeit mußte er an die Tür und einen Spalt öffnen, – was kehrte sich wohl der Per Hansen an Sitte und Schicklichkeit, jetzt, da seine Gold-Beret mit dem Tode rang! Die Sörine kam jedesmal und schüttelte den Kopf und sagte, es sei noch immer dasselbe, – es ginge aber wohl um Leben und Sterben, – das könne ein Mensch nicht lange aushalten! Mochte Gott in seiner Gnade sich eines jeden von ihnen erbarmen!
So redete die Sörine mit ihm. – – Und dann rannte er wieder hinaus und trieb sich umher wie zuvor.
Als der Tag graute, lag um die Hütte ein harter, ausgetretener Ring.
Der Morgen war noch nicht lange angebrochen, als die Jammerrufe in der Hütte leiser wurden, ausblieben, nicht wiederkamen. Da schlich der Per Hansen zur Tür, legte das Ohr dicht an und horchte. – – Jetzt also war es aus! – Er mußte schließlich wieder Atem holen. Die ganze Prärie begann mit ihm herumzuwirbeln; er taumelte ein paar Schritt, warf sich dann in den Schnee aufs Gesicht.
Er wußte nicht, wie lange er gelegen; – aber dann war es, als sei es nicht mehr ganz so verkehrt mit ihm bestellt. – – Keineswegs so verkehrt! – – Er sah ein Tauende vor sich – – ein Tauende – – das war ein starkes, gutes Tauende, das konnte halten, was es auch sei. – – – Es hing gleich hinter der Stalltür. – – Und genau dort war auch der Querbalken. Kleinigkeit, ihn zu finden! – – Dem Per Hansen wurde so froh zumute. – – Das Tauende, das war gut und stark, und der Querbalken lag genau dort! —
Irgendwo öffnete sich eine Tür; – ein Lichtstreifen glimmte über den Schnee und verschwand sogleich. – Jemand kam herausgestapft und blieb stehen.
»Per Hansen!« sagte eine leise Stimme. »Per Hansen, wo bist du hin?« Er erhob sich und taumelte wie ein Schwerbetrunkener auf die Kjersti zu.
»Jetzt mußt du sogleich hereinkommen!« sagte sie leise und ging voran.
Das Licht in der Hütte war matt; ihn blendete es so stark, daß er nichts unterscheiden konnte; er lehnte sich an die Tür, bis er sein Sehvermögen wiederfand. Eine gute, trauliche Wärme schlug ihm entgegen; es war ein sonderbarer Geruch in ihr, und auch der war gut. Und das Licht und die Wärme und der Wohlgeruch hüllten ihn ein wie lieber Schlaf einen Menschen, der geweckt wird, der aber noch nicht Lust hat, aufzuwachen.
»Wie steht es?« hörte er eine Männerstimme fragen; er wurde wacher: war ihm diese Stimme nicht bekannt?
»Du mußt die Sörrina fragen,« antwortete die Kjersti.
Die Sörine machte sich mit etwas drüben im Bett zu schaffen; jetzt erst sah er sie und erwachte ganz. – Nein, wie sah sie bloß aus? – Das Gesicht war gut, und es strahlte ihn an ?
»Ja, da liegt jetzt dein Büblein, gewaschen und wohlbesorgt. Nun mußt du selber ihn anschauen. – Daß du heute nacht nicht dein Weib verlorst und das Kind obendrein, das ist das größte Wunder, das ich erlebt. Aber nicht möchte ich eine solche Fahrt bestehen müssen!«
»Bleiben sie denn am Leben?« schluchzte der Per Hansen und biß gleich die Zähne zusammen.
»Es scheint so; – aber es ist doch wohl das beste, daß du zusiehst, ihn sogleich zu taufen; – wir sind schlimm mit ihm umgegangen, will ich dir sagen.«
»Taufen,« sagte ihr der Per Hansen nach und begriff das Wort nicht.
»Ja, ich tät‘ es nicht hinausschieben, wär‘ es mein Bub.«
Aber das hörte der Per schon nicht mehr, denn jetzt bewegte die Beret drüben den Kopf, und eine Woge so wohltuender Wärme durchflutete ihn, daß alles Eis schmolz; er weinte still vor sich hin mit leisem Schnufzen. Und dann näherte er sich dem Bett auf den äußersten Zehenspitzen, bückte sich darüber und sah in ein müdes, blasses Gesicht. – Das lag so weiß und ruhig; das Haar war in zwei Zöpfe geflochten, die hübsch über dem Kissen lagen. – Und der Gram, der unsägliche Gram, der solange das Gesicht verdeckt, war spurlos geschwunden. – – Sie drehte ein ganz klein wenig den Kopf – blickte soeben noch durch eine ganz schmale Lidspalte und sagte müde:
»Nein, laß mich jetzt, Per Hansen; – ich schlief gerade so gut.« Und das Augenlid fiel sogleich wieder zu.
XII
Der Per Hansen blieb lange in Betrachtung der Frau versunken, die so friedlich schlief mit einem Bündel an der Seite, aus dem ein winziges rotes und runzliges Gesichtlein hervorsah, und er fühlte es klar und deutlich: Von dieser Stunde an war er ein besserer Mensch!
Endlich kam er so weit zu Bewußtsein, daß er sich der Sörine zuwandte: »Kannst du mir sagen, welche Sorte Menschlein du da für mich geholt hast, – ist es ein Männlein oder ein »Weiblein?«
Nein, wie albern doch die Mannsleut immer waren! – – Übrigens mußte die Kjersti und auch die Sörine lachen, wie sie jetzt den Per Hansen anschauten: so gute und lustige Augen hatten sie noch in keinem Menschen gesehen. – – Dann aber wurde die Sörine gleich wieder ernst, er dürfe sich mit solcherlei jetzt nicht aufhalten. So, wie sie an dem da heut Nacht gezerrt, konnte keiner sagen, wie es abgehen werde. – Er müsse zusehen, das Kind zu taufen; denn das wolle sie nicht zu verantworten haben.
Da kam etwas Kleinlautes in das lächelnde Gesicht.
»Das mußt du besorgen, Sörrina!«
»Nein!« sie schüttelte ernst den Kopf. »Das ist nicht Weiberarbeit, das weißt du wohl. Und jetzt sollst du hübsch verfahren und dem Herrgott dafür danken, daß dir so wohl geschehen ist!«
Der Per Hansen nahm seine Mütze, ging zur Tür, blieb hier einen Augenblick stehen und sagte:
»Ich weiß nur einen hier herum, der zu einer solchen Handlung würdig ist, wenn nicht du sie vornehmen willst; und jetzt lauf ich, ihn zu holen. – Ihr mögt vorbereiten, was dazu nötig ist. Das Gesangbuch findet ihr auf dem Wandbrett über dem Fenster. – Ich spute mich!«
Sörines gute Augen wurden schmal und glänzten vor Freude; sie wußte wohl, wen er holen wollte. Das war hübsch von dem Per Hansen! – Aber dann kam ihr etwas in den Sinn; sie ging mit ihm hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
»Es ist nur das,« sagte sie, »daß ich dir doch erzählen muß: dein Bub hatte einen Siegerhelm Siegerhelm, Glückshaube u. ä. = besondere Hauthülle an Neugeborenen. auf, als er zur Welt kam. – Und deshalb meine ich, du solltest nach einem schönen Namen suchen!«
»Nein, was sagst du, Sörine!«
»Ja, Kind, das hatte er! – Und du weißt, was das zu bedeuten hat!«
Der Per Hansen wischte sich die Augen und wandte sich zum Gehen.
Draußen war jetzt heller Tag. Die Sonne hatte schon ein Stück am Himmel zurückgelegt. Es war heute kalt, sah der Per Hansen. Der Frostdampf kräuselte sich in riesigen Schlangen über der glitzernden, gelbroten Widde. Die Sonnenstrahlen stachen nach ihnen, und das gab‘ ein seltsames Licht. – Er merkte, daß die Augenwimpern ihm zusammenfrieren wollten, und er mußte sie mit den Fäustlingen reiben.
– Nein, war es nicht sonderbar, daß er einen Siegerhelm hatte? —
Der Per Hansen eilte, was er konnte. Zuletzt setzte er in großen Sprüngen davon.
»Frieden ins Haus und frohe Weihnachten, gute Leute!« grüßte er, als er drüben eintrat. – Es war eisig in der Stube. Die Solumbuben lagen vollständig angezogen in dem einen der Betten; sie schliefen und erwachten nicht bei seinem Gruß. Seine eigenen drei Kinder und des Hans Olsens Sofie lagen in dem andern Bett; der Ole für sich allein am Fußende, die andern drei auf dem Kopfkissen. Der Große-Hans hielt das Gössel fest umschlungen, als wolle er es schützen. Der Hans Olsen und Tönset‘n hatten ihre Stühle dicht an den Herd gerückt und saßen dort jeder auf seiner Seite. Tönset‘n war eingenickt, der andere wach. – – – Beide Männer sprangen auf, als der Per Hansen hereinkam, – und starrten ihn an.
Der Per Hansen mußte sie geradheraus anlachen; sie glotzten, als sei er ein Gespenst. Und dann war es, als sei sein Gelächter das beste, was sie seit langen Jahren gehört.
»Nein, wie steht es denn?« fragte Tönset‘n und schudderte sich.
»Oh, es hätte auch schlimmer ausgehen können!«
Der Hans Olsen faßte seine Hand: »Sie bleibt am Leben?«
»So scheint es.«
Jetzt merkte Tönset‘n plötzlich die Kälte in der Stube; er begann umherzuwandern und sich ›die Motten auszuklopfen‹. – »Ich möcht‘ meine Rösser drauf verwetten, daß es ein Bub ist, den du bekommen hast? Ich seh‘s dir an!« Er blieb klopfend vor dem Per Hansen stehen.
»Richtig geraten, Syvert! – Aber es steht schlecht mit ihm, meint die Sörrina. – – Und jetzt mußt du, Hans Olsen, mit hinüber und mir das Büblein taufen.«
Der Hans Olsen starrte den Nachbar mit wahrem Entsetzen an: » – – Ich mein‘, du bist nicht recht gescheit, Per Hansen!«
»Doch, Hans Olsen. Mach du dich nur bereit; – im Gesangbuch steht beides, was du sagen sollst, und wie du vorgehen mußt.«
»Nein, das vermag ich nicht,« sagte der Hans Olsen bebend unter dem tiefen Ernst, der sich über ihn legte. »Ein Sünder wie ich!‘«
Da sagte der Per Hansen etwas, was Tönset‘n merkwürdig gut gesagt schien:
»Was du vor dem Herrgott bist, das weiß ich nicht, – – aber das weiß ich, daß er sich nach einem besseren Mann in Tun und Lassen, als du es bist, lange umsehen kann! – – Und das muß er doch wohl auch mit in Betracht ziehen, denk‘ ich!«
Der Hans Olsen wehrte voller Bangen: »Du mußt den Syvert bitten.«
Da wurde Tönset‘n aber plötzlich zornig:
»Schwätz jetzt nicht solchen Unsinn daher! Denn das wissen wir doch alle: soll jemand von uns den Job übernehmen, dann mußt du das sein, Hans Olsen. – – Und eil‘ dich, – mit so etwas ist nicht zu spaßen, will ich euch sagen!«
Der Hans Olsen starrte vor sich hin; seine Hilflosigkeit war so groß, daß er geradezu komisch anzusehen war; aber niemand lachte. »– – Wenn das nur nicht Gotteslästerung ist!« Aber dann zog er sich die Winterjacke an und nahm die Fäustlinge. Er wandte sich an Tönset‘n: »Da steht: ›in Fällen der Not‹? – Ist es nicht so?«
»Jawohl, das steht da! – Und all das übrige, was du außerdem wissen mußt, steht da auch!«
Die beiden Männer schritten schweigend durch den frostschweren Morgen, der Per Hansen voran. Auf halbem Wege blieb er stehen und sagte zum Nachbar:
»Wär‘ es ein Dirnlein gewesen, siehst du, hätte es Beret heißen sollen, – das hatte ich schon lang bei mir beschlossen.
– – Wenn es aber jetzt gleichwohl ein Bub geworden ist, so muß er wohl Per heißen, – ja, du mußt natürlich ›Peder‹ sagen, kannst du wohl begreifen! – – – Ich habe auch sehr an Josef gedacht, – der war gewiß ein braver Bursch, – aber der Großvater war ein verläßlicher und tüchtiger Mann zu Lande wie auf dem Wasser; der hieß Per, und bei Per mag es auch bleiben. Aber« – der Per Hansen blieb stehen, und bedachte sich; dann schaute er den Nachbar an, und es begann wieder in seinen Augen zu blitzen – »der Bub braucht noch einen zweiten Namen; und jetzt sollst du ihn akkurat ›Peder Sieg‹ taufen! – – Das letzte ist wegen deiner Sörrina. – Sie hat mir in dieser Nacht eine Wohltat erwiesen, die ich ihr niemals ganz vergelten kann, und da soll er denn nach ihr benannt sein.«
Der Hans Olsen sagte nichts dazu. Und sie gingen weiter. – Beide traten voller Ehrfurcht in die Stube. – Feiertagsstimmung war da drin. Die Sonne schien zum Fenster herein und legte Goldfarbe auf die weißen Wände; an der Nordwand, wo das Bett stand, war es noch dunkel. – Im Herd brannte ein tüchtiges Feuer; der Kaffeekessel surrte auf ihm. – Der Tisch war weiß gedeckt; auf ihm lag ein aufgeschlagenes Gesangbuch, die Blätter nach unten gekehrt; daneben stand eine Schüssel mit Wasser; dicht daneben lag ein weißes Handtuch. – – Die Kjersti machte sich beim Herde zu schaffen und legte nach. Die Sörine aber wiegte im Winkel leise summend ein Bündel; aus dem Bündel kam ein heiseres Piepen, wie aus einem Vogelnest.
Der Per Hansen mußte sogleich ans Bett. – – Sie schlief jetzt gewiß fest? – Und gottlob, der Gram war verschwunden. Er richtete sich auf und schaute sich in der Stube um und fand, er habe Schöneres noch nicht gesehen.
Die Sörine trat mit dem Bündel zum Tisch und entblößte ein kleines rotes Menschenköpflein.
»Ja, ist es so, daß du hier den Pastor vorstellst,« wandte sie sich ihrem Manne zu, der noch immer neben der Tür stand, »dann mußt du jetzt kommen. – »Wasch dir vorher die Hände.« —
Bald darauf standen sie alle um den Tisch.
»Hier liegt das Buch. – Du brauchst nur, so gut du es kannst, zu lesen; dann tun wir alles, was geschrieben steht,« ermunterte die Sörine ihren Mann. – Sie ordnete an, redete leise und sicher; es war, als hätte sie nie im Leben etwas anderes getan, als Nottaufen vorbereitet. Und das war es wohl, was dem Hans Olsen den freien Mut gab, dessen er bedurfte. Er trat zum Tisch, nahm das Buch auf, las langsam vor, was gelesen werden sollte, mit bebender Stimme und mit sehr viel Pausen. Und dann taufte er das Kind Peder Sieg, sagte den Namen deutlich und betete darauf das Vaterunser so schön, wie es die Kjersti noch nie hatte beten hören.
»Ja,« sagte sie mit tiefer Überzeugung, »nicht glaube ich, daß viel daran fehlt, daß diese Taufe recht und richtig vollzogen worden ist! – – – Und der Kaffee ist fertig, und jetzt wollen wir uns alle miteinander einen tüchtigen Schluck gönnen!« —
Aber jetzt kramte der Per Hansen im Winkel, und dann brachte er eine Flasche zum Vorschein. Er schenkte erst der Sörine ein; darauf der Kjersti. »Hat es jemals Menschen gegeben, die sich einen guten Tropfen verdienten, dann müßt ihr beiden heut nacht das wohl gewesen sein. – Und ihr müßt akkurat noch ein Schnäpslein obendrauf haben! – – —
Nein, jetzt beeilt euch aber, Weibsleut! Dem Hans Olsen und mir ist keineswegs allzu wohl zumute!«
Und dann wurde fröhlich gegessen und Kaffee getrunken.
»Das schaut ganz nach einem herzensbehaglichen Weihnachtsfest aus!« sagte der Per Hansen und lachte.
Am Rande der äussersten Finsternis
I
Eine unendliche Wüste. Von Kansas-Illinois bis tief ins nördliche Kanada hinein und Gott weiß, wieviel weiter noch —. Von Minneapolis westwärts bis zu den Rocky Mountains, ja wie weit war das eigentlich? – – —
Graue Öde ... Ödes Schweigen ... Kalte Unendlichkeit ... Schnee flog; Schnee fiel; und niemals ward es anders. – Der Nordweststurm fegte mit rauhem Besen und wirbelte grauweißes Gestöber frosttrockenen Schnees durcheinander, das jeden Ausblick versperrte. Kaum ermüdete der Weststurm, so setzte der Orkan aus dem Norden ein. – »Das ist zu arg, wahrhaftig und gewiß,« meinten die Menschen dazu. —
Die Widde, die Riesin, atmete die eine Woche ein, die nächste wieder aus ... Nein! vor dem Menschengewürm werde sie sich zu schützen wissen und ihr Reich für sich behalten!
Und wäre nicht der Neuankömmling gewesen, der an jenem Christtage auf unsichtbaren Pfaden aus der Ewigkeit zum Settlement gefunden, so hätte die Riesin ihren Willen wohl durchgesetzt; der aber machte ihr einen Strich durch die Rechnung, – einen bösen Strich!
Höchst merkwürdig war das freilich. Unheimlich geradezu. Denn wie elend und jämmerlich war der Knirps! Er war ein Nichts. Ein Garnichts. Ein Häuflein mißhandelten Fleisches in rosa Seide gehüllt ... doch lebensprühend in jeder Faser! Aber nein, – nichts als ein Zucken und Rucken war‘s; es streckte sich und rollte sich wieder zusammen und war so überaus zart und fein, daß es nicht anging, daran zu rühren.
Jetzt lag die Beret mit dem Neuankömmling neben sich im warmen Bett. Sie hätte schon lange kalt und steif sein und ganz woanders liegen müssen, – an einem Orte, wo jene Gesellen, die des Nachts so entsetzlich heulten, frische Knochen zu belecken gefunden hätten. – Und doch lag sie noch immer im warmen Bett. Das rundliche, rote Nasenspitzlein grub sich in ihre Brust, bohrte, lag dann ruhig mit behaglichem Gegrunz. Weh tat es, und tat doch zugleich so wohl: sie hätte es um keinen Preis anders gewollt. Statt kalt und steif, war die Beret mit jedem neuen Tag wärmer und beweglicher geworden. Und das Krahlen an ihrer Seite entschiedener. – Nun mußte sie ihn wohl auf der anderen Seite anlegen, – dann gab er eine Zeitlang Ruhe!
»Gottlob, daß du Nahrung genug für ihn hast!« sagte der Per Hansen. »Hab‘ noch nie solch einen Freßsack gesehen!« —
Als die Beret damals am Christtag endlich erwacht war, ging es ihr gerad wie der Bäurin im Märchen: sie guckte sich verwundert um und fragte: »Bin ich noch hier?« – Sie konnte es nicht glauben, und sie wollte es auch nicht glauben, – sie hatte das Diesseits ja doch hinter sich gelassen.
Und dennoch war sie in dem Diesseits. Der Tag schien breit zum Fenster herein; es prasselte im Herde; die Wände, die der Per Hansen weiß gekalkt hatte, standen da vor ihr; sie sah wohlbekannte Flecken, – es war schlimm mit Flecken an solchen weißen Wänden, und die Buben waren auch immer so unachtsam —. Dort beim Herd hingen Kleider und Mäntel, und darüber eine Leine mit Wäsche; sie glaubte, sie geradezu riechen zu können, und vermochte doch nicht zu begreifen, wo alles hergekommen. – Sie sah weder den Per Hansen noch eines der Kinder; – wo waren die nur? Er ließ doch nicht das Gössel draußen herumlaufen, ohne es warm angezogen zu haben? – Am Herde machte sich eine Frau zu schaffen; das Gesicht war nicht zu sehen. Das mußte doch die Kjersti sein? War das nicht ihr buntgewürfelter Sonntagsrock? – – – War denn die Kjersti mit ihr mitgekommen, als sie von hinnen fuhr, – die Kjersti, das herzensgute Weib? —
Die Beret wurde müde vom Grübeln, da fiel ihr Blick auf ein Wort und eine Zahl: ›Anno ... 16‹. – Er hatte die große Lade also doch nicht genommen? – O nein, er hatte sie wohl nicht entbehren können; aber es war ihr leid darum.
Die Beret druselte ein und wiegte sich zwischen Wirklichkeit und Schlaf. Nach einer Weile erwachte sie wieder, und jetzt begann ihr Bewußtsein klarer zu werden. – Hier in der Stube war alles, wie es sein sollte. Sie hätte nur gar zu gern gewußt, wo der Per Hansen mit dem Gössel und den Buben steckte! Waren sie alle miteinander beim Hans Olsen? – – Allmählich fügte sich alles zusammen und erhielt die rechte Gestalt und Farbe. Sie fühlte Wohlbehagen; das wurde schließlich so stark, daß es sie in einen festen, erquickenden Schlaf entführte. Schließlich erwachte sie zu hellem Bewußtsein; es hatte ihr gerade geträumt, sie werde aufwärts getragen in etwas Weiches und Warmes hinein, – emporgehoben in einen unendlichen Raum. – Das geht doch nicht an, hatte sie gedacht, denn dann komme ich nicht rechtzeitig zum Abend heim. Ich muß schleunigst zurück; des Olamann Hose ist an den Knien fast durchgescheuert; die muß ich heut abend noch flicken, sonst friert sich das Knäblein zuschanden. – Die Beret gab sich einen Ruck und war plötzlich ganz wach. —
Und da streckte sich das Gössel über den Bettrand und patschelte ihr mit dem kalten Pfötchen ins Gesicht und wippte auf den äußersten Zehenspitzen, um ein rotes, runzliges Gesichtlein neben ihr besser betrachten zu können; und der Große-Hans turnte auf dem Fußende des Bettes; der Vater kam soeben mit einem Arm voll Holz herein.
»Wo habt ihr den Olamann?« fragte sie mit alltäglicher Stimme, hob den Kopf und sah sich in der Stube um.
»Er spürt mit dem Henry und dem Sam Wolfsfährten auf,« sprudelte der Große-Hans hervor, erfreut, daß die Mutter endlich aufgewacht war. »Dürfen wir jetzt den Permann anschauen?«
»Permann anschauen,« bettelte das Gössel sogleich mit und strahlte die Mutter an.
Aber da hatte sich der Per Hansen auch schon den Holzstaub abgeklopft; er kam ans Bett, faßte ihre Hand warm und innig. – Es fiel ihm offenbar schwer, etwas zu sagen, aber so viel brachte er doch vor, daß er zum Feste Glück wünsche und sich für das Weihnachtsgeschenk bedanke. – Er wollte ihre Hand gar nicht loslassen, der Arm wurde ihr schon müde.
Nein, er wollte nicht loslassen.
»Ja, du Beret, du Beret! – Du verstehst‘s, dir die rechte Zeit zu wählen. Bringst mir am grauenden Christmorgen einen großen Schlingel an! – Nein, solch ein Weib!« Er sagte es so ungewohnt leise. Seine Augen waren nur noch ganz schmale Spalten. – Sie sah es gut, er war bis ins Tiefste bewegt.
Und da brachen auch bei ihr die Tränen hervor. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf zurückgelehnt; sie rannen ihr über die Schläfen hinab. Aber sie achtete nicht darauf. Ein mildes Herrgottswetter umfächelte sie. – Stille helle Sommernacht —. Sonne —. Vogelgezwitscher —. Sie hörte ein weites Meer murmeln und singen ... Oh, es war gut zu leben! —
Der Per Hansen fuhr plötzlich auf:
»Schert euch vom Bett, ihr Kroppzeug! – Seht ihr denn nicht, wie müd‘ die Mutter ist?« —
Das war etwa alles, worauf sich die Beret später besann, wenn sie an diesen Tag zurückdachte, außer dem, daß sie müde und matt gewesen, das schöne Wetter rundum sich hielt, das Singen des ruhenden Meeres weiter sich hören ließ, daß die Sonne freundlich schien und alles gut und nur gut war und gerade so, wie es sein soll. – – In den kommenden Tagen schlief sie, schlief immerfort, konnte nicht genug Schlaf bekommen. – Und daher war gar nicht Zeit für andere Gedanken.
Das Bündel neben ihr wurde immer lebendiger; es verlangte das Seine und ließ davon nichts nach. – Und es war so kurzweilig, es zu besorgen. – Der Per Hansen war jetzt lieb und gut; seine Augen waren den ganzen Tag nur schmale Streifen; für die Kinder war alles eitel Freude; und alle Menschen in der weiten Welt waren freundlich zu ihr, so freundlich, daß sie sich rein schämen mußte! —
II
Ja, der Neukömmling! – Hätte die gewaltige Widde den einer Riesin geziemenden Verstand besessen, sie wäre vor dem Knäblein auf der Hut gewesen. Aber den hatte sie nicht. Sie dehnte und spreizte sich in all ihrer Kraft und verließ sich auf ihre trollische Übermacht. Und gewaltig war sie. Aber dem schenkte der Neukömmling keine Beachtung. Trotz seiner Jämmerlichkeit trug er die Waffen in sich gegen ihre Trollennatur; denn er brachte die Menschen zum Lachen. Und wer kann gegen lachende Menschen an, gegen Menschen, die in einem so grausigen Winter zu lachen vermögen? – – Der Neukömmling, der rettete in jenem Winter die Menschen vor Tod oder Geistesumnachtung. —
Die Beret brachte die Rede darauf, daß sie am Heiligdreikönigstag wohl die Nachbarn zu sich bitten müßten; sie hätten die ganze Weihnachtszeit alles im Hause besorgt und noch lange darüber hinaus geholfen und sich gekümmert, als handle es sich um die eigene Familie. Nur sei sie so träge, daß sie nicht wisse, ob sie auch alles werde herrichten können. – Sie war, als sie es erwähnte, zum erstenmal wieder außer Bett.
Der Per Hansen fand, das sei ein herrlicher Einfall. Für die Arbeit wollten schon er und die Nachbarinnen aufkommen. Und er ging sogleich alles mit ihnen bereden.
Die Kjersti schmunzelte: sie komme gleich auf zwei ganze Wochen, wenn‘s der Per Hansen so wolle; auch die Sörine war gern dabei. —
Und am Heiligdreikönigstag versammelten sie sich in Per Hansens Gamme. Tönset‘n hatte eine der Flaschen mit, die ihm der Per Hansen einst – war es nicht ein oder zwei Menschenalter her? – mitgebracht. Die Flasche stand plötzlich auf dem Tisch ... niemand wußte, wo sie herkam. Die andern errieten es jedoch bald. Denn Tönset‘n zwinkerte so verschmitzt und meinte, es sei, beim Kuckuck, diesen Winter nicht gar so schlimm. Merkwürdig gesundes Klima hier im Westen! Hätten sie‘s auch schon gemerkt ? Und jetzt dürfe auch er sich vielleicht zu einem Schnaps erdreisten.
Und es gab gute Kost, und es gab Kaffee, und die Pfeifen qualmten, und es wurde behaglich geplaudert. In der Schummerstunde liefen die Mannsleut heim, um die Stallwirtschaft zu besorgen; das ging heute abend ausnehmend schnell trotz Schneegestöbers und Dunkelheit. Die Mannsleut beeilten sich, um nur recht bald zum Per Hansen zurückzukommen.
Die Menschen hatten das Bedürfnis, dicht zusammenzurücken; sie plauderten miteinander so wundersam herzlich und traulich. Als die Mannsleut wieder hereinkamen, stand eine zweite Flasche auf dem Tisch; sie war allerdings nur noch halb voll; niemand hatte sie mitgebracht; und wo kam sie her?
»Ist es nicht merkwürdig, daß solch ein guter Tropfen hier unmittelbar aus der nackten Erde hervorquillt?« wunderte sich Tönset‘n. »Meiner Treu, ‚s ist ein wahrhaft gesegnetes Land Kanaan! – Der da kommt freilich von der Beret. Ich kenne die Flasche!« —
Sie schwätzten bis tief in die Nacht hinein. Und immer wieder war es der Neukömmling, der erste, der den Weg hergefunden, um den sich alles drehte. Alle wußten, es steckte Besonderes in dem Burschen! Wie gescheit hatte er sich nicht seinen Geburtstag ausgesucht, – den hochheiligen Christmorgen! Und er hatte einen Siegerhelm aufgehabt, als er kam. Und da hatte der Vater ihm geschwind einen ganz ausgefallenen Namen gegeben, der gar nicht ein Menschenname war. – Tönset‘n hatte, als die Kjersti ihm den Namen zu wissen tat, es gleich höchst verwegen vom Per Hansen gefunden; der solle lieber nicht vergessen, daß auch er nur ein Mensch sei – wo habe er sich denn in der Christnacht herumgetrieben, um nur ein Beispiel zu nennen? – Aber da war Tönset‘n schön angekommen! Die Kjersti war fuchsteufelswild geworden; es sei nur recht und billig, wenn ein so rares Kind einen stolzen Namen bekomme. Den Hieb hätte der Syvert vielleicht noch verwunden; aber dann begann die Kjersti zu weinen, wie lang ihr die Zeit werde, weil sie niemandem einen Namen hatte geben können! Er, der Syvert, sei gewiß anstellig, wenn es sich um anderer Leute Kinder handle; aber sie sehe nicht, daß er selbst jemals welche bekommen werde. Wozu sitze er da bloß herum? – Nein, nein, hatte der Syvert geantwortet; aber er könne doch nicht Kinder zur Welt bringen?
Doch der kleine Zwischenfall war jetzt über der Freude an dem Neukömmling vergessen. Sie alle waren Miteigentümer; aber sie konnten sich nicht über ihn einigen. – Das Knäblein habe seine Behausung bei der Beret und dem Per Hansen; und das sei recht und billig. Aber darum hätten die beiden doch noch lange nicht das Alleinrecht an ihm. Hatten die Sörine und die Kjersti nicht Beistand geleistet, als der Kahn bereits im Sinken war? – Hatten sie hinterher nicht Gevatter gestanden? Hatten Patinnen nicht ein Anrecht an ihren Patenkindern, – wie? Und habe nicht der Hans Olsen am Weihnachtsmorgen in aller Herrgottsfrühe eine heilige Handlung vornehmen müssen? Das war einleuchtend, und niemand lehnte sich gegen Hans Olsens Anrecht auf. – Well, meinte dann Tönset‘n, das sei aber doch kein fair play gegen ihn oder die Solumbuben, die alle drei in der Weihnachtsnacht kein Auge hätten zutun können. Sie seien in dieser Christnacht um des Knäbleins willen immer durch den Schnee hin und her gestapft. Vierundzwanzig Stunden lang habe er keine Leibesnahrung geschmeckt und sei nicht aus den Hosen gewesen! – Und jetzt im Beisein der Nachbarn war Tönset‘n auch vor der Kjersti nicht bange. Plötzlich kam ihm der Einfall, die Sörine mit dem Namen des Knäbleins zu hänseln; selbstverständlich sei es nach ihm, dem Syvert, genannt! Aber damit fuhr er schlecht; denn sogleich bestand der Sam darauf, daß der Per Hansen an ihn gedacht habe, da er doch zwei Namen trüge, die mit ›S‹ anfingen!
Kurz, sie konnten sich über ihre einzelnen Vorrechte nicht einigen; und es wurde damit nicht besser, als sie daran gingen, sich über die Laufbahn des Neukömmlings schlüssig zu werden.
Der Henry stimmte sofort für Schulmeister, um den Job loszuwerden. – Nein, davon wollten die beiden Patinnen nichts hören. Schulmeister? War das etwa gut genug für solch einen Kerl? Sie hätten bereits einen Lehrer. Und die Kjersti entschied sich für Pastor. Da zwinkerte jedoch die Sörine lachend ihrem Manne zu. Pastor? Oh, einen Pastor hätten sie, wenn man‘s so nehmen wolle, auch, – der hätte den Bub recht und christlich getauft! Nein, er müsse wohl Doktor werden. Aber damit kam sie bei dem Per Hansen schön an. Seien hier denn nicht bald genug Ärzte? Hier sei die Kjersti und sie, die Sörine selber, und außerdem doch auch noch er, – hier säßen ja lauter Ärzte! – Jetzt aber mußten sie alle über den Sam lachen; denn der schlug gleich zweierlei vor: Choraldichter oder General. Und diese Alternative mußte wohl Tönset‘n seine große Idee eingegeben haben – er hatte die ganze Zeit schon gelauert, wie er den andern allen Wind aus den Segeln nehmen könne. Jetzt erhob er sich, klopfte würdevoll die Pfeife aus, räusperte sich nachdrücklich und sagte, als sei das ganze damit ab– und ausgemacht:
»Der Bub wird natürlich Präsident; – er ist hierzulande geboren und alles!«
Das war ein lustiger Einfall und alle belachten ihn herzlich. Nur der Hans Olsen blieb unerschütterlich ernst: er sah gleichsam in etwas hinein. Dann reckte er sich mächtig und sagte:
»Wir brauchten wohl eher einen tüchtigen Gouverneur, Syvert; aus diesen Prärien wird einst ein Staat entstehen.«
Damit schloß das Wortgefecht; alle fühlten, daß der Hans Olsen etwas gesagt, in dem tiefer Sinn lag.
Weder die Beret noch der Per Hansen hatten sich hineingemischt; sie saßen dabei und freuten sich. —
III
Wie wären sie wohl durch den Winter gekommen, hätte ihnen die Schule nicht die Zeit vertrieben! Aber die hatten sie also, und zwar eine ganz besondere Art von Schule.
Anfangs war sie in der Gamme der Solumbuben, und alles ging schön und gut. Dann aber kam die Sörine darauf, daß sie sich praktischer einrichten müßten. Der Henry könne gerade so gut bei ihr Schule halten; dann hätten sie und der Hans Olsen zugleich von dem Unterricht Nutzen. Der Sam solle nur mitkommen.
Die beiden Solumbuben stimmten der neuen Ordnung mit Freuden zu.
Als die Beret wieder genesen, kam eines Tages der Per Hansen und wollte wissen, ob es nicht anginge, daß die Schule jede zweite Woche zu ihm verlegt werde – um der Beret willen. Es werde für sie unterhaltsam sein, zuzuhören, und sowohl er wie sie müßten Englisch lernen. Könne der Henry nicht bei ihm Schule halten?
Gewiß! – Und so war es beschlossene Sache.
Tönset‘n war nicht recht zufrieden mit dieser Ordnung, – jetzt verführen sie gegen ihn nicht ganz gerecht. Und er kam und bat darum, daß die Schule jede dritte Woche bei ihm gehalten werde; die Kjersti und er hätten wohl noch Kost genug, den Henry und den Sam mit satt zu machen. Zwar habe er keine Kinder, aber er sei der Vater der Schule, das dürften sie nicht vergessen; und es sei für ihn und die Kjersti nicht gerad kurzweilig, immer allein in der Gamme zu hocken, während die Nachbarn je eine Woche umschichtig in Herrlichkeit und Freuden zubrächten; müßten sie nicht brüderlich teilen?
So kam es, daß die Schule jede Woche umzog. —
In der Winterszeit konnt‘ einer sich nicht viel vornehmen; oft saßen die Mannsleut alle am Vormittag wie auch am Nachmittag in der Schule, die Weiber fast jeden Nachmittag. Die hatten freilich immer eine Handarbeit mit, die Männer nur ihre Pfeife.
Zu guter Letzt war allen die Schule unentbehrlich geworden. Die Mannsleut versäumten sie nie; und kaum waren die Weiber mit Mittag und Aufwasch fertig, so wickelten sie sich einen alten Rock um den Kopf und begaben sich durchs Schneegestöber zur Schulstube.
Noch nie war wohl nach so grundverkehrten pädagogischen Regeln unterrichtet worden. Aber was hatte das zu sagen?
Die Schule umfaßte übrigens vielerlei Schulgattungen, war sowohl Grundschule wie Fortbildungsschule; und sie war Sprachschule – mit den Fächern Norwegisch und Englisch —, und sie war Religionsschule; sie war der Ort für gemütliche Zusammenkünfte und war der Debattierklub, wo alles zwischen Himmel und Erde erörtert wurde. Sie wurde zum Gesangverein, Kaffeeklatsch und ›Social Centre‹; sie konnte zur Andachtsstunde werden. Auf jeden Fall aber tat sie eins: sie verband diese paar Menschen unauflöslich miteinander. – Nicht selten wurde der Unterricht und das Überhören der Jugend unterbrochen, weil die Älteren sich einmischten. Und dann löste sich alles in Auseinandersetzung auf.
Anfangs hatte der Henry nicht Rat gewußt, wie er bloß die Zeit vertreiben solle. Keine Bücher, keine Lehrmittel irgendwelcher Art! Er griff zum Nächstliegenden: Erzählen. Er grub alles, was er je gehört und gelesen, aus dem Gedächtnis hervor, erzählte es erst auf Norwegisch, dann auf Englisch und ließ es die Kinder wiederholen, bis sie es auswendig konnten. Auf die Weise lernten sie den Stoff und die englische Umgangssprache zugleich. Dann ließ er sie Worte und Sätze hinschreiben. Und das wäre alles gut und schön gewesen, wenn sie nur etwas gehabt hätten, worauf sie und womit sie hätten schreiben können. – Der Hans Olsen fertigte für sein Dirnlein eine große Holztafel und gab ihr einen Rest von einem Zimmermannsbleistift, der noch aus Norwegen war. Und hatte die Sofie eine Tafel, mußten doch die Buben vom Per Hansen auch was bekommen, worauf sie schreiben konnten. Der Vater holte die dicksten Klobenenden hinterm Herd hervor und fügte etwas zusammen, was der Ole sein Ochsenjoch benamste, weil er daran so schwer zu schleppen hatte. Zum Schreiben benutzten sie Nägel oder Holzkohle. Als aber eines Tages der Große-Hans bei der Kjersti etwas auszurichten hatte, hielt sie ein Geschenk für ihn bereit: einen ganzen Stapel zusammengefalteter Papierdüten und Packpapier, – und suchte dann in der Truhe nach einem Bleistiftende, das der Syvert dort vergessen hatte. Der Große-Hans freute sich diebisch über das Geschenk; eine ganze Weile stellte er jetzt in der Schule das Herrenleutkind vor.
Ehe noch die Schule zur Wanderschule wurde, kam es an den Tag, daß der Sam so gut singen konnte. Eines schönen Tages stand nämlich der Henry am Ende alles Wissens und aller Erfindungsgabe. Und da sagte er plötzlich zum Bruder, der, auf der Lade hockend, dem Unterricht beiwohnte: »Jetzt brennen wir durch, Bub, nach Osten! Möge der Gottseibeiuns mit dem Dreck die Zeit weiter totschlagen!«
»Versuch‘ halt einmal mit ihnen zu singen,« hatte der Sam darauf geantwortet und war zugleich von der Lade aufgestanden.
»Das überlasse ich lieber dir!« hatte der Henry gemeint, die Mütze genommen, und weg war er gewesen.
Und da stand jetzt der Sam und glotzte die Kinder an, und die wieder saßen da und stierten ihn an; und da er fand, er könne vor den Kindern nicht zu Spott und Schande werden, und zudem von den Erwachsenen niemand zugegen war, hub er an zu singen. Er hatte eine schöne Stimme und bediente sich ganz natürlich der Methoden, nach denen er selbst es gelernt hatte. Und da ging denn alles gut, aber hauptsächlich, weil er selbst so trefflich sang.
Dieser Einfall vom Henry bewahrte die Schule vielleicht vorm Ende. Aber er tat noch mehr: sie lernten in jenem Winter viele Lieder singen, die drei Schüler und mit ihnen die Erwachsenen. Da waren englische und norwegische Weisen, Choräle und Nationalgesänge, Kriegslieder und Volkslieder; und viele, viele Nordlands-Liebeslieder und nicht wenige schwedische Volkslieder.
Dem Sam wurde gute Unterstützung zuteil; denn die Sörine und die Kjersji wußten beide viele Lieder, – Kjerstis starke Seite aber waren die Liebeslieder.
IV
Schneesturm und Kälte ... Gelber Himmel ... Grauwetter ... Blizzards, die tagelang anhielten ... Klärte sich‘s eines Nachmittags wirklich auf, so war eine Nebensonne am Himmel zu sehen – und jeder wußte, was das Zeichen zu bedeuten hatte!
Der Winterweizen, den die Neusiedler im Sommer aus der Stadt heimgebracht hatten, schmolz zusammen wie Schnee in kräftiger Frühlingssonne. —
Der Hans Olsen erfand eine neue Art Brennwerk, das gute Dienste tat, als der Holzvorrat einschrumpfte. – Als er nämlich eines Tages das grobe Heu, das die Kuh verschmähte, aus der Krippe herausnahm, kam ihm plötzlich in den Sinn, daß das am Ende doch noch zu etwas zu gebrauchen sei. Hans Olsen hatte sich bei allem, was er sich ins Haus geholt, als vorbedachter Mann erwiesen. Ging es wohl an, mit dem Abfall das Feuer zu schüren ?
Damit es nicht zuviel Spreu in die Stube brächte, drehte er das Heu zu festen Wischen zusammen, ehe er es hineintrug. Und es gab gutes Brennwerk ab. Lockeres Zeug war es zwar; aber es brannte wie Birkenborke und wärmte vortrefflich. – Er erzählte den Nachbarn von der Erfindung, und sie machten es ihm nach. Doch auch hier hieß es sparen; denn zog sich die Frühjahrsknappheit sehr lange hin, konnte Futtermangel böse Folgen nach sich ziehen, —
Als der Februar herankam, blieb kein anderer Rat, als daß die Männer nach Osten in den Wald am Sioux River fuhren.
Da gab es viel vorzubereiten. Aber der Henry durfte sich darum nicht stören lassen. Es gehe nicht an, die Weiberleut hier ohne Mannshilfe zu lassen, und es passe gut, daß er die Schule halte; da könne er in Abwesenheit der andern alles betreuen.
Tönset‘n wie auch Hans Olsen waren der Meinung, daß es für den Per Hansen untunlich sei, um diese Jahreszeit eine solche Fahrt mit seinen Ochsen zu wagen; er solle sich mit einem von ihnen zusammentun; dann arbeiteten sie alle vier gemeinsam und bekämen gleichen Anteil an dem, was sie heimbrachten.
Das war ein verständiger Rat. Doch der Per Hansen äußerte sich nicht sogleich dazu. Er grübelte erst einen Tag lang darüber. Einen Schlitten hatte er sich vor Weihnachten, so gut es ging, gezimmert.
Als die Buben eines Tages aus der Schule kamen, nahm er sie mit hinaus, zog die Ochsen aus dem Stall und begann, sie mit Trense und Zügel einzufahren; bisher hatte er sie im Joch geführt und mit Zuruf angetrieben, wie alle andern, die Ochsen als Zugtiere benutzten.
Das Ochsengespann hatte er letzten Winter in Ost-Minnesota einem Schweden abgekauft, der sich statt dessen gern Pferde hatte zulegen wollen. Der Schwede hatte sich die Ochsen von einem Iren in Süd-Iowa eingetauscht, und der Himmel mochte wissen, wieviel Eigentümer sie bereits erlebt hatten. Der Schwede hatte sie Tom und Buck genannt; aber diese Namen gefielen dem Per Hansen nicht. Wollte er die Ochsen auf Langfahrt brauchen, so mußte er für seine Boote passendere Namen finden. Nach einigem Nachdenken taufte er sie in Sören und Perkel um. Das Umtaufen glückte; denn die neuen Eigentümer waren von einer den Tieren bisher ungewohnten Gemütsart. Daß die Ochsen vorher nicht verwöhnt gewesen, erzählte das Fell auf ihren Hinterschenkeln mit aller nur erdenklichen Deutlichkeit. Die Buben und die Ochsen freundeten sich sofort innig miteinander an; der Große-Hans bevorzugte den einen, der Ole den andern; sie kraulten die Ochsen vorne, und sie kraulten sie hinten; sie hängten sich ihnen um den Nacken, und sie ritten auf ihren Rücken; die Ochsen trabten bald hinter den Buben her, sobald sie sie erblickten. Da die Buben sie um den Nacken faßten und streichelten und Sören zu dem einen und Perkel zu dem andern sagten, waren die Tiere wohl dahinter gekommen, diese Laute mit ihren neuen Eigentümern zu verbinden; kurz und gut: die Ochsen hörten stets auf ihre Namen.
Als der Per Hansen sie jetzt zottig und struppig im Winterpelz zum Einfahren aus dem Stall holte, standen sie dösig vor dem Schlitten im Schnee und blinzelten über die stiebende weiße Prärie. Sie benahmen sich höchst ungebärdig im neuen Geschirr; es ging vielleicht eine Strecke erträglich; aber dann setzten sie plötzlich in weiten Sprüngen in eine Schneewehe und standen still, streckten nur die Zungen heraus und schleckten Schnee. Das war nichts! – Der Ole lief nach vorn und kraulte den einen, der Große-Hans tat das gleiche mit dem andern; und wenn die Ochsen sich dann lange genug besonnen hatten, und in den Zuruf des Per Hansen jenes dunkle Etwas kam, legten sie sich in die Stränge und zogen den Schlitten wieder heraus, selbst wenn sie sich Gott weiß wie tief in den Schnee eingewühlt hatten.
Das Einexerzieren der Ochsen wurde fortgesetzt und machte viel Spaß, – und zu guter Letzt ging es so gut, daß der Per Hansen eines Abends beim Ausspannen zu den Buben sagte:
»Jetzt geht‘s wie geschmiert. – Wenn ihr was taugtet, führet ihr mit diesem Gespann und Gefährt stracks zur pazifischen Küste und holtet für mich und die Mutter eine Fuhre Fisch!«
Die Buben grinsten still dazu.
Jetzt aber stand Per Hansens Entschluß, die Fahrt zum Sioux mit den Ochsen durchzuführen, fest. Und an dem Abend war er höchst aufgeräumt und munter.
Als sie sich aber legen wollten und die Beret beim Herde das Jüngste für die Nacht besorgte, sagte sie:
»Du mußt diese Fahrt wohl unternehmen, kann ich recht verstehen?«
»Ja, das muß ich wohl, sollen nicht du und das Jüngste zuschanden frieren.«
Mehr wurde zwischen ihnen davon nicht geredet. Aber die Beret lag wieder lange wach und wandte die Gedanken hin und her.
Das war entsetzlich, das Leben hier! —
V
Die Männer warteten mehrere Tage auf passendes Wetter zur Fahrt. Der Wind stand unsicher in der Luft, auch die Wegbeschaffenheit war just nicht die beste; die Kälte war böse; sie fraß sich in alles, was sie zu fassen bekam.
Aber dann klarte es eines Morgens auf. Als die Sonne ein Stück am Himmel emporgestiegen war, wehte ein Luftzug, so milde wie am schönsten Frühlingstag; das sah ganz nach Wunschwetter aus. – Die Männer kamen zusammen und überlegten, ob sie es nicht heute versuchen sollten. »Ja, es sieht ja recht hübsch aus,« meinte Tönset‘n, schaute ins Wetter und drehte den Priem im Munde. »Im übrigen ist es wohl aber heute nicht akkurat verläßlich? Das sind zu dieser Zeit des Jahres nicht natürliche Aspekte. Es schneidet mir ein gar zu freundlich Gesicht!«
Es sei am Ende doch das beste, es zu versuchen, riet der Hans Olsen. Die Februarmitte komme heran und vielleicht sei gar die Frühlingsschmelze im Anmarsch.
»Well,« sagte der Per Hansen, »wollen wir noch, ehe die Frühjahrsbestellung uns über den Hals kommt, ein paar Stöcke Holz ins Haus bekommen, so ist es wohl das gescheiteste, daß wir sogleich aufbrechen. – Im übrigen stimme ich dir bei, Syvert: es ist gar zu mild von Angesicht, als daß ihm zu trauen wäre. Aber – bis zu den Tröndern gelangen wir noch alleweil.«
Da hieß es also sich tummeln. Es war noch viel zu besorgen und nachzusehen, so daß sie erst von Hofe wegkamen, als die Uhr bereits auf elf ging. Mundvorrat nahmen sie nicht weiter mit, da sie zu gastfreundlichen Leuten fuhren; nur der Sicherheit halber steckten sie sich ein paar Bissen in die Tasche.
Es wurde ein stattlicher Zug: vier Gespanne vor je einem Schlitten fuhren hintereinander über die weiße Fläche. Der Hans Olsen, der die schnellsten Pferde hatte, fuhr voran; dann kam Tönset‘n, darauf der Sam; zu hinterst stapften die Ochsen des Per Hansen vor dem selbstgefertigten Schlitten.
Die Zurückbleibenden sahen vor den Hüttentüren den Zug von dannen ziehen; die Kinder bekamen schulfrei. – Der Große-Hans ballte die Fäuste vor Wut. So eine Wirtschaft! Also so eine Wirtschaft! Er und der Bruder sollten bei dem herrlichen Wetter drinsitzen und alle die Geschichten, die sie von ewig her konnten, immer von neuem wiederkäuen! Da fuhren jetzt die Mannsleut in allerlei Abenteuer hinein. Der Vater hatte gewiß die Lange Marie dabei – der schoß heute wenigstens seine zehn Wölfe! Und vielleicht war Blankeis auf dem Elv und Löcher im Eis und Fische und allerlei sonst! – Der Bruder war ganz der gleichen Meinung.
Die Beret hatte den Säugling gelegt und war mit hinausgegangen. Als die Männer starten sollten, ging sie jedoch wieder hinein; sie fühlte ihre Knie zittern. Das Fenster schaute nach Osten und in dieser Richtung fuhren sie; aber sie wagte nicht, ihnen durchs Fenster nachzusehen. Und doch war es nicht gerade Entsetzen, nicht so, wie sie es früher empfunden, wenn er fortfuhr; – sie gewann es nur nicht über sich. —
Der Zug fuhr dahin, Schlitten und Tiere wurden kleiner, wurden zu Pünktlein auf dem endlosen Weiß, verschwanden. —
Es ging gut mit den Ochsen. Als die trägen Tiere sich erst richtig in Bewegung gesetzt hatten, hielten sie sich an die Spur und blieben nicht allzuweit zurück. Übrigens war der Schnee auch matschig, und es war schwer, die Fährte aufzubrechen, so daß die mit Pferden sich dabei abwechseln mußten. Das Wetter schien sich halten zu wollen. Dennoch beeilten sich die Männer, so sehr sie konnten.
Um die Mittagszeit erhob sich aus Süden ein sanftes Wehen; der Schnee unter den Hufen wurde immer körniger; die Luft war so milde wie an einem Tag im Mai. Am ganzen Himmel war nicht ein einziger Wolkenfetzen. Hätte nur die Sonne nicht so stark geblendet, daß es fast unmöglich war, die Augen offenzuhalten!
Das Wetter hielt sich so bis nach drei Uhr.
Alles ging gut, und der Per Hansen vermutete bereits, daß er in wenigen Stunden die Landschaft am Sioux erspähen werde. Als er jedoch die Augen zum Westhimmel schweifen ließ, wurde er dort draußen längs der Prärie einen schwarzen, wellenförmigen Rand gewahr. Täuschten ihn seine Augen? Er rieb sie sich und sah wieder hin, rieb tüchtig und versuchte von neuem. – Ja gewiß, das war ein Rand! – Er fühlte das Herz in sich pochen und feuerte die Ochsen an, was das Zeug hielt.
Das da draußen wuchs, – wuchs unheimlich schnell. Der Rand wurde zu einer schwarzen, dickwolligen Masse; – die war lebendig; – die schien brüllend den Himmel heraufzuziehen. – Über ihm stand noch spiegelklarer Tag; aber der war jetzt schwarzblau.
Der Luftzug aus Süd blaffte ein paarmal auf und starb hin; hinterher fröstelte es empfindlich. – Eine unheimliche Stille senkte sich herab.
Das, was da herankam, lebte. Es schob sich unaufhörlich in die Höhe. Kalte Windstöße liefen voran. – Und es war so düster.
Die an der Spitze hielten. Der Hans Olsen wartete, bis Tönset‘n und der Sam heranwaren; die drei Schlitten standen alle nebeneinander, als der Per Hansen sie erreichte.
»Jetzt haben wir ihn gleich,« sagte der Hans Olsen ernst. Er rollte, neben seinem Schlitten stehend, das Sorr-Tau auf.
»Stimmt wohl!« meinte der Per Hansen trocken. »Läuft‘s gut ab, kann‘s uns ja gleich sein!« Auch er legte jetzt sein Seil zurecht.
Die Solumbuben hantierten ihr Tau schweigend.
»Nun, meine ich, halten wir‘s so,« sagte der Hans Olsen, »daß wir von dem einen zum nächsten ein Tau legen, damit wir im Schneesturm nicht auseinanderkommen. – »Was meinst du, Per Hansen?«
»Das könnten wir wohl. Aber freilich sieht es so aus, als bekämen wir den Wind in den Rücken? Wir müssen scharf auf ihn achten. Schaut mir ja gut nach der Flußlandschaft aus! Denn jetzt kommt es darauf an, daß wir nicht an den Tröndern vorbeisegeln; eilt euch! – Verdammt noch eins, daß wir keinen Kompaß mithaben!«
Der Per Hansen sprach hastig, ganz so, als sei er innerlich rasend.
Jeder band sein Sorr-Tau am Schlitten fest und gab das andere Ende dem hinter ihm Fahrenden.
Der Per Hansen lief zu dem Solumbuben vor: »Bist du fertig, Sam ? Hast du auch verläßlich festgebunden ? Fragt sich freilich, ob ich‘s mit dir im Tempo aufnehmen kann. Und jetzt sage ich dir eins: Du kümmerst dich um nichts, was hinter dir geschieht! Hörst du? Und das Tauende vom Syvert läßt du um alles in der Welt nicht los, – verstanden? – So, und jetzt los!«
Der Per Hansen und der Hans Olsen hatten schon so manches Wetter plötzlich heraufkommen sehen – beide waren alte Lofotfahrer; aber so etwas wie jetzt hatten sie doch noch nicht erlebt. Ein riesenhafter alter Troll erhob sich im Westen, schnitt ein Loch in den Sack und schüttete das Ganze über sie aus: ein Schneegestöber so dicht, daß sie kaum weiter als Armeslänge sehen konnten. – Ein Saugen ging ihm voraus; es blaffte ein paarmal wütend auf, gewaltig; dann kamen ein paar zage Windstöße, unbestimmt, – huschten hierhin und dorthin, suchten, fegten den Schnee um die Schlitten zusammen. Hoch oben in der Luft fauchte und brüllte es. Und dann – wurde es ernst.
VI
Der Sturm heulte und kreischte; jagte das Schneegestöber vor sich her wie riesige Sturzseen; rundum raste grauschwarzes Gewühl.
Unwillkürlich guckte der Per Hansen nach oben, blinzelte durch einen schmalen Spalt des rechten Auges durchs Gestöber, – er mußt‘ doch einmal sehen, ob der Mast auch hielt!
Plötzlich gab es in seinem Tauende einen gewaltigen Ruck; er wäre fast vornüber gestürzt, ließ los und kam wieder ins Gleichgewicht.
»Da fuhr mir also der Sam davon!« murmelte er und biß die Zähne zusammen.
Die zwei Fahrzeuge, deren er sich bediente, führten sich nicht nach Wunsch und Absicht; die kamen keineswegs in Schuß bei der stürzenden See. O nein! Die braven Ochsen trotteten und trappelten vielmehr mit dem Wind dahin, verlangsamten ihren Schritt immer mehr – und standen plötzlich wie festgenagelt. Sie schüttelten sich etwas, zogen den dicken Schädel ganz in den kurzen Nacken ein, buckelten sich ein wenig mehr als sonst und ließen das Achterteil möglichst tief hängen.
– – Da standen sie!
»Jetzt habe ich doch noch nie im Leben —!« murmelte der Per Hansen in den Sturm hinein. Der Gedanke durchschoß ihn: »Jage dem einen dein Dolchmesser zwischen die Rippen, zieh ihm die Haut ab, wickle dich hinein und laß dich einschneien, – das ist die einzige Rettung!«
Nein, das bekam er nicht fertig. Der Sören und der Perkel, die hatten ihn und die Seinen hergekarrt, die hatten all das Neuland für ihn umgebrochen; und sollte dereinst der Königshof erstehen, mußten sie auch dabei helfen. – Und Sören hatte so herzensgute Augen, und Perkel hörte so hübsch, wenn man ihn rief.
Er warf sich vom Schlitten und tappte sich zu den Ochsen vor, faßte sie beim Schopf und begann ihnen aus Leibeskräften die Stirn zu reiben. Und zugleich sagte er ihnen ins Ohr:
»Du alter Sören und du Perkel, jetzt zeigt, schockschwerenot, daß ihr wackre Kerle seid!«
Darauf bürstete er ihnen die Seiten schnell und harthändig vom Schnee rein, kraulte sie ein wenig unterm Schwanz und krabbelte selbst wieder auf den Schlitten. Und jetzt schrie er sie aus vollster Lunge an: »Los jetzt mit euch, ihr Trollpack!« und versetzte ihnen eins mit der Peitsche – es war das erstemal überhaupt, daß er ernstlich zuschlug.
Die Ochsen machten erst einen mächtigen Satz, dann noch einen, und dann sausten sie in das Unwetter hinein, auf und davon! Er hatte das Gefühl, als rase er eine Riesenwoge nach der andern herab bei vollbesegeltem Boot; – mehr hielt es nicht aus! – Im nächsten Augenblick mußte es gieren und kentern. Abwärts ging es, immer weiter abwärts!
Hebt sich denn diese See nicht einmal wieder? dachte der Per Hansen.
Nein, was in des Herren Namen war jetzt das! Da war doch etwas geschehen ? Er glaubte ein Krachen zu hören, wie wenn zwei Baumstämme mit großer Gewalt aneinanderstoßen; er meinte eine große schwarze Flocke an Steuerbord vorbeifegen und nach achtern verschwinden zu sehen. Ja, war da nicht noch eine? Und noch eine!
Nein —!
»Ho! Ho!« brüllte er in der Richtung des Sturms. »Halt! halt doch!« Jetzt war er so wütend, daß er sich mit aller Wucht in die Zügel legte. »Verdammte Trollhengste. Halt! Ho!«
Aber die Ochsen bliesen ihm eins, – die Geister des Sturms waren in sie gefahren; sie jagten davon, als seien sie toll geworden; kamen sie an eine Schneewehe, so gab es einen Satz, daß die Flocken von unten ärger stoben als die von oben; der Per Hansen hatte vollauf damit zu tun, sich am Schlitten festzukrallen.
Dieser Höllenritt dauerte lange; wie lange, das wußte er nicht; er selber glaubte, mehrere Tage.
Aber da fingen sie an, ihr Tempo zu mäßigen; immer mehr; jetzt ging es in ein Traben über, und gleich darauf wurde daraus ein gemächliches Schreiten.
Und dann standen sie. Er konnte sie durch den Sturm deutlich keuchen hören.
Der Per Hansen krabbelte vom Schlitten und bekam mit vieler Mühe den einen der Heusäcke auf. Er riß ein Büschel heraus, arbeitete sich zu den Ochsen durch und machte sich daran, sie mit dem Heuwisch abzureiben.
Das Unwetter tobte jetzt so fürchterlich, daß er das Gesicht abkehren mußte; der Schnee bohrte sich tief in die Haut. Er rieb aus aller Kraft, erst den Sören, dann den Perkel; und als ihm die Arme müde wurden, kroch er zum Heusack zurück, schleppte ihn vor und hielt ihn den beiden vor die Mäuler. – Er hielt, während sie fraßen, den Sack, bis er vor Kälte und vor Schnee, der sich wie Nägel in seine Kleidung hineintrieb, erstarrt zu sein vermeinte.
»Eilt euch jetzt, eilt euch, ihr Trollkerle! – Gottlob, daß sich noch Leben in euch regt!« flüsterte er ihnen in die Ohren.
Endlich fand er sich wieder zum Schlitten zurück, löste mit klammen Fingern die steife Persenning los und wickelte sich darin ein; den Heusack schüttete er aus und wand ihn sich um den Kopf. – Und dann verdeutlichte er ihnen mit ein paar aufmunternden Kraftworten, jetzt müßten sie vorwärts, – immer vorwärts, vorwärts.
Jetzt aber hatten sie sich etwas anderes ausgedacht: sie sausten nicht davon, sondern sie begaben sich daran, gemächlich mit dem Winde weiterzutrotten – etwa mit der Geschwindigkeit, mit der sie an einem warmen Sommertage vor dem Pfluge herschritten. Er wetterte und schimpfte, er gab ihnen Schmeichelworte, er zog ihnen mit der Peitsche tüchtig eins über – alles mit dem gleichen Erfolg: die Ochsen stampften und trampften mit ihm und dem Schlitten durch das Unwetter, als sei alles herrlich und in Ordnung.
Pechrabenschwarz war es rundum; das Schneegestöber war zwar nicht mehr ganz so dicht; um so schlimmer war jetzt die Kälte; – die stach so böse in den Rücken; und der Wind hatte zugenommen, dessen war er sicher; denn er konnte sich kaum noch auf dem Schlitten festhalten.
Er sah in die Finsternis hinein: Das ist jetzt also deine letzte Fahrt!
Es war ihm leid darum. – Der Herrgott hätte wirklich noch eine Weile auf ihn warten sollen, damit er noch erlebte, wie sich hier draußen alles entwickeln und wie sich der Permann arten werde. – Seltsam, daß der Herrgott der Beret so übel wollte? Daß er ein kränkliches Weib in all dem Ungemach allein hier im Westen sitzenlassen konnte, – und jetzt gingen auch noch die Ochsen mit drauf! – Eine sonderbare Ordnung, wahrhaftig!
Er fühlte, daß ihn fror; – fror; er wickelte sich die Zügel um den Schenkel und beklopfte sich alle Glieder. Das half wohl an den Händen, aber im Rücken wurde es um so schlimmer, – der Wind ging durch und durch.
Er mußte doch jetzt schon weit, weit an den Tröndern vorbei sein ? Die Ochsen hielten gewiß erst einmal an der atlantischen Küste! – Ihn fror, daß ihm die Zähne klapperten.
Aber dann war es plötzlich, als sei es gar nicht mehr so kalt, es zog nicht mehr so schlimm durch ihn durch; er fühlte sich wohlig und müde, ach, so schlafensmüde.
Da riß er sich gewaltig zusammen, biß sich heftig in die Zunge, – er wußte doch wahrlich, was das zu bedeuten habe!
Nein! Das durfte nicht geschehen! Sonst blieb die Beret mit den vier Kindern allein!
Er rutschte vom Schlitten und begann neben den Ochsen herzustampfen; die Zügel wickelte er sich um den Arm.
Er war ärgerlich auf den Herrgott: Es war nicht recht von dem, ihn jetzt von der Beret fortzunehmen, – was der sich wohl eigentlich dabei dachte? ... Und die Beret war der beste Mensch der Welt. – Hieß das etwa ›für die Seinen sorgen‹?
»Beret, Beret,« gurgelte es in ihm, »jetzt fahre ich dahin!« —
Das Unwetter fauchte. Die Kälte nahm zu. Er ging durch etwas endlos Schwarzes, das rasend geworden, bis in ewige Zeit weiter rasen würde ...
Er ging und ging. – —
Er wurde nicht müde, schien ihm, – keineswegs müde. – Wohin gelangte er wohl zu guter Letzt, wenn er immer so weiter ging? – Ein Name tauchte aus dem Unwetter auf, leuchtete vor seinen Augen: Rocky Mountains. – Sonderbar! – Wie er so durch die Schneewehen humpelte, teilte sich der Name vor ihm in Stücke: Rocky – ocky – – Moun – tains! – Rocky – ocky – – Moun – tains! Nein, das stimmte ja aber gar nicht; die Rocky Mountains lagen nicht in dieser Richtung; – war er drauf und dran, vollständig verrückt zu werden? – Jetzt widerstand er vielleicht nicht mehr sehr lange, er fühlte es: es wäre so süß – so unsäglich süß – sich in diese Wehe hineinzulegen – und nicht mehr aufzustehen! – Nur einen Augenblick würde es dauern; denn jetzt war er so herrlich satt und müde.
Aber da weckte ihn ein Gedanke zum Bewußtsein, ließ ihn hellwach und behutsam werden: Der Sam? – wenn die jetzt von dem armen Sam weggefahren waren? – Der Sam war ein wackerer Bursch, – aus dem wurde mit der Zeit noch ein Mann, – gute Singstimme und alles. – Guter Gott, war das nun auch seine Schuld, daß der Sam heute nacht das Leben einbüßte? – Hätte er, der Per, an jenem Abend geschwiegen, dann säßen der Sam und der Henry jetzt sicher und warm in Ost-Minnesota! Und doch: die mußten sich mit ihren Rössern eigentlich durchhelfen können, wenn das Wetter nicht schlimmer wurde als jetzt? – Wenn sie doch nur nicht von dem Bürschlein wegfuhren!
Der Per Hansen fiel und stand wieder auf, fiel und stand wieder auf; die Zügel hatte er gut um den Arm geschlungen; die Ochsen zogen ihn mit; er mußte auf und weiterstapfen, – jetzt war er nicht einmal mehr imstande, den Fäustling abzustreifen und die Zügelschlinge am Arm aufzuknüpfen. – Rocky – ocky – – Moun – tains, Rocky – ocky – – Moun – tains! – Die pazifische Küste lag ja wohl gleich hinter diesen Bergen, – da gab es keinen Winter, – nein, keinen Winter; und da fischten sie sowohl Heilbutt wie Seeulk. – Nein, keinen Winter ... könnte er sich bloß über die Rocky – ocky – Mount – ains! schleppen! – – – Aber das war ja die verkehrte Richtung!
Die Ochsen trotteten mit dem Winde, zerrten den Per Hansen jedesmal am Arm hoch, wenn er stolperte und nicht mehr Lust hatte, sich zu erheben; er mußte auf und ihnen nach. – – —
Nein, was war jetzt das? Die Ochsen standen, der Per Hansen stand, – stand!
Seine erste Eingebung war, sich in den Schnee sinken zu lassen, jetzt, wo er endlich Ruhe hätte haben können. Aber etwas in ihm erhob sich und gebot ihm, stehenzubleiben. Er schleppte sich zum Perkel vor, legte dem den Arm über den Rücken und stützte sich gegen dessen Schenkel.
Was für eine Absonderlichkeit war denn das nun wieder? Wollte es Tag werden? – – – Zwischen den beiden Ochsenköpfen sah er ein gelbes Auge durch das Schneegestöber blinken! – Gewiß, das war doch ein Auge?
– Jetzt sehe ich den Totenfisch, Totenfisch oder Totenvogel: Vorzeichen des bevorstehenden Todes im norwegischen Volksglauben. jetzt ist es also soweit! —
Da setzte Sören plötzlich zu einem mächtigen Brüllen an; es war noch nicht verklungen, als Perkel ein gleiches tat, gewissermaßen, um den Antrag des Kameraden nachdrücklich zu unterstützen; der Perkel gab sich solche Mühe bei dem Brüllen, daß er geradezu schlank in der Taille wurde. Aber dabei kam der Per Hansen doch zu klarerem Bewußtsein; er tappte sich so weit vor, daß er an Perkels Kopf kam, – und stand plötzlich vor einer Wand!
Hier waren die Windbretter der Ecke!
Den Per Hansen rüttelte es, daß er sich kaum auf den Beinen hielt. Das Auge, das er da vor sich sah, war der Lichtschein aus einem kleinen Fenster jenseits der Hausecke, der durch das Schneegestöber fiel. – Nein, o nein, war er denn bis nach Filmore County gefahren? —
Er tappte sich um die Ecke herum, fand eine Tür, öffnete ohne weiteres und trat ein.
VII
Der Per Hansen gab keinen Ton von sich, als er in die Stube kam. Die starke Wärme legte einen Schleier um alle seine Sinne. Auch konnte er die Augen nicht recht aufbekommen, das Licht blendete zu sehr; die Wimpern und Brauen waren von Schnee und Eis zusammengebacken. Aber er war sich doch bewußt, daß es hier drin höchst behaglich war; hier saßen Menschen, und zwar norwegische Menschen – er war dessen ganz gewiß; denn das hatte er an den Windbrettern der Hausecke gesehen. – Geradeswegs aus dem Rachen des Todes war er in etwas Gutes und Warmes und Behagliches geraten. – Außen taute er schneller auf als inwendig. Im Kopf war ihm schwindlig und wirr, er konnte kaum noch auf den Beinen stehen.
»Gebt mir etwas, worauf ich mich setzen kann, guten Leute!« hörte er eine matte Stimme sagen. Jetzt vergingen ihm gewiß bald die Sinne, – er mußte sich sputen.
»Draußen stehen – zwei Ochsen – zwei liebe, brave Ochsen; – wir müssen zusehen, sie sogleich in den Stall zu bringen! – Mit mir ist‘s nicht so wichtig, – aber die Ochsen —!«
Ein Stuhl stellte sich vor ihm auf; er begriff, daß der für ihn bestimmt sei, faßte ihn und sank darauf hin. – Das war Eis, was da in seinem Zeug krachte, viel Schnee, der auf den Boden fiel.
»Ich selber rapple mich gewiß noch zurecht, – aber die Ochsen – die Ochsen!«
Menschliche Laute erklangen rund um ihn. – Da saßen gewiß viele in der Stube; er konnte die Gesichter nicht unterscheiden, es lag solch ein dicker Nebel davor.
Aber dann war da einer, der erhob sich dicht neben ihm, pflanzte sich gerade vor ihm auf.
Der Per Hansen zuckte zusammen, – die Stimme sollte er doch kennen ?
»Kannst du mir sagen,« kam es, »bist du das hier eigentlich, Per Hansen?«
Da lachte der Per Hansen.
»Wo kommst du her, Syvert ? – Habt ihr den Sam auch gut verwahrt?«
»Siehst du den Buben nicht? Er sitzt ja gerade vor dir? – Nein, daß noch Leben in dir ist!«
Es war freilich nicht so sonderbar, daß sie ihn nicht erkannten, oder er so wenig sah, oder seine Stimme so merkwürdig klang; denn sein Gesicht war von einer Maske von fest zusammengeballtem Schnee bedeckt, die langsam taute; sie verklebte ihm Gesicht und Bart, verband die Mütze mit dem Jackenkragen, und legte ihm ein weißes Laken über den Rücken. Hat es jemals einen Schneekönig in Menschengestalt gegeben, so muß das der Per Hansen gewesen sein, wie er an jenem Abend in Simon Baarstads Hütte trat. —
Well, nach einer Weile verfügte er wieder über alle seine fünf Sinne, und ganz richtig: da saßen sie alle miteinander! Er erkannte die Stube und die Menschen und alles. Und da saß ja auch der Sam, – der Sam, der so schön singen konnte; saß drüben beim Herd neben einer blonden jungen Dirn. Der war dem Herd und ihr doch ungemein nahe gerückt!
Der Per Hansen mußte in seinem Innern lächeln: Du Sam, du Sam!– Ach ja, auch aus dem Sam wurde noch mit der Zeit ein Mensch!
Er ließ sich vom Hans Olsen erzählen, wie sie auf Tod und Leben drauflosgefahren seien. Nicht die entfernteste Ahnung hätten sie gehabt, wie und wo sie fuhren; und zu guter Letzt seien sie, vor mehr als zwei Stunden also, hier angelangt.
Die Uhr war jetzt neun.
Aber jetzt schien es, als höre der Per Hansen nur noch mit halbem Ohre hin, – so als ginge ihn die Fahrt eigentlich nichts mehr an; die lag ja übrigens auch schon hinter ihnen. Nein: drüben beim Herd machte sich die Gurine Baarstad mit einer Pfanne zu schaffen; sie goß viel Milch hinein, und als die zu sieden begann, tat sie Bier dazu.
»Liebe, prächtige Gurine, sei bloß nicht so hurtig mit der Hand!« foppte der Per Hansen.
Ein kräftiger, braunschäumender Trunk wurde daraus. Er bekam eine große Schale voll und leerte sie, ohne abzusetzen.
»Herr im Himmel, wer doch dreizehn Tonnen von deiner segensvollen Flüssigkeit bekommen könnte, Gurina! – Ist da wohl noch ein Tröpflein in der Pfanne?«
Die Schale wurde aufgefüllt und in einem Zuge geleert.
Da kam ihm etwas in den Sinn, und er fragte: Hätten sie ihn eigentlich an sich vorbeifahren sehen?
Vorbeifahren?! – »Jetzt schwätzest du wirr, Per Hansen,« sagte Tönset‘n und blickte ihn bekümmert an; wie absonderlich doch der Per Hansen heute abend redete!
Nein, im Ernst! Sie sollten nur den Schlitten vom Sam einmal bei Tage untersuchen; er habe den Sam ja beinahe in den Grund gesegelt, als er an ihnen vorüberfegte! »Kannst du mir sagen, sahst du mich nicht?«
Well, der Sam war im Zweifel. Er habe zwar einmal etwas vorbeiflimmern sehen, etwas wie einen schwarzen Wisch, gleich nachdem das Unwetter losgebrochen sei. Er habe einen mächtigen Stoß am Schlitten gespürt und gemeint, er sei an einen Stein gefahren. »Bist etwa du das gewesen?«
»He he, – akkurat meine flinken Ochsen, die an deinen Schindmähren vorbeiflitzten!«
Wo in aller Welt habe er sich denn aber in der Zwischenzeit aufgehalten, fragten alle drei Mann wie aus einem Munde.
Ja, danach könnten sie freilich fragen! Der Per Hansen bekam seine Schelmenaugen, faßte die Schale und untersuchte, ob nicht noch ein paar Tropfen an ihr klebten. »Ich machte halt einen kleinen Umweg nach Norden, zu den Indians bei Flandreau, um mich nach einer passenden Frau für den Henry umzuschauen, – ich meinte halt, so viel könne ich für das arme Bürschlein immer noch tun; sein Bruder hilft sich, scheint‘s, selber; – kannst du mir sagen, du Sam: friert dich sehr?«
Der Sam wurde rot, rückte mit dem Stuhl vom Herd und der Dirn weg.
Jetzt kam eine große Schüssel Brei auf den Tisch für alle und eine gehörige Schale heiße Milch für den Per Hansen. Er aß aus Leibeskräften und fand, er werde doch nimmer satt.
Und hinterher wurde noch lange gemütlich geschwätzt über alles, was geschehen war und noch geschehen werde. Oh, hier lag eine vielversprechende Zukunft vor Leuten, die vorwärts wollten!
Endlich kamen sie in die Kojen: die Wirte in ihre Betten, für die Wegfahrenden war auf dem Fußboden eine dichte Schicht Heu gelegt, die mit vielerlei Kleidern und Tüchern zu guten Lagerstätten ausgestaltet worden war. Und drei von ihnen schliefen sogleich den Schlaf des Gerechten. Nur der Per Hansen brachte es nicht zustande. Seine Sinne waren in dicke Schichten von Müdigkeit gehüllt; aber ihn floh der Schlaf. Leise Zuckungen überliefen seinen Körper, – unaufhörlich – wie das leichte Gekräusel auf spiegelblankem Meer. Es war warm in der Stube, die Decke so lastend; er mußte sie abwerfen; aber innerlich fror er.
Und ein Bild hielt seine Vorstellung hartnäckig gefangen: eine Gamme irgendwo im Westen, umtobt vom Unwetter, eine Gamme, um die der Wind pfiff, – er hörte deutlich das Sausen des Windes um die Ecken —. Die Gamme lag weit, weit im Dunkel. Ein Weib mit einem traurigen Antlitz, das immer noch so unglaublich schön war, schritt dort mit einem Kinde auf dem Arm auf und ab. Im Halbschlaf konnte er deutlich sehen, wie sie das Kind trug. Es war sorgsam gewickelt, und der Wickel war rot mit schwarzen Kanten. Er wälzte sich hin und her; denn das Weib schritt unaufhörlich auf und ab. – Ihn dünkte, er müsse sie ansprechen, – sie bitten, zu Bett zu gehen, damit er endlich Ruhe finde.
Herr Gott im Himmel, seufzte der Per Hansen, die Beret kann sich doch wohl heute nacht nicht um mich ängstigen ? – Das ist dumm von der Beret, sehr dumm, – so oft, wie ich ihr erzählt habe, daß es in der ganzen Welt nicht bessere Leute gibt als diese Trönder!
Aber das Zucken im Körper hörte nicht auf, das Bild ließ seine Vorstellung nicht los. – Es war wohl kalt heute nacht in der Gamme, – wenn bloß die Buben Holz genug hereingeholt hatten, bevor das Unwetter heraufgekommen war! – Sie wanderte jetzt hoffentlich nicht mehr herum, denn dann wurde ihr schlotternd kalt.
Er kehrte sich um, aber nicht ab von dem Bilde.
VIII
Längs des Sioux war schon damals weit flußaufwärts und -abwärts von Simon Baarstads Anwesen ein ansehnliches Settlement fast ausschließlich von Tröndern entstanden. – Es war eine für damalige Verhältnisse wohlgeordnete Dorfschaft. Einige von den Farmern hielten sich für bereits alteingesessen; denn der erste Siedler hatte sich schön im Jahre 1868 hier niedergelassen. Die meisten waren gut vorwärtsgekommen, hatten sich feste Blockhäuser errichtet und ein beträchtliches Stück Acker unter den Pflug gelegt. Der größte Teil von ihnen lebte in Wohlstand. Und sie erzählten die reinen Abenteuer aus jenen ersten Jahren, als sie zum Beispiel das ganze Land, das jetzt Süd-Dakota heißt, und den westlichen Teil von Nebraska durchqueren mußten, wenn sie mit ihrem Korn zur Mühle wollten, – oder als die Indianer hier im Sommer und Winter in großen Horden durchzogen. – Jetzt sei alles ein Kinderspiel dagegen, meinten die Trönder, – jetzt seien doch überall Menschen, und Siedlungen sproßten bald allerorten aus der Prärie hervor.
Der Per Hansen hörte ihren Erzählungen gern zu; es lag in ihnen solch eine eigentümlich beruhigende Sicherheit, und zugleich etwas, was ihm immer das Blut ins Gesicht trieb: Oho‘ was ein Trönder fertiggebracht, war wohl nicht unerreichbar für einen Helgeländer; das war es nicht in alter Zeit gewesen und werde es auch heute nicht sein! – Abwarten!
Der nächste Tag brachte klares, stilles Wetter; aber es war so schauderhaft kalt, daß es im Strauchwerk auf den Feldern knackte. Der Per Hansen, der sich auf seiner ersten Fahrt hierher im vorigen Sommer beim Simon Baarstad einen Acre Waldland gepachtet, wohnte dort im Hause, während er Holz fällte und die Fuhre nach und nach lud; die andern drei quartierten sich bei denen ein, die ihnen Brennwerk abließen. – Die vier Präriebauern verbrachten volle zwei Tage im Settlement und reisten erst in der Frühe des dritten Tages zurück. Sie hätten zwar schon einen Tag früher aufbrechen können, verspürten aber so gar keine Lust, sich zu beeilen.
Nein, die verspürten sie nicht; seit mehreren Monaten hatten sie kaum je ein fremdes Gesicht zu sehen bekommen. Und die Trönder waren ein gastfreundliches Volk, die wollten nichts davon hören, daß einer so bald abreisen wolle. – Die vier ließen sich unschwer verlocken; es waren Festtage für sie. Und sie hatten auch über so vielerlei mit den Tröndern zu verhandeln. Bis zu ihrer Abreise hatten sie sich alles Frühjahrssaatgut, Weizen wie auch Hafer, ausbedungen, und Tönset‘n sogar noch einen halben Sack Gerste; aber er hütete sich, den vor den Kameraden zu erwähnen. Die Trönder verstanden sich nämlich gut aufs Bierbrauen, und jetzt hatte er vom Tommaas genaue Anleitung dazu bekommen.
Der Per Hansen hatte seine Fuhre geladen und mußte durchaus noch an den Fluß. Er bearbeitete den Simon Baarstad, bis der mitkam. Da standen nun die beiden Männer und hackten sich durch das dicke Eis, daß der Schweiß von ihnen herabtroff.
Ja, da fischte also Trönder und Helgeländer gemeinsam in der größten Eintracht durch dieselbe Wake, und für beide war alles eitel Freude und Herrlichkeit! – Am Abend dampfte goldfrischer Hecht auf dem Tisch, und zwei alte Lofotfahrer tauschten bei Schmausen fröhlich ihre Erlebnisse aus dem Ost– und Westlofot aus, und alles andere war darüber vergessen. Den Per Hansen deuchte der Simon Baarstad der prächtigste Kerl, der ihm seit langem begegnet, und es war nicht zu verkennen, daß der Simon Baarstad etwas Ähnliches von dem Per Hansen dachte, – wohl an die zwanzig Mal hatte er ihn bereits gebeten, nicht gar zu lange mit dem Wiederkommen zu zögern.
Als sie so behaglich beieinandersaßen, steckte ein Bursch die Nase zur Tür herein; er wolle die Tochter vom Hause nur einen Augenblick sprechen. Er hatte es so überaus eilig, der Bursch, als stände sein Leben auf dem Spiel.
»Was gibt es denn?« wollte Baarstad wissen.
Oh, beim Tommaas hätten sie Gäste, – sie wollten sich halt heut abend ein wenig Jul-Spaß Jul = nordisches Weihnachten. gönnen.
Die Dirn zog sich eilig an und ging mit.
Und da kam der Baarstad darauf, daß auch sie hingehen müßten, und er hieß die Frau sich schleunigst fertigmachen. »Jetzt wollen wir‘s den Helgeländern einmal zeigen, wie Trönder sich im Tanz zu schwingen wissen!«
Bald darauf traten alle drei in den Flur beim Tommaas. Aus der Stube klang lustiges Fiedeln und kräftiges Aufstampfen in die froststille Nacht hinaus. Drinnen war es gerüttelt voll von alt und jung. Ein Lämplein mit handgeschmiedetem Schirm hing oben an der Balkenwand und bemühte sich, alle die Paare im Auge zu behalten; aber es wollte ihm nicht recht gelingen; es mußte sich halt begnügen, auf die allernächsten herabzublinzeln. – Die drei Neuankommenden wurden sogleich in einen Winkel geschupft.
Dem Per Hansen kam ein gelindes Kribbeln in die Beine; das war von einer andern Art als das, was ihn in jener Nacht nicht hatte Schlaf finden lassen. War doch merkwürdig, wie es aus der Fiedel sang! Das mußte er wirklich zugeben: der Mann, der die traktierte, der war dafür, daß er kein Helgeländer, sondern ein Trönder war, gar nicht einmal so uneben! – »Nein, alle Wetter!« Mehr ließ der Per Hansen nicht verlauten, – jetzt schwang sich der Solumbub mit der Baarstaddirn an ihm vorbei. »Freilich, wird aus dem mit der Zeit noch ein Kerl!« – Da schaukelte sich ein anderes Paar heran, das wollte er sich doch einmal etwas genauer vor den Krimstecher nehmen; ihm schien, der Mann sei ihm bekannt. Hei! Da kam ja Tönset‘n mit einer kugelrunden Trönderbäurin angeschwenkt!
»Hüte dich, Vater Syvert! Es sind Schären wie auch Blindklippen im Fahrwasser! Was, meinst du, wird die Kjersti —?«
»Halt‘s Maul, Per Hansen, was lungerst du da herum!«
– Tönset‘n war feuerrot im Gesicht und hatte im Augenblick nicht Zeit zu weiteren Erläuterungen.
Der Per Hansen fing an zu schnaufen, die Augen blinkten klein und munter. Mitten im tollsten Gedränge wippte über allen den übrigen immerzu ein Kopf auf und ab, immerzu auf und ab, wie eine Tonne auf bewegter See.
Da vergaß sich der Per Hansen: »Da tanzt ja, hol mich der Kuckuck, der Hans Olsen Rheinländer!«
Es zuckte in ihm; er zwinkerte heftig, schaute sich nach seinen beiden Wirten um und nahm die Gurine beim Arm: »Komm und zeig‘ mir einmal, wie die Trönder nach dieser Melodei den Reigen treten!«
Und alles war vergessen. Er bugsierte die Gurine mitten hinein, bis er an die Seite des Nachbarn gelangte:
»Aus dem Weg, Hans Olsen! Jetzt brauch‘ ich Platz, mich ein wenig zu schwingen!« —
Punkt elf Uhr war Schluß; der Tommaas selber kommandierte stopp. Aber wie es nun zugehen mochte: der Sam war es, der die Baarstaddirn wieder heimgeleitete. – —
Am nächsten Morgen fuhren die vier Männer in aller Herrgottsfrühe heim.
IX
Mattgelber Sonntagnachmittag. Blasses Sonnengeflimmer durch stiebenden Schnee ... Ein ewiges Sausen in der Luft ...
Die ganze Widde ein rauchendes, sturmgepeitschtes Meer ... Bis ans Ende der Welt nichts anderes. – Die Nebensonne zeigte sich immer noch am Himmel. —
Sie saßen alle in Tönset‘ns Gamme, weil sie bei sich daheim zu sitzen nicht mehr ertrugen; der Per Hansen hatte das Jüngste sorgsam eingewickelt und es hergetragen. Die Kjersti hatte gerade Kartoffelkaffee und Kartoffelkuchen aufgetischt; und in dem Kaffee hatte sie heute Milch von der Tüpfel, die kürzlich gekalbt hatte, so daß er gar nicht so übel schmeckte, und auch die Zuckerbrocken waren ihr noch nicht ganz ausgegangen.
– In der Stube lag ein blaßgelbes Licht; aus dem prasselnden Ofen fiel über den Fußboden fröhlicher Feuerschein.
Aber es herrschte verdrießliche Stimmung, die nicht einmal der Kaffee hatte zur Tür hinausjagen können. – Der Tag vor den Fenstern war so häßlich. ... Und es wurde nimmer anders. – Den Männern verging langsam der Lebensmut.
Jetzt hatten sie wieder einmal die Frage erörtert, wie es hier in zwei Jahren aussehen werde, und wie in vier Jahren, – und wie in sechs Jahren; denn wenn letztes Jahr so viel Menschen dazugekommen seien, wo früher nicht eine Menschenseele gewesen,– so mußten es doch wohl nächstes Jahr soundso viele mehr sein? Zufolge dieser Berechnung mußten sie also nach Verlauf von vier Jahren so viele sein – zu guter Letzt werde hier Mann an Mann bis dicht an die Rocky Mountains wohnen! Sie rechneten alles gemeinsam aus, und sie rechneten richtig; aber keiner von ihnen glaubte so recht an die Rechnung! Sie hörten sich die Worte sagen, hörten aber auch, daß keine Wärme daraus sprach. – – Und so was glaubt der Per Hansen auch noch immer so zäh? dachte sich der Hans Olsen, widersprach aber nicht. – Herrgott im Himmel, laß die jetzt bloß nicht verkehrt dividieren! dachte die Kjersti bei sich; aber sie hütete sich, einen Zweifel zu äußern.
Heute aber war es ganz unmöglich, über die Leere hinwegzukommen – das fühlten sie alle miteinander.
Aber da brachte Tönset‘n etwas zur Sprache, worüber sie alles andere für kurze Zeit vergaßen. Als die Unterredung erlosch, weil niemandem mehr etwas einfiel, sie anzuschüren, da richtete sich Tönset‘n, der auf der Lade hockte, auf und wollte wissen, was für einen Zunamen der Hans Olsen und der Per Hansen sich zuzulegen beabsichtigten, wenn sie jetzt die Eigentumsurkunde für ihr Land ausgestellt bekämen.
»Zunamen?«
Jawohl, Zunamen, jawohl! Denn darüber müßten sie sich doch schon im voraus klar werden, legte Tönset‘n dar. Ihre Namen würden nach Landesgesetz und Recht in die Urkunde eingetragen und seien fürderhin ebenso unabänderlich wie die Verfassung selbst!
»Wir sind bereits getauft! Wie steht‘s denn damit bei dir, Syvert?« knurrte der Per Hansen querköpfig. »Ich kann nicht einsehen, daß Peder Hansen nicht auch für die Verfassung der Vereinigten Staaten vollauf gut genug ist. – Deine übergroße Herrenfeinheit, Syvert, die artet bisweilen geradezu ins Gotteslästerliche aus!«
Tönset‘n blieb dem Per Hansen nichts schuldig. Der könne sich sein Knurren gern sparen; denn er, Syvert Tönset‘n, gebe ihnen als alteingesessener Amerikaner guten Rat über Dinge, über die er gut Bescheid wisse – that‘s all! Wenn Tönset‘n dieses ›that‘s all‹ in die Debatte schleuderte, dann wußte alle Welt, daß er vergrätzt war. – Übrigens, fuhr er fort, könne das ein jeder verstehen: denn ›Hans Olsen‹ und ›Peder Hansen‹ – so könnten sowohl die Griechen wie die Hebräer heißen! Niemand werde darauf verfallen, daß man dahinter Norweger zu suchen habe!
Der Hans Olsen lachte gutherzig und sagte breit und ausnehmend sanft:
»Dann ist es wohl das beste, ich nenne mich künftig Olav Tryggveson. Olav Tryggveson, norwegischer Heldenkönig, regierte von 995-1000, förderte die Einführung des Christentums in Norwegen. War da nicht einer, der so hieß? —«
Große Heiterkeit begrüßte diese Antwort; Hans Olsens Bemerkung hatte in die gedrückte Stimmung ein großes Loch gerissen.
»Ja, ja« lachte der Per Hansen, »willst du der sein, dann bin ich der Peter Tordenskiold! Berühmter norwegischer Seeheld in dänischen Diensten; 1690 in Trondhjem (Drontheim) geboren, 1720 bei Hannover im Duell gefallen. Aber dann wollen wir den Syvert doch auch gleich vornehmen. Wie wär‘s mit Olav dem Heiligen, Olav der Heilige, geb. 995, bricht 1016 die seit 1000 (Olav Tryggvesons Tod) bestehende dänische und schwedische Oberherrschaft über Norwegen und macht sich zum König, fällt 1030 bei Siklestad am Trondhjemsfjord im Kampf gegen die aufständischen Trönder Bauern. Trat eifrig für das Christentum ein und wird 1164 zum Schutzheiligen Norwegens erklärt. oder Tore Hund, Tore Hund, Gefolgsmann Olavs des Helligen. Hans Olsen? – Können dann nicht Juden wie Griechen verstehen, daß wir Norweger sind, dann weiß ich mir nicht zu helfen!«
Die Kjersti und die Sörine widmeten sich jetzt ganz der angeschnittenen Frage, die Solumbuben mischten sich hinein, und die Kinder verhandelten sie untereinander; die Beret jedoch wiegte schweigend ihr Kind auf dem Schoß.
Die Unterhaltung wurde wieder angeregt und ernst, und vielerlei Meinungen kamen zum Vorschein.
Doch da entschied die Sörine: hätte sie die Wahl, so hieße sie lieber ›Mrs. Vaag‹ nach ihrer Hofstelle in Norwegen, als ›Mrs. Olsen‹.
Darin lag Vernunft; und alle überlegten sich die Frage noch einmal.
»Aber schau her, du Sörrina,« rief der Per Hansen, »die Regel paßt nicht auf meine Bäurin! Denn da müßte sie künftig ›Mrs. Schlingelholm‹ heißen, und das soll keiner sie nennen dürfen – daß ihr‘s nur wißt!«
»Nein, meiner Treu, der Name geht nicht an für einen Christenmenschen!« lachte die Kjersti schallend.
»Freilich nicht,« stimmte die Sörine bei. »Aber ›Mrs. Holm‹, das scheint mir praktisch wie auch hübsch zu klingen. – Du, Beret, wollen wir beide unter die Wiedertäufer gehen?« Die Sörine lachte, war aber noch sehr in Gedanken.
Die Beret wiegte das Kind; sie war der Unterhaltung gefolgt; sie summte eine Melodie vor sich hin, ganz sanft und leise. Jetzt unterbrach sie sich und sagte gelassen, ihr solle es gewiß nur wenig ausmachen, – wenn es überhaupt recht sei für einen Menschen, einen andern Namen anzunehmen, als er in der Taufe erhalten.
Da wurde die Sörine ernst:
»Ich bin deiner Meinung, Beret. Aber hierzulande werden wir gleichwohl nicht nach unserm Vater genannt. Ginge es wohl an, daß ich mich ›Sörine Zakkariastochter‹ schreibe?«
»Nein,« rief Tönset‘n begeistert, »nicht, sofern du als das Weib des Hans Olsen gelten willst!« – Merkwürdig, was für ein gescheiter Kopf doch auf der Sörine saß! Die Erörterung wurde noch lange und eingehend fortgesetzt. Der Hans Olsen fand ebenso wie die andern den Vorschlag seiner Frau praktisch. Der Per Hansen äußerte nicht viel, aber sein Gesicht fing an, sich aufzuhellen. – Das mußte er mit der Beret unter vier Augen bereden! Er prüfte im stillen den Namen, erst an ihr, dann an sich selber, darauf an jedem der Kinder: jedesmal strahlte sein Gesicht mehr. Mrs. Holm, das hörte sich gut an – Peder Holm, das klang nicht schlecht! – Ole Haldor Holm ? – Hans Kristian Holm ? – Anna Marie Holm? – Peder Holm – nein doch! – Peder Sieg Holm? – – Peder Sieg Holm! – Er teilte den Namen in drei Teile und beschaute jeden einzeln; dann stand er plötzlich auf, faßte den Hosengurt und zog sich die Hose hoch.
»Die Sörine hat recht: es ist sowohl hübsch wie auch praktisch, – ich denke, wir schlagen ein, Mannsleut!«
Es war unschwer herauszuhören, daß der Per Hansen jetzt guter Laune war. —
Seit der Zeit trugen also die beiden Familien zwei verschiedene Zunamen: untereinander gebrauchten sie immer den alten, aber vor Fremden hieß es von jetzt ab Vaag und Holm, nur mit der kleinen Abänderung, daß der Hans Olsen ein W an Stelle des V setzte.
An dem Abend ging die Beret erst spät zu Bett. Sie hatten das Vieh besorgt und zu Abend gegessen; die Kinder hatten vor Eifer über den neuen Namen, den die Sorine für sie gefunden hatte, gelärmt und getobt; jetzt schliefen sie bereits. Der Per Hansen war beim Ausziehen für die Nacht, ließ sich aber gute Zeit. Auch er war aufgeräumt und dachte über den Namen nach. – ›Peder Sieg Holm‹ sang es in ihm und stimmte ihn freudig; es trug ihn in eine große und kraftvolle Zukunft, in der es gut war zu leben.
»Aber jetzt mußt auch du dich legen!« bat er leise und sanft, liebkoste die Frau und legte sich zu Bett.
Sie vergalt ihm seine Zärtlichkeit, aber ihr Herz war nicht bei dem Geschenk. »Ich werde schon kommen,« sagte sie und blieb sitzen.
Und sie saß lange. Sie wiegte sacht das Kind auf dem Schoß. Von Zeit zu Zeit öffnete sie die Herdtür und legte ein Scheit auf; sie ließ die Tür angelehnt und starrte ins Feuer. – Warum hätte sie sich legen sollen? Die Nacht währte so schon zu lange! – Ja, jetzt hatten sie ihre Namen abgelegt, und bald kam mehr dazu! Denn das, was hier rundum sein Wesen trieb, das forderte das Ganze! – Sie hatte heute nichts dawider gesagt. Warum hätte sie sich einmischen und die Freude der andern zerstören sollen? – Alles, was sie tat, und alles, was sie sagte, das war alles verkehrt. – Dies aber hier, das mußte doch verkehrt sein? Obwohl es zwar nicht ärger war, als daß dem Kinde solch ein Namen gegeben worden; denn das war doch das ärgste von allem gewesen! – Doch vielleicht war auch das nicht verkehrt, – vielleicht war nur sie es, mit der es nicht richtig bestellt war? Darum hatte sie heute geschwiegen. – O ja, der Herrgott hatte sie diesmal verschont und hatte damit wohl seinen Plan gehabt. Sie mußte zusehen, ihre Sünde zu bereuen, ehe er sie fortnahm – so gnädig war er also. – Und sie konnte nicht bereuen, hatte nur Furcht ... nur Furcht..
Der Herd brannte aus; sie bemerkte es erst, als die Kälte fröstelnd durch die Gamme zog und sie weckte. – Da gedachte sie der Sturmnacht vor einiger Zeit. Die Kinder waren bei der Sörine geblieben, weil sie nicht allein heimzugehen vermochten, und sie hatte sie nicht holen können. In jener Nacht war sie hier auf und ab gegangen, unaufhörlich. Ach, und die beiden nächsten Nächte waren nicht besser gewesen. – Sie fühlte wieder das Entsetzen, das sie damals geschüttelt; sie erhob sich schnell und legte sich zu Bett.
Aber sie schlief nicht.
Nein, die Beret schlief nicht. Sie mußte an Menschen denken, von denen sie gelesen, – die waren in die Wüste gezogen, um in der Einsamkeit Gott wohlgefälliger zu leben. Und sie weinte; ja, sie wollte gern versuchen, ihm hier zu dienen, wenn er sie nur von dem Entsetzen befreite, das rundum so düster hing; denn in dieser Finsternis vermochte sie nicht lange mehr zu leben. —
X
Die Tage wurden allmählich wieder länger. Und der März zog herauf, und das Wetter wurde nicht schlechter. – Der Per Hansen arbeitete wie toll; reichte ihm der Tag nicht, nahm er kurz entschlossen die Nacht zu Hilfe. Und im März vollbrachte er ein paar Heldenstücke, von denen noch heute in der Gegend die Mär geht.
Mit jedem Besuch bei den Tröndern hatte er mehr von der Indianer-Kolonie bei Flandreau erfahren. Die Sioux betrieben dort das Fallenstellen von Beginn der Herbstfröste bis zum Frühlingstauwetter. Im Frühling verfügten sie über große Lager von Fellen, hauptsächlich von Wasserratten; aber auch Nerz– und Fuchsfelle waren darunter, bisweilen auch ein Wolfsfell. Die Felle verkauften sie, wo sich Gelegenheit bot, und nahmen dafür, was sie eben bekamen, und das war kaum der vierte Teil von dem, was man in Ost-Minnesota dafür einlösen konnte. Ein Wasserrattenfell wurde in diesen Gegenden mit 10 Cents bewertet – 10 Cents und nicht mehr; und im Osten wurde dasselbe Fell mit 50 Cents bezahlt. – Längs des Elvs wohnten Leute, die angefangen hatten, die Felle von den Indianern aufzukaufen und sie nach Osten zu verfrachten.
Über das alles und mehr dazu hatte sich der Per Hansen unterrichtet, und den ganzen Winter über hatte er es gründlich erwogen, nichts jedoch vor irgend jemand erwähnt. Die Gedanken ließen nicht mehr locker; er dachte daran des Tags, grübelte darüber des Nachts, wurde wortkarg und kam leicht aus der Stimmung.
Warum sollte er nicht selber mit den Indianern unterhandeln und verdienen, was zu verdienen war; er konnte es brauchen! Ja, warum eigentlich nicht? Bis Flandreau waren es nicht mehr als vierzig Meilen, – von dort bis Worthington etwa neunzig. Und dort wartete auf ihn der Zug nach Osten! Jetzt wurden die Tage länger, er konnte sich hier nicht das geringste vornehmen – und das Wetter war nicht ärger, als daß man dabei reiten konnte. – Zu Flandreau lagen die Felle, in Ost-Minnesota lag der Gewinn, – eine rührige Ameise schaffte viel. – Peder Sieg, klang es in ihm, – Peder Sieg – —
Aber er besaß nicht mehr als gerade fünf Dollar! Ob er jetzt zum Hans Olsen ging und den mitnahm? Der hatte die Heller, war noch nicht so ganz auf den Hund, der Mann. – Doch damit war noch nicht gesagt, daß es ihn nach solchen Wagnissen gelüstete. Und wie konnte er ihn mitnehmen und Tönset‘n daheimlassen? Es war nicht gerade kurzweilig, dann daheim zu bleiben! – Wenn sie drei aber fuhren, dann mußte auch einer von den Solumbuben mit – wohl der Henry, denn in dem war noch am ehesten Kernholz. Aber dann fiel die Schule aus. Und dann wurde von der ganzen Geschichte Gerede gemacht, und die Weiber wurden alle miteinander furchtsam.
Nein, er wußte nicht so recht, wie er es halten sollte, damit es gelang. – Aber zum Verrücktwerden war‘s, daß einem das Geld geradezu vor der Tür lag! Und er hätte am liebsten noch ein Landquart dazu gehabt, ja, und noch vieles andere außerdem! —
Die erste Märzwoche verging.
Eines Morgens war der Per Hansen früher auf als gewöhnlich und besah sich das Wetter. – Das gehe wahrhaftig nicht länger an, sagte er zur Beret, unterbrach sich und wartete darauf, daß sie frage, was denn nicht länger angehe. Als sie aber schwieg, fuhr er fort: jetzt stehe die Frühjahrsbestellung vor der Tür – er sei ohne Geld – sie brauchten vielerlei, außerordentlich viel, sowohl Nasses wie Trockenes, – so daß er wohl zusehen müsse, sich etwas auszudenken, womit sie sich ein paar Dollar verdienen könnten; – er sehe keinen andern Rat.
Die Beret wurde unruhig, äußerte aber immer noch nichts.
Und da erzählte er ihr von der Indianerkolonie im Norden bei Flandreau, und daß dort so leicht ein paar Dollar zu verdienen seien. Well, meinte sie nicht auch, daß er sich in Flandreau umschauen müsse? – Der Weg dorthin sei ja nicht gar so lang.
Er fragte, sah dabei aber zur Seite. – Und als er keine Antwort bekam, versuchte er von neuem: glaube sie nicht, daß sie sich mit den Buben allein durchhelfen könne? Denn die Tage seien doch jetzt schon hübsch lang? – Seine Stimme wurde zärtlich und weich.
Die Beret sah vor sich hin. Richtig war es zwar, daß sie viel brauchten, – alles, was Menschen nötig hatten, schien es ihr. Am übelsten war es mit der Kleidung für ihn und die Buben bestellt, und ihr war schon alles Zeug zum Flicken ausgegangen.
»Wir müssen halt zusehen, uns ums Leben zu mühen, solang es geht, weiß ich recht —.«
Da wurde er sehr fröhlich: das war klug von ihr gesagt!
»Ja, das meine ich auch. Und jetzt wird sich schon Rat finden!«
Er war aufgeräumt, hörte sie. – – Nein, sie wunderte sich wahrlich nicht, daß er gern von dannen wollte, – hätte er nur auch daran gedacht, daß andere das gleiche fühlten.
Wann wolle er reisen?
»Ja schau, du Beretmutter, da du meinst, es geht an, glaube ich fast, ich flitze schon heut davon! Ich nehme den Pony; das Wetter scheint sich zu halten! – Schau mir ja gut nach dem Prachtbüblein!«
Das letzte hätte er gern ungesagt lassen können, fand die Beret, aber sie schwieg. —
Eine halbe Stunde später brach der Per Hansen auf.
Spät am Abend fand er Flandreau, kroch in einer Hütte unter und barg das Leben für diese Nacht. – Sobald er am nächsten Morgen den Pony besorgt hatte, nahm er ihn beim Zügel und begann herumzuwandern und die Leute zu begrüßen. Er suchte unter den Gesichtern; das, was er halbwegs gehofft hatte zu finden, war nicht darunter. Die Gesichter begegneten seinem Forschen mit Erstaunen; den Pony erkannten sie aber und an ihm auch den Per Hansen. Er merkte es und freute sich. Paß auf, das läuft gut ab, dachte er. – Jetzt ging er an den lange überlegten Plan: Er wählte sich das Gesicht, das ihm am besten gefiel und sagte das eine Wort: Pelz! Und sah es dabei fragend, aber freundlich und fröhlich an.
Gewiß, der Mann hatte reichlich! Er nahm den Per Hansen mit und zeigte ihm mehrere Bündel Wasserrattenfelle.
Da lachte der Per Hansen. Mit einem Zweig schrieb er die Zahl 10 in den Schnee und das Wort Cents. Dann zeichnete er eine Figur daneben, die einen Menschen mit einer Tragstütze auf dem Rücken vorstellen sollte. Er zeigte erst auf die Figur, dann auf die Zahl Zehn und zuletzt auf den Indianer. Er lächelte den Mann dabei freundlich an und sammelte alle Biederkeit, die er in sich auftreiben konnte, in seinem Gesichtsausdruck zusammen. Ein weitläufiges Akkordieren mit vielen Gesten und noch mehr Zahlen im Schnee kam zustande. Zu guter Letzt bekam der Per Hansen so viel Felle überlassen, als er verfrachten zu können glaubte, machte daraus vier Bündel und verstaute sie auf dem Pony. – – Der Per Hansen lachte, als er fortritt. »Ja, also dann in Gottes Namen!« sagte er und legte den Kurs nach Südost, wo so ungefähr eine Gamme mit ein paar Hallingern liegen mußte. —
Er verbrachte eine ganze Woche auf dieser Fahrt; als er endlich wieder heimkam, erzählte er nicht, wie weit hinein in Ost-Minnesota er gewesen, auch nicht, was er hatte aushalten müssen; er war zu müde und abgespannt. Und hier gab es auch so furchtsame Menschen. Aber er hatte viel von dem, was sie nötig brauchten, mitgebracht – und vierzig Dollar in der Tasche; die zählte er vor der Beret auf dem Tisch auf, um ihr eine Freude zu machen.
Er blieb zwei Tage daheim, am dritten ritt er wieder fort. »Du kannst dir doch denken, Beret, daß ich den Indianern die Felle bezahlen muß! Erwarte mich aber erst zurück, wenn du mich wieder vor dir siehst!« —
Im ganzen unternahm der Per Hansen drei solcher Fahrten; für die beiden letzten brauchte er nur je sechs Tage; er hätte auch noch eine vierte versucht, hätte er nicht anderes zu bedenken gehabt. Als er abschloß, legte er der Beret einhundertundvierzig Dollar auf den Tisch; und er hatte von jeder Fahrt Nötiges mit heimgebracht, Sachen, von denen er wußte, daß sie sie sich seit langem gewünscht.
Aber auf der letzten Fahrt froren ihm zwei Zehen ab. Das machte ihm viel zu schaffen, als sie das Saatgut von den Tröndern holen mußten. Die Saat mußten sie zusehen noch auf Schlittenbahn heimzubekommen. Er hatte nicht einmal Zeit zum Ausruhen gehabt, als es schon wieder davonging.
Die Fahrt machte er zusammen mit dem Hans Olsen. – Er fand, es sei das beste, zugleich etwas mehr auszurichten, wenn sie doch schon dieses Weges fuhren; und daher kaufte er sich eine einjährige Sterke von der Gurina Baarstad. Diese Sterke war rot und weiß gefleckt, und darum wurde sie Schönfleck getauft, als er mit ihr heimkam.
Die Beret äußerte nicht viel, weder wenn er reiste, noch wenn er heimkam. Das fand er freilich wunderlich; jetzt war sie doch mit dem Ihren seit langem fertig, war wieder gesund und frisch, soweit er sehen konnte? Sie hätte wenigstens sagen können, daß er jetzt schaffe wie ein tüchtiger Kerl! Sie sollte wissen, wie er geritten, daß er fast vor Müdigkeit vom Gaul gepurzelt war! O ja, ein paarmal war er gewiß gewesen, nicht mit dem Leben davonzukommen; aber – wozu es erwähnen! – Dennoch: sie hätte gern ein paar gute Worte für ihn übrig haben dürfen. – —
Aber das wurde wohl alles besser, wenn jetzt mit dem Frühling das gute Wetter kam! —
Das Heer der Bosheit unter den Himmeln
I
Der Per Hansen saß mit den beiden Buben am Tische und reinigte die Saat; über die Tischplatte war ein weißes Tuch gebreitet; auf ihm lag in kleinen Haufen der Weizen. Das war wichtige Arbeit, überaus wichtige Arbeit; jedes Unkrautsämlein und Miststäublein mußte hinaus. Alles komme darauf an, die Saat rein zu haben, hatten die Trönder gesagt. – Der Per Hansen arbeitete ernst und sorgfältig; jedes eingeschrumpfte Kornauge schob er weg: »Nein, für das bedanken wir uns! Gute Saat in neue Erde! – Volles Saatkorn bringt den Getreidekasten zum Überlaufen. – Paßt jetzt gut auf, ihr Bürschlein, und pfuscht mir nicht!«
Merkwürdig war es, mit diesen kostbaren, schweren Körnern zu tun zu haben. Der Per Hansen konnte sich nicht entsinnen, je kurzweiligere Arbeit gehabt zu haben; aber er war dabei ernst. Hier war er also am Start! Diese paar Säcke sollten nicht nur all das Weizenmehl beschaffen, das er und die Seinen während eines ganzen Jahres zu verzehren imstande waren, sondern noch viele blanke Taler obendrein, großartigen Reichtum; und zudem noch Saat fürs nächste Jahr und wieder für den übernächsten Frühling und so fort durch alle die künftigen Jahre. Und brachten dann immer mehr und mehr Nahrung unter die armen Leute ringsum in der Welt. – Jetzt hielt er in der Hand die Wichte, die auf allen diesen endlosen Einöden neues Leben schaffen, sie zur Menschenheimat machen sollten, – war das etwa nicht merkwürdig?
Er mußte nächstes Jahr Saatkorn zum Verkauf bereit haben. Bald kamen viele her, die dessen bedurften. Hätte er bloß die Möglichkeit, die ganze Ernte aufzuspeichern; Saatweizen stand stets hoch im Kurs. – Nun, er mußte halt abwarten, – es konnte noch vielerlei dazwischenkommen!
Das also war der Anfang zu all dem Unerhörten, das hier draußen sich ereignen sollte. – Er dachte an den Anfang des Märchens: ›Es war einmal‹. Ein seltsamer Anfang! Aber noch merkwürdiger wurde es, wenn einer erst ein Stück hineinkam. – Er wollte sich gute Zeit lassen, wollte sorgsam mit der Saat umgehen. Der Per Hansen wurde noch ernster und mahnte leise, wohl schon zum hundertsten Male: »Verfahrt mir nicht unachtsam, ihr Burschen!«
Die Körner, die waren so kühl und doch so dicklich und schwer, hatten einen matten, trägen Glanz; es steckte Licht in ihnen. Eigentlich Gold war das auch nicht – nur starkes Leben, das noch im Schlummer lag. – Er schöpfte eine Handvoll, und sie wog schwer; er umschloß sie mit den Fingern und vermeinte, es werde weich und warm von schwellendem Leben; es kribbelte darin. Öffnete er aber die Hand und rührte mit den Fingern darin herum, so lagen die Körner gerade wie zuvor – träge, mattgelb, mit dem stumpfen Gold überzogen. – Er legte eine Handvoll nach der anderen vorsichtig in den Sack. »Geht mir hübsch behutsam damit um, ihr Burschen!« – —
Mit dem guten Wetter war die Rastlosigkeit in ihn gefahren. Er war mit dem Verlesen des Saatkorns fertig und hielt es innerhalb der vier Wände nicht mehr aus. Die Hühner legten jetzt schon so hübsch, jeden Tag bis zu fünf Eiern. Man mußte wohl bald Glucken setzen. Zum Herbst mußten es mindestens fünfzig Junghühner sein! – Er ging zu den Ochsen aufs Feld und schwätzte mit ihnen und befaßte das Fell im Nacken, wo das Joch liegen sollte.
Wenn es jetzt bloß bald trocken werden wollte! Er besah die Erde am Vormittag, er befühlte sie am Abend. Heute war es gut vorwärtsgegangen – wenn nur auch morgen so schöner Sonnenschein würde! Er mußte in allernächster Zeit zu den Nachbarn hinüber und nachsehen, wie es dort stand. – War es bei ihnen bald trocken genug? – Nein, wirklich! Dort war der Boden noch feuchter als bei ihm, wo das Land höher lag. – Sollst sehen, es wird bei dir schneller trocken, dachte er.
So hatte die Beret ihn seit vorigem Frühling nicht gesehen. Er war so leicht zu Fuß, schien es ihr, faßte so behende um alles, was Leben in sich hatte; seine Stimme klang so leise und freundlich; die Augen waren jetzt kaum noch zu sehen. – Sie fühlte eine Kraft von ihm ausstrahlen, daß sie sich fürchtete, und sie mied am liebsten seine Nähe.
Die Sonne schien den ganzen lieben langen Tag, – leuchtete klar und bebend am Vormittag durch ein unendliches Meer von blauer Luft; blinzelte zärtlich am Nachmittag durch trägen Dunst, öffnete gegen Abend das große Auge ganz weit. Die Flut des Lichts lohte auf, verglomm machtvoll in einer erhabenen Nacht, die ebenso voller Leben war.
Das gute Wetter hielt sich unverändert.
Der Per Hansen wurde rastloser, aber fröhlicher. Immer wieder stand er oben am Acker. – War es immer noch nicht trocken genug? – Er hätte die Saat jetzt im Boden haben müssen, so daß er ans Pflügen gehen konnte. —
Am Sommermerktag, dem 14. April, fing der Per Hansen an, seinen Weizen zu säen. Dreimal war er am Vormittag oben gewesen und hatte in der Erdkrume gewühlt. Das letztemal hatte er den Entschluß gefaßt: jetzt soll es geschehen!
Als er seinen Imbiß genommen, trug er zwei Weizensäcke auf die trockenste Stelle des Hügels, holte sich darauf von Hause das Saattuch. – Den ganzen Acker hatte er abgeschritten und vermessen und in Ein-Acre-Rücken eingeteilt; es sollte auf jeden Acre anderthalb Bushel Saat kommen; doch hatte der Simon Baarstad gesagt, daß man sich auf gutem Neuland auch mit fünfviertel Bushel begnügen könne; damit wollte er‘s versuchen.
Der Per Hansen füllte das Saattuch und hängte sich‘s über die Schulter; er zitterte. – Jetzt sah er sich um.
Gewiß! Er war der erste, – er war der erste, jawohl! – Dort fuhr der Hans Olsen Mist, – wohl auf das Stück, auf dem er den Garten anlegen wollte? Gar nicht so dumm von dem Hans Olsen! Tönset‘n arbeitete in der Nähe seiner Gamme, – was, konnte er nicht erkennen. Er kehrte sich um und sah nach Norden: – Ja meiner Treu, waren da nicht die Solumbuben dabei, Neuland aufzubrechen?
Er ging an den Ackerrand.
»Ja ja,« sagte er laut und steckte die Hand in den Sack.
Dort kamen beide Buben angesetzt und wollten beim Weizensäen zugucken. Nein, schönsten Dank, davon wollte der Per Hansen nichts wissen!
Sie sollten sich heimscheren, und zwar unverzüglich!
Sie wollten doch aber nur zugucken! – Sie sahen ihn mit langen Gesichtern an.
Augenblicklich heim! Wahrhaftig, sie sollten hier nicht herumtrampeln und die kostbare Saat verlagern!
Aber dann fand er es doch zu arg, in einer Stunde wie dieser so streng zu sein, und er fügte freundlicher hinzu: Der Weizen sei halt so ungemein fein und empfindlich; der müsse in Ruhe liegenbleiben, akkurat wo er hinfiel. Jetzt sollten sie hübsch heimgehen wie brave Burschen; wer morgen früh zuerst aufwache, solle mit dem Eggen anfangen dürfen, und er, der Vater wolle aufpassen, daß jeder ein gleichgroßes Stück bearbeite; – aber der zuerst aufwache, solle den Anfang machen.
Das versöhnte die Buben einigermaßen, so daß sie sich heimwärts trollten, freilich nicht sonderlich freundlich gestimmt.
Der Per Hansen faßte mit der Hand in den Sack. Er fühlte es, jetzt war der große Augenblick für ihn da – jetzt säte er Weizen in eignen Boden! – Er nahm die Hand tüchtig voll, schloß sie derb und wollte sie herausheben. Nein, hätte einer so etwas gedacht! – rieselten da nicht die Körner wahrhaftig wieder hinaus! Er faßte wieder hinein, noch fester; die gelben, schweren Körner entschlüpften der geschlossenen Hand wie glitschige Aale. – Die wollen wohl nicht in die Erde und mir die Schätze herausholen? dachte der Per Hansen. Und dann lachte er: Er steckte zum drittenmal die Hand in den Sack, ließ sie zärtlich herumgleiten, nahm eine mäßige Handvoll und hielt sie leichtumschlossen.
Der Weizen fiel ihm in gelben Bogen aus der Hand; die Sonne umspielte das Korn, und während es durch die Luft sank, legte sie Goldglanz darum. Er zwang sich zu ruhigem und besonnenem Arbeiten; es kam darauf an, gleichmäßig und ausreichend dicht zu säen. Er merkte, wie ihm heiß wurde, der Schweiß aus den Poren sprang; er konnte es gar nicht verstehen, er arbeitete ja doch nicht so angestrengt? Aber so ging es wohl dem, der sich mit einer Arbeit abgab, auf die er sich nicht recht verstand. —
Am Nachmittag kam Tönset‘n so eilig angesetzt, daß ihm der Dreck unter den Sohlen aufspritzte.
»Aber was hast denn du hier für tolle Streiche vor?!«
»Das siehst du doch wohl?«
Der Per Hansen blieb stehen, nachdem er gut Peilung genommen, um nicht aus dem Kurs zu kommen, wenn er wieder fortsetzte.
Tönset‘n schüttelte den Kopf: Das sei eines Narren Beginnen; es sei noch nicht trocken genug, die Erde zu kalt, der Boden noch dicht unter der Oberfläche gefroren. »Du verdirbst dir alles, sollst du sehen!« Tönset‘n trottete wieder den Hügel hinab und war tief beleidigt. Er hatte es sich so schön ausgedacht, das ganze Säegeschäft sowohl für den Hans Olsen wie für den Per Hansen zu übernehmen; und jetzt machte der Per Hansen alles selber? – Ja, wenn der sich durchaus ruinieren wollte, so mochte er! —
Der Per Hansen säte an dem Tag bis in die Dunkelheit. – Am Abend blieb er lange bei Tisch sitzen, hatte gar nicht Lust aufzustehen, denn die Müdigkeit war so unendlich wohltuend. Das Gössel war ihm auf den Schoß geklettert. Die beiden Buben wollten mit ihm schwätzen. – Werde er sie morgen beide gleichzeitig wecken? – Nein, keineswegs! Es habe übrigens mit den Eggen nicht Eile, bevor die Sonne aufgegangen sei und den Boden ein wenig erwärmt habe; aber wer zuerst aufwache, aus dem Bett herauskomme und die Ochsen vor die Egge spanne, der solle auch anfangen dürfen. Darüber gebe es kein Akkordieren! – Und vorm Einschlafen sagte er ihnen noch: wenn sie ordentliche Mannsleut seien, er und sie, dann hätten sie morgen, wenn der Abend hereinbrach, alle Saat in der Erde und den Acker geeggt!
Den nächsten Tag säte er wie besessen. Und nachdem er erst den richtigen Griff herausgefunden hatte, ging es auch schnell genug. Als der Abend herankam, hatte er das Säen hinter sich, und die Buben hatten nur noch den Hafer zu eggen.
Jetzt war er einen guten Sprung vorwärtsgekommen; keiner der Nachbarn hatte noch begonnen!
II
Als er am nächsten Morgen heraufkam, um das letzte Stück fertig zu eggen, war der Himmel wolkig und die Luft feucht; alles Milde war gewichen; es wehte ein rauher, kalter Wind.
Kaum war er mit dem Rücken Hafer fertig, da fing es auch schon an zu regnen. In den Regen mischten sich Schneefetzen; sie verdichteten sich bald zu Schlackwetter. Dann ging es in Schnee über – Schnee, der sich zu dichtem Gestöber zusammendrängte, und bald stand die ganze Prärie in tobenden Wirbeln. Es wurde daraus ein Blizzard, der fast so schlimm war wie der, den sie im Winter erlebt hatten.
Das Wetter hielt den ganzen Tag und die ganze Nacht an; aber früh im Morgengrauen klarte es auf und eine beißende Kälte trat ein.
In dieser Nacht tat der Per Hansen kein Auge zu. Er war altbefahrener Seegast, war nicht Landmann, und er hatte Grund wachzuliegen. – Jetzt war alles Saatgut vergeudet, hinausgeschmissen, weil er ja immer zu hitzig war! Da lagen jetzt Weizen und Hafer, erstickten bei solch einem Wetter, oder froren zu Kiesel. – Über den Hafer hätte er noch nicht viel Worte verloren, aber der Weizen! Der Weizen!! Fünfundzwanzig Bushel kostbaren Weizens hatte er weggeworfen, alle Arbeit umsonst gemacht; und dabei nirgendwo Saatkorn mehr aufzutreiben!
Als er am nächsten Morgen herauskam, erblickte er eine Schneeschicht von einem Fuß Dicke über den Feldern und fühlte eine Kälte, die ihm die Haut vom Gesicht ätzen wollte: All das Gute und Lichte, in dem er hier herumgegangen, war von harter Hand weggerissen – er hätte sich plötzlich in den Schnee und die Kälte setzen mögen und laut losheulen.
Er ging wieder hinein, legte sich aufs Bett – nein, er wolle kein Frühstück. Als er liegen blieb und auch nicht zu Mittag essen wollte, kam die Beret und fragte, was ihm denn fehle, – sei ihm denn schlecht ?
Er kehrte das Gesicht zur Wand; er antwortete ihr unlustig: – Die sollten nur ruhig essen, die dazu imstand waren; – das mit ihm gehe schon vorüber. – – Als sie ihm eine Schüssel warme Suppe ans Bett brachte, wies er sie zurecht, wie ein ungezogenes Kind, das einem Gram macht: Könne sie ihn denn nicht in Frieden lassen? Wenn er gesagt habe, er wolle nichts, dann sei das ja wohl klar und deutlich! – Die sollten nur essen, die es vermochten. —
Die Sonne kam hervor, kraftbebende, leuchtende Sonne; aber sie taute nicht viel auf – die Kälte war noch zu gewaltig.
Der Per Hansen blieb liegen. Der Sonnenschein und die weißen Wände blendeten ihn; er hatte eine schier unüberwindliche Lust, alles zum Teufel zu wünschen. – Da war er mit dem Säen fertig geworden und hatte so sicher gemeint, es sei seines Lebens größter Wurf ... und kaum war das letzte Korn in der Erde, da stiegen auch schon die Kräfte des Himmels herab und riefen ›nein‹!– Ja, ja, so war‘s! – – Der Große-Hans hatte letzten Sonntag der Mutter laut vorgelesen; und darauf konnte der Vater sich noch gut besinnen. Was der Bub da gelesen, hatte sich so häßlich angehört, daß er gemeint hatte, so etwas könne in der Bibel nicht stehen; da war er an den Tisch gegangen, um sich selbst zu überzeugen ... Und da hatte der Große-Hans ihm vorgelesen, mit besonderm Nachdruck auf jedem Wort:
»Da sagte der Herr zu dem Widersacher: Von wannen kommst du? Und der Widersacher antwortete dem Herrn: Vom Durchstreifen der Erde und vom Hinundhergehen auf ihr.«
Jetzt standen diese Worte lebendig vor ihm; er murmelte sie vor sich hin.
Er wälzte sich auf seiner Lagerstatt – sah wieder den Balken hinter der Stalltür ... Falls der Geselle hinter ihm aus war, dann machte er am besten sogleich Schluß! – Er schwitzte, daß er durchnäßt war, – der Balken winkte ihn geradezu zu sich heran! —
Der Schnee verschwand wie ein Hauch; er lag einen einzigen Tag, wurde gegen Abend mürbe und verging in der nächsten Sonne. Und nennenswerte Feuchtigkeit hinterließ er nicht, – nach ein paar Tagen war es trockner als zuvor in diesem Jahr. – Die Sonne schien, die Sonne flutete den ganzen lieben langen Tag, und die Sonne hinterließ am Abend so viel Wärme, daß die Nächte lau waren und geradeso zu Leben erwachten wie der Tag; Schönwetterabende zogen herauf, die Tote aus den Gräbern hätten locken können.
Aber Per Hansens Saat, die lag oben im Acker, verdorben von Schnee und Frost, – die feinen, wundersamen Körner, die sowenig vertrugen ... Ja ja, so war‘s! —
Eines Tages war er draußen, wußte nicht recht, was er anfangen sollte: und da fiel sein Auge auf Tönset‘n, der jetzt angefangen hatte zu säen. Wie jemand, der sein Todesurteil erwartet, ging er, um mit Tönset‘n zu sprechen. Der ist uralter Amerikaner, dachte der Per Hansen bitter, und versteht sich darauf, über einen armen Neusiedler den Stab zu brechen.
Aber Tönset‘n hatte heute sehr viel zu tun, der hatte keine Zeit zum Plaudern.
Der Per Hansen gewann es nicht über sich, von seinem Elend zu erzählen, und begann vom andern Ende:
Der Syvert bekomme es doch arg schön und gleichmäßig zurecht. —
Tönset‘n spuckte ergiebig.
So? Finde das der Per? – Tönset‘ns Arm beschrieb Bogen durch die Luft. Goldkörner flogen aus seiner Hand, träufelten durch den Sonnenschein herab, legten sich stille zum Träumen. – Das war so wunderschön! – Aber der Per Hansen sah, daß Tönset‘n es besser machte als er.
Der Per Hansen begann, neben Tönset‘n auf und ab zu schreiten: »Ich sehe jetzt ein, ich hätte warten sollen und dich bitten, mir zu helfen.«
»Ja, da siehst du‘s, hitziges Kind holt sich für den eigenen Hintern die Rute heran! So geht es halt immer!«
Und Tönset‘n bewegte sich im Gleichschritt weiter, schwenkte den Arm und zeigte dem Nachbar, wie leckeres Säen zu vollführen war ... Die Goldkörner flogen, wurden besonnt und legten sich.
Der Per Hansen machte plötzlich kehrt und ging davon.
Tönset‘n besann sich wenigstens soweit, daß er innehielt und ihm nachrief:
»Wolltest du etwas von mir, Per Hansen?«
»O nein, keineswegs!«
»Ja schau, ich habe halt viel zu beschicken.«
»Das sehe ich,« sagte der Per Hansen und ging. Ging zum eigenen Acker hinauf; der lag da schwarzbraun und leblos und grinste ihn an.
Er legte sich auf die Knie und grub in die Erde, nahm das erste Korn, das er fand, und legte es auf die Handfläche, drehte es mit dem Zeigefinger hin und her. – Das Körnlein war dunkel von klebriger Erde. Die Erde strich er vorsichtig ab; aber der mattgelbe Glanz, in dem er das Märchen gesehen, der war verschwunden. Das Körnlein lag in der Hand blaß, weißgrau, schmutzig, – so tot, wie nur möglich ... Der Per Hansen ließ es fallen und grub nach dem nächsten. Mit dem war es ebenso; aber es war geschwollen und im Begriff aufzubrechen. »Das ist also vom Frost gesprengt!« murmelte er laut und heftig. Er stand auf und sah über den Acker:
»Und der Widersacher antwortete dem Herrn und sagte: Vom Durchstreifen der Erde und vom Hinundhergehen auf ihr.«
– – Ach ja, es fehlt wohl nicht daran, daß der den Weg hergefunden hat, dachte der Per. Mög‘s ihm höllisch versalzen werden!
III
Auf Neuland, das sie in diesen Tagen unter den Pflug gelegt hatten, waren die Buben mit Egge und Ochsen. Der Per Hansen wußte zwar noch nicht so recht, was er dort pflanzen werde. Er hatte sich eigentlich gedacht, das Stück bis zum nächsten Jahr brach liegen zu lassen; da war ihm aber heute plötzlich ein Gedanke gekommen, und er hatte die Buben geheißen zu eggen. – Jetzt ging er zu ihnen hinüber.
Der eine Bub saß auf der Egge und ließ die Hacken derb nachschleifen; der andere lenkte die Ochsen; nach jeder Runde wechselten sie sich ab. Ein großer Wettstreit war unter ihnen beiden entbrannt, wer am geradesten fahren könne; und das sollte durch die Hackenspur entschieden werden. Sie hielten, als der Vater herankam.
»Ist dieses Stück nicht vier Acres groß?« wollte der Ole wissen.
»So ungefähr,« gab der Vater düster zur Antwort.
Well, meinte lachend der Bub, wenn sie nun Kartoffeln auf das ganze Stück setzten und hundertundfünfzig Bushels pro Acre bekämen, so gebe das sechshundert Bushels, – berechnete er geschwind.
»Und dann verkaufen wir sie!« rief der Große-Hans begeistert.
»Schweig du stille!« puffte ihn der Ole zurecht. »Denn das hier habe ich ausgerechnet!« Und damit wandte er sich zum Vater: »Und wenn wir bloß dreißig Cents für den Bushel bekommen – ja, dann werden es akkurat einhundertundachtzig Dollar.« Der Ole guckte den Vater stolz an und setzte hinzu: »Ich finde, wir sollten sie sofort in die Erde bringen!« —
»Und wenn wir allein für die Kartoffeln soviel Geld bekommen, dann können wir doch gut die Schrotflinte kaufen ?¦« schlug der Große-Hans vor.
»Eilt euch lieber,« versetzte der Vater grimmig. »Und dir ist eine Hose über deinen Hintern nötiger als eine Flinte.«
Irgend etwas mußte der Per Hansen jetzt vornehmen, das fühlte er. Das Neulandstück lag vor ihm. Warum sollte er nicht dafür sorgen, daß jener Halunke, der Widersacher, noch ein wenig mehr zu tun bekam?
Er ging heim, öffnete die Erdmiete und machte sich daran, Kartoffeln herauszutragen und auf die Erde zu schütten. Als er alle entbehrlichen Vorräte hervorgeholt, fing er an, die Kartoffeln zu zerschneiden. – Da tat er zwar wohl wieder etwas Unsinniges, aber er konnte geradesogut den Scheffel mit einemmal vollschütten, – dann war er fertig und konnte einpacken! Denn es war doch wohl auch für Kartoffeln zu zeitig? —
Er und die Buben setzten also Kartoffeln und waren damit den Rest der Woche vollauf beschäftigt, und es reichte auch für das ganze Stück.
Am Sonntagmorgen stand der Per Hansen zur gewohnten Zeit auf, aß Frühstück und legte sich sofort wieder hin. – Das Gössel krabbelte zu ihm ins Bett und vollführte einen wüsten Lärm; es wollte ihn wach bekommen, weil es ihm etwas überaus Putziges erzählen müsse; es zauste ihn und kniff, wenn er nicht antworten wollte, und das, fand er, tat ihm so gut. – Die Beret las am Tisch in der Bibel. Sie sagte in diesen Tagen nicht viel. Und das schien ihm auch gut so zu sein. – Jetzt plagte er sich mit einem Gedanken; nämlich, wie es wäre, wenn er eine Fahrt nach Osten, nach Sioux, machte? – Es war freilich schon spät im Jahr, aber vielleicht trieben sich bei den Tröndern noch ein paar Säcke Weizen herum? Und bekäme er auch nur so viel Saat, daß sie selber für‘s kommende Jahr genug hätten? – Es war nur schon so elend spät; und jetzt war‘s die Zeit für‘s Pflügen. – Vielleicht war es doch am allergescheitesten, daß er nach Sioux Falls oder nach Worthington fuhr und zusah, sich dort für den Sommer Arbeit zu verschaffen? Dann mußten halt die Buben und die Beret daheim alles besorgen. Die mußten sich doch wohl zur Sommerszeit allein durchhelfen können?
Das Gössel rüttelte ihn und zerrte an ihm und tobte auf ihm, er solle etwas erzählen.
Plötzlich trampelte es draußen – jemand kam angerannt – da kam noch einer hinterher.
Der Ole riß die Tür auf mit gewaltigem Ruck, tat einen Hupf er und stand in der Mitte der Stube: – »Vater,« rief er keuchend, »der Weizen ist aufgegangen!« Er tat noch einen und stand neben dem Tisch. »Der Weizen sprießt, Mutter!«
Jetzt kam der Große-Hans nachgesetzt.
»Vater, er ist so lang, daß du‘s weißt!«
»Schweig du still, – ich kam zuerst!«
»Darum darf ich doch wohl auch noch etwas sagen!« —
Der Große-Hans hängte sich über das Fußende des Bettes.
»Der ist schon so lang, der Weizen – und der Hafer so lang! – Meinst du nicht, daß wir uns jetzt die Schrotflinte kaufen können!«
Der Per Hansen setzte das Kind auf die Erde, war mit einem Satz aus dem Bett und zur Tür hinaus – wortlos.
Oben am Ackerrand blieb er stehen. – Und er zitterte am ganzen Körper; die Augen standen voll Wasser, so daß er nicht recht sehen konnte.
Aber über den ganzen Acker hin standen zarte, grüne Pflänzlein, reckten sich und schleckten Sonne.
Der Große-Hans stand neben dem Vater, guckte ihn an, und er wurde ängstlich:
»Ist dir nicht gut?«
Keine Antwort.
»Weinst du?«
»Du Gimpel!« sagte der Per Hansen mit grober Stimme, er schneuzte sich. »Du bist solch ein ganz scheußlicher Gimpel!«
»Ist er denn etwa nicht schön?« fragte der Bub leise.
Auch darauf bekam er nicht Antwort – eine Weile nicht; aber dann sagte der Vater:
»Komm einmal her, Großer-Hans!«
Er legte dem Buben die Hand auf die Schulter.
»Was willst du gern einmal werden, wenn du erst groß bist?«
»Wenn ich groß bin? Oh, General, so einer wie der Grant!«
Der Per Hansen sah den Buben an, es gluckste in ihm mit leisen wunderlichen Lauten :
»Was meinst du zu Pastor? – Schau, den brauchen wir noch eher?«
»Oh,« willigte der Große-Hans männlich darein, »das könnte ich dann wohl auch immer noch werden! – Meinst du nicht, wir können uns jetzt die Schrotflinte kaufen?«
Der Per Hansen ging langsam heim, und sein Gang federte. Er trat in die Stube, ging zum Tisch, wo die Frau noch immer las, setzte sich dicht neben sie und sagte still:
»Du mußt uns jetzt ein Kapitel laut vorlesen!« Er räusperte sich: »Kommt her, ihr Buben, und setzt euch hübsch. Jetzt liest uns die Mutter vor!« —
IV
In jenem Sommer ereignete sich viel; die Gedanken derer, die bisher in diesen Gegenden sowenig Menschengesichter gesehen hatten, wurden durch mancherlei von der Werkeltagsarbeit abgelenkt.
Ende Mai kamen die Iren mit vielen Genossen und siedelten längs der westlichen Sümpfe, wo sie für ihr Vieh reichliche Tränke fanden.
Anfang Juni kamen die Leute aus Sogn und Voss mit aller ihrer Habe und ihrem ganzen Vermögen; und sie brachten viele andre Neusiedler mit; sie dehnten sich nach Osten und Süden, so daß sie den Weg zur Stadt kürzer machten. – Man werde wohl auf Wasseradern stoßen, meinten sie, und der Boden sei trefflich, hier wie dort. Die eine Gamme nach der andern hob den Kopf über die Prärie, und jede mehrte das Heimatgefühl.
Unter den Leuten aus Sogn und Voss war viel braves Volk. Tönset‘n wurde es niemals müde, daran zu erinnern, daß sie Norweger seien, ›jede einzige Schnauz‹! —
Unter denen vom Sognefjord war ein stattlicher, blonder, gutaussehender Mann, etwas großschnäuzig zwar von Wesen. Jedes seiner Vorhaben hatte etwas Anmaßendes, als seien Fehlgriffe ausgeschlossen, und es konnte einem oft leid werden, seinem Wortschwall zuzuhören. Er hatte aus Norwegen eine schöne Erbschaft erhalten, viel Waldland in Ost-Minnesota gerodet und es sehr vorteilhaft wiederverkauft; und das Gerücht wollte wahrhaben, daß er mindestens 3000 Dollar wert sei; er bestritt das auch durchaus nicht. Dieser Mann hatte eine große Familie und hieß Torkel Tallaksen.
Alle Westfahrer dieses Jahres begnügten sich mit Gammen; nur Tallaksen hatte sich‘s anders gedacht. Er setzte vier Pferde vor den Pflug, brach dafür, daß es das erste Jahr war, ein mächtiges Stück Neuland auf und säte es ein mit mitgebrachtem Korn. Es verlautete bald, daß er sich mit großen Plänen trage; gleich nach der Ackerbestellung beabsichtigte er, aus Worthington Baumaterial anzufahren; er wolle bereits diesen Sommer sowohl Wohnhaus wie Stall bauen.
Es wurde im Settlement viel darüber gesprochen. Wenn Tallaksens Absichten im Beisein des Per Hansen erörtert wurden, schwieg der dazu, paßte aber genau auf. Als sie eines Tages beim Per Hansen Mittag aßen, kam Tallaksen herein und fragte, ob er, wenn er Material hole, die Ochsen und den Per Hansen nach Osten mithaben könne. Er wolle auch die andern Nachbarn bitten; sie seien hier jetzt schon so lange ansässig und mit Acker und Wirtschaft so gut in Gang gekommen, daß sie wohl einem Neusiedler Hilfe angedeihen lassen könnten. Übrigens brauche er noch ein paar Mann dazu; er wolle viel holen und alles auf einmal heimbringen. Bezahlt werden könnten sie entweder in Arbeit oder Geld; aber er für seinen Teil ziehe es vor, in barem Gelde zu bezahlen, dann sei er die Sache quitt. – Der Acker stehe hier übrigens schön, sie bekämen dies Jahr eine mächtige Ernte; wie groß das Stück sei? So? Nicht größer? Nun, es wirtschafte sich wohl auch nicht leicht allein mit Ochsen! – Der Per Hansen habe sich da eine recht ansehnliche Gamme zurechtgebaut! Nun ja, Gamme bleibe nun einmal Gamme, von der Sorte Behausung habe er jetzt genug! – Ja, könne er also auf ihn rechnen?
Tallaksen schwaderte daher, als bäte er bloß um ein Streichholz.
Denke er jetzt ans Bauen? fragte der Per Hansen gelassen.
Natürlich! Solle er hierbleiben, dann wolle er‘s anständig haben! – Und jetzt verbreitete er sich eingehend über seine Pläne. Es mache zwar viel Arbeit, bis alles zusammengegebracht sei; aber er beabsichtige, sich Leute zu mieten, damit er sich bald allen Ernstes an die Prärie machen könne; er wolle noch einen Quart Land dazu kaufen; falle die Ernte einigermaßen gut aus, nehme er vielleicht auch zwei, drei, vier; aber zunächst wolle er ein anständiges Haus. Das Anstreichen müsse bis zum Herbst warten.
Die Worte troffen ihm nur so vom Munde, so daß ein anderer schwer ein Wort einfügen konnte.
Der Per Hansen stand vom Tische auf; er atmete heftig:
»Also du willst anstreichen?« unterbrach er ihn.
»Selbstverständlich! Hier kann man die Häuser nicht ohne Anstrich lassen, und ohne Farbe machen sie auch nichts her.«
Die Beret blickte Tallaksen treuherzig an, vergaß sich und fragte, ob es wirklich wahr sei, daß er derartige Häuser jetzt sogleich bauen wolle? – Und sie setzte erfreut hinzu, es werde überaus artig sein, wieder einmal ein richtiges Haus zu sehen, »dann wird es hier wohl auch anders werden!« Tallaksen lachte. Das waren doch die rarsten Käuze, an die er noch geraten war! Da schwätzte er sich heiser, und doch begriffen sie nicht den Tüttel! Nun, ihm konnt‘s gleich sein. Er erhob sich, um zu gehen: »Ja, dann machst du also mit?«
Der Per Hansen antwortete nicht sogleich, und als die Antwort kam, lautete sie ganz anders als erwartet.
»Ich meine nun das,« sagte der Per Hansen, »daß du vom verkehrten Ende anfängst,« – er schnappte nach Luft ... »Wenn du jetzt die Gelder, die du in die Gebäude zu stecken gedenkst, in Vieh und Pferden und Geräten anlegst und dir Arbeit leihst dies Jahr und später, dann kann keine Menschenseele in dieser Gegend es mit dir aufnehmen; – in drei – vier Jahren sitzt du dann hier unter uns wie ein König, obwohl wir einen andern lieber gesehen hätten. – Aber das sag ich dir jetzt« – Per Hansens Worte klangen sehr machtvoll —: »Beginnst du von dem anderen Ende, dann wetteifern wir sowohl um den Mantel wie um die Krone, obwohl ich nichts habe als meine Hose und meine Ochsen!«
Tallaksen lachte wieder und antwortete langsam und nachsichtig: »Es braucht einer doch nicht in einer Gopher Prärie-Eichhörnchen.-Höhle zu wohnen; auch hier in dem Westen muß doch einmal Gesittung einziehen, weißt du!«
Da juckte es den Per Hansen; er faßte in die Tasche nach einem Streichholz, zog es hervor, warf es aber weg.
»Die, glaube ich, lernen wir auch, selbst wenn du wieder dahin zurückfährst, woher du gekommen bist ... Und jetzt will ich dir eins sagen: es ist weit klüger, in einer Gopher-Höhle anzufangen, als dort zu enden! Und vielleicht ohne Schuld!«
Ehe Tallaksen noch antworten konnte, dachte die Beret laut; die Worte fielen langsam und grübelnd, – es trat eine kurze Stille danach ein:
»Deine Frau freut sich gewiß ... Wände, die alle Unbill ausschließen – ein Fußboden, den man zum Festtag scheuern kann ... Nein, Menschen können nicht wie Tiere hausen. – Und sind sie erst zu Tieren geworden, dann mag es wohl gleich sein, wie sie wohnen —.«
Tallaksen mußte sich die Frau näher begucken, – bei der also, schien‘s, mußt‘ einer in diesem Hause den Verstand suchen.
»Das ist sicher und gewiß,« sagte er. »Aber jetzt soll das anders werden, – jetzt sollen hier Häuser herkommen, die man von weither sehen kann und erkennen, daß hier Menschen wohnen!« Dann kam er auf etwas anderes zu sprechen:
»Du könntest vielleicht meiner Frau dabei helfen, ein paar Teppiche zu weben? – Sie sprach von Teppichen und Läufern und muß sie wohl bekommen – die schonen auch die Fußböden.«
»Dafür könnte wohl Rat werden,« sagte die Beret ruhig. »Es kann wohl einer dem andern mit etwas behilflich sein, auch wenn man‘s nicht selber bekommen kann ... es wird eine artige Arbeit.«
Der Per Hansen kramte nach einem neuen Zündholz und guckte die Frau an; er strich es an und hielt es, bis es ausgebrannt war. Er merkte nicht, was er tat, so sehr mußte er sie anschauen; es sauste ihm vor den Ohren, gesprochene Worte schwebten in der Luft; er griff nach ihnen, – erhaschte sie nicht mehr; das, was die Beret gesagt, verscheuchte sie. Er setzte sich auf die große Lade. Das Gesicht war blaß.
Well, meinte Tallaksen versöhnlich, er beabsichtige nach Verlauf eines Tages zu starten, und da komme er wohl mit? »Du brauchst auch einmal Hilfe beim Anfahren, wenn du erst in die Höhe gekommen bist – mächtigen Ernteertrag bekommst du, wenig Acker hast du. – Ja ja, dann erwarte ich dich also.«
Es wurde wieder still, Tallaksen harrte der Antwort.
»Du wirst gewiß lange warten müssen!«
Der Per Hansen sprang auf und rannte zur Gamme hinaus.
– Er rief die Ochsen barsch heran, spannte sie vor den Pflug und pflügte, bis es zu dunkel wurde. Als er endlich wieder ausgespannt hatte, ging er zaudernd und schleppend, verspürte gar keine Lust, heimzugehen. Was hatte er dort wohl zu schaffen? Die Gamme und alles darin lag in große Finsternis gehüllt.
Vielleicht verhielt es sich wirklich so, – vielleicht hatte sie recht: es war alles, alles nur verkehrt, und er taugte zu nichts?
– Es durchzuckte ihn: da hast du den Dank für all dein Mühen und Streben: Du schaffst nichts! – Daß sie sich aber nicht schämte, daß sie es fertigbrachte, sich vor diesem aufgeblasenen Wichtigpeter darüber auszulassen! Hatte sie denn alle Scham verloren? – Der Teufel hole es alles! —
Tallaksens großartig geplante Stadtreise kam nicht zustande.
Als Tönset‘n erfuhr, daß der Per Hansen nicht mitmachen wolle, da legte er auch keinen Wert mehr darauf; und wenn von den beiden keiner mitfuhr, dann wollten die Solumbuben auch nicht. Und da wäre nur der Hans Olsen und der Germund Dahl sogleich zu haben gewesen, und die reichten nicht aus, um einen ganzen Herrenhof heimzuholen. Tallaksen äußerte darüber, er glaube nicht, daß sich auf Gottes grüner Erde größere Querköpfe fänden als diese Nordländer; und sähen sie auch einen Mann im Elend krepieren, sie würden keine Hand ausstrecken! —
Und so kam es dahin, daß er für diesen Sommer seine Pläne, zu bauen, aufgab, und bald stand eine neue Gamme da und guckte vom östlichen Bachufer herüber.
V
In jenem Sommer kamen des öfteren Westfahrer durch die neue Ansiedlung gezogen. Es war eigen, diese Schifflein der Ebene zu beobachten. Die Wagen hatten ein Verdeck aus Segelleinen, das weiß in den hellgrünen Tag hineinschimmerte. Als Pünktlein wurden sie unter dem Osthimmel sichtbar. Hätte man‘s nicht besser gewußt, hätte man annehmen können, daß dort weit weg Möwen auf einer grünen Wiese säßen. Ließ man sich Zeit, genauer hinzusehen, dann wuchsen die weißen Wesen; sie kamen mit dem Tage herauf, – schwammen aus dem Dunst heraus; und jetzt erkannte man Wagen mit Pferden oder Ochsen davor, voller Menschen und Gepäck, und eine ganze Herde trottete hinterdrein.
Der Wagenzug karrte sich langsam an die Erdhütten heran und hielt; geschäftige Menschen stiegen aus, dehnten und reckten sich; Kühe brüllten, Schafe blökten. Da gab es mancherlei seltsame Trachten zu schauen und fremde Zungen zu hören. Immer war Leben und Bewegung dabei: sonnengebräunte Kinder nur in Hose und Hemd witschten zwischen die Gammen und sahen sich nach Spielgefährten um; Säuglinge wurden von leise summenden Müttern spazieren getragen; weißhaarige Greise und alte Weiberchen, die wohl besser daran getan hätten, sich im stillen auf eine ganz andere Fahrt vorzubereiten, waren mitgezogen und nahmen helläugig und schnellzüngig an allem teil. Emsig waren sie alle und höchst fragedurstig; fröhlich waren sie meistens, obwohl sie kein anderes Heim ihr eigen nannten, als ihren Wagen und den blauen Himmel darüber. Der Herrgott mochte wissen, wo alle diese Menschen herkamen und wohin sie wandern wollten! —
Solch ein Zug pflegte gerade nur so lange zu rasten, daß den Frauen Zeit blieb, Kaffee zu kochen und frisches Wasser zu schöpfen; freilich waren die Männer dann bei weitem noch nicht mit Forschen und Fragen fertig. – Es kam jedoch auch vor, daß sich eine Fiedel hervorwagte, Tanzweisen erklangen und ein Tänzlein geschwungen wurde; doch das war seltener der Fall; denn es gab zwischen Siedlern und Westfahrern allzuviel zu erörtern.
Wollten sie sich nicht hier in der Nähe niederlassen ? – Viel guter Boden sei vorhanden, es finde sich kaum besserer bis zur pazifischen Küste.
O nein, hier nicht, nicht gerad hier, – hier sei es schon so eng und dicht besiedelt, – sie müßten weiter nach Westen, – je weiter nach West, desto besser!
Die Wagen rollten über die stille Widde nach Westen weiter. Merkwürdig: sie schrumpften jetzt schneller zusammen, als sie beim Herannahen gewachsen waren. Die weißen Segel in dem dünnen Sonnendunst wurden immer winziger. Das Auge suchte den Abendhimmel ab, spähte, bis es tränte, – nichts war mehr zu sehen, – nein – nichts!
Regen und trübes Wetter hatten schon seit drei Tagen über den Prärien gelagert, weiße Nebelschwaden zogen, aus denen laue Tropfen stäubten. Am Abend des dritten Tages klärte es auf; der Nebel verschwand, rot und erhaben stand die Abendsonne am Westhimmel. Auf dem Ostufer des Baches, unweit des Bereichs der Solumbuben, kroch aus Norden ein einsamer Wagen heran. Niemand sah ihn kommen, plötzlich war er beim Bach angelangt. Die Beret molk draußen und gewahrte ihn zuerst. Beim Hereinkommen erzählte sie, daß die Solumbuben gewiß Gäste bekämen, und da mußten auch die anderen hinaus und schauen.
Der Sam und der Henry waren bei den Sogningern, – sie verbrachten jetzt meist die Abende dort mit dem Jungvolk.
Bald darauf kam der Wagen langsam den Hügel zum Per Hansen herauf. Zur Linken des einsamen Wagens ging ein gebückter, braunbärtiger, zerzauster Mann und lenkte; ein paar Schritt hinter ihm ein halberwachsener Bub; ein paar Kühe zottelten hinterdrein.
Der Zug fuhr bei der Gamme vor, wo ihn jetzt alle Bewohner erwarteten. Mit einer matten, verbrauchten Stimme fragte der Mann:
»Es trifft sich wohl nicht so gut, daß hier Norweger wohnen? – O nein, so viel Gutes läßt sich wohl kaum erwarten.«
»Wenn es das ist, wonach du aus bist, dann bist du an die rechte Schmiede gekommen,« lachte der Per Hansen; »jede einzige Gamme hier ist norwegisch.« Aber dann verging ihm das Lachen: der Mann da vor ihm sah aus, als steige er aus dem Grab oder wolle gerade hinein. »Auch du bist Norweger, höre ich?«
Ja, – o ja, – das sei er wohl. – Gehe es an, hier heute nacht zu rasten?
Freilich gehe das an, wenn sie vorlieb nehmen wollten.
Der Mann sagte nichts dazu; er ging zum Wagen und sprach ins Innere hinein:
»Kari, sieh jetzt halt zu, ob du nicht am Ende herauskommen magst, wir sind hier an Norwegerleut geraten.« Und als wäre er einem Widerspruch begegnet, setzte er hinzu: »Doch, gewiß, es sind Norweger, siehst du!«
Zuerst krabbelte ein magerer Bub hervor, etwas kleiner als der andere; darauf ein Mägdlein von ungefähr gleicher Größe wie der Bub; es half einem anderen Büblein, das kaum mehr als sechs Jahr alt sein konnte.
»Kommst du nicht selber, Kari?«
Es stöhnte unter dem Planhimmel.
Das Dirnlein kam zum Vater gesprungen.
»Die Mutter ist ja festgebunden, – weißt du‘s nicht mehr?«
»Nein – o doch – das ist wahr. – Nein, wart ein wenig; jetzt komme ich und helfe dir!« Der Mann kletterte auf den Wagen.
Am Per Hansen zerrte etwas unwiderstehlich; in zwei Sätzen war er auf der Wagendeichsel und sah hinein. – Da drin saß ein Weib auf einem Haufen Kleider und lehnte mit dem Rücken an eine große Auswandererlade; beide Hände waren ihr gebunden; von den Handgelenken liefen Schnüre zu jedem der beiden Seitengriffe der Lade. Das Weib war wie ans Kreuz geheftet. Der Per Hansen zitterte, daß er sich nur zur Not am Wagengestell festhielt, er fluchte in seinem Innern.
»Kannst du mir erzählen, Mann —!«
Der Mann hörte ihn nicht; er redete der Frau da drin zu: »Du arme Kari – alle hier sind Norweger. Und jetzt wird alles besser, sollst du sehen. Ganz gewiß!«
Er hatte ihr die Fesseln gelöst; die Frau kniete sich auf.
»Oh!« Sie faßte sich um den Kopf.
»Komm, ich helfe dir!« redete der Mann ihr freundlich zu und nahm sie hilfreich beim Arm; der Per Hansen sprang hinzu und stützte sie auf der anderen Seite.
»Ist es hier, Jakob?« stöhnte sie.
Die anderen hatten alles aus der Nähe mit angesehen. Jetzt trat die Beret herzu und legte den Arm um die Fremde; die beiden Frauen schauten einander in die Augen.
»Komm du jetzt nur mit mir mit!« sagte die Beret.
»Hier ist es ja doch aber auch nicht, Jakob!« jammerte die Fremde; sie folgte jedoch ohne Widerreden.
»Oh«, wimmerte der Mann, »das ist nicht einfach – nein, wahrhaftig nicht, nein.«
Er machte sich daran, das eine der beiden Pferde auszuspannen, der ältere Bub das andere.
Der Per Hansen sah ihnen zu, seine beiden Jungen wichen ihm nicht von der Seite. Da durchblitzte ihn ein Ausweg:
»Lauft hinüber zum Hans Olsen, Knäblein,« sagte er leise, »und bestellt ihm, daß er sich nicht legen dürfe, ehe ich heute mit ihm gesprochen habe! Nein, er soll nicht herkommen! – Und ihr könnt heut nacht gern dort bleiben, wir haben ohnehin das Haus voll, – lauft!«
Und dann ging er zu dem Fremden und fragte:
»Habt ihr denn keine Wandergenossen gehabt?«
»Nein, jetzt nicht. – Ja, ursprünglich sind wir ein Zug von fünf Wagen gewesen, – aber die andern sind vorausgefahren – sind sie nicht hier vorbeigekommen ? – Sie wollten in diese Richtung – o ja, sie sind halt irgendwo im Westen.«
Der Mann sprach mit langsamem, singendem Tonfall; es hörte sich so eigen an, so, als weine er und könne seiner Bewegung nicht Herr werden. Wo kämen sie her? – Seien sie schon lange unterwegs?
Oh, sie hätten sich jetzt wohl an die fünf, sechs Wochen herumgetrieben. – Übrigens seien die fünf Wagen gemeinsam in Houston-County gestartet —, seltsam, daß die andern hier nicht durchpassiert sein sollten? – Ihm schien, sie seien jetzt so lange unterwegs, daß sie bald ans Ende der Welt gelangen müßten.
»Sind die andern von dir weggefahren?« fragte der Per Hansen barsch.
»Ja, schau, die konnten nicht auf uns warten – ungewiß war es, wann wir nachkommen konnten. – Laß die Rösser nur laufen, John; nimm den Eimer und sieh, ob die Kühe etwas geben.«
Der Bub tat, wie der Vater ihm geheißen hatte; der Mann lehnte sich an den Wagen und schlug die Beine übereinander. Dann fuhr er fort:
»Du sagtest, wir könnten hier Obdach für die Nacht bekommen. – Wären wir nicht heute auf Menschen gestoßen, dann wäre gewiß ein Unglück geschehen. – Die arme Kari, – Weiberleut halten nicht allzuviel aus, siehst du.«
»Ihr müßt euch verirrt haben, daß ihr so weit von Norden herkommt?«
Der Mann schüttelte den Kopf: »Weiß nicht, wo wir in den letzten Tagen gefahren sind. Die Sonne bekamen wir nicht zu Gesichte.«
»Du hast keinen Kompaß bei dir?«
»Behüte! – Ich versuchte, mit einem Tau Richtung zu halten, aber dann war es zu steif von der Nässe.«
»Benutztest du ein Tau?«
»Ja, schau, wir banden es hinten an den Wagen, aber wir konnten trotzdem den Kurs nicht recht einhalten.«
»Hm, hm,« nickte der Per Hansen; der Mann gefiel ihm schon besser; »du bist also erfahrener Seemann?«
»Behüte! – Aber ich hab‘ gehört, so könnte man‘s machen.«
»Wo kreuztet ihr den Sioux?«
»Darüber weiß ich halt gar nichts. Wir kamen weit im Osten an einen Fluß, – ja, war das der Sioux? – Da suchten wir, bis wir eine Stelle fanden, die seicht genug war. Es war eine Wanderung durch die Wüste. – Doch wenn die Kari sich wieder erholt, mag alles dahingehen.«
»Ist sie, – ist sie kränklich, dein Weib?«
Der Mann wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Nach einer Weile sagte er:
»Körperlich fehlt ihr wohl nichts; aber du weißt, es kann sich gleichwohl – bisweilen – sonderbar arten, ja, also für eine, die Mutter ist. Wir mußten unser jüngstes Büblein im Osten lassen.«
»Nein, was sagst du!«
Der Mann fuhr sich wieder übers Gesicht; die Stimme war heiser:
»Da liegt er jetzt, der Paul – und war ein so vielversprechendes Bürschlein.«
Dem Per Hansen schnürte sich die Kehle zu. Wie das denn zugegangen sei, mußte er weiterfragen.
Der Mann wiegte den Kopf, sagte dann ein paar Worte – leise, heiser – wiegte wieder den Kopf, sprach wieder in singendem Ton, der eigentlich nur ein Weinen war:
»Wissen wir‘s denn, wie es zuging?– Keiner weiß, wie so etwas zugeht. – Er wurde halt unpäßlich – wir achteten des nicht viel, denn wir hatten dazu die Zeit nicht. – Da wurde er ernstlich krank. Wir waren gerade eine Tagereise hinter Jackson, und da nahmen wir ihn dorthin zurück. Die andern fuhren ihres Wegs —: es war ja doch zu ungewiß, wann wir hätten nachkommen können. Dann suchten wir uns einen Doktor und bekamen eine Medizin verschrieben; aber wir konnten uns nicht mit ihm verständigen, und ich glaube nicht, daß der Doktor verstand, was dem Büblein fehlte. – Ein wenig besser ging es ihm zwar hernach, sah ich – und übrigens auch die Kari, und so machten wir uns denn wieder auf den Weg. Ich sah aber bald, daß es keine Wendung zum Guten nehmen wollte. Ja, da fuhr ich halt auf Tod und Leben los; denn mir war darum zu tun, die Nachbarn wieder einzuholen. – Und eines Nachts erlosch sein Licht. – Das sind jetzt, ja, heute sind‘s fünf Nächte her.«
»Hast du, – hast du ihn mit im Wagen?« Der Per Hansen faßte den Mann stammelnd beim Arm.
»Nein!« schluchzte der Mann, »wir begruben ihn unter einem großen Stein. Ohne Sarg! Und die Kari nahm ihren allerbesten Kleiderrock. – Aber freilich« – er nahm sich wieder zusammen – »der Paul kann dort nicht liegenbleiben, ich muß ihn holen gehen, sobald ich zu den Nachbarn komme, – sonst geht es mit der Kari in den Abgrund. – Du siehst, ich habe sie in den beiden letzten Tagen binden müssen,« flüsterte der Mann heiser, »sie wollte immer vom Wagen und nach Osten zu dem Büblein zurück! – Ich glaube, sie hat schon über eine Woche keinen Schlaf gekostet.«
Der Per Hansen mußte sich am Wagen festhalten, so schüttelte es ihn.
»Ist sie geistesverwirrt?« fragte er flüsternd.
»Sie ist es nicht schlimmer, als wir andern alle – das glaube ich fest —; wenn sie nur erst wieder einmal schlafen könnte.
– Die Kari ist ein verständiges Weib, will ich dir sagen; aber es ist so eigen damit, wenn einem ein Kind stirbt – auf solche Weise.«
»Komm jetzt mit deinen Buben hinein!« rief der Per Hansen und begann umherzustampfen. »Wir haben ein Dach, und wir haben auch Essen!« —
Als sie in die Gamme kamen, sahen sie, daß Beret die Frau ins Bett gebracht hatte und jetzt um die Kranke bemüht war; – sie musterte die Eintretenden einen nach dem andern, dann fragte sie den Per Hansen:
»Wo hast du die Knaben gelassen?«
Er erzählte, daß er sie für die Nacht zum Hans Olsen geschickt.
»Das war wohl nicht nötig; wir hätten auch hier Platz für sie gefunden.«
Der Mann stand neben der Tür und sah zum Bett hinüber; er trat herzu, bückte sich und faßte die Hand der Frau: »Wie geht es, Kari?« fragte er leise in singendem Ton. »Ich glaube gar, du bist eingeschlafen?«
Die Beret schob ihn sachte zur Seite.
»Nein, wecke sie nicht. – Sie bedarf gewiß der Ruhe.«
»Das will ich meinen, – o ja. Denn schau, sie hat die ganze letzte Woche nicht geschlafen.« Der Mann schlich schnufzend zur Stube hinaus.
Als das Abendessen bereitstand, schlief die Frau noch immer. Die Beret bat, man solle sie sich ausruhen lassen: »Hier tut Schlaf mehr not als Essen,« sagte sie. – Sie selber wartete die kranke Frau, statt sich zu Tisch zu setzen, knöpfte ihr die Kleider auf, zog ihr die Stiefel aus, wusch ihr das Gesicht mit lauem Wasser; und die Frau schlief fest. – Darauf bestimmte sie die Nachtlager. – Der Mann solle mit den Kindern im Stall untergebracht werden; dort sei mehr Ruhe; sie selber werde sich der Frau annehmen, falls sie aufwache und etwas brauche. – Die Beret ordnete alles mit nur wenig Worten und ungewohnter Entschiedenheit an.
»Der Herrgott segne dich für all das Gute, was du uns tust!« sang der Mann müde. »Wir bedürfen wirklich der Ruhe – wirklich. – Aber du mußt durchaus die Tür gut abriegeln! – Und jetzt kommt, Kinder, daß Ruhe wird für unsere Wirte!«
Der Per Hansen schaute selber nach, daß alle im Stall gut zu liegen kamen, und ging dann wieder in die Stube; die Beret besorgte, auf dem Bette sitzend, den Säugling. Das Gössel hatte sie neben die fremde Frau gebettet.
»Hat sie dir erzählt, wie es ihnen ergangen ist?« fragte er leise. Die Beret warf einen Blick auf das andere Bett.
»Nur, daß sie eines der Ihren im Osten der Prärie hat begraben müssen. – Übrigens sprach aus ihren wenigen Worten mehr Verwirrtheit als Verstand.«
»Ja, es ist bös,« er blieb stehen, schaute zur Fremden und sagte dann: »Ich laufe schnell zum Hans Olsen hinüber; ich muß das mit ihm besprechen.«
»Ja?« fragte sie erstaunt, und ihm gefiel nicht, wie sie es sagte. »Glaubst du, der weiß besseren Rat als wir?«
»Nein, nein; aber wir müssen diesen Leuten helfen; – und wir können‘s nicht allein.« Er zögerte einen Augenblick: »Ich bin bald wieder da,« sagte er und ging.
Als er zurückkam, saß sie noch immer, wie er sie verlassen; sie wartete, bis er ins Bett gekommen war, schraubte dann die Lampe klein und legte sich, ohne sich auszukleiden.
Und dann ward es still in der Gamme; alles war von mattem Licht umflossen; wer wach lag, konnte die anderen atmen hören.
– Und die Beret glaubte noch mehr zu vernehmen als Atemzüge; hier war es heute nacht sehr lebendig; sie öffnete die Augen weit und schaute um sich. Sie hörte, daß auch er nicht schlief, und sprach ihn an.
»Hast du nach den Knaben gesehen?«
»Sie schlafen in der Sofie ihrem Bett.«
»Erzähltest du alles?«
»Ja, das kannst du mir glauben!«
»Was sagten sie dazu?«
Der Per Hansen stützte sich auf die Ellenbogen und sah zu der Gestalt im anderen Bett hinüber, – sie hatte sich, seit sie gekommen, kaum geregt.
»Oh, du weißt, das ist nicht einfach. »Wir müssen zusehen, einen Sarg zusammenzutischlern; – ihr Kind kann dort nicht verscharrt liegen bleiben!«
Die Beret schwieg, und da erzählte er ihr mit gedämpfter Stimme, was der Mann ihm berichtet. »Der ist übrigens ein rechter Tropf,« schloß er.
Sie hörte ihm zu, lag dann noch lange wach und starrte in die Luft hinein.
»Ja, ja,« sagte sie plötzlich hart, »jetzt können wir wohl verstehen, daß das nicht angeht; – das hier ist nichts für Menschen.«
Er wußte nicht genau, was sie damit meinte, wollte es nicht wissen, wagte es nicht heute abend. Aber dann sagte er mit starker Zuversicht: »Der Hans Olsen und ich werden die beiden morgen begleiten. Hätten wir bloß etwas, den Sarg daraus zu zimmern! Die paar Bretterenden, die ich noch liegen habe, reichen nicht weit. – Aber jetzt wollen wir versuchen zu schlafen. – Wecke mich, wenn du etwas hörst.«
Er kehrte sich auf die andere Seite; sie hörte, es dauerte lange, bis es ihm gelang, einzuschlafen. – Worüber mag er jetzt nachgrübeln, dachte sie. Ihr war es lieb, daß er wachte: heute nacht webte hier in der Stube so vielerlei. —
VI
Als die fremde Frau aus dem Wagen stieg und der Beret ins Gesicht sah, war es, als werde ein Vorhang vor all das Entsetzliche gezogen, das sie erlebt. Sie trat in die Gamme, und da war alles, wie es sein sollte. Wärme lag darin von Menschen, die hier lange gewohnt. Sie sah sich um und erfaßte die Stube mit einem Blick. Ja, hier gab es Tische und Bänke; im Ofen brannte ein Feuer; es duftete angenehm aus einem kochenden Kessel; an einer Leine hing Wäsche, – und zwei hergerichtete Betten standen da. Ja, hier wohnten Menschen in einem Heim. Das tat so wohl! – Sie wurde an eins der Betten geführt, sank darauf hin; eine behutsame Hand machte sich mit ihr zu schaffen und faßte so angenehm und leicht, nahm einen mit lauem Wasser genetzten Lappen und trocknete ihr damit das Gesicht. Ach, wie gut das tat! – – Sie hatte wohl mit der Frau ein wenig geredet? – Doch, sie hatte ihr erzählt, daß sie einen Sarg brauche; hatte ihr Bescheid gegeben, wo sie den Stein suchen solle, hatte auch daran gedacht, sie zu bitten, ein Tuch mitzunehmen; es wurde vielleicht kühl heute nacht, und der Rock, in dem er lag, war schon so abgetragen und dünn.
Die Stubenwärme und die Traulichkeit von Menschennähe hüllte sie ein wie eine weiche Decke; sie schlief sofort ein, schlief fest und ruhig.
Bis etwa drei Uhr morgens. Da begannen ihre Sinne zu erwachen, und allmählich ging ihr auf, wo sie sich befand – in einer fremden Stube, wo eine Lampe mit mattem Schimmer brannte. Sie waren gestern abend hergekommen, das Büblein hatten sie nicht mit sich gebracht. – Daß ich mich auch so vergessen kann! dachte sie. Jetzt muß ich mich freilich beeilen, ehe der Jakob kommt und es weitergeht.
Die Frau setzte sich auf, knöpfte sich das Kleid zu und schlüpfte leise vom Lager. – Sie sah sich zögernd einen Augenblick in der Stube um, beugte sich über das Bett, hob das Kind auf, das dort lag, nahm den Überrock und wickelte es vorsichtig hinein. Leise verließ sie die Gamme, schloß die Tür nicht hinter sich, um nicht Lärm zu machen. – Dort stand ihr Wagen, – wenn der Jakob sie jetzt bloß nicht entdeckte! – Sie glitt wie ein Schatten um die Hütte und weg vom Wagen: das Kind preßte sie vorsichtig an sich.
Die Beret erwachte davon, daß eine Stimme sie aus weiter Ferne rief; sie rief mehrere Male hintereinander und laut. – Darf ich mich nicht eine Weile ungestört ausruhen? Ich bin letzte Nacht doch so spät erst ins Bett gekommen, dachte sie. Ich kann kaum erst eingeschlafen sein? – Aber die Stimme rief so laut, daß sie sich aufsetzen mußte, und jetzt kam ihr alles ins Gedächtnis zurück: die Fremden, die gestern abend gekommen waren, und die Mutter, der es so elend ging. Sie wandte sich nach ihr um.
»Kannst du mir sagen —?!«
Sie warf sich aus dem Bett, stierte auf das andere; aber die Frau blieb verschwunden; daß das Kind auch fort war, bemerkte sie nicht. – Sie fühlte es kalt durch die Stube wehen und bemerkte die offene Tür; sie lief hin. – Es fühlte sich an, als sei jemand soeben hinausgegangen; stand die Fremde vielleicht draußen an der Wand ? Sie trat hinaus, wagte nicht zu rufen; – sie lauschte, brachte schließlich einen leisen Ruf hervor; – nein, niemand antwortete; sie lief um die Gamme herum, rief wieder und stürzte dann hinein und weckte den Mann:
»Sie ist fort, – wir müssen sie gleich suchen gehen!«
Der Per Hansen fuhr in die Kleider.
Frühe Dämmerung flutete draußen über die Prärie; leichter Nebel zog längs des Baches; tiefe Kühle entströmte dem Zwielicht.
Der Per Hansen sprang auf den Wagen und spähte nach allen Richtungen. – Was war das dort? Sie konnte doch wohl nicht dorthin gegangen sein? – Über die Indikuppe wanderte ein Mensch! Er sprang hinunter, rief die Beret an und zeigte; dann rannten sie beide den Hügel hinauf.
Droben irrte die fremde Frau umher. Sie schien sich über sein Kommen nicht zu wundern.
Der Per Hansen betrachtete sie forschend: Was in aller Welt trug sie denn da in den Rock gewickelt?
Seine Augen weiteten sich; er schrie auf vor Entsetzen, sprang hinzu, umfaßte die Frau und riß das Kind an sich.
Das Gössel erwachte und fing an zu maunzen. Es begriff gar nicht: es war so kalt und der Vater so eigen; aber es wollte weiterschlafen und kroch tief in seine Jacke hinein. Jetzt wurde es wacher; schlug da nicht immerfort eine geballte Hand an die Wand? Aber behaglich war‘s, und schlafen wollte es, mochte die Hand pochen, soviel sie wollte! – Aber jetzt kam die Mutter, und alles wurde nur noch sonderbarer. Die Mutter nahm es in die Arme und drückte es fast zu Tode; es schrie und kroch so tief hinein, als es irgend anging; und auch da war eine Faust, die an eine Wand klopfte! – Nein, das Gössel konnte durchaus nicht begreifen, was heute nacht vor sich ging.
Die Beret trug das Kind heim; es war ihr teurer, als da sie es zur Welt brachte. – Ja, heute nacht war der Herrgott zugegen gewesen und hatte ein großes Unglück verhindert!
Die fremde Frau suchte jetzt im Grase. – Sie wollten ihr also nicht helfen? Das Kind hatte er ihr abgenommen, – das war nicht so sonderbar; der Mann hatte kein gutes Gesicht! – Aber sie mußte jetzt vor allem suchen, bevor der Jakob dazukam! – Merkwürdig, daß ich den Stein nicht finden kann! Ich weiß, hier war es, – was ist bloß aus ihm geworden? Ungefähr hier müßte er liegen.
Der Per Hansen sprach sie an, und sie fand seine Stimme so häßlich:
»Komm jetzt! – Heute fahren der Hans Olsen und ich auf die Suche nach deinem Kinde.« Er faßte sie beim Arm und zog sie mit sich.
Das war freilich wieder freundlich von ihm, daß auch er nach ihrem Büblein suchen wollte!
Sie folgte willig, saß still dabei, während die andern Frühstück aßen; – aß auch selbst, wenn sie sie darum baten. – Sie sah zu, wie sie den Sarg zusammenfügten; und als eine schöne Frau mit einem lieben Gesicht ihn innen mit einem weißen Laken auskleidete, da wurde sie froh; mit dieser Frau hätte sie sich gern noch besprochen; aber es war so leidig, Fremde zu bemühen! —
Sie fuhren nach Osten, – der Mann und die Frau, und mit ihnen der Hans Olsen und der Per Hansen. Vier lange Tage suchten sie die östliche Prärie ab; aber sie kamen mit dem leeren Sarg zurück. Das Grab hatten sie nicht finden können.
VII
Die Fremden hielten sich noch einen Tag in dem Settlement auf. Am nächsten Morgen war trübes Wetter und dichter Nebel – und deshalb zauderten sie; aber um die Mittagszeit hellte es sich auf und schien klar werden zu wollen, und da rüsteten sie zum Aufbruch.
Wo wollten sie hin?
Nein, – das wußte der Mann nicht; aber es war irgendwo beim James-River.
»Weißt du, wo du den James-River zu suchen hast?« fragte der Per Hansen.
Das wußte der Mann doch wohl! Der Elv liege im Westen, und da heiße es halt fahren, bis man hinkomme! Dann müsse er sich durchfragen!
Der Per Hansen schwieg; es schauderte ihn.
Die Frau war, seit sie zurückgekommen, still gewesen; sie hielt sich für sich und war überaus gefügig, wenn sie mit ihr sprachen. Kurz vor Mittag kam sie darauf, Wäsche und Kleider zu wechseln und wusch sich lange im Wagen; als sie wieder in die Hütte kam, hatte sie ihre Staatskleider angetan; es war nur gar zuviel des Guten. Als sie aufbrachen, saß sie so aufgeputzt neben dem ältesten Jungen, der die Ochsen lenken sollte.
Der Mann konnte sich in Danksagungen nicht genug tun. – Wenn er jetzt nur die Nachbarn wiederfände und die Kari genese, werde sich auch für ihn noch alles einrichten. – Der Ton war noch immer singend, das Weinen lag noch so nahe unter der Oberfläche wie an dem Abend ihrer Ankunft.
Der Wagen karrte langsam davon, – der Mann zerzaust und gebeugt voran, die beiden Kühe hinterdrein. – Nach Westen ging es; dort standen einige Wolkenbänke, aber das waren wohl nur die Überbleibsel des trüben Wetters vom Vormittag.
Die Beret fand weder Ruhe noch Rast, als sie abgefahren waren; die Hand zitterte ihr, wenn sie um etwas faßte. Immer wieder mußte sie hinaus und dem Wagen nachsehen; und als der Höhenzug ihn vor ihr verbarg, nahm sie den Jüngsten auf den Arm, das Gössel bei der Hand und wanderte zur Kuppe hinauf; hier setzte sie sich, um dem Wagen mit den Blicken zu folgen. – Sie war froh darüber, daß diese Menschen endlich weg waren, zu gleicher Zeit aber schämte sie sich, daß sie sie nicht zu längerem Bleiben genötigt. Jetzt sah sie es: sie hätten heute nicht fahren dürfen. – So weit ist es also jetzt mit mir gekommen, dachte sie. Hier sind Leute in großer Not, und ich freue mich darüber, daß ich sie in eine weit größere hineintaumeln sehe! Was sollen sie tun, wenn heute nacht das Unwetter über sie herfällt, – er zerzaust und wenig tauglich, sie verwirrt von Sorge und Kummer? – Du großer Gott, was für ein Jammer!
Der Wagen schneckte sich weiter in die geheimnisvolle Ferne hinein; es sah aus, als wolle die Widde ihn in sich einsaugen. – – War das dort noch der Wagen, – – oder nur ein verdorrter Grasbüschel, den der Wind bewegte? —
Sie ging mit den Kindern heim, gebeugt und kummerbeschwert.
Daheim besorgte sie, was zu besorgen war.
Der Per Hansen und die Buben waren beim Pflügen auf dem Neuland. – Die arbeiteten jetzt gewiß sehr hart ? Ihre Stimmen klangen so barsch, wenn sie die Ochsen antrieben. – Sie spürte solchen Drang, jemandem eine Freude zu machen! Da nahm sie den letzten Vorrat Grieß und kochte einen Brei, – den aßen die Buben so gern. —
Gegen Abend wurde es schwül und drückend; die Wolkenbänke am Westhimmel waren heraufgekommen; in der Nacht kam vielleicht Regen.
Nach dem Abendessen mußte der Per Hansen zum Hans Olsen, um die Stadtreise zu verabreden, die sie noch vor der Mahd zu machen hatten; die Buben wollten mit hinüber. »Ja, geht nur,« sagte sie, und ihre Stimme klang gar mutig; sie setzte sich mit den beiden Kleinsten draußen auf den Holzstapel, um die Rückkunft der andern abzuwarten. Aber dann war da etwas, das ließ ihr keine Ruhe; sie ging mit den Kindern auf den Hügel und sah über die Ebene.
Dort draußen fuhren nun diese Menschen planlos umher. Die armen Menschen! Die arme Mutter! – Wie konnte der Herrgott nur zulassen, daß sich Menschen so jämmerlich in die Einöde verirrten? Es war gerade so unmöglich, diese Länderstrecken zu bevölkern, wie das Meer leer zu schöpfen! Es siedelte sich doch auch keiner inmitten des endlosen Meeres an! Ob es nicht ein Trollenzauber war, der die Menschen so verblendete? – Hier saß sie jetzt inmitten dieser Grenzenlosigkeit viele, viele tausend Meilen entfernt von den Ihren! Unter jenen Wolken trieben jene Menschen umher wie Späne vor Wind und Strömung! – Ach, es ist schon so, daß die Menschen durch ihre eigene Wildheit vergehen. Aber das ist so entsetzlich, daß alles Denken dabei schwindet.
Sie starrte in den Westhimmel; die Dämmerung sank um sie hernieder. Die Wolke dort wölbte sich so unheimlich auf. Sie gewann Form und Gestalt, stieg aus der Widde selbst hervor, reichte weit über den Himmel hinauf, stand dräuend über der Prärie.
Und jetzt sah sie das Gesicht; – ja, war es nicht ein Gesicht? – Das Dunkle nahm Gestalt an – freilich, es war ein Gesicht! Jetzt sah sie es deutlich.
Ein Ungeheuer war es, düster und gewaltig. Nase und Maul und Augen lagen tief in dunklen Höhlen. – Und es hatte ein Maul, einen Ungeheuerrachen; wenn der sich öffnete, reichte das Kinn auf die Prärie hinab, – die Kinnladen blähten sich auf wie ein Rock.
Grauschwarz und mager, – aber so gewaltig groß! Lag nicht ein Grinsen auf dem Gesicht?
Und es war allerorten, allerorten. —
Sie bebte so, daß sie sich am Grase festhalten mußte. Zugleich empfand sie eine Art zauberischer Befriedigung. Hier hatte sie des Rätsels Lösung! Sie hatte es die ganze Zeit gewußt, daß es Menschen so nicht ergehen könne, wo alles mit rechten Dingen zuging. Hatte sie das Ungeheuer nicht immer schon gefühlt? – Jetzt sah sie es auch mit Augen.
Das Gewaltige umgab sie von allen Seiten. – Das Gesicht stand ihr gerade gegenüber. – Jetzt spürte sie seinen Odem. Wenn dieser Mund sich öffnete und zu atmen begann, mußte Entsetzen über die Menschen kommen.
»Ich habe es immer gewußt: hier ist nicht Bleibens für Menschen«, murmelte sie, und eilte mit den Kindern heim, ohne zurückzublicken. —
Die Buben kamen hereingestürmt; der Vater gleich hinterher. – Sie hörte an seinem Schritt, daß er jetzt wieder gut aufgelegt war.
»Nein, worauf bist du denn heute verfallen? Hast du das Fenster verhängt? – Du Beret, du Beret!« Er guckte sie an; die Augen wurden schmal und leuchteten, er faßte mutwillig nach ihr; und er wollte sich sogleich legen.
»Oh, es fühlte sich so eigen an hier in der Stube,« erwiderte sie hart; Zorn kochte in ihr. Daß er es über sich brachte, jetzt an Zärtlichkeit zu denken! – Aber so war es wohl, wenn die Menschen verhext waren! —
Seither wollte der Beret das Antlitz nicht mehr aus dem Sinn; zumal wenn die Abenddämmerung heraufzog, plagte sie der Gedanke daran. Dann ging sie nur hinaus, wenn es unumgänglich nötig war; denn dann war das Antlitz lebendig und kam so nah heran. Aber sie fühlte es auch bei Tage. An herrlichen Tagen mit glitzernder Sonnenflut konnte es dastehen, – sie spürte es hinter dem strahlenden Tag unförmlich und gewaltig. Es war über ihnen und um sie herum; am stärksten aber im Westen. Die Augen bekam sie niemals zu sehen, nur die Höhlen unter den Brauen – große, große Höhlen, die nach innen finster wurden.
Plötzlich bei ihrer Hausarbeit konnte sie ein Zittern befallen, daß sie sich setzen mußte. – Was für ein Ende wird das wohl nehmen? dachte sie.
Nein, sie mochte dem Per Hansen nichts davon erzählen; es war schon genug damit, daß sie sich ängstigte. Es war ja nur gut, wenn er es nicht sah.
Aber auch die andern, schien es ihr, wurden das Gesicht gewahr. Ja, wie hätten sie das vermeiden können? Es stand ja doch leibhaftig vor ihnen! Und bisweilen legte sich, wenn sie alle am Abend vor der Hütte standen, ein Schweigen über sie, – o ja, auch sie sahen es gewiß!
Sie verhängte von jetzt ab jeden Abend das Fenster, ob er daheim war oder nicht; denn das half, meinte sie. Anfänglich spaßte er deswegen mit ihr, sagte Übermütigkeiten, wurde zärtlich und flüsterte.
Aber später lachte er nicht mehr.
Es muß entsetzlich sein, sich so zu ängstigen, dachte er, – ist das wirklich nur Furcht? —
Er gab jetzt gut acht, ihr bei der Arbeit zu helfen, wo immer er konnte.
VIII
Der Juli näherte sich seinem Ende.
Die Äcker beim Spring Creek standen so schön, daß es eine Herzenslust war, sie anzuschauen. Jetzt waren Köpfe auf die langen Halme gekommen – Körner wölbten sich unter der Haut, lagen dicht gepackt in grünen Reihen. Mit jedem Tag wurden die Ähren schwerer, wiegten sich in der Brise und legten sich schräg, sobald sie nachließ ... Sie umschlossen soviel träumendes und verborgenes Leben, – Leben, das erwachen wollte.
Der Per Hansen führte sich wie ein wohlgebautes Boot zwischen Sturzseen: solange der Kiel noch stand, ging es mit ihm gut. – Er sah, wie die Frau jeden Abend das Fenster verhängte; es nagte an ihm; er war ängstlich um sie besorgt, bisweilen auch erbittert und sagte ihr‘s dann. Aber wenn er wieder anschaute, was da alles für ihn wuchs, auf den Wiesen wie auf dem Acker, an Vieh und an Menschen, dann ward er fröhlich und vergaß der Frau. – Er hatte mehr Ackerland als die meisten, und es war gar kein Zweifel, daß bei ihm alles am besten stand! – Die Beret, die Arme, war zwar bei weitem nicht so, wie ein gesunder Mensch sein muß; aber das war wohl alles nicht schlimmer, als daß es sich mit der Zeit einrenkte! – Ob er kurzerhand zugriff und sich schon zum Winter ein schickliches Haus schaffte ? Er mußte ohnehin einmal mit dem Königshof beginnen! Der Norweger in Worthington war ein braver Mann, der gab ihm schon Kredit, wenn er hübsch mit ihm sprach. Für das nächste Frühjahr plante er bei den Indianern einen großen Wurf, da wollte er ihnen ihr gesamtes Lager an Fellen abnehmen! – Und bekam er es fertig, den Königshof zu bauen, wie er ihn sich entworfen hatte, dann war es so gut wie ausgemacht, daß sie, die Beret, sich wieder erholte, – so ein vernünftiger Mensch wie die! —
Alles, was er dies Jahr gesät und gepflanzt hatte, blühte wie ein Garten; die Kartoffeln wuchsen, daß er es geradezu hören konnte. Jetzt kamen bereits jeden einzelnen Tag neue Kartoffeln auf den Tisch; bei den andern setzten sie gerade erst Blüten an. Auch der Hafer stand schön. Der Weizen aber setzte allem die Krone auf. Die Nachbarn, sowohl die vom östlichen Bachufer wie auch die andern, kamen, um den zu besichtigen und freuten sich über den Anblick; sogar die Iren. Die redeten viel und geschwind, was er nicht verstand. Aber sie freuten sich, das konnte er ihnen ansehen.
Und jetzt sparte sogar Tönset‘n nicht mit Lob und Preis, weil der Per Hansen so vorbedacht gewesen, zeitig zu säen; jetzt konnten sie alles ›Reaping‹ Maschinenmähen. beim Per erledigen, bevor sie bei den andern anfangen mußten. Das Vollgefühl seiner Wichtigkeit taute dem Alten aus allen Ritzen. Selbstredend, daß es ihm oblag, alles Reaping für die Neusiedler zu besorgen! Den Solumbuben fiel die Aufgabe zu, den Neulingen jenen Handgriff beim Garbenbinden beizubringen. Hier war, meiner Seel‘, bald viel zu organisieren! – Tönset‘n trabte ständig umher; er unterzog die Mähmaschine einer gründlichen Musterung, lief zum Per Hansen, um nachzusehen, ob nicht dessen Acker bald in Angriff genommen werden könne, und war es soweit gediehen, dann fand er, er müsse bei der Gelegenheit geschwind einmal zu den Solumbuben, um zu hören, was sie als Alt-Amerikaner zu dem allen meinten, – es sei bös, so große Verantwortung allein zu tragen! —
Aber nun verhielt es sich diesmal mit dem Per Hansen so, daß er, dem sonst nichts schnell genug ging, fand, es eile ja gar nicht; er zog jeden Abend zum Acker hinauf, um zu ›obsalvieren‹, wurde jedoch mit jedem Male bedächtiger. – »Nein, komm du auch einmal mit und schau dir an, wie fein der Weizen steht,« sagte er zur Frau. Und dann ging sie mit und sagte, er stehe hübsch – übrigens wirklich ausnehmend hübsch! Aber dann fiel ihr gewöhnlich etwas ein, was sie im Hause zu besorgen vergessen. Sie nahm sich selten die Zeit, auf ihn zu warten.
Wie gesagt, ihm schien es mit der Harvest Getreideernte. keineswegs zu eilen: Ließ Tönset‘n diese Saite anklingen, dann meinte der Per Hansen, sie sollten die Ähren doch noch ein wenig faulenzen lassen. »Wirst damit schon fertig, Syvert; wir wissen doch alle, daß du beim Reaping deinesgleichen nicht hast in ganz Dakota Territory!«
Tönset‘n hüstelte: »Meinst du nicht eigentlich: Minnesota?«
»Richtig, gewiß, – sagte ich das nicht?«
Da lachten sie beide und kabbelten sich in aller Freundschaft wie Buben.
Aber dann kam Tönset‘n eines Vormittags hinüber, strotzend von erregtem Entschluß: heute müßten sie anfangen, – kein andrer Ausweg, keine Ausrede! Er komme gerade vom Hans Olsen, und jetzt fingen schockschwerenot auch dort die Spitzen an zu gilben; sie müßten hier unverzüglich heran!
»Das hat doch keine so brennende Eile, Syvert; nein, laß sie sich noch die Nacht über ausfaulenzen!«
Tönset‘n war auf dem Ohr völlig ertaubt; er fuchtelte mit den Armen und stampfte umher: »Aber Menschenskind, begreifst du denn nicht! Wir haben hier achtzig Acres, und alles soll ich allein besorgen! Und vielleicht muß ich auch noch den Leuten aus Sogn bei ihren Äckern helfen, – ungewiß, was sie von solchen Dingen verstehen.«
»Das macht sich schon alles,« lachte der Per Hansen, »fasse dich nur in Geduld, du Syvert!«
Da wurde Tönset‘n aber fuchsteufelswild: »Ich will dir eins sagen: von den Dingen hast du keinen blauen Dunst, Gevatter; stehst hier gerad wie die Kuh vorm neuen Tor! Wär‘ es nicht wegen des Gottesglückes, daß alles bei dir so zeitig kommt, würden wir niemals mit allem fertig, – wir müssen heran, und zwar noch heute!«
»Wie du befiehlst, Kapitän!«
»Dann benachrichtige ich also den Hans Olsen, und du läufst nach den Solumbuben!«
»Wollen wir – hm – ganz Dakota Territory bei meinem Acker anstellen?«
»Per Hansen, so nimm doch Verstand an!« rief Tönset‘n, »du und der Hans Olsen, ihr beiden allein werdet im ganzen Leben nicht mit dem Binden hinter mir fertig, – ihr könnt ja doch noch nicht einmal binden! Tu, wie ich dich‘s geheißen habe, und hol die Burschen!«
Tönset‘n stapfte davon, als gelte es Land und Reich. – Es war traurig, mit Leuten zu tun zu haben, die rein gar nichts verstanden! —
Gleich nach Tisch waren sie alle am Weizenacker versammelt; die Männer und die Weiber und die Kinder, – die Beret hatte die beiden Kleinsten mit. Tönset‘n redete und erklärte und kommandierte, so daß sich schließlich bei allen eine Art Feststimmung entwickelte. Nur in ihm, der für alles die Verantwortung trug‘, sah es keineswegs festlich aus. Die andern lachten und scherzten, als sollten sie an einem Sonntagmorgen den Brautmarsch zur Kirche antreten. Und es war nicht ganz abzuleugnen, daß sie auch mit Tönset‘n ihren Spaß trieben, – und dann lachte die Kjersti, daß es trillerte. Tönset‘n jedoch hatte heute Wichtigeres im Kopf als Faxen, – jetzt sah einer so recht, in wem hier eigentlich der Verstand steckte! Er lag unter der Maschine auf dem Boden und unterwarf sie einer letzten Prüfung, beklopfte sie sodann mit einer stattlichen Zange von allen Seiten, fand hier ein Loch und dort eins, das noch geschmiert werden mußte, – wo war jetzt bloß das Schmieröl? – Was standen sie da alle und hielten Maulaffen feil? Konnten sie nicht kommen und helfen?
Endlich war es soweit, daß die Pferde vorgespannt werden durften; er ergriff die Zügel und turnte auf den Sitz hinauf.
»Ja, jetzt denn in Gottes Namen!«
Zu mehr hatte er nicht Zeit; die Mücken stachen, die Pferde waren unruhig, und es gab gar soviel zu beachten! Er schwenkte zum Ackerrand.
Und jetzt begann die erste Harvest am Spring Creek.
Mächtig dröhnte die Maschine über die Flur, bis sie zu fressen bekam. – Die Pferde gingen schnell, die Maschine schnappte ganze Maulvoll in sich hinein, surrte und schnurrte und schrie nach mehr.
Tönset‘n legte die erste Runde Korn um; er war so darauf versessen, gerade und schmuck zu schneiden und nur das allernötigste am Rande stehenzulassen, daß er für andres weder Ohr noch Augen hatte. – Erst nach der vierten Runde hielt er die Pferde an und fragte den Henry auf Englisch, was er dazu meine. Und wie gehe es mit den Neulingen, würde er ihnen jenen Handgriff beibringen können? – Well, die Kjersti sei in alten Tagen eine tüchtige Binderin gewesen, die müsse ihm halt beim Unterricht helfen! – Sodann aber wandte er sich majestätisch im Sitz und brüllte dem Per Hansen auf Norwegisch zu:
»Ich glaub, meiner Seel, dieser dein Weizen gibt vierzig Bushels auf den Acre! – Ja, für fünfunddreißig also garantiere ich dir!«
»Fahr zu, Vater Syvert! Siehst du denn nicht, daß hier eine ganze Armee Leute auf dich wartet!«
Das Garbenbinden war mehr Arbeit als Kunst, und es bedurfte keiner langen Übung, es zu erlernen; wenn sich so viele wie hier darin teilten, war es das reine Vergnügen. Ein jeder wollte es einmal versuchen; sogar die Beret legte den Säugling aufs Feld und tat mit. Aber da kam die Kjersti und redete mit ihr: das sei nicht mehr Arbeit, als die Mannsleut gut allein bewältigen könnten, – du lieber Gott – fünf erwachsene Männer um dieses Feld, und dazu zwei Buben! Jetzt wollten sie mit der Sörrina zusammen heimgehen und den Vesperkaffee herrichten; täten sie alle drei ihre Vorräte zusammen, so reiche es; dann kämen sie mit dem Kaffee auf den Acker, – das sei so lustig, – und damit sei den Männern besser geholfen. —
Der Per Hansen band seinen eigenen Weizen!
Die Hände wurden feucht vom Saft; der war so fein und weich wie Öl. – Mit jeder Garbe hob der Per den Kopf höher, und er merkte in sich eine Kraft, wie er sie bisher nicht gekannt. Jetzt war das Dasein eine Lust! Einen kühnen Wurf hatte er getan; dafür hielt er jetzt das Glück in den Händen. – Er lächelte: O nein, er mußte gewiß behutsamer verfahren; etliche Ähren waren bereits sehr reif und konnten leicht streuen.
Er richtete sich auf und fuhr sich mit den feuchten Händen übers Gesicht. – Merkwürdig, wie leicht ihm heute der Körper war ! —
Die Männer arbeiteten, bis der Tau so stark fiel, daß sie aufhören mußten. Die Sonne war längst in die Prärie gesunken; nur eine tiefe Röte war noch geblieben.
Tönset‘n war jetzt müde und steif, aber er ließ sich das nicht etwa merken.
In Per Hansens Gamme warteten volle Schüsseln Brei auf die Schnitter. Die beiden andern Hausmütter hatten inzwischen daheim bei sich die Wirtschaft besorgt; jetzt gingen sie der Beret zur Hand.
Die Männer setzten sich zu Tisch.
Der Per Hansen kramte in der Truhe. »Wartet noch ein wenig mit dem Tischgebet!« plauderte er in die Truhe hinein. »Ich möchte auch gern dabei sein!«
Er trat hinzu und schüttelte eine Flasche hinter Tönset‘ns Kopf.
»Hast du schon je solch absonderliches Geräusch gehört, du Syvert? Ist es nicht rein, als locke es?«
Und es gab für alle ein Schnäpslein, ehe sie sich in die volle Schüssel hineingruben.
»Hä, hä!« räusperte sich Tönset‘n nach dem Schnaps. »Sollst sehen, du wirst bereits im ersten Jahre ein reicher Mann, – ausnehmend guter Weizen!«
»Ja, das sage du lieber von dir. Und sollten du und die Kjersti nicht Socken genug haben, eure Taler darin zu sammeln, so wendet euch getrost an uns, wir helfen euch gern damit aus!«
»Ja reich werden wir alle!« beteuerte der Tönset‘n. »Und der Sam müßte eigentlich jene Trönder-Dirn, die an den Ufern des Sioux auf ihn wartet, zur Hochzeit holen, – gelt?«
»Yes, Sir!« meinte der Sam dazu. »Aber, du Kjersti, hüte dich, den Syvert auf die Hochzeit zu lassen!«
»Warum denn wohl?« fragte sie treuherzig.
»Nein, schau, er wird so wild, wenn er mit den Trönderbäuerinnen zu tun bekommt!«
»Du bist ein Ochs, du Sam!« sagte Tönset‘n verdrießlich und legte den Löffel weg.
IX
Am nächsten Vormittag wurden sie mit Per Hansens Weizen fertig und gönnten sich eine lange Mittagpause. – Als Tönset‘n sich jetzt alles genauer besah, hätte es gar nicht solche Eile gehabt; das Wetter war kühl, und die Ähren sahen weder bei ihm noch beim Hans Olsen reifer aus, als sie gestern getan; hielt sich die Witterung, dann dauerte es noch wenigstens eine Woche, bis sie beim nächsten anfangen konnten. Dafür aber werde die Ernte auch ganz einzigartig, – »gerad das Wetter, das der Weizen braucht, um sich gut zu füllen.«
Und Tönset‘n war völlig versöhnt mit sich und der ganzen Welt; – er hatte bewiesen, daß er der Lage gewachsen war. Warum nicht, nach Tisch noch ein wenig gemütlich sitzen? Es eilte keineswegs,– nur noch die vier, fünf Arces Hafer; mit denen wurde er bequem bis zum Abend fertig.
Das fand auch der Per Hansen; es saß sich so gut in der Kühle hinter der Hüttenwand, und es ließ sich so lustig mit den Nachbarn dividieren, wie sie sich in der Zukunft einrichten wollten. I, – wo hatte es Eile! – Der Per Hansen hatte den Solumbuben gesagt, er und der Hans Olsen wollten mit den Hafergarben schon allein fertig werden; sie sollten lieber bei sich etwas vornehmen. Aber es war so gemütlich, daß die Buben sich nicht wegrühren wollten, ehe die andern wieder auf den Acker gingen.
Die Sommerbrise kam immer noch frisch und kühl aus Nordwest. – Tönset‘n schnupperte in sie hinein und sagte, wenn die sich noch acht Tage so hielte, dann sei es nicht ausgeschlossen, daß sie den Per Hansen doch noch überholten; denn es sei zum Ausreifen das leckerste Wetter. »O ja, hier ist‘s gerad wie in Kanaans Land!«
Tönset‘n fühlte so etwas wie Feiertagsstimmung, als er die Pferde wieder vorspannte. Er mußte einhalten und sich festlich zu dem Nachbarn äußern:
»Ist es nicht trotz allem merkwürdig, daß ich akkurat diesen Flecken Erde auffinden sollte?«
Der Hans Olsen lachte nur gutmütig: »O gewiß, freilich!«
Dieses laue Lob befriedigte Tönset‘n aber nicht: »Und was sagst du dazu, Per Hansen?« rief er scherzhaft herausfordernd.
Aber der Per Hansen hörte schon nicht mehr; er beschattete sich mit der Hand die Augen und lugte scharf nach Nordwest; die frohen Gesichtszüge falteten sich, bekamen etwas Gespanntes:
»Das ist doch das wunderlichste —!«
Am Nordwesthimmel waren Wetteranzeichen heraufgekommen, die er nicht zu deuten wußte —.
– Gab es heute noch Sturm?
Er stellte sich neben den gemütlich hockenden Hans Olsen, deutete nach Westen und sagte leise:
»Kannst du mir sagen – verstehst du das dort?«
Da sah auch der Hans Olsen es herankommen, sprang auf und starrte.
»Hast du schon so Seltsames gesehen! Ich meine, wir bekommen Unwetter?«
Tönset‘n thronte bereits wieder hoch oben auf seinem Sitz; er wollte gerade starten, als der Per Hansen angelaufen kam.
»Kannst du mir sagen, Syvert, was das dort ist?«
Tönset‘n wandte sich um.
Und es war in der Tat ein seltsamer Anblick. Weit hinten im Westen trieben glitzernde Wolkenbänke heran, hoben und senkten sich. Dicht unterm Himmel, Streifen über Streifen. Aber noch nie hatten sie Wolken sich so bewegen sehen; sie wogten wie lange Meereswellen, glitzerten, als träfe kräftiges Sonnenlicht auf große Schneeflocken, und dabei war es in der Wolke selbst dunkel und düster. Doch auch dies Finstere flimmerte.
Die Pferde begannen unruhig zu schnaufen.
Die Wolken zogen unheimlich schnell herauf, bedeckten bald den ganzen West– und Nordwesthimmel.
Eigentlich waren es nicht Wolken; man ahnte den Himmel durch sie hindurch. Es kam herbei wie lange Dünungen, kam flatternd wie ein ungeheures Tuch, glitzernd, daß es in die Augen stach.
»Was in aller Welt —!« rief Tönset‘n und zog die Zügel so stark an, daß die Pferde die Maschine zu rücken begannen.
Der Ole und der Große-Hans kamen herbeigelaufen.
»Ein Schneesturm kommt!«
Im nächsten Augenblick war die Luft rundum und über ihnen dick; ein ganzes glitzerndes Meer wälzte sich über sie.
Tönset‘n konnte die Pferde nicht halten. »So helft mir doch! Wir müssen die Pferde sofort ausspannen!«
Die andern hörten ihn nicht, standen versteinert, mußten das Gesicht vom Winde abkehren.
Die Pferde machten einen Bogen durch den Acker, bis sie den Wind von hinten bekamen; da endlich gelang es Tönset‘n, sie zu zügeln, so daß er vom Sitz herunter und sie mit zitternden Händen ausspannen konnte.
Jetzt kam die Kjersti angelaufen; sie hatte sich zum Schutz den Rock über den Kopf geschlagen; gleich hinter ihr die Sörine, – mit den Händen rudernd; und dort sausten die Solumbuben aus der andern Richtung herbei; unten am Bach weideten ein paar Kühe; die setzten die Schwänze steil in die Höhe und flüchteten ins nächste Versteck, – und kaum, daß Tönset‘n die Pferde freigelassen hatte, taten diese dasselbe.
Vom Himmel her peitschte und stiemte es. Es prasselte gegen die Kleider, als wurden Kiesel geschleudert. Die Menschen drängten sich ängstlich in einen dichten Knäuel zusammen, hielten sich die Hände schützend vors Gesicht, mußten aber doch auch wieder hinsehen, – sie mußten! Ein wildes Entsetzen trieb sie dazu.
Denn das waren nicht grobe Sandkörner! Sobald sie gefallen, hüpften und sprangen sie mit kurzem knappem Knipsen. – Die Leute starrten mit furchtsamen Augen: Guter Gott, das waren ja lebende Wesen, die über sie herniederregneten! Es fegte mit stürmischer Eile heran, es knipste und hüpfte in großen und kleinen Sprüngen; mit jedem Hupf flimmerte es weiß, blinkte in der Sonne. Blickte man in der Windrichtung vorwärts, bemerkte man nichts als ein tausendfaches geschwindes, weißes Blinken – unaufhörlich; dazwischen leuchtete etwas Braunes.
»Vater!« rief der Große-Hans durch das Unwetter, »das ist Koboldgeziefer – es hat Flügel – schau her!«
Der Bub hielt etwas in der Hand; er sperrte die Flügel des Tieres auseinander und brachte es an. Einen dunkelbraunen Körper von etwa einem Zoll Länge, etwas plump in der Mitte und nach den Enden zugespitzt. Am Vorderende saß auf jeder Seite eine winzige schwarze Perle; und er hatte lange dünne Beine mit dunkelbraunen Ringen. – Die Flügel waren weißglänzend und durchsichtig.
»So wirf doch das Koboldgeschmeiß weg, Kind!« jammerte die Kjersti.
Der Bub ließ los; ein Knips, ein Hupf, ein Glitzern, und das Tier war in den Myriaden und aber Myriaden, die die Luft rings über ihnen erfüllte, verschwunden. Jeder Halm wurde lebendig. Es saß, es hüpfte, es knipste, es fegte, es flog, es prallte, es glitzterte. Unzählige Wesen!
Niemand fand sogleich Worte. Jetzt sprach ein Anderer; der Mensch schwieg furchtsam. —
Hans Olsens langer Körper bückte sich: »Das muß doch wohl die Pest sein?« wunderte er sich in düsterem Ernst.
Da war es, als hätte den Per Hansen etwas gestochen: »Ach Dreck, das geht wohl auch vorüber!«
Tönset‘n fand das gotteslästerlich geredet: »O mein,« jammerte er, »jetzt nimmt der Herrgott zurück, was er uns gegeben! Nein, o nein, mein herrlicher Weizen!«
»Du schwätzest wie ein Depp; glaubst du, der Herrgott hat dein Futter nötig?« Der Per Hansen brachte die Worte zwar nur mühsam heraus, aber sie verfehlten nicht ihre gute Wirkung.
Das nächste vernünftige Wort kam vom Henry Solum; der sagte zum Bruder: »Es ist das beste, du holst die Pferde wieder heran; dann machen wir heute hier alles fertig; – es ist ungewiß, was morgen noch übrig ist.«
Der Per Hansen nickte dem Henry zu; dann ging er an den Hafer, wo die Verwüstung bereits eingesetzt hatte und es über das ganze Stück durcheinander knipste und glitzerte. Er begann zu schreien und zu hujen, nahm die Mütze und schwenkte sie in das Unwetter hinein. Aber das, was dort sein Wesen trieb, erachtete das Menschengeschrei als ein Nichts. Die braunen Körper flogen auf weißen Flügeln, und die Haferähren beugten sich unter der Last der braunen Körper.
Der Per Hansen stand daneben und mußte mit ansehen, wie sein Hafer vernichtet wurde, und eine trockne, zehrende Wut erfaßte ihn.
»Lauf heim nach der Langen Marie, du Ola, sie liegt über der Stalltür; auch der Pulverbeutel ist da – eil dich!«
Der Bub sprang heim und kam mit der Büchse zurück, der Vater nahm sie, setzte eine Knallpatrone auf und stemmte den Fuß gut auf den Boden, – er besann sich wenigstens darauf, daß die Büchse böse zurückschlug, wenn sie lange geladen gelegen.
Aber da kam der Hans Olsen herzu: »Das solltest du nicht tun, Per Hansen, – hat der Herrgott es über uns geschickt. —«
Der andre schaute ihn bloß groß an, kehrte sich dann geradeswegs dem Unwetter zu; warf das Gewehr an die Backe, zielte auf das Wolkenmeer, das herangesegelt kam und brannte ab; das Gewehr knallte gewaltig in das Ungeziefer hinein.
Die Wirkung war eigentümlich. Anfänglich schien der Schuß nicht das geringste ausgerichtet zu haben, das Ungeziefer flog ihnen mit fast unverminderter Stärke um die Ohren; dann aber ging eine leise Dünung durch die Wolkenschicht; sie wellte sich etwas von der Erde auf und segelte weiter; aber es sprang noch immer genug auf dem Acker herum.
»Ich glaube fast, du erschrecktest sie ein wenig?« wunderte sich der Henry.
»Es sieht beinahe so aus,« warf der Per Hansen hin. »Laß uns jetzt bloß schnell die Pferde vorspannen!« —
Sie wurden noch rechtzeitig mit dem Hafer fertig. Darauf eilte jeder heim. Wie war es bei ihm mit dem Korn bestellt? War da noch etwas geblieben? Konnte morgen mit dem Mähen begonnen werden, selbst wenn das Getreide noch nicht ausgereift war? – 0 nein, dann wurde daraus nicht mehr verkäufliche Ware, so grün, wie das Korn noch war!
Die beiden Buben des Per Hansen gingen mit dem Hans Olsen; sie sollten Nachricht heimbringen, ob dort morgen angefangen werden könne; denn bei dem war das Korn am weitesten.
Dem Per Hansen war wunderlich zumut auf dem Heimweg. Er hatte das Seine geborgen, und das war sehr merkwürdig; er hatte es geborgen, weil er so zeitig gesät, und weil sein Gelände höher lag als das der andern. – Einen großen Wurf hatte er getan; aber es war ihm leid darum wegen der Nachbarn; die Armen – die hatten sich geplagt so gut wie er! – Und dann nagte noch etwas an ihm; er hatte es den ganzen Nachmittag gespürt, während er band. Immer wieder hatte er gespäht, ob er nicht jemanden vor der Gamme zu sehen bekäme, – aber vergeblich. Die Arbeit hatte ihm wenig Zeit zum Nachdenken gelassen, und dann hatte das Teufelsgeziefer so arg gehaust. Aber jetzt auf dem Heimweg begann es von neuem zu nagen. – O ja, sie bleibt halt lieber drin, dachte er; und darin hat sie übrigens auch recht.
Er kam zur Gamme; sie lag im Halbdunkel, und ringsum war nichts Lebendiges, als was da herumknipste und flimmerte. Die Gamme war wie eine in einen Strom hinausgeschobene Schanze, und der Strom umspülte sie schäumend. Jetzt am Abend hatten alle diese winzigen Segel ein noch übernatürlicheres Aussehen; die Abendsonne fiel auf sie, der Glanz schimmerte rot, violett, bläulich, je nachdem das Licht auf sie fiel.
Sie ist vielleicht zu den Nachbarinnen gegangen ? dachte er, kam an die Tür und drückte die Klinke herunter. – Nein, das ist sie wohl doch nicht; man kann ja die Tür von außen nicht zuschließen. – Er stand und schnappte nach Luft, als er jetzt an seine eigene Tür klopfte.
Er klopfte stark; als er rief, wollte die Stimme ihm nicht aus der Kehle.
Er vermeinte ein Geräusch zu vernehmen, fühlte sich erleichtert: Nun, gottlob! —
Er wartete. Doch die Tür öffnete sich nicht. Und er hörte auch nichts mehr.
Womit kann sie bloß beschäftigt sein, – hört sie mich nicht? – Und was in aller Welt mag sie vor die Tür gesetzt haben? —
Er begann vorwärts zu schieben.
»So mach doch die Tür auf, – was ist denn nur?«
Das Ohr fing einen deutlichen Laut auf; es begann ihm vor den Ohren zu sausen. – Aber dann riß er sich zusammen, legte sich mit ganzer Wucht gegen die Tür, stemmte sich, bis ihm rot vor den Augen wurde; die Tür gab nach, der Spalt erweiterte sich – schließlich konnte er durchschlüpfen.
»Beret!« schrie er durch den Raum. – »Beret!«
Keine Antwort kam, – niemand zu sehen! Aber jetzt hörte er jenes Geräusch wieder deutlich.
»Beret!« rief er. Eine wahnwitzige Angst gellte aus seinem Ruf.
Da war es wieder! Kam es aus dem Bett! Von der Tür her? – Es hörte sich an wie Zirpen oder leises Wimmern.
Er sprang zu den Betten, riß die Decken herunter – alles war leer. – Aber dort bei der Tür —?
Er taumelte zur Lade und riß den Deckel hoch. Was er sah, ließ sein Blut erstarren. – Dort kauerte die Frau; das eine Kind hatte sie im Arm, das Gössel lag zusammengerollt am andern Ende der Lade, – das Wimmern kam von ihm.
Der Per Hansen wußte nicht, was er tat, er sah weder, noch hörte er. Erst hob er das Gössel heraus und setzte es aufs Bett, dann nahm er vorsichtig das Jüngste und legte es auf das andere Bett. Und dann hob er die Frau heraus, knallte den Deckel zu und setzte sie oben darauf.
»Beret, – aber Beret —!«
Der Anblick ihres Gesichts raubte ihm beinahe die Fassung. Er sah, es war vom Weinen geschwollen; aber das war es nicht allein, – denn das Gesicht, das war ein fremdes Gesicht, hinter dem sich ihr eigenes versteckt hatte.
Er sah sie flehend an; sie saß auf der Lade, blickte ihm ins Gesicht und flüsterte heiser:
»So hat dich also der Böse doch noch nicht geholt?« Dann kam ein Laut, der einem Lachen glich. »Er hat heut hier herum übel gehaust ... du mußt die Lade sogleich wieder vor die Tür setzen; die kann er nicht bewältigen, siehst du ... wir müssen alle zusammen hineinkriechen!«
»Beret!« rief sie der Per Hansen, und seine ganze Seele lag in dem Ruf. Mehr vermochte er nicht. Er sank vor ihr zusammen, umfaßte ihre Knie, klammerte sich an sie, als wäre er es, der des Halts bedürfe.
Es schien sie zu rühren; sie nahm ihn beim Kopf und liebkoste ihn.
»Weine du nur – weine sehr um deiner Sünde willen! Denn das habe ich jedwede Nacht getan – nicht, als ob es hülfe– denn du begreifst doch wohl, daß hier niemand ist, der unser Weinen beachtet? – Hier ist es zu schlüpfrig und zu glatt. – Aber versuche es immer! —«
»Ach du, – du meine Gold-Beret!«
Da wurde sie noch zärtlicher, streichelte ihn behutsam, nahm seinen Kopf an ihre Brust, sprach leise:
»Du darfst dich nicht so fürchten, liebster Mann – denn schau – es ist stets am schlimmsten, gerad bevor es sich zum Bessern wendet!«
Der Per Hansen sah ihr tief in die Augen, dann kam ein gurgelnder Laut – er sank zusammen und wußte nichts mehr von sich. —
Draußen knipste und flog es, knallte mit kurzen Knacksen, flimmerte im letzten Abendleuchten. Die Brise war abgeflaut, die Luft war leichter geworden.
Die Widde, die Riesin, dehnte sich in ihrer grenzenlosen Macht. —
X
Damit begann ein unendlich schweres Ringen zwischen der Zähigkeit des Menschen und dem Heer der Bosheit, das gegen ihn losgelassen war. Im Jahre 1873 waren Anzeichen der Plage vernehmbar gewesen, und 74 kam sie, und sie wütete in den Jahren 75, 76 und 77, zum Teil auch 78; darauf verschwand sie ebenso plötzlich, wie sie gekommen. – Sie wütete entsetzlich; sie brachte die einen an den Bettelstab, die andern ins Irrenhaus, trieb etliche in die Wälder zurück, aus denen sie gekommen – was übrigens auf das gleiche hinauskam. Aber die meisten blieben doch, wo sie waren. Denn die Armut war so groß, daß sie nicht zu wandern vermochten; und sie wußten auch keine Stätte der Zuflucht, – ja, wo hätten sie eigentlich hingesollt? Und so warteten sie denn darauf, daß es einmal besser werde!
Trotz allem aber; es kamen immer mehr Menschen, die dies Los teilen wollten. Der Boden war vortrefflich und die Gegend schön – gerad ›wie das Land Kanaan‹! Die eine Karawane nach der andern zog langsam herbei!
Die Plage trat pünktlich auf; sie legte sich auf alles, was die Erde hervorbrachte, – auf alles, außer dem Gras: das war nicht Menschenwerk und mochte unberührt stehenbleiben.
Es war wie die schiere Teufelei; im Frühjahr und Vorsommer war die Luft so rein und lind, sie schmiegte sich wie Seide an die Haut. Was in die Erde kam, gedieh, daß es eine Lust war, es wölbte sich in Reife. Und dann, gerade wenn die Reife sich setzen wollte, stiegen eines Tages bei frischer, kühler Brise aus West oder Nordwesten, da draußen seltsame Wolkenschichten auf. Und dann begannen sie zu sausen – des Himmels unzählige Heerscharen; und damit war es um alles geschehen, was Ackerfrucht hieß. Und immer kam das Ungeziefer aus West oder Nordwest, am häufigsten jedoch aus Nordwest, wo die Abendröte am schönsten war; und meistens gegen Abend, wenn der Tag müde ward.
Jetzt spürten die Menschen die Wahrheit des alten Sprichworts: Alles Böse kommt von Norden oder aus der Tiefe.
Niemand hat bisher eine zufriedenstellende Erklärung für den Ursprung des Ungeziefers in jenen Jahren zu geben vermocht. Man hat von den großen Sandwüsten in Westcolorado gesprochen; – ja – – gesprochen! – Aber nachdem die Pest einmal hier gewesen, hinterließ sie genug in dem im Sommer umgepflügten Boden. Dort legte sie winzige zerbrechliche Eier, die aussahen wie trocknes Sägemehl. Die überdauerten die Feuchtigkeit des Herbstes, die vielen Schneeschichten des Winters, den Frost, der so stark war, daß es im Gesträuch des Feldes knackte, – lagen wie tot im Frühling; sobald aber die Sommersonne die winzigen Perlchen eine Weile erwärmt hatte, kroch es aus ihnen heraus! – Und hier bewahrheitete sich ein anderes altes Wort: Kein Ungeziefer ist so schlimm wie das, was die Menschen sich selber auferziehen. Denn das Gesindel, das aus diesen Eiern auskroch, richtete eine größere Verwüstung an als das, was mit dem Winde herangesegelt kam, und sie waren zudem so unerträglich ekelhaft!
Aber nicht als ob die anderen nicht mehr kamen, weil die Menschen selber genug bei sich erzeugten, – behüte, nein! Es gab Sommertage zu Zeiten der Pest, an denen man nicht klare Luft zu sehen bekam. Doch nicht immer lag der Plage daran, auf dem Boden zu hausen; die Wolkenschichten trieben bisweilen als scheinende und blinkende Schneeschichten unter der Sonne umher. Dann war es plötzlich, als bekäme das Übel Gewissensbisse, weil es die Menschen nicht heimgesucht habe; und bei der nächsten Nordwestbrise sauste es plötzlich herab, schnitt unausgesetzt, fraß mit gierigen Zähnen, fegte weg, was so schön stand. Wenn dann am nächsten Tage die Brise wieder auffrischte, konnte bisweilen das Teufelsgeziefer auffliegen und wie leuchtendes leichtes Sausen in der Luft schweben – auf Ausguck nach einem neuen Wirkungsfeld.
Und die sonderbarsten Launen hatte es. Es kam vor, daß es auf einem Acker alles kahl schor bis auf einen Randstreifen von ein paar Ellen Breite; ein anderer Acker blieb so gut wie unberührt; einer dicht daneben war wie rasiert, so daß das Feld mit abgemähten Ähren besät war; auf dem nächsten fielen sie bloß über die Grannen her, und die Ähren sahen danach aus wie hornlose Hammelköpfe. Die Pest war auch keineswegs wählerisch – Gemüse oder Kartoffeln, Gerste oder Hafer, Weizen oder Roggen, oder was es sonst war – das galt ihr gleich. Ein dichter Schwarm konnte sich auf ein Wagengestell herablassen; und wenn er es verließ, war es von unzähligen kleinen Raubtierzähnen wie gemasert. Steckte eine Heugabel in der Erde mit einem Eichen– oder Hickoryschaft, dann sah der Stiel hinterher wie abgesplittert aus. Fand der Schwarm ein Kleidungsstück auf dem Felde, konnte er es zerfasert zurücklassen.
Die Menschen wurden des Staunens nicht müde. Die einen vergingen vor Angst, der Gottlose fluchte Donner und Blitz, der Fromme betete. Der Furchtlose grübelte nach Mitteln und versuchte bald dies, bald das. Der Gutgläubige aber ging mit Quirl oder Nudelholz und einer Waschschüssel an den Acker und trommelte damit aus allen Leibeskräften; diese Serenade jedoch half ebensowenig wie alles andere, – die bösen Geister fuhren erst davon, wenn sie glaubten, fertig zu sein.
Die Herrlichkeit des Herrn
I
Junitag und flimmernde Sonne ... wogende Schatten lichter Wolken über einer grenzenlosen, grünen Ebene. Sonne und wogende Schatten, und immer dasselbe jeden Tag.
Ein alter Cart ein zweirädriger Einspännerwagen. humpelte über die Prärie in der Richtung auf das Settlement am Spring Creek, ein Cart von so veraltetem Bau und so jämmerlicher Verfassung, daß es aussah, als werde er am ersten besten Grasschopf zerschellen.
Der Gaul vor dem Gefährt paßte sich dem durchaus an: langbeinig war er und klapprig, mager und grobschlächtig, so daß man alle Knochen hätte zählen können. Einstmals war sein Fell vermutlich hellgrau gewesen, obwohl sich darüber nichts Bestimmtes mehr feststellen ließ; denn dieses schmutzige Braun konnte ebensogut jede andere Farbe sonst gewesen sein. Von dem, was früher vielleicht eine üppige Mähne gewesen war, waren nur noch ärmliche Fransen übrig. Sein Vorderteil war von einem dicken Buckel überwölbt; wenn er den Hals streckte, erinnerte er an ein Dromedar. Aber ursprünglich war es also ein Pferd gewesen, wenn das auch lange her sein mochte. —
Der Mann auf dem Kutschsitz war von einem noch unbestimmlicheren Alter als Roß und Gefährt. Er konnte fünfundvierzig, aber er konnte auch fünfundsechzig sein. Wären nicht der Bart und die Wohlbeleibtheit gewesen, so hätte man eher auf das erste geschlossen; denn der Gesichtsausdruck war jugendlich, die Augen lebhaft und feurig; sie hatten etwas jungenhaft Frisches. Der Bart deutete aber zweifellos auf ein höheres Alter; er fing bei den Ohren an und umkränzte das ganze Kinn; er war dicht und struppig, die Stoppeln waren mindestens einen Zoll lang; seine ursprünglich helle Farbe war jetzt stark von Grau durchschossen. – Auch der Anzug bezeugte das hohe Alter des Mannes; vor allem der Rock, der weder Schoßrock war noch Jacke, vielmehr ein Kleidungsstück aus dünnem, schwarzem Tuch, das den Mann lose und geräumig umschloß. Für eine Jacke war er viel zu lang, für einen Gehrock nicht lang genug.
Als das Pferd heute lange genug getrottet, der Cart lange genug geklappert hatte, der Mann lange genug, während er dazu vor sich hinsummte, zusammengerüttelt worden war, begannen endlich die Torfhütten am Spring Creek allmählich aus dem Boden herauszugucken. Und es war wahrlich an der Zeit, denn es wollte Abend werden. Ein paar Holzhäuser – ein großes würfelförmiges und ein kleineres mit einem hohen Giebel – waren schon lange sichtbar gewesen. Sie stachen so seltsam ab von der nackten flachen Landschaft, daß einer sich unwillkürlich überlegte, ob die denn wirklich hier draußen beheimatet seien.
Der Mann im Wagen schien übrigens nichts nach ihnen zu fragen. Dafür beschäftigte er sich um so angelegentlicher mit den Gammen; und je mehr er das tat, desto mehr ließ sein Summen nach, und zuletzt kam es nur noch stoßweise.
»Hm – hm, da hätten wir sie also! – Leg dich jetzt brav in die Sielen, King!« kam es ermunternd aus dem Bartkranz. »Siehst du: wir müssen zusehen, uns durchzubaggern, ehe die Leute sich legen ... Greif aus, sag ich dir, greif aus!«
Die Sonne war bereits unter dem Horizont, als das Pferd endlich vor der Tür einer der Gammen stoppte. Der Mann blieb sitzen.
»Sind Leute hier?« rief er mit kräftiger Stimme.
Drinnen rührte es sich.
Ein untersetzter, abgearbeiteter, rotbärtiger Mann kam herausgestürzt, eine rundliche Frau gleich hinterher gekugelt; beide kauten; der Mann wischte sich den Mund; sie glotzten den Fremden an.
»Ich frage, ob hier Leute sind?« sagte der Mann; in seinem Bart spielte ein breites Lächeln.
»Teufel auch, bist du Norweger!« rief der Rotbart erfreut.
»So so, den Gesellen habt ihr hierzulande also ebenfalls?« Der Alte machte ernste Augen. »Habt ihr heute abend mehr zu essen, als ihr selber verzehren könnt, sowie Platz übrig für einen Gaul, der den ganzen Tag getrabt ist?«
Er wartete die Antwort nicht erst ab, warf die Zügel auf die Erde und stieg aus, streckte sich und ließ sich einen Seufzer entschlüpfen:
»Wie steif einer doch wird von diesem Gerüttel! – Wie heißest du, lieber Mann?«
»Ich heiße Syvert Tönset‘n; – was aber für ein Bursch bist denn du so ungefähr?« Tönset‘n trat sehr dicht herzu und maß forschend den Fremden von oben bis unten.
»Hast du etwas zu essen, Mutter?« wandte sich der an die Frau, ohne dem Mann Beachtung zu schenken; er nahm einen großen, abgenutzten Mantelsack aus dem Cart und stellte ihn auf den Boden.
»Ja, weißt du, wofern du vorlieb nimmst, —« sagte die Kjersti zaudernd, unterbrach sich jedoch plötzlich, huschte hinter Syverts Rücken, holte die Hand unter der Schürze hervor und zupfte ihn am Jackenschoß: sie hatte den Fremden wie auch die Reisetasche eingehender betrachtet, und eine leise Ahnung war ihr aufgestiegen.
Tönset‘n war viel zu geschäftig, um auf sie achtzugeben.
»Ich frage,« sagte er mit viel Würde, »was für eine Art Mann du seiest, und was du vorhabest, – bist du ausgezogen, dich nach Land umzutun?«
Der Fremde stemmte die Hände in die Seite, sah den beiden ins Gesicht und sagte ernst:
»Ich bin Pastor; und du, mein guter Mann, solltest deinen Gästen nicht ins Gesicht fluchen! – Und nun frage ich noch einmal: kann ich bei euch zur Nacht bleiben?«
»Donnerwetter noch eins!« entfuhr es Tönset‘n, – so, als hätte ihn wer in den Magen gepufft.
»O mein, o mein,« weimerte die Kjersti; »Er ist wohl nicht recht —, also Pastor ist Er? – Ja, wenn Er das, was wir zu bieten haben, nur auch wird essen können!«
»Sorg dich nicht darum, Mutter! – Ja, dann bringen wir also erst einmal den Gaul unter.«
Tönset‘n hatte plötzlich so geschmeidige Hosen an, war nur noch lebendige Hilfsbereitschaft, verspürte eifriges Plauderbedürfnis, getraute sich jedoch nicht so recht – —. Aber das Pferd versorgte er gut und reichlich und lief obendrein noch nach mehr Streu.
Der Pastor hatte nach vielem zu fragen, und er und Tönset‘n ließen sich gute Zeit vor der Gamme.
Als sie beide hineinkamen, setzte Tönset‘n einen Stuhl ans obere Tischende und bat, dort Platz zu nehmen. – Der Tisch war weiß gedeckt und dafür, daß es sich nur um einen Gast handelte, überaus reichlich mit Speisen besetzt; da gab es eine Satte mit dicker Milch und norwegisches Flachbrot, süße Milch und gekochte Eier, Kaffee und feines Gebäck; und dennoch schien es der Kjersti nicht ausreichend zu sein für einen solchen Besuch, sie briet geschwind noch ein paar Eierkuchen; denn an Nahrung fehle es ihnen nicht, gottlob! – Sie hatte in aller Eile hübsch aufgeräumt, und es sah behaglich aus in der Gamme; der Pastor sah sich überrascht um.
Aber dann setzte er sich und griff zu, war des Lobes voll über das Gebotene und aß wie ein gesunder Mensch, der schon lange Hunger verspürt hat.
Tönset‘n stand mitten im Zimmer und unterhielt den Pastor; es lag jetzt ein salbungsvoller Ernst über seinen Worten. Die Kjersti blieb in der dunklen Herdecke; sie gab fast mehr acht auf das, was der Syvert sagte, als auf die Worte des Pastors, – der Ärmste geriet doch so leicht in Eifer, und wußte wenig davon, wie man mit so feinem Volk reden müsse! Beglückt beobachtete sie, wie der Pastor herzhaft zugriff. Wie hübsch sprach er von dem Essen, das sie hergerichtet! Und wie leutselig plauderte er – ohne jegliche Andeutung von einer Predigt. Nur von Alltäglichem schwätzte er mit dem Syvert – die hiesigen Verhältnisse, Ernteaussichten, Wirtschaftsweise und Betrieb. – Tönset‘n kam immer wieder auf die Zukunft zu sprechen; ihn beschäftigte mehr, wie es werden sollte, als wie es war. Und der Pastor sparte nicht mit gutem Rat.
Wie sei es denn aber mit dem christlichen Wandel der Bewohner bestellt, wollte der Pastor dann wissen. Tönset‘n räusperte sich erst gründlich und sagte dann energisch, darüber wisse er weniger gut Bescheid; das könne ein Farmer schwer beurteilen! Und schleunigst fragte er sodann, welchen Weg denn der Pastor gekommen sei, und ob er viele Settlers getroffen habe; und das wieder bot ihm Gelegenheit zu schildern, wie es hier ausgesehen, als er vor sechs Jahren nach Westen gezogen kam; und er wurde so ungemein beredt – die Kjersti wußte: jetzt werde es brenzlich! —
Endlich war der Pastor fertig mit Essen.
»Ja, und jetzt schweig ein wenig, mein guter Mann, jetzt wollen wir dem Hergott für diesen Tag danken!«
»Jawohl, ja!« Tönset‘n schneuzte sich nachdrücklich; er wußte nicht recht, was mit sich anfangen, steckte jedenfalls die Daumen in den Hosengurt und blieb in sich zusammengesunken mitten in der Stube stehen. – Die Kjersti ließ sich langsam auf der Holzkiste nieder und trocknete sich mit der Schürze die Augen, – sie hätte doch gar zu gern den Syvert gebeten sich zu setzen!
Der Pastor faltete die Hände und gab sich daran mit einem zu plaudern, den sie zwar nicht sahen, der aber in der Nähe sein mußte. – Der Pastor sprach leise; es hatte den Anschein, als sei der andere ein lieber, guter Bekannter; er sprach gemütlich und traulich, ganz so, als habe der andere ihm oft und unerwartet Gutes getan. Er dankte ihm für den vergangenen Tag, den sie nie wieder erleben würden, bat ihn, alle heute begangene Sünde in dem großen Meer seiner Gnade auszulöschen. Er betete lange für die Bewohner dieser Gegend, für das Haus, in dem er jetzt saß, und sehr viel für den Mann, der hier vor ihm stand, und der so sehr häßlich fluche. Auf irgendeine Weise möge der andere zu ihm kommen und ihn kräftiglich an das erinnern, was er betreffs dieser Sünde in seinen Geboten gesagt habe. Nicht allzu streng jedoch möge er mit diesen Menschen zu Gerichte gehen, die in so langen Zeiten umhergeirrt seien – in der großen Wüste der Welt, ohne Hirten und Aufsicht. – Dann sagte er amen und saß eine Weile stumm mit gefalteten Händen. Die Lampe auf dem Tisch warf ihren Schein über sein Gesicht; der Rahmen darum wurde zu reichstem Silber, – Erhabener Friede erfüllt den Raum.
Dann erhob er sich.
»Dem Herrn sei Dank für das gute Mahl!«
Tönset‘n schneuzte sich wieder gewaltig, machte plötzlich kehrt und verschwand zur Türe hinaus.
Die Kjersti auf der Holzkiste schnufzte.
Der Pastor trat zu ihr und gab ihr die Hand.
»Ein gesegnet gutes Mahl hast du mir geboten, Mutter – hab Dank dafür und großes Lob!«
»O ja, – o ja,« wiegte sie den Kopf; ihr schien, diese Hand könne sie gar nicht wieder loslassen.
Tönset‘n kam gleich wieder herein; – das ging nicht an, er mußte unbedingt sein Benehmen erklären, – es war durchaus nicht so schlimm mit ihm bestellt, wie der Pastor glaubte; der sollte bloß einmal hören, wie mancher andere bisweilen wetterte! – Als er aber vor dem Pastor stand, wurde aus allen den beabsichtigten Darlegungen nur ein Räuspern.
Der Pastor ging an den Reisesack, nahm zuerst einen stattlichen Beutel heraus, sodann eine lange Pfeife; die säuberte er mit großer Sorgfalt und stopfte sie, daß es verschlug.
»Nun, denke ich, könnte ein wenig Räucherwerk gar lieblich schmecken. – Nein, bleib bloß sitzen, Mutter!«
II
Der Pastor sollte in der Staatsgamme übernachten; eine solche befand sich jetzt auf jeder Farm. In ihr wurden Kleidungsstücke, Eßvorräte, Werkzeug und Gerät aufbewahrt, dort war oft auch Platz für die Schmiede und die Hobelbank; fast immer aber stand dort ein Bett bereit.
Tönset‘n und die Kjersti blieben vorerst noch lange behaglich mit ihrem Gast sitzen; der Pastor rauchte eine Pfeife nach der andern, klopfte die Asche an der Stiefelspitze aus, stopfte und entzündete von neuem. Und er wollte Bescheid darüber, wie es ihnen in den Jahren hier draußen ergangen sei. Und Tönset‘n wurde nicht müde zu berichten.
Endlich klopfte der Pastor die Asche zum letztenmal aus und legte die Pfeife weg.
»Ja, nun ist der Tag vergangen, und ein wahrhaft guter Tag ist es gewesen; die Nacht kommt herauf; nun wollen wir der süßen Ruhe pflegen. – Wo willst du mich heute nacht unterbringen, Mutter?«
Die Kjersti und Tönset‘n brachten ihn alle beide zur andern Gamme hinüber. Vor dem Bett stand ein kleiner Tisch mit einem buntgemusterten Tuch; es war eng und winzig hier drin, wie in einer Puppenstube, aber lustig und heimelig.
»Hier wird es sich gut ruhen lassen!« sagte der Pastor erfreut.
Das war doch einmal ein ausnehmend netter Mann, fand die Kjersti und kam mit vielen Entschuldigungen, daß es gar so dürftig sei.
Der Pastor setzte sie deswegen zurecht, halb ernsthaft und halb scherzend, und da lachten sie alle drei, und die beiden wollten sich gar nicht dazu verstehen, ihn jetzt sich selbst zu überlassen. —
Tönset‘n war in den letzten Jahren sehr alt geworden und kaum noch wiederzuerkennen. Im vorigen Frühjahr und in diesem hatte er sich arg mit Husten plagen müssen; letztes Frühjahr war es damit so übel gewesen, daß er schon gefürchtet hatte, drauf zugehen; doch die Kjersti hatte es ihm zu guter Letzt doch noch aus dem Körper herauskochen können. Er behielt die Spuren davon zurück, ermüdete leicht und brauchte viel Schlaf.
Aber heute nacht wurde nicht viel aus dem Schlafen. Unversehens sah er sich vor ernsten Fragen, die eingehend zu überlegen waren, – ja mein!
Die Kjersti war sofort von allem weggeschlummert.
Wie richtete er‘s ein, daß er sich dem Pastor anvertrauen konnte, ohne daß die Kjersti etwas merkte? – Morgen früh also bringe ich ihm gleich das Waschwasser hinein und setze mich dann neben die Tür, so daß ich sehen kann, wenn jemand kommt; dann spreche ich mit ihm darüber. – – – Ja, dann erzähle ich ihm das Ganze ... Es wird zwar bös abgehen, – Kniffe und Flausen sind hier nicht angebracht – er hat arg scharfe Augen! ... Ach ja ja!
Huff! Gräßlich wird‘s sein! – Wenn er schon wegen des winzigen Wörtleins, das mir da versehentlich entfuhr, so zornig wurde, was muß er dann erst davon sagen? – Tönset‘n brach der kalte Schweiß aus. – Nein, lieber abwarten, bis er weiterzieht, – dann begleite ich ihn ein Stück, – und gehe diesen Augen aus dem Wege.
Dieser Entschluß beruhigte ihn zwar einigermaßen; aber mit dem Schlafen wurde es doch nichts. Denn jetzt mußte er überdenken, wie er seine Worte zusammenfügen und belegen müsse, und dabei tauchten die Bilder von der ganzen elenden Geschichte vor ihm auf, – und mit einem Male war er völlig wach.
Ja, das war wohl eine ganz vertrackte Geschichte gewesen, und nur er selber konnte ganz ermessen, wie traurig und verteufelt falsch sie war. Das war ihm auch erst diesen Frühling aufgegangen, als er bettlägerig war und der Husten ihn zu Sauerkraut zerhacken wollte; und seither hatte es ihn ständig gewurmt.
Der Pastor schien zwar verständig, so daß er werde einsehen können, daß es seine, Syverts, Schuld nicht allein war. – Sie waren zu ihm gekommen; er konnte nichts dazu, daß sie kamen! Und er war nach der Vorschrift des Gesetzes gewählt, und aus seinem Amte folgte, daß er das tun mußte. – Die angeordnet hatten, daß unkundiges Volk solche Handlung verrichten solle, die müßten gewißlich und wahrhaftig auch ihren Teil an der Schuld auf sich nehmen! – Dennoch: er hätte es auch ablehnen können – das war‘s ja gerade – und das würde ihm der Pastor auch sagen! – Ach du und du, wie schlimm das war!
Waren es jetzt zum Herbst nicht akkurat vier Jahre her? ... Es war noch dazu an einem Sonntagnachmittag gewesen, – ja, insoweit war nun übrigens alles allright! Das Brautgefolge kam zur Gamme herauf, fast alle vom Ostufer des Bachs waren dabei, – in ihrer Mitte der Johannes Mörstad und die Jossie, sein Schatz. Der Halvor Hegg brachte das Anliegen vor, und der Halvor war ein redlicher Mann. Syvert Tönset‘n konnte sich nicht mehr genau auf den Wortlaut besinnen, aber er lautete etwa so: ›Du bist Friedensrichter, du Syvert Tönset‘n, und das ist ein wichtiges Amt.‹ – Er entsann sich deutlich, daß der Halvor gesagt: › ein wichtiges Amt‹. – ›Der Johannes und die Jossie, die wollen heiraten und zusammenziehen; denn der Johannes bedarf, so stramm wie der wirtschaftet, der Hilfe. Zufolge Recht und Gesetz fällt es dir zu, das Geschäft auf christliche Weise zu besorgen; das weißt du ja selber am besten!‹
Tödlich erschreckt war er damals gewesen, als er gemerkt hatte, es sei Ernst damit. Und seit er letzten Frühling mit dem Tode gerungen, hatte er an nichts anderes mehr denken können.
Und da hatte er sie also getraut!
Wäre er wenigstens dessen sicher gewesen, daß er ganz nach dem Gesetze verfahren war! Aber die Papiere und Vorschriften, die er dabei hatte gebrauchen sollen, die hatte er gerade nicht finden können; und im Grunde war‘s auch gleich, denn die waren ja doch allesamt auf englisch. – Die Nachbarn hatten ihn zum Friedensrichter gewählt, als sie die Kreisschaft organisierten, weil die Vorschrift besagte, daß sich in ihr solch ein Beamter vorfinden müsse, und sie hatten alle ihren Spaß daran gehabt. Er hatte nicht im entferntesten geahnt, daß er jemals von Amts wegen bemüht werden würde, – am allerwenigsten mit so etwas! – Solche Gottverhöhnung!
Aber er hatte doch Anlaß genommen, vorerst einmal abzulehnen, und das konnten die Nachbarn bezeugen!
Das schlimmste war, daß das Jungvolk vorher und nachher soviel Spektakel und Unfug getrieben hatte; es hatte Beifall geklatscht und Pastor und Brautpaar mit drei mal drei Hurras hochleben lassen, als sei das alles ein Schnickschnack. – Die Jossie und der Johannes hatten vor ihm Aufstellung genommen, und auch bei denen war keine Spur von Ernst zu entdecken gewesen, sie hatten ihm geradezu ins Gesicht gelacht. – Vielleicht hatte sogar er selber gelächelt, obgleich es ihm durchaus ernst war. Und dann hatte er des Johannes Hand genommen und in die der Frau gelegt, und die Jossie selbst war darauf gekommen, daß das nicht richtig sei, und hatte ihn darauf aufmerksam gemacht! Und da hatten die andern erst recht losgepruscht. – Und dann hatte er diese Worte gesagt: ›Jetzt, Johannes, nimm du das Weib, das hier an deiner Seite steht, ja, nimm sie also und halte sie in Zucht und Ehren, wie es sich für norwegisch Volk geziemt!‹ Darauf hatte er laut ›Amen‹ gesagt; denn es war ihm nichts weiter eingefallen. Da hatte ihm die Jossie gerad ins Gesicht geschaut, und sie hatte so schön ausgesehen – und so herzensgut gelacht! —Seither hatten nun die beiden wie Mann und Frau gelebt, – entsetzlich! – Aber noch hatte sie nichts Schlimmes heimgesucht, außer daß die Kinder so erschrecklich schnell hintereinander kamen; aber die waren sowohl schön wie gesund! —
Tönset‘n kehrte sich wohl zum zwanzigsten Male im Bett um: ja ja, morgen also mußte er mit dem Pastor sprechen, – und wurde der auch noch so zornig.
Ging es jedoch an, notgetaufte Kinder wiederzutaufen, so mußte doch auch mit seinem Vergehen etwas geschehen können? – —
Am nächsten Morgen konnte sich der Pastor beim Frühmahl nicht genugtun mit Fragen. Wer wohnte in dieser Gamme, wer in jener? Wer hatte denn die ansehnlichen Gebäude dort aufgeführt, – war der schon zu solchem Wohlstand gelangt? Und so fort.
Tönset‘n saß am andern Tischende dem Gast gegenüber; hier war für ihn besonders angerichtet; aber nicht einmal fürs Essen hatte er heute den rechten Eifer. – Es war doch merkwürdig, worauf der Pastor mit seinen Fragen alles kam. Tönset‘n wurde es rein bänglich zumute; er legte den Löffel hin und fand einen Vorwand hinauszugehen. —
Gleich darauf stand der Pastor mit dem Reisesack in der Hand auf der Hofreite und schaute sich um. Die Kjersti kam ihm schüchtern aus der Tür nachgestolpert, Tönset‘n machte sich hier und dort zu schaffen und mied den Pastor geflissentlich, und so rief ihn dieser denn heran.
Wer sei doch gleich sein westlicher Nachbar?
Das sei der Hans Olsen, ja also der Hans Vaag.
Und wer wohne nördlich von ihm?
Das tue der Per Holm oder der Per Hansen, wie sie ihn unter sich nannten.
Der Pastor erkundigte sich nach dem ganzen Settlement, soweit es von Tönset‘n aus zu übersehen war.
Wer habe denn wohl das größte Haus?
Meine er die größte Stube? – Well, die habe also der Per Holm; der habe gleich gewaltig zugegriffen und von vornherein so groß gebaut, daß sie ihn erst für nicht recht gescheit gehalten hatten, und dann habe er sich gleichwohl als gescheit erwiesen. – Der Torkel Tallaksen sei jetzt bei einem mächtigen Hausbau, geradezu einem Herrenhof; aber fertig sei der noch nicht.
»Und jetzt frisch ans Werk!« sagte der Pastor fröhlich und entschlossen. »Und du, mein guter Mann, mußt mir dabei behilflich sein: geh jetzt zu allen Nachbarn und sage ihnen an, daß ich heute um zwei Uhr bei diesem Peder Holm Gottesdienst zu halten gedenke; sage, alle müßten sie kommen, – unbedingt alle! – Und du Mutter,« wandte er sich an die Kjersti, »tust, glaube ich, gut und freundlich daran, wenn du zu Mrs. Holm hinübergehst und ihr dabei hilfst, zum Gottesdienst hübsch aufzuräumen; schön braucht es nicht zu sein, aber sauber, wo die Gaben des Herrn ausgeteilt werden.«
Die beiden guckten den Pastor erst eine Weile an, ehe sie sich zu den Anordnungen äußerten. Dann aber seufzte die Kjersti leise: »Ach ja, die arme Beret!«
»Beret? – Nun, so heißt also die Frau dort im Hause, – woran fehlt es denn bei ihr? Ist es dort vielleicht ärmlich bestellt?«
Da vergaß sich Tönset‘n vor lauter Eifer.
»Ich will dir sagen,« betonte er, »der Per Hansen – ja also der Per Holm, der ist hier draußen ein reicher Mann geworden, hat es besser gemacht, als irgendeiner sonst, obgleich er als Habenichts herkam. Aber ich will ihn darum nicht sonderlich loben; denn er hat gute Hilfe, so daß er niemanden zu dingen braucht, und Glück hat er all sein Lebtag gehabt. Da kamen zum Beispiel die Heuschrecken im ersten Jahr und schoren bei uns anderen alles ratzekahl; aber der Per Hansen, der konnte alles noch rechtzeitig bergen! Im gleichen Jahre machte er einen Treffer mit den Kartoffeln, – ja, er hat damals gewiß für über tausend Dollar verkauft, und niemand weiß, wieviel er bei dem Pelzhandel verdient, den er zur Winterzeit mit den Indianern betreibt! – Der sitzt jetzt auf drei Quarten Land!«
»Sieh einer an! Das ist einmal erfreulich! – Aber was fehlt denn der Frau?«
Jetzt war die Reihe an der Kjersti; sie wiegte bedächtig den Kopf und berichtete umständlich; ab und zu mischte sich Tönset‘n ein, wenn er fand, sie drücke sich nicht klar genug aus. Der Pastor fragte dazwischen, und allmählich erfuhr er die ganze Geschichte von der Beret Perstochter. Sein Gesicht bekam einen merklich veränderten Ausdruck – die Sonne erlosch plötzlich über einer schönen Landschaft, sie bot einen schwermütigen Anblick.
Er blickte lange vor sich hin, und die beiden wagten nicht zu reden. Endlich sagte er still:
»Ich meine, wir richten uns am besten so ein, Mutter, daß ich zuerst hinübergehe, und du kommst gegen Mittag nach. – Und du, mein lieber Mann,« wandte er sich zu Tönset‘n, »führe deinen Auftrag gut aus! Denke daran, daß sie alle Kinder, die getauft werden müssen, mitbringen sollen – das darfst du nicht vergessen, – und auch die Gesangbücher müssen sie mithaben!« —
Der Pastor machte sich jetzt auf den Weg; es war nicht weit bis zum Per Hansen, und so ließ er sein Pferd im Stall. Tönset‘n begleitete ihn.
»Laß mich die Tasche tragen!«
»Hast du denselben Weg?«
»Ich fange beim Per Hansen an und gehe dann nach Osten weiter, – das ist am praktischsten.«
Der Pastor schritt ganz in Gedanken versunken dahin; Tönset‘n hielt sich ein wenig hinter ihm. »Ich habe mit dir zu reden,« kam es so beiläufig und leise, daß der Pastor es soeben noch auffing.
Der Pastor blieb stehen und sah ihn scharf an; Tönset‘n guckte bald hierhin, bald dorthin, meist jedoch auf den Boden, trat erregt von einem Fuß auf den andern.
»Nun?«
Tönset‘n holte tief Atem und ermannte sich, sah den Pastor an, wandte das Gesicht ab.
»Ich wollte dich nur fragen, ob – ob es angeht, daß du ein Paar traust, das – das – bereits verheiratet ist, – denn dann würde ich sie auffordern, zu kommen?«
»Sind sie den geschieden?«
»Geschieden? Bewahre! Was du auch fragst! – Aber das Trauen wurde vielleicht damals, als sie heirateten, nicht ordentlich ausgeführt – ?«
Der Pastor forschte in Tönset‘ns Gesicht, sah jedoch eigentlich nur einen roten Haarbusch, der ruckweise auf und ab wippte.
»Ich verstehe dich gewiß nicht recht?«
Tönset‘n spuckte aus und guckte in den Himmel.
»Schau,« erklärte er verzweifelt, »wir mußten damals die Kreisschaft organisieren, – und da hieß es halt auch Beamte herschaffen – ja. Da beklemmten sie also mich und wählten mich zum Justice of peace Friedensrichter, – was hätte ich dagegen gekonnt ? Ja und einen Pastor gab‘s in ganz Dakota nicht, war einfach nicht aufzutreiben!« Tönset‘n beschrieb mit der Hand einen dramatischen Bogen und starrte in den Himmel.
»Und da mußtest du eben als Pastor fungieren?« fragte der andere mit breitem Lächeln.
»Ja, willst du‘s glauben, so verrückt ging‘s damals zu! – Der Johannes Mörstad und die Jossie, sein Weib, die konnten halt nicht länger warten —, und da setzten sie mir halt zu, – ich sagte anfänglich geradheraus ›nein‹, und dafür habe ich Zeugen, – aber ich war nun einmal Justice, siehst du, und konnte auf die Dauer nicht ablehnen. – Und das ist die böseste Sünde, die einer begehen kann!« flüsterte Tönset‘n.
»Nun, nun,« beschwichtigte der Pastor. »Und du trautest sie also ?«
»Ja siehst du, ich mußte halt mit den Wölfen heulen! – Kannst du sie nicht noch einmal ordentlich trauen?« bettelte der Mann.
Da lachte der Pastor, daß es gluckste; das Lachen überrieselte den alten Bauern vor ihm wie ein angenehm laues Brausebad; und er schöpfte jetzt sogar Mut, dem Pastor ins Gesicht zu sehen. Er spuckte ungeheuerlich und schneuzte sich fürchterlich und konnte sich an dem freundlichen Gesicht vor ihm gar nicht sattsehen.
»Ist das denn schon lange her?« fragte jetzt das freundliche Gesicht.
»Im Herbst sind‘s vier Jahre. – Es geschah sogar am dreizehnten Sonntag nach Trinitatis, wenn ich mich präzis ausdrücken soll, – ich machte mir im Gesangbuch ein Zeichen.«
»Du tatest alles, wie das Gesetz es vorschreibt?«
»Meiner Treu, freilich! – Nja – das heißt: ich bin ja nur ein einfacher Mann!«
»Sind Kinder vorhanden?«
»Kinder? Du fragst auch noch! – Drei Stück, verstehst du, drei, darnach also zu urteilen, fehlt nicht gar zuviel daran, daß es seinerzeit richtig gemacht worden ist!« rief Tönset‘n treuherzig. »Aber doch mußt du‘s noch einmal tun!«
»Nein,« sagte der Pastor lächelnd, »das bleibt dein Werk, mein guter Mann. Aber sorge dafür, daß sie mir die Kinder bringen. – Und jetzt mach dich auf den Weg!«
»Aber heißt das denn nicht Gott verspotten?« fragte Tönset‘n, von neuen Bedenken geplagt.
Der Pastor wurde ernst: »Doch, gewiß, in geordneten Verhältnissen unbedingt. Aber die gab es hier damals nicht. Und du warst zur Ausübung bestimmter behördlicher Pflichten bestellt. – Als die Kinder Israel in der Wüste wanderten, da gab es zuerst nur den Wüstensand, dann kam das Tabernakel, zuletzt erst der Tempel.«
»Und der Herrgott wird mir vergeben?«
»Gewiß, – das ist wohl kaum deine größte Sünde gewesen!«
Tönset‘n jappte nach Luft, wischte sich die Augen und mußte den Pastor noch einmal gründlich besehen, – ein ausnehmend verständiger Mann war das!
»Und jetzt laufe ich! – Aber daheim darfst du nichts erwähnen; denn – denn – ja, die Kjersti ist halt ein wenig anfällig!«
Und damit machte sich Tönset‘n auf den Weg; er lief von Farm zu Farm, kündigte den Bewohnern an, jetzt hätten sie einen Pastor bekommen! – einen ungemein tüchtigen Mann! Und alle müßten kommen, ihn zu hören. Und je weiter er lief, desto leichter wurde ihm ums Herz und um so erstaunlicher der Pastor; und er vergaß weder das von den Kindern, noch jenes von den Gesangbüchern zu bestellen, fügte vielmehr noch weitere Ermahnungen hinzu; – denn daß er, Syvert Tönset‘n, ein Paar so zusammenzuschweißen verstand, daß es sogar vor dem Herrgott allright war, – ja, das war überaus merkwürdig!
III
Der Pastor stand im vollen Ornat am Fenster. – Der Talar war zwar schon fadenscheinig und von den vielen, weiten Reisen, die er im Mantelsack hatte zurücklegen müssen, ziemlich zerknüllt; auch der Kragen hätte wohl etwas saubrer sein können. Aber dem schenkte niemand Beachtung: denn da stand ein richtiger norwegischer Pastor in Talar und Bäffchen! Und es war gewiß auch zutreffend, was Tönset‘n von ihm gesagt: er war ein merkwürdiger Mann. Das Gesicht trat durch die Amtstracht noch kräftiger hervor, das Grau im Bart und das jugendlich Frische wurden lebendiger.
Der weißbetuchte Tisch war so dicht ans Fenster geschoben, daß der Pastor gerade noch Platz dahinter fand. Zwei selbstgegossene Lichte standen darauf in selbstgefertigten Leuchtern: es waren zwei Äste in vier Zoll Länge quer abgeschnitten; die Borke war weiß überstrichen; von weitem nahmen sich die Leuchter aus wie sinnreiche Kunstgegenstände. Die Lichter brannten noch nicht. Eine Bibel und ein Gesangbuch lagen zwischen ihnen.
Die Zeit der Zusammenkunft war gekommen; die Leute traten bedächtig ein und suchten sich Platz; auf den Betten saßen dicht gedrängt – wie Perlen auf einer Schnur – Frauen, hauptsächlich Mütter mit Kindern, die hinter ihnen hockten oder lagen. Auf der großen Lade drängten sich acht weitere mit ihrem Kroppzeug zusammen; die Lade war etwas von der Wand abgerückt worden, daß man ringsherum sitzen konnte; die sechs Bänke, Per Hansens und Hans Olsens gemeinsamer Bestand, waren brechend voll von Kindern und Frauen, aber auch von älteren Männern, die das lange Stehen nicht vertrugen. – Die Betten standen in der einen Ecke, der Herd in der andern, der Pastor mit dem Tisch in der dritten; in der vierten und in dem Raum, der noch in der Stubenmitte blieb, stand dicht gedrängt Mann an Mann – wie Heringe in einer Tonne. Jeder wollte den Pastor sehen. Aber nicht alle fanden sie Platz; die lehnten draußen an der Hüttenwand oder machten es sich auf dem Erdboden bequem; ihr Schwatzen und Lachen klang als gedämpftes Summen herein.
Die Frauen hatten sich zu der feierlichen Gelegenheit gesäubert und geputzt, auch die meisten Männer; etliche aber kamen geradeswegs von der Arbeit, – mit staubigen und verschwitzten Gesichtern.
»Jetzt müßt ihr still sein, guten Leute, – jetzt fangen wir an!« Er erhob die Stimme: »Und die draußen sind, müssen sich ganz ruhig verhalten!«
Lautlose Stille trat ein in dem vollgepackten Raum; das Atmen stieg und sank in ruhigem Wellenschlag; wie das Raunen eines fernen Meeres ließ es sich vernehmen.
Der Pastor verlas das Kirchengebet, gab an, welches Lied sie gemeinsam singen wollten, und sang selber vor; die Klangwogen kamen nachgespült – die eine jetzt, die andere hinterher; nachdem aber der erste Vers gesungen war, hallte die Stube in kräftigem Chorgesang. Dann kam die Liturgie. Und es wurde überhaupt daraus ein richtiger Gottesdienst, gerade wie in der Kirche daheim!
Als es allmählich recht warm wurde, zogen sich die Männer verstohlen die Jacken aus.
Der Pastor predigte über den Einzug der Kinder Israel in das Land Kanaan; er erinnerte an die Gefahren, die sie überstehen mußten, an die vielen Kämpfe; er erinnerte an das, was ihnen verheißen worden war, wofern sie dem Stamm ihrer Väter Treue hielten, und an die Gebote, die ihnen der Herr zur Richtschnur gegeben. Darauf malte er Israels Geschichte in kräftigen Strichen. Zuerst das Schicksal der zehn Stämme: sie wurden in die Gefangenschaft geführt und vergingen wie Morgentau auf der Widde. Keine Spur, kein Merkzeichen, nicht einmal ein alter Name deutet an, wo sie verblieben. Sei es nicht seltsam, daß ein ganzes Volk sich so spurlos verlieren könne? – Wie anders aber mit dem Volk der zwei Stämme! Auch das wurde gefesselt und in die Sklaverei geschleppt; aber es fühlte sich seiner Herkunft in unabänderlicher Treue verbunden, und Jahwe, der sie sich großgezogen, vergalt ihnen Treue um Treue. Und sie kehrten zurück und errichteten Zions Mauern in neuer Schönheit, – und aus ihrem Schoße erwuchs der Erlöser!
Und jetzt wandte der Pastor das Bild auf seine Zuhörer an: Auch sie seien in ein Kanaan eingewandert; aus dem uralten Wohnsitz ihres Stammes seien sie über das weite Meer in ein fremdes Land gezogen; hier sollten sie von neuem verwurzeln, und ihre Geschlechter in unabsehbare Zeiten hineinwachsen. Wohl hätten sie nicht gegen feindliche Stämme zu kämpfen, aber in anderer Form ständen auch ihnen Kämpfe bevor; denn die Mächte der Finsternis rasteten nimmer: Hier gebe es beschwerliche Reisen zur Stadt; rohes Heidentum umdrohe sie. Und auch der Reichtum halte hier wohl bald seinen Einzug! Die unendlichen Widden lägen vor ihnen in üppiger Fruchtbarkeit, aber auch voll der tiefen Schwermut, die in einem landfremden Gemüt so wunderliche Fäden spinne, zumal bei denen, die der Herr mit einem schweren Sinn begabt hat. Das Fremde, das Kalte, die machtvolle Einsamkeit der riesenhaften Widde, das alles zu bekämpfen, könne auch dem mutigsten Herzen blutsauer fallen.
Der Pastor legte ihnen seine Gedanken dar, wuchs vor ihnen an Größe und Kraft, je mehr er ihnen offenbarte, was sie im geheimen oft gefühlt. Als er aber zu guter Letzt auch noch die Heuschrecken anführte, da vermochte Tönset‘n sich nicht länger zu zügeln; er mußte jetzt seinen Beifall auf irgendeine Weise durchaus zu erkennen geben: schob also mit kräftiger Faust den Rücken des vor ihm Stehenden zurück und spuckte gewaltig aus; schaute sich sodann mit Siegermiene um, als frage er: ›Hab ich‘s euch nicht gesagt: der ist ein ganz unvergleichlicher Pastor!‹
Aber jetzt kam der Pastor auf die Zukunft zu sprechen, und da hatte Tönset‘n für nichts anderes mehr Auge und Ohr.
Verständen sie auch zur Genüge, welche Aufgabe der Herr ihnen mit diesem Lande gestellt habe? Und dankten sie ihm dafür? – Der Pastor sprach mit großer Würde. – Wie wollten sie die grenzenlose Freiheit, die der Herr in seiner Gnade ihnen geschenkt, anwenden? Sie wollten ein neues Reich errichten, – selbst den Grund dazu legen, selbst alles zimmern von Anbeginn an; – waren sie sich der Größe der Aufgabe, die auf ihren Schultern ruhte, und ihrer herrlichen Verantwortung auch bewußt? Der Herr habe ihnen damit eine Möglichkeit gegeben, zu der die Weltgeschichte kein Gegenstück kenne; wahrhaft werde es sich nunmehr erweisen, ob sie von guter Herkunft seien, ob freier Männer Kinder oder zu Sklaven geboren. – Und seien sie dessen nicht froh? – Zwar hätten sie weder eine Gefangenschaft noch ein Sklavenleben im alten Lande hinter sich gelassen – und auch dessen sollten sie dankbarlich gedenken; hier aber ständen sie vor der größten Aufgabe, die Gott der Herr jemals einem Volke gestellt!
Die Rede wurde immer wärmer und farbiger.
»Eine Ähnlichkeit aber zwischen euch und den Kindern Israel ist überzeugend: das Reich, das ihr jetzt gründet, wird ein Werk der Hoffnung werden, und den kommenden Geschlechtern nur in solchem Ausmaß zum Segen gereichen, wie ihr selber in Treuen haltet, was euch in der Kindheit die Altvordern eingeprägt haben. – Denn einen andern Grund kann niemand legen! Und wozu sonst sollen die Menschen wohl ihre Zuflucht nehmen? – Und heute stelle ich, ein geringer Sendbote, euch vor die Frage: wollt ihr handeln wie das Volk der zehn Stämme oder tun wie jene beiden Stämme und dafür niemals ausgelöscht werden, solange Menschen auf Erden leben?«
Der Pastor sprach, ohne die Stimme zu erheben; aber es lag in seinen Worten eine unwiderstehliche Innerlichkeit; seine Augen leuchteten; die Wangen glühten; das jugendlich Kindliche war reife Männlichkeit geworden.
Die Leute hingen ihm am Munde, wenn auch nur wenige die Gedankenleiter, die er vor ihnen aufstellte, erklommen. Sie hörten, er predigte gut, und das genügte ihnen; sie waren von Herzen froh, daß dieser Mann heute vor ihnen stand; und sie fühlten sein ehrliches Wohlwollen. Und alles war so artig und unterhaltsam, und Leben und Betriebsamkeit stand in Aussicht: Der eine dachte daran, daß hier jetzt eine Kirchengemeinde gestiftet werden müsse, ein anderer an den passendsten Ort für die Kirche, ein dritter an den Kirchhof, wo der wohl am besten anzulegen sei; auch behördliche Leute aller Art müßten sie haben – o, sie wollten ihm schon beweisen, daß sie von redlichem Volk abstammten und sich selber zu regieren verständen! – In Tönset‘n jedoch erhoben sich ernste Erwägungen betreffs eines wichtigen Punktes, eines ungemein wichtigen Punktes, und er grübelte darüber nach, wie er sich wohl betreffs dieses Punktes der Hilfe des Pastors vergewissern könne: Wenn sie nämlich jetzt die Kirchengemeinde organisierten, müßten sie natürlich auch einen Küster einsetzen! Wenn er andrerseits aber nun imstande gewesen war, ein Paar so zusammenzuschweißen, daß es nicht wieder aus dem Leim ging, dann glaubte er wohl annehmen zu dürfen, daß er auch befähigt sei, einen ordentlichen Küster abzugeben. – Abwarten!
Im hintersten Herdwinkel saß eine Frau mit einem blassen feingeschnittenen Gesicht, gut versteckt hinter den Köpfen und Rücken der Zuhörer. Als der Pastor zu reden begann, hatte sie sich vorgebeugt, bis sie ihn durch eine Lücke zwischen zwei Köpfen zu sehen bekam. Mit gespannter Aufmerksamkeit folgte sie der Predigt, – anfänglich erstaunt, froh überrascht, darauf ungläubig und zweifelnd. Das Gesicht verschloß sich immer mehr, es bekam etwas Lauerndes; die Lippen formten sich zu Widerspruch, als wollten sie ausdrücken: ›Das darf nicht geschehen! Der betrügt uns – führt uns dahin, wo wir nicht gedeihen können.‹ – Der Mann neben ihr hielt auf dem Schoß ein schönes, blondes Büblein; das hatte feurige blaue Augen; die wanderten umher und lachten schelmisch, wenn sie anderen begegneten; aber bei der einschläfernden Wärme schlossen sie sich bald. – Von Zeit zu Zeit legte der Mann begütigend der Frau die Hand auf die Schulter, als wolle er sie beruhigen; dann lächelte sie zuversichtlicher; sie hatte nicht Zeit, ihn anzusehen, aber das Lächeln besagte: ›Sei unbesorgt, du, der soll mich nicht narren, – denn ich durchschaue ihn – den durchtriebenen Gesellen!‹ —
Als das Lied nach der Predigt gesungen war, sagte der Pastor:
»Jetzt rate ich, daß die, die bisher gesessen haben und sich kräftig genug fühlen zu stehen, mit denen, die bisher gestanden, den Platz wechseln; so erleichtern wir einander gegenseitig unsere Bürde! Laßt es aber mit Ordnung und Anstand geschehen.
Wir wollen jetzt die heilige Taufe vornehmen; ich wünsche dringend, daß alle ihr Erwachsenen dabei zugegen seid und euch dabei eures eigenen heiligen Paktes mit dem Herrn erinnert. – Bringt zunächst die noch nicht getauften Kinder heran; später kommen dann alle, die eine Nottaufe empfangen haben.«
Unruhe und Stimmengewirr waren trotz der Mahnung des Pastors nicht zu vermeiden; man stand auf, sprach leise und schob sich zwischen Rücken durch hinaus; wer die Zeit über draußen gewesen, drängte hinein, denn jetzt wollten sie von der Person des Mannes einen Eindruck haben, nachdem sie bisher bloß seine Stimme gehört hatten. – Sörine brachte Wasser in einer irdenen Schüssel, setzte sie auf den Tisch und legte ein reines Handtuch daneben. Die Täuflinge wurden denen, die sie zur Taufe tragen sollten, auf die Arme gelegt, die Paten standen auf und hielten suchend Umschau. Das Gedränge nahm zu, mehrere mußten hinausgehen.
Nach und nach aber trat doch wieder Stille ein; die Taufhandlung konnte beginnen.
Den Taufchoral wußten die meisten Erwachsenen auswendig, und trotz der drückenden und stickigen Luft in der Gamme erscholl das Lied voller Kraft. – Vierzehn Kinder waren noch nicht getauft; das jüngste erst drei Wochen alt – ein winziges Wichtlein, das süß in der Mutter Armen schlief, – ein Dirnlein schien es zu sein; das älteste vierjährig, – ein kräftiger, dicker, braunhaariger, hungriger Schlingel, der zur allgemeinen Erheiterung laut schwätzte und durchaus herunter und zur Mutter wollte. Die Taufhandlung ging jedoch ruhig und würdig vor sich. Die von Tönset‘n getraute Jossie kam zuletzt an die Reihe, mit allen drei quecksilbrigen Gören. Mit sozusagen väterlichem Stolz ließ der Syvert die Augen auf ihr ruhen und faltete andächtig die Hände, als sie mit dem Kleinsten auf dem Arm vortrat.
Zuletzt kamen drei Kinder, die aus Laienhänden die Nottaufe empfangen hatten, an die Reihe. Die Sörine trat zuerst vor und trug das Kind, das sie selbst zur Welt geholt, zum zweiten Male zur Taufe. Der Bub war auf dem Arm der Patin aufgewacht und richtete zwei blitzende blaue Augen auf den Pastor; laut auflachend fragte er die Patin, was denn das für einer sei mit Bart und langem schwarzem Weiberrock. Die Sörine versuchte ihn zum Schweigen zu bringen. »Der hat ja keine Hosen an!« lachte der Schelm und versteckte sich an ihren Hals. Die in der Nähe Sitzenden mußten sich vorbeugen, um ihre Heiterkeit schicklich zu verbergen.
Als jedoch der Pastor nach des Kindes Namen fragte, die Sörine ihn angab und er laut und deutlich wiederholte: »Peder Sieg, sagtest du?« – da geschah etwas. Aus dem blassen Gesicht hinter dem Herd kam gequältes Stöhnen; die Beret erhob sich, preßte sich gewaltsam durch die Menge, die scheu vor ihr zur Seite wich und sich hinter ihr sogleich wieder schloß. Der Per Hansen wollte ihr eilig nach, konnte sich aber nur mit Mühe durch die Schar zwängen, die sich jetzt vor ihm zusammendrängte, um besser sehen zu können.
Ihre Stimme gellte durch den Raum: »Diese Missetat darf nicht geschehen!« Sie war bereits halbwegs zum Altar; einige versperrten ihr den Weg, andere versuchten sie zu beschwichtigen. »0 laßt mich!« schrie sie. »Diese Sünde darf nicht zugegeben werden, – denn welcher Mensch könnte hier siegen, wo der Gottseibeiuns uns alle samt und sonders holt! – Habt ihr denn alle miteinander keinen Sinn und Verstand mehr!« – Die schneidenden, angstbebenden Worte durchfuhren sie alle mit Grauen; die Männer erhoben sich ratlos; die Weiber verbargen schluchzend ihr Gesicht, die Kinder verkrochen sich; ein Mägdlein auf einem der Betten kreischte entsetzt auf; in der Tür drängten sich Gesichter, die sehen wollten, was es gäbe.
Der Pastor unterbrach die Taufhandlung.
»Bring deine Frau hinaus, Peder Holm! Die Luft hier drin ist für einen kranken Menschen zu stickig, – ich spreche später mit ihr – und ihr andern behaltet eure Ruhe!«
Es dauerte lange, bis die Bewegung sich legte.
Der Per Hansen hatte sich jetzt endlich bis zur Beret durchgezwängt und trug sie auf seinen Armen hinaus; nur mühsam bahnte er sich Weg, während die Beret wie rasend um sich schlug und sich losreißen wollte; der Mund schäumte ihr. »Des Teufels Werk!« murmelte sie durch die zusammengebissenen Zähne. »Jetzt holt er mir mein Knäblein! – Herr hilf uns, wir verderben!« —
Der Gottesdienst währte noch geraume Zeit. Am Schluß kündete der Pastor an, daß er Sonntag in zwei Wochen wieder Kirche zu halten gedenke; dann wolle er zugleich das Abendmahl reichen. »Wir fangen pünktlich um 11 Uhr hier im Hause an.« – Er machte eine Pause und ließ den Blick über die Zuhörer gleiten, und ein müdes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, – er senkte die Stimme: »Und dann wäre es nicht abwegig, wenn ihr Männer euch zuvor ein wenig säubertet; vor dem Herrgott macht es wohl kaum einen Unterschied, ihr selbst aber werdet dann mehr Feierstimmung in euch spüren!«
IV
Nach dem Gottesdienst unterhielten sich die Besucher auf der Hofreite in einzelnen Gruppen leise über den Pastor, vor allem aber voller Mitgefühl über die traurige Begebenheit während der Taufhandlung.
Niemand von den Hausbewohnern ließ sich sehen. Die Leute standen herum und schienen nicht Lust zu haben, sich heimzubegeben.
Eine Anzahl Frauen, die beim Aufräumen nach dem Gottesdienst helfen wollten, waren in der Stube geblieben, unter ihnen Sörine; das Knäblein trug sie noch immer auf dem Arm. Die Frauen waren augenscheinlich ratlos, sprachen leise und gedämpft miteinander und machten sich nicht an ihr Vorhaben.
Der Pastor hatte sich an den Tisch gesetzt, die Hände gefaltet und den Kopf darauf gelegt. So saß er eine Weile. Dann merkte er, daß außer ihm Menschen in der Stube waren; da stand er auf und trat zu den Frauen.
»Ich denke,« riet er milde, »ihr geht jetzt heim; nur die von euch, die diesem Hause am nächsten steht, bleibe hier, um zu helfen; bedarf es größerer Hilfe, schicken wir noch nach einigen von euch. – Laß mich jetzt das prächtige Büblein ein wenig nehmen,« wandte er sich zur Sörine. »Wenn ihr andern aber künftig recht oft herkämet, so glaube ich, wäre das vortrefflich; aber immer nur jede allein. Und fragt sie auch nicht, wie es ihr geht; nehmt es als gegeben, daß alles ist, wie es sein soll. – Das Übel ist wohl nicht schlimmer, als daß es sich mit der Zeit wieder ausgleicht, – davon bin ich fest überzeugt.«
Der Pastor ging mit dem Büblein zu denen vor der Tür, redete ihnen freundlich zu, jeder möge jetzt zu sich heimgehen und sich tagsüber stille verhalten, – denn es sei mit dem Worte Gottes, wie mit der Saat: sie muß im Boden ungestört liegen, soll sie sprießen und Frucht tragen; und legt sich zuviel darüber, vermag sie nicht, sich zum Licht durchzuarbeiten.
»Wir besprechen uns bloß, wie wir eine Kirchengemeinde bilden, siehst du!« Der Mann sah den Pastor erstaunt an, – denn dabei war doch wohl nichts Verkehrtes!
»Auch dazu haben wir später noch einmal Zeit, sollst du sehen.« Der Pastor erhob die Stimme: »Jetzt bitte ich euch hübsch, guten Leute, daß ein jeder heimgeht und still überdenkt, was er gehört hat!«
Der Pastor wandte sich einer andern Gruppe zu, und der Mann aus Sogn mußte sich bescheiden, meinte jedoch, das sei einmal ein seltsamer Pastor, der für eine so wichtige Frage nicht Zeit habe.
Die Leute zerstreuten sich, bald war niemand mehr da. Der Tag begann sich zu neigen. —
Der Pastor erging sich noch lange vor der Hütte; er war noch immer im Ornat; das Büblein tappelte neben ihm her, hielt sich an einer Falte des Talars fest und fand das Spielen mit dem Fremden gar zu kurzweilig.
Dem Pastor schien es plötzlich, als höre er in der neuen Stallgamme Menschenstimmen, – Kinderwimmern ließ sich vernehmen; er nahm das Knäblein auf den Arm, ging hin, schob die Tür auf und trat ein. Die Gamme war fensterlos; es war darin so schummerig, daß er, der aus dem starken Abendlicht hineinsah, die einzelnen Gegenstände nur mit Mühe unterschied. Er empfand jedoch sogleich die Anwesenheit von Menschen, ging weiter hinein und schaute sich um.
Auf einem Heuhaufen saßen sie – der Per Hansen und die Beret; sie hatte ihm das Gesicht zugekehrt, er den einen Arm unter ihren Kopf gelegt, mit dem andern hielt er sie am Gürtel umfaßt; das Gössel lehnte an des Vaters Schulter und hatte ihm die Hände um den Hals geschlungen.
»Gottes Friede sei mit euch!« sagte der Pastor ruhig, als er sie erblickte. »Jetzt sind alle gegangen, und jetzt, Mutter Holm, würde ich mich herzlich freuen, wenn du uns eine schöne Tasse Kaffee brühtest, falls welcher im Hause ist; ich äße gern bei euch zu Abend!«
Beim Laut der Stimme zuckte die Beret zusammen; sie richtete sich auf, strich sich das Haar aus dem Gesicht, sah sich um, voller Staunen; und sie schämte sich, wie ein zart empfindender Mensch, der unversehens andere trifft und sich nicht genug bekleidet fühlt.
»Nein, weshalb sitzen wir bloß hier?« seufzte sie, beugte sich vor und bedeckte die Augen.
»Jetzt will ich aber zu essen haben!« rief das Knäblein und strampelte sich los, kaum daß er die Stimme der Mutter erkannt.
Sie drückte das Kind an sich, vergrub das Gesicht an seinem Halse und küßte es leidenschaftlich.
»Nein Beret, so mäßige dich doch!« ermahnte der Mann; »hüte dich!«
Da warf sie den Kopf in den Nacken, das blasse Gesicht war heiß: »Darf ich nicht einmal mit meinem Kinde zärtlich tun?« Der Pastor kam näher und legte ihr die Hand auf den Kopf: »Ganz recht, Mutter Holm! Hab du ihn nur lieb; – aber vergiß darüber nicht, dem Vater im Himmel für diese köstliche Gabe zu danken! In dem Kinde steckt ein ausnehmend prächtiger Mann, ihr werdet sicherlich viel Freude an ihm erleben.«
Die Beret hatte das Liebkosen gelassen und, über das Kind gebeugt, den Worten des Pastors gelauscht. Jetzt stand sie rasch auf, klopfte sich die Heufasern ab, und wieder hatte der Pastor den Eindruck, als schäme sie sich. Wortlos nahm sie an jede Hand eines der Kinder und ging schnell hinaus.
Der Per Hansen blieb auf dem Heuhaufen sitzen, den Kopf hatte er in die Hand gestützt; Haar und Bart waren struppig und stark angegraut, eines Mächtigen Griffel hatte tiefe Furchen in das Gesicht geschrieben, die ganze Gestalt war aufs grausamste mitgenommen, wie ein Laubbaum, gegen den eine Unwetternacht gewütet hat.
Der Pastor setzte sich mit seiner ganzen Seelsorgermilde zu ihm, um ihn sich aussprechen zu lassen.
»Erzähl mir jetzt alles, – zweie vermögen zu tragen, was einer allein zu heben nicht imstande ist. Erzähle von Anfang an.«
Der Per Hansen starrte ins Heu, sprach leise und abgerissen: »Ich verstehe es selber nicht, siehst du, – ich sehe nur all das Elend, das uns befallen hat. – Bald werde ich sie wohl fortschaffen müssen!« Er seufzte schwer und schwieg.
Der Pastor glaubte allen Kummer der Menschheit vor sich zu sehen und klagen zu hören; und es war so kalt in dem halbdämmerigen Raum. »Du hast gewiß recht – dein Kreuz lastet schwer auf dir!«
Eine lange Pause entstand. »Sie ist doch aber noch nicht ganz gestört?«
»Halb oder ganz, – das macht kaum einen Unterschied, – hat erst die Geige einen Sprung, so ist es aus mit ihr.«
»Das ist wohl richtig.«
Der Per Hansen stierte vor sich hin und fuhr fort: »Ich bin mir übrigens keiner andern Sünde gegen sie bewußt, als daß unser ältester Knabe vor unserer Trauung zur Welt kam; aber an der haben wir nun alle beide teil. Dann nahm ich sie mit her, und daran wird es wohl liegen. – Über das erste grämt sie sich nicht, wie ich glaube, – aber über das andere; und es fällt mir schwer, darin etwas Sündhaftes zu sehen.«
»Ich könnte das aber doch verstehen,« sagte der Pastor sanft.
»Aber soll denn ein Mensch sich nicht an das heranwagen, worin er die Zukunft sieht, bloß weil die Frau wenig Lust dazu verspürt?« Es hörte sich an, als öffne er mit dieser Frage die Tür zu einer jahrelangen Qual seines Herzens; das ausdrucksvolle Gesicht hatte sich dem Pastor zugewandt und bettelte um ein Ja.
»Gewiß soll er das, mein guter Mann!« sagte der Pastor eifrig. »Und doch müssen sie sich darüber einigen.«
»Einigen! Ja! Das redst du so daher! – Wenn nun aber die ganze Uneinigkeit nur darin bestand, daß sie dazu riet, alles um ein Jahr hinauszuschieben? – Selbst nachdem wir hergekommen, hat sie nicht viel dazu geäußert. – Und jetzt gib mir offenen Bescheid,« kam es leise und furchtsam. »Gesetzt den Fall, daß Mann und Frau zu einer Einigkeit nicht kommen können, was soll er dann tun?«
Der Pastor fühlte, wie diese Frage nach einer lindernden und erlösenden Antwort lechzte.
»Der Mann soll Vater und Mutter verlassen und zu seinem Weibe halten, und die beiden sollen ein Fleisch sein, – damit hast du das Gebot des Herrn. Gilt aber das Gebot für den Mann, dann besteht es auch für das Weib zu Recht. – Zwischen euch beiden hat doch aber keine eigentliche Uneinigkeit bestanden?«
Der Per Hansen schüttelte den Kopf; er fand die Worte nur mühsam,: »Ich frage mich bisweilen, ob es außer uns noch zwei Menschen gibt, die so aneinander hängen wie wir, – das hat es nicht besser gemacht; es bleibt immer gleich unmöglich, das Meer vom Erdboden zu heben, ob es im Sturme wogt oder bei Windstille ruht! In dieser nordnorwegischen Redensart birgt sich die Erinnerung an Thors Zug in die Unterwelt, als er auszog, um Freia von den Riesen zu befreien. Unter den Aufgaben, die ihm der Tursonkönig stellt, ist die, eine Katze vom Erdboden zu heben, was Thor nicht gelingt, weil die Katze das Meer ist. Und jetzt will ich von dir, dem Pastor, der die Schrift verstehen gelernt hat, wissen: was soll der Mann tun?« Der Per Hansen umklammerte den Arm des andern.
»Er soll sich vor Gott dem Herrn demütigen, sein Kreuz auf sich nehmen und es in Geduld tragen!« sagte der Pastor mit starker Überzeugung.
»Hm – hm!« lachte Per Hansen bitter; »das ist zu magere Kost für mich, um das Leben damit fristen zu können, – die behalte du nur für dich! Ich frage als ein ungelehrter Mann und bedarf einer Antwort, die ich zu begreifen vermag: tat ich recht oder unrecht, als ich sie herführte? Und was hätte ich sonst tun sollen, derweile ich keinen andern Ausweg vor mir sah?«
»Du handeltest damals gewißlich recht, mein guter Mann, wenn du mir die Wahrheit berichtet hast; ein Mann soll dorthin ziehen, wohin ihm der Sinn steht, wenn der Herr es ihm nicht verbietet. – Damals handeltest du recht; aber seither hast du begonnen, dich in eine große Sünde zu verstricken, glaube ich; du murrst wie einst jene Männer Israels, weil der Herr dich auf Wegen führt, die dir nicht zusagen, – und du nicht dein Kreuz in Demut auf dich nehmen willst.«
»Nein, wahrhaftig,« des Per Hansen Stimme klang hart, »da haben wir hier doch anderes zu tun!« Er schwieg eine Weile; der Pastor überlegte, wie er ihn zurechtsetzen könne; aber als der Per Hansen dann fortfuhr, da war er es, der dem Pastor unwillkürlich eine Lehre erteilte:
»Ich habe oft erfahren, daß es leicht ist, über Dinge zu reden, die man nicht selber durchlebt hat! Oft dachte ich: jetzt kann ich nicht weiter. Kannst du ermessen, was es heißen will, in ständiger Furcht zu schweben, daß die Mutter die Kinder umbringt, und daß es dann obendrein noch deine Schuld ist, daß sie so wurde?«
Der Pastor fand endlich Worte, und sie klangen warm und milde. »Nein, dem Herrn sei Dank, daß er mich davon verschonte!« Er legte Per Hansen den Arm um die Schulter. »Erzähl mir, wie es soweit kommen konnte!«
Per Hansen zauderte, er stand vor einem steilen Berg und konnte ihn nicht erklimmen; er stand auf, trat in die Tür und sah in den Abend hinaus. Der Pastor folgte ihm.
»Es läßt sich über so etwas herzlich wenig reden,« sagte der Per Hansen nach einer Weile. »Es hat ihr niemals in Amerika gefallen. Und jetzt weiß ich, daß es Menschen gibt, die nicht auswandern sollten, – denn sie vermögen sich nicht über das zu freuen, was erst entstehen soll, – daran liegt es, siehst du! – Und dennoch: sie hat es mir nie vorgeworfen. – Es ging übrigens auch leidlich, bis unser letztes Büblein erwartet wurde, – der, den du heute getauft hast. Da bekam sie es damit, daß sie sterben müsse; aber ich verstand das damals nicht, – sie hat nie die Gewohnheit gehabt, Vorwürfe zu machen. Sie hatte damals Entsetzliches auszustehen, und keiner von uns glaubte, daß sie mit dem Leben davonkäme, ebensowenig das Knäblein – und deshalb mußten wir ihn auch gleich taufen. In der unsinnigen Freude, weil alles glücklich überstanden war, verfiel ich darauf, ihm jenen Namen zu geben; – da geriet plötzlich alles miteinander ins Wanken!«
»Jenen Namen?«
» Ja, den zweiten Namen, – das war auch verkehrt von mir, das sehe ich jetzt ein.«
»Nein, aber Mann! – Solch ein schöner Name!«
Der Per Hansen stierte ihn an: »Ist das dein Ernst?«
»Freilich! – Es ist der schönste Name, den ich wohl je einem Kinde verliehen habe, – ›Peder Sieg‹ – das singt ja geradezu frei und hell in alle Welt hinaus!«
»Kannst du mir sagen —, ist das denn wirklich ein Menschenname? Und war es nicht überheblich von mir?« Der Per Hansen wagte noch nicht, sich seiner Freude hinzugeben.
»Mein lieber Mann, auch damit hast du dich gequält?«
»Gequält? Laß uns nicht mehr davon reden! – Und du meinst, der Name sei allright?«
»Ja,« sagte der Pastor mit überzeugender Stärke, »das Ungewöhnliche daran ist nur, daß der Zufall dich eine schönere Form für ihn hat finden lassen, als ich bisher gehört.«
Der Per Hansen kam dicht heran, um das Gesicht des Pastors in dem dunkelnden Abend besser erforschen zu können: »Nein, ist das wirklich wahr? – Das mußt du ihr sogleich erzählen!«
»Das werde ich bestimmt; – sie mag den Namen also nicht ?«
»Nein! Schau – sie meint, der Gottseibeiuns hätte ihn mir eingegeben, um uns nur noch mehr in seine Macht zu bekommen; aber das wurde erst offenbar, als alles für sie aus den Fugen ging. Sie erträgt es nicht, den Namen zu hören, – deshalb bekam sie auch heute nachmittag den Anfall, – ich hatte ihn vorausgeahnt.«
»Aber, ist das möglich! – Wie lange leidet sie schon an diesen Anfällen?«
»Seit der Heuschreckenpest; – sie hat sich freilich immer mit einem schweren Sinn plagen müssen, ja, und auch an Furchtsamkeit gelitten! Kannst du begreifen, daß ein Mensch sich so sehr ängstigen kann, bloß weil das Land so eben ist?«
»Mit der Heuschreckenplage setzte es also ein?«
»Ja, Freund! Ich kam eines Abends von der Arbeit heim und fand einen verwirrten Menschen vor! Sie war überzeugt, der Gottseibeiuns selber habe die Pest geschickt, – und damit hatte sie wohl auch recht; und damals kam es auch über sie, daß sie ihre Mutter vor sich sah, und die war damals doch schon tot!«
»Was sagst du?«
»Ja, Freund, – willst du glauben, daß sie um den Tod der Mutter wußte, ein halbes Jahr, bevor der Brief eintraf?« Das durchlebte Entsetzen drohte ihn zu ersticken.
»Sie hat doch wohl nicht einen Verstorbenen gesehen? Dann müßte sie ja ernstlich geistesgestört sein?«
»Beim wahrhaftigen Gott – sie sprach mit der toten Mutter und sah sie vor sich: eines Nachts im ersten Heuschreckensommer erlebte ich es. Ich hatte gerade die Ernte eingebracht; da wachte ich des Nachts dadurch auf, daß jemand laut sprach. Und da stand sie mitten in der Stube und plauderte mit der Mutter, gerad als sitze die neben ihr. – Das Knäblein trug sie auf den Armen!« – Der Per Hansen schluchzte. – »Es geht nicht an, Mutter, sagte sie; das Knäblein kann mit dem Namen, zu dem Satan den Per verlockt, nicht zu dir kommen! – Genau diese Worte gebrauchte sie. Ich fuhr aus dem Bett und steckte Licht an. Da wußte ich, wie es stand, – bis dahin hatte ich es nicht glauben wollen! – Pastor,« schluchzte der Per Hansen, »weißt du, was die Redensart besagen will: man fühlt, wie einem die Haut den Rücken hinaufkriecht?«
»Wollte sie damals Hand an das Kind legen?«
»Nein!« Der Per Hansen schüttelte den Kopf. »Aber sie hatte die Vorstellung, daß die Mutter ihn zu sich nehmen wolle, – das andere kam späterhin.« – Der Per Hansen faßte sich. – »Es sind jetzt zwei Jahre her, da kamen eines Abends die Heuschrecken in solchen Scharen, daß der Himmel bedeckt war. Wäre nicht die Sörrina, die Nachbarin, zufälligerweise in der Stube gewesen, so ist es ungewiß, was geschehen wäre, – aber die hielt das Kind fest.«
»Ihr armen Menschen!«
»Ja, weiß Gott! – Und so ging es vor sich: Als die Pest wie besessen gegen das Haus peitschte, fiel ihr die Wäsche vom Knäblein ein, die sie draußen auf der Bleiche liegen hatte. Sie lief hinaus, sie zu holen, und wie sie sie aufnimmt, sind nur noch die Zotteln davon übrig. Da befiel sie der Wahnsinn, siehst du. Sie stürzte ins Haus und schrie: Jetzt hat der Böse deine Wäsche geholt, – da ist‘s das beste, daß er dich gleich selber kriegt – denn vorher gibt er doch nicht Ruhe! Ja, das rief sie. Und würgte das Kind!« Der Per Hansen stöhnte. »Was sie sich dabei dachte, ist nicht gut zu sagen. – – Aber, ja, das vergaß ich ja zu erzählen: in der Nacht vorher war die Mutter in der Hütte gewesen; da hatte die Beret so deutlich mit ihr gesprochen, wie ich jetzt mit dir; sie hatte sich angekleidet und der Mutter von allem erzählt, – ja, willst du glauben, daß sie ihr Kaffee kochen wollte? Wir haben‘s doch nicht so ärmlich, sagte sie.«
»Und wie ging es später?« fragte der Pastor gepreßt.
»Ja, schau, ich mußte halt einen Ausweg finden.« Der Per Hansen trocknete sich die Augen. »Und so überredete ich sie denn dazu, der Sörrina das Kind für die Sommermonate zu überlassen.«
»Und sie willigte wirklich ein?«
»Anfänglich wollte sie nichts davon hören; dann aber gab sie sich zufrieden, – und jetzt weiß ich nicht: tat ich recht, oder tat ich unrecht; – es tat ihr gewiß unsäglich weh, daß der Bub wegkam, – ich habe gesehen, wie sie nach ihm suchte, um ihn zu besorgen, und dann war er nicht da. Ja, eines Nachts, als die Pest gekommen war, – ich war halt nicht imstande, jede Nacht zu wachen, – stand sie auf und schlich sich drüben bei den Nachbarn ein; da hat sie das Kind holen wollen. – Ob sie dabei etwas Verkehrtes vorhatte, wird niemand von uns sagen können. Sie erzählte damals der Sörrina und dem Hans Olsen, es seien Fremde von weither heute nacht zu Gast, die müßten das Knäblein sehen, und dabei stehe nichts zu ändern – ja, das sagte sie!«
»Wahrlich, der Herr hat dir Schweres aufgebürdet! Aber die Stunde seines Erbarmens kommt! – Doch erzähle mir jetzt: wie steht es mit ihr in den Zwischenzeiten?«
»Oh, sie kann hin und wieder völlig gesund sein, – monatelang sogar; dann käme einer, der sie nicht genau kennt, kaum darauf, daß etwas mit ihr nicht in Ordnung ist; sie tut ihre Arbeit ungefähr so wie andere. Im tiefen Winter, weißt du, wenn dauernd das Unwetter herrscht und wir lange Zeit keine anderen Menschen sehen, dann kommen die Anfälle, so daß für sie alles gleichsam nicht mehr vorhanden ist; – aber dem schenke ich nicht sonderlich Beachtung; denn so geht es so manchen andern auch, will ich dir sagen!«
»Und was beabsichtigst du für diesen Sommer?«
»Diesen Sommer?« Der Per Hansen hob ein von Entsetzen gepeinigtes Gesicht. »Kommt das Teufelsgezücht auch diesen Sommer über uns; dann weiß ich mir keinen Rat!«
Der Pastor klopfte ihm herzlich auf die Schultern. »Glaube mir, der Herr ist den Seinen immer nahe. Deine Stärke soll sein wie die Zahl deiner Tage. – Laß dir aber von mir einen Rat geben: sei jetzt eine Zeitlang viel um sie: sei wie in jenen süßen Tagen eures ersten Zusammenlebens! Lehre sie verstehen, daß es schön ist und lohnend, Mensch zu sein. Das Büblein aber darfst du ihr unter keinen Umständen nehmen, – überwache sie lieber, so gut du es kannst. – Und heute nacht will ich bei euch rasten; richte es so ein, daß ich morgen eine Weile mit ihr allein bin.« Der Pastor sah nachdenklich vor sich hin. »Vielleicht läßt mich der Herr mit einem glücklichen Wort Klarheit in ihr verdunkeltes Gemüt bringen; denn seine Worte sind lebendiges Leben, und sie vermögen Berge zu versetzen. – Und wenn ich in vierzehn Tagen wiederkomme, gehst du mit ihr zum Abendmahl.«
Der Pastor strich dem schluchzenden Mann leise über den Rücken; der fühlte, wie Segen sich über ihn senkte und vieles löste, was sich in ihm verkrampft hatte. Er hätte noch viel sagen mögen, aber er gewann es nicht über sich.
Sie schwiegen lange miteinander.
»Jetzt wollen wir hier aber nicht länger in der Finsternis von Traurigem reden,« sagte der Pastor schließlich. »Jetzt bedarf unser Leib der Erquickung.«
Sie schritten durch den stillen Prärieabend zur Wohnhütte hinüber, – der Per Hansen so fröhlich gestimmt, daß er dem Pastor leicht seine ganze Ernte versprochen hätte, obwohl doch alles so sehr gut stand! Und alles zusammengerechnet, hatte er hundert Acres eingesät.
V
An dem Abend trug sich nichts Ungewöhnliches zu. Der Per Hansen war mit den beiden ältesten Buben noch aufs Feld gegangen. Der Pastor ging allein voraus in die Gamme und grüßte bei seinem Eintritt »Gottes Frieden!«, legte den Ornat ab und tat ihn in den Reisesack, nahm einen Stuhl und setzte sich. Und jetzt, ohne Talar, erhielt er sogleich ein anderes, schlicht menschliches Aussehen; er war einsilbig und sah aus wie einer, der soeben etwas Schweres überstanden hat und außerordentlich abgespannt ist.
Auf dem gedeckten Tisch stand ein Licht, auf einem kleinen Wandbrett in der Nähe des Ofens ein zweites. Die Sörine half noch immer. Das Gössel spielte in dem einen Bett mit dem Brüderchen, das gewaschen und zur Nacht angezogen war und jetzt schlafen sollte. Die Sörine plauderte beim Arbeiten mit den Kindern, und die lachten dazu.
Die Beret wusch, über den Herd gebeugt, Holzgerät; sie ließ den Pastor nicht aus den Augen. Und dann tat sie etwas, worüber sie sich nachträglich selber wunderte; sie trocknete sich die Hände, holte eine reine Schale aus dem Schrank neben dem Herd, goß sie voll frischgemolkener Milch und brachte sie dem Pastor:
»Hier hast du etwas, dich während des Wartens zu erfrischen.«
Der Pastor nahm die Schale, ohne aufzusehen, trank sie leer und setzte sie dankend auf den Tisch.
Die Beret war sogleich wegen ihres Tuns schüchtern und unruhig geworden; sie suchte sich ihre Näharbeit hervor – ein Hemd für das Knäblein —, und setzte sich damit abgewandten Gesichts unter das Licht beim Herd.
Der Per Hansen kam jetzt mit den beiden ältesten Söhnen herein, und die Sörine lud die Männer zu Tisch. Alle vier setzten sich und griffen zu. Dem Pastor ging das vorhin Durchlebte immer noch nach, und das Essen wollte nicht munden; er bat um noch eine Tasse Milch und wartete, bis die andern fertig waren. Dann faltete er die Hände auf dem Tisch und fing an zu einem zu beten, den sie nicht sahen.
Er begann so leise, daß der Per Hansen es nicht gleich auffaßte und den Mund schon öffnete, um zu fragen, was der Pastor soeben gesagt habe. Ebenso erging es den andern; der Ole, der noch Leere in sich spürte, langte nach einer weiteren Brotscheibe, und die Sörine kam, um Kaffee nach zuschenken. Aber die Beret fing, über ihre Näharbeit gebeugt, jedes Wort auf; sie tat noch ein paar Stiche, ließ dann die Hände sinken, – und mußte sich umdrehen und ihn ansehen. Das Licht fiel mit rötlichem Schein auf ihn, das Silber seines Bartes erglänzte; das Gesicht glich dem eines guten, lieben Kindes, das müde ist und sich legen will, – die Worte kamen weich und gedämpft. – Er ist doch ein wahrhaft schöner Mann, dachte sie, und lauschte.
Es können im Sommer auf der Prärie finstere Tage kommen; der Regen ist kalt, der Nebel feucht und schwer und dumpf; und dann gegen Abend, gerade wenn der Tag sich die Wolkendecke übers Ohr gezogen hat, schiebt sich plötzlich der Vorhang ein wenig zur Seite; ein großes Fenster tut sich leuchtend auf, klarer und reiner scheint es zu sein denn je; darunter aber und darüber und ringsherum hängt Nacht und Dunkelheit; aber die haben nun alles Grauen verloren. – Das war jetzt die Stimmung in der Hütte.
Der eine und der andere der Erwachsenen faltete unwillkürlich die Hände. – Die kleine Gesellschaft auf dem Bett aber spielte lachend weiter, doch ohne daß es störte. – Dann hörte der Permann den Mann reden, mit dem er vorhin gespielt; das lockte doch gar zu sehr. Er krabbelte in seinem Hemdchen aus dem Bett, kam über den Lehmboden gestapft, legte dem Pastor beide Händchen auf den Schenkel und starrte ihm ins Gesicht. Die es sahen, meinten, das sei unartig und wollten ihm wehren; aber niemand vermochte es: der Per Hansen wollte ihn ermahnen, schwieg aber; die Sörine dachte daran, das Kind fortzuholen, blieb aber sitzen. Ich muß wohl selber gehen! überlegte die Beret, konnte sich aber nicht vom Stuhl rühren. Das Kind war in einen Lichtkreis getreten, in den sich niemand getraute, ihm nachzufolgen. – Ohne sein Gebet zu unterbrechen, nahm der Pastor das Kind aufs Knie, faltete ihm die Händchen und umschloß sie mit den seinen. – Das ist doch zu verkehrt! dachte die Beret und wollte aufstehen. Aber es wollte nicht gehen: der, mit dem der Pastor sprach, war jetzt so nahe.
Die Worte fielen leise wie milder Regen an einem Sommerabend. Der Pastor hatte mit dem andern viel zu bereden, und es war, als widerspreche der andere und wolle nicht tun, worum er gebeten wurde; da sprach der Pastor um so inniger, aber ohne die Stimme zu erheben – nur, daß er sich nicht zufrieden gab.
– Endlich kam er auf das Knäblein auf seinem Schoß zu sprechen, den er heute mit dem Kreuze gesegnet. Und es war so wunderlich, ihm dabei zuzuhören. Es war schwer zu sagen, ob er mit dem Buben sprach oder mit dem anderen: es hörte sich so an, als spreche er zu allen beiden. Und er legte dem Kinde die Hand auf den Scheitel; die Augen schlossen sich, während die Worte strömten:
»Hebe ihn auf,« sagte der Pastor, »wie du es einst in alter Zeit getan! Hebe ihn auf und heilige ihn zu einem wahrhaften Nazaräer! Laß ihn seinen schönen Namen wahr machen und zu einem Siege werden für sich und sein Volk. Und lasse deinen holden Frieden über dieser Hütte ruhen, amen!«
Der Pastor blieb mit geschlossenen Augen sitzen, die Hand auf dem Kopf des Kleinen; die andern schwiegen weiter. Die Beret zitterte, fühlte den Hals beengt und mußte husten. Sie warf einen Blick auf die Näharbeit in ihrem Schoß. Das habe ich gewiß verkehrt genäht, dachte sie, sah noch einmal genauer hin, erhob sich, holte die Schere und trennte auf. Der Pastor fing an, mit dem Kleinen zu spielen, und beide waren sogleich eitel Fröhlichkeit. – Den Großen hatte er nichts mehr zu sagen, und sie meinten auch, sie sollten ihn nicht stören. —
Am nächsten Morgen beim Frühmahl war der Pastor jedoch wieder munter und gesprächig und nahm von dem Gebotenen, daß es eine Freude war zuzusehen. Dabei unterrichtete er sich eingehend über die örtlichen Verhältnisse und bewies ein solches Verständnis für die Landwirtschaft, daß der Per Hansen fragen mußte, ob er denn Farmer gewesen sei.
Er vergaß jedoch nicht, worum ihn der Pastor gestern abend gebeten hatte, ging nach dem Essen hinaus und nahm die Buben mit.
Die Beret wurde sogleich unruhig, sie suchte sich eilig ihre Näharbeit vor und setzte sich mit ihr hin. – Der Pastor konnte an ihr nichts anderes Ungewöhnliches entdecken, als daß ihre Züge so merkwürdig kindlich waren; das lag wohl vor allem daran, daß die Augen einem stets scheu auswichen, und auch in ihrem ganzen, schüchternen Wesen. Es gelang ihm nicht, sie zum Plaudern zu bewegen.
Er stand auf und trat auf sie zu: »Und jetzt, Mrs. Holm, habe ich ein Begehren: In zwei Wochen vom nächsten Sonntag gerechnet, komme ich wieder und halte in deinem Hause Abendmahlsgottesdienst!«
Die Mitteilung setzte sie so sehr in Erstaunen, daß sie sich vergaß und ihm gerade ins Gesicht blickte —:
»Hier in der Gamme?«
»Gewiß, hier bei dir in der Gamme. – Glaubst du nicht, daß du Segen verspüren wirst, wenn du deine Sünde vor den Herrn bringen kannst?« fragte er freundlich.
»Hier ? – Das geht doch wohl nicht an; hier ist‘s zu unsauber und schmutzig, und – und gar zu —.« Sie unterbrach sich jäh, wurde brennend rot und schlug die Augen nieder.
»Hier wohnt viel Sünde,« nahm der Pastor das Wort, »dessen bin ich gewiß, aber der Herr wird das Haus für uns heiligen. – Und jetzt bitte ich dich, daß du, bevor ich gehe, mit mir überlegst, wie wir es schön für ihn herrichten.« Der Pastor sah sich in der Stube um. »Den Tisch müssen wir hinausstellen, dann wird mehr Platz; – die Lade könnten wir vielleicht zum Altartisch nehmen. Wenn jetzt dein Mann noch einen Knieschemel dazu beschaffen wollte, wäre das schön. Wir könnten über Lade und Schemel eine Decke legen. Wir wollen auch die Nachbarin hinzuziehen!« Der Pastor bestimmte über alles, als sei das Ganze abgemacht und lege er die Verantwortung für die richtige Ausführung in ihre Hände.
Sie beobachtete ihn mit brennenden Wangen: »Das ist die Lade vom Vater, – und es ist eine schöne Lade!«
Der Pastor sagte nichts dazu, gab ihr die Hand, bedankte sich für die freundliche Aufnahme und ging. – Draußen sah er den Per Hansen kommen, und er ging ihm aus dem Weg; große Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn.
Als die Beret sich gleich darauf daran machte, das Knäblein anzuziehen, kam es ihr in den Sinn, daß sie heute gewiß singen müsse – gewiß, sie müsse singen! Worte und Melodie kamen geflogen; sie fing sie auf und stimmte an; es war der Taufchoral von gestern; die Beret sang alle vier Verse. – Mit dem Kinde jedoch ging sie so behutsam um, als wage sie nicht, es anzurühren. —
VI
Es wurde diesen Sommer und Herbst bei Spring Creek viel gebaut. Der Hans Olsen hatte sich schon vor dem ersten Besuch des Pastors Zimmerholz für Wohnhaus und Stall geholt und baute emsig. Er hatte sich auf Rinderzucht gelegt und die größte Herde der Gegend. Tönset‘n war, seit er für seine ungeheuerliche Missetat Sündenvergebung erhalten und überdies so begründete Hoffnung auf den Posten eines Küsters nährte, so hochgestimmt, daß auch er Lust bekam, sich ein ansehnliches Haus zu zimmern. Aber er blieb trotzdem in der Gamme sitzen; denn die Kjersti war widerspenstig; sie hätten es gut genug, meinte sie, und es sei auch niemand da, für den sie hätten bauen sollen. – Das ließ sie sich aber doch nicht öfter entschlüpfen; denn der Syvert hatte bös geknurrt und sie eine alte Weimertrine gescholten.
Im Herbst setzte sich der Henry Solum einen mächtigen Stall hin; er sah, daß der Hans Olsen es verständig angefangen, und wollte dessen Beispiel folgen; mit dem Wohnhaus mochte es einstweilen sein Bewenden haben, bis er die fand, die es ihm wohnlich machte. Und im Sommer werde es wohl soweit sein, wenn alles mit rechten Dingen zugehe! – Auch auf dem östlichen Bachufer reckten sich Häuser neben Erdhütten auf. Bei den Iren an den westlichen Sümpfen kam alles erst im Jahre darauf ordentlich in Gang. Die Heuschreckenpest hatte bei ihnen schlimmer gewütet als bei den andern, weil das Land tiefer lag. – Und die Iren verfuhren auch mit einer gewissen Vorsicht. Wie eins ihrer Sprichworte besagt, bringt ein guter Stall wohl das Geld zu einem guten Wohnhaus ein; noch nie aber habe ein schönes Wohnhaus einen ordentlichen Stall eingetragen.
Die Häuser nahmen sich auf der offenen, nackten Widde seltsam aus; ein jeder konnte sehen, daß sie hier nicht beheimatet waren, – es lag in ihnen solch ein Trotz! Dieser Meinung war auch der Sturm, der Winter und Sommer daherfegte und diese Dinger auf seinem Wege fand: er blies sich auf, brüllte und packte zu. Gewiß, ein paar rückte er vom Platz, und bisweilen gelang es ihm auch, eins auf den Kopf zu stellen, ein anderes von Grund auf zu zerstören; wie er aber auch toben und sich zu Wut aufpeitschen mochte, die meisten Häuser blieben doch stehen, und mit den Jahren wurden es immer mehr. – Und die Haine, die sie alle so eilig gepflanzt, die breiteten sich aus und wuchsen mit jedem Sommer stattlicher heran. Nach und nach umgaben und schützten sie die Häuser ringsumher bis auf die Lücke zur Einfahrt zum künftigen großen Gutshof; es gab übrigens auch Leute, die ihre Häuser ganz umwaldeten, um alles, was vom Übel war, fernzuhalten; und diese Häuser sah man erst, wenn man schon mitten im Walde stand. —
VII
Sie bekamen zum Gottesdienst an jenem Sonntag schönes Wetter. Die Heuschreckenpest hatte zwar eingesetzt, aber vorläufig war es nur die Brut aus dem Erdboden; noch waren Luft und Wolken rein. – Heute wehte es aus Südwest; es war angenehm warm; die Luft schmiegte sich ans Gesicht wie ein feiner, leichter Seidenschleier. Die Sonne flimmerte hinter der grünblauen Luft eines hochgewölbten Himmels. Und auf der Prärie hatte heute früh die Wiesenlerche gejubelt; denn Lerchen wie auch Rotkehlchen hatten bereits im zweiten Sommer ihren Weg heraus gefunden.
Zeitig begannen die Leute sich vor Per Hansens Gamme zu versammeln. Die meisten kamen zu Fuß; die Weiterabwohnenden polterten in einem Leiterwagen heran, der, je länger er humpelte, immer voller wurde. Alles war Leben und Munterkeit; es hatte gar nicht den Anschein, als sei man auf dem Weg zur Kirche.
Der alte Aslak Tjöme, des Sam Solum Nachbar, rollte seine Frau in einer Schubkarre an. Sie hatte sich auf dem Glatteise im Frühling die Hüfte gebrochen und konnte noch immer nicht gehen. – »Und das ist schlimm,« sagte der Aslak; »denn ich habe nicht mehr Hilfe in der Wirtschaft, als ich nötig brauche!« Heute wollte er die Frau dem Pastor vorstellen, denn er habe – ja, er hatte also eine ganz leise Hoffnung, daß sie schneller genesen werde, wenn erst die Pfarrershand auf ihr gelegen habe – schaden konnte es jedenfalls nichts! – Ein köstlicher Aufzug waren die beiden! Die Vorüberkommenden lachten und erboten sich, die Frau ein Stück des Weges zu karren. – »O nein, dank‘ schön!« meinte der Aslak. »Jetzt werde ich gut alleine mit ihr fertig, – es ist, Gott bessere es, nicht immer so gewesen!« – Und dann lachte sich das Ehepaar zu, während er stehenblieb, um zu verpusten. – —
Der Pastor war gestern abend gekommen und diesmal bei dem Per Hansen abgestiegen. Sie waren heute zeitig aufgestanden, hatten eilig das Frühmahl genossen und sich sogleich daran gemacht, die Stube herzurichten. Die war bereits gestern gescheuert und geputzt gewesen. Große und kleine Feldblumensträuße hingen unter der Stubendecke und standen überall herum, in Tassen und Töpfen, wo sich irgendein Plätzchen fand; aber es machte den Eindruck, als habe ein Kind das alles im Spielen besorgt. Eine kalte Hand griff dem Pastor ans Herz, als er es sah.
Der Tisch war hinausgeschafft, die große Lade stand schräge vor der einen Ecke, ganz wie er es bestimmt. Der Per Hansen hatte aus vielen Fußbänken einen langen niedrigen Schemel vor der Lade zusammengestellt; zwei von Sörines Decken verhüllten ihn; über die Lade war ein weißleinenes Tuch gebreitet. Der Pastor setzte Kelch und Teller darauf, erbat sich auch wieder die Leuchter, versah sie mit Lichten und stellte sie daneben. Der Herd wurde mit einem andern Tuch verhangen. Gestern abend hatten die Buben einen ganzen Zuber voll Weidenlaub gezupft; den brachten sie jetzt herein und bestreuten den Boden mit Grün.
Der Pastor hielt Umschau: Es war hübsch hier drin geworden. Er hatte seit seiner Ankunft noch nicht viel gesprochen. Jetzt sagte er: »Ich gehe in die andere Gamme hinüber und ziehe mich zum Gottesdienst um; ich bleibe dort, bis es Zeit ist anzufangen, und möchte ungern gestört werden.« Und im Hinausgehen setzte er, an seine Wirtsleute gewandt, hinzu: »Gott gebe euch beiden ein fröhliches Abendmahl!«
Der Pastor legte sich in der Gästehütte den Ornat an. Die Lippen bewegten sich; Schweißperlen hingen an den Schläfen. Er setzte sich auf das Bett und stützte den Kopf in die Hand. Er sah jetzt so winzig und armselig aus; die Kraft, die er sich für diese Stunde so innig gewünscht, schien auszubleiben. Als er endlich die Bücher aus dem Reisesack nahm, zitterten ihm die Hände. Das Gesicht war blaß und müde.
Er hätte jetzt seines ganzen Glaubens bedurft, und als er nach ihm griff, faßte er ins Leere. Nein, es war kein Glaube da; er fühlte es selbst. – —
Er erhob sich mühselig und ging hinüber.
Die Wohngamme war gedrängt voll; die Älteren hatten sich vorn ihren Platz gesucht, darunter auch Aslak Tjöme mit der Frau; der Per Hansen saß mit der Beret auf der vordersten Bank vor der großen Lade. Der Pastor sah die beiden, ging hin und sagte ruhig zum Per Hansen:
»Bei Beginn des Abendmahls tretet ihr beiden zuerst vor, und sobald ihr fertig seid, geht ihr hinaus; es wird hier drin zu stickig.« Dann ging er unter den Besuchern herum und trug die Abendmahlsgäste ein; und allmählich wurde es still.
Das Thema der Beichtpredigt war ›die Herrlichkeit des Herrn‹. Es war ihm gekommen, als er das letztemal von hier fortfuhr, und es hatte ihm sogleich sehr gefallen. Vor ihm saßen heute Menschen, die seit Jahr und Tag nicht Gelegenheit gehabt hatten, ihre Sünde vor den Altar zu tragen und ihre Bürde abzustellen; unter ihnen war ein verwirrtes Gemüt, zu dem er sich jetzt Eingang verschaffen mußte. Er hatte voriges Mal deutlich zu erkennen gemeint, daß sie, um zu ruhiger Klarheit zu kommen, vor allem der Freude benötige, der zuverlässigen, ruhigen Freude, die da glaubt, daß das Dasein gut ist, weil der Herr selber es lenkt. – Vielleicht, daß der Herr das Gelingen gab, wofern er jetzt den Glauben aufbrachte!
Er bat die Leute, während der Beichtpredigt sitzenzubleiben und begann.
Nun aber begab es sich an jenem Tage, daß sich, als er anfangen wollte, die rechten Worte nicht einstellten, und die da kamen, waren ohne innere Kraft; er hörte sich reden und glaubte einen Fremden zu vernehmen. Er begriff es nicht: hier stand er vor einer solchen Gemeinde und unter so eigenen Umständen. Und er hatte das herrlichste Thema gefunden, das ein Diener am Worte zu finden vermochte, und war besser vorbereitet, als er sich besann, je zu einer Beichtpredigt vorbereitet gewesen zu sein. Und dann blieben die rechten Worte aus! – – Da wollte er von der Herrlichkeit des Herrn zeugen, und er stammelte wie ein Kind!
– Ich muß mir Zeit lassen, dachte er, dann geht es besser, und das Rechte kommt mir in den Sinn; ich brauche auch nicht so laut zu sprechen, die Leute verstehen mich, wenn ich es ihnen nur einfach und klar vorbringe! —
Und er mühte sich um die Worte und die Bilder; das Gesicht brannte ihm; der Schweiß perlte in großen Tropfen. Aber es half nichts.
Wenn ich mich jetzt nicht zusammennehme, bleibe ich stecken, dachte er; aus diesem Gestottere wird nie und nimmer eine Predigt! – Und er sprach langsam und machte nach jedem Satz eine Pause, so daß es sich wie eine Art Unterhaltung anhörte, wie eine Beweisführung gegen jemanden, mit dem er nicht recht zufrieden war. – Der Pastor, der sich so sehr gefreut hatte, heute an dieser Stelle von des Herrn Herrlichkeit zu zeugen, brachte nichts Besseres fertig, als ein ärmliches Geplauder!
Aber er mußte fortfahren; er hatte die Leute gebeten, sitzenzubleiben; sie erwarteten folglich eine lange Rede, – er konnte doch nicht geradezu Skandal anrichten!
»Des Herrn Herrlichkeit – ja, wie ist es nun mit der? Die ist gewiß zu wunderbar, als daß Menschen sie in Worte fassen könnten.« – Ist der Gedanke etwa der Rede wert? dachte er, sobald ihm die Worte aus dem Munde waren, – das ist ja bloß ein Schwadern um heilige Begriffe! —
Der Pastor begann, alle die seit Wochen sorgfältig zurechtgelegten Beispiele aus der Bibel herzuzählen, die alle die wunderbar erhabene Herrlichkeit des Herrn erweisen sollten:
Adam und Eva im Paradiese. – Und Abraham und Sarah, als sie die Verheißung sich auf so merkwürdige Weise erfüllen sahen. – Jakob, der mit dem Herrn rang wie ein Mann mit dem andern. – Und der Mann Gottes auf dem Sinai, als er von Angesicht zu Angesicht mit dem Gewaltigen Zwiesprache hielt. Und Jonas und alle die andern.
Der Pastor schleppte sich durch das ganze Alte Testament und arbeitete sich noch weit in das Neue hinein. – Was habe wohl die Jüngerschar erfahren, als sie mit ihm zu Tische saß und er selber das Brot brach und den Kelch reichte? —
Der Pastor machte eine Pause und trocknete sich die Stirn. Mit jedem Bilde war es ihm klarer geworden: die Leute da vor dir, das sind Menschen aus Sogn und Voss; der Bauer und die Bäuerin hier im Hause sind Fischerwirte aus Nordland! Niemals im Leben begreifen diese Menschen etwas von jenem fremden Volk, das vor langen, langen Zeiten in einem fernen Lande gelebt hat! Das nicht die mindeste Ahnung von den Bedrängnissen hier in Dakota Territory gehabt hat! – Er hätte seine Not hinausschreien mögen: er, ein erfahrener alter Priester, hatte sich jetzt bereits durch die ganze Bibel durchgepredigt, ohne die Herrlichkeit des Herrn zu finden! – – – Das geht um alles in der Welt nicht an, dachte er, und fuhr dann langsam mit der Predigt fort, wie einer, der im lauten Selbstgespräch nach Gedanken und Ausdruck sucht.
Seine Augen wanderten währenddessen ratlos umher. Sie hefteten sich von ungefähr an eine Fliege, die durch den Raum summte; auf einer Bank in der Nähe saß eine junge Frau mit drei kleinen Kindern, – ein junges, frisches Weib, kräftig und sonnengebräunt, – gewiß jene, die Tönset‘n getraut hatte. Das größte lehnte sich an sie, das zweite hatte das Köpfchen auf ihren Schenkel gelegt; es schlief anscheinend, er sah von ihm nur die Locken; das kleinste hielt sie auf dem Schoß. Es war lange unruhig gewesen; da hatte die Mutter aufgeknöpft und es an die Brust gelegt. Die Fliege summte, beschrieb plötzlich einen entschlossenen Bogen und setzte sich dem trinkenden Säugling auf das Näschen; die Hand der Mutter hob sich und verscheuchte sie immer wieder, und immer strich sie dabei so lieb über das Gesichtlein.
Der Pastor konnte das Bild nicht aus den Augen lassen. Da hatte er sich leer geredet von allem Großen und Schönen, was er wußte, und doch nichts Treffendes gefunden. Und jetzt fing er von dem Bilde an, das sich ihm lebendig bot. Ja, das heißt, er sagte nichts von dem braunen, frischen Weib, das da vor ihm auf die Fliege aufpaßte und viel zu beschäftigt war, um ihm zuzuhören – nein, er fing an von Mutter und Kind zu sprechen. Und jetzt tat er, was er noch nie in einer Beichtrede getan – er erzählte eine Geschichte. Und es war eine sentimentale Geschichte, und der Pastor verachtete jede Sentimentalität in Predigten.
Einst sei eine norwegische Frau nach Neuyork gekommen. Neun Kinder habe sie mitgehabt. Neuyork sei eine große Stadt; und es sei für eine Frau mit neun Kindern keineswegs einfach, sich da durchzufinden, – zumal für eine Fremde, die der Sprache nicht mächtig ist. »Als nun die Frau in das Gewimmel und den Riesenverkehr hineingerät, bekommt es die Arme mit der Angst. Aber sie ist darauf vorbereitet, daß einer Mutter mit neun Kindern so mancherlei zustoßen kann. Um ihren Gürtel hat sie sich ein langes Seil gewickelt; das rollt sie jetzt ab, seilt alle neun Kinder gut an und bindet sich selbst das eine Ende um den Gürtel. Solcherart begibt sich Kari jetzt auf die Wanderung durch die Straßen der Großstadt, bis sie sich unter vielerlei Unbill und großem Gelächter der Zuschauer zu guter Letzt doch zurechtfindet, wohlbehalten mit allen neun Kindern! – Das also vermag die Mutterliebe!«
Die Sprechweise des Pastors war schlichter geworden, hatte mehr Herzenseinfalt bekommen; sie wurde zu einem Plaudern über Dinge des Werktags – fand er selber. Die Leute folgten ihm aufmerksam; die Frau vor ihm hörte auf, die Fliege zu verscheuchen; er hätte sie am liebsten gebeten, doch nur ja damit fortzufahren. Denn jetzt stand die Erinnerung an seine eigene Mutter so klar vor ihm, wie sie sich als Pionierin erst in Illinois, später in Minnesota abgerackert und geschunden hatte. Er war bewegt, die Worte kamen leichter, und schließlich strömten sie ihm zu ohne Spur von Mühe.
»Wenn aber schon zwischen einem armen Pionierweib und einem ganz gewöhnlichen Kinde ein so inniges Verhältnis bestehen kann, wie muß dann erst das vollkommene Verhältnis sein zwischen den Menschenkindern und ihm, der Quelle aller Liebe und alles Waltens für jegliches Leben? Die Zuneigung zwischen Mutter und Kind ist zwar nur ein matter Abglanz; aber sie ist doch, trotz allem, was sich als irdische Hülle um sie gelegt haben mag, Odem von seinem Odem!
Wenn nicht ihr Mütter des Herrn Herrlichkeit gesehen habt, dann gibt es keinen Pastor, der sie euch zu zeigen vermöchte! – Tretet jetzt zum Altar des Herrn und kostet seine Güte! Kommt mit allem Gram und aller Sünde! Tragt alle Sorgen und Kümmernisse heran! Die ewige Liebe ist selber zugegen. Er ist bereit, eure Bürde auf sich zu nehmen, wie die Mutter das Kind an ihrer Brust behütet. – Kommt und sehet die Herrlichkeit des Herrn!« —
Der Pastor schloß, sah auf die Uhr und runzelte die Brauen. Was war denn das? Nach der Uhr hätte er fünf Viertelstunden lang gesprochen? Nicht möglich!
Die Leute kamen und knieten vor des Per Hansens großer Lade nieder und erhielten eine Zusicherung, so gut, daß man sie kaum glauben wollte, die man aber willig hinnahm, und sie lieh den Augen Glanz.
Der Sündenerlaß beanspruchte viel Zeit; der Pastor sah wieder auf die Uhr, und sein Sinn ward bitter: Nicht nur die Beichtrede hatte er verdorben, sondern jetzt säumte er obendrein so lange, daß er hinterher nicht mehr predigen konnte! —
Er ließ an dem Tage die Predigt ausfallen und schloß mit einer angelegentlichen Ermahnung an die Abendmahlsgäste, sich heimzubegeben und den Rest des Tages still zu verbringen. Sie sollten sich heute nicht mehr mit Plaudern vor der Kirchtür aufhalten! In vier Wochen komme er wieder, und dann beabsichtige er die Frage einer Kirchengemeinde mit ihnen zu überlegen. —
Der Pastor blieb nicht zu Tisch; er trank einen Napf Milch, setzte sich in den Cart und fuhr seines Weges.
Der Cart humpelte, der Gaul trottete, der Pastor saß in tiefster Betrübnis. – So schlecht habe ich gewiß noch nie meines Amtes gewaltet! dachte er.
VIII
Es regnete am Montag, es regnete am Dienstag; aber doch nicht schlimmer, als daß der Hans Olsen am Bau arbeiten konnte; er hatte jetzt zwei Tischler zur Hilfe, und das Werk schritt rüstig vorwärts. Der Tag sei schon vorbei, ehe er noch recht begonnen, meinte der Hans.
Und das war nicht so verwunderlich, denn er brummte vor sich hin vom Frühmahl bis zum Nachtessen; dieses Gebrumm war als Gesang beabsichtigt, nur daß es recht gemächlich vonstatten ging, geradeso wie der Hans sich selber bewegte; aber von der Stelle kamen beide.
Ja, jetzt baute der Hans Olsen, baute ein Haus. Und er sang zur Arbeit. Und es wurde ein hübsches Haus, und größer – weit größer – als er es sich anfangs gedacht; das Haus bekam eine große Küche, Eßstube wie auch Wohnstube und fünf Schlafzimmer, drei oben und zwei unten!
Wegen der unteren Schlafzimmer war es zwischen ihm und der Sörine zu einigem Akkordieren gekommen, nicht etwa gerade zu Unstimmigkeiten, aber – sie hatten also unter vier Augen darüber gesprochen. Es war nicht des Hans Olsens Art zu schimpfen, und die Sörine sah ohnehin immer freundlich aus, selbst bei der schlimmsten Verärgerung; von einer ausgesprochenen Uneinigkeit konnte hier also nicht die Rede sein. Aber – sie hatte auf dem Ihren bestanden, nämlich, daß unten ebenfalls ein Schlafzimmer vorhanden sein müsse, ohne Rücksicht darauf, wieviel sie oben bekämen. Und alldieweil er aus diesem Grunde dadurch genötigt war, unten einen Anbau zu machen und sie bereits drei solche Zimmer im Obergeschoß hatten, war ihm das als pure Verschwendung erschienen. Und sie war doch sonst keineswegs verschwenderisch – nein, gar nicht! – und darum hatte er versuchen müssen, sie davon abzubringen.
Aber es war ihm halt nicht gelungen. Und da hatte er denn nachgegeben. Und wenn er nun schon doch den Anbau machen müsse, so, meinte er, könne er gerade so gut gleich quer über das ganze Haus bauen! So also ging es zu, daß unten als Draufgabe gleich zwei Zimmer mehr entstanden. Das war überaus unklug, gewiß, – aber getan ist getan, und jetzt stand das ganze Haus unter Dach.
Der Hans Olsen war immer der Meinung gewesen, er habe eine gute Frau bekommen, und gerade jetzt gab es nichts, was er nicht gern für sie getan hätte. Seit diesem Frühling trug sie ein Kind, und er fühlte es in sich: diesmal wurde es ein Bub. Seit dem Augenblick, daß sie es ihm anvertraut, war er in einer Freude herumgelaufen, die ihm schier den Atem beklemmte. – Wäre nicht das mit ihr eingetroffen, wäre wohl auch dies Jahr nichts aus dem Bauen geworden. Auf die Fahrt aber sollte sie nicht in der alten Gamme! Das war sein erster Entschluß gewesen, als er wieder recht zur Besinnung kam. Und wenn ihr nun soviel darum zu tun war, unten das Zimmer zu bekommen, dann sollte sie es auch haben, – so sinnlos es freilich war!
Der Hans Olsen sah jetzt jeden Tag, wie sich alles so gut für ihn fügte, und darum war er so fröhlich. Die Herde vermehrte sich mit jedem Jahr; er legte dauernd neuen Acker unter den Pflug; auch mit der Heuschreckenpest nehme es gewiß einmal ein Ende, – das sagten wenigstens alle vernünftigen Menschen. Hier rundum, wo im ersten Jahr nicht ein Mensch zu erblicken gewesen, wuchsen jetzt große Dorfschaften auf; guter Boden war das, und Sonne und Feuchtigkeit reichten aus. Und jetzt baute er einen Gutshof für den, der unterwegs war! Der Hans Olsen war ein kluger und besonnener Mann, aber er hätte am liebsten noch zwei weitere Zimmer angebaut, bloß um seine Dankbarkeit zu beweisen. —
Er hatte den Pastor letzten Sonntag predigen hören und war mit jedem Satze froher geworden; er war nur ein einfacher Mann und hatte sich um das, von dem der Pastor gesprochen, nicht sonderlich gekümmert. Aber das wußte er: so schön wie in des Per Hansens Gamme am letzten Sonntag während des Gottesdienstes war es in seinem Leben noch nicht gewesen. Mocht‘ nicht viel dran fehlen, daß das schon das große Wunder gewesen war, von dem der Pastor erzählt hatte; er trug das Gefühl noch immer in sich.
Als aber der Per Hansen und die Beret vor der Lade knieten, da hatte der Hans Olsen beide anschauen müssen und dabei seine Gedanken gehabt. Man konnte ihr ja ansehen, wie es um sie stand; und gering war wohl die Hoffnung, daß sich hier etwas ändern werde! O nein, verläßt der Verstand erst den Menschen, dann kommt er gewiß nicht zurück! – Und der Per Hansen war in kurzer Zeit ein ältlicher Mann geworden. Jetzt erst begriff der Hans Olsen das Fürchterliche, gegen das der Per Hansen anzukämpfen hatte. Und hätte er in jener Stunde, als er das Paar vor der Lade knien sah, seinem alten Nachbar etwas von seinem eigenen Glück abzugeben vermocht, er hätte es ihm willig dargeboten.
Nach der Heimkehr vom Gottesdienst hatte er lange überlegt, – aber doch noch nicht sogleich mit der Frau davon sprechen wollen; – er wollte sich erst eine Weile bedenken. – Aber am Montag abend sprach er mit der Sörine.
Sollten sie sich nicht erbieten, das Kind der Nachbarn zu sich zu nehmen, – oder was meinte sie? – Vielleicht werde es ihr zuviel, – nein, er wisse nicht recht? – Aber es sei gar so traurig um die Nachbarin bestellt. Und er erzählte ihr, was er am Sonntag gefühlt. – Was meine sie also: sollten sie das Kind zu sich nehmen?
Die Sörine hatte ihn lachend geneckt, ob er nicht nächstens genug eigene Kinder haben werde. Hatte aber sogleich ernst hinzugesetzt, daß sie schon lange das gleiche gedacht, aber es nicht habe sagen wollen; der Per Hansen wisse, wie gern sie es täten, – hätte er es also gewünscht, wäre er wohl selber gekommen.
Oh, das sei nicht so sicher, – der Per Hansen wisse auch, was jetzt hier im Hause bevorstehe, und der sei nicht einer, der sich den Leuten aufdränge! – Auch sehe er vielleicht nicht selber, wie schlimm es um die Frau stehe? – Und komme auch in diesem Sommer die Pest und breche es wieder bei ihr aus, dann sei der Ausgang ungewiß! – Die es aber mit ansähen, trügen doch wohl auch eine Verantwortung?
Da kam die Sörine mit einem unerwarteten Einwand: »Ich glaube, die Beret nährt Eifersucht gegen mich, weil ich das Knäblein so lieb hab‘.«
Der Hans Olsen dachte eine Weile nach. Das war gewiß nicht ganz ausgeschlossen, und jetzt kam er mit eigenen Bedenken: Wenn sie den Buben wirklich zum Sommer hernähmen, sei es dann auch ausgemacht, daß er hier besser gedeihe als daheim? – Und sei es auch recht gegen die Eltern? – Übrigens, wenn es so schlimm werde, daß der Per Hansen die Beret fortschicken müsse – und es bleibe wohl kein anderer Ausweg —, dann müsse einer das Kind wohl für immer annehmen? – Könnten sie das jetzt noch – werde es nicht zuviel für sie —, nein, er wisse nicht recht?
Für diese letzten Bedenken hatte die Sörine nur ein fröhliches Lachen. Sie wolle es schon übernehmen, auch noch diesem Knäblein Mutter zu sein, käme es darauf an! Doch damit sei der Per Hansen schwerlich einverstanden; der halte von dem Jungen mehr als von einem der andern – wenn sie sich nicht sehr täusche.
Sie sprachen an dem Abend noch lange darüber.
IX
Mittwoch nachmittag trieb leichter Nebel unter der Sonne; Tropfen fielen leise aus den Wolkenfetzen dort oben; ab und zu guckte die Sonne zwischen ihnen durch, um nachzusehen, wie es auf Erden stehe; sie setzte hier und dort einen Regenbogen hin zum Zeichen, daß sie es wohl zufrieden sei. Der Himmel wölbte sich dahinter erhaben und blau; die Luft war still, – es war ein herrliches Wetter!
In der alten Stallgamme, die seit langem vom Per Hansen zu einer Art Werkstätte und Stabbur eingerichtet worden war, nähte die Beret an einem Hemd für den Kleinsten. Die Tür stand offen; sie konnte hinaussehen; sie hatte soeben das Gössel mit Frühstück zu den Buben geschickt, die auf dem Acker die Kartoffeln behäufelten. Der Per Hansen besserte das Dach des neuen Stalles aus; es war im Frühjahrsfrost leck geworden, weil die Weidengerten als Dachsparren nicht stark genug waren. Sie hörte ihn arbeiten.
– Ach ja, er macht seine Sache gut, seufzte sie und sah von der Näharbeit auf, könnte ich doch auch die meine recht besorgen! —
Ihr Gesicht hatte den kindlichen Ausdruck, der auf den Pastor solchen Eindruck gemacht; die Augen träumten sich verloren in etwas hinein, das nicht war, wie es sein sollte, und doch nicht abzuändern stand; ein unnatürliches Glimmen schwelte in ihrer Tiefe.
Sie war ganz ruhig. Auch heute fühlte sie sich recht müde und schlaftrunken wie jeden Tag, seit der merkwürdige Mann die Hand auf sie gelegt und mit seiner sonderbaren Stimme gesagt hatte, jetzt löse er sie aus den Banden des Satans! Es war so eigen, daß einem Menschen solche Macht verliehen werden konnte! Aber er hatte ihr nichts vorgetäuscht, das fühlte sie; denn er hatte ihr Bürde auf Bürde abgenommen, und sie hatte den Druck so sehr schwinden gespürt, daß sie geglaubt hatte, sie steige geradeswegs zum Himmel auf. Seither war die Schlaftrunkenheit über sie gekommen. – Sie konnte es nicht fassen. Sie schlief des Nachts gut, war aber tagsüber noch so schlafbeschwert, daß sie sich nur mit Mühe wach hielt.
Ein herrlicher Mann war er, das war gewißlich wahr! Und wie schön er sie alle zum Singen gebracht hatte! – Sie lächelte bei der Erinnerung: Sollt‘ einer es für möglich halten, daß er sie dazu vermocht, hier in der Gamme genau die Choräle anzustimmen, wie die Leute sie in Norwegen in den Kirchen singen! – Und es schien auch allright gewesen zu sein; denn kein Unheil war um deswillen hinterher eingetroffen. Und noch immer schwebten die Melodien in der Stube – gestern noch hatte sie sie überall hören können; sie hatte eine aufgefangen und hatte sie gesungen, bis der Per Hansen hereingestürzt gekommen war und gefragt hatte, was denn geschehen sei. – Er hatte so seltsame Augen gemacht; er brauchte doch nicht ängstlich zu sein, weil sie sang? —
Und wie sie jetzt daran dachte, tauchten die Strophen eines Chorals in ihr auf; sie lauschte und summte leise mit.
Nein, sie durfte wohl nicht singen! Sie konnte wieder jemanden damit erschrecken, wo doch die Leute hier so schnell in Furcht gerieten. – Diese Handarbeit war übrigens nicht leicht – wie nett er in dem Hemde aussehen werde! Sie hörte ihn doch wohl, wenn er in der Stube aufwachte? Eine kräftige Stimme hatte der Bursch!
Wenn die Mutter erst erfuhr, daß er Pastor werden sollte, würde sie ihn sich wohl nicht mehr ausbitten.
Ein großes Lächeln legte sich über das erwachsene Kindergesicht: Ein Pastor in der Familie, – ich die Mutter eines Pastors, das ist ja ganz wie in der Bibel!
Die Hand legte Stich neben Stich, aber sie zitterte. Die Gedanken kamen ungestümer; die Hand vergaß das Nähen.
Wenn jetzt die Mutter kommt, dachte sie, und jetzt könnte sie gleich da sein, dann will ich ihr das alles erzählen – und dann will ich ihr das sagen: wäre ich in Norwegen geblieben, wärest du niemals die Großmutter eines Pastors geworden – das werde ich ihr sagen, – denn dort geschehen nicht so merkwürdige Dinge. – Aber dann glaubt sie mir vielleicht nicht, was ich ihr erzähle?
Das Gesicht wurde nachdenklich, die Hand ruhte im Schoße.
– Aber dann erzähle ich ihr, daß wir jetzt in unserer Hütte Kirche halten. Und dann wird sie lachend den Kopf schütteln: Ich glaube, da behauptest du mehr, als du verantworten kannst, du Beret! Gerad das wird sie sagen. Und dann antworte ich: Nein, Mutter, das tue ich keineswegs; denn jetzt höre nur, – und dann erzähle ich ihr alles: Wir haben eine Kirche, und darin ist ein Altar mit Lichtern und allem sonst – und der Altar, das ist die große Lade vom Vater! Da wird sie noch mehr erstaunen. Beret, wird sie sagen, du redest soviel dummes Zeug; du mußt deine Zunge besser hüten, mein liebes Kind, – schau, es geht nicht an, über all und jedes daherzuschwätzen! Dann aber zeige ich ihr, wie der Syvert mit der Kjersti und der Hans Olsen mit der Sörrina und alle die andern vor der Lade knieten und einen Brocken von des Herrn Herrlichkeit zugeteilt erhielten. Und den Hans Olsen und die Sörrina, die kennt sie, und denen wird sie glauben. – Ich werde ihr zeigen, wo die Lade gestanden hat. – Laß sehen, ob ich mich noch der Worte erinnere, die er brauchte: Die gnädige Vergebung aller deiner Sünden! Gewiß, er sagte ›aller,‹ das weiß ich noch ganz deutlich!
Sie saß lange Zeit in Gedanken versunken; die Näharbeit ruhte im Schoß, die Hand darauf.
– Die Mutter sitzt auf dem Stuhl beim Herd, wie immer, wenn sie hier ist. Ja, fragt sie, bist du jetzt sicher, daß er Pastor werden wird, Beret? Übereile dich nicht, – du bist stets gar so schnell zu locken gewesen! Darauf werde ich antworten: Ja, Mutter, daran darfst du niemals zweifeln! Denn ich hörte es ja selber, wie jener merkwürdige Mann hier mit dem Herrgott deswegen akkordierte und bekam, was er wollte, – auch der Per Hansen und ebenso die Sörrina haben es gehört – frage sie nur, wenn du mir nicht glaubst!
– Dann sieht die Mutter mich lange an, und dann sagt sie: Ja, verhält es sich so, daß der Herrgott ihn braucht, dann wäre es häßlich von mir, ihn zu beanspruchen, obwohl ich gar gern einen der Deinen bei mir haben möchte, – aber dann hüte ihn mir auch gut, du mein liebes Kind! Das werde ich tun, glaube mir, antworte ich ihr dann; denn er soll ja in die Welt hinaus und den Menschen von des Herrn Herrlichkeit mitteilen!
– Jetzt steht die Mutter auf und will wieder ihres Weges gehen, und dann sage ich: Vergiß auch nicht, den Vater zu grüßen! Und das von seiner Lade mußt du ihm auch erzählen. —
Berets Antlitz wurde lang und nachdenklich.
Plötzlich wurden ihre Gedanken abgelenkt: schwere Schritte gingen über die Hofreite und hielten beim Stall. Jemand sprach und ging hinein; – jetzt hörte sie Per Hansens Stimme.
Die Beret nahm ihre Näharbeit wieder vor.
– Ob sie da wieder etwas von ihm wollen? Es heißt jetzt Per Hansen vorn und Per Hansen hinten, und niemals ist hier Ruhe. Verstehen denn die Leute nicht, daß ich ihn daheim nicht entbehren kann? – Und niemandem kann er nein sagen. – – Das ist gewiß wieder einer, der eine Fuhre von ihm will, und dann bleiben sie solange weg!
Sie nähte eine Weile.
Der hatte aber viel auszurichten, – wer mochte es wohl sein? Die Beret legte die Arbeit hin, ging leise aus der Tür über die Hofreite und zur Stallwand; hier blieb sie stehen: Ach, das war ja der Hans Olsen ! Dann war es nicht gefährlich, der hatte gewiß keine Fuhre mehr nötig.
Sie wollte schon wieder zurückgehen, da aber kam etwas, was sie innehalten ließ, – Worte, langsam von einer tiefen Stimme gesagt:
»Bekommt die Beret einen neuen Anfall, so weißt du, wie der ablaufen kann – es kann ein Unglück geschehen, das niemand von uns je vergessen wird, – wir haben genug von Ähnlichem erlebt. Das Knäblein wollen wir zu uns nehmen und werden es behüten, wie unser eigen Fleisch und Blut; – wir haben viel über das hier gesprochen, ich und die Sörrina.«
Der kindliche Gesichtsausdruck der Beret bedeckte sich plötzlich mit einem eigentümlich lauernden Zug.
Das fing jetzt also wieder an?! – Aber halt: jetzt antwortet der Per Hansen! – Der spricht doch mit so seltsamer Stimme – ist doch wohl nicht wieder erschreckt worden?
»Es ist schön von dir und der Sörrina, – das ist keine Frage; aber es muß so bleiben wie es ist. Es ist nun einmal so, daß sie die Mutter ist, und ich sehe, wie sie an ihm hängt. – Im letzten Frühling wußte ich noch nicht, wie ich mich diesen Sommer verhalten solle; aber jetzt habe ich mich entschlossen, es so bleiben zu lassen, wie es ist. Wird sie schon nicht wieder gesund, wenn wir ihn im Hause haben, so ist das schlechthin ausgeschlossen, wenn ich ihn erst fortbringe, – das glaube ich deutlich zu sehen. – Sie hat ihr Leben für ihn gewagt, und so soll sie ihn auch bei sich behalten, wie es auch gehen mag – ich sehe keinen anderen Ausweg. Das Schicksal, das lenkt uns alle, und es holt uns ein, ob wir auch hierhin oder dorthin entweichen.«
»Ich befürchte nur, du übernimmst dir eine allzu große Verantwortung,« wandte langsam der andere ein. »Du weißt, wie es letztes Jahr beinahe abgelaufen wäre.«
Es kam eine Pause. Das Antlitz der horchenden Frau spannte sich; ein Stock lehnte an der Stallwand, sie bückte sich schnell und packte ihn wild.
»Nein, siehst du,« sagte der Per Hansen, »gerade dessen soll niemand von uns so gewiß sein, obgleich es wohl so ausgesehen haben mag. – Denn es könnte ja doch auch so sein, daß sie es nicht auf die Weise bekommen hätte, wenn sie das Kind bei sich hätte behalten dürfen; – ich habe es wohl gemerkt, wie sie hier mit der Sehnsucht rang, als es fort war. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß vielleicht gerade das die Ursache gewesen ist. Vielleicht ist dadurch die Bürde für sie zu schwer geworden. – Und selbst wenn der Anfall trotzdem gekommen wäre, ist es noch nicht ausgemacht, daß sie dem Kinde etwas zugefügt hätte.«
Die Beret schlürfte die Worte wie ein Labsal; die Spannung legte sich, verging; die Hand ließ den Stock fallen; der Körper richtete sich auf, wurde so rank; und sie schaute um sich, – verwundert —: – Läuteten hoch oben nicht Glocken? —
Jetzt ließen sich die Stimmen im Stall weiter vernehmen.
»Glaubst du das wirklich?« fragte der Hans Olsen ernst.
»Ich will dir eins sagen, Hans Olsen: es gibt bald nichts, was ich von dem hier nicht schon geglaubt, – ich denke über nichts anderes mehr nach. Aber eines weiß ich: einen besseren Menschen als die Beret hat der Herrgott kaum je erschaffen – wenn ich ein so großes Wort aussprechen darf —, denn in ihr findet sich nichts Böses. Jetzt bin ich so weit, zu glauben, daß sie selbst in ihrer Verwirrung mit dem Kinde nichts Schlimmes beabsichtigt hat, wenn es auch für uns so ausgesehen haben mag. – Und schließlich ist das alles samt und sonders doch wohl meine Schuld!«
Herre Gott, wie läuteten heute die Glocken so schön! —
»Denn ich sehe jetzt ein: ich hätte sie nicht hierher locken sollen,« fuhr der Per Hansen traurig fort. »Ja, vielleicht war es sogar von Anfang an verkehrt, daß wir beide zusammenkamen? – Du weißt, wie es in Nordland war: Da hatten wir Boote, die wir auf Lofotfahrt gebrauchten, und die konnten vielerlei aushalten; und dann hatten wir Nachen, mit denen fischten wir daheim; die waren ebenso hübsch und für ihre Bestimmung ebensogut zu gebrauchen wie die andern für die ihre; aber wir konnten sie nicht gegeneinander austauschen. Es geht nicht an, in einem Nachen auf den Lofot zu segeln, – und ebensowenig kannst du mit einem Sechsruderer auf die Heimfischerei. Für dich und mich ist das hier draußen gar keine Sache; andere mögen für das Leben hier nicht taugen und können darum doch bessere Männer sein als wir. Es gibt mancherlei und vielerlei, was wir nicht verstehen.«
»Oh, ich sollte doch wohl die Beret kennen!«
»Das – glaube ich nun, tust du durchaus nicht, – so redlich und tüchtig du auch bist. Ich lebe jetzt seit all den Jahren mit ihr zusammen und muß einräumen, daß ich sie gar noch nicht kenne. – Jetzt erst fange ich an zu begreifen, wie viel und wie sehr sie gelitten hat, seit wir herkamen. – Es ist schon so, wie der Pastor sagt, das Mutterherz ergründet niemand. – Ich wollte nur stets darauflos und vorwärts; denn ich dachte mir eben, daß, was mir Freude macht, wohl auch andern gefallen müsse. Und was ist daraus geworden? Ich wollte ihr einen prächtigen Königshof bauen, und wir sitzen noch immer in der Erdhütte, und alles ist der reine Jammer. – Den Entschluß aber habe ich gefaßt: das Kind soll sie behalten. – Hab im übrigen Dank für dein Anerbieten.«
Tiefer Kummer sprach aus Per Hansens Worten; er war drückender als der graue Herbstabend, der sich bisweilen über die Prärie schleppt.
»Du sollst es uns nicht verübeln,« sagte Hans Olsens schwere, ernste Stimme; »denn wir haben allein Gutes beabsichtigt.«
Da rührte sich die Frau vor der Stallwand und schritt davon, unbewußt. Zwischen leichten Wolken hingen am Südhimmel noch die Streifen eines Regenbogens. Bei seinem Anblick verklärte sich ihr Antlitz.
Allmächtiger! Geschahen Zeichen am Himmel? – Dort droben stand die Herrlichkeit des Herrn! Siehe, der ganze Himmel war von ihr erfüllt ... dort, und auch dort war sie und war allerorten! —
Sie schritt weiter zur Wohngamme; sie wollte schon vorübergehen; da schrie da drin ein Kind aus Leibeskräften.
Sie blieb stehen, strich sich über Gesicht und Haar, trat darauf schnell in die Gamme. Im Bett gegenüber der Tür saß das Kind und schrie, als gehe es ans Leben.
Sie stürzte hin, warf sich darüber, riß den Buben an sich und umfaßte ihn, als hätte sie ein Kind wiedergefunden, das schon unerbittlich verloren gewesen. Sie sang und weinte zugleich leise vor sich hin; Dankbarkeit spülte Welle auf Welle in ihr Bewußtsein.
Der kleine Kerl war so überrascht, daß er plötzlich mucksmäuschenstill schwieg und sich eine Weile ruhig verhielt; dann zappelte er sich los und warf sich aufs Kopfkissen. Den einen Zeigefinger steckte er in den Mund, mit dem andern zeigte er steil in die Höhe, wie Kinder oft tun, wenn sie noch nicht so recht wissen, ob sie maulen sollen oder lieber vergnügt sein. Und dabei war er so unwiderstehlich lustig anzuschauen, daß sie sich danebenlegen mußte. Da strahlte er; der Finger kam aus der Luft herab, um ihr ins Gesicht zu pieken; und dann lachten sie alle beide auf, die Beret aber so laut und ausgelassen, daß er den Finger wieder zurückzog und ein höchst nachdenkliches Gesicht aufsetzte. – Als sie das sah, mäßigte sie sich und fing an, ihn leise zu liebkosen; und jetzt hatte sie ihn bald ganz für sich gewonnen.
X
Als die Beret, das Kind liebkosend, auf dem Kissen lag, befiel sie schwere Schlaftrunkenheit. Das tat so wohl, sie mochte nicht widerstehen. Sie schlummerte ein; ihr war, als werde sie in eine strahlende, von Regenbogen durchwobene Bläue hinaufgetragen; es war warm und weich zugleich, darinnen sprach jemand schön und vernehmlich, und zu guter Letzt umspannte es die ganze Erde. —
Lange konnte es nicht gewährt haben; sie erwachte davon, daß ein Kind neben ihr sie mit einem feuchten Fingerlein ins Augenlid stupfte; sie stützte sich auf den Ellbogen und strich sich übers Gesicht; – es lag noch ein Schleier darüber.
Ich muß arg fest geschlafen haben, dachte sie.
Sie starrte das Kind neben sich an, strich sich wieder über die Augen, ohne zu begreifen.
Aber was treibe ich bloß für Unsinn, das ist ja doch mein kleiner Per!
Sie setzte sich auf, nahm ruhig das Kind und hob es auf den Schoß.
Sie zitterte und berührte ihn so behutsam, wie wenn man dem geliebten Menschen zum ersten Male nahe kommt.
»Jetzt will der Bub aber essen,« maunzte es.
»Ja freilich muß das Männlein jetzt essen!«
Der Bub rangelte sich vom Schoß auf den Boden; sie konnte sich gar nicht satt sehen an ihm, ja, ihr wurde rein angst bei all der Lebendigkeit, die aus dem Wichtlein quoll.
Sie stand jedoch geschwind auf, um dem Kind sein Essen zu holen; sie wollte zum Wandbrett nach der Milchschüssel, mußte aber auf halbem Wege stehenbleiben und sich tief verwundert umschauen: wie merkwürdig hier alles war! – Was mochte wohl geschehen sein? – Das war ja rein, als sei sie Jahr und Tag nicht hier gewesen
Das Kind kam ungeduldig nachgetappelt und zupfte sie am Rock. Sie nahm eine Schüssel Milch herab, – wo war jetzt bloß der Löffel, den sie immer zum Rahmschöpfen benutzte? Und der Rahmnapf? Und gab sie denn dem Kinde nicht immer aus derselben Tasse zu trinken? – Und das Brot? Es mußte doch wohl eine Scheibe Brot in die Milch gebrockt bekommen? Ja, wo war denn bloß das Brot geblieben? —
Die Beret suchte in ihrer eigenen Stube wie eine Hausmutter, die lange fortgewesen ist und inzwischen eine Fremde den Haushalt hat besorgen lassen. Und sie fühlte die Freude des Heimgekehrtseins und erstarkte daran. Hier fand sie das eine, dort das andere, und das Büblein bekam schließlich sein gehöriges Essen.
Jetzt kam ihr etwas in den Sinn, und sie schaute sich wieder um: Wo waren denn aber heute die andern? – Der Per Hansen sollte doch wohl in der Nähe sein, – hatte sie nicht soeben mit ihm gesprochen? Und wo waren die Kinder, – konnte sie sich denn heute auf nichts besinnen? – Sie ärgerte sich über sich; mußte aber doch auch lachen: vor einer kleinen Weile hatte sie noch alle miteinander um sich gehabt, und jetzt konnte sie sich auf gar nichts mehr besinnen? Ja, heute ging sie doch wahrhaftig wie närrisch umher!
– Darüber muß ich mir doch aber klar werden, dachte sie und ging hinaus.
Draußen bot ihr der Nachmittag mit lauer Luft ein freundliches Willkommen; sie atmete tief und empfand es so sehr angenehm. – Die Augen blieben an den Bäumen rings um die Hofreite hängen, und wieder stand sie betroffen —: da dämmerte ja geradezu ein Wald in der Sonne hin? – Ein Stück weiter ab stand auf der Prärie ein halbfertiges Haus. Ja, war denn das des Hans Olsen neues Haus? Wie gut für die Sörrina, bald in einem Hause zu wirtschaften; was man auch sagen mochte: diese Gammen blieben nur ein Notbehelf, – wurden sie erst alt, dann fiel soviel Staub und Schmutz vom Dach.
Aber dort kam einer aus dem Stall, ein mächtiger, etwas vornüber gebeugter Mann; er grüßte sie sanft mit tiefer Stimme und nahm den Weg über die Prärie. Die Beret wäre fast ängstlich geworden: war das nicht der Hans Olsen? Erkannte sie ihre nächsten Nachbarn nicht?
Sie hörte jemanden im Stalle, ging hin und lugte hinein.
»Bist du hier?« fragte sie.
Ein breitschultriger, untersetzter Mann trat ins Tageslicht, mager und mit gefurchtem Gesicht und angegrautem, zerzaustem Bart, in dem Heuhalme hingen.
Sie mußte sich den Mann genauer betrachten, wurde erst ängstlich, mußte dann aber über sich lächeln.
»Kannst du mir sagen, – wie schaust du bloß aus?«
Der Per Hansen blieb stehen, starrte sie an; er klammerte sich an den Pfosten zwischen den zwei Viehständen, um sich zu halten.
Als die Beret das sah, bekam sie es ernstlich mit der Angst; sie trat schnell hinzu.
»Bist du krank?« fragte sie teilnehmend; »du darfst dich nicht so abrackern, wenn du so elend bist; denn so eilt es doch wohl nicht?«
»Nein, nein,« sagte er wie abwesend und wagte nicht, sie anzusehen.
»Jetzt mußt du sofort aufhören, – ich laufe hinein und koche dir etwas!« Sie war so voll Sorge für ihn, daß sie seine Antwort nicht erst abwartete.
Der Per Hansen blieb in der Stalltür stehen und sah ihr nach, wollte hinterher und ihr etwas sagen, wagte es aber nicht. – Ein Spaten lehnte neben der Tür; er nahm ihn und stellte ihn weiter hinein; nein, hierher nicht; und er setzte ihn wieder zurück. – Der Hammer, den er gerade gebraucht hatte, lag auf dem Boden. – Den Hammer darf ich nicht vergessen fortzulegen, sonst wird er in den Boden getrampelt! – Aber er ließ ihn liegen. Er bebte, daß er sich stützen mußte.
– Das weiß ich: so hat sie seit Jahr und Tag nicht ausgesehen. – Er seufzte schwer: Aber das hat wohl nichts weiter zu bedeuten! —
Die Beret schürte sofort das Feuer im Herde; das Männlein saß noch immer am Tisch. »Und jetzt will der Permann aber noch mehr!« krähte es. Aber sie hatte nicht Zeit, sie setzte geschwind einen Kessel über und tat Milch hinein. Er hat sich gewiß bei dem ewigen Regen erkältet, dachte sie, und muß sogleich etwas Warmes in den Leib bekommen! Ich tue tüchtig Pfeffer hinein. Bekäme ich ihn doch dazu, sich ins Bett zu legen und ordentlich zu schwitzen, dann würde ich ihn bald gesund machen, – es pflegt bei ihm nicht lange anzuhalten.
Wie sie die Bettdecke zurückschlug, fiel ihr Blick in den Spiegel beim Kopfende des Bettes; sie mußte einhalten und sich anschauen.
– Ich sehe aber auch aus! Kein Wunder, daß er mich so seltsam anschaute; er, der mich immer so nett und sauber haben möchte!
Während sie auf das Aufkochen der Milch wartete, wusch und kämmte sie sich. Dann holte sie aus der Lade geschwind ihre Sonntagskleider und warf sie sich über und schwätzte dabei mit dem Büblein.
So, jetzt sehe ich doch nicht mehr aus wie eine Vogelscheuche!
Die Milch kochte auf, sie nahm den Kessel vom Feuer und ging, ihn hereinzurufen.
Der Per Hansen trat in seine Hütte ein wie ein Kind, das zu Fremden kommt und sich vor lauter Scheu nicht getraut, die Mütze wegzulegen. Aber der kleine Per saß noch immer am Tisch, und da ging er zu ihm, nahm ihn auf den Schoß und strich ihm übers Haar, – er war nicht imstande, etwas zu sagen, und er wagte auch nicht, sie allzusehr anzuschauen.
Die Beret brachte ihm eine Tasse dampfender Milch.
»Ich habe Pfeffer hineingetan, und jetzt mußt du zusehen, alles so heiß wie möglich in dich hineinzutrinken, und dann legst du dich ins Bett und packst dich gut ein!«
Er tat, wie sie es ihn geheißen, trank eine Tasse nach der andern, sah sie unverwandt an, – sagte kein Wort.
Sie setzte sich neben ihn und erzählte, wie wunderlich es hier heute gewesen sei; sie habe sich eine Weile mit dem Kinde hingelegt, und als sie wieder aufgestanden sei, habe sie sich auf rein gar nichts mehr besinnen können. »Denke dir nur, es war, als hätte ich Jahr und Tag verschlafen!«
Der Per Hansen hörte zu, sah sie an, trank die heiße Milch, bis ihm die Tränen über die Backen liefen.
Derweile plauderte sie mit ruhiger, lieber Stimme, – ganz wie seine alte gottgesegnete Gold-Beret.
Als er aber wirklich durchaus nicht mehr trinken konnte, sagte sie, jetzt müsse er sich sofort hinlegen, – wenn er nur tüchtig schwitze, gehe alles vorüber!
Der Per Hansen fügte sich wie ein artiges Kind; sie wickelte ihn selber fest in die Decke.
»Jetzt sieh zu, daß du eine Weile schläfst; dann spürst du schon, wie es besser wird, – das geht bestimmt vorüber!«
Der Per Hansen kehrte sich zur Wand, weinte still vor sich hin, krampfte die Hände ineinander, mußte sie aber gleich wieder auseinandernehmen, um sich die Augen zu wischen.
Nach geraumer Zeit warf er die Decke ab und setzte sich auf den Bettrand, blieb sitzen und schaute die Beret an; und jetzt ließ er die Augen auf ihr ruhen.
»Aber mein! Stehst du schon auf?« fragte sie erstaunt und forschte in seinem Gesicht; sie verstand sich doch heute auch gar nicht auf ihn.
»Oh, ich muß zusehen, bald mit dem Stall fertig zu werden; wir müssen mit dem Hausbau beginnen, sobald der Hans Olsen so weit ist, daß er mir beim Anfahren helfen kann. – Das war ein ungemein guter Trank, den du mir da zubereitet hast; – hast du noch mehr davon?«
Er schlenderte in der Stube herum; er mußte sich irgendwie Luft schaffen; er faßte das Büblein und schwenkte es zur Hüttendecke hinauf, daß es vor Freude quietschte und jauchzte.
»Es ist doch arg, wie seltsam ihr heut alle seid!« sagte die Beret, brachte die Tasse und stand lächelnd dabei.
Die Riesin trinkt Christenblut und beruhigt sich
I
Die Alten erzählen Seltsames aus den ersten Jahren – jenen Zeiten, da sie das Reich gründeten:
Da war der rote Sohn der Prärie mit seinem heißen Haß gegen das Bleichgesicht. Entsetzen breitete sich vor ihm in den ersten Jahren; er konnte niederschlagen, in Stücke reißen und zerschmettern, – blutig ist die Sage von seinen Fahrten. —
Weit schlimmer jedoch war die Schwermut, mit der die Widde, die Riesin, das Gemüt des Menschen bedrängte; die machte so manchen zum Selbstmörder und füllte eine Anstalt nach der anderen mit verelendeten Geschöpfen, die einst Menschen gewesen waren. Es ist so eigen damit, wenn der Blick Jahr auf Jahr den Horizont umkreist, ohne einen Ruhepunkt zu finden. —
Und dann die Jahre der Heuschreckenplage, – mit vergeblicher Mühsal, mit Hunger und Seuche! – Dabei sei nichts zu tun, meinten die, welche es überstanden; wir alle schulden dem Herrgott einen Tod, das ist klare Rechnung! Ging man dabei nicht drauf, mußte man später von hinnen; das kam auf eins heraus. – Ach ja, Arme erfinden sich vielerlei Trost. Und Whisky war billig in jenen Tagen und leicht zu bekommen! —
Dann die entsetzlichen Stürme, die an warmen Sommertagen plötzlich daherbrausten. In einem einzigen Augenblick zerdrehten sie die Behausung, die der Mensch sich mit Mühen errichtet, zu Spänen, die hinterher wie Zotteln an einem schäbigen Pelz in der Erde steckten.
– Menschenmacht? Nenne sie nicht; das hieße die Allmacht herausfordern! —
Und doch ist es auch wieder so, als hätte in jenen Tagen nichts den Menschen etwas anhaben können. Sie stürzten sich blind in das Unmögliche und leisteten das Undenkliche. Sank jemand dabei um – und das geschah oft – faßte sogleich der nächste zu. Das Menschengeschlecht hatte sich verjüngt. Das Unglaubliche schwebte in der Luft, die Menschen schlürften es ein und liefen wie im Taumel umher, warfen sich weg und lachten dazu. Freilich ging es an – alles ging an; hier gab es nichts Unmögliches mehr! —
Ein solches Übermaß von Glauben und Selbstvertrauen hat der Mensch der Geschichte weder vorher noch später bezeugt.
II
In uralten Zeiten soll es einmal vierzig Tage und vierzig Nächte geregnet haben, und das muß entsetzlich gewesen sein. Aber im Winter 1880/81, da schneite es zweimal vierzig Tage und vierzig Nächte hindurch. —
Der Schnee kam im Herbst, am 15. Oktober, und fiel noch, als schon der Sommermerktag, der 14. April, gewesen war.
Der Schnee flog herbei aus allen vier Ecken der Welt, am schlimmsten aber aus Süden; denn dann fielen die Flocken so groß wie die Semmeln. Ein seltenes Mal kroch die Sonne heraus, sorgte für einen oder zwei klare Tage, die die Schneeschicht tüchtig kneteten und zusammenbuken, damit mehr Platz werde für das, was sogleich hinterher kam. Oft erwachten die Menschen des Morgens in einer faden, qualmigen Luft und lauschten nach dem Wind an den Hausecken. Nein, aber was war denn das? Nur ein sonderbares Dröhnen im Schornstein ließ sich vernehmen. Man sprang aus dem Bett, fuhr in die Kleider, wollte hinaus. Und dann war da einer, der sich mit Kraft und Gewalt gegen die Tür sperrte! Ein zähes Ungeheuer lag davor. Man stieß und schob, stemmte sich gegen den Fußboden und bekam schließlich einen Spalt auf, so daß einer der Männer sich wie ein Wurm hinaus– und hinaufwinden konnte; – endlich stand man auf dem Deckel einer ungeheuren Mehlkiste, aus der es stiemte.
Dann hieß es, sich zu den Hütten hinuntergraben. Man schaufelte Stollen von der Hütte zum Stall, wohl auch von Nachbar zu Nachbar, wenn es nicht gar zu weit war und das Jungvolk sich gern betätigen wollte.
Als das alles im Spätfrühling taute, war dort, wo nichts als plattes Land gewesen war, nur noch Wasser; es war ganz wie zu Noahs Zeiten. Der eine segelte in einem Wagenkasten davon, andere auf einem Haus– oder einem Stalldach; viele gingen drauf, – es fehlte auch die Arche, auf die sie hätten flüchten können. —
Die Not unter den Menschen war groß. Ein Vorrat nach dem andern schwand dahin. Da der Winter so früh gekommen war, glaubten die Leute anfangs nicht so recht an seine Dauer; – Im November fiel nicht sonderlich viel Schnee, aber die Tage waren grau und unfreundlich. Der Dezember brachte mehr Schnee; der Januar tat tüchtig dazu; und im Februar kamen die Winterriesen selber daher. Die Kartoffeln blieben bei den meisten in der Erde; das Korn konnte vielfach nicht ausgedroschen werden; aus der Stadt konnte für den Lebensunterhalt nichts beschafft werden.
In allen Häusern wurde gemahlen. Als nämlich allmählich der Mehlvorrat zu Ende ging, mußte als letzter Ausweg die Kaffeemühle heran. Wer keine Mühle hatte, mußte sich eine leihen, – bisweilen benutzten vier Nachbarfamilien dieselbe Mühle.
Tallaksen bewies aber auch jetzt seinen Zug ins Große: er borgte sich sämtliche Kaffeemühlen der Nachbarschaft zusammen und ließ seinen ganzen Hausstand vier Tage lang von morgens bis abends mahlen. Dann konnte keiner mehr. – Und einer der Tallaksenbuben nahm die Skier, um die Mühle, die sie von Tönset‘n geliehen, wieder zurückzubringen. Am Tage zuvor hatte es getaut, in der Nacht war Frost gekommen; an einigen Stellen trug die neue Kruste schon; zumeist aber brach sie unter dem Fuß ein. Unten am Bach häuften sich die Schneewehen bergehoch. Der Bub fuhr den Abhang hinab, ohne zu bremsen, bekam größeren Schuß, als er berechnet hatte, und fiel kopfüber in eine Wehe. Die Skier sausten nach rechts, die Kaffeemühle nach links; und als der Bub ihr nachkrabbeln wollte, krachte es unter ihm und begrub ihn mitsamt der Mühle. Der Bub buddelte sich heraus und machte sich ans Suchen, trampelte und brach immer wieder ein; aber die Mühle fand er nicht. So blieb ihm denn nichts anderes, als sich mit diesem Bescheid zu Tönset‘ns Gehöft zu begeben.
»Du hast doch wohl nicht etwa die Kaffeemühle weggeschmissen?« fuhr Tönset‘n auf.
Nein, lachte der Bub, akkurat weggeschmissen nicht; und er wisse auch genau, wo sie liege, – er könne sie bloß nicht finden!
»Grinsest du auch noch darüber, du Gimpel!« Tönset‘n ergrimmte so sehr, daß er dem Buben eins hinters Ohr gab; zog sich sofort die Winterjacke an, rannte zu den Nachbarn und kommandierte sie ans Suchen, und dabei ließ er eine Äußerung fallen, die seither im Settlement zum geflügelten Wort geworden ist: »Ganz gleich, ob wir selber krepieren: wenn wir bloß die Mühle finden, – verstanden, Mannsleut!« —
Am schlimmsten aber war doch der Mangel an Brennwerk. Weder Holz noch Kohle war aufzutreiben. In allen Hütten drehten die Leute Heuwische.
Ganze Herden ersoffen im Schnee, verschwanden im ersten Herbststurm und wurden erst wieder gesehen, als im Frühjahr der Schnee schmolz, nachdem sie dort bereits sechs Monate gelegen hatten. Ein grausiger Anblick.
Und ähnlich erging es den Menschen. Die einen kamen auf die gleiche Weise um; andere holte der Husten. Ärztlichen Beistand gab es nicht; nicht einmal die alten Hausmittel standen zur Verfügung, weder Salbe noch Heilkräutertrank. Wo einer starb, wurde er in ein entbehrliches Stück Zeug gehüllt und einstweilen beiseite gestellt.
Im Frühling gab es rings in den Settlements viele Begräbnisse.
III
Hans Olsens zweiter Landquart lag am Oberlauf des Baches und grenzte im Süden an die Solumbuben. Er hatte das ganze Stück umzäunt und hielt dort eine große Herde Jungvieh. Zur Sommerszeit bedurfte sie keiner andern Pflege, als daß ihr ab und zu ein Klumpen Salz hingelegt wurde. Gras war genug vorhanden und Wasser im Bach.
Letztes Jahr hatte er die Rinder hier bis in den Spätherbst hinein gehalten. Dies Jahr hatte er alles entbehrliche Stroh und Heu hingefahren und noch dazugekauft. Im Herbst hatte er aus Stangen und Stroh einen Schuppen errichtet und beabsichtigte, die Herde darin überwintern zu lassen.
Der Winter brach herein, ehe noch der Schuppen fertig war; gleichwohl war es ihm geglückt, das Vieh hier draußen bis in den Februar durchzubringen, und jetzt, so meinte er wie andere auch, sei das schlimmste für dies Jahr überstanden.
Und da stand man erst am Anfang!
Der siebente Februar dämmerte zu einem graukalten Tage herauf. Schneeflocken – groß und zerzaust – kamen aus Westen geflogen. Der Wind wuchs mit dem Tage. Die Flocken fielen dichter, aber kleiner und fester. Um die Mittagszeit waren Himmel und Erde ein einziges Gewühl frosttrockenen Schnees. Der West peitschte sich auf und raste immer grimmiger, blies die Flocken mit solcher Gewalt vor sich her, daß sie an den Wänden der Häuser hängen blieben.
Als am Nachmittag das Wetter immer stärker tobte, mußte der Hans Olsen nach dem Vieh am nördlichen Bachufer sehen. Wäre er nicht so ortskundig gewesen und hätte er nicht verstanden, nach dem Winde Richtung zu nehmen, hätte er sich nimmer hingefunden.
Es sah übel aus bei der Herde. Von der Westwand des Schuppens war die Strohbekleidung großenteils abgeweht. Die Tiere hatten notdürftig Zuflucht in den Stroh– und Heuschobern gefunden. Er sah sofort, daß, falls es ihm nicht gelänge auszubessern und das Vieh unter Dach zu bringen, er morgen erheblich ärmer sein werde.
Das erste, was er tat, war Stroh heranzutragen und zwischen die Stangen zu stopfen, so daß der Schuppen einigen Windschutz bot. Darauf trug er Stroh hinein zur Streu.
Der graue Tag war fast vergangen, bis er das Vieh hineintreiben konnte. Aber es wollte sich nicht treiben lassen. Kaum hatte er ein paar Tiere so weit von dem Schober weg, daß sie das Unwetter zu fühlen bekamen, so machten sie mit gesenkten Köpfen kehrt. So ging das also nicht! Er ließ das Vieh sich lagern und nahm immer nur eines auf einmal, – die größten führte er, die kleinsten aber trug er einfach auf den Armen in den Schuppen. Sie hatten sich mit tiefen Gängen in den Schober hineingewühlt und waren schlecht zu erwischen. Das war schwere Arbeit in dem matschigen Schnee, und der Schweiß lief an ihm in Strömen herunter.
Der späte Abend überraschte ihn, ehe er noch ganz fertig war.
Rundum erhob sich die Nacht voll fegenden Sturmes. Schneegischt trieb sie in gewaltigen Wogen vor sich her, heulte und kreischte dazu.
Er stand in der Schuppentür und war so müde, daß ihm jedes Glied zitterte; er mußte vor dem Anprall des Sturms die Augen schließen. Mechanisch machte er sich auf den Heimweg, – kam ein paar Schritt weit, mußte stehenbleiben und nach Luft schnappen. Da kam ihm in den Sinn, daß er sich bei dieser pechschwarzen Dunkelheit und solchem Gestöber unmöglich heimfinden könne.
Er tastete sich die paar Schritt zurück. Er überlegte nicht viel, aber es stand klar vor ihm, daß er gut dran getan hatte, das Vieh zu bergen. Draußen wären nach dem Unwetter nicht viele mehr am Leben geblieben. Hätten sie jetzt mehr Streu, könnten sie es sogar behaglich haben!
Er hatte noch nicht lange in der Schuppentür gestanden, da fingen leise Schüttelfröste an, ihn zu durchschauern. Er fror nicht eigentlich; nur wollten die Muskeln nicht Ruhe geben; die zogen sich zusammen und lockerten sich wieder, wie Stahlfedern, die plötzlich lebendig geworden sind.
Lege ich mich jetzt zwischen das Vieh, so kann ich die Wärme besser halten, fiel ihm ein. Bald hellt es auf, dann komme ich heim, zur Sörrina und den Kindern. – Sie ist doch hoffentlich vernünftig genug, daß sie nicht die ganze Nacht aufbleibt und auf mich wartet?
Er tastete sich in die dichteste Schar hinein und legte sich mit dem Rücken an einen großen Jungstier; er erkannte ihn, als er ihn beim Kopf faßte, daran, daß ein Horn abgebrochen war. Sein Unterzeug klebte ihm vom Schwitzen am Körper; aber bald machte sich die Wärme vom Ochsen bemerkbar. Vielleicht war alles nicht einmal so schlimm! Jetzt war alles glücklich geborgen, zu Hause alles in Ordnung und überhaupt alles nur gut. – Die Gedanken verschwammen im Nebel.
Nein, er wollte nicht schlafen; – er tat es wohl auch nicht. Er schwebte nur in einer wunderlichen Schlaftrunkenheit, die so wohltuend war nach der wüsten Arbeit. – An seinem Rücken atmete es gleichmäßig und ruhig, – auf und ab ging es, auf und ab, wie die kleinen Wellen an einem Sommertage. – Hätte er vor der Brust nur auch ein Kalb liegen gehabt! Unwillkürlich streckte er die Arme aus, bekam ein Tier zu fassen und erhob sich gerade so weit, daß er es an sich heranziehen konnte. War wohl zu hart mit dem armen Tierlein umgegangen? Er streichelte es und redete ihm freundlich zu. Jetzt hatte er es so gut, wie es bei solchem Wetter nur anging! – Der Hans Olsen kauerte sich zusammen.
Der kalte Luftzug blies und zog unaufhörlich. Es war eine entsetzliche Nacht! Das schlimmste war die Kälte. Durch jeden Spalt stäubte der Schnee; er wurde vom Wind aufgehäufelt, wieder eingeebnet, dann wieder zusammengekehrt, – in endlosem Spiel. —
Der Hans Olsen zuckte zusammen; es hatte ihn etwas in Arm und Bein gestochen. – Waren das nicht überhaupt zwei? Und die gebrauchten beide Hände! Der eine arbeitete sich von den Beinen zum Kopf, der andere von den Ellenbogen auf die Schulterblätter zu. Gerade als die beiden sich getroffen hatten, gab es in ihm jenen Ruck. Er hob sich mit gewaltsamer Anstrengung auf die Knie. Die Schneedecke glitt ab; kalt stiemte es ihm ins Gesicht.
Das war doch merkwürdig! Hatte er die Füße verloren? – Und wo waren die Hände geblieben? – Er stellte sich auf, wollte zur Tür und nach dem Wetter schauen, stolperte aber über Humpel unter dem Schnee. Die Humpel sprangen auf und rannten davon; und jedesmal fuhr ihm kalter Frostrauch ins Gesicht.
Er konnte das nicht verstehen ? Er war doch nicht betrunken ? Aber die Füße wollten ihn nicht tragen! Die eine Hand schien ganz verschwunden zu sein.
So, hier war wenigstens die Wand! Er lehnte sich fest gegen sie.
Die Hand mußte doch abgefroren sein ? – Er hatte den Fäustling von der andern abgestreift, faßte um Finger, die er nicht fühlte, beugte sie und sah, daß sie gebeugt wurden, fühlte aber nichts. Da hieß es unverzüglich etwas tun! Und er ließ sich auf den Boden fallen und fing an, sich mit Schnee zu reiben, – hauchte dazwischen auf die Hand und rieb weiter. Er merkte, jetzt fror er zutiefst in seinen Eingeweiden; aber jetzt war nicht die Zeit, das zu beachten.
– Ja ja, murmelte er, jetzt ist es mit der hier so gut, wie es angeht, jetzt müssen wir sogleich die Füße vornehmen, – gelingt es mir nicht, die heut nacht aufzutauen, dann bin ich für Lebenszeit ein Krüppel! —
Besonnen, wie er alles tat, versuchte er die Stiefel auszuziehen, brachte es aber nicht zuwege. Da trennte er sich mit dem Taschenmesser erst den einen, dann den andern ab und setzte sie gegen die Wand. Die Socken verursachten ihm keine Mühe, die steckte er sich vor die Brust.
Jetzt stand er auf und begann die Wand entlang zu laufen; er stolperte oft, ließ aber nicht nach. Nach einer Weile setzte er sich und rieb die Füße von neuem. – Er rieb lange, – stand auf und lief wieder, – lief in großen Sätzen, hockte sich hin und begann von vorne. Die Gedanken arbeiteten die ganze Zeit über träge, schienen an einem weit entfernten Ort zu verweilen. – Es ist gewiß das klügste, daß ich es vermeide, allzustark zu reiben, – ich habe oft genug selber gesehen, wie leicht sich die Haut von einem erfrorenen Glied ablöst. – Wer jetzt doch bloß kalt Wasser hätte!
Er zog die Strümpfe wieder an und suchte sich die Stiefel. In der einen Ecke hatte er zwei Sparren mit Draht zusammengebunden; er tappte hin, wickelte den Draht ab und schnürte ihn sich um die Stiefelschäfte.
Jetzt stampfte er längs der Wände auf und ab, – schlug die Arme über Kreuz zusammen, sprang auch dazwischen.
Das Stechen hatte zwar nachgelassen, – alles war wohl besser geworden, – übrigens war er keiner Sache mehr sicher. – Das Denken war nicht in ihm; es stand gleichsam außerhalb und glotzte ihn durch das Gestöber an.
– Es ist klar, sagte es weit hinten im Finstern, daß es mit dir vorbei ist, wenn du heute nacht hier bleibst. Den Zaun vom Henry findest du, – du weißt, wo der vom Per Hansen abbiegt, – dann folgst du dem bis dorthin, wo dein eigener beginnt; der führt geradewegs auf deine Stallwand. – Ob du dich hier oder da draußen für immer hinlegst, macht keinen Unterschied. – »Ja, ja,« murmelte er müde. »Das könnt‘ schon stimmen!«
Er zwängte sich zum Schuppen hinaus und kroch im Sturm davon.
IV
In jener Nacht holte sich der Hans Olsen den Todesstoß. Er taumelte bei Morgengrauen in seine Hütte und war so erschöpft, daß er sich nicht selber auszuziehen vermochte. – Die Sörine war die ganze Nacht aufgeblieben und hatte sich vor Qual und Besorgnis nicht zu lassen gewußt. Ein paarmal war sie hinausgegangen mit dem Vorsatz, sich zum Per Hansen durchzutrotzen und Hilfe zu holen, hatte aber jedesmal davon abstehen müssen. Sie stellte ein brennendes Licht ins Fenster, schürte das Feuer im Herd und versuchte ihr immer fröhliches Herz an den Gedanken zu gewöhnen, daß jetzt das Unglück hereingebrochen sei.
Kaum hatte sie ihn wieder daheim, so pflegte sie ihn auf jede Weise. Sie ließ ihn eine Schale kochender Milch mit spanischem Pfeffer nach der andern trinken, brachte ihn zu Bett und packte ihn sorglich ein. Aber der Frost schüttelte ihn trotzdem so sehr, daß er bebte und nicht stillzuliegen vermochte!
Im Laufe des Tages stellte sich der Husten ein. Es war ein trockener Husten, der auf den Grund ging und wie gegen Eisen schabte und scharrte. – In der nächsten Nacht phantasierte er zeitweilig, wollte hinaus und nach dem Vieh sehen. Die Sörine hatte einen schweren Stand mit ihm. – Wenn der Husten am schlimmsten über den eisenharten Boden scharrte, kratzte er Rostflecken los, – das stieg dann in den Hals und drohte ihn zu ersticken. —
Es wurde wieder Tag nach einer kummervollen Nacht, und da kam er zu klarem Bewußtsein. Wenn ihm der Husten Ruhe ließ, sprach er gefaßt mit der Frau und gab ihr Ratschläge, wie sie und die Tochter sich mit der Arbeit einrichten müßten. Es sei doch zu bös, daß sie bei solchem Wetter allein alles schaffen sollten. Und als sie hinausgegangen waren, versuchte er sich auf die Beine zu stellen und sich anzuziehen. Aber der Schüttelfrost packte ihn sogleich. —
Zwei volle Tage wütete der Sturm. – Am Vormittag des dritten Tages begann das Schneetreiben sich in sich selber zu verkriechen, vergaß jedoch die Luft hinter sich sauber zu fegen; der Wind ließ nach; aber die Kälte biß noch immer ebenso grimmig.
Sobald der Hans Olsen den Witterungsumschlag bemerkte, bat er die Tochter, die Skier zu nehmen und den Per Hansen zu holen. »Das geht so nicht weiter,« sagte er zur Frau. »Jetzt bist du schon den dritten Tag nicht aus den Kleidern gewesen; mit mir kann es noch lange dauern.« Er wollte noch etwas hinzusetzen, aber der Husten nahm es mit.
Der Per Hansen drehte mit den beiden älteren Buben im Stall Heuwische zur Feuerung, als die Sofie die Nachricht brachte, daß der Vater eine Nacht habe draußen zubringen müssen und jetzt sehr krank sei.
Der Per Hansen kam sofort mit ihr hinüber, trat in die Stube und fragte, wie es stehe. Die Sörine sah müde und kummervoll aus; sie kehrte sich ab: es stehe eben nicht zum allerbesten; ging zum Herde, hielt sich die Schürze vor die Augen und wiederholte: nein, eben nicht zum allerbesten.
Aber Per Hansens Kommen benahm ihr sogleich etwas von der Angst. Ihre alte Zuversicht kam zurück; sie trocknete die Augen und winkte ihn mit sich in die Kammer ans Krankenbett. —
Am Rande der irischen Niederlassung wohnte in einer niedrigen Gamme einsam und allein eine Alte, die bisweilen so seltsam war, daß man sie Crazy-Bridget crazy = verrückt, verdreht. nannte. Den Namen hatte sie schon gehabt, als sie mit ihrem Sohn zusammen aus dem Westen in dieses Settlement gezogen kam und sich auf dem Quart neben dem Sohn ihre Erdhütte aufbaute. Sonst wußte man nur von ihr, daß sie sehr fromm war und meist in einer Sprache sprach, die keiner von den Norwegern je gehört und wohl auch nur wenige von ihren Landsleuten verstanden. Nur selten suchte sie andere auf, aber viele – und besonders die Iren – kamen zu ihr, um sich bei Krankheit Rat und Hilfe zu holen. Sie wußte allerlei altmodische Mittel für Volk und Vieh, gab beides gern und ohne Vergütung. Auch mehrere Norweger hatten sich schon an sie gewandt, obwohl die meisten behaupteten, daß die Alte nur ihren Hokuspokus treibe; doch mußten sie eines einräumen: sie hatte ein ungewöhnliches Geschick mit Kranken umzugehen.
Als der Per Hansen sah, wie schlecht es mit dem Nachbar stand, verabredete er mit der Sörine in der Küche, daß er zunächst einmal die Bridget herbitten wolle, – sie dürften kein Mittel unversucht lassen.
Und das tat er. Im Laufe des Tages kam die Alte mit einem Sack auf dem Rücken auf einem Paar indianischen Schneeschuhen angestampft. Sie wärmte sich am Herd, ging dann in die Kammer, sich den Kranken besehen, ließ sich darauf einen Kochtopf geben und öffnete den Sack. Sie nahm vier große Zwiebeln heraus, schnitt sie in den Kessel, und goß aus einer Flasche etwas Übelriechendes dazu, setzte das Ganze übers Feuer und ließ es seine Weile kochen. Dann bereitete sie daraus ein Pflaster und legte es auf Rücken und Brust; zu allererst aber nahm sie aus der Rocktasche ein kleines rostiges Eisenkreuz, über das sie etwas hinmurmelte, und steckte es in das Brustpflaster. Zuletzt schlug sie ein Kreuz über Rücken und Brust. Die ganze Zeit brummelte sie in einer allen unverständlichen Sprache vor sich hin; ob das nun Gebete waren oder Schlimmeres, hätte niemand zu sagen gewußt. – Das Pflaster solle zwölf Stunden liegenbleiben und durch heiße Tücher ständig warm gehalten werden, erklärte sie auf Englisch. Nach einer bestimmten Zeit müßten sie es erneuern. Sie erklärte der Sörine, wie sie es machen solle, und sie müsse eine Tasse Leinsamen und zwei Tassen frischgemolkener Milch dazutun. Das Kreuz müßten sie sorgsam hüten, – sie mache sie dafür haftbar. Nach etlichen weiteren Ratschlägen wünschte sie Gottes Segen, nahm ihren Sack auf den Rücken und trabte wieder davon. – Sörine wie auch der Hans Olsen hatten Zutrauen zu der Alten gefaßt, – man müsse halt alle Mittel zu Rate ziehen. —
Die Arbeit häufte sich an dem Nachmittag für den Per Hansen; schon daheim war viel zu tun, find hier noch mehr. Erst berichtete er daheim der Beret, wie es bei den Nachbarn stehe; er bat sie, sich so einzurichten, daß sie am Abend hinübergehen und dort zur Nacht bleiben könne; denn für ihn werde es spät werden. Dann machte er sich mit den beiden Älteren auf den Weg zur Herde.
Um die Zeit des Nachtessens kam Tönset‘n beim Per Hansen vorbei; er kam aus dem östlichen Teil des Settlements von einer Inspektion und wollte nur schnell einmal hineinschauen. Als er erfuhr, daß der Hans Olsen von einem so argen Husten geplagt werde, daß es fraglich schien, ob er ihn überstehe, da wollte er stracks hinüber, um der Sörine zu erklären, wie sie sich zu verhalten habe. Denn gebe es jemanden in dieser Gegend, der sich auf Husten verstehe, dann sei wohl er das. – Tönset‘n war heute abend höchst fidel. – Der Per Hansen solle sich nicht ängstigen – wenn es sich um nichts Schlimmeres handele, als solch einen Husten —!
Der Syvert tat die Skier wieder an und humpelte hinüber.
In der Kammer saß der Hans Olsen im Bett, von Kissen gestützt; das Büblein, der Kleine-Hans, spielte am Fußende auf dem Bett; die Sörine und die Sofie waren mit der Stallarbeit fertig und räumten die Küche auf; die Beret sorgte in der Kammer dafür, daß der Hans Olsen sich über der Brust und um die Schultern warm halte.
Als Tönset‘n hereinkam, strickte sie und sang einen Choral.
Dem Alten wurde sogleich dabei ungemütlich: War doch wahrhaftig nicht nötig, mit der Begräbnisfeier zu beginnen, ehe sie noch jemanden hatten, den sie in den Sarg packen konnten! – Das behielt er übrigens für sich.
Seit die Beret wieder gesund geworden war, konnte Tönset‘n sie nicht mehr so recht besehen. Sie sei so zimperlich geworden; kaum lasse man sich in ihrem Beisein den harmlosesten Spaß entschlüpfen, so strömten bereits die Ermahnungen aus ihrem Munde. Und niemals einen Tropfen Whisky! Mußte doch Maß sein mit allem! Jetzt war er sowohl Küster wie Trustee, Vorsteher, der die äußeren Angelegenheiten einer Gemeinde besorgt. und er mußte einmal ein ernstes Wörtlein mit ihr reden! – Aber sie flößte einem immer eine solche heilige Scheu ein, daß er diese Absicht zwar seit zwei Jahren gehegt, aber noch nicht ausgeführt hatte.
Heute abend jedoch begriff er nur, daß es mit dem Hans Olsen bedenklich stand, und da vergaß er darüber alles andere. Er ging gleich ans Bett und sagte mit einer Stimme, die froh und zuversichtlich klingen sollte: »Ich wundere mich über dich, Hans Olsen! Kannst du mir sagen, wozu du großer langer Kerl um diese Tageszeit noch nicht aufgestanden bist? – Und dabei ist die herrlichste Rodelbahn von deinem Hüttendach geradeswegs bis hinunter zu mir!«
Das Gesicht des Kranken erhellte sich, als er Tönset‘n sah, – aus dem rotgelben, mit Eiszapfen behängten Bart wehte es ihn wie frisch Wetter an, – ein seelenvergnügtes Lächeln saß dahinter. »Gut, daß du kommst, du Syvert!« sagte er.
Das gefiel Tönset‘n; er nahm sich schmunzelnd einen Stuhl und setzte sich neben das Bett.
Tönset‘n hatte ja heute etwas erlebt: Als die Kjersti in der Frühe habe Feuer machen wollen, da sei der Herd so dicht gewesen wie eine Heringstonne, und es habe nichts wie Qualm und Rauch gegeben. Da habe sie ihn geweckt; und als er in die Kleider gekommen sei, und sich endlich hinaus– und hinaufgegraben habe, da sei die ganze Gamme eingeschneit gewesen: eine ebene Schneedecke habe sich vom Indi-Hügel bis zum. Bach gesenkt. Und der Schornstein vollgestopft mit Schnee! Well, sie hätten ihn schließlich freibekommen und ihren Morgenkaffee kochen können. Es sei doch auch rein zu toll mit dem Schnee bei ihnen unten am Bach. Er habe gestern mühsam eine Treppe durch den Schnee zum Stall hinauf geschaufelt; die sei gestern gut festgestampft worden und heute noch besser gewesen. Und da sei es halt so vertrackt zugegangen, daß der Kjersti, als sie einen Kübel Wasser hinauftrug, gerade auf der obersten Stufe die Füße weg glitten. Sie habe noch geschwind den Kübel hingesetzt, sei dann aber selber unaufhaltsam bergab gerutscht, bis sie mitten in der Stube landete. ›Kannst du mir sagen, Kjersti,‹ habe er sie da gefragt, als er gemerkt, daß sie nicht zu Schaden gekommen war, ›kannst du mir sagen, worauf du da angerodelt kommst?‹ Und dann hatte ihn das Lachen gepackt. Er habe zwar versucht, es zu stoppen, als er bemerkte, wie übel sie es aufnahm, aber es sei halt nicht zu bändigen gewesen; er habe gelacht, bis die Kjersti ihn geheißen, sich wegzuscheren! – Well, das habe er denn auch getan. Er habe auf Skiern den östlichen Teil des Settlements befahren und nachgesehen, wie die Leute durchhielten. Dabei sei er zum Johannes Mörstad und der Jossie gekommen – die Jossie erwarte nämlich jetzt ihr Fünftes, ja, und es könne jeden Tag eintreffen, und er, Tönset‘n, fühle das Bedürfnis, sich darüber auf dem laufenden zu halten. Er habe sich dort festgeschwätzt, von dem Geschehnis mit der Kjersti erzählt, und da sei ihm wieder das Lachen gekommen. Er habe gelacht, bis die andern mitlachen mußten. Der Johannes sei schließlich so aufgeräumt gewesen, daß er eine Flasche geholt hätte, die er eigentlich zu der bevorstehenden freudigen Begebenheit habe aufheben wollen, und Tönset‘n ein paar Schnäpse eingeschenkt habe, – mochten auch mehr gewesen sein, wenn man‘s mit der Wahrheit akkurat genau nehmen wolle.
Das mit der Kjersti, und wie er ins Settlement gemußt, um den Frieden des Hauses herzustellen, erzählte er dem Nachbar getrost; – über die Schnäpse glitt er mehr hinweg. Aber lachen mußte er wieder, daß es ihn rüttelte.
Es lag etwas Ansteckendes in Tönset‘ns guter Stimmung; sie vermochte auch den Hans Olsen halbwegs mitzulocken; dann bekam er einen Hustenanfall, und es fiel ihm ein, sich zu erkundigen, ob sich denn die Kjersti bei der Rodelpartie nichts getan habe.
»Nein, Kind, nicht das geringste,« japste Tönset‘n und trocknete sich die Tränen,– »abgesehen von ein paar Schrammen hier und dort, – aber das gibt sich schon, wo hierzulande alles so gut wächst! – – Ja, ja, morgen komme ich mit der Kjersti herauf, – werden das aus deiner Brust schon herauskochen, – die Kjersti ist nämlich ungemein geschickt beim Kurieren von solchem Husten, will ich dir sagen!« —
V
Die Beret hatte bei Tönset‘ns Eintritt zu singen aufgehört. Sie starrte ihn unverwandt an und es war ihr, als höre sie sein Lachen zum ersten Male richtig. Er roch auch so stark nach Whisky. – Erst wollte sie ihn zornig hinausweisen; begriff er denn nicht, daß sich so gottlose Reden an einem Sterbelager nicht geziemten? Aber sie begnügte sich damit, den Stuhl weiter abzurücken, wie ein Kind, das Scheu vor einem Fremden zeigt. —
Nach Tönset‘ns Weggang fand die Beret die Luft im Zimmer stickig und ungesund; hier, wo jetzt nur Feierstimmung walten sollte, war alles wie besudelt. Da besuchte ein Mensch, der das Beste hätte wollen müssen, weil das Schlimmste bevorstand, einen Sterbenden, und dann war in seinen Worten nichts als Schlüpfrigkeit! – Sie empfand geradezu einen körperlichen Zwang, die Luft zu reinigen, und ohne weiteres stimmte sie leise und getragen ein Bußlied an.
Erst als sie alle Strophen durchgesungen hatte, erhob sie sich, um den Umschlag zu erneuern; darauf ging sie hinaus, um in der Küche zu helfen. —
Die Beret wachte die ganze Nacht neben dem Bett. Dem Kranken schien es nicht schlechter zu gehen; aber die Rostflecken in dem Auswurf kamen häufiger und wurden größer.
Er schlief wenig, merkte sie, und das wunderte sie nicht, – er hatte sich jetzt um Größeres zu sorgen! Sie hätte gern mit ihm gesprochen, wollte ihn aber nicht in seinen Gedanken stören. —
Gegen Morgen wollten ihn die Anfälle fast ersticken. Einmal mußte sie ihm dabei den Kopf stützen und ihn halten; er war blaurot im Gesicht.
Da sagte sie langsam: »Jetzt, meine ich, solltest du daran denken, dich bereit zu machen, Hans Olsen.«
Er warf den Kopf nach ihr herum: »– bereit zu machen?«
»Du überstehst das hier wohl kaum!«
Er lag still; nur die Hand tastete unruhig auf der Decke: » – – Nein nein, aber es hat wohl schon so mancher den Husten gehabt.«
Sie sagte nichts dazu.
Nach einer Weile fuhr er fort: »Es ist halt am schlimmsten für die, die zurückbleiben.« »Das solltest du, glaube ich, nicht sagen; – für sie dauert noch die Zeit der Gnade, – für dich ist sie bald um!« Die Beret sprach ruhig und liebevoll, mit der Stimme, deren Güte und Sanftmut bisweilen so überzeugend wirkte.
Der Hans Olsen zögerte lange mit der Antwort; er hatte den Kopf zur Wand gekehrt und die Augen geschlossen.
Die Beret sah es. – Er mag nicht gern hören, was ich sage; – so ist es mit uns Menschen; und doch ist es gut, daß ich‘s gesagt habe, – ich glaube nicht, daß er sich noch einmal von diesem Lager erhebt.
»Oh, er hat sich doch so manchen Sünders erbarmt,« sagte der Hans Olsen nach einer Weile, »– er hat wohl auch für mich noch ein wenig Erbarmen übrig.«
Da wurde die Beret plötzlich eifrig:
»Nur wenn du ihm ein zerknirschtes Herz darbringst! Wie könnte ein Vater seinem Kinde vergeben, das nicht bereut?
– ›Wehe euch, die ihr reich seid; denn ihr habt euern Trost dahin. Wehe euch, die ihr satt seid; denn ihr sollt hungern.‹
– – Ach nein, wir dürfen uns mit dem Glauben, daß der Gnade genug vorhanden sei, nicht zufrieden geben!«
Sie erneuerte seinen Umschlag, und ihre Hand faßte jetzt kräftiger zu.
Wieder kamen ein paar böse Hustenanfälle, und sie schwieg. Sobald er wieder Atem schöpfen konnte, kehrte er das Gesicht zur Wand, als wolle er schlafen; und er lag lange Zeit still.
Die Beret wurde es müde, hier mit dem Strickzeug zu sitzen; sie nahm die Lampe und ging in die Küche, um der Sörine ein wenig helfen. – An der einen Wand war Grobheu zum Verbrennen hoch aufgestapelt; sie setzte sich jetzt daran, es zu Bündeln zusammenzuwinden. Das Gespräch, das sie soeben mit dem Hans Olsen gehabt, beschäftigte sie unausgesetzt.
– Trübselig wird es sein, dereinst im Jenseits den Hans Olsen nicht vorzufinden! Im alten Land sind wir zusammen aufgewachsen, im neuen haben wir von Anfang an Seite an Seite gewohnt, – redliche Menschen sind‘s, er wie sie, – jetzt fährt er von hinnen und gelangt nicht ans Ziel! – Die Ellen, seine Mutter, war ein überaus gottesfürchtiges Weib; den Vater habe ich nicht gekannt, aber nur Gutes von ihm erzählen hören; jetzt haben die beiden so manches Jahr auf ihn gewartet, – es wird mich schwer ankommen, ihnen einst zu begegnen und dann erzählen zu müssen, wie alles hier zugegangen ist. – Und dann trage vielleicht ich die Schuld, – ich habe nicht getan, was ich hätte tun sollen.
Nicht gar zu viele aus der Dakota-Prärie werden hinfinden! Denn hier verschlingt uns die Erde; was sie nicht im guten bekommt, holt sie sich mit Gewalt; und wir merken‘s nicht einmal. Ich sehe es doch, wie es bei uns daheim zugeht.
Entsetzlich! Soeben hat er sich noch an Tönset‘ns Roheit weidlich vergnügt, und mit solchem Herzen soll er jetzt vor den Herrgott treten? —
Die Lampe brannte matt, es war fröstelnd kalt in dem Raum; sie stand auf und warf ein paar Heubündel in den Herd, wartete, bis sie gut brannten und legte ein paar Scheite nach, – es waren nicht mehr viele in der Holzkiste.
Es wird nicht einfach werden für die Sörrina, wenn er weg ist; aber das mag dahingestellt bleiben, wenn er nur recht bereitet scheidet; – ihr können wir doch helfen.
Sie ging wieder in die Kammer, um nach dem Kranken zu sehen. Er war wach, als sie kam, und es dünkte sie, er habe auf sie gewartet.
»Wie steht es draußen? —Gibt es bald Reisewetter?« fragte er langsam.
»Und wenn dem so ist, was wünschest du dir dann?« Sie trat dicht an sein Bett.
»Wir könnten vielleicht versuchen, den Doktor zu erreichen? – Zu andern hier draußen ist er doch auch gekommen?«
»Wir wollen zusehen, sobald es Tag wird. – Doch – wie wäre es mit dem Pastor?«
»Pastor?«
»Ja, die Stunde des Herrn steht bevor; dann helfen dem Menschen nicht Ausflüchte. Seinem Zorn entgeht niemand, – du müßtest das Abendmahl nehmen!«
»Das Abendmahl? – – Ach ja, – ja freilich —.«
»Es ist furchtbar, reuelos in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen,« sagte die Beret leise und blickte ihm traurig ins Gesicht. »Das allein ist es ja doch, was an uns Menschen verkehrt ist; – wenn er dann aber so freundlich seine Hand auf uns legt und sagt, daß alles wieder gut sei, dann wird daraus für uns eine Stunde des Segens!«
Er wandte den Kopf, hustete leicht und starrte die Wand an.
Diesmal hätte er gewiß gar nicht zu husten brauchen, dachte die Beret. Es ist seltsam bestellt mit uns Menschen: ich zeige ihm den rechten Weg, und es ist dunkel um ihn, und er weiß nicht, wohin es geht, – und dann hat er dafür nur ein Husten! – So ist es, wenn man bei lebendigem Leibe tot ist!
Er lag eine Weile regungslos; dann sagte er müde und schwer: »Ich habe all mein Lebtag geglaubt, es müsse segenvoll sein, dereinst heimzukommen!«
Der Beret traten die Tränen in die Augen.
»Ja, bist du denn zu dieser Fahrt bereit? – Wir haben uns in allen diesen Jahren nicht die Zeit gelassen, an irgend etwas von dem zu denken, was mit Ihm zusammenhängt!«
»Ach nein,« seufzte er müde, »das ist wohl auch nicht so verwunderlich!«
Die Beret fühlte freudige Erleichterung, daß sie‘s ihm jetzt recht zu sagen vermocht hatte, und das gab ihr größere Unbefangenheit. »Darum mußt du Ihm noch im Diesseits begegnen, ehe es im Jenseits geschieht!« sagte sie. »Jetzt will ich Gott für dich anrufen!« Und ohne Scheu kniete sie neben dem Bette hin und betete innig darum, daß der, der hier lag, die Gnade empfangen möge, seine Sünden zu erkennen und sie zu bereuen, ehe es zu spät sei.
Aber sie geriet damit nicht weit. Der Hans Olsen hatte sich auf die Ellbogen gestützt und starrte sie mit geweiteten Augen an. Er hörte, wie sie um seine Seele rang, – er bekam einen entsetzlichen Hustenanfall, saß plötzlich aufrecht und schnappte nach Luft, – der Umschlag und die Tücher fielen von der Brust, die Beret mußte aufstehen und ihn zurechtlegen. – Als erstes erbat er sich heiße Milch; dann mußte er schnell aufstehen; dabei befiel ihn der Schüttelfrost, und sie mußte schleunigst die Sörine wecken, um mit ihrer Hilfe Decken zu wärmen und ihn einzuwickeln. Und im Morgengrauen kam der Johannes Mörstad zum Hof und bettelte und bat, daß die Beret sogleich mit ihm komme: die Jossie werde unpäßlich, und er sei bereits bei der Kjersti gewesen; die habe sich jedoch zuschanden geschlagen, daß sie unmöglich so weit gehen könne.
Die Beret verließ das Haus Olsens und hatte dabei das Gefühl, als wäre sie vor der ganzen Kirchengemeinde bloßgestellt worden.
VI
Bald darauf kam der Per Hansen, um nachzuschauen. Er wolle mit den Solumbuben nach Norden, um das Vieh mit Heu und Wasser zu versehen. Dabei wolle er zugleich beim Germund Dahl vorsprechen, ob nicht vielleicht einer seiner Buben herkommen und der Sörrina in der Wirtschaft helfen könne. – Heute abend werde er über alles berichten, – jetzt habe er zum Plaudern nicht Zeit. —
Im ganzen Settlement hatten die Menschen alle Hände voll zu tun; das Wetter war noch immer unsicher, und es war nach dem Sturm Schaden genug auszubessern. Auf den meisten Farmen bestanden die Stallgebäude noch aus Erdhütten oder Strohschuppen; einige waren vollkommen eingeschneit, von andern hatte der Sturm alles Stroh abgerissen, – die Stangen schauten aus den Schneeverwehungen wie abgenagte Knochen heraus. Von einigen Wohnhäusern war nur das Dach noch sichtbar, von vielen Gammen reichte der Schornstein gerade soeben über die Schneefläche. Bei Tönset‘n unten am Bach stieg der Rauch unmittelbar aus dem Schnee auf.
In vielen Häusern gab es nur noch das dürre Korn und den Tropfen Milch, den die Kühe hergaben. Bei den letztangekommenen Farmern am Rande der Siedlung war auch nicht einmal das mehr vorhanden. Aber die Menschen jener Zeiten waren ungemein hilfsbereit; was einer hatte, teilte er mit dem andern oder lieh es bereitwillig her; fand einer einen Ausweg, teilte er‘s dem andern mit. —
Als der Per Hansen nach dem Nachtessen wieder zum Hans Olsen kam, saß Tönset‘n in der Schlafkammer. Er war heute abend bedrückt, war wortkarg; die Kjersti hatte fast den ganzen Tag das Bett hüten müssen, weil sie von Gliederschmerzen so geplagt gewesen. Nicht einmal den Topf könnt‘ einer unter sie schieben! Er habe sowohl sie wie sich selber zu besorgen gehabt, und noch dazu alles im Stall!
Er sah Hans Olsens fiebergerötetes Gesicht, hörte das pfeifende Atmen und war nun doch im Zweifel, ob er, Syvert Tönset‘n, jemals den Husten so schlimm gehabt. Aber dann überlebte der Mann das nimmer! Doch das behielt Tönset‘n für sich.
Es war dem Hans Olsen den ganzen Tag schlecht gegangen, die Krampfanfälle hatten sich gemehrt, er war unruhig und gereizt gewesen, hatte bald um das eine, bald um das andre gebeten; immer wieder wollte er Bescheid über das Wetter. Jetzt lag er zwischen den Anfällen still und sprach langsam von dem, was unabwendbar war. Er bat beide Nachbarn, der Sörine mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, so gewiß er ihnen dasselbe getan, wäre das Umgekehrte eingetreten. »Du, Per Hansen, mußt heute nacht bei mir bleiben! Die Sörrina muß in den Nächten Ruhe haben; sie hat sich jetzt mit vielem draußen abzuplagen und bedarf der Rast, – es kann noch lange mit mir dauern.«
So hielt denn der Per Hansen Nachtwache. Die Sörine legte sich in der Nebenkammer angezogen aufs Bett, um gleich bei der Hand zu sein – die Tür zwischen beiden Räumen stand offen. Aber da sie fast den ganzen Tag draußen in der Kälte hatte herumstampfen müssen, lag sie bald in tiefem Schlaf.
Als Ruhe im Hause eingetreten war, blickte der Hans Olsen nach einer Weile auf und fragte laut, ob die Frau schliefe. Als er sich dessen versichert, begann er nach einer Weile stummen Sinnens eingehend darzulegen, wie er später alles geordnet haben wolle. Er hatte ein paar Schulden bei einigen Leuten in Sioux Falls, – die erwähnte er zuerst; mehrere Neusiedler schuldeten ihm Geld für Saatkorn und Vieh; er nannte sie beim Namen und eines jeden Schuldsumme, – es stellte sich später heraus, daß er allen ein Beträchtliches erlassen hatte. Die Sörine solle die Farm behalten und auf ihr wohnen bleiben, – dem Lande hier draußen gehöre die Zukunft, dessen sei er gewiß. Der Per Hansen müsse hernach ihre rechte Hand sein, – könne er ihr einen ordentlichen Knecht verschaffen, werde sie sich mit den Kindern durchhelfen können. – Ja, und dann war da noch der Kleine-Hans, – schwer sei es von hinnen zu fahren, ohne zu sehen, wie der sich einst als Mann arten werde! Zeige es sich, daß er gute Gaben für die Bücher habe, sollten sie zusehen, ihn auf St. Olavs hohe Schule zu schicken. Möge der Herrgott es so fügen, daß er Pastor werde —! Das aber heiße freilich zu Großes erhoffen!
Er brachte die Worte nur mühsam hervor. Bisweilen ging ihm der Atem aus. Per Hansen nickte nur zu allem, vermochte nichts anderes vorzubringen als: »Sei unbesorgt, – überleg es dir genau, – so wird es bestimmt gemacht!« —
Der Per Hansen wußte es sich nicht zu erklären, aber er hatte das sichere Gefühl, daß der Kranke noch etwas auf dem Herzen habe. Bei jeder Pause dachte er: Jetzt kommt‘s!
Aber dann schien doch nichts mehr zu kommen. Der Hans Olsen schwieg, sah vor sich hin. Ein paar Hustenanfälle kamen; er wurde außerordentlich unruhig; in dem großen Brustkasten pfiff und keuchte es wie in einem lecken Blasebalg, der ständig unter vollem Wind gehalten wird.
Als die Anfälle nachließen, begann der Hans Olsen wieder von vorne, wiederholte sich ängstlich und suchend, aber ohne die Klarheit von vorhin.
Bald nach Mitternacht hatte er eine ruhige Stunde; er schwieg, schaute ab und zu den Nachbar an, – etwas Wundersames lag in dem Blick. – Nahte jetzt das Ende? —
Als aber der Kranke wieder zu sprechen begann, sagte er etwas ganz Unerwartetes; er schlug die Augen nieder und fragte leise:
»Liegt der Schnee wohl arg hoch?«
»Zwischen uns und euch überall mindestens vier Fuß,« sagte der Per Hansen, »und ebenso hoch überall auf ebenem Felde; – unten am Bach bei Tönset‘n sind‘s sicher zwanzig!«
»Nein, liegt er wirklich so hoch!« Der Kranke ließ einen schweren Seufzer fahren, tastete unruhig mit der Hand übers Bett und wiederholte murmelnd: »Nein, liegt er wirklich so hoch!«
»Denkst du an etwas Bestimmtes?«
»Dann ist gewiß kein Vorwärtskommen!« Das große Gesicht verdüsterte sich und glänzte von Schweiß.
Der Per Hansen fühlte, daß sich ihm der Hals zusammenschnürte; er hüstelte und sagte energisch:
»Sag es, was es auch sei, Hans Olsen! – – Wolltest du den Doktor?«
Der Kranke sah ihm gerade ins Gesicht: »Oh, ich habe den Pastor nötiger, siehst du!« Er hielt einen Augenblick inne, fügte dann hinzu: »Aber es muß ja wohl im Verlauf eines Tages draußen besser werden, – glaubst du nicht auch?«
Er wartete eine Weile auf die Antwort des andern, sah auf und wiederholte bittend: »Glaubst du nicht auch?«
Der Per Hansen stand auf, begann im Zimmer herumzugehen, – es war so stickig hier drin, ihm wurde ganz schwindlig davon – – – Gott gnade dem, der jetzt die Prärie befahren mußte!
Er trat wieder ans Bett: »Brauchst du ihn durchaus?«
»Es ist furchtbar, in des lebendigen Gottes Hände zu fallen!« Das Gesicht des Kranken arbeitete und verzerrte sich; der Per Hansen mußte sich gegen den Stuhlrücken stützen, so erschütterte ihn der Anblick.
Der Kranke begann von neuem: »Es ist furchtbar – in seine Hand – zu fallen!«
»Still jetzt, still, Mann, – sprich nicht so gotteslästerlich!« rief der Per Hansen. »Nein, so bleib doch liegen, – die Decken fallen herunter!«
Der Kranke hatte sich mit ungeheurer Kraftanstrengung aufgerichtet – er wimmerte zwischen Hustenanfällen:
»Geh nach der Sörrina!«
Beide, Per Hansen und die Frau, glaubten eine Zeitlang, daß er den Anfall nicht überstehen werde. Der Per Hansen verfiel schließlich darauf, ihm wie einem Kinde, das sich verschluckt hat, den Rücken zu klopfen. Dann ließ der Anfall allmählich nach; schließlich fiel der Kranke in tiefen Schlaf, der bis zur Morgendämmerung anhielt.
Bei Tagesgrauen war die Sörine wieder auf. Der Kranke erwachte und sah besser aus. Der Per Hansen zog sich zum Weggehen an, – er habe daheim nach vielem zu sehen und auch noch das Vieh des Hans Olsen im Norden zu besorgen.
Der Hans Olsen verfolgte diese Vorbereitungen mit seltsam traurigen Augen – wie ein Hund, der eingesperrt wird, wenn der Herr ausgeht. Er rief ihn zu sich ans Bett und wollte wissen, wie das Wetter aussehe. Er fragte so sonderbar – rein als schäme er sich:
»Es ist wohl noch immer nicht Reisewetter?«
Der Per Hansen mußte über die Kindlichkeit lachen und wußte nichts Rechtes zu sagen. Aber es ging nicht an, ihn ohne Antwort zu lassen. Er faßte sich, knöpfte die Joppe zu, zog die Fäustlinge an und sagte in bestimmtem Ton, jetzt müsse der Hans unbedingt ein wenig ausruhen. Heute nacht habe er geschlafen wie ein Stein, und es gehe ihm schon weit besser. »Ich komme im Laufe des Tages zurück!«
» – Glaubst du nicht, daß es ginge?« —
Den Per Hansen packte die Furcht; er tat einen Schritt zurück und sagte hastig: »Ruh dich jetzt aus, Hans Olsen, – wir wollen zusehen, – so glaube mir doch!«
Da ergriff der Kranke die Hand des alten Kameraden, fast wie mit früherer Kraft, und drückte sie fest und herzlich: »Du Per Hansen, du Per Hansen!« murmelte er und sank dann ermattet auf das Kissen zurück.
VII
Der Per Hansen kam bei grauendem Morgen heim und sah aus, als habe er die Sprache verloren. Er setzte sich in der großen geräumigen Küche an den Tisch und ließ sich zu essen geben, – von Zeit zu Zeit sah er zum Fenster hinaus. – Die Beret setzte alles vor ihn hin und fragte, wie es drüben stehe. Er antwortete kurz angebunden, aß lange und sah immer wieder hinaus. Dann stand er auf, stellte sich mit dem Rücken vor den Herd, verschränkte die Hände hinter sich, als wäre er durchfroren und könne dem Feuer nicht nahe genug sein.
»Es steht nun so um ihn,« begann er gedankenvoll, »daß er überzeugt ist, er stehe von diesem Lager nicht mehr auf, – und das mag auch zutreffen. Aber er jammerte, daß er durchaus den Pastor haben müsse! – Rein unheimlich ist es, ihn anzusehen. – Kannst du es mir erklären?« Er sagte es vor sich hin, als denke er laut, nicht, als frage er die Frau.
Die Beret hatte die Arbeit unterbrochen; ihr Gesicht erstrahlte von innerem Glanz, – sie sagte freudig: »Das verstehe ich gut; der Herrgott sei ihm nahe und erhöre sein Seufzen! – Es muß sogleich jemand versuchen, den Pastor zu erreichen!«
Der Per Hansen starrte vor sich hin.
Die Beret kam mit dem abgeräumten Geschirr und blieb vor ihm stehen: »Du mußt jemand mit dir nehmen! – Entsetzlich ist es zwar; ginge es nicht an zu reiten?«
»Reiten —, was redest du für Zeug!«
Sie sah ihn an und sagte mit Nachdruck:
»Aber es ist fürchterlich, daß eine Seele der Hölle verfällt, wenn Menschen es hindern können!«
Der Per Hansen lächelte grimmig: »Ja, soll auch der Hans Olsen dorthin, dann sind hier herum nicht viele, die einst in die entgegengesetzte Richtung fahren, – der kommt schon noch dahin, wo er hingehört!«
Ihr schauderte. Wie gotteslästerlich hörte sich das an; sie setzte das Geschirr äußerst erregt auf den Tisch: »Wir wissen doch nur zu gut, wie sich das Leben hier draußen geartet hat! – Boden hieß es und Haus, und mehr Boden, und Vieh. Auch der Hans Olsen hat ständig danach gegiert, – darin ist sein Leben aufgegangen! – Jetzt beginnt es ihm einzuleuchten, daß er sich im Himmel keine Schätze gesammelt hat; – es hält doch nicht schwer zu verstehen, daß es einem Menschen um seiner Sünde willen angst wird und er von ihr losgesprochen werden will!«
»Es sieht so aus, als verstehe ich mich auf nichts!« sagte der Per Hansen bitter. »Obwohl es für einen erwachsenen Menschen nicht schwer halten sollte zu verstehen, daß heute niemand lebend über die Prärien bis James River kommt! Und daß der Herrgott sich des Hans Olsen nicht auch ohne Pastor und Küster erbarmen werde, das wirst du mich nimmer glauben machen!«
»Der Gott dieser Welt hat die Sinne der Ungläubigen verblendet! Einem Menschen sollen die Augen geöffnet werden, und wir wollen dazu die Hand nicht reichen!«
»Jetzt hüte deinen Mund, Beret!« sagte Per Hansen erregt. »Willst du mich geradezu in den schwarzen Tod hinauszwingen?«
»Wie häßlich du redest, Per Hansen!«
»Redest! – Glaubst du nicht, der Herrgott hätte Reisewetter geschickt, hätte er gewollt, daß ich mich auf diese Fahrt begebe?«
Sie sah ihn an: »Man könnte doch versuchen, weiß ich recht?« sagte sie besonnener. »– Und wenn du jemanden mitnähmest; der Henry hat einen leichten Schlitten, und es geht doch auch an, wieder umzukehren, – der Herrgott vergibt uns, was wir nicht durchzuführen vermögen!«
»Es ist gewiß das beste, der Henry macht‘s allein – diesmal!« sagte der Per Hansen in hellem Zorn, ging zur Treppe und rief dem Ole und dem Großen-Hans nach oben zu, jetzt müßten sie gefälligst zusehen, in die Kleider zu kommen; zog sich an, ging hinaus an die Morgenarbeit.
Es war draußen viel zu besorgen; aber er war heute zu erregt. Alles miteinander war wie auf den Kopf gestellt. Daß verständige Menschen nicht über ihre eigene Nase hinwegsehen konnten! Da stellte sich der Hans Olsen ganz närrisch an, weil er durchaus einen Pastor brauche, obwohl es auf Gottes weiter Erde keinen besseren Menschen gab als ihn. Und die Beret verlangte von ihm, dem Per, er solle kopfüber ins Meer springen, – sie, die ein Herz hatte, daß sie keiner Maus etwas zuleide tun konnte! – Er hatte sich alle seine Tage darum abgerackert, daß sie und die Kinder es gut haben sollten, – und da wurde ihm ins Gesicht geschleudert, daß er wie ein elender Maulwurf sei, der nur das Loch sieht, in dem er buddelt! Ja, weiß Gott, eine seltsame Welt! – – Nun, dann war wohl er der Verdrehte!
Die Buben kamen, und alle drei nahmen die Skier und fuhren nach Norden, um nach dem Vieh zu sehen. Grauwetter war‘s, und kalt wehte es aus Westen. Aber der Große-Hans war so unbändig froh über all den Schnee und die Skier, die so fein über die Schneewehen glitten, daß es ansteckte und des Per Hansens Mißmut wich.
Während der Arbeit bei der Herde plauderte er mit den Buben wie mit gleichaltrigen Kameraden, wie immer, wenn er recht gut aufgelegt war. Diese Unmenge Schnee, die prophezeie also ein Kornjahr für den Sommer. Und treffe das wirklich zu, dann würden sie zum Herbst einen großen Stall bauen; aber dann wollten sie es nicht so albern machen, wie der Torkel Tallaksen, und Stall und Scheuer gesondert bauen! Das sehe zwar gut aus, sei aber unpraktisch, – es werde teurer und die Häuser kälter. Nein, einen Staatsstall wollten sie sich schaffen, rot gestrichen und mit weißen Windbrettern an den Ecken, – denn das nehme sich stattlich aus!
Und er gab ihnen noch manchen trefflichen Rat. —
Sie hatten reichlich Arbeit. Sie mußten das Vieh mit Wasser und Heu versorgen; sie schütteten die Streu und verstopften die Löcher in den Wänden mit Stroh, sie plauderten und arbeiteten alle drei wie Männer. Dem Per Hansen war dabei, als wälze er etwas Schweres von sich ab.
Kaum waren sie fertig, da nahmen die Buben ihre Skier und sausten davon. Sie legten den Heimweg über die höchste Kuppe und hatten glatte Abfahrt bis zum Bach. Herrlich war es mit all dem Schnee! —
Als er endlich an seinen Hof kam, trat die Sörine aus der Küche und schnallte sich ein Paar Skier an. Sie hatte kaum mehr an, als sie im Haus trug, sah er, hatte nur ein Tuch lose über den Kopf geworfen; er schloß daraus, daß sie in großer Eile von Hause weggegangen sei, und er ahnte das schlimmste.
Es sei gewiß nicht viel ärger geworden, soweit sie sehen könnte, erläuterte sie ihr Kommen traurig, als er auf sie zutrat, und schlug die Augen nieder, – der Hans sehe eher besser aus. – Aber jetzt sei die Bridget dagewesen und habe nach ihm gesehen; die habe ihm keine Hoffnung gegeben. »Da mußte ich her,« fuhr die Sörine fort, »und mich ein wenig mit dir beraten. – Er spricht davon, daß du nach dem Pastor reisen werdest, und das möchte wohl nötig sein, und er ist dessen so froh. – Jetzt sehe ich jedoch, daß es nicht wegbar ist; solltest du aber dennoch aufbrechen, so ist es vielleicht besser, wir versuchen, den Doktor zu erreichen! – Ich sehe zwar, daß das Wetter nicht danach ist, mußte aber doch einmal nachhören.«
Der Per Hansen sah auf die Skier, ihre Stimme klang dünn und kümmerlich in dem graukalten Wehen; er merkte, wie ihn selber fror, und sah, wie dünn angezogen sie vor ihm stand.
»Wärme dich erst, ehe du gehst,« sagte er still.
»Nein, jetzt muß ich schleunigst heim. – Ich weiß, es ist häßlich von mir, daß ich komme, aber« – die Stimme setzte eine Weile aus, kam dann wieder – »es ist so seltsam, ihn von hinnen fahren zu sehen, ohne auch nur das geringste für ihn tun zu können! – Und dann ist es auch das, daß für dich niemals etwas unmöglich gewesen ist, und da dachte ich, vielleicht wissest du auch jetzt einen Rat!«
– »Hat er dich gebeten, herzugehen?«
»Das hat er zwar gerade nicht – aber er plagte sich damit, ob du nicht bald fertig seiest, – ich verstand ihn so, daß er wünschte, ich solle nachschauen gehen —.«
Der Per Hansen sagte nichts mehr; er sah sie auch nicht an, und da ging sie.
Er nahm die Skier ab, klopfte sorgsam den Schnee los und lehnte sie gegen die Wand. Aber er ging nicht hinein. Seine Gedanken folgten der über die Ebene gleitenden Frau, überholten sie und sahen den Nachbar in der Hütte liegen, sahen, daß die großen Augen ihn flehend anstarrten, wie die eines Hundes. – Er schaute lange regungslos in die Luft.
In der Küche spielte der kleine Per Getreidedreschen. Als der Vater hereinkam, rannte er auf ihn zu und rief voller Eifer und möglichst männlich: »Komm und hilf mir, Ral, dann werden wir noch vor Abend fertig!« – Das Mittagsmahl war noch nicht fertig; der Vater zog sich aus und spielte mit dem Büblein, und bald hockte auch er auf dem Fußboden.
Während des Essens wechselten die Eltern kaum einige Worte; ihre Augen wichen sich aus.
Nach Tisch wollte das Knäblein durchaus mit dem Vater weiterspielen, – und der Per Hansen setzte sich wieder zu ihm und beratschlagte mit ihm, wie sie es anstellen könnten, daß sie noch heute mit dem Dreschen ordentlich vorankämen.
Die Mutter räumte ab und sah ihnen erstaunt zu. Da spielte er jetzt mit dem Kinde, rein als gäbe es in der ganzen Welt für ihn keine ernstere Aufgabe! – – Der Tag verstrich, – gedachte er wirklich nicht, etwas zu unternehmen? Sie hätte schreien mögen, so quälte sie die Unruhe. – War er denn steinstockblind geworden!
Nachdem sie aufgewaschen, sah sie eine Weile zum Fenster hinaus; dann ging sie zum Kleiderhaken und begann sich anzuziehen. Er merkte auf.
»Willst du hinaus?«
»Ja.« – Sie zog sich eine seiner Überjacken an und eine große Strickmütze über den Kopf.
Er sah wieder auf: »Willst du weit fort? Du ziehst dich so warm an?«
Sie zauderte mit der Antwort.
»Ich muß zum Henry, – es muß jemand für den Hans Olsen fahren!«
Sie hatte rote Wangen, ihre Augen leuchteten in einem stillen Licht.
Der Per Hansen lachte und stand auf.
»Jetzt nimm dich zusammen, Frau!« sagte er, als rede er einem unartigen Kind gütlich zu. »Es ist draußen nicht Weiberwetter, – das siehst du wohl selbst!«
»Es ist gewiß auch nicht Wetter für Mannsleut, scheint es!«
Er stand plötzlich vor ihr, – weiß im Gesicht, mit bösen, flackernden Augen.
Gott tröste mich, dachte sie, jetzt legt er Hand an mich, – und doch habe ich nur gesagt, was wahr ist!
»Jetzt wollen wir nicht weiter fackeln!« sagte er heiser. »Hast du – hast du etwas mit dem Henry zu bereden, kannst du es hier im Hause tun, aber du sollst dich heute nicht von Haus zu Haus herumtreiben!«
Ehe sie sich noch besinnen konnte, war er zur Küche hinaus.
VIII
Vor der Treppe ragten die Vorderkufen eines Schlittens auf, eines plumpen Gefährts, selbstverfertigt und mit Eisenbeschlag; es war so schwer, daß die Buben mit ihm nicht fertig geworden waren und es hier hatten stehenlassen. Der Per Hansen hatte sich heute schon darüber geärgert, daß die Buben es dort gelassen. Als er jetzt herauskam, war das erste, was seine Augen sahen, der Schlitten. Er sprang hinzu, riß ihn mit einem gewaltigen Ruck hoch und schleuderte ihn weit weg in eine Schneewehe, so daß nur die eine Kufe herausguckte.
»So!« murmelte er.
Und jetzt war es, als verlasse ihn der Zorn; nur das Gesicht war noch blaß. – Die Skier lehnten an der Hauswand; er schnallte sie an – zögerte einen Augenblick, stieß dann den Stock ein und fuhr ab.
Im Osten des Settlements wohnten zwei Burschen aus Telemarken, die vor ein paar Jahren hergekommen waren. Die verstanden sich trefflich darauf, Skier zu fertigen. Letzten Winter hatten sie sich jeder ein Paar mit Bindung und Stab gearbeitet, – Staatsskier; kurz vor Weihnachten noch hatten die Burschen zwei Stadtfahrten auf ihnen gemacht.
Zu denen fuhr jetzt der Per Hansen. Nach einer Stunde kam er zurück mit einem Paar Skier auf den Schultern; auf dem andern lief er. Keines gehörte ihm.
Die Beret war, seit er aus der Küche gestürzt, in großer Aufregung in der Stube auf und ab gegangen. – Ich habe gewiß etwas Schlimmes angerichtet, dachte sie. Ich weiß, ich sagte zuviel, – aber was hätte ich tun sollen? Es muß jemand fahren, – ich habe niemanden sonst, mit dem ich reden könnte.
Jetzt sah sie ihn mit dem Skier zurückkommen, begriff sofort und wurde froh. – Wie klug von ihm, diese Skier zu holen. Vernünftigeres hätte ihm gar nicht einfallen können. Wen er wohl mitnehmen mag? Wäre er doch schon am Vormittag darauf gekommen, – ich und die Buben hätten wohl nach dem Vieh sehen können. Ich muß ihm schnell einen Tropfen Kaffee kochen, daß er etwas Warmes in den Leib bekommt, ehe er fährt. – Heute kommen sie übrigens nicht mehr weit!
Sie setzte den Kaffeekessel über und deckte den Tisch. – Ich will es recht schmuck für ihn anrichten, ein Tischtuch auflegen, – dann sieht er, daß ich nur will, was gut ist! —
Die beiden älteren Buben gruben zwischen dem Stall und dem ganz zugeschneiten Schweinekoben einen Gang durch den Schnee. Dorthin ging der Per Hansen zuerst. Er gab sich gute Zeit mit den Buben zu reden, und als ihm schien, daß sie nicht aufmerksam genug zuhörten, nahm er die Skier ab und kam in den Gang hinein. Er müsse jetzt auf eine Wanderung, sagte er, und es sei nicht gesagt, daß er bald zurückkomme; könne er sich darauf verlassen, daß sie gut nach allem sehen würden? – Die Buben waren so emsig bei ihrem Tun, daß sie kaum auf seine Worte achteten; – er solle nur ohne Sorge reisen, sie würden schon alles bewirtschaften. Und dann gruben sie weiter und stritten sich, wie lange es dauern werde, bis sie an den Schweinekoben gelangten.
Er ließ die Buben und ging mit den Skiern ins Granary; Kornhaus, eine Art Vorratskammer (Speicher). dort schmierte er das eine Paar gut mit Talg ein und steckte sich den Talgklumpen in die Tasche; auch die Bindung mußte er noch einrichten.
Als er gerade dabei war, kam der Peder Sieg hereingestampft: jetzt habe die Mutter Kaffee gekocht, – sie habe gesagt, er müsse kommen, ehe der kalt werde.
Die Augen des Vaters leuchteten auf. »So, das hat also die Mutter gesagt?«
»Sie sagte, er sei fertig.«
Der Per Hansen hatte die Bindung jetzt so zurecht bekommen, wie er sie haben wollte, und suchte nach einer Rebschnur, um das zweite Paar damit auf den Rücken zu binden.
»Hieß sie dich das sagen?«
»Sie sagte, sie sagte – komm gleich – sagte sie!«
Der Vater beguckte das Büblein. »Du hast so wenig an, du Permann!« sagte er milde und fühlte über die Backen und mußte zugleich den Finger in den weichen, warmen Halswinkel kriechen lassen. Das Büblein quietschte auf; der Vater lachte:
»Hm – hm, kalt wie ein Eiszapfen, – scher dich auf der Stelle hinein! – Jetzt hat also die Mutter den Kaffee fertig?«
Der Per Hansen trug das Büblein hinaus und setzte ihn behutsam nieder, ging dann zurück nach den Skiern; das eine Paar band er sich auf den Rücken, das andere schnallte er an.
Das Büblein wartete: »Kommst du, Vater?«
»Pack dich hinein!« sagte der Vater hart. »Ich komme nach einer Weile nach!«
Dann reckte er sich und zog die Fäustlinge über.
Da besann er sich noch auf etwas:
»Du, Permann!«
»Ja?«
»Im Kämmerlein liegt ein Knäuel Bindfaden; das mag die Mutter dir schenken; und jetzt sei recht flink und habe mir alles gedroschen, bis ich wieder heimkomme!«
»Allright!« rief der Kleine und stapfte weg.
Der Per Hansen wartete, bis der Bub zur Tür hinein war, nahm dann einen Stab in jede Hand und fuhr davon. – Schaute dort nicht ein Antlitz durchs Fenster? – —
Er sah nicht mehr zurück. – Er kam dort vorbei, wo die Buben im Schnee arbeiteten, hörte sie schwätzen, wollte noch einmal mit ihnen sprechen; aber es kam nicht dazu, – er schob sich nach Westen. – Es zog etwas an ihm, – es war so, als hätte er die Trense an, jemand strammte den einen Zügel. Er mußte den Kopf beugen, um mit dem fertig zu werden: »Nein, jetzt nicht! – Jetzt nicht!« murmelte er bitter und wischte sich die Augen mit dem Fäustling.
Am Küchenfenster stand die Beret und sah ihm nach. Die guten Augen weiteten sich zu einer Frage. Wollte er denn nicht hereinkommen, – hatte der Permann vergessen, es ihm zu sagen? – Er kam doch wohl noch herein? – Und sie hatte alles so hübsch für ihn angerichtet! – Nein, das ging nicht an, sie mußte durchaus wissen, wen er mitzunehmen gedachte!
Sie eilte zur Tür, lief auf die Treppe, wollte ihn rufen. Aber da war er schon weit weg. – Der Weststurm blies ihr ins Gesicht; die Augen liefen ihr gleich voll Wasser, so daß sie ihn kaum noch erblickte. – Windstöße fauchten aus dem endlosen Grau heran, fegten den Schnee vor sich her; er tanzte auf und ab, legte sich und stiemte wieder auf. – Bald war der Per Hansen durch das Schneetreiben nicht mehr zu erkennen.
Es wehte so kalt und fuhr ihr durch Mark und Bein. —
Der Per Hansen trat beim Hans Olsen ein und plauderte eine Weile mit ihm in der Kammer. Die Worte fielen vereinzelt. – Der Per Hansen wußte nichts zu sagen, fand auch nicht, daß er hier etwas zu suchen habe. Er erhob sich bald: Jetzt fahre er; was für eine Art Fahrt das werde, wisse er nicht. Glücke sie, bringe er den Pastor mit; – jetzt müsse sich der Hans derweile nur brav ausruhen, – er dürfe sich um nichts bangen und grämen!
Der Hans Olsen faßte die Hand des andern und wollte sie gar nicht mehr loslassen; wie ein Kind war er, das lange gebettelt und endlich seinen Willen bekommen hat.
»Ich wagte nicht, dich zu bitten, siehst du!« erklärte er. »Denn ich wußte ja, du werdest helfen, sobald es Fahrtwetter wird. So bist du immer gewesen, – jetzt weiß ich, ich werde schlafen.«
Draußen in der Küche hatte die Sörine den Tisch gedeckt und beeilte sich, den Kaffee einzuschenken. Als er hinauskam, nötigte sie ihn, erst noch einen Schluck zu trinken, ehe er sich auf den Weg begab.
»Auch hier gibt es Kaffee? – O nein,« murmelte er und schüttelte den Kopf, »es mag genug damit sein für heute!«
Damit ging er hinaus.
Als er die Skier an den Füßen hatte, reckte er sich auf und sah heimwärts, während er sich die Fäustlinge anzog. Er konnte das Haus dort drüben gerade noch erkennen. – Das Weiße ringsum wuchs herauf, stieg, – flutete auf. Schneewirbel spritzten hoch übers Dach, bisweilen verschwand das Haus.
Er seufzte tief, fuhr sich mit den Fäustlingen über die Augen und brach auf.
Er nahm Peilung von Häusern und Landschaft und legte den Kurs, wie er glaubte, ihn einhalten zu müssen, – mit dem hatte es gewiß keine Gefahr. Den ganzen Tag über hatte der Wind nur aus einer Richtung geweht und hielt sich wohl weiter!
Und dann dachte er nicht mehr an den Kurs, sondern überlegte, ob es nicht doch verkehrt gewesen war, daß er nicht den Kaffee getrunken hatte, wenn sie sich erst die Mühe gemacht, ihn anzurichten? – Jetzt sollst du sehen, grämt sie sich, daß ich so sonderbar bin. Dann ist sie traurig und hat wenig Geduld mit den Buben; und doch bedarf es einer behutsamen Hand bei solchen lebensvollen Füllen – das versteht sie nicht! —
Die Gedanken strömten ihm zu, weich und warm, und er lächelte ihnen entgegen:
Sei gewiß, daß sie den Permann dich heut abend ins Nachtgebet einschließen läßt, falls er nicht von selbst daran denkt. Es sollte artig sein, ihnen zuzuhören!
– – Er glitt davon in gleichmäßigem Schwung, richtete sich nach dem Wind. Das Bild verließ ihn nicht mehr – es sollte wohl artig sein, sie zu sehen, o du Permann, du Permann! – Sollte aus dir nicht ein ganz besonderer Kerl werden, der du so gut angehalten wirst! —
Die Dämmerung und das Schneetreiben hüllten ihn immer mehr ein, die Finsternis senkte sich schnell herab; der Schnee fiel dichter, – Wirbel klebten sich ans Gesicht, – keine Gefahr, – der Wind hatte sich ja nicht gedreht, – daheim stand alles zum Rechten! Und jetzt betete die Mutter mit dem Permann zur Nacht! – Geh du nur – geh du nur!
Ungefähr auf der Mitte des Weges zwischen Colton und James River liegen ein paar Hügel; einige Settlers hatten sich bereits hier festgebissen.
Auf einem dieser Hügelzüge stand ein alter Heuschober. Ein Neusettler hatte etwas Grobheu im Flachland gemäht und es hier oben aufgeschichtet, hatte dann aber herausgefunden, daß dieses Heu wenig zum Futter tauge, und da war der Schober stehengeblieben. – An einem Tage im Sommer nach des Hans Olsens Tod streiften ein paar Burschen die Prärie ab auf der Suche nach einer Herde Jungvieh, die sich verlaufen hatte. Sie kamen an dem Heuschober vorbei. Und es wurde ihnen unheimlich zumute: Auf der Westseite hockte ein Mann, den Rücken gegen das Heu gelehnt. Mitten im warmen Sommer war es. Aber der Mann hatte zwei Paar Skier bei sich, das eine Paar lag neben ihm, das andere war auf dem Rücken festgeschnürt.
– Der Mann hatte sich die dicke Strickmütze gut über die Ohren heruntergezogen und große Fäustlinge an den Händen; er hielt einen Stab in jeder Hand.
Für die Burschen sah es so aus, als raste der Mann und warte auf Schnee, um weiterzufahren. – Er starrte geradeaus – nach Westen. – —