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|  Sonnleitner Theodor Alois
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|  Die Höhlenkinder im Heimlichen Grund
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   Alois Theodor Sonnleitner
   DIE HÖHLENKINDER IM HEIMLICHEN GRUND 


   Eva und Peter

   Die dreijährige, flachsblonde Eva wäre der Liebling der Windisch-Garstener gewesen. Aber sie lebte als Waise bei ihrer Großmutter, der alten Stoderin, die der Hexerei verdächtig war. Das war schlimm für die alte Frau und für ihre Enkelin, die Eva.
   Die Stoderin, Witwe des einst weit und breit bekannten Wundarztes Eusebius Theophil Stoder, sammelte Würz– und Heilkräuter an den Hängen des Toten– und des Sengsen-Gebirges. Sie tat ihr Bestes, um Mensch und Tier von Gebrechen zu heilen. Daß sie die Wirkung der Heilpflanzen durch uralte heidnische Sprüche erhöhen wollte, bestärkte die Menschen in der Meinung, sie sei eine Zauberin. Und doch waren es nur uralte Segensworte aus verschollener Zeit, mit denen die Stoderin zum Beispiel den verrenkten Fuß eines Pferdes »besprach«, bevor sie einen kühlenden Umschlag aus zerdrückten Huflattichblättern darumband. Wo ein Kranker starkes Vertrauen hatte zur erfahrenen Witwe des Arztes, trat oft Besserung ein.
   Als im Frühsommer 1683 ein Hagelwetter die Fluren von Windisch-Garsten verwüstete, wurde die Stoderin, die das Unwetter in den Wäldern draußen erlebt hatte, angeklagt, sie habe das böse Wetter gemacht. Nur durch eilige Flucht gelang es der alten Frau, einem Hexenprozeß zu entgehen, der sie auf den Scheiterhaufen gebracht hätte. Jeder, der ihr geholfen hätte, wäre selbst der Hexerei verdächtig geworden.
   Wie ein gehetztes Wild im Dickicht Bergung sucht, so wanderte die alte Frau im Schutz der Gebirgswälder südwärts, um bei ihrem Bruder Hans Zuflucht zu suchen. Der hauste als Köhler und Pechsieder in der menschenfernen Einöde der Geiergräben, wenn er nicht gerade irgendwo am Eisack eine Rindenhütte bezogen hatte und seinen Kohlenmeiler betreute.
   Fünf Wochen lang zog sie mit ihrer Enkelin Eva auf dem Rücken dahin. Sie nährte sich und die Kleine von rohen Pilzen, Wurzeln und Beeren. Endlich gelangte sie in die Geiergräben, von wo aus sie ins Gelände aufstieg. Vom Bruder wurde sie gern aufgenommen. Sie war ja erst einundsechzig, zehn Jahre jünger als er, und so durfte er von ihr und dem Mädchen Eva Pflege im Alter erhoffen.
   Der Stoderin, die von ihrem Manne her wußte, wie Arzneipflanzen anzuwenden waren, gelang es meist, Tiere und Menschen von Krankheit zu heilen. Sie tat es um Gotteslohn und verlangte nie etwas; da sie aber arm war, nahm sie gern, was ihr die Leute aus Dankbarkeit gaben. Im Tauschhandel brachte sie ihre Büschel wilden Kümmel, Fenchel, Bitterklee, Quendelkraut, Schafgarbe und andere Gewürz– und Arzneipflanzen leicht an. Von ihren weiten Streifzügen zu Bergbauern und Hirten kehrte sie erschöpft heim, beladen mit Feldfrüchten, mit Brot, Mehl, Hühnerfutter, süßen Kastanien, Käse, Butter, geräuchertem Fleisch und Speck, manchmal sogar mit einem Stück grober Leinwand oder hausgewebten Wollzeugs.
   In der verräucherten Köhlerhütte war es behaglich, obwohl ihre Bewohner hart arbeiten mußten. Alles, was sie brauchten, mußten sie auf dem Rücken eintragen, denn die Pfade und Steige vom Tal herauf waren nicht einmal für einen Schiebkarren befahrbar. Bald nach der Ankunft der Stoderin belebten einige Ziegen und Schafe, eine graue Hauskatze und ein halbes Dutzend Hühner die kleine Wirtschaft.
   Eva gedieh in der Einsamkeit der Bergwelt; nur still war sie und viel zu ernst. Auch die Ahnl, die Großmutter, war wenig gesprächig, und den Großonkel, den Eva nicht ganz zutreffend Ähnl, Großvater, nannte und trotz seines langen, struppigen Graubarts und verwitterten Aussehens liebgewann, sah die Kleine nur selten.
   Von den Kindern der entlegenen Gehöfte abgeschnitten, war Eva in ihren Spielen auf das angewiesen, was sie sich ersann und zusammenbastelte.
   Wollige Rosengallen, in die sie vier Hölzchen steckte, waren ihre Schäfchen. Auch einen Hühnerhof schaffte sie sich, indem sie Eicheln mit Federn besteckte und auf zwei Holzbeine stellte. Holzpüppchen mit Köpfen aus Galläpfeln stellten den Ähnl, die Ahnl und sie selbst dar. Beim Spiel mit diesen Dingen redete sie leise vor sich hin. Wohl gab es Zeiten, wo ihr helles Lachen durch die Einsamkeit schallte, weil die jungen Zicklein oft mit allen vieren in die Höhe sprangen und sich vor Eifer überpurzelten, wenn sie ihnen Futter streute. Aus dem wenigen, das ihr die beiden Alten über Wichtel, Kobolde und Waldfrauen erzählten, und aus dem, was sie selber sah, baute sie sich eine eigene, eine Märchenwelt.
   Als Eva fünf Jahre alt war, erlebte sie einmal spät nachts etwas, das sie zu neuen Grübeleien zwang. Vom flackernden Schein des angezündeten Kienspans geweckt, sah sie, wie Ähnl und Ahnl sich an der sonst verschlossenen Wandnische zu schaffen machten. Der Ähnl nahm ein schmales Holzkästchen aus dem Wandschrank, öffnete es und holte ein zottiges Wurzelmännlein heraus. Es war mit einem Ledergurt, mit Pantöffelchen und einem Feuerschwammhütchen angetan. Die Ahnl zog den Alraun aus, badete ihn in einer bereitgehaltenen Schüssel und murmelte etwas Unverständliches. Dann goß sie das Wasser vorsichtig in eine irdene Flasche, denn jeder Tropfen dieses Badewassers galt als kostbare Arznei. Das Wurzelmännchen wurde wieder angekleidet und in sein Bett gelegt. Eva, die sich auf ihrem Lager aufgerichtet hatte, sah, wie der Ähnl allerlei Glitzerndes und Klingendes um das Männlein ordnete. »Vergiß das Gold nicht!« hörte sie die Ahnl sagen, die dem Alten winzige Stücke des Edelmetalls zureichte. »Ach!« entfuhr es Eva unwillkürlich – da blies der Ähnl so stark in die Flamme des Kienspans, daß sie erlosch, und beeilte sich, beim Schimmer der Glut den »Hausgeist« wieder in seinen Schrank zu stellen. Jetzt wußte Eva um ein Geheimnis der Großen. Mehr erfuhr sie freilich nicht.
   Doch wie es mit verbotenen Dingen geht: Der Alraun reizte Evas Neugierde. Obwohl sie wußte, daß sie unrecht tat, öffnete sie heimlich den mit einem Pflock verschlossenen Wandschrank, nahm das geheimnisvolle Kästchen aus dem Dunkel der Mauernische und betrachtete den Inhalt.
   Da waren Rosengallen, Haselnüsse, Zirbelzapfen, Stücke von Edelsteinen, aber auch Körner und Fäden eines hellgelben Metalls, an denen Eva sich nicht sattsehen konnte.
   Immer wieder nahm sie das Gelbe, Schimmernde in die Hand. Es mußte etwas ganz Kostbares sein. »Vergiß das Gold nicht!« hatte die Ahnl gesagt ... Da hörte sie den Bergstock der heimkehrenden Großmutter aufschlagen und stellte mit Windeseile das Holzkästchen in sein Versteck zurück. Die Ahnl hielt den Besitz des Alrauns, dieses heidnischen Hausgeistes, vor aller Welt geheim. Er hätte sonst nach ihrer Meinung seine Heilkraft verloren.
   Später, als Eva schon gut das Haus hüten konnte, begann die alte Frau ihre Wanderungen auszudehnen. Mochten auch die abergläubischen Älpler glauben, sie sei mit dem Teufel im Bunde, man rief sie doch, wenn man sie brauchte, diese alte, hagere Frau mit dem scharfgeschnittenen, vom Leid gezeichneten Gesicht und den entzündeten Lidern. Argwöhnisch und hoffnungsvoll zugleich lauschten die Menschen auf die unverständlichen Worte ihrer »Besprechungen«.
   Da geschah etwas Schlimmes. Eine Bäuerin, die einen Heiltrank der Stoderin getrunken hatte, erkrankte an einer Gliederlähmung, gegen die kein Mittel helfen wollte. Das Gerücht, die Stoderin habe ihr's »angehext«, gewann so viel Glauben, daß die alte Frau wieder flüchten mußte, wenn sie nicht auf dem Scheiterhaufen brennen wollte. Der Bruder selbst geleitete sie bei Nacht übers Gebirge südwärts nach dem »Heimlichen Grund«, der ihm aus seiner Jugendzeit bekannt war; dort hatte er als junger Bursch mit Armbrust und Pfeilen Steinböcke gejagt. Von den abergläubischen Anwohnern wurde der Bergkessel Jahrzehnte ängstlich gemieden. In der engen Klamm, die den einzigen Zugang bildete und die »Teufelsschlucht« hieß, waren drei tollkühne Eindringlinge nacheinander vom Steinschlag getötet worden. In seiner Fürsorge schleppte der alte Mann trotz der schwierigen nächtlichen Wanderung eine Ziege mit; sie sollte der Schwester wenigstens so lange Nahrung geben, bis die Kastanienbäume, eine Hauptnahrungsquelle der Tiere des Heimlichen Grunds, Früchte trugen.
   Nach dem lebensgefährlichen Anstieg durch das noch wasserarme Bett des Klammbachs wies der alte Hans seiner Schwester die Wohnhöhlen unter den Salzwänden des Heimlichen Grunds und kehrte eiligst in die Geiergräben zurück, wo Eva allein zu Hause war. Als die Ahnl wochen– und monatelang ausblieb, wurde das Mädchen immer bedrückter, denn der alte Onkel war noch mürrischer und noch wortkarger geworden.
   Ein Jahr verging. Die gelähmte Bäuerin war inzwischen fast genesen, und die Verdächtigungen gegen die Stoderin verstummten. Schon wollte sich Hans auf den Weg machen und seine Schwester wieder heimholen, als sie ungerufen zurückkehrte. Sie kam ohne die Ziege, aber nicht allein. Ein stämmiger, braunäugiger, schwarzhaariger Junge von ungefähr sieben oder acht Jahren, den sie unterwegs aufgelesen hatte, begleitete sie. Er hieß Peter.
   Seine Mutter, auch eine Flüchtige, wie es damals viele im Lande gab, war im einsamen Bergwald bei der Geburt eines toten Mädchens in den Armen der ihr völlig fremden alten Frau gestorben. Die Stoderin hatte sie begraben und mit dem verwaisten Buben ein Gebet gesprochen. Als könnte es gar nicht anders sein, führte sie ihn an der Hand mit sich fort und brachte ihn heim in die Geiergräben; auch ihm wurde sie eine fürsorgende Ahnl. Peter war ein früh gereifter, fleißiger Bub.
   Er und Eva gewöhnten sich rasch aneinander – ja, die stille Eva wurde zusehends heiterer und gesprächiger.
   Der kräftige Junge half unermüdlich beim Einschleppen von Holzvorräten und beim Heuen und erwies sich auch beim Kräutersuchen und Wurzelgraben, beim Sammeln von Pilzen als gelehrig und geschickt. Besser denn je zuvor konnte die Stoderin ihrer Sammelarbeit nachgehen und zeitweise ihre Talwanderungen unbesorgt tagelang ausdehnen. Für die verlorene Ziege tauschte sie nach und nach mehrfach Ersatz ein, und Peter wurde ein verläßlicher Ziegenhirt, der seine kleine Herde beisammenzuhalten wußte. Die Tageszeiten las er vom Stand der Sonne ab; Größe und Gestalt des Mondes sagten ihm, welche Woche es war. Sein Verstand entwickelte sich im Laufe der nächsten Jahre durch die Anforderungen der Arbeit, durch Beobachtung der Wetterzeichen und nicht zuletzt durch die Erklärungen der alten Stoderin über die Wirkung der Gift– und Heilkräuter. Sie behandelte den Jungen bald wie einen verständigen Erwachsenen und besprach mit ihm alles, was mit ihrer und seiner Arbeit zusammenhing. Mit dreizehn Jahren war er ein tüchtiger Hirt, der den Muttertieren alle Sorgfalt angedeihen ließ. Je mehr die Stoderin den Buben liebgewann, um so öfter sprach sie zu ihm von ihren Heilerfolgen bei Menschen und Tieren; es war, als wollte sie ihm alle ihre Erfahrungen vererben. Was Peter im Gebirge an Wundern erschaute und erlauschte, verwob sich mit den Erzählungen der alten Frau zu einem Bild von der Welt, das reich an Vermutungen und Irrtümern war. Von dem, was er an der Seite der Mutter gelernt hatte, vergaß er vieles.
   Alles Wissen der alten Stoderin von den Heilkräutern war ein Erbe vergangener Geschlechter und Zeiten und samt den Pflanzennamen, die an längst vergessene Götter, Holde und Trolle erinnerten, überliefert worden. Die Heckenrose, deren Gallen sie als Schlafmittel sammelte, nannte sie »Friggadorn«, die Hauswurz »Wodansbart«, die Mistel »Marentaken«, die Tollkirsche »Lokiwurz«. Die Blüten der Ragwurz, »Frauentränen«, gemahnten an die »Liebe Frau« der Vorfahren, an Freia, die als blaublühende »Wegwarte« der Heimkehr ihres Gatten Odin harrt.
   Peter kannte die eßbaren Kräuter und Wurzeln der Alpenwelt bald so gut, daß er draußen um eine Mahlzeit nie verlegen war. Wenn es ihm an Quellwasser fehlte, kaute er saftigen Sauerklee und löschte so seinen Durst. Vor den Tollkirschen, vor den appetitlichen Beeren des Seidelbastes und anderer Giftpflanzen war er gewarnt; er kannte die gefährlichen Pilze und vermied sie wie die Ziegen die giftigen Blätter der Nieswurz. Alles, was die Ahnl dem Peter beim gemeinsamen Kräutersammeln mitteilte, erzählte er Eva. Und während sie, allein gelassen, die gesammelten Pflanzen und Pilze verlas, schnitt und trocknete, war sie mit ihren Gedanken in einer Welt des Wundersamen und Geheimisvollen.
   Der Sonntag war der einzige Tag, an dem die Kinder in ihrer Märchenwelt schwelgen konnten. Die alte Stoderin wußte nichts von den Sonntagsbräuchen der heidnischen Vorfahren. Verwirrt vom Glaubensstreit der Zeitgenossen, hielt sie jedoch daran fest, daß nach der harten Arbeitswoche der heilige Tag ein Feiertag sein sollte, durch keine grobe Arbeit entweiht. Dann führte Peter seine Gefährtin auf die hochgelegenen Halden, wo Edelweiß und leuchtend rote Alpenrosen prangten.
   Da die Geiergräben mehr als eine Tagreise weit vom nächsten Kirchdorf entfernt waren, wußten nur wenige Menschen von den Höhlensiedlern, und niemand kümmerte sich darum, daß die Kinder bei der Stoderin fast als Heiden aufwuchsen. Aber es war kein reines Heidentum. Ab und zu entnahmen sie aus einem Stoßseufzer der Ahnl, daß sie mit einem allmächtigen Gott sprach, dem Allvater, der aber nicht zu sehen war.
   Peter arbeitete gern und war stolz, wenn die Ahnl zu ihm sagte: »Du schaffst wie ein Großer!«
   Auch dem Ähnl war der Junge ans Herz gewachsen. Er zeigte ihm, wie man von grünen Weidenschößlingen durch Klopfen die Rinde lösen und daraus Hirtenflöten machen kann. Unermüdlich schleppte er für den Jungen heim, was er an Kristallen im Urgestein fand, aber auch Mergelplatten aus dem Kalkgebirge, sonderbar geformte Baumschwämme, Knorren, Garns– und Rehkrickel aus dem Lawinenschutt. Peter barg in seinem Winkel auf dem Dachboden einen reichen Schatz, den er durch neue Funde vermehrte, ohne mit den Dingen viel anfangen zu können, weil die Arbeit ihm keine Zeit ließ. Nur an regnerischen Sonntagen, wenn er die Haustiere versorgt, Holz und Wasser geschleppt hatte, pflegte er seine Schätze vor Eva auszukramen und hatte seine Freude daran. Ab und zu regte ihn die Form eines Gegenstandes an, daraus ein Gerät zu basteln. So diente ihm ein Ziegenhorn als Scheide für den Wetzstein zu seiner Sichel, und einen dünnen Bergkristall benützte er als Griffel, mit dem er so gut es ging die Umrisse von Tieren und Menschen in die Mergelplatten ritzte.
   War Peter mit seinen Ziegen allein im Gefels, so vertrieb er sich die Zeit nach Hirtenbubenart: Er warf mit Steinen nach allerlei Zielen. Bald gelang es ihm, einen faustgroßen Steinbrocken, den er auf die Spitze eines Felsens gelegt hatte, aus ziemlicher Entfernung zu treffen und wurde darin so geschickt, daß er ein Murmeltier vor dem Bau und einen Alpenhasen beim Äsen erlegte. So steuerte er wie ein Jäger der grauen Vorzeit manches Stück Wildbret für die Küche bei und schulte Auge und Hand. Für die Bälge der erlegten Tiere, die Peter sorgfältig abgezogen hatte, tauschte die Ahnl bei den Bauern allerlei Eßbares ein.
   Der altwerdende Köhler Hans pries den Tag, an dem Peter ins Haus gekommen war; nun brauchte ihm vor den Jahren der Gebrechlichkeit nicht mehr angst zu sein. Und wenn er mit seiner weißhaarigen Schwester ausruhend vor der Hütte saß, sprachen beide davon, daß Eva einst Peters Frau werden sollte.
   Da kam wieder Unglück in das bescheidene Leben dieser Menschen. An einem Sommernachmittag hielt der Knecht des Kohlenbauern mit seinem Ochsengespann am Meiler. Er erzählte, im Stall eines Bauern, der die alte Stoderin in der Futterkammer hatte übernachten lassen, sei die Klauenseuche ausgebrochen. Das alte Gerücht, die Stoderin sei eine Hexe, sei wieder laut geworden, und die Meraner Gerichtsbarkeit habe Soldknechte ausgeschickt, sie gefangen zu nehmen. Daß ein Hexenprozeß nicht nur der Greisin den Martertod, sondern auch ihren Angehörigen Unheil bringen konnte, das wußten die beiden Alten nur zu gut. Noch am Abend mußten sie mit den beiden Kindern nach dem Heimlichen Grund aufbrechen. Die Stoderin verkleidete sich als Mann, um wenigstens von weitem Verfolger zu täuschen.
   Über pfadlose Schutthalden stiegen sie empor zu einem Gebirgssattel, der südwärts führte.


   Die Flucht zum Heimlichen Grund

   Am Tage verbargen sie sich in den Schluchten, bei Nacht zogen sie weiter, und am dritten Morgen langten sie auf der Höhe einer Glimmerschieferhalde an. Mit rundlichen Blöcken bedeckt, fiel sie sanft ab zu einem tiefausgewaschenen Tal, aus dessen Bodennebeln vereinzelte Zirbelkiefern undeutlich aufragten. Jenseits des Baches hingen rostgelbe, vom Wasser unterhöhlte Kalkwände über, in denen sich als schwarzer, nach oben weit auseinanderklaffender Riß die Teufelsklamm abzeichnete.
   Ohne Deckung wagten sie es nicht, bei Tag den langwierigen Abstieg zu unternehmen. Und todmüde waren sie auch. Jeder bekam ein Stück steinhartes Brot und trockenen Käse, und dann kauerten sich die Kinder mit der Ahnl auf dem harten Boden zum Schlafe hin. An einen Felsblock gelehnt, hielt der Alte scharf Ausschau, ob nicht irgendwo ein Verfolger auftauchte.
   Gewohnt, auf Wettervorzeichen zu achten, musterte er den Himmel. Vom Osten, wo über sattblauen Bergketten Eisfelder leuchteten, bis zum fernen Westen, wo Gletscher im Alpenrot glühten, war die Welt der Berge überwölbt von wolkenloser, weißdurchleuchteter Bläue. Stechend strahlte die Sonne hernieder, trotz des frühen Morgens.
   Dem Alten war die Morgenhitze verdächtig. Alles deutete auf ein bevorstehendes Gewitter. Und schon im Laufe des Vormittags zeigte sich im Nordwesten über den Schroffen eine Trübung des Himmels, die sich zusehends zu Wolken verdichtete.
   Jetzt stand die Sonne fast über der Klamm und beleuchtete grell die schrägen Halden ihrer klaffenden Ränder. An ihnen hingen wunderlich verwitterte Gerölltrümmer so gefährlich, als könnten sie jeden Augenblick niedergehen.
   Von dorther kamen die Steinschläge, vor denen niemand sicher war, der es wagte, zur Zeit der Schneeschmelze, nach Regenwetter oder gar bei einem Gewitter in die Klamm einzudringen, um den Heimlichen Grund aufzusuchen! Der Alte legte die Stirn in Falten. Ging das Gewitter vor Nacht nieder, dann würde sich der Klammbach in ein gischtendes Wildwasser verwandeln, das die schmale Schlucht hoch anfüllte; kam es in der Nacht, während sie in der Klamm waren, so brachte es ihnen den sicheren Tod. Im offenen Gelände aber durften sie nicht vordringen. Jeder, der ihnen auf die Spur kam, konnte sie dem Gericht ausliefern. Erst im Dunkeln durften sie den Abstieg wagen.
   Der alte Köhler bangte um die Kinder, die noch das Leben vor sich hatten, und um seine Schwester, die ihnen als Pflegemutter unentbehrlich war. Eilig nestelte er seinen Rucksack auf, in dem er neben dem Feuerzeug und den notwendigsten Werkzeugen den Alraun versteckt hatte. Er öffnete das Kästchen des Schutzgeistes, um sich von ihm Rat zu holen. Da rollten einige Erzstücke, die beim Tragen ihre Lage verändert hatten, dem Alraun auf die verbogenen Füße. Er richtete sich von seinem Lager auf und blieb dann ruhig sitzen, das Gesicht der Klamm zugekehrt. Jetzt gab's für den Alten keinen Zweifel mehr: Der Alraun wies nach der Klamm!
   In der Mittagssonne des überheißen Sommertages überkam den alten Mann eine große Mattigkeit; er wäre eingeschlafen, wenn der Durst ihn nicht so gepeinigt hätte. Rasch weckte er die Schwester.
   Sie rüttelte die Kinder wach und teilte vom geringen Rest an Brot, Speck und Käse aus ihrem Rucksack jedem sein Mittagsmahl zu. Die Kinder schliefen wieder ein.
   Am Spätnachmittag wurden sie unruhig. Zuerst wachte Eva auf, rieb sich die Augen und klagte über Hunger und Durst. Dann erhob sich Peter, holte sein Messer aus der Joppe und begann nach Hirtenbubenbrauch Eberwurzen und Sauerklee in seinen Hut zu sammeln. Hier und dort fand er auch eine Schwarzwurzel. Er selbst kaute während der Arbeit mit vollen Backen, dann bewirtete er mit den flüchtig ausgeschälten Blütenböden der Eberwurzdistel, den noch recht mageren Schwarzwurzeln und dem Sauerklee die anderen.
   Das Gewitter schien den Flüchtenden noch so weit entfernt, daß sie vor seinem Ausbruch durch die Klamm zu kommen hofften. In abergläubischem Vertrauen zum Alraun begannen sie den Abstieg. Als sie bei den Zirbelkiefern des Talgrundes anlangten, ließ ein Knistern im Bodenreisig sie vor Schreck zusammenfahren. Gott sei Dank, es waren keine Verfolger! Zwei Stück Rehwild brachen durch das Jungholz und verschwanden im dunklen Wald. Endlich standen die Flüchtlinge im Bett des Klammbachs, dem einzigen Weg durch die Klamm. Im kühlen Wasser watend, drangen sie durch die Schlucht aufwärts, zwischen den Felswänden durch, die das Murmeln des Baches zum Getöse anwachsen ließen. Gegen das strömende Wasser, das ihnen über die Knöchel, manchmal sogar bis zu den Knien reichte, gingen sie mühsam an. Langsam schritt der Alte voran; seine Rechte tastete die Felsblöcke ab, mit der Linken zog er Peter nach sich, der Eva führte. Die Ahnl folgte als letzte.
   Solange der Widerschein des Mondlichtes auf dem unruhigen Wasserlauf lag, bewegte sich der Alte sicher vorwärts. Als es aber völlig finster wurde und er nicht wußte, ob ein überhängender Fels oder eine Wolke das Licht verdeckte, begann er zu stolpern, so daß er sich wiederholt die Schienbeine blutig schlug. Dann kamen Stellen, wo der Bach über Felsblöcke niedersprühte, die überklettert werden mußten. Das Getöse des stürzenden Wassers schwoll an solchen Stellen betäubend an und machte jedes Wort unverständlich. Als der erste Blitz die Finsternis erhellte und ein lang nachrollender Donner das Losbrechen des Gewitters anzeigte, wurde dem Alten bewußt, daß von der Schnelligkeit ihrer aller Leben abhing. Je höher sie in der Klamm emporkamen, desto schwieriger wurde das Vordringen. Stärker rauschte das Wasser, das nun steiler fiel. Dazu gesellte sich das Scheuern und Anschlagen des vom Bach geschobenen Gerölls; von den nahen und fernen Felswänden kam der Schall tausendfach gebrochen als Nachhall und Widerhall zurück.
   Plötzlich flammte wieder grellweißes Licht auf und zerriß für einen Augenblick die schwarze Nacht. Unmittelbar darauf erzitterte die Luft von einem Donnerschlag. Ihm folgte ein scharfes Knattern und grollendes Rollen. Das Gewitter war da. Blitz folgte auf Blitz, ein Donnerschlag löste den anderen ab.
   Dann setzte ein Platzregen ein. Lange, lange strömte es herab. Die Ahnl warf den Rucksack und die regenschweren Überkleider ab; die Kinder folgten ihrem Beispiel. Es galt, das nackte Leben zu retten.
   Gegen die anschwellende Ache ankämpfend, dachten die Alten an nichts anderes als an das steigende Wasser und an die unausbleiblichen Steinschläge.
   Da – ein Knattern, das Gepolter stürzender Felsblöcke und ein Aufklatschen im Wasser, das hoch aufspritzte. Steinschlag!
   Der Alte drehte sich nach den Kindern um und winkte ihnen zu, sich seitwärts zu halten, wo die vorspringende Felswand den Bach schirmte. Im nächsten Augenblick brach er zusammen, niedergeschlagen von einer schweren Steinplatte, die ihn im Bach begrub. Die Kinder standen wie versteinert da. Die Ahnl aber faßte sie an den Händen und zog sie fort, vorbei am überfluteten Grabstein.
   Die Felsen nahmen in der wachsenden Tageshelle bestimmte Umrisse an; durch den feinen Nebel, der die Schlucht erfüllte, sahen die Überlebenden den nahen Ausgang.
   Was an Kraft noch in ihnen war, boten sie auf. Dort vorne winkte die Rettung: der Heimliche Grund!
   Im Spalt, den oben weit vorhangende Felsen überdachten, nahm das Licht eine grünliche Färbung an. Noch wenige Schritte im Geröll neben dem Bach, und sie atmeten erleichtert auf: Vor ihnen lag der Heimliche Grund – ein weiter Talkessel, rings eingeschlossen von hohen Felswänden, an deren Fuß sich schräge, stellenweise mit Nadelbäumen bewachsene Schutthalden hinzogen! Der schotterige Grund aber, durch den sich der Bach schlängelte, war von hohem Gras, breitblättrigem Huflattich, üppigen Pestwurzen, blühenden Stauden und Jungholz bedeckt.
   Da kniete die Ahnl nieder. Die Kinder folgten ihrem Beispiel. Die gefalteten Hände zum Himmel erhoben, betete sie laut und flehentlich: »Lieber Gott im Himmel, erbarme dich! Behüt mir die Kinder!« Dann stand sie taumelnd auf, und die drei Geretteten setzten ihren Weg in das Tal fort. Aus dem Lärmen des Bachs war nun ein Murmeln geworden, das die Stille im Talkessel kaum störte. Die tief hängenden grauen Wolken und darunter die Nebelschwaden an den Felswänden hatten etwas Einschläferndes.
   Steifbeinig und langsam, aber zielbewußt, ging die Ahnl dahin, immer bachaufwärts; dort in der oberen Wand mochten wohl die Höhlen sein, von denen sie den Kindern oft erzählt hatte; still kam Peter nach und zog Eva, die kaum noch gehen konnte, mit sich.
   Plötzlich änderte die alte Frau die Richtung. Sie bog nach rechts ab, wo ein überhängender Fels ein Dach gewährte. Dort lag eine Schicht braunen Laubes, vom Vorjahre her angeweht und angeschwemmt, halbvermodert. In diesen Laubhaufen vergrub sich die Stoderin, ihre Augen sahen ausdruckslos ins Leere. Peter und Eva kauerten sich zu ihr. Noch im Einschlafen spürten sie die Schauer, die den Körper der Ahnl überliefen.
   In der Klamm aber lag unter einem Felsstück begraben der Ähnl samt Werkzeug und Gerät, das ihnen hätte dienen sollen: Beil und Handsäge, Meißel, Bohrer, Messer, Kochpfanne und Feuerzeug, alles war dahin, alles verloren!


   Verwaist

   Dem Gewitterregen folgte ein sonniger Morgen. Wallende Nebel stiegen von der Talsohle an den Hängen empor. Durch die klare Luft drang der vielstimmige Gesang der Ringdrosseln, Wasserschmätzer, Bergfinken, Girlitze und Grünlinge. Peter erwachte. Er rieb sich die Augen und sah die Sonnenpracht um sich her. Dann fiel sein Blick auf Eva, sie lag noch in tiefem Schlafe, eng hingeschmiegt an die Ahnl. Ein quälendes Hungergefühl trieb den Jungen zum Aufstehen. Seine Blicke prüften den reichen Pflanzenwuchs der Umgebung. Im Talgrunde blühten stachelige Männertreustauden und Wegwarten. Waren die Wurzeln auch mager, genießbar waren sie doch. Schon wollte Peter aufstehen, als er eine Rehgeiß gewahrte, die aus dem Jungholz ins freie Grasland trat. Ihr folgten zwei Kitze, deren hellrotbraunes Fell noch weiß getüpfelt war. Sorglos näherten sie sich dem Beobachter. Jetzt bemerkte auch die Ricke den Jungen; sie äugte neugierig herüber, ohne Angst.
   Peter durchfuhr der Gedanke: Beschleichen, fangen, töten, essen! Ohne zu überlegen, wie das Wild zubereitet werden könnte, ließ er sich auf Hände und Knie nieder und begann sich anzuschleichen. Er hatte Hunger, wütenden Hunger.
   Unter ihm knackte dürres Reisig. Die Ricke sicherte mißtrauisch. Nur ihre nach vorn gerichteten Lauscher verrieten, daß sie aufmerksam geworden war. Klopfenden Herzens und mit angehaltenem Atem kroch Peter näher. Kaum fünf Schritte vor der Ricke duckte er sich zum Ansprung. Da hörte er sie heftig aufstampfen. Plötzlich schnellte sie empor – schon flog sie in langen, bogenförmigen Sprüngen über das Steinfeld und setzte über den Bach, ihr nach die beiden Kitze und hinterher der Jäger. Die Entfernung zwischen ihm und dem Wild wurde größer. Unmöglich, diese Tiere mit den Händen zu fangen! Einen Stein, einen Stein sollte man haben ... Da lagen ja faustgroße Steine genug auf dem Boden! Im Laufen hob er einen auf und stürzte dem Wilde nach. Er rannte sich heiß, nur von einem Gedanken beseelt: töten, töten und essen. Das Wild war im Vorteil. Vertraut mit seinem Revier, schlankbeinig und gelenkig, flog es über den Boden dahin, dem Dickicht zu, das am Waldesrand die Talsohle säumte. Reiser knickten, Zweige rauschten, und fort war es, den Blicken des Verfolgers entschwunden. Peter stürzte in das Dickicht und prallte mit einem Aufschrei zurück. Eine Brombeerranke hatte ihm das Gesicht zerkratzt, und von der tiefen Schramme, die über Nase und Wangen führte, rann das Blut. Der Stein entfiel seiner Hand, Peter wandte sich zum Gehen.
   Mit hängendem Kopf kehrte der Jäger auf seinen Spuren zurück. Unterwegs wusch er seine Wunde im Bach und schlenderte mißmutig zwischen den hohen Königskerzen und Weidenröschen dahin, deren Blüten sich in der warmen Vormittagssonne erschlossen hatten. Trotz der schmerzenden Wunde begann er seine Umgebung aufmerksam zu mustern. Der knurrende Magen schärfte seine Augen. Auf dem feuchten Hang über dem Fels entdeckte er reichtragende Heidelbeerstauden; mit beiden Händen stopfte er sich die herbsüßen Früchte in den Mund.
   Als der ärgste Hunger gestillt war, begann Peter für Eva und die Großmutter zu sammeln. Aber worin sollte er die Beeren fortbringen? In die hohle Hand ging nicht viel. Vor ihm stand eine Klettenstaude. Rasch pflückte er eines der großen Blätter, steckte die Blattränder mit einem Zweig zu einer Tüte zusammen und füllte sie bis zum Rande.
   Als er damit unter dem Felsendach anlangte, fand er Eva noch schlafend an der Seite der Großmutter, die mit blassem Gesicht und mit offenen, seltsam starren Augen dalag. Ihr Kinn war herabgesunken. »Ahnl, schau, Heidelbeeren!« Sie gab keine Antwort und sah an ihm vorbei ins Leere. »Sie wird noch müd sein«, murmelte er vor sich hin.
   Er berührte Eva an der Schulter. Die fuhr erschrocken auf. Dann sah sie Peters zerschundenes Gesicht. »Ja, Peterl, wie schaust denn du aus?«
   »Die Brombeerstauden haben mich so hergericht't, ein Reh wollt' ich fangen.« Und er reichte ihr die Tüte mit den Beeren. Gierig aß sie davon, dann erhob sie sich.
   »Ich geh' mit dir, wo gibt's denn die?«
   »Schon recht«, sagte der Bub zögernd, während er mit steigendem Befremden die Großmutter beobachtete. Sie regte sich noch immer nicht.
   Daß die Frau, die Peter noch nie krank gesehen hatte, erkranken oder gar sterben könnte, daran hatte er nicht gedacht. Und doch kam ihm jetzt der Gedanke: Am End' ist sie tot? Auch Eva betrachtete ängstlich das starre Gesicht der Ahnl.
   Beide begannen, die Leblose zu rütteln, versuchten vergeblich, ihre krampfhaft geschlossenen Hände zu öffnen. Eva legte ihren Arm um den Hals der alten Frau. »Ahnl! – Ahnl!« rief sie bittend. Die Großmutter aber hörte sie nicht. Da kauerten sich die Kinder neben sie und weinten.
   In der Klamm war der Ähnl erschlagen und begraben, und vor ihnen lag tot die liebe, gute Ahnl.
   Peter faßte sich zuerst. Für Eva mußte nun er sorgen, das wußte er. Eine Wohnung mußte er finden, für sich und für sie, und auch für die Nahrung mußte er sorgen. Vor allem aber durfte er die Tote nicht den Raubtieren überlassen.
   Ohne sich um Eva zu kümmern, die zusammengesunken neben der Toten kauerte, machte er sich an die Arbeit. Er kam nicht weit damit. Seine Hände waren zu schwach, der Geröllboden zu hart. Er erinnerte sich seines Messers. Aber das hatte er ja nicht mehr, das war in der Joppe, und die war in der Klamm geblieben.
   Da entschloß er sich, die Ahnl dort zu bestatten, wo sie lag, wie sie lag. Er begann Steine herbeizutragen und schichtete sie um den Leichnam auf.
   »Was tust du denn?« fragte Eva verstört.
   »Die Ahnl begraben.«
   Wieder begann Eva zu weinen, sie versuchte, ihm zu wehren. Erst als Peter sie auf die Geier, diese Leichenfresser, hinwies, war sie bereit, ihm bei der traurigen Arbeit zu helfen. Aus Heidelbeerlaub und einem halbverblühten Almrauschzweig machten die beiden ein Sträußlein und steckten es der Toten zwischen die starren Finger; die Augen, deren leerer Ausdruck sie ängstigte, deckte Eva mit Vergißmeinnicht und Weidenröschen zu. Peter nahm einen Stein und grub damit eine Siegwurz aus, er legte sie auf die Herzgegend der Toten, auf daß ihr die bösen Geister nichts anhaben könnten. Den Leib deckten die Kinder mit Moos, Heidekraut und Rasenstücken, dann legten sie noch Steine herum und darauf. Peter sprach leise: »Ahnl, ich dank' recht schön für alles Gute, das du mir getan hast. Mußt dir keine Sorg' machen um Eva. Zum Essen find' ich genug. Die Geißen werd' ich auch finden – und die Höhlen auch. Und für'n Winter werd' ich vorsorgen, wie wir's mitsammen gemacht haben. Und wir bleiben da, die Eva und ich, wir bleiben bei dir. Gelt, du ...« Seine Stimme versagte. Ganz behutsam legten er und Eva weiche Moospolster und flache Steine auf das Gesicht der Verstorbenen. Stumm kauerten sie noch eine Weile am Grab, dann nahm Peter das Mädchen bei der Hand und führte es hinweg von der heilig gewordenen Stätte.
   Oberhalb des Grabhügels stiegen sie die Lehne hinauf und aßen Heidelbeeren. Doch bald mußten sie weiter und die Höhle suchen, in der einst die Ahnl gewohnt hatte. Inzwischen sank die Sonne, die Schatten der Bäume wurden länger, und Peter beschäftigte die Frage nach der Unterkunft. Er dachte zurück an den Morgen und erinnerte sich, daß die Ahnl erst bachaufwärts hatte gehen wollen. Dort irgendwo mußten die Höhlen liegen.
   Bachaufwärts also stolperten sie über klobiges Geröll und drangen in dichtes Buschwerk. Nur langsam kamen sie voran zwischen Hasel-, Weiden– und Weißdornbüschen, die stellenweise von Waldreben dicht umsponnen waren.
   Als Peter mit den Armen das Rankenwerk lockerte, scheuchte er eine gelbbäuchige Bachstelze vom Nest, das samt vier braunscheckigen Eiern ins Gras fiel. Das war eine unverhoffte Mahlzeit; die Eier waren noch frisch, aber viel zu winzig.
   Zwei Ringdrosseln, wunderlich anzusehen mit ihren weißen Halsbinden im braunen Gefieder, begleiteten mit scheltendem Schnalzen die Eindringlinge von Busch zu Busch und flogen schließlich auf einen hohen Felsblock, der dort, wo sich der Bach in zwei Arme teilte, baumhoch zum Himmel ragte. Sein grobkörniges, mit Glimmerplättchen durchsetztes Gestein glitzerte in der untergehenden Sonne. Eine alte, hochstämmige Wetterfichte überragte den Fels, an dessen sonnenwarmem Fuß üppige Stauden von Kornelkirschen, Brombeeren und Himbeeren wucherten.
   »Den sonnigen Stein wollen wir uns merken«, meinte Peter und zeigte auf den Felsen.
   Eva wies auf die Brombeerstauden, die den feuchten Bachrand säumten. In großen Trauben hingen die blau bereiften Beeren zum Wasser nieder, und eine Fülle von rotgrünen, unreifen Früchten und weißen, rosig angehauchten Blüten versprachen noch für lange Zeit reiche Ernte. Das Wasser der beiden Bacharme war um den Sonnstein so seicht, daß die Kinder auf die andere Seite waten konnten, wo der spärlich bewachsene Boden eines Steinfeldes das Weiterkommen erleichterte. Ein Rascheln im dürren Laub des Ufergebüsches erschreckte sie, entsetzt sahen sie eine fast schwarze Schlange durch das kurze Gras gleiten. Sie flohen waldwärts. So vom Bach abgedrängt, betraten die beiden einen uralten Nadelwald, der düster und weitgedehnt den Ausblick auf die dahinter aufsteigenden Felswände nahm. Zwischen starken Fichtenstämmen lagen gestürzte Baumriesen, morsch, von Moos überwuchert.
   Die Füße der Vorwärtsstapfenden versanken im feuchten Moder und schwellenden Torfmoos, während ihre Wangen an die üppigen Wedel mannshoher Adlerfarne streiften.
   Totenstille ringsum, kein Vogelgezwitscher tönte aus den hohen Baumkronen. Das Dämmern des nahenden Abends wurde im Walde zur schauervollen Finsternis, aus der ein atembeklemmender Modergeruch drang. An ein Übernachten in einem solchen Walde war nicht zu denken.
   Erleichtert atmeten sie auf, als sie den Bach wieder erreichten, auf dessen bewegter Fläche die Abendröte einen zarten Schimmer legte. Und schon sahen sie vor sich die Felswand, von deren hellem Gestein sich zackig die Umrisse dunkler Bäume abhoben.
   Das Bachbett wurde steiler, der Bach lauter. Noch wenige Schritte, und die Kinder standen gebannt: Vor ihnen wölbte sich im hellen Kalkfels ein dunkles, niederes Felsentor, der Ausgang einer Grotte. Und die ganze Breite des Höhlentors nahm eine spiegelglatte Wasserfläche ein, deren tiefes Grün zum Hintergrund hin in Schwarz überging. Stille war's drinnen im Berg, als dehnte sich die regungslose Wasserfläche weit ins Erdinnere. Da war nun eine Höhle, da wäre eine Wohnung gewesen, aber die gehörte dem Bach.
   Peter wagte nicht, in der Dämmerung weiterzuforschen. Die Ahnl hatte von Bären erzählt, die da in Höhlen hausten. Schon war die Sonne hinter den Klammwänden verschwunden. Die Kinder sahen einander verzagt an. Sie mußten doch irgendwo übernachten, wo sie vor der Kälte geschützt waren; sie kannten die Nächte im Gebirge. Und Peter sah Evas Augen feucht glänzen vor Bangigkeit. Da wandte er sich dem Walde zu. Ohne lange zu suchen, fand er in der Nähe der Felswand eine riesige Buche, deren Stamm über dem Boden eine Höhlung zeigte, groß genug für Eva, daß sie sich darin zum Schlafe zusammenkauern konnte. Aus Laub und Gras machte er ihr ein Nest und forderte sie auf, sich in die Höhlung zu ducken. Zögernd gehorchte Eva.
   Er selbst kroch unter ein Gebüsch am Fuße der Buche, über dessen Zweige sich ein dichtes Gewinde von Waldreben gesponnen hatte. Hier häufte er dürres Laub als Lager und Decke für sich auf. Das war für Eva eine Beruhigung. Lange flüsterte er noch zu ihr hinüber und versprach ihr, morgen ganz gewiß eine schöne Höhle im Gefels zu finden. Als er Eva endlich in Schlaf geplaudert hatte, überfiel ihn wieder die Sorge. Obwohl er sich tief in das Laub eingewühlt hatte, hielt ihn die zunehmende Nachtkälte wach. Er horchte den unerklärlichen Geräuschen und Stimmen des Waldes nach. Ganz nahe bei ihm krabbelte allerlei im Laubwerk, und aus dem Walde drangen von Zeit zu Zeit, das Raunen der Baumkronen und das Rauschen des Baches übertönend, unheimliche Rufe, bald ein tiefes »Pu-hu!«, bald ein hohles, gedehntes »Hu-hu! Hu-hu-huu!« —, das in ein Weinen, Wiehern, Lachen und Jauchzen überging. Peter standen die Haare zu Berge. Er kannte nicht das Locklied der Waldohreule, und seine Phantasie bevölkerte den Wald mit märchenhaften Unholden. Dazu kam seine nicht unberechtigte Angst vor Bären.
   Peter tastete den Boden ab und fand bald einen scharfkantigen Stein, den er als Waffe gebrauchen wollte. Mit dem wollte er den Bären mitten auf die Schnauze schlagen. Doch je mehr er sich in den ungleichen Kampf hineindachte, um so geringer wurde seine Zuversicht – ja, er begann am ganzen Leibe zu zittern, als vom Walde herüber das Knistern zerbrechenden Reisigs zu ihm herüberdrang.
   Nie im Leben hatte er solche Angst ausgestanden. Sooft er auch mit der Ahnl im Wald übernachtet hatte, in ihrer Nähe war ihm immer sicher zumute gewesen. Er dachte an die Tote und wurde ruhiger, und als sich das Geräusch in der Ferne verlor, löste sich die Angst.


   Wohnhöhlen und Steigbaum

   Ein nagender Hunger weckte Peter beim Morgengrauen.
   Er fuhr sich über die Augen und reckte die steifen Glieder, kroch dann unter dem Busch hervor und schüttelte das anhaftende Laub von sich ab. Das Rauschen des nahen Baches und die verschwommenen Umrisse der Bäume im Morgennebel erinnerten ihn an die Ereignisse des Vortags. Zusehends wurde es heller. Von den armlangen Bartflechten der Fichten tropfte der Tau, eine prickelnde Kühle lag in der Luft. Behutsam beugte sich Peter über Eva. Sie schlief noch.
   Er mochte sie nicht wecken. Aber er selbst mußte fort; wenn sie erwachte, wollte sie essen.
   Ein brennender Schmerz am rechten Unterarm ließ ihn zusammenzucken, er sah nach und fand eine Zecke, wie sie im dürren Laub häufig sind; sie hatte sich in seine Haut gebohrt. Er wußte recht gut, daß er den Leib dieses Blutsaugers nicht losreißen durfte, weil sonst Kopf und Füße unter der Haut stecken geblieben wären und eine böse Wunde verursacht hätten. Peter griff zum Heilmittel der Ahnl für allerlei Hautübel: Ein Tropfen gelbes, halbflüssiges Fichtenharz auf das Tier gestrichen, mußte es zum Absterben und Abfallen bringen. Er nahm sich vor, mit Salbei, Germer und gelbem Labkraut das Ungeziefer von seinem künftigen Lager fernzuhalten.
   Bis zu den Knien stieg er in die kalte, klare Flut des Baches. An zwei große Felsbrocken, die aus dem Wasser ragten, reihte er einen dritten, so daß er, von einem zum anderen springend, den Bach überqueren konnte. Drüben schlenderte er die Berglehne entlang, musterte den spärlich bewachsenen Boden und fand noch wenig entwickelte Blattsterne der Eberwurzdisteln, die hier verstreut wuchsen. Wie oft hatte er sich beim Ziegenhüten die Zeit damit vertrieben, Eberwurzen auszustechen, deren milchreiche Blütenböden nicht nur ihm geschmeckt hatten, sondern auch der Ahnl und der Eva. Die Blüten waren noch geschlossen. Ihre silbrig glänzenden Schöpfe ragten wie dicke Knospen aus dem Strahlenkranz der stachligen Blätter. Mit dem Zeigefinger bohrend und schabend bemühte er sich, eine der Pflanzen aus dem Boden zu holen. Es ging nicht. Die Pfahlwurzel steckte tief zwischen dem Gestein, und die stachligen Blätter ließen sich mit bloßen Händen nicht anfassen. Er sah sich nach etwas Scharfem um.
   Unter den Bruchstücken kristallinen Kalkes, die in Menge umherlagen, fanden sich auch kantige Stücke, die aussahen, als wären sie von Menschenhand zugerichtet. Was ihnen an Schärfe abging, mußte der Druck der Hand ersetzen. Bald lag ein Dutzend Eberwurzen vor Peter, genug zum Frühstück für sie beide. Auf einer Felsplatte nahe am Ursprung des Bachs drückte er mit seinem groben Steinwerkzeug erst die Blätter ab, dann schabte er die geschlossenen Blütenblätter von ihren fleischigen Böden.
   So fand ihn Eva. Sie kam langsam heran, als fiele ihr das Gehen schwer.
   »Na, guten Morgen, Eva, ausgeschlafen?« begrüßte er sie, »was schleichst du denn so?«
   »Mir tun die Fuß' so weh, ich glaub', sie sind geschwollen, und Hunger hab' ich. Hast die Geiß nit g'sehen?«
   »Die Geiß? Ja, glaubst, die käm' her und ließ' sich melken? Da schau, 's Frühstück wartet schon. Daß du geschwollene Füß' hast, ist kein Wunder; weißt, wie lang du schon die Schuh anhast? Nacht und Tag und Nacht. Zieh sie aus und steck die Fuß' ins Wasser, da wird's dir gleich leichter werden.«
   Eva ging zum Bach, doch bald schon kam sie zurück, barfüßig und weinend. Die Schuhe, die hatte der Bach fortgetragen, ganz fort.
   »Na, deswegen brauchst du nicht weinen, schau mich an«, tröstete Peter, »jetzt sind wir halt gleich, ich bin schon seit vorigem Winter bloßfüßig.«
   Dabei steckte er ihr eine Scheibe Eberwurz in den Mund. Die Sonne war indessen aufgegangen, und der Nebel löste sich vom Boden.
   Die Kinder beobachteten zwei Gebirgsbachstelzen, die mitten im Gischt des Wassers auf überfluteten Steinen hin und her trippelten und mit den langen Schwänzchen wippten. Gespannt sahen sie, wie ein Wasserschmätzer im Fluge in den Bach stürzte und nach dem Tauchen unmittelbar von der Wasserfläche aufflog.
   Aber die Eberwurzen schmeckten nach mehr. So machte er sich wieder ans Ausgraben und gab auch Eva einen Steinsplitter in die Hand. Das Schaben und Herrichten hatte sie zu besorgen. Obwohl Peter und Eva noch lange nicht satt waren, nahmen sie die Suche nach der Wohnhöhle wieder auf.
   Wie groß war ihre Überraschung, als sie vom Ufer aus jenseits des Baches zwei schwarze Löcher in der Felswand gewahrten, groß genug, daß ein erwachsener Mensch aufrecht eindringen konnte. So nah waren sie den Höhlen gewesen! Peter sah sich nach einer seichten Stelle um, nahm Eva huckepack auf und watete durch die Furt. Durch taunasses Buschwerk und hohe Farnkräuter, über Geröll und umgefallene Baumriesen ging es den Höhlen zu.
   Da, hinter den Bäumen stieg die Wand schräg auf zu der unteren Höhle, die sich gut zwei Mannslängen hoch über dem Boden auftat. Unter ihr war eine glattgeschliffene Rinne im Fels. Aha – da war der Bach früher einmal aus dem Berg herausgeflossen, bevor er sich im weichen Kalkfels einen tieferliegenden Weg ausgewaschen hatte!
   Aber wie zu den Höhlen hinaufgelangen? In der glatten Rinne ging es nicht, und die nächsten Bäume standen nicht nahe genug.
   Da fiel dem suchenden Peter eine abgestorbene armdicke Fichte auf – die gäbe einen Steigbaum ab, die wollte er hinüberlehnen! Der erste Versuch, den toten Baum zu brechen, gelang. Die Fichte knackte eine Handspanne über dem Erdboden ab. Aus dem morschen Strunk wimmelten Ameisen hervor, die ihre Wohnkammern ins tote Holz genagt hatten.
   In die Rinne gelegt, bot der Baumstamm mit seinen Astquirlen Halt genug für Hände und Füße. Nach kurzem Klimmen hatte Peter die untere Höhle erreicht.
   Mit klopfendem Herzen trat er ein. Sein erster Gedanke waren die Bären. Aber der Lehmboden zeigte keine Tatzenabdrücke, die Höhle war unbewohnt. Und Peter konnte darin aufrecht umhergehen. Seine Füße wateten in trockenem, lehmigem Sand, der mit Steinen, Vogelmist und vermodertem Laub untermischt war. Das mochte wohl der Wind hereingeweht haben. Peter forschte weiter. Seine Augen gewöhnten sich an das Dämmerlicht. Bald konnte er Einzelheiten unterscheiden. Auf der dünnen Sinterschicht der Wände lag ein Hauch von Ruß; nur wo der blättrige Sinter abgebröckelt war, schimmerte der helle Kalkfels hervor. Hier also hatte die Ahnl gehaust! Nach links hin hob sich der Boden. Dort führte ein schmaler Spalt aufwärts zur zweiten Höhle, die sie von außen bemerkt hatten. Ein anderer Gang senkte sich rechts zum Quellsee, aus dem der Bach kam. Dieser Teil der Höhle war dunkel und kalt. Der linke aufsteigende Gang verengte sich zu einem schmalen Schlot.
   Knie und Ellbogen gegen die Wände gestemmt, arbeitete sich Peter hinauf.
   Sein Eintritt in die zweite Höhle verscheuchte eine Schar Felsentauben, die in überstürzter Flucht durch die hohe Öffnung abflogen. Der Raum war ganz trocken und in seinem vorderen Teil hell. Nach hinten verengte er sich zu einem schmalen, stockfinsteren Loch, das schräg aufwärts führte und sich im Innern des Bergs verlor. Dorthin konnte Peter nicht vordringen. Fledermäuse flatterten auf und suchten erschrocken das Freie. Die obere Höhle war viel schmäler als die untere. Da sie aber heller war, machte sie einen wohnlicheren Eindruck. Durch das Lichtloch schimmerte das Grün der nahen Baumwipfel. Peter war geblendet von der Fernsicht. Zwischen den Wipfelzweigen der Bäume sah er bis zu den rosig überhauchten Klammwänden und noch weiter auf ferne Gipfel, deren Firnfelder im Alpenglühen flammten. Weit beugte er sich über die steile Wand hinab zu Eva, die unverwandt zur unteren Höhle schaute.
   »Everl!« jauchzte er, »das Kammerl ist gut!«
   Eine rasche Kopfwendung – sie hatte ihn entdeckt. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. Eilig kletterte sie den Steigbaum empor und stand, von Peter durch den Spalt gezogen, im Nu neben ihm. Ihr erster Blick galt dem Grün vor der Luke. Ohne den schmutzbedeckten Boden zu betreten, meinte sie: »Sauber auskehren muß ich wohl!«
   Und als wäre es ein Spiel, sagte sie: »Das ist mein Kammerl, gelt?«
   »Ja, freilich.« Peter war gleich einverstanden. »Das wirst aufräumen, gelt? Du wirst heroben hausen und ich drunten. Wenn ein Bär kommt, kriegt er's zuerst mit mir zu tun.« Er sagte dies recht zuversichtlich, aber innerlich war ihm nicht recht wohl dabei.
   Mit geschicktem Daumendruck öffnete Eva ein Taubenei und wollte es an die Lippen führen. Aber es war schon bebrütet. Ein zusammengekauertes Vögelchen mit übergroßem Kopf und plumpen Füßen lag schlummernd darin. Enttäuscht legte sie es weg. Mehr als die Hälfte der Eier war in diesem Zustande, vom Rest waren die meisten ungenießbar.
   »Weißt Peter, was dazu gut wär'?« meinte Eva, als sie ihr letztes geschlürft hatte.
   »Freilich weiß ich's – und ich wollt', ich hätt' die Ahnl danach gefragt – Salz fehlt. Das wird uns noch stark abgehen. Ob's überhaupt da herin Salz gibt? Wenn der Ähnl noch da wär', der wüßt's vielleicht zu finden. Der hat uns ja immer die Salzsteine gebracht.«
   Ach, die Ahnl und der Ähnl! Die beiden Kinder waren sich wieder ihrer Verlassenheit bewußt geworden. Aber die Gegenwart nahm ihre Aufmerksamkeit bald ganz in Anspruch. Die Höhlen mußten erst wohnlich werden. Mit einem Fichtenzweig versuchte Eva, sie auszukehren, aber das ging nicht so recht mit dem einfachen Zweigbesen. Peter schnürte mit einer Waldrebenranke drei Zweige zu einem buschigen Besen, das erste Gerät für die neue Hausfrau.
   Das nächste war die Herstellung der Lager. Dazu war viel Reisig, Laub und Moos nötig, Dinge, die nur der Wald liefern konnte. Über ein ausgetrocknetes Bachbett und einen schmalen Wiesenstreifen gehend, gelangten die beiden an den Waldrand. Während Eva mit den Händen Laub zusammenrechte und Moos vom Boden löste, stöberte Peter im Jungholz, brach dichtbelaubte Buchen– und Eschenzweige ab und versäumte nicht, Schößlinge von Bergholunder, Salbei, Lavendelstauden, Germer und Labkraut zu sammeln und im Sonnenschein auszubreiten. Diese Kräuter sollten, ins Lager eingelegt, das Ungeziefer fernhalten. Dann holte er von der Berglehne einige Arme voll verblühter Alpenrosenstauden, deren federndes Gezweig das Lager locker machen sollte.
   Mit Vorbedacht ging Peter nun ans Werk, Evas Bett zu richten. Erst legte er eine Schicht Reisig auf den Boden, darüber kamen Alpenrosenstauden und Schutzkräuter, dann Laub und Moos. Als er fragend zu Eva aufschaute, nahm sie seinen Kopf zwischen beide Hände und gab ihm einen herzhaften Kuß.
   Er wandte sich zur unteren Höhle. »Everl, jetzt hilf mir, mein Bett richten.«
   Die Sonne stand hoch am Himmel, ihr Licht fiel in die Höhle; von außen drang der warme, würzige Duft der Fichtenwipfel herein und das Zwitschern der Meisen und Girlitze in den Baumkronen. Tröstlich war das.
   Als die beiden sich nach getaner Arbeit in die Lichtluke lehnten, erblickten sie auf dem untersten Ast eines Ahorns ein graues Eichhörnchen, das von einem nahen Zweige die geflügelten, noch unreifen Früchte erntete und mit seinen Nagezähnen flink öffnete. Die ausgekörnten Samenflügel ließ es hinunterwirbeln.
   Peter lag die Sorge für das nächste Essen näher als das Treiben des zierlichen Tierchens, das, knapp zwei Armlängen vor ihm, leicht erreichbar schien. Mit einem faustgroßen Stein traf er es so wuchtig im Genick, daß es tot zu Boden stürzte.
   Das Abhäuten der Beute aber machte Schwierigkeiten. Nach einigen Versuchen gab es Peter vorläufig auf und verwahrte seine Beute unter einer Steinplatte im Hintergrund seiner Höhle. Er mußte einen Hartstein finden, der wie ein Fuchszahn die Haut zerschnitt.
   Je länger er nachdachte, um so stärker drängte sich die Frage auf: Wenn in dem Talkessel überhaupt keine Hartsteine wären, wie sollte er schneiden, womit sich und Eva gegen die Bären verteidigen?
   Er hoffte, im Geröll auf einen scharfen Hartstein zu stoßen. Eva blieb an seiner Seite. Aber scharfkantige Steine gab es hier nicht; alles war vom Rollen im Wasser rundgeschliffen und mußte von weither aus dem Berg stammen. Diese runden Steine drängten sich förmlich als Wurfgeschosse auf.
   Spielend nahmen die beiden einzelne Steine in die Hand, zielten auf herumliegende Felstrümmer und freuten sich, wenn die geworfenen Steine beim Aufschlag in Splitter zersprangen. Mit solchen Splittern beschäftigte sich Eva eine Weile und warf sie dann weg. An einem spannenlangen, blattdünnen Stück, das schaligen Bruch zeigte, fiel ihr die schöne grünliche Färbung, die Glätte und Schärfe der Ränder auf. Die Form dieses zufällig scharfgewordenen Splitters verlockte geradezu, seine Schneidefähigkeit zu prüfen. Noch immer spielend, köpfte Eva damit Disteln und Kletten.
   Da sprang Peter auf sie zu, nahm ihr den Steinsplitter aus der Hand und versuchte ihn zunächst an seinem Daumen und dann an einem Stück Schwemmholz. Der Stein schnitt besser, als Peter gehofft hatte.
   Erregt forderte er die erstaunte Eva auf, fleißig nach solchen Steinen zu suchen, er brauche sie. Und Eva ging, um ein anderes Gebiet zu durchstöbern. Jetzt fielen auch Peter genug Hartsteinknollen auf, schöne glatte Steine, die einen braun, andere rot, wieder andere grünlich, schwärzlich, gelblich und hornfarben. Stücke waren darunter so groß wie Männerfäuste, manche sogar von der Größe eines Kinderkopfes. Was er davon in den Armen tragen konnte, schleppte er mit sich. Neben einem Felsblock legte er seine Ausbeute an Hartsteinen nieder und machte sich daran, sie zu bearbeiten.
   Er schleuderte einfach jeden Knollen mit aller Kraft gegen den Fels und las dann die weitverstreuten Bruchstücke auf. So entstanden durch Zufall allerlei Brocken und Splitter, die erst geprüft werden mußten, wozu sie taugen mochten; einzelne waren sofort gebrauchsfertig. Da gab's längliche Stücke mit schneidenden Rändern, andere mit langen, scharfkantigen Spitzen, und flache, die sich leicht zwischen Daumen und Finger halten ließen, wenn es etwas zu schaben gab; aber auch grobe, keilförmige Fauststücke zum Hauen und Hacken waren dabei. In der Notlage eines Menschen ohne Metallwerkzeuge war Peter auf die Hartsteine angewiesen. Kein Wunder, daß ihn die Formen der Stücke überlegen ließen: Wozu taugen sie am besten? Manche brauchte er nur in die Hand zu nehmen, und schon fühlte er sich versucht, damit zu hauen, zu stechen, zu bohren oder zu schneiden. Peters Freude über die reiche Ausbeute an Hartsteinbrocken war so groß, daß er, ein faustgroßes Stück aus schieferigem Quarz in der Rechten schwingend, wie ein Wilder herumsprang, drohende Schreie ausstieß und nach allen Seiten in die Luft stach, als hätte er es mit einer Schar Feinde zu tun.
   Eva meinte, er habe eine Tollkirsche gegessen und schrie ihn an: »Peter! Peter! Was hast denn? – Hast 'leicht Schwindelbeer gegessen?«
   Mit rollenden Augen trat er an sie heran, hielt ihr den Fauststein unter die Nase und prahlte: »Jetzt können die Bären kommen!«
   Eva atmete erleichtert auf und zeigte ihm, was sie gefunden hatte: einen spindelförmigen, hornfarbenen Hartstein, so groß wie eine ausgewachsene Mohrrübe; ein zweizinkiges Rehgehörn, das wohl seit dem vorigen Herbst im Gras gelegen hatte; es war auf einer Seite gebleicht. Peter tat einen langen Pfiff.
   »Eva, du hast heut die Augen offen! Das hat ein Gabler abg'worf en!«
   Entzückt betrachtete er das Rehkrickel, drehte es hin und her und fand endlich, daß es, unter der Rose gefaßt, ein prächtiges Werkzeug zum Stechen und Graben abgab.
   Aber wie sollten die vielen Dinge heimgebracht werden ?
   »Ein Korb tat not! Eva, du hast ja schon früher allerhand g'flochten, versuch's wieder.«
   »Ja, du mußt mir halt Ruten schneiden, junge Weidenschößlinge, recht biegsame«, sagte Eva.
   Nun mußten aber die gefundenen Sachen verpackt werden, so gut es ging.
   Große Pestwurzblätter, mit Reisern unterlegt, ließen sich zum Einwickeln gebrauchen und Weidenrutenrinde zum Binden. Eva suchte angestrengt nach einem zweiten abgeworfenen Rehkrickel; aber nur die kleine Stange eines Spießers fand sie noch; die behielt sie zum Wurzelgraben. Peter handhabte mit wahrer Lust bald sein bestes Steinmesser zum Abschneiden von Weidenschößlingen und Waldrebenranken, bald die Gehörnstange zum Ausgraben von Wurzeln; davon sammelte er soviel, daß sie nicht zu hungern brauchten, wenn es regnete.
   Dann wanderten sie auf dem Pfad, den sie sich vor kurzem gebahnt hatten, langsam der Höhle zu. Sie gingen in ihrer alten Spur zurück und traten sich so den ersten Pfad aus, den Erntepfad.
   In ihrer Freude war es ihnen entgangen, daß sich der Himmel bewölkt hatte, und sie waren überrascht, als sie die ersten Regentropfen spürten. Gehörig durchnäßt erreichten sie ihr neues Heim.
   Fröstelnd wühlten sie sich in ihre Liegestätten ein und ließen in Gedanken die Ereignisse der letzten Tage an sich vorüberziehen. Da fiel es Peter ein, daß Ahnl und Ähnl am Freitag gestorben waren. Er schlug vor, den nächsten Tag als ersten Sonntag, den sie im Heimlichen Grund verbracht hatten, und jeden wiederkommenden siebenten Tag mit einem langen Ritz an der Höhlenwand über seinem Lager zu bezeichnen. Kleinere Ritzmarken dazwischen sollten die Werktage angeben. Und jeder Sonntag sollte ein Ruhetag sein, wie in Ahnls und Ähnls Zeiten.


   Tragkorb und Steindolch

   Draußen strömte der Regen herab, in den Höhlen aber war es behaglich. Trocken und angenehm durchwärmt richteten sich die beiden Höhlensiedler auf, streiften mit den Fingern Moos und Blätter aus den Haaren und begannen ihre Funde zu mustern. Als ob mit der Erfindung der Steinwerkzeuge ein neuer Geist von Mut und Zuversicht in die jungen Menschen gekommen wäre, träumten und sprachen sie von nichts anderem als von Jagd und Kampf. Das heißt, Peter beschrieb, wie er den Rehen, Füchsen und Bären beikommen wollte, und Eva lauschte mit offenem Munde. Das Blut des Bären wollte er trinken, um dessen Stärke in sich zu schlürfen; Fleisch und warme Felle wollte er in Menge heimbringen. Er hatte keine Angst vor dem Winter.
   Während Peter so von kommenden großen Taten redete, hatte er das Eichhörnchen unter den Händen; er schnitt ihm mit einem scharfen Steinsplitter den Balg auf und zog ihn über den Kopf ab. So hatte er es unter Ähnls Anleitung beim Abhäuten von Alpenhasen und Murmeltieren gemacht.
   Das Fell schlitzte er nur an der Innenseite der Hinterbeine, schnitt die Pfoten ab und zog die Haut im Ganzen herunter. Damit der Balg nicht schrumpfte, stopfte er ihn, Haarseite nach innen, mit Laub aus. Dann klemmte er ihn mit Hilfe eines Zweiges in eine Felsritze der Höhle zum Trocknen. Das Gedärm des Hörnchens spülte er im Bach durch und hängte es vor die Höhle über einen Zweigstummel des Steigbaumes; getrocknet mochte es gute Bindfäden abgeben.
   Das nackte Körperchen des Nagers aber reichte er Eva: »Iß! – die Füchs' und Marder haben's auch nicht besser.«
   Da sie nicht gleich zugriff, trennte er für sich einen Hinterschenkel ab, dessen pralle Springmuskeln ihn zum Hineinbeißen reizten, und begann zu essen.
   Doch wie sonderbar, so sehr er sich bei den faden Wurzelmahlzeiten nach einem Stück Fleisch gesehnt hatte – nun widerstand es ihm wegen des eigenartigen Blutgeruchs. Um aber Eva Mut zu machen, nagte er das zarte Fleisch ab und hob die Knöchelchen auf. Wer weiß, wozu sie einmal taugen mochten. Eva nahm sich den zweiten Hinterschenkel und versuchte zu essen. Auch sie kam über den Geruch nicht hinweg.
   »Peter, meinst nicht, daß ein paar Lauchzwiebeln gut wären? Die täten den zuwideren Geruch wegbringen.«
   Im Nu war Peter auf den Beinen und kletterte, das Rehkrickel zwischen den Zähnen, über den Steigbaum hinunter. Er brauchte nicht lange zu suchen.
   Und eine Freude war es, mit dem harten, handlichen Werkzeug das stark duftende Wildgewürz auszugraben. Auf dem Rückweg fand er einen Wacholderbusch und pflückte davon eine Handvoll unreifer Beeren. Zum Überfluß rupfte er ein Büschel blühenden Gundelkrautes aus.
   Eva hatte unterdessen das Eichhörnchen mit einer Steinklinge in mundgerechte Teile zerlegt; jetzt ritzte sie das zarte Fleisch, belegte es mit Lauch und Wacholderbeeren, rieb es mit den herb duftenden Gundelkrautblättern ein und kostete. In ihren Augen leuchtete es auf. »Das ist jetzt etwas anderes, gelt?« Und sie aßen das gewürzte Wildbret um die Wette.
   »Ein paar Händvoll Heidelbeeren obendrauf«, meinte Eva, »das wär' erst das Rechte.« Gesagt, getan: durch das regenfeuchte Gras liefen sie der Grableiten zu; dort ergänzten sie ihre Mahlzeit.
   Heimgekehrt, schauten sie sich nach Arbeit um; zum Schlafen war es noch zu früh. Peter nahm die gesammelten Steine Stück für Stück vor und probierte wieder deren Verwendbarkeit. Viele waren ohne weitere Bearbeitung brauchbar. Andere hatten gerade dort scharfe Kanten, wo er sie beim Arbeiten anfassen mußte. Da versuchte er, durch Wegschlagen kleiner Splitter die Kanten abzustumpfen.
   Eva legte Ruten und Ranken zurecht und streifte die Blätter ab. Sie wollte ja einen Tragkorb flechten. Die Weidenzweige und Waldrebenranken waren viel weniger biegsam als die Grashalme, aus denen Eva früher ihre ersten Körbchen geflochten hatte. Sie wußte noch nicht, daß Ruten, um geschmeidig zu werden, eine Zeitlang im Wasser liegen müssen.
   Ihre zarten Finger wurden mit dem widerspenstigen Holz nicht fertig. Kaum hatte Eva die Weidenruten mühsam verflochten, da strebten sie schon auseinander. So ging es nicht. Aber wie ging es denn? Eva wußte es nicht und legte mutlos die Hände in den Schoß.
   Nach einer Weile begann sie von neuem. Sie fügte eine Handvoll dünner Weidenzweige mit den Wipfelenden zusammen, spaltete mit den Zähnen einen Zweig und umwand damit das Büschel eine Spanne weit vor den dünnen Enden, bog dann diese über den Bund zurück und überband sie noch einmal. So, das war das untere Ende eines spitzen Korbes! Dann knickte sie die Zweige in halber Armlänge nach innen um und verband sie mit einem Ring aus Waldreben.
   Nun machte sie sich ans Flechten. Sie zog, von unten beginnend, Rebenranken quer durch die Gerten, einmal darunter, einmal darüber, und wenn sie herumgekommen war, legte sie den nächsten Reifen in umgekehrter Weise ein, einmal darüber, einmal darunter.
   Als die untergehende Sonne durch die vom Wind gejagten Wolken brach, war Eva schon dabei, die Enden dreier zopfartig verflochtener Rebenranken als Henkel unter den Ring einzuflechten, und zwar so, daß sie auch nicht losgingen, wenn man einen Stein in den Korb legte. Strahlend hielt sie Peter das Werk ihrer Hände hin.
   Der tat gleich eine Menge Steine hinein und schlenkerte den Korb, dann erst sprach er seine Anerkennung aus: »Gut ist's, es halt' schon.«
   Peter legte seine Steinwerkzeuge vor Eva auf den Boden und rühmte die Vorteile jedes einzelnen. »Aber schau meine Händ' an«, fuhr er fort und zeigte ihr stolz die blutunterlaufenen Schwielen und Quetschwunden.
   »Schau meine Händ' an«, versetzte Eva nicht minder stolz. Auch sie hatte vom Flechten Blasen und Hautrisse. Und beide freuten sich über die Spuren ihrer erfolgreichen Arbeit.
   Noch in der Abenddämmerung machten sie fröhlich einen Erntegang zum Sonnstein und füllten den neuen Korb mit einem Vorrat an Brombeeren und Wurzeln. Schwatzend verzehrten sie ihr Abendessen, zogen zur Sicherheit den Steigbaum in die Höhle herein und suchten ihre Liegestätten auf. Während draußen der Nachtwind brausend durch die Baumkronen fuhr, träumte Eva von kunstvoller Korbflechterei und Peter von Kämpfen mit Bären.


   Wild im Steinschlag

   Am nächsten Morgen wachten sie früh auf und sahen hinaus: Es regnete, und es regnete fort, stetig und reichlich.
   Tagelang eingeregnet in den Höhlen!
   Anfangs ertrugen sie ihre Gefangenschaft tapfer. Einmütig arbeiteten sie an einem Tragkorb, der, größer und fester als der erste, Peter dienen sollte und auf seinen Wunsch zwei seitlich angebrachte Henkel erhielt, damit er ihn auf dem Rücken tragen konnte. Sooft der Regen ein wenig nachließ, suchten sie sich draußen ihre kargen Mahlzeiten. Trotz der Arbeit war die Eßlust der beiden nicht groß. Beeren und Wurzeln schmeckten ihnen nicht mehr. Die Körperkräfte ließen nach, Niedergeschlagenheit stellte sich ein, sie wurden ganz mutlos. In dieser gedrückten Stimmung fiel ihnen vieles Unangenehme auf, das sie bisher nicht beachtet hatten. Ihre Haare, nur mit den Fingern gekämmt, waren wirr, die Kleider vom Herumstreifen durch dornige Stauden zerrissen; Peters Hemd hatte Löcher an den Ellbogen und einen Riß an der Schulter. Sie brauchten warme Kleidung, ehe der harte Winter kam. Das waren ernste Sorgen.
   Peter lag mit offenen Augen und starrte durch die Dämmerung zur verräucherten Decke seiner Höhle empor. Da hörte er plötzlich ein donnerartiges Getöse, als ob Steinmassen stürzten. Hatte nicht der Boden unter ihnen gezittert? Lauschend setzte er sich auf. Und noch einmal donnerte es; schweres Poltern folgte, klatschendes Aufschlagen von Felstrümmern, Prasseln von springenden Steinen. Peter fühlte sein Herz klopfen bis herauf zum Hals. – Stürzte die Höhle über ihnen zusammen? Er wunderte sich, daß nach dem Lärm eine Stille eintrat, in der sein scharfes Ohr vom Walde her das Knistern niedergetretener Reiser vernahm: Wild, das vor dem Getöse des Steinschlages flüchtete. Das also war der Schrecken des Heimlichen Grunds.
   Peter sprang von seinem Lager auf. Das mußte er sehen. Was der Regen oben an Gestein locker gemacht hatte, das lag unten, und mehr kam jetzt an der gleichen Stelle gewiß nicht herab. Ohne sich von Eva zu verabschieden, griff er nach dem Tragkorb und tat seinen Fauststein und ein Steinmesser hinein. Hastig brach er auf; er wollte zurück sein, ehe Eva aufstand.
   Dort rechts an der Felswand, wo mittags die Sonne grell hinbrannte, mußte es gewesen sein! Mit ein paar Sätzen war er im Wald, watete durch den regenfeuchten Modergrund und kletterte über morsche, gestürzte Baumriesen. Der Regen hatte nachgelassen, war in ein stilles Rieseln übergegangen, bei dem es Peter zu frösteln begann.
   Beim Anblick einer hohlen Buche kam ihm ein Gedanke. Wie wär's, wenn er da sein durchnäßtes Gewand versteckte, statt es auf dem Leibe zu lassen und es beim Kriechen durchs Strauchwerk noch mehr zu zerfetzen? Kaum hatte er sich der nassen Kleidung entledigt, hörte das Frösteln auf. An einem Stock wollte er Hemd und Hose in die Baumhöhlung hängen.
   Plötzlich hörte er im Baum ein Knistern und Summen; rasch entschlossen stieß er den Stock höher in den hohlen Stamm hinein. Da fielen schwere, gelbbraune Waben herunter, auf denen graubepelzte Bienen herumkrochen, starr von der Regenkühle. Peter schaffte die Waben ins nasse Gras des Waldbodens und kehrte die Bienen mit einem Tannenzweig ab. Die honigschweren Waben tat er in seinen Korb. In eine aber biß er, vom Duft verlockt, hinein. Ob Honig oder Larven in den Zellen waren – er aß darauf los. Das ausgesaugte Wachs aber ballte er zu einer Kugel zusammen und tat es auch in den Korb. Wer weiß, wozu es taugen mochte.
   Die Bangigkeit, die sich Peters bemächtigt hatte, während er durch die versumpfte Niederung des Urwaldes gedrungen war, wich beherzter Zuversicht, als er in den Eichenbestand des oberen Waldes kam, durch dessen Blätterdach das erste Sonnenlicht sickerte. Ohne sich lange aufzuhalten, hob er da und dort einen genießbaren Pilz vom Boden auf, tat ihn in den Korb und ging weiter. Da bemerkte er Wildspuren und Losung, die er nicht kannte. Sein lauschendes Ohr vernahm wieder das Knistern niedergetretener Reiser. Vom Stamm einer Eiche gedeckt, spähte er nach vorn. Dort – kaum einen Steinwurf weit sah er eine Wildsau mit acht Frischlingen. Das graue Borstenkleid des mächtigen Tieres hob sich glänzend vom braunen Waldboden ab, während die Frischlinge mit ihrem rötlichen, gelbweiß gestreiften Jugendkleid sich so fremd ausnahmen, als gehörten sie nicht in die düstere Umgebung. Peter stand regungslos vor Schreck und Verwunderung. Was er einst vom Ähnl über die Wildheit der Muttertiere bei der Verteidigung ihrer Jungen gehört hatte, ließ ihn um sein Leben zittern. Schleichend wollte er in weitem Bogen um die Tiere herumkommen. Trotz aller Vorsicht trat er immer wieder auf dürre Zweige, dessen Knacken durch die Stille hallte. Die Wildsau hob den mächtigen Kopf, glotzte mit ihren auffallend kleinen Augen sekundenlang das sonderbare Wesen an, das sich zaghaft davonbewegte, und wühlte dann, behaglich schmatzend, weiter im Morast.
   Langsam und nicht ohne Beklemmung arbeitete sich Peter durch das Buschwerk des Waldsaumes. Sträucher waren vom Steinfall geknickt und starke Bäume in geringer Höhe über dem Boden scharf abgeschnitten. Die Halde an der Felswand zeigte kein Grün außer den zerbrochenen Knieföhren, die mit wirrem Wurzelwerk unter und zwischen niedergegangenen Steinplatten und -blöcken herumlagen, halbbedeckt von kopfgroßen Stücken Kalksteins, die gegen die Wand zu in feinen Bruchsand übergingen. Peter stolperte zwischen den Steintrümmern umher.
   Da! – Das Herz stand ihm still.
   Ein Ziegenfuß ragte aus dem Schutt. Aber die Hufe waren stärker, die Beine dicker als die einer gewöhnlichen Ziege, auch fiel ihm die hellbraune Behaarung der Innenseite auf.
   Sogleich machte er sich ans Ausgraben. Alles um sich her vergessend, fing er an, die Steine abzutragen; bald hatte er das Bein bloßgelegt; rastlos arbeitete er weiter, bis er so weit war, daß er das Bein fassen und daran zerren konnte. Wie verankert lag der Vorderkörper im Gestein. Es galt nun, den verklemmten Kopf mit dem Gehörn freizulegen.
   Peters Hände waren zerschrammt, stellenweise quoll neben den Nägeln das Blut heraus, aber er ließ nicht nach.
   Endlich lag vor Peters Augen ein Horn frei. Noch nie hatte er dergleichen gesehen. Armdick, schön gebogen und länger als sein ausgestreckter Arm, mit starken Querwülsten – ein prächtiges Gebilde. Jetzt faßte er es an und hob damit auch den Kopf mit dem zweiten Horn aus dem Geröll. Der schwarze Kinnbart des Tieres war viel kleiner als der eines gewöhnlichen Ziegenbocks – Peter hatte einen alten Steinbock vor sich! Was nun? Ausweiden und abhäuten! Nur blitzartig durchzuckte ihn der Gedanke, die gute Eva könnte sich um ihn bangen, wenn er so lange ausblieb. Aber das braune, dichte Fell des Tieres wollte er nicht im Stich lassen. Er dachte an den Winter. Schon kniete er und begann mit dem Steinmesser die Haut an der Brustseite aufzuschneiden. Schwer kam er durch. Auch das Auslösen ging nicht leicht. Oft mußte Peter mit einem scharfkantigen Stein nachhelfen. Das Abhäuten dauerte viel, viel länger, als Peter gedacht hatte. Und jetzt stand die Sonne schon hoch.
   Um schneller fortzukommen, entschloß er sich, den Schädel einstweilen in der Haut zu lassen, den Rumpf aber herauszulösen und ihn den Raubtieren zu opfern. Das Fleisch des alten Bockes war ja zu zähe. Beim Durchtrennen der Gelenke und der Wirbelsäule erwies sich Peters Fauststein als ein sehr brauchbares Hack– und Schneidewerkzeug.
   Endlich konnte er den schweren Rumpf herauswälzen.
   Aber ganz sollten ihn die Geier und Füchse nicht haben! Das Herz des starken Tieres wollte Peter essen, um seine Kraft in sich aufzunehmen. Und das Gedärm wollte er auch nicht verderben lassen. Er packte es zwischen Klettenblätter, Reisig und Waldreben. Dann tat er es samt Lunge und Leber in seinen Buckelkorb unter die Honigwaben.
   Besser als die zähen Herzmuskeln schmeckten ihm zu einigen Bärenlauchblättern die Klumpen geronnenen Blutes aus den Herzkammern. Wunderbar gekräftigt erhob er sich, nahm den Korb auf den Rücken und schleifte die Bockshaut an den Hörnern quer durch den Wald. Der Regen hatte aufgehört. Durch die Baumkronen sickerte das Sonnenlicht auf den spärlich bewachsenen Boden. Die Augen auf die Spuren gerichtet, die er beim Herweg in den Moder getreten hatte, drang Peter tiefer in den Wald ein. Glücklich kam er bei der hohlen Buche an, wo seine Kleider hingen. Er fand sie umwimmelt von aufgeregten Bienen, die, unter der Sonnenwärme wieder beweglich geworden, eifrig damit beschäftigt waren, von den herumliegenden Bruchstücken ihrer Waben den Honig aufzunehmen.
   Beim ersten Versuch, seine Kleider zu fassen, schrie Peter vor Schmerz auf. Einige der gereizten Wildbienen hatten ihm ihre Giftstacheln in die Haut gebohrt. Und jetzt erhob sich der Schwarm.
   Entsetzt wich der Junge zurück, nahm Korb und Gehörn auf und rannte, das Fell nachschleifend, über gestürzte Bäume und üppige Farnkräuter davon. Sein nackter Körper bot den Verfolgern zuviel Angriffsflächen. Aufschreiend vor Schmerz, sooft ein neuer Stich ihn traf, suchte er nach einem Versteck. Neben einem Regentümpel, der eine seichte Senke des aufgeweichten Waldbodens füllte, warf er den Korb von der Schulter. Hier wollte er Linderung finden. Da versank er bis über die Hüften im Schlamm, kauerte sich vollends nieder und schleuderte den wütenden Bienen mit den Händen Wasser entgegen. Das half. Sie zogen sich zurück. Er fühlte, wie unter der Wirkung des kühlen Erdbreies der Schmerz nachließ.
   Ein wohliges Gefühl ließ ihn eine geraume Zeit im Schlammbad bleiben. Jetzt erst kam ihm zu Bewußtsein, daß die Bockshaut sein erstes selbsterworbenes Gewand werden könnte. Die zerfetzten Kleider hätten ja ohnehin nicht mehr lange gehalten, und er hatte keine Lust, sie aus dem Bereich der wilden Bienen zu holen. Mit Hilfe eines Schneidsteins löste er mühsam den Schädel aus dem Fell, das er sich als Schutz um den Leib wand. Dann stapfte er quer durch den Wald den Wohnhöhlen zu.
   Als er nur noch wenige Schritte davon entfernt war, überlegte er sich, wie er Eva überraschen wollte. Leise trat er aus dem Wald. Jedem dürren Zweig aus dem Wege gehend, näherte er sich der Felswand. Vorsichtig brachte er den Bocksschädel in seine Höhle, legte ihn möglichst wirkungsvoll ins Licht, stellte den Korb mit den Waben dazu, und dann rief er, zappelnd vor Vorfreude: »Everl, Everl, komm herunter!«
   Keine Antwort. »Schlafhauben, wach auf! Ich hab' was mitgebracht!«
   Nichts regte sich.
   Beunruhigt stieg er hinauf. Eva war nicht zu sehen. Er durchwühlte das Laub ihres Lagers. Das war kühl, sie mußte schon lange fort sein. Er drückte sich in den dunklen Felsspalt, der ins Innere des Berges führte, und mit einer vor Angst und Zorn überschnappenden Stimme rief er wieder: »Everl, Everl!«
   Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke: Peter, du bist dumm! – Sie ist draußen und sucht dich!
   Hastig warf er das Gedärm des Bocks aus dem Korb, tat dann zu Lunge, Leber und Honigwaben eine Handvoll Gundelkraut, Bärenlauch, Wurzeln, Schneidstein und Rehkrickel. Den Fauststein in der Rechten, kletterte er den Steigbaum hinab. Dann durchstreifte er den Wald kreuz und quer und ließ erst fragend, dann ungeduldig und zornig seinen Ruf ertönen: »Eva! Eva!« Scheue Spechte schwirrten auf, Krähen und Eichelhäher verließen krächzend und ratschend ihre Nester in den Baumwipfeln, aber von Eva kam keine Antwort.
   Peter wandte sich dem Bache zu, durchwatete ihn, brach durch das Buschwerk und suchte, beständig rufend, den Hang ab, wo er mit ihr Heidelbeeren gepflückt hatte. Noch immer keine Antwort! Wenn sie einem Bären zum Opfer gefallen wäre? Schaudernd schloß er die Augen. Im nächsten Augenblick suchte er sich einzureden, es gebe überhaupt keine Bären mehr im Heimlichen Grund, sie seien den Steinschlägen erlegen. Eva sei wahrscheinlich ermüdet irgendwo eingeschlafen – vielleicht unterm Felsendach, am Grab der Großmutter; ja, dort, dort war sie am ehesten.
   Schon vom Sonnstein aus merkte Peter, daß am Grab der Ahnl etwas Ungewöhnliches vorging. Eine Krähenschar hielt die Birken und Föhren oberhalb des Grabes besetzt. Krächzend erhoben sich die Vögel und ließen sich sofort wieder nieder. Beim Näherkommen gewahrte Peter einen riesigen Raubvogel, der vom Felsendach über dem Grab abstrich und sich dann in trägem Fluge zum Steinfeld senkte, und da war noch einer und ein dritter. Wie angewurzelt blieb Peter stehen. Was wollten die Geier dort?
   Peter ließ den Fauststein in den Korb gleiten und sammelte kniend Steine auf, die er mit der Linken an die Brust preßte; einen faustgroßen Kiesel nahm er in die Rechte. So schlich er sich an, von Busch zu Busch, immer in Deckung.
   Da hörte er einen durchdringenden Schrei: »Peter! Peter!« Aber er hütete sich, Antwort zu geben. Näher schlich er; Eva stand neben dem Grab und schleuderte einen Stein. Der Geier, dem der Wurf gegolten hatte, trippelte nur ein paar Schritte weiter weg und schob den Kopf auf dem langen Halse einigemal vor und zurück, zog ihn dann bis zur Halskrause ein und verharrte ruhig abwartend wie seine beiden Genossen. Geier haben Zeit.
   Peter war kaum zehn Schritte von dem nächsten entfernt. Jetzt konnte er den Wurf wagen. Weit holte er aus, der Stein traf den Hinterkopf des Raubvogels. Aufschreiend warf sich der Geier rücklings auf den Boden, drehte sich flügelschlagend um sich selbst, hackte mit dem Schnabel in die Luft und griff mit den gewaltigen Fängen ins Leere. Mit schweren Schwingenschlägen erhoben sich die beiden anderen und flogen den Klammwänden zu.
   Peter schleuderte noch einen kopfgroßen Stein auf die Brust des Getroffenen. Ein Zittern ging durch die mächtigen Schwingen, dann lagen sie regungslos, die Fänge krampften sich zusammen, und der Kopf sank zu Boden.
   Jetzt trat Peter an Eva heran. Schluchzend fiel sie ihm um den Hals, und stoßweise brachte sie die Worte hervor: »Peter, geh nie mehr fort von mir! Tu mir das nimmer an!« Sie hielt und drückte ihn, daß ihm schier der Atem verging. Mit beiden Händen hielt er ihren Kopf umfaßt, und große Tränen flossen über seine Wangen.
   Ihre Arme sanken schlaff herab. Peter trat an das Grab der Ahnl. Die hageren Hände mit den zerdrückten und verwelkten Blumen waren bloßgelegt. Das hatten Füchse getan, und sie waren offenbar von den Geiern überrascht worden. Eva erzählte nun: »Mir war zum Sterben angst, weil ich dich nicht hab' rufen können. Ich wollt' beten gehen, zum Grab.«
   »Everl, wir müssen die Großmutter besser begraben, jetzt gleich. Lauter große Steine müssen aufs Grab. Hilfst mir?« Damit faßte Peter die nächstliegende Steinplatte und löste sie mit kräftigem Ruck aus dem moosigen Grund.
   Eva half schleppen. Ihre vor Verwunderung weiten Augen musterten sein Fellkleid, aber noch fragte sie nicht, wie er dazu gekommen sei.
   Sie trugen Steine herbei, so groß wie sie sie schleppen konnten, und Peter legte Stein neben Stein. Dann streuten sie Sand, Erde und Laub darüber, und zum Schluß deckten sie Moospolster über die Ruhestätte. Nach getaner Arbeit stiegen sie zum Bach, um sich die Erde von den Händen und die Tränen von den Wangen zu waschen.
   »Everl«, fragte der Bub plötzlich, »hast Hunger?«
   »Ich hab' heut noch nix 'gessen, gar nix«, war die Antwort.
   Da führte er sie zum Korb, nahm ihn auf und stieg voraus, die Grablehne empor. Oben ließen sie sich nieder, und Peter teilte auf Lattichblättern ihr und sich das Mahl zu, Lunge und Leber vom Bock, dazu Bärenlauch und Wurzeln. Beide aßen heißhungrig. Als Nachspeise verzehrten sie Honig mit Bienenlarven. Den Rest von Lunge und Leber warf Peter weg, er hätte sich doch nicht gehalten. Eine Handvoll herber Heidelbeeren mundete köstlich nach der sonderbaren Mahlzeit. Jetzt erst erzählte Peter von seinem Beuteglück und von den Bienen.
   Noch waren seine Arme von den Stichen verschwollen, wenn auch das Schlammbad die Schmerzen genommen hatte.
   Den erlegten Raubvogel in der Linken, Evas Hand in der Rechten, so schritt Peter am Ende des ereignisreichen Tages dem Heim zu, und dort erst freute er sich richtig, als Eva staunend das mächtige Gehörn des Steinbocks hin und her wendete.


   Peter zieht hinaus und Eva schafft zu Haus

   Peters Schlaf wurde in den Morgenstunden unruhig. Im Traum war er in schwindelnde Höhen hinaufgestiegen, wo Steinböcke grasten. Mit einem erlegten Bock war er abgestürzt. Als ein Geier mit vorgestreckten Fängen auf ihn niederstieß, schrie Peter auf und – erwachte. Neben ihm lagen das stinkende Fell und der Schädel des Steinbockes, nicht weit davon der ausgebalgte Geier. Von den üblen Gerüchen war der böse Traum gekommen.
   Er mußte etwas tun, um den Bälgen den üblen Geruch zu nehmen. So stieg er hinunter zum Bach, wusch sich, holte einen Hartsteinsplitter, schabte von den Häuten alles anhaftende Fett und rieb die Bälge auf der Innenfläche mit nassem Lehm ein; die Erde sollte den argen Geruch in sich aufnehmen. Dann nahm er den Schädel des Bocks wieder vor. Er löste die Zunge heraus, wusch sie im Bach und schlitzte sie mit seinem Steinmesser der Länge nach vielfach auf. Dann stach er Lauchzwiebeln aus, pflückte ein Büschel blühenden Gundelkrauts, würzte damit die Zunge und wickelte sie in ein Klettenblatt. Das Fleisch von Kiefer und Schädeldecke loszuschaben, gelang ihm nicht, so daß er es den Ameisen, Wespen und Schmeißfliegen überließ. Die abgelösten Fleischfetzen legte er als Köder für Wildzeug auf einen Stein, den er von der Höhle aus sehen konnte. Vielleicht fand sich ein Fuchs oder ein Rabe auf dem Köderplatz ein.
   Dann trieb er einen Holzstab, den er mit Hilfe eines Schneidkeils angespitzt hatte, schräg in eine Felsritze über den Eingang seiner Höhle und steckte den Schädel des Steinbocks darauf. In den Geierbalg führte er kreuzweise zwei Spannstäbe ein, stopfte ihn mit Moos und Wacholderreisig aus und machte ihn neben dem Steinbockschädel fest. Der Harzduft mochte das Ungeziefer fernhalten.
   Auch Eva hatte schlecht geträumt.
   Er führte sie zur Lichtluke. »Schau, Everl, heut wird's schön. Der Sonnstein schaut schon licht herüber; die Klammwänd' und die Firne leuchten rot. Komm zum Bach!« Das Waschen im kalten Bachwasser machte sie munter und froh. Unterwegs zur Höhle mühte sich Eva, mit den Fingern ihr wirres Haar zu ordnen, und Peter zeigte ihr stolz den Schmuck über dem Höhlenzugang.
   »Jetzt essen wir aber!« Die zähe Bockszunge war mit harter Haut bedeckt und trotz aller Würze ungenießbar. Enttäuscht gingen sie an eine Arbeit, die recht unangenehm war, die aber nicht aufgeschoben werden durfte.
   Die Gedärme des Bocks mußten gereinigt werden. Peter wußte von früher her, wie er das anzupacken hatte. Erst wurde es zwischen Holz und Stein vom anhaftenden Fett freigeschabt, an einem Ende vorgestülpt und unter dem Druck des einströmenden Bachwassers das Innere nach außen gekehrt, so daß sich der Darminhalt in den Bach entleerte. Dann wurde es mit einem Schabholz von den Schleimhäuten befreit und gewaschen und schließlich noch durch die Hand gezogen und die eingedrungene Luft hinausgedrückt.
   Am Gedärm des Eichhörnchens, das lose vor der Höhle hing, hatte Peter die Erfahrung gemacht, daß es beim Trocknen zu einem hornigen Klumpen eingeschrumpft war. Deshalb verwandelte er das Bocksgedärm durch Drehen in eine Art Saite, die er dann zum Trocknen spannte.
   Nun sah er sich nach etwas um, womit er sie glatt machen könnte. Er fand am Bachrande einen dazu tauglichen Oberschenkelknochen eines Rehes. Wo das Grübchen unterm Rollgelenk war, durchlochte er den Knochen mittels eines spitzen Hartsteinsplitters so, daß er das obere Ende der Saite durchfädeln konnte. Dann band er die Saite an einem Eschenbäumchen fest, drückte sie mit dem Daumen über das glatte Rollgelenk und setzte sich rückschreitend in Bewegung. So mußte die Saite durch das Loch im Knochen gleiten, wobei die Luftbläschen in ihrem schlaff herabhängenden Teile weitergetrieben wurden. Der neue Saitenglätter entließ die Saite wie rundgeschliffen und spannte sie gleichzeitig. Sie wurde länger. Seiner Erfindung froh, verwahrte Peter das gelungene Werkzeug nach Beendigung dieser Arbeit zu künftigem Gebrauch. Dann wickelte er die Saite so straff auf einen Stab, daß sich dieser bog. Das gab zwölf Mannslängen starken Bindfaden. Diesen kostbaren Vorrat trug er zur Höhle hinauf und hängte ihn ans obere Ende des Steigbaums.
   Jetzt erinnerte sich Peter des Bocksrumpfes, den er an der Steinschlaglehne gelassen hatte. Ob dort das Raubzeug schon beim Fraße war?
   Er schulterte seinen Korb, nahm den Faustkeil an sich und sagte Eva, daß er allein fortgehen wolle.
   Sie wollte ihn nicht von sich lassen.
   Da stellte er sich herrisch vor sie hin: »Das Jagen ist Männersach'. Du wärst mir nur im Weg. Mach du zu Haus deine Arbeit.« Seine Stimme klang rauh.
   »Ja, was denn?« wandte sie weinerlich ein.
   »Ordentliche Körb' mit runden Böden.«
   »Aus freier Hand geht's nicht«, gab sie zurück.
   »So, dann will ich dir eine Unterlag' bringen.« Und fort war er.
   Durch einen Tränenschleier sah Eva ihm nach; so grob hatte er sie noch nie behandelt. Erbitterung überkam sie. Sie hörte, daß er mit wuchtigen Hieben irgendein Holz bearbeitete. Er blieb lange aus. Dann sah sie, wie er keuchend einen Baumstrunk heranwälzte, rührte sich aber nicht von der Stelle, um ihm zu helfen.
   Als er mit dem unförmigen Ding vor der Höhle angelangt war und sich den Schweiß von der Stirn strich, tat er ihr wohl leid, aber sie rührte keine Hand. Da fuhr er sie an: »Steh nicht so da, der Werkstrunk muß 'nauf. Ich heb' ihn und du ziehst.«
   Langsam und sperrig ließ sich die Last emporschieben. Endlich langten die beiden oben an. Peter, noch atemlos, bearbeitete schon den Lehmboden, um für die Wurzelstummel des Strunkes Vertiefungen auszuheben. Dann aber mußte er die splittrige, quer von Ameisengängen durchzogene Bruchfläche des Strunkes lange mit Schneid– und Schlagsteinen bearbeiten, bis sie nur halbwegs eben wurde. Zum Schluß holte er einen grobkörnigen Granitbrocken und raspelte damit die letzten Unebenheiten weg.
   Dann rutschte er über die Felsrinne hinunter und holte Waldreben. Mit Fäustel und Steinmesser hackte und schnitt er die schmiegsamen, oft wirr ineinanderverflochtenen Ranken nahe über dem Boden ab, bis er einen schweren Bund beisammen hatte. Den schaffte er in die Höhle, kniete sich vor den Strunk und begann die Flechtarbeit, wie er sich's ausgedacht hatte.
   Eva reichte ihm neue Ranken zu, die er zur Verdichtung des Grundsterns als Zwischenstrahlen einlegte, dann über den Rand umknickte und unter einer Ranke durchzog, die als Reifen herumgelegt war, so daß die Gestalt des Korbes sich abzeichnete.
   Jetzt legte Eva ihre Hände auf seine Rechte und hinderte ihn am Weiterarbeiten. »Laß gehen, das schaff' ich schon ...«
   Mit einem Schmunzeln überließ er ihr die Arbeit, tat Steinmesser und Krickel in den Spitzkorb und verließ die Höhle, den Faustkeil in der Rechten. Er stapfte der Steinschlaglehne zu und brannte vor Ungeduld, dort Füchse, Raben und Geier bei der Mahlzeit zu beschleichen. Vielleicht waren auch Bären da. Felle mußte er haben, ehe der Winter kam, zu Kleidern und Schlafdecken für sich und Eva!
   Gut gedeckt hinter Haselschößlingen spähte Peter aufgeregt zwischen den vom Steinschlag verstümmelten Bäumen und geknicktem Buschwerk nach der Trümmerhalde. Er vernahm das heisere Krächzen streitender Raben und Nebelkrähen. Und dort an der Stelle, wo die Überreste des Bocks lagen, bewegte sich etwas Großes, Plumpes, Dunkelbraunes, ein rundlicher Fleck und noch einer. Unter Peters Fuß knackte ein dürres Reis. Da erhoben sich die braunen Körper: Zwei Bären standen da, zur vollen Höhe aufgerichtet. Die kurzohrigen, breitstirnigen, spitzschnäuzigen Köpfe mit den kleinen Augen herübergewandt, die Vorderpranken gesenkt, horchten sie. Peters Herz ging in raschen Schlägen; sollte er fliehen oder bleiben? Noch hatten die Bären ihn nicht gewittert. Doch jetzt schienen sich die Tiere beruhigt zu haben, sie ließen sich wieder einträchtig zum Fraße nieder. Peter schlich näher heran; er wollte die ganze Halde übersehen.
   Da droben, nah an der Wand, wo der feine Geröllsand lag, gewahrte er fünf Füchse, zwei alte und drei halbwüchsige, die scharrend etwas freizulegen suchten. Es mochte ein im Steinschlag gestürztes Tier sein.
   Wie stachen Peter die roten Fuchspelze in die Augen! Er schlich sich bis auf wenige Schritte heran.
   Ein Wimmern, ein langgezogenes »Errr« ganz in seiner Nähe ließ ihn zusammenschrecken. Er neigte sich vor.
   Da stand dicht vor ihm, harmlos äugend, ein Bärenjunges und schnupperte zu ihm herüber. Es war drollig in seiner Plumpheit; noch hatte es den weißlichen, halbmondförmigen Halsstreifen, den alle jungen Bären haben. Am liebsten hätte Peter es lebend eingefangen und heimgenommen. Aber eines der Alttiere schickte sich an, nach dem Jungen zu sehen. Leise zog sich der Jäger zurück. In großen Sätzen suchte er das Weite und wagte lange nicht, sich umzusehen. Aber die Bären folgten ihm nicht.
   Je mehr er sich dem heimischen Waldrand näherte, um so zuversichtlicher schritt Peter dahin. Er dachte wieder an Eva und an das Essen, das er noch besorgen mußte.
   Am Fuß einer alten Föhre sah er zwei schöne, nußbraune Steinpilze und daneben ein Nest von Eierpilzen. Nahe dabei standen zwei junge Schirmpilze und ein Satanspilz, dessen brauner Hut dem eines dunklen Herrenpilzes glich; aber der rotschimmernde, dunkel geäderte Strunk warnte Peter vor der Verwechslung. Dankbar dachte er an die Ahnl, die ihn gelehrt hatte, giftige Pilze von ungiftigen zu unterscheiden. Er hob die genießbaren aus und fädelte sie mit den Strünken an einen Buchenzweig. Jetzt noch einige Wurzeln, und für die nächste Mahlzeit war gesorgt.
   Auf einem sumpfigen Rasenstreifen, in dessen Moos sich das Wasser staute, das von der Felswand sickerte, sah er Hunderte schlanker Wiesendisteln, deren rote Blütenköpfe auf den karg beblätterten Stengeln im Winde schwankten. Die kannte er gut. Mit beiden Händen faßte er die Stengel samt den bodenständigen Blattsternen und zog daran. Der kriechende Wurzelstock mit einem ganzen Nest fingerlanger, rübchenartiger Wurzeln löste sich aus dem Grund. Drei solche Stauden genügten. Zum Überfluß plünderte er noch einen Weißdornbusch, der eine Fülle halbreifer, hellroter Früchte trug.
   Eva empfing ihn mit hellem Jubel: Einen rundbödigen Korb hielt sie ihm entgegen, bei dessen Flechten ihr das Rehkrickel als Vorstecher gedient hatte. Die abstehenden Enden hatte sie mit den Zähnen abgebissen. Auch einen zweiten Korb hatte sie schon begonnen.
   »Das hast gut g'macht!« beeilte sich Peter zu loben, »einen für mich und einen für dich, so ist's recht. Schau, die Mehlbeeren sind schon bald reif, und jetzt nach dem Regen gibt's Pilzlinge, haufenweis'. Da können wir heut noch anfangen mit dem Eintragen und Dörren für den Winter. – Weißt, wie zu Ahnls Zeiten. Es wird eine hungrige Zeit werden, mach dich darauf gefaßt, uns wird allerhand schmecken müssen.«
   Obwohl es noch Vormittag war, fielen die beiden über die Wurzeln und Beeren her. Von den Pilzen genossen sie nur das Fleisch der Hüte, die Häute waren zu herb.
   Regelmäßige Mahlzeiten gab es nicht; beide aßen, wenn der Hunger mahnte und wenn es etwas Genießbares gab. Kauend erzählte Peter, was er gesehen hatte. Er hielt sich beinahe an die Wahrheit; nur waren seine Bären von riesenhafter Größe, das machte seine Zurückhaltung begreiflich, oder nicht? In Evas Augen las er trotzdem Bewunderung.
   Während er sich beim Erzählen alles vergegenwärtigte, tauchte in ihm die Frage auf, wie er seinen Arm verlängern könnte, um sein Stoßmesser dem Feind zwischen die Rippen zu bohren, ohne sich in den Bereich seiner Pranken zu begeben. Da kam ihm der schier selbstverständliche Gedanke, den Steindolch am Ende einer Stange zu befestigen. Er wählte eine halbdürre Jungfichte, schlug sie mühsam über den Wurzeln ab, säuberte sie von Astwerk und Wipfelzweigen und kehrte zur Höhle mit einem Speerschaft zurück, der anderthalbmal so lang war wie er selbst.
   Und Eva, der die Flechtarbeit nun flink von der Hand ging, wurde mit ihrem zweiten Korb fertig, ehe es ihm gelungen war, den Speerschaft mit einem Sandstein zu glätten und zu spalten. Drei Steinkeile zersprangen, als er sie mit dem Fauststein einzutreiben versuchte. Erst als er mit einem Holzknüttel einen Hartsteinkeil ins Stämmchen trieb, gelang es ihm, das Holz zu spalten. Eva holte den Spannstab mit dem Bocksgedärm herbei, das die Bindung abgeben sollte.
   Während Peter sich noch mühte, den Steindolch in den Spalt des Schaftes zu zwängen, zupfte sie spielend an den gespannten Saiten. Den Kopf vorgeneigt, lauschte sie den leisen, schnarrenden Tönen nach, die durch die Schwingungen der Darmsaiten entstanden.
   Als Peter ein Stück Saite zum Festbinden seiner Lanzenspitze vom Spannstab gelöst und den Rest festgebunden hatte, nahm Eva ihr Spiel wieder auf, während er zum Bach eilte, um das Darmstück anzufeuchten und geschmeidiger zu machen. Vom Köderplatz wehte ihm der Gestank des Bockfleisches zu, und zwei Kolkraben flogen auf. Er nickte vergnügt vor sich hin: Der Köder zog das Raubwild an.
   Auf Eva, die noch immer mit den Saiten des Spannbogens spielte, achtete er nicht. Sie hielt den Handteller gegen die schwingenden Saiten und freute sich, wie es dabei auf der Haut kitzelte. Dann versuchte sie, ob eine schwingende Saite ein Blatt oder einen Zweig fortzuschleudern vermöchte, und lachte hell auf, als eine Zweiggabel, die sie rittlings auf sämtliche Saiten gelegt hatte, beim Losschnellen auf Peter zuflog, der gerade herüberschaute.
   Da sprang er auf: »Gib das Ding her! Ich bring's weiter!«
   Er packte den Bogen mit der Linken, legte einen fingerdicken Stab auf, umfaßte ihn über den zusammengedrückten Saiten mit Daumen und Zeigefinger seiner Rechten, zog, daß sich der Bogen krümmte, zielte auf den nächsten Baum und – ließ los. Der Stab flog zwar um Baum vorbei, drang aber jenseits des Zieles so tief ins dürre Laub ein, daß Peter eine Waffe erahnte, die die Kraft seines Armes in die Ferne tragen konnte.
   Im Gebüsch suchte er sich die schönsten Gerten. Aber das grüne Holz war zu schwer, es flog in steilem Bogen abwärts und kam nicht weit. Dann fand er, daß die Geschosse besser in der Zielrichtung blieben, wenn sie vorn schwerer waren als hinten. Sofort spaltete er einen Holunderstengel und klemmte einen Steinsplitter in den Spalt. Jetzt behielt der Pfeil besser die Richtung zum Ziel.
   Den Rest des Tages und die nächsten Tage war Peter zu keiner Arbeit zu haben. Besessen von seiner neuen Leidenschaft, übte er sich im Bogenschießen und überließ es Eva, das Essen zu beschaffen.
   Er merkte, daß die Vielzahl der Saiten nur ein Hindernis war; eine einzige diente besser. Und er drehte sich eine Saite zurecht, die glatt und fehlerfrei war, und spannte sie an einen daumendicken Stab, länger als er selbst. Dennoch hatte er beim Zielen nach Eichhörnchen und anderem Kleinwild keinen Erfolg. Die Holzpfeile waren zu plump. Er mußte sich leichtere beschaffen, deren Wucht nur in der Steinspitze liegen sollte.
   Und während Eva in der nächsten Umgebung der Höhle eifrig Pilze sammelte, strich Peter bachabwärts und suchte die Gebüsche nach abgestorbenen Schößlingen von Holunder und Schierling ab. Auf diesen Streifzügen kam er weit unterhalb des Sonnsteins an eine Stelle, wo ein zweiter Bach in den Klammbach mündete. Hier stand zu beiden Seiten des versickernden Wassers ein Schilfdickicht. Peter suchte sich einen fingerstarken, geraden Rohrhalm, schnitt ihn auf Armlänge zu und versah ihn am unteren Halmknoten mit einem Steinsplitter. Am oberen Knoten, wo er die Saite auflegen wollte, brachte er die Kerbe an und gewann so einen leichten Pfeil. Durch die Schwere der Steinspitze wich dieser Pfeil weit weniger von der Zielrichtung ab und flog auch schneller dahin, so daß es Peter nach einigen Versuchen gelang, am Köderplatz eine Nebelkrähe zu erlegen.
   Nun machte sich der Glückliche, der aus einem Spielzeug Evas eine brauchbare Waffe geschaffen hatte, daran, einen großen Vorrat von Pfeilschäften anzulegen.
   Auf dem Heimweg ersann er noch ein Verfahren, das Halmende, in dem die Steinspitze saß, vor dem Zersplittern zu bewahren. Er mischte Harz, Wachs und ein wenig Lehmstaub zu einem streichbaren Brei. Handwarm haftete er gut an Stein und Holz, erkaltet wurde er steinhart. Mit dieser Masse kittete er die Steinspitze im Schilfhalm ein, so daß sie unverrückbar fest war.

 //-- * * * --// 
   Eva beeilte sich unterdessen, Wintervorräte von Pilzen und Beeren anzulegen, die sie zerkleinerte und in der Sonne trocknete.
   Das Fleisch der Nebelkrähe war zähe und ungenießbar; aber der Balg, in den Peter kreuzweise Spannstäbe eingezogen hatte, machte Eva viel Freude. Sobald sie genug Vogelbälge beisammen hatte, wollte sie sich daraus ein Kleid machen.
   Die Aussicht auf Nahrungsvorräte und Kleidung für den Winter stimmte die Kinder froh.


   Bildsteine und Nadeln

   Die nächsten Tage und Wochen brachten viel Arbeit. Peter und Eva sammelten ein, was sie finden konnten. Er, der keinen Weg ohne Pfeil und Bogen machte, jagte Häher und Eichhörnchen, die jetzt, zur Zeit der Haselnußreife, leicht zur Beute fielen. Auf den Halden waren die Schwarzwurzeln bereits so weit gediehen, daß sich das Ausgraben dieses Wildgemüses lohnte; in Sand gelegt, blieb es lange genießbar. Die Brombeerstauden gaben jetzt, im Spätsommer, ausgiebige Ernte. Zu den Heidelbeeren, die nur noch auf höheren Lehnen reichlicher standen, kamen die Preiselbeeren. Während Eva beim Herumstreifen nebenbei Bergflachs für Bindfäden sammelte, schoß Peter eine Menge Waldtauben und Alpendohlen, die leichter zu beschleichen waren als Krähen. Er sammelte von Fichten und Föhren, deren Rinde er mit seinem Fäustel angeritzt hatte, das herausgetretene Harz, das er zum Schäften seiner Pfeilspitzen und Steinwerkzeuge brauchte.
   Beim ersten länger dauernden Regen waren beide in der Höhle tüchtig an der Arbeit. Von der Ahnl her wußten sie, daß getrocknete Pilze und Beeren luftig aufbewahrt werden mußten; sie machten sich daran, unter den Höhlendecken Trockenböden einzurichten. Peter rammte armdicke Stämmchen in den Lehmboden, schmächtige Jungfichten, die im Schatten hoher Waldbäume nicht richtig gedeihen konnten. Er legte auf Astgabeln über Kopfhöhe Querhölzer, belegte sie mit Zweigen, dürren Tannenreisern und großen Blättern und verflocht sie mit Waldrebenranken. Der Baumstrunk, der Eva zum Korbflechten gedient hatte, erwies sich dabei als brauchbarer Hocker zum Draufsteigen.
   Als die Vorräte auf den Trockenböden in beiden Höhlen ausgebreitet waren, benutzte Peter den Strunk als Werktisch, in dessen Ritzen sich die Hartsteine beim Herrichten neuer und beim Ausbessern der abgenutzten Steinwerkzeuge gut festmachen ließen. Peter, dem die scharfen Kanten der Steinwerkzeuge beim Festhalten während der Arbeit Handfläche und Finger blutig rissen, sann auf Abhilfe. Er nahm länglichrunde Bachkiesel und schlug damit – natürlich mit aller Vorsicht – die vorstehenden schneidenden Ränder dort ab, wo er das Werkzeug halten wollte. Trotzdem sprang mancher langkantige Stein in Stücke, die dann nur noch als Kratzer und Schaber brauchbar waren. Nun versuchte er, die abstehenden Kanten mit dem Schlagstein abzudrücken. Das gelang schon besser; allerdings sprang durch den Druck von Hartstein auf Hartstein mehr ab, als Peter lieb war. Erst als er den Druckstein durch ein Rehkrickel ersetzte, gingen feine Splitter ab.
   Eva sammelte die Hartsteinabfälle, um sie als Bohrer oder Vorstecher beim Zusammenheften von Fellen zu benützen. Da sie aus freier Hand die Steinspitze nicht in das nachgiebige Fell treiben konnte, spannte sie es über den Werkstrunk, so daß es dem beim Stechen ausgeübten Druck nicht ausweichen konnte. In die so erhaltenen Löcher ließen sich die Fäden leicht einführen und zwei Fellränder aneinander binden.
   An den Zweigstummeln der Trockenbodenstützen baumelten Kräuterbündel, Waffen und Gerätschaften. Zum Aufhängen der frischen Bälge hatte Peter in einen Winkel ein verdorrtes Fichtenstämmchen gestellt, dessen Astquirle auf halbe Armlänge verkürzt und dessen Wurzeln mit Steinen beschwert waren.

 //-- * * * --// 
   Es war nun recht wohnlich in den Höhlen, in denen es nach gedörrten Früchten, Pilzen und Würzkräutern roch, aber auch nach rohen Fellen. Die Kinder fühlten sich geborgen und sahen sorglos in den Regen hinaus. Eva nähte sich aus Vogelbälgen und Kleintierfellen einen Lendenschurz und einen Schultermantel. Was sie an Kleidern mitgebracht hatte, war ja beim Schlüpfen durch Dornen und Gestrüpp zerfetzt. Für Peter fertigte sie einen Gürtel an, den er über dem Lendenschurz tragen sollte. An dem Gürtel befestigte sie ungeschlitzte Eichhörnchenfelle, die als Taschen für Pfeile, Steinwerkzeuge, Grabkrickel und dergleichen dienen sollten.
   So saßen die beiden, jeder für sich beschäftigt, im Schutze der Höhlen. Wenn sie Hunger hatten, aßen sie von den Vorräten und taten es unbesorgt, draußen war ja noch so viel. Plaudernd gingen sie die Ereignisse ihres neuen Lebens im Heimlichen Grund durch, und Peter, der das Erlebte irgendwie festhalten wollte, ergänzte seine Tagstriche an der Höhlenwand durch Merksteine. Das waren dünne Mergelplatten, auf deren glatten Flächen sich Zeichnungen einritzen ließen. Leicht war es nicht, den Jaspissplitter so zu führen, daß deutliche Umrisse entstanden. Unter dem kratzenden Griffel erschienen ganz einfache Abbilder der Gestalten, die Peter in seiner Seele schaute.
   Er zeichnete das Begräbnis der Großmutter, das Auffinden des Steinbocks im Steinschlag, die Begegnung mit den Geiern, das erste Abenteuer mit den Bären, die Erfindung von Bogen und Pfeil; ihm und Eva blieb diese Niederschrift für immer lesbar.
   Peters Arbeitsgerät wurde täglich reichhaltiger. Während ihm der auch von Eva benutzte Baumstrunk als Arbeitstisch diente, bot ein anderer eine Sitzgelegenheit. Auch Eva hatte einen Sitzblock bekommen und ein neues Arbeitstischchen. Ein viel gebrauchtes Steinmesser, Peters längstes, war nun recht schartig geworden. Schon wollte er es zu Pfeilspitzen verarbeiten, da fuhr er, angeregt durch die Zickzacklinie der gebrauchten Kante, prüfend mit dem Daumen darüber. Die Zacken ritzten die Haut! Dann mochten sie auch zum Ritzen von Holz taugen ... in der Tat, es ging! Und so war ohne Peters Absicht aus dem Messer eine Art Säge geworden, mit der sich ein Stab rundherum so tief einkerben ließ, daß er an der Kerbe leicht abzubrechen war. Peter schäftete sie in einen Stab und befestigte sie mit Harz und Wachs. Zum Ankerben eines Baumes war die kleine Säge unbrauchbar. Dazu brauchte er eine größere. Um ein längeres Sägeblatt zu bekommen, zerschlug Peter einen großen Hornsteinknollen. Unter allen Splittern, die er erhielt, war nur einer spannenlang. Durch den muscheligen Bruch war ein haardünner Rand entstanden. Von diesem drückte Peter mit einem Rehkrickel so viele Kerben ab, daß eine grobe Zähnung zustande kam. Die Säge hatte einen breiten Rükken, so daß sie gut in der Hand lag.
   Als wieder sonnige Tage kamen, waren bei den Erntegängen Pfeil und Bogen, Faustkeil und Steinsäge Peters ständige Begleiter. Eichhörnchen und Waldvögel fielen seiner geübten Hand zum Opfer. Ja, Peters Geschicklichkeit im Bogenschießen wurde so groß, daß er selbst Schlangen, die seinen Weg kreuzten und denen er sonst scheu ausgewichen war, mit sicherem Pfeilschuß traf.
   Zwischen Eva und Peter hatte sich ganz von selbst eine weitgehende Arbeitsteilung ergeben. Er war der Erwerbende geworden, sie hielt Ordnung in den Wohnstätten und kümmerte sich um die Vorräte.
   Aber er war nicht bloß Jäger, ihm fielen auch alle anstrengenden Arbeiten zu. Holzhauer war er und Steinarbeiter. Auf seinen Streifzügen stets zu Angriff und Verteidigung bereit, schärfte er sein Auge und war unablässig darauf bedacht, Dinge zu sammeln, deren Gestalt und Farbe ihm auffielen, obwohl er nicht immer sofort wußte, wozu sie taugen mochten. Zwischen ihm und den vielerlei Dingen – Steine, knorrige oder gerade Hölzer, Knochen oder Ranken – bestand eine innige Beziehung, die sich oft in Worten kundtat, mit denen er sie anredete.
   Mißerfolge verstimmten ihn nicht lange. So war er von den Füchsen, denen er als Köder Fleisch hingelegt hatte, wiederholt genarrt worden. Den ganzen Tag hatte er am Köderplatz gelauert, und in der Nacht wurden die Köder weggeputzt! Und von den Füchsen war nur die Losung da.
   Dennoch fuhr er unverdrossen fort, alle Fleischabfälle als Lockspeise auszulegen, immer an derselben Stelle, um das Raubwild an den Futterplatz zu gewöhnen. Ließ sich da auch noch kein Fuchs ertappen, so erlagen doch Nebelkrähen, ja sogar Kolkraben Peters Pfeilen.
   Und bald konnte sich Eva aus den Kleinbälgen, die sie mit Lehm ausgestrichen und entfettet hatte, einen bis zu den Knien reichenden Rock und ein weites Schultermäntelchen heften und sich einigermaßen vor Stechmücken und Bremsen schützen. Daß die Vogelbalgkleider für den Winter nicht taugen würden, wußte sie wohl. Die Bälge waren brüchig, sie raschelten bei jeder Bewegung und verbreiteten bei feuchtem Wetter einen widerlichen Geruch. Aber Eva trug sie mit nicht geringem Stolz und mit der nötigen Vorsicht, schon um die Verwendbarkeit ihrer Arbeit zu beweisen.
   Peter hielt von der Dauerhaftigkeit dieser neuen Kleider nicht viel und sprach viel von den Füchsen, denen er die Bälge abziehen wollte. Vom Köderplatz aus folgte er ihren Spuren und fand in der Nähe der Steinschlaglehne ihren Bau. Auf einem mit hohen Bäumen bestandenen Hügel entdeckte er die drei vom Buschwerk gedeckten Zugänge. Lange lauerte er vor den Röhren, bekam aber keinen der Füchse zu sehen. Alles, was er an Fraßresten vor dem Bau fand – Röhrenknochen, Schulterblätter und Schädel von Rehkitzen und Alpenhasen – hamsterte er in seinen Korb und trug es heim. So wuchs sein Allerlei, in dem er kramen konnte, wenn er etwas brauchte, und Peter fühlte sich reich.
   Auch Eva wußte dieses Allerlei zu schätzen. Aus gebleichten Schädeldecken, die längst nicht mehr rochen, schlug und schliff sie handliche Trinkgefäße zurecht, auch Schalen, in denen sie Hartsteinsplitter, nach der Größe gesondert, aufbewahrte; aus dünnen Vogelknochen machte sie Vorstecher für ihre Näharbeit.
   Die Höhle brachte Peter der Bären wegen in verteidigungsfähigen Zustand. Steintrümmer, größer als sein Kopf, türmte er am Rande des Höhleneingangs zu einer Schutzmauer auf, die, einem Druck von innen nachgebend, einen anstürmenden Bären erschlagen konnte.
   So verging der Spätsommer. Schon waren die blauen Blüten der Alpenwaldrebe abgefallen, und an ihrer Stelle glänzten silbrig die krausen Büschel der langbehaarten, zum Abfliegen bereiten Samen.
   Während die Kinder Tag für Tag von morgens bis abends unaufhörlich auf der Suche nach Nahrung waren oder andere dringende Arbeiten verrichteten, konnten sie für ihr Äußeres wenig tun. Wohl strichen sie die wirren, nur mit den Fingern gekämmten Haare ab und zu aus der Stirn, Hand– und Fußnägel stießen und rieben sie sich beim Arbeiten ab, Sorge aber machte ihnen die unvollkommene Kleidung, denn die Kälte konnte nicht mehr lange ausbleiben.
   Um seinen Lendengürtel, der sich unter der Last der Steinwerkzeuge verzogen hatte, mehr Halt zu geben, verwendete Peter zopfartig verflochtene Rindenstreifen junger Schößlinge. Er entnahm sie Evas Flachsrutenvorrat, den sie im Bach unter Steinen beschwert eingelagert hatte. Vom Wasser aufgequollen, ließ sich die Rinde samt dem Bast leicht vom Holze lösen und flechten. Die zurückgebogenen Enden des Gurtes wurden mit vorher gewässertem, mehrfach zusammengedrehtem und getrocknetem Gedärm überbunden, so daß sie nicht mehr aufgehen konnten.
   Als Gürtelschließe diente Peter eine Art Spange, die er aus einer gedrehten Darmschlinge und einer aufgefädelten Eichel angefertigt hatte. Nun sollte Eva die Bälge an den Gurt heften.
   Aber das war schwieriger, als sie gedacht hatte. Am leichtesten war das Vorstechen der Löcher; mit einem spitzen Steinbohrer oder einem zugeschliffenen Knochensplitter ging es ganz gut, wenn auch langsam; viel schwerer war es aber, den Faden durch den Gurt zu ziehen. Die Spitze der Saite franste aus und spießte sich da und dort, und Eva, der die Geduld ausging, warf den Gürtel zornig von sich. Mit einem geringschätzigen Blick nahm Peter die Arbeit auf. Er versuchte es mit knöchernen Häkchen. Es ging langsam. Suchend sah er sich nach etwas um, womit er den Faden führen konnte. Ein spitzes, gespaltenes Holzstäbchen tat den Dienst schlecht, er mußte den eingeklemmten Faden immer wieder aufs neue befestigen. Peter stand auf und musterte pfeifend sein Allerlei. Vogelkrallen wären zwar brauchbar gewesen, aber selbst die vom Kolkraben waren nicht lang genug. Da fielen ihm die Fänge des Geiers ein.
   Er brach dem Geier, der noch immer über der Höhle hing, eine Zehe ab, löste die Kralle aus, durchbohrte sie an ihrem breiten Ende mit einem Steinbohrer, zog einen Faden durch und begann die Näharbeit. Leider war die Nadel an ihrem Öhr-Ende zu breit; er schabte sie ab und nähte weiter. Dann merkte er, daß die starke Krümmung der Nadel die Fadenführung hemmte. Knurrend legte er sie weg und stöberte wieder in seinem Allerlei, fand das Schienbein eines Hasen und musterte es kritisch. Daran hing noch das schmale, harte Wadenbein – ja, das mußte den Faden führen. Doch eine große Geduldsprobe war es, das Wadenbein am stumpfen Ende mit dem verbesserten Steinbohrer zu durchlochen, weil dort der Knochen sehr dicht war. Das Verschmälern des Knochens am Öhr-Ende und das Zuspitzen am schräg abgebrochenen anderen Ende machten nicht so viel Mühe. Peter schliff die beiden Enden an der rauhen Bruchfläche eines feinkörnigen Granits zurecht. Nun hatte er eine fast fingerlange, sehr grobe Nadel, die sich mit einigem Druck durchs Geflecht treiben ließ.
   Als Eva sah, wie vergnügt Peter die neue Nadel handhabte, nahm sie ihm die Arbeit aus der Hand und nähte den Gürtel mit großen Heftstichen fertig. Damit die brüchigen Bälge geschmeidiger wurden, rieb Peter sie auf der nackten Innenseite mit einem Klumpen Bockstalg ein, zog, spannte und walkte sie über dem Werkstock so lange, bis sie nicht mehr raschelten. Als er aber Evas Schultermäntelchen, das sie bei der Arbeit abgelegt hatte, ebenfalls so behandelte, erntete er keinen Dank. Sie, deren Nase offenbar empfindlicher war als seine, spuckte vor Ekel aus und behauptete weinend, nun sei ihr Kleid durch das stinkende Bocksfett verdorben. Eilends rieb sie mit Moos und Lehmstaub das ranzige Fett ab, und tatsächlich: der üble Geruch ließ ein wenig nach.
   Peter brauchte etwas, um einen Vorrat von langen Pfeilen am Gürtel zu tragen. Aus dem Röhrenknochen eines Rabenbeines schliff und bohrte er eine lange Nadel. Damit nähte er zwei handbreit gedehnte und zugeschnittene Eichhörnchenfelle, Haarseite nach innen, der Länge nach zusammen. Eva freute sich, daß er dabei einen Vorteil benützte, den er ihr abgeguckt hatte: Selbst er wäre nicht imstande gewesen, ein Fell aus freier Hand zu zerschneiden, wenn er es nicht über eine Unterlage gespannt hätte. Auch das Nähen machte er Eva nach.
   Aus zwei kurzen Eichhornfellen war nun ein langer Köcher entstanden. Andere Bälge an seinem Gürtel dienten als Taschen für Rehkrickel, Fäustel, Steinmesser und Steinsäge – das alles brauchte er auf seinen Streifzügen, denn er wollte die Hände frei haben. Der Gürtel hatte kein geringes Gewicht, schmiegte sich aber fest um Peters Hüften.
   Trotz der vorgeschrittenen Tageszeit ging Peter aus.
   Während er draußen umherstreifte, begann Eva, für sich einen Gürtel zu flechten, nicht aus Rindenstreifen, sondern aus Bergflachsstengeln, die sie durch Wässern, Dörren und Klopfen von der Rinde befreit hatte. Als der zopfartige Gürtel geflochten war, nähte sie den Schurz aus Vogel– und Eichhornbälgen darunter und ließ es nicht dabei bewenden, sondern nähte Eichelhäherflügel und Spechtbälge daran und schmückte das neue, bis zu den Knien reichende Kleidungsstück mit weißen, blauen, grünen und grellroten Federn.
   Nun lagerte sie ihren Bergflachs wieder im Sickerwasser des Baches, legte Weidenruten dazu und deckte Steine darüber. Ein scharf würziger Duft reizte ihre Neugierde. Sie suchte nach der Ursache und stieß auf hohe Stauden mit bläulich-grauen Blütenständen. Daher also kam der Duft! Da hatte sie ja ein wirksames Mittel, um den Gestank der Felle zu übertönen! Mit diesen Blüten wollte sie die Innenseite ihrer Felle so lange einreiben, bis sie nicht mehr rochen. Fröhlich erkletterte sie den Steigbaum und setzte sich in die Lichtluke ihrer Höhle.
   Lange spähte sie vergeblich nach Peter aus.
   Dann aber sah sie drüben unweit der Grableiten etwas Helles schimmern, es bewegte sich langsam von Busch zu Busch. Doch erst in der Dämmerung tauchte der Ersehnte am Waldrand unter der Höhle auf. Langsam kam er daher und schien verdrossen.
   In der Höhle angekommen, legte er eine Blatt-Tüte voll roter Kornelkirschen vor Eva hin, lobte geschwind ihr neues Kleid und fing dann gleich von seinem mißglückten Jagdgang an.
   Vorsichtig habe er sich an den Rehbock herangepirscht, der droben bei der Grableiten äste. Ehe er aber zum Speerwurf gekommen sei, habe der Bock herübergeäugt und sei plötzlich auf und davon.
   »Er wird dich halt früher gesehen haben«, versetzte Eva, »das war' kein Wunder, mir bist auch von weitem aufgefallen, so hell hat sich dein Leib abgehoben vom grünen Busch und Gras.«
   Peter horchte auf. »Ah, du meinst, meine Haut hätt' den Bock g'schreckt?«
   Das Abendessen schmeckte weder Peter noch Eva sonderlich, obwohl sie tagsüber nichts Rechtes zu sich genommen hatten. Sie aßen nur, um den ärgsten Hunger zu stillen; ihren Mägen behagte die Kost nicht mehr, alles schmeckte fad. Die Kornelkirschen aber waren noch zu herb und mußten nachreifen. Der Gedanke, das Wild ängstige sich schon von ferne vor seiner Hautfarbe, beunruhigte Peter. Er grübelte so lange, bis ihm einfiel, wie dem Übel abzuhelfen sei. Wie, wenn er seinen Leib mit nassem Lehm bestriche? Das müßte doch seiner hellen Haut eine stumpfe, unauffällige Farbe geben!
   Mit diesem Gedanken schlief er ein.


   Salz

   Geborgen vor Witterungsunbilden, notdürftig bekleidet, frei von den ärgsten Nahrungssorgen, hätten die Höhlenkinder bei ihrer Arbeit, die ihnen allmählich zu einem behaglicheren Leben verhalf, glücklich sein können. Aber gerade zu Beginn der Herbsternte fühlten sie sich wieder so matt und schlaff wie schon einmal.
   Woher kam nur dieses Gefühl, das sie zeitweise so mutlos und verdrossen, so launenhaft und streitsüchtig machte? Sie wußten es nicht. Peter war bei aller Mattigkeit von einer unerklärlichen Unrast erfüllt. Überall stöberte er herum und wußte nicht, was er suchte. Als wieder ein mehrtägiger Regen einsetzte und die beiden zu Hause festhielt, verbrachten sie ihre Zeit meist untätig und verärgert, jeder in seiner Höhle. Wozu arbeiten, es hatte ja doch keinen Zweck! Dabei schaute Peter von seinem Lager aus ungeduldig in den herabströmenden Regen; ein geheimnisvoller Trieb lockte ihn hinaus und hinauf nach unerforschten Höhen.
   Eva raffte sich zuweilen auf, besserte an ihren Balgkleidern herum und ärgerte sich dabei mehr als je über ihr wirres Blondhaar, das ihr immer wieder ins Gesicht fiel. Wütend griff sie nach einem Rindenstreifen und band sich ihn als Stirnband um den Kopf. Jetzt mußten die Haare Ruhe geben! Und angeregt durch die Erleichterung, beschloß sie, sich ein schönes Stirnband zu machen. So sehr reizte sie der Gedanke, daß sie ihre Trägheit überwand und Ruten vom Vorrat am Bach holte.
   Peter bemerkte das Band über ihrer Stirn. Es gefiel ihm; auch ihm waren seine langen, vorfallenden Haarsträhnen lästig. Er machte sich auch ein Stirnband, nahm aber nicht Weidenrinde, sondern zwei übereinandergelegte Fellstreifen, heftete sie zusammen und steckte drei Geierfedern dazwischen.
   Eva sah es nicht ohne Neid und nahm sich vor, ihr neues Stirnband noch schöner zu schmücken.
   Am nächsten Tag hatte sie es fertig. Im Geflecht befestigte sie allerlei bunte Federn. Beim Kramen in Peters Allerlei kamen ihr gestreifte Schnirkelschnecken in die Hände, die sich leicht durchlochen und am Stirnband festnähen ließen.
   Erwartungsvoll trat sie vor ihn hin: »Peter, was sagst dazu?«
   »No ja«, meinte er geringschätzig, »schön bist schon. Zum Jagen wär' das kein Aufzug. Die Farben schreien ja! Die Spechte und die Häher täten's im ganzen Wald rufen, daß da eine herumgeht, die sich mit ihren Federn aufputzt. Da, schau mich an: Ich hab' mich heut schon in aller Früh mit nassem Lehm angestrichen, heut wird sich vor mir kein Bock schrecken.«
   In der Nacht hörte der Regen auf. Morgens unternahm Peter gutgelaunt einen Streifgang, und Eva durfte ihn begleiten.
   Sie durchwateten an einer seichten Stelle den Klammbach und begannen ihre Bergwanderung über die noch schattenkühle Lehne, die jenseits der Quellgrotte anstieg.
   Es wurde Mittag, ehe sie aus dem Bereich der verblühten Alpenrosen in Höhen hinaufdrangen, wo sie noch in voller Pracht standen.
   Eva konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich einige der blaßroten Blütensträuße hinter das Stirnband zu stecken.
   Peter erlegte ein Steinhuhn. Während er die Beute am Gürtel festband, machte sich Eva ans Einheimsen von Preiselbeeren. Da fand sie schütter im Gras stehenden Bergflachs, dessen Stengel kugelige Kapseln trugen. Eifrig sammelnd stieg sie langsam auf. Peter half ihr bei der Ernte. Dabei erzählte Eva, was sie von der Ahnl her vom Zurichten des Flachses noch wußte: Einwässern wollte sie die Stengel, in der Sonne dörren, mit den Händen brechen und dann aus den Fasern Fäden zwirbeln ...
   Bald hatten sie zwei große Bündel beisammen, und Peter mahnte zum Weitergehen; er wollte hoch oberhalb der Wohnhöhlen herumgehen und drüben an der Steinschlaglehne niedersteigen. Die Nacht durfte sie nicht in den Felsen überraschen. Inzwischen war es heiß geworden, der Durst meldete sich; immer matter werdend, stiegen die beiden mühsam weiter. Die hohen Kräuter und beerentragenden Stauden hörten allmählich auf. Nur da und dort leuchtete eine verspätete Erdbeere aus dem kurzen Gras.
   Bei der schroffen Bergwand über der Schutthalde angelangt, standen die beiden ausruhend still. Die helle Pracht der Talsohle tief unten fesselte den Blick. Mitten durch die grüne Fläche des Steinfeldes, dessen Ecken stumpf abgeschrägt waren, schlängelte sich, von Buschwerk gesäumt, der schmale Klammbach. Wo der Wald aufhörte, umfloß die Wasserader in enger Gabelung den turmartigen Sonnstein, dessen Abbruchsteilen in der Sonne glitzerten. Von der links im Schatten liegenden Grableiten mit ihren Heidelbeerbüschen, Fichten und Birken glitten die Blicke zu den Klammwänden, in deren Spalt der Bach verschwand. Dahinter hoben sich in weiter Ferne drei Hochgipfel vom Himmel ab.
   Der südlichste dieser Gipfel hatte die Gestalt eines sanft nach Norden gekrümmten Horns, der nördlichste ragte als steile Spitze empor, während der mittlere einer sitzenden Riesenhenne glich. Peter und Eva stellten fast gleichzeitig diese Ähnlichkeit fest. Vergnügt darüber, daß sie darin einig waren, ließen sie ihre Blicke weiter schweifen. Da sahen sie tief rechts, jenseits des Klammbachs, wo ein schilfgesäumtes Wässerchen ihm zufloß, eine breite Bodenstufe, die sich in ihrem gleichmäßigen Grün vom unruhigen Hintergrund der buschbewachsenen Halden eigenartig abhob. Das Grasland war durchsetzt von kleinen runden, blanken Wasserspiegeln; da und dort standen weißleuchtende Birken, vom Winddruck schräg herübergeneigt, und kleine Gruppen silbrig schimmernder Laubbäume. Das mochten wohl Weiden sein. An der sanften Lehne gegen die Felswand zu stiegen sie in zwei Reihen auf. Von dorther glitzerte zwischen Buschwerk ein Bächlein, das sich im Sumpf der Bodenstufe verlor und später als Bach im Moor sichtbar wurde. Hinter dem Sumpfland zog sich längs der rechten Klammwand eine schmale, mit einzelnen Nadelbäumen bewachsene Halde hin. Rechts oberhalb der Schilf– und Buchenbestände des Moores stieg das Land zu einer breiten Lehne an, die von steilen Wänden abgeschlossen war. Dort floß in weißschimmernden Wasserfällen der Moorbach nieder. Bis zur halben Höhe war die Felswand, aus welcher der Bach kam, dunkelgrau und glänzte matt im Sonnenschein. Darüber hob sich in braunroten und weißen Schichten der aufgelagerte Kalkfels vom unteren Urgestein ab. Während Peter noch die merkwürdige dreifarbige Wand anstarrte, betrachtete Eva die rechts daran anschließende Südwand. Hellfarbig stieg diese im vollen Lichte auf, ihre scharfen Grate leuchteten, und an ihrem Fuße standen mächtige Laubbäume mit rundlichen Kronen.
   Eva zeigte hinüber: »Schau, Peter, stehen dort nicht die Maronibäume, von denen die Ahnl erzählt hat?«
   »Das können nicht lauter Kastanienbäume sein«, bemerkte er, »die Kronen sind ungleich. Buchen dürften drunter sein, vielleicht auch Walnußbäume, vielleicht gar Vogelkirschen oder wilde Birnbäume.«
   »Gehen wir schauen, ob die Maroni schon reif sind«, schlug Eva vor.
   »Du lieber nicht«, versetzte Peter nachdenklich, »dahinter ist's nicht geheuer. Siehst du die Höhlen in der Südwand? Dort dürften die Bären hausen, die ich am Steinschlag getroffen hab'. Schau, rechts davon ist die Geröllhalde, wo sie den Rumpf von meinem Bock aufg'fressen haben. Wo mögen die Steinböcke sein?«
   Als erfahrener Hirtenbub erwartete Peter, irgendwo scheckige Nachkommen der weißen Ziege und eines braungrauen Steinbocks zu entdecken, und sei es auch noch so hoch in der Wand.
   Von der sonndurchglühten Felswand, an der sich die Kinder zur Rast niedergelassen hatten, ging eine Hitze aus, die ihr Durstgefühl noch steigerte. Und der Boden unter ihren Füßen war trocken, nirgends eine feuchte Stelle, die eine Quelle verriet.
   Die beiden brachen wieder auf. Die Augen auf den Boden gerichtet, schritt Peter voran, an der Wand entlang, dem schwindelerregenden Absturz zu, unter dem die Quellhöhle des Klammbachs und die Wohnhöhlen lagen. Plötzlich kauerte er sich nieder, um etwas zu untersuchen, das da vor ihm lag.
   Aufgeregt winkte er Eva heran: »Kennst du die Losung?« flüsterte er, und seine Augen leuchteten.
   »Von Geißen, glaubst?« fragte sie unsicher. »Oder von Steinböcken«, versetzte er eifrig, »und weit können's nicht sein, die Losung ist frisch. – Du bleibst da!« befahl er in der Art, die keinen Widerspruch zuließ.
   Dann schlich er vorwärts, die Rechte tastend an der Wand, in der Linken den Speer, die Augen suchten den Boden ab. Da – zwei eng zusammenstehende Hufspuren und noch ein Paar – und jetzt mehrere Paare nebeneinander! Der Bruchsand war hart am Felsen zu einem schmalen Wildpfad niedergetreten, und die vertieften Spitzen der frischen Hufabdrücke deuteten alle nach vorn. Die Bodenstufe wurde breiter. Peter folgte erregt den Spuren. Auf einmal hörten sie im Sande auf. Und wieder war es die Losung der Tiere, die dem Jäger den weiteren Weg wies. In einer Felsenritze, fußhoch über der Lehmstufe, lagen braune Bohnen, und die vorspringenden Steine an der Wand waren glattgeschliffen von Huftritten. Also da hinauf ging der Wechsel! Peters Durst, seine Mattigkeit waren vergessen. Um ungehindert klettern zu können, legte er Korb und Bogen ab und klomm die Wand schräg hinan, wobei ihm der Speer als Bergstock gute Dienste leistete, wenn es galt, einen Felsspalt zu überspringen. So gelangte er an einen waagrechten, breiten, stufenartigen Vorsprung, der wieder leicht zu begehen war.
   Eine feuchte, zähe Lehmschicht, die hier den Boden bedeckte, wies zahlreiche Hufspuren auf, und der Fels zeigte, von Sickerwasser verursacht, eine dunklere Färbung. Die Stufe verbreiterte und senkte sich zu einem seichten Becken. Von der überhängenden, naß glänzenden Wand tropfte Wasser. Peter, der während des Steigens nur an die Steinböcke und andere Wildziegen gedacht hatte, verspürte beim Anblick des Wassers wieder Durst. Er legte sich flach auf den nassen Boden und sog mit gespitztem Munde das Wasser aus einer Mulde. Im ersten Augenblick schmeckte es erfrischend kühl, dann aber – salzig!
   Beinahe hätte er aufgeschrien, erinnerte sich aber rechtzeitig der Wildziegen. Schweigend spähte er nach vorn, sah hinunter in die schwindelnde Tiefe und die Felswand empor.
   Was er dort oben erblickte, ließ ihn das gesuchte Wild vergessen. Weiße, eisähnliche Krusten zogen sich in Streifen an der überhängenden Wand herab und glitzerten im Sonnenschein. Unten aber war der nasse Fels dunkel und glatt; Peter stand an einer vielbesuchten Salzlecke des Wildes, das vor langer Zeit die Stelle entdeckt haben mochte, wo das Salzwasser aus dem Berginnern sickerte. Mit der Steinspitze seines Speeres schlug er ein Stück des weißen Belags vom Fels los und fing es auf. Er leckte daran. Es war Salz – reines, köstliches Salz!
   Ein Gefühl wundersamer Erquickung durchrieselte ihn. Und jetzt ließ Peter einen Juchzer erschallen, daß es weithin hallte von Wand zu Wand: »Juhuhuhuu! – Huhuu!« Was lag ihm nun an den Wildziegen! Die mußten ja wiederkommen. Das Salz war's gewesen, das ihm und Eva gefehlt hatte!
   Begierig stocherte er mit der Speerspitze so viel Salzsinter herab, wie er erlangen konnte, las jeden Splitter auf und stopfte davon in die Gürteltaschen, soviel hineinging. Die Pfeile steckte er unter den Gürtel.
   Als er zu Eva zurückkehrte, trug er einen Salzvorrat bei sich, der einige Wochen lang reichen konnte.
   »Wo sind die Ziegen?« Mit dieser Frage wurde er empfangen.
   Eine wegwerfende Handbewegung: »Ach was, Ziegen! Ich hab' was Besseres.« Und er reichte Eva auf der hohlen Hand einige Salzkörner. »Kost' einmal!«
   Sie berührte die weißen Körner mit der Zungenspitze. Ihre Züge verklärten sich. Salz! »Das liebe Salz«, hätte die Ahnl gesagt. Und Peter erzählte von seiner Kletterei und von seinem Trunk an der Salzlecke.
   Trotz ihres Durstes stiegen die Kinder froh und eilig zu ihrem Heim hinab. Erst am Klammbach hatten sie Gelegenheit zum Trinken. Als die Sonne zwischen Henne und Horn hinter der Klamm sank und die Felsen oberhalb der Südwand mit zartem Rot überhauchte, wurden sie sich ihres neuen Glücks erst richtig bewußt.
   Voll Dank gegen Gott, den die Ahnl vor ihrem Tode angerufen hatte, sagte er, dem sinkenden Sonnenball zugewandt: »Ich dank' dir schön, du lieber Gott, daß du mir den Wechsel der Geißen gezeigt hast und daß du mich den Weg hast finden lassen zur Salzlecke. Gelt, du hilfst auch weiter?« – »Und dank' dir schön für den vielen, vielen Flachs, ich werd' ihn schon verarbeiten«, fügte Eva hinzu.
   In der langen Dämmerung des Sommerabends wurde das Abendessen bereitet und verzehrt.
   Wie schmeckte das weichgeklopfte Fleisch des erlegten Steinhuhns, gewürzt mit Salz, Gundelkraut und Lauch! Dem Salz aber wurde auf einer großen Mergelplatte ein reines Plätzchen bereitet. Es war ein Schatz, der behütet werden mußte.


   Jagd im Moor

   Ehe Peter am nächsten Morgen zur Jagd aufbrach, kauerte er vor dem Salzvorrat, um seine Augen an der Fülle dieses kostbaren Gewürzes zu weiden. Doch was war das? Am Rande des Salzhaufens waren ungezählte Tröpfchen und rund herum nasse Flecken auf dem Stein! Peter versuchte einen Tropfen – es war Salzwasser. Auch Eva versuchte – ja, es war Salzwasser. Also hatten die Salzkörnchen den Morgentau angezogen und waren in ihm zerflossen. Wie sollte das im Winter werden, wenn der ganze Vorrat zerging? Peter war entsetzt. Aber Eva nahm die Sache leichter.
   »Tun wir halt das Salz in einen Korb; wir können ja große Blätter unterlegen.«
   »Da rinnt's durch!« sagte Peter.
   »Muß aber nicht! – Wir können ja die Körb' mit irgendwas ausstreichen, mit Lehm – oder so was«, meinte Eva.
   Das war ein guter Gedanke: die Körbe ausstreichen – ja, aber nicht mit Lehm! überlegte Peter, Lehm würde ja das Salzwasser noch gieriger aufsaugen als der Stein. Da fielen ihm die halberhärteten Harzklumpen ein, die er im Allerlei aufbewahrte. Sofort klaubte er sie hervor und versuchte, sie durch Anhauchen und Kneten weich zu machen. Eva mußte ihm dabei helfen. Nun nahm er einen plumpen Flachkorb und begann, ihn mit Harz auszustreichen. Als Spatel diente ihm das Schulterblatt eines Eichhorns.
   Das Fertigmachen überließ er Eva und ging auf die Jagd. Im Weggehen rief er ihr noch zu, er sei wieder zurück, wenn ihre Seite des Sonnsteins im Schatten liege. Heute reizte es ihn, den Bären zum Trotz zur Südwand hinüberzugehen, wo der große Laubwald stand. Vielleicht gelang es ihm, die Edelkastanien zu finden, deren Früchte zur Winterszeit die Hauptnahrung abgeben sollten. Aber nicht durch den morastigen Urwald wollte er gehen. Lieber machte er den Umweg über das offene Steinfeld, das in lachendem Sonnenglanz vor ihm lag.
   Schon auf dem Pfad zum Sonnstein hatte er Glück. Sein Pfeil holte eine Elster mit blaugrünem, langem Stoß aus dem Geäst eines Bergahorns. Mit dem schönen Vogelbalg wollte er Eva eine besondere Freude machen.
   Als er unterhalb des Felsens auf der kleinen Insel dahinging, fiel ihm der glitzernde feine Sand auf, der, soweit das Wasser spülte, die Landzunge säumte. Er betrachtete ihn genau und sah darin winzige Blättchen schimmern.
   Wozu die wohl gut sein mochten, und woher sie kamen?
   Ein kantiges Steinstück, auf das er getreten war, gab ihm Auskunft.
   Die weißen, glitzernden Blättchen staken ja auch im Stein. Er betrachtete ihn näher: Das war ein Gemenge von wasserhellen und gelblichen Hartsteinen und Glimmerblättchen. Er hatte ein Bruchstück sehr feinkörnigen Granits vor sich.
   Die frischen Verwitterungsabbrüche am Sonnsteinfels zeigten die gleiche Zusammensetzung.
   Peter betastete die glitzernden Bruchflächen. Unter seinen Füßen zerbrachen klirrend abgesplitterte Steinplättchen. Da bückte er sich und hob einige der größeren auf.
   Sie waren dünn, ihre Flächen hartkörnig – die waren ja brauchbar zum Abschleifen von Holz und Knochen! Auf allen vieren kriechend, musterte Peter die Bruchsteine. Herrliche Keile gab es darunter, zum Wurzelgraben verwendbar, so wie sie dalagen, andere brauchten höchstens einige Zurichtschläge!
   Am Ufer des rechten Bacharmes machte er eine andere Entdeckung. Zahlreich waren hier paarweise, dreieckige Grübchen im feinen Wellsand eingedrückt, deren Spitzen nah beisammenstanden. Spuren waren es, Wildspuren, schmäler und zarter als die von der Salzwand. Die konnten nur von Rehen herrühren. Also hatte das Rehwild hier eine Tränke. Peters Jagdeifer erwachte. Leise setzte er seinen Weg fort, von Busch zu Busch, immer auf Deckung bedacht, nach allen Seiten spähend. Es verdroß ihn, daß er es morgens unterlassen hatte, seine Haut mit Lehm zu bestreichen. Er wollte das nachholen. Das Wild hatte ihn gewiß längst eräugt.
   Jetzt hob sich der Grund zu einer mit üppigen Kräutern bestandenen Erdwelle; der nur wenig sichtbare Boden war nicht mehr schotterig, sondern bestand aus feuchtem, fettigem, oben völlig wassersattem, blaugrauem Ton. Mit dem bestrich er sich den Leib, soweit dieser nicht von Fellen bedeckt war. Den tonigen Wall emporsteigend, gelangte Peter zu den silbrigen Weiden am Rande des Sumpfes, dessen zahlreiche Wasserspiegel gut zwei Mannslängen hoch über der Talsohle lagen.
   Vor ihm dehnte sich hochgelegenes Moorland, das in Schilf und Busch überging. Rechts davon stieg eine breite Halde sanft zur dreifarbigen Felswand an, die er von der Salzlehne aus gesehen hatte.
   Auf einem der nächsten Weidenbäume im Moor erspähte Peter ein unförmiges Nest aus vielen durcheinanderliegenden Zweigen. Er wollte ganz herankommen, doch im weichen, moosigen Wiesengrund sanken seine Füße ein. Die Spuren füllten sich sofort mit bräunlichem, trübem Wasser. Je weiter er ging, desto nachgiebiger wurde der moosige Grund. Peter war auf schwingendem Moorboden.
   Um nicht einzusinken, legte er sich flach ins Gras und kroch auf Knien und Ellbogen vorwärts. Dabei scheuchte er unversehens zwei langschnäbelige Brachvögel auf, die sich schneller davonmachten, als er den Pfeil auf den Bogen legen konnte.
   Die abfliegenden Vögel stießen ihr warnendes »Krii« so grell aus, daß sich im nächsten Augenblick eine Schar anderer Vögel aus dem Sumpfe hob, darunter Reiher und ein Flug Wildenten.
   Der zu spät aufgelegte Pfeil verletzte den linken Flügel einer Ente, sie fiel ins Gras. Aber trotzdem suchte sie sich watschelnd und laut schreiend durch eilige Flucht zu retten.
   Das war nun ein Wettlaufen auf dem schwankenden Boden! Peter, der sich beim Schuß ein wenig aufgerichtet hatte und dabei fußtief eingesunken war, wagte nicht, sich wieder zu erheben; auf Händen und Knien kriechend, folgte er seiner Beute und hatte sie beinahe eingeholt, als der verwundete Vogel sich plötzlich in einen klaren Tümpel fallen ließ, dessen Wasserspiegel vor den Augen des Jägers durch Schwertlilien verdeckt gewesen war.
   Blitzschnell tauchte die Ente unter das Wasser. Und Peter, der durch die klare Flut jede ihrer Bewegungen beobachten konnte, lauerte mit gespanntem Bogen auf ihr Emportauchen. Sein zweiter Pfeil traf den Kopf des Vogels und blieb darin stecken. Leblos trieb die Ente auf der Wasserfläche. Schon wollte sich der Jäger nach einem Gegenstand umsehen, die kostbare Beute herzuholen, als er wahrnahm, daß eine stetige Strömung die Ente ans Ufer trieb. Vorsichtig kroch er der Stelle zu, wo sie ankommen mußte.
   Während er geduldig wartete, bis der Vogel angetrieben wurde, durchforschten seine Augen den Tümpel. Dunkelbraungrüne, rotgefleckte Forellen schwammen auf einer Seite unter der Torfdecke hervor, durchquerten das klare Wasser und verschwanden auf der anderen Seite in schwarzer, unterirdischer Finsternis.
   Endlich konnte Peter den Vogel packen. Zwei aufgekräuselte Bürzelfedern kennzeichneten ihn als Enterich.
   Den Weiden folgend, kam Peter zum Schilfbestand des oberen Moorrandes. Er näherte sich dem gegen die Südwände ansteigenden Hinterland. Der Boden wurde allmählich fester, und der Bub konnte wieder aufrecht gehen. Jetzt war auch der Bach, der das Moor unter der Torfdecke durchfloß, zwischen den Weiden frei sichtbar, und Peter folgte ihm am linken Ufer stromauf.
   Zu den Weiden gesellten sich Erlen, Haseln, Weißdorne und Birken. Auf dem sanft ansteigenden lehmigen Gelände stellte sich erst spärlich, allmählich aber dichter werdend, der Laubwald ein.
   Peter suchte nach den Kastanienbäumen, wurde aber durch gestürzte, wirr bewachsene Baumleichen behindert. Ohne es zu wollen, kehrte er im Bogen wieder zum Bach zurück. Er hätte seine Nachforschung rechts zur Südwand hin wieder aufgenommen, wenn da nicht ein umgefallener Erlenstamm quer über den Bach geführt hätte, eine natürliche Brücke. Peter betrachtete zuerst das Wurzelgewirr der Erle, wie es aus dem unterwaschenen und dann niedergegangenen Ufer emporstarrte. Dann drängte er sich durch und betrat den Stegbaum, der sich unter seiner Last nur wenig senkte. Und weil der neue Weg sich als gangbar erwies, so schritt Peter auf ihm über das still ziehende, kaum knietiefe Wasser, in dessen flutenden, dunkelgrünen Fadenalgen Jungfische spielten, dem anderen Ufer zu.
   Bewundernd sah Peter die neue Welt ringsum drüben, jenseits des Baches, den Laubwald und hüben das grünende Moor, zwischen dessen Weiden, Erlen und Birken die runden Wassertümpel als »Mooraugen« flimmerten.
   Weit jenseits des Urwaldes mochte Eva in der Lichtluke ihrer Höhle stehen und warten. Sie sah ja, daß ihre Seite des Sonnsteins schon im Schatten lag; die Mittagszeit war vorüber.
   Er durfte nicht länger säumen. Für diesmal gab er es auf, den Standort der Kastanienbäume im Laubwald zu suchen. Er hielt quer über das Steinfeld auf den Sonnstein zu und eilte dann auf dem Erntepfad heimwärts.
   Tief stand die Nachmittagssonne über den Klammwänden und leuchtete grell ins Innere der Höhlen.
   Peter, der geglaubt hatte, Eva werde ihn von ihrem Guckloch aus begrüßen, hatte sich getäuscht. Auf ihrem Lager fand er sie ausgestreckt, die Ellbogen im Laub und das Gesicht in den Handflächen. Sie weinte. Auf seinen Gruß gab sie keine Antwort. Diesmal brauste er nicht auf. Er ahnte, welche Angst er ihr durch sein langes Ausbleiben verursacht hatte.
   Stumm legte er seine Beute vor ihr aufs Laub und setzte ihr die mitgebrachten Brombeeren und Kornelkirschen auf einer Steinplatte vor.
   Er merkte wohl, daß sie neugierig durch die Finger blinzelte, und so begann er denn erst ruhig, dann lebhaft von seiner Wanderung zu erzählen.
   Und als er erst noch beteuerte, wie eilig er heimgekehrt sei, da faßte sie seine Hand: »Morgen nimmst mich mit zum Moorbach, gelt? Und morgen ist Sonntag, da gehen wir auch zur Großmutter!«
   »Gern«, stimmte Peter zu,»und wir erzählen ihr alles.«
   Verschwunden war die Angst, verschwunden waren Trotz und Groll. Während Eva die mitgebrachten Beeren verzehrte, erzählte sie, was sie erlebt hatte: Eine Katze, eine richtige graue Katze hatte sie gesehen; die hatte sich am hellichten Tage vom Köderplatz die ausgelegten Überreste des Steinhuhns geholt. Keck war sie aus dem Walde gekommen, und keck war sie mit der Beute fortgetrabt, als hätte sie gewußt, daß der Jäger ausgegangen war.
   Die Nachricht verblüffte Peter. Eine Katze? Nein, das glaubte er nicht. Immerhin freute er sich, daß das Raubzeug sich an den Köderplatz gewöhnte. Das gab gute Aussicht auf brauchbare Bälge.
   Während Eva erzählte, häutete Peter Enterich und Elster ab. Das Fleisch der Vögel bereitete ihnen wenig Genuß, die Elster war zähe, und das von Fett durchzogene Fleisch des Enterichs schmeckte widerlich. Mehr Freude hatten sie am prächtigen Gefieder. Die blauen Spiegelfedern und das grünschillernde Halsgefieder des Enterichs bekam Eva, die geringelten Bürzelfedern aber befestigte Peter an seinem Stirnband, als Andenken an die glückliche Jagd über der drohenden Tiefe des Moores.
   Den Elsterbalg spannte er über einen Reifen, sagte aber nicht wozu; das sollte eine Überraschung werden für Eva.
   Als Peter seinen Gürtel ablegte, entdeckte er, daß die Eichhornbälge, die als Werkzeugtaschen daran hingen, durch die anhaftenden Salzreste geschmeidig geworden waren, ohne den Geruch feuchter Felle zu haben. Da sie aber auch glitschig waren, rieb er sie mit trockenem Lehmstaub ein. Vor dem Einschlafen nahm er sich vor, von jetzt an alle frischen Bälge auf der Fleischseite zu salzen und dick mit Lehmstaub zu bestreuen.


   Knochenfunde

   Im Frühlicht des Sonntags traten die beiden Höhlenkinder aus dem Schatten der Salzwände.
   Tautropfen glitzerten auf Gräsern und Kräutern, hingen als schimmernde Perlen an den Ranken und Zweigen zu beiden Seiten des Erntepfads.
   Die Wegwarten hatten schon ihre himmelblauen Blütensterne geöffnet. Mit dem Rehkrickel grub Peter einige davon aus. Die Wurzeln waren gut gediehen. Für die erste Mahlzeit war gesorgt. Einige Händevoll Brombeeren vom Sonnstein ergänzten das Mahl. Dann ging es quer über das Steinfeld.
   Und ehe noch die Habichtskräuter, die an dem schattigen Hang Spätaufsteher waren, ihre gelben Blütenkörbchen öffneten, standen die beiden schon am Grab der Ahnl. Es war unversehrt. Sie erzählten ihr von ihren Erlebnissen, und Peter bat sie, dem Ähnl und der Mutter alles wiederzusagen; sie waren ja alle bei Gott.
   Ein Knistern in den Heidelbeerbüschen ließ die beiden aufschauen. Da sahen sie die Ricke mit den zwei größer gewordenen Kitzen, die Peter am Sterbetag der Großmutter mit dem Stein in der Faust verfolgt hatte. Beide hatten schon die weißen Flecken im rotbraunen Fell verloren.
   Diesmal griff er zu Pfeil und Bogen. Eva aber flüsterte ihm zu: »Tu's nicht, hier nicht und heut nicht; heilig ist der Ort, und heilig ist der Tag.« Und Peter ließ den Pfeil in den Köcher zurückgleiten.
   Nach kurzer Andacht wanderten die Kinder über das Steinfeld dem Klammbach zu. Sie nahmen sich vor, jeden Sonntag das Grab der Ahnl aufzusuchen. Bald aber wurden sie durch die Umgebung auf andere Gedanken gebracht.
   »Schau, Eva, die Königskerzen machen schon ihre Wipfelknospen auf; bald ist's aus mit der warmen Zeit. Und eh' der Winter kommt, muß ich uns warme Kleider schaffen. Ein paar Rehböck' oder ein paar Füchs' sollt' ich erwischen!«
   »Alles wird werden zur rechten Zeit, wie die Ahnl selig g'sagt hätt'. Verlaß dich drauf. Es ist schon viel besser geworden, seit wir da sind im Heimlichen Grund. Jetzt wird's dann reife Haselnüss' geben und Kastanien; korbweis' werden wir's eintragen, gelt?«
   Eva war so glücklich und voll Zuversicht, da sie heute Peter begleiten durfte.
   Als sie nahe am Klammeingang den Bach durchwateten, fiel ihnen auf, daß er hier bedeutend wasserreicher war als oben bei den Höhlen. Er hatte den Moorbach bereits aufgenommen, aber wo?
   Wohl sahen sie drüben ein tief eingerissenes Bachbett, aber sein dunkles Geröll war trocken, nur zwischen und unter den Steinen rieselte es leise.
   Der Bachrand hüben und drüben war mit Schilf und Erlen bestanden. Also floß hier das Moorwasser unter dem Schotter des Steinfeldes. Hier war auch das Röhricht, aus dem Peter das Rohr für seine Pfeile geholt hatte.
   Im feuchten Bachbett stiegen sie allmählich zum Hochmoor an.
   Unwillkürlich musterten sie Sand und Steine. Da gab es rot und weiß gebänderte weichere Rundsteine – Marmor und daneben graues, aus geschichteten Glimmerblättchen zusammengesetztes Schiefergeröll mit roten Körnern – Granat —, auch gelbliche und weiße Hartsteine – Kiesel und Feldspat; die schönsten nahmen sie mit.
   Am merkwürdigsten aber war der feuchte Sand, der in der Hauptsache aus weißglitzernden Glimmerplättchen bestand. Darunter gab es gelbe und wasserhelle, fast durchsichtige Kiesel, so groß wie Finkeneier, und dunkelrote, stumpfkantige Körner, die im Sonnenschein herrlich leuchteten. Es waren von Wasser und Sand angeschliffene Granate.
   Peter gefielen die Steinchen, deren feierliches Rot ihn reizte. Immer wieder hob er eines auf, betrachtete es von allen Seiten und überlegte, was er damit anfangen könnte. Nichts konnte er damit anfangen; aber Eva nahm sie mit, weil sie gar so schön waren.
   Einige hellrote, aber undurchsichtige, rauhe, lehmig abfärbende Steine – Rötel —, die Peter auflas, verrieten gleich, wozu sie taugten. Das war etwas zum Rotfärben der Haut, vielleicht auch zum Zeichnen auf Mergel. Das mußte er versuchen!
   Vergnügt kamen die Wanderer unversehens zur Böschung, die zum Moor anstieg. Hier sahen sie das Wasser über einen niederen Steinriegel herabrieseln. Der war so dunkel wie der untere Teil der Felswand drüben; er gehörte zum Urgestein, dem die Kalkfelsen drüben aufgelagert waren. Nach links und rechts hin dehnte sich anschließend der lehmige Wall, der das Sumpfwasser staute.
   An der rechten Seite des Bachbetts drangen sie durch Schilf, Buschwerk und Waldreben über feuchten Lehmboden und langten mit einem entzückten Ah! oben an, wo die braungrüne Ebene des Moores, durchsetzt mit Heidelbeerstauden und wehenden Flockensimsen, vor ihnen lag. Und wieder war es ein Brachvogel, der mit seinem Warnruf das Sumpfgeflügel vom Nahen einer Gefahr benachrichtigte. Unter dem aufgescheuchten Vogelwild waren drei kleine, langbeinige, schlankhalsige Nachtreiher mit spitzen Schnäbeln, ein mächtiger Fischreiher, etliche Rohrdommeln, eine Menge Wildenten und zwei schön gebänderte Wiedehopfe.
   Wohl griff Peter zu Pfeil und Bogen, aber war es die Nähe Evas, die ihm an diesem Tag schon einmal das Töten verwehrt hatte, war es die Stimmung des heiligen Tages? – er ließ die Vögel unbehelligt.
   Die beiden schlenderten am rechten Rand des Moores schweigend bergan, sie gingen Hand in Hand. Peter zeigte Eva die Stelle, wo er das Moor betreten, und den Tümpel, wo er den Enterich erbeutet hatte. Beim Stegbaum angelangt, versuchte Eva vergeblich, über die starrenden Wurzeln auf den Stamm zu gelangen; sie mußte auf ihren Schurz aus Vogelbälgen zu sehr achtgeben. Da hieb Peter mit seinem Faustkeil eine reichverästelte Wurzel ab, um eine Lücke zu schaffen. Eva, die rasch zugegriffen hatte und an der Wurzel zerrte und drehte, konnte sich nicht entschließen, sie wegzuwerfen, als sie endlich los war. Der starke, am Bruchende leicht gebogene Wurzelast erschien ihr handlich; als rundlicher Haken schmiegte er sich förmlich in die Linke, wenn die Rechte vorgreifend die fast gerade Wurzel umfaßte. Das Gewirr am unteren Ende bildete einen regelrechten Besen, und als solchen gedachte sie es zu verwenden, ein willkommenes Gerät für die Ausstattung der Höhlenwohnung.
   Die Kinder stiegen am rechten Ufer aufwärts, ein Gebiet zu erforschen, das auch Peter noch unbekannt war.
   Anfangs ging es sanft bergan auf dem moosbedeckten Uferrand des ruhigen Baches, dann aber wurde das Gelände steiler; lauter murmelte, rauschte der Bach zwischen dunklen, rundgerollten Glimmerschieferblöcken über Felsstufen herab. Allmählich trat der Rasen am Bachrand zurück. Ein Geröllsaum begleitete das munter zu Tal hüpfende, schäumende und rauschende Wasser. Und jetzt eilte es in einer tief zwischen den Felsblöcken eingeschnittenen Rinne dahin, umwachsen von Waldrebengewirr, hohen Farnen und großblättrigen Pestwurzen, so daß die Kinder nur von Felsblock zu Felsblock springend vorwärts gelangen konnten. Ab und zu sahen sie an den Seiten handbreite Quellbächlein aus dem lichter werdenden Gehölz hervortreten und in den Moorbach münden.
   Das Bachbett verengte sich zu einer steil ansteigenden Klamm, deren verwitterte, von dunklem Moos und gelben Flechten bedeckte Glimmerschichten bei jeder Berührung abbröckelten. Dabei fanden sie zwischen den grauen Plättchen wieder jene roten Steinchen. Aber hier waren sie nicht angeschliffen wie unten im Bachbett, sondern von lauter glatten, schiefwinkeligen Vierecken begrenzt, die schöne Kanten bildeten, als ob sie sorgfältig zugeschliffen wären. Es waren Granatkristalle. Eva sammelte mehr als eine Handvoll der feurigen Edelsteine, wickelte sie sorgsam in Blätter und legte sie in ihren Korb.
   Üppige Farnkräuter umbauschten die Ränder der noch taufeuchten Felswände. In der schattigen Tiefe aber war die Luft kühl, fast kalt. Plötzlich war die Klamm zu Ende. Aufschauend sahen die Kinder mächtige Felsmassen von rotem, mit weißen Adern durchzogenem Kalkgestein dachförmig über ihren Häuptern. Und hier, wo das Kalkgebirge auf dem Urgestein ruhte, stürzte der Moorbach aus einer Felshöhle hervor, die tief in die Kalkwand zu führen schien. Die beiden kletterten neben dem Wasserfall zur Quellhöhle hinauf. Dort blieben sie stehen und schauten zurück: Zur Rechten unterhalb der bewaldeten Lehne lag der dunkelgrüne, von den runden Wasserspiegeln der Mooraugen durchsetzte Sumpf mit seinen silbrig schimmernden Weidenkronen und weißen Birkenstämmen. Dahinter schoben sich die von der Schlucht zerrissenen Klammwände senkrecht hoch, ihre drei ragenden Wahrzeichen – Spitz, Henne und Horn – erschienen von hier aus fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie waren breiter geworden und eng aneinander gerückt. Von der Henne war der Kopf nicht zu sehen; sie war zur schlafenden Henne geworden. Zu ihren Füßen hatten sie zunächst einen mächtigen Laubwald und dann das vom Klammbach durchquerte Steinfeld. Dahinter stieg die dunkle Grableiten an, mit der darüber ragenden Wand aus grauem Kalkstein, eine mächtige Steinmauer, an deren obersten Zinnen Wolkenfetzen hintrieben. Dort oben mochte ein scharfer Wind wehen, aber im Heimlichen Grund unten rührte sich kein Blatt.
   Den Klammbach aufwärts entdeckten ihre suchenden Augen im Talkessel den Sonnstein mit der morschen Wetterfichte. Seine Westseite war noch völlig im Schatten, es war also noch vor dem Mittag. Und links von ihm säumte düsterer Wald den Fuß der Salzleiten. Sein Grün verdeckte fast die untere Wohnhöhle; nur Evas Lichtluke guckte hinter den Baumwipfeln herüber.
   Plötzlich schrie Peter auf: »Das Steinwild! Das Steinwild! Schau, dort droben an der Salzwand, wo sie die langen, nassen Streifen hat! – Die Steinböck' sind an der Salzlecke!«
   Lange mußte Eva ihre Augen anstrengen, bis sie die Tiere gewahrte, deren dunkles Braungrau sich kaum von der Felswand abhob.
   Peter, dessen Augen schärfer und geübter waren, bemerkte, daß drei von den Tieren weiß gescheckt waren. Es waren Nachkommen der weißen Ziege, die mit der Ahnl in den Heimlichen Grund gekommen war! Seine Freude war so übermächtig, daß er sich in einem gellenden Juchzer Luft machen mußte.
   Das Steinwild stand wie angewurzelt. Ein zweiter Juchzer aber, der mit dem Widerhall zusammenklang, brachte es in Bewegung.
   In wohlgeordnetem Zuge stiegen die Tiere schräg auf, den Steinschlagwänden zu; in kühnen Sprüngen setzten sie über Risse und Spalten und entschwanden oberhalb der Südwand den Blicken der Beobachter unten am Fuß.
   Peter war wie im Fieber. Er wußte nicht, was er wollte; den Böcken jetzt nachjagen, wäre ja zwecklos gewesen. Heimwärts drängte es ihn, auf dem kürzesten Wege. Und so führte er Eva nicht wieder zum Moor zurück, sondern an der Südwand entlang, so schnell es ging.
   Allmählich aber zwang grobes, dem Felsen vorgelagertes Gestein die Wanderer langsam zu gehen. Sie gerieten in ein Steinkar, auf dem Flechten, Bärlapp und Moos gediehen. Wacholderbüsche, steifes, spärliches Gras, Enzian, Brombeerstauden und verblühte Alpenrosen wucherten zwischen verwitterten Steintrümmern; schlanke Bergeidechsen sonnten sich auf durchwärmten, moosigen Blöcken oder huschten erschrocken durch das verblühte Heidekraut.
   Vor wie vielen Jahren mochte hier eine Steinlawine zum Stillstand gekommen sein? Nun hatte blühendes Leben die Greuel der Verwüstung überdeckt.
   Peter spähte zwischen die Trümmer hinein nach Resten erschlagenen Wildes, mochten es auch nur Knochen sein. Und Knochen fand er. Aber was für Knochen!
   Ein flechtenbedecktes Hirschgeweih, dessen armdicke Stangen mit fünf kronenförmig beisammenstehenden Endsprossen aus dem Geröll ragten, entlockte ihm einen langen Pfiff.
   Er und Eva machten sich ans Ausgraben. Steine und Bruchsand flogen zur Seite; der wohlerhaltene Schädel mit dem vielendigen Geweih, dessen Rosen die Größe von Peters Handtellern hatten, wurde bloßgelegt, dann die Halswirbel und dann – ein zweiter Schädel, mit breitem, in einen starken Knochenkamm übergehenden Hinterkopf, daumendicken Eckzähnen und stumpfhöckerigen Backenzähnen; ein Bärenschädel!
   Steil lag er auf dem eingedrückten Brustkorb des Hirsches; beim Weitergraben fanden sie die mächtigen Schulterblätter und das Rückgrat des Raubtieres. Die gewaltigen Wirbel waren vom Eisenrost des ausgelaugten Gesteins braun gefärbt. Die dicken Röhrenknochen der Bärenpranken und die schlanken der Hirschläufe waren unvollständig.
   Offenbar hatte Raubzeug weggeschleppt, was das Geröll nicht zugedeckt hatte. Das gemeinsame Grab von Raubtier und Beute erzählte eine Geschichte aus ferner Zeit.
   Hirsche gab's jetzt im Heimlichen Grund nicht. Sie mochten einst hier gehaust haben. Oder hatte sich ein von Jägern verwundeter Hirsch durch die Klamm herauf hierher geflüchtet? Jedenfalls war er einem starken Bären zum Opfer gefallen. Aber als der Räuber über seine Beute herfiel, war das Verhängnis gekommen. Eine Steinlawine hatte ihn erschlagen, mitten in der Freude des reichlichen Fraßes.
   Unwillkürlich schaute Peter zur Wand empor, von der einst der Steinschlag niedergeprasselt war. Aber dort gab es keine sichtbaren Abbruchstellen. Legföhren hatten sich in den Felsritzen eingenistet und hingen, mit den schlangenförmigen Wurzeln das Gestein umspannend, über dem Abgrund; ihr Anblick hatte etwas Beruhigendes. Und jetzt begann Peter den Knochenfund zu mustern. Prüfend drehte er Stück für Stück in den Händen, und seine Augen fragten jedes einzelne, wozu es gut wäre.
   Dann wurden die Körbe gefüllt. Langsam schritten die Kinder mit ihren schweren Bürden heimzu. An ein Durchqueren des alten Laubwaldes, in dem vielleicht die Kastanienbäume stehen mochten, war heute nicht zu denken.
   Vorsichtig kehrten sie zum Moorbach zurück und wanderten in seinem Bett abwärts. Schon stand die Westseite des Sonnsteins in vollem Licht, und die Salzwände prangten im rosigen Widerschein der sinkenden Sonne.
   Von der Lehmleiten des Moorrandes stiegen die glücklichen Sammler mit ihren Lasten nieder ins Heideland des Steinfeldes.
   Als sie sich dem Sonnstein näherten, flüchtete ein Rudel Rehe, darunter ein starker Bock mit reichbeperltem Geweih, den Peter zum erstenmal sah.
   Langsam zogen die Kinder den Erntepfad dahin; Peter führte Eva durch die Dämmerung heim.


   Werkfreuden

   Den Hirschschädel, mit dessen verwittertem Geweih sich nicht viel anfangen ließ, und den Bärenschädel befestigte Peter über dem Höhleneingang neben dem Geierbalg und dem Schädel des Steinbocks, das übrige tat er einstweilen ins Allerlei.
   Die neuen Entdeckungen erfüllten ihn mit Unrast. Was mochte der Heimliche Grund noch bergen an Schätzen und Geheimnisvollem? Das mußte Peter zuerst ergründen, alles andere konnte warten. Ein Dauerregen zwang ihn aber, daheim zu bleiben, und so machte er sich daran, sein Jagd– und Arbeitsgerät zu vervollständigen. Eva flocht für die bevorstehende Herbsternte Trag– und Vorratskörbe. Draußen rauschte der Regen nieder, die jungen Höhlensiedler aber taten stillvergnügt ihre Arbeit. Peter pfiff unbewußt vor sich hin und zerschlug eifrig die spröden Röhrenknochen, aus deren Bruchstücken Knochendolche, Schaber, Nadeln und Pfeilspitzen entstehen sollten.
   Sein großer Vorrat an Hartsteinsplittern und starken Schilfhalmen reizte ihn, Pfeile anzufertigen, von denen er nicht genug haben konnte. Die harten, wuchtigen Spitzen schäftete er mit Wachs, Harz und Darmsaiten sorgfältig ein. Ein Jaspissplitter mit langer, pfriemenförmiger Spitze verlockte ihn zu Bohrversuchen. Zwar splitterte der Jaspis an den Rändern ab, es blieb aber doch so viel vom festen Kern in der Spitze, daß sie als Bohrer dienen konnte. In seiner Freude an diesem Erfolg durchlochte Peter das breitere Ende eines Knochendolches sowie zwei Bärenrippen und zog Darmsaiten durch, um die neuen Stech– und Grabgeräte leicht am Gürtel oder auch am Handgelenk tragen zu können. Aus schmalen Knochensplittern schliff und bohrte er Nadeln für Eva.
   Unter allen Gegenständen seines Allerleis reizten ihn die beiden Bärenkieferhälften mit ihren wuchtigen Eckzähnen am meisten. Daraus mußte sich doch etwas machen lassen !
   Seine Versuche, eine Kieferhälfte als gestielte Axt zu verwenden, fielen kläglich aus. Erst flog der Zahn aus seiner natürlichen Grube, und dann zersplitterte er, weil er vom langen Liegen spröde geworden war.
   Trotzdem war jede dieser beiden Kieferhälften eine natürlich gewachsene Axt und geeignet, mit dem harten, spitzen, scharfrandigen Eckzahn in Haut und Fleisch und Knochen einzudringen. Man brauchte nur den hinteren Kieferrand abzuschlagen, um sie handlich zu machen.
   Was nun? Mußte es denn gerade ein Zahn sein? Konnte nicht ein Hartstein seine Stelle einnehmen?
   Gewiß! Peter schlug mit vieler Mühe einen Jaspissplitter zurecht, verkeilte ihn in der Zahngrube und meinte, damit das Steinbeil geschäftet zu haben.
   Vergnügt über die neue Erfindung, begab er sich trotz des Regens in den Wald, um das neue Werkzeug zu erproben: Einen besseren Steigbaum wollte er fällen. Bald hatte er eine geeignete junge Fichte gefunden und machte sich an die Arbeit, aber die Axt bewährte sich nicht. Ihr Stiel war zu kurz, die Wucht des Schlages zu gering, der Stein griff nicht tief ins Holz. Die Erfindung war ein Fehlschlag. Zur Holzbearbeitung taugte das neue Werkzeug nicht, nur zum Wurzelgraben.
   So griff Peter denn zum Granitsplitter, um den Stamm anzusägen. Aber die Kante des Granits bröckelte ab, sie wurde stumpf. Da blieben dem Enttäuschten nur seine alte Steinsäge und der Fauststein, um den Stamm anzukerben.
   Freilich hätte dieser noch mehr Wucht bekommen, wenn auch er am Ende eines längeren Stiels eingeschäftet gewesen wäre. Wie schade, daß das Hirschgeweih auf einer Seite zu mürb und im ganzen spröde war! Eine frische, unverwitterte Geweihstange wäre zum Schäften eines Steinkeils brauchbar gewesen. Während Peter überlegte und nachdachte, vertiefte sich unter seinem Fäustel die Kerbe im Baum, und dieser neigte sich endlich. Peter sprang zur Seite. Krachend fiel die Fichte und drückte im Fallen allerlei Jungholz nieder, das im Wege war. Da gewahrte er in der Krone eines nahen Baumes eine Holztaube, die, aufgescheucht vom Krachen der stürzenden Jungfichte, sich zum Abfliegen anschickte. Sein Pfeil holte sie herunter. Erfreut machte sich Peter daran, die Astquirle der Fichte derart zu stutzen, daß die nach links und rechts gerichteten Aststummel als Steigsprossen dienen konnten. Was nach oben und unten strebte, mußte entfernt werden. Das war eine langwierige Arbeit, denn Peter mußte jeden einzelnen Ast erst ankerben und dann abbrechen. Endlich war auch das getan; er schleppte den neuen Steigbaum heim, lehnte ihn neben den alten an die Felswand, stieg hinauf und begehrte stürmisch etwas zu essen. Eva machte sich eilig an die Zubereitung der Taube.
   Staunend sah Peter zu, wie sie das von den Knochen geschabte Fleisch auf einer Steinplatte weichklopfte.
   Was für einen sonderbaren Schlegel hatte sie sich da zurechtgemacht? Das war ja ein Bärenwirbel, durch dessen Markloch sie einen Knüttel gesteckt hatte!
   Und wie geschickt sie das Ding handhabte! Als das Fleisch weichgeklopft und mit Salz, Bärenlauch und Gundelkraut gewürzt war, begann Peter wortlos zu essen.
   Kaum hatte er den ärgsten Hunger gestillt, da holte er sich den sonderbaren Fleischklopfer und betrachtete ihn ganz genau. Fest steckte der Schaft in dem Markloch; auf einer Seite gab der Wirbelkörper einen Hammer ab, während auf der anderen der Dornfortsatz sich wie eine schmale Axt ausnahm.
   Als Axt war das Ding nicht brauchbar, höchstens als Haue zum Wurzelgraben. Eines aber wurde Peter klar, während er Evas Klopfer betrachtete: Zum Schäften eines Steinbeils brauchte man nicht unbedingt einen Kieferknochen oder eine Geweihstange, um den Stein darin zu befestigen, ein Ast konnte den gleichen Dienst tun. Da er keinen durchlochten Stein hatte, konnte er nicht Holz in Stein, wohl aber Stein in Holz schäften. Noch kauend machte er sich daran, einen Holzstab zu spalten; es kostete ihn viel Mühe und nicht weniger als zwei Steinmesser. Dann klemmte er einen schmalen Steinkeil in den Spalt und band ihn sorgfältig fest. Recht brauchbar sah sie aus, die neue Axt. Aber o weh! Beim Hacken zerschnitten die Kanten des Steins nur zu bald das Gedärm der Bindung. Nun galt es, die Kanten abzudrücken, die Bindung zu erneuern und mit dem Gemenge aus Wachs und Harz zu verkitten, zu festigen. Auch das half nichts; sobald Peter die Axt gebrauchte, lockerte sich die Bindung, und der Kitt aus Hartwachs zerbröckelte. An die Möglichkeit, einen Hartstein zu durchlochen, war gar nicht zu denken. So war die Frage, wie eine Axt dauerhaft geschäftet werden konnte, für Peters erfinderischen Geist eine Aufgabe geworden, die ihn lange beschäftigen sollte.
   Es gelang ihm, vier verschiedene Beilformen herzustellen; mit keiner war er ganz zufrieden. Bei der einen Axt war der Steinkeil in einer Astgabel festgebunden; bei der anderen steckte ein spitzer Steinkeil im erweiterten Loch eines Astknorrens; bei der dritten wurde ein großer flacher Steinsplitter wohlverkeilt und gebunden zwischen zwei niedergezwungenen Zweigen eines Fichtenquirls gehalten, und bei der vierten endlich war er an einem hakenförmig abstehenden Aststummel festgebunden. Aber bei jedem dieser Beile lockerte sich die Bindung, wenn Peter damit arbeiten wollte. Noch war das reichlich aufgewickelte Gedärm der Bindung feucht, es mußte erst trocknen und sich ganz zusammenziehen. Damit rechnete Peter und beschloß, dies erst einmal abzuwarten und es dann durch eine Harzschicht vor dem Feuchtwerden zu schützen. Ja, so mußte es gehen...
   Die beste Lösung der Frage war für Peter undurchführbar. Noch wußte er nicht, wie er einen Stein durchlochen sollte. Wohl hatte er versucht, mit einem spitzen Hartstein seinen Faustkeil anzubohren, aber das ging viel zu langsam. Seine Hand erlahmte vor Anstrengung, und er hatte nicht mehr als Kratzer erbohrt. Entmutigt gab er diese Versuche auf.
   Eva, die beim Graben mit ihrem Fleischklopfer gemerkt hatte, daß der schmale Wirbelfortsatz das Wegscharren der Erde mit der Hand nicht ersparte, versuchte einen harten Röhrenknochensplitter so zu schäften, daß seine Schneide quer zum Stiel stand. Peter machte ihr die Haue fertig, in der er nur eine Nachahmung seiner Erfindung sah. Und doch war da etwas Neues: Die quergestellte Schneide ersetzte die scharrende Hand!


   Feuer

   Neblige Morgen und sonnige Tage. Eine Überfülle von Beerenobst und Pilzen hielt Eva in Atem. Das Sammeln, Eintragen und Aufbewahren war so recht nach ihrem Sinn.
   Peter, von seinen eigenen Aufgaben in Anspruch genommen, duldete es, daß sie auch ohne ihn der Ernte nachging, während er den Spuren der Rehe und Wildziegen folgte. Felle mußte er bekommen, denn der Herbst konnte schon böse Kälte bringen. Was der junge Höhlenmensch an Eichhörnchen– und Vogelbälgen erbeutete, genügte ja noch lange nicht, ihn und Eva vor der Winterkälte zu schützen.
   Noch war es ihm nicht gelungen, am Köderplatz jene »Katze« zu ertappen, von der Eva so viel Aufhebens gemacht hatte. Er glaubte nicht an das Vorhandensein von wilden Katzen im Heimlichen Grund.
   Um so größer war sein Erstaunen, als er eines Spätnachmittags im Halbdunkel des Waldes unweit des Sonnsteins auf dem untersten Ast einer alten Fichte zwei grünleuchtende Punkte gewahrte und erkannte, daß sie einem dämmerungsfarbigen Tier gehörten, das lauernd auf dem Ast hingeschmiegt lag. Es konnte doch nur eine Katze sein. Ihr gekrümmter Rücken und der buschige Schwanz hoben sich deutlich vom Himmel ab, dessen Wolken von der sinkenden Sonne gelbrot durchleuchtet waren. So unheimlich, so feindselig schaute das Tier zu ihm herab, als rüste es sich zum Sprung. Peter legte einen Pfeil auf den Bogen.
   Der Pfeil schwirrte ab; mit einem hohen Kreischen, das in markerschütterndes Miauen und dann in tiefe, rollende Kehltöne überging, sprang das Tier auf und stürzte zu Boden. Hier wälzte es sich zuckend vor Schmerz und bemühte sich vergebens, mit den Vorderpfoten den Pfeil aus der Wunde zu ziehen.
   Näher trat der Jäger, da sprang das verwundete Raubtier auf ihn zu, sprang aber, vom Pfeil in seinem Hals behindert, zu kurz und empfing im nächsten Augenblick den erlösenden Schlag mit der Steinaxt; sonst hätte Peter seine Unvorsichtigkeit zu bereuen gehabt. Wahrhaftig, Eva hatte richtig gesehen: Eine Katze, eine Wildkatze war es!
   Die Dämmerung nahm zu, Peter wollte nicht durch den Urwald nach Hause gehen, sondern lief über das Steinfeld dem Sonnstein zu. Als er mit seiner Beute ins Jungholz am Felsen trat, fiel es dem Erregten nicht auf, daß tiefgehende Wolkenmassen über den Grund hinfegten.
   Unten war es schwül. Nur ein matter Windhauch von der Klamm her spielte mit dem Laub der Haseln, durch deren Gezweig Peter hinüberspähte zum Fels. Von der Insel unterhalb der alten Fichte schimmerte etwas Rötliches herüber. Jetzt bewegte sich's. Eine Rehgeiß äste dort; er kannte sie wohl. Der Wind kam aus ihrer Richtung, sie witterte nichts von der Nähe des Menschen.
   Wenn er heute noch ein zweites Fell erbeuten könnte! Peter zitterte vor Jagdbegierde, ein Frösteln überlief seinen schweißbedeckten Leib. Noch stand er zu weit entfernt für einen wirksamen Pfeilschuß. Näherschleichen wollte er sich. Die Rehgeiß streckte den Kopf vor und ließ einen gequetschten Pfiff vernehmen: »Pii-pii, pie!« Da geschah etwas, das Peters Aufregung noch steigerte: Ein tiefes Bellen erschallte. Aus dem Gebüsch trat ein Rehbock, nur ein Gabler, aber kräftig gebaut; er stieß, bei der Ricke angekommen, sein »Bäö, bäö, bö!« aus. Unmittelbar darauf dröhnten von der Grableiten her die gleichen Laute, aber heftiger: Durch das knackende Gestrüpp kam ein zweiter Bock über den Bach herübergestürmt. Die reich beperlten dreizinkigen Geweihstangen gesenkt, stürzte er sich auf den Gabler. Der wich dem Stoß aus und suchte die Flanke des Angreifers zu gewinnen. Blitzschnell fuhr dieser herum, und im nächsten Augenblick schlugen die Gehörne der Nebenbuhler hart gegeneinander.
   Peter wagte es nicht, einen Pfeil abzuschießen oder den Speer zu schleudern. Die Behendigkeit der Wendungen, die Wucht der Zusammenstöße ließen den Beobachter fast atemlos zuschauen. Plötzlich fuhr Peter geblendet zurück. Wie eine Feuerschlange glitt ein Blitz am Stamm der Wetterfichte nieder und peitschte das Wasser des Baches zu einer leuchtenden Sprühkugel auf. Fast gleichzeitig erfolgte ein schmetternder Schlag, der Boden erbebte, und ein Windstoß warf Peter rücklings ins Gras.
   Da lag er und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Ihm war, als hätte er einen Hieb auf den Schädel erhalten, im Hinterkopf spürte er einen dumpfen Druck.
   Mußte er jetzt sterben? Er befühlte seinen Kopf. Beruhigt versuchte er aufzustehen; es gelang ihm, auf die Knie zu kommen; seine Oberschenkel zitterten.
   Vor seinen Augen war noch immer grelles Licht. Das konnte doch der Blitz nicht mehr sein?
   Mit einem Ruck sprang Peter auf. Sein Blick fiel auf die Wetterfichte, die zersplittert und als lodernde Fackel zum Himmel ragte. Quer über den Bach lag ihre obere, vom Blitz abgeschlagene Hälfte. Lichterloh brannten die dürren Äste der abgestorbenen Seite, qualmend und puffend das grüne Gezweige der anderen.
   Die beiden Rehböcke auf dem Rasen waren tot. Peter tat zaghaft einen Schritt vorwärts.
   Vom prasselnden Feuer ging eine wohltuende Wärme aus. Peter trat mit weit ausgebreiteten Armen näher und zuckte zurück: Glühendheißer Wind nahm ihm fast den Atem. Rauch und fliegende Aschenteilchen beizten ihm die Augen. Er umging den Brandherd an der rechten Seite und zerrte die gefallenen Tiere aus dem Bereich der Glut.
   Ihre noch unversehrten Felle waren die ersehnten Winterkleider!
   Oh, wenn sie doch in den Höhlen daheim auch ein wärmendes Feuer hätten!
   Halb unbewußt brach Peter einen angebrannten Ast ab und lief, den Feuerbrand über dem Kopfe wirbelnd, auf dem Erntepfad bachaufwärts den Höhlen zu.
   Er stürmte dahin; über ihm jagten die Gewitterwolken. Nur jetzt keinen Regen! Er wollte es doch heimbringen, das wohltuende Feuer, nähren wollte er es in der Höhle, daß es fortbrenne ohne Unterlaß. Doch sonderbar! Blitze zuckten von einer Wolke zur anderen, der Donner rollte ohne Unterlaß, aber kein Tropfen Regen fiel.
   Und Peter begann zu hoffen. Vielleicht, daß der obere Wind die Wolken davontrieb, wie schon oft ... Es wurde ihm zu langwierig, auf dem schmalen Erntepfad durchs Gesträuch zu kriechen, dessen Zweige ihm von beiden Seiten ins Gesicht schlugen.
   Er verließ den Pfad und begab sich ins Bachbett, watete durch das Wasser und freute sich über den rotflimmernden Widerschein seiner Fackel auf den unruhigen Wellen. Seine Füße schmerzten vom Gehen auf klobigem Geröll.
   Juchzend betrat er das Ufer und entdeckte Eva, die im Rahmen der sanft geröteten Felsen aus ihrer Höhle sah.
   In wenigen Augenblicken hatte er den neuen Steigbaum erklettert und stand in der unteren Höhle. Rasch zerbrach er den schwelenden Ast, riß aus seinem Lager trockenes Gras und Reisig, kauerte nieder und blies in die Glut, wie es die Ahnl beim Feuermachen getan hatte. Flackernde Flammenzungen entstiegen den knisternden Reisern, blauer Rauch kräuselte empor. Die Höhlenkinder knieten vor dem Feuer, sie haschten nach den Flammen und sahen mit Entzücken die Lichter und ihre eigenen Schatten über Wände und Decke des Höhlenraumes huschen. Jetzt erst merkten sie, daß die Höhle größer war, als sie geahnt hatten. Im Hintergrund, wo sie die Decke geschlossen wähnten, gähnte ein schwarzes Loch, und weiter rechts vor der schrägen Rinne, die sich zum Quellsee senkte, führte schmal und hoch ein anderer Gang ins Freie.
   Jetzt fiel Peter die Wildkatze wieder ein, die er am Sonnstein gelassen hatte. Prahlend schilderte er, wie er das furchtbare Tier erlegt hatte. »Das Fell kriegst du, Eva. Das gibt einen warmen Brustlatz für den Winter.«
   Hastig erzählte er auch von den Rehböcken. »Die hol' ich gleich.« Zuvor zertrümmerte er noch den alten, halbmorschen Steigbaum. Eva legte einige Scheite auf das zusammengesunkene Reisigfeuer, und dann eilten sie zum Sonnstein.
   Sorglos gingen sie durch die Dämmerung – sie hatten ja das Feuer, das ihnen den Weg erhellte. Vom beizenden Rauch vertrieben, verließen Fledermäuse ihre Schlupfwinkel und flohen aus den Wohnungen der Höhlenmenschen, in die das leuchtende Feuer eingezogen war.


   Der Urschlitten

   Im unruhig zuckenden Licht der Astfackeln näherten sich die Höhlenkinder der Insel. Dichte Rauchschwaden quollen ihnen entgegen: Der Riesenbaum war niedergebrannt. Mannshoch ragte sein schwarzer Strunk, der Quere nach vielfach geborsten, von einer dünnen Aschenschicht überzogen. Über seine dunkle Oberfläche huschten glimmende Lichtstreifen, leuchteten auf und verlöschten. Die toten Rehböcke waren unversehrt. In der Luft lag ein eigentümlicher, halb widerlicher, halb lockender Geruch.
   Eva hatte die Wildkatze gefunden und kauerte sich damit zu den toten Rehen. Liebkosend streichelte sie das Fell und die schönen Köpfe der Tiere. Peter stöberte im Gesträuch herum und suchte nach der Ursache des sonderbaren Geruchs.
   Am Bachrand, unter versengten Brombeerranken, fand er die Rehgeiß. Ihr vom Brand entstellter Kopf lehnte am heißen Felsen, der dünne Hals war von einem Schorf angebrannter Haare bedeckt. Vom versengten Fell ihrer Vorderläufe und der Brust stieg der widerlich brenzliche Geruch auf. Peter löste mit seinem Steinmesser ein Vorderbein samt der Schulter aus. Hei, wie das gebratene Fleisch duftete!
   Er versuchte davon. Nicht schlecht, aber fad! Einer seiner Gürteltaschen entnahm er ein wenig Salz, streute es auf das Fleisch und kostete wieder. Jetzt war es richtig! »Eva, es schmeckt!« Schmausend und schmatzend saßen sie beisammen, den Rücken gegen den durchwärmten Fels gelehnt, Köcher und Bogen neben sich.
   Peter ruhte nicht lange. Er dachte ans Heimschaffen der vierfachen Beute. Schon wurde aus Abend Nacht. Er suchte einen großen gegabelten Ast, legte die beiden Böcke und die Ricke darauf, schnürte das Ganze mit Waldrebenranken fest und hatte so einen einfachen Schlitten gebastelt, auf dem sich die Last heimziehen ließ.
   Peters Versuch, die drei Tiere auf einmal fortzuschaffen, zeigte ihm, daß er seine Kraft überschätzt hatte, er versuchte es mit nur zweien; aber auch das war zu schwer.
   Plötzlich hörte er durchdringende Schreie – Schreie, aus denen Entsetzen, tödlicher Schreck, ein Flehen um Hilfe gellten. Ihn überlief es kalt. Er suchte nach seinen Waffen. Den Bogen fand er sofort, wo aber waren die Pfeile?
   Da kam Eva herangestürmt und warf sich schluchzend am Feuer nieder.
   »Eva, was gibt's ? Gib Antwort!«
   »Ein schwarzer Mann, da draußen!« Sie deutete in die Heide hinaus.
   Peter schirmte seine Augen vor dem Feuerschein ab und starrte angestrengt in die Dunkelheit hinaus. Lange vergeblich. Endlich gewahrte er die Umrisse einer klobigen Gestalt. Sie richtete sich spähend auf, duckte sich, bewegte sich zwischen grellbeleuchteten Blütenständen des Himmelbrands vorwärts.
   Jetzt stand sie im vollen Lichte der Flamme. Ein Bär, die schmale Schnauze witternd vorgestreckt, die schweren Tatzen gesenkt, unschlüssig, ob er weiter vordringen solle. Und hinter ihm tauchte ein zweiter auf.
   Peter suchte fieberhaft seinen Speer. Da entdeckte er die Pfeile. Sie lagen am Boden verstreut. Und einer von ihnen hatte Feuer gefangen. Das Harz seiner Spitzenbindung schmolz, rann am Schilfrohr entlang, begann zu brennen. Den legte er auf die Sehne, gerade den!
   Er zielte nach der Brust des vorderen Bären, und im nächsten Augenblick schwirrte der Pfeil dem Feinde entgegen.
   Angefacht von der raschen Bewegung durch die Luft, flammte der Stab lichterloh, als er sich im dichten Pelz des Bären verfing. Das verwundete und geblendete Raubtier brüllte auf und wandte sich zur Flucht, den lodernden Pfeil im Pelz, gefolgt von seinem Gefährten.
   Peter aber ergriff eine Handvoll brennender Reiser und stürmte ihnen brüllend nach. Johlend kam auch Eva hinter ihm gelaufen. Auch sie schwang brennende Zweige, daß die Funken stoben und schrie, was die Kehle hergab.
   Die großen, zottigen Riesen flohen in überstürzter Hast vor den beiden, in deren Händen die Feuerbrände loderten. Mit einem Lachen, in dem noch die überstandene Angst zitterte, nahm Peter Eva bei der Hand und führte sie zum Sonnstein zurück. Sie leuchtete ihm zur Arbeit; am nahen Waldrand schlug er harzige Zweige von den Föhren. Prasselnd, fauchend und qualmend nahm das Feuer die grünen Reiser auf. Die Kinder legten noch Knüttel, Rindenstücke und Laub zu. Dicker, gelblicher Rauch wälzte sich im Windhauch über das Steinfeld.
   Dann machten sie sich auf den Heimweg. Eva trug die Wildkatze. Sie ging mit einem brennenden Kiefernast auf dem Erntepfad voran, und hinter ihr schleifte Peter den stärkeren Rehbock auf dem urtümlichen Schlitten. Keiner sprach.
   Rechts von ihnen zog der murmelnde Bach; zur Linken dehnte sich der Wald, dessen flechtenbehangene Baumriesen im Widerschein der Fackel leuchteten und sich von der tiefschwarzen Finsternis des Waldgrundes gespenstisch abhoben. Noch zweimal machten sie den Weg, bis alle drei Stücke des Rehwildes geborgen waren. Beim letzten Gang ereilte sie der Gewitterregen. Er löschte die Flamme am Kiefernast in Evas Händen; im Finstern mußten sie heimtappen zur Höhle. Dort aber begrüßte sie das helleuchtende Feuer, das mit seinem heißen Hauch den Raum durchwärmte. Das leuchtende, wärmende Feuer hatte den Höhlensiedlern die Nacht zum Tage gewandelt.
   Eva holte vom Trockenboden eine Handvoll getrockneter Beeren und machte dabei eine traurige Entdeckung: Viele Beeren und die meisten Pilzschnitten waren verschimmelt. Sie räumte das verdorbene Zeug fort. Erst als ihre Augen vom beißenden Rauch tränten und sie dem Schlaf nicht mehr widerstehen konnte, suchte sie ihr Lager auf.
   Peter aber plagte sich noch weiter. Er wurde mit dem Abhäuten der Beutetiere nicht fertig. Trotz der Müdigkeit, die schließlich auch ihn bezwang, vergaß er nicht, das Feuer zu nähren. Er legte noch den Strunk des alten Steigbaums in die Glut. Das Feuer durfte nicht ausgehen, unter keinen Umständen durfte es ausgehen! Vorsorglich zog er noch den neuen Steigbaum herauf und lehnte ihn in die Luke, die aus der Höhle hinaufführte zu einem noch unbekannten oberen Raum.
   Draußen begann der Tag zu grauen. Taumelnd vor Müdigkeit streckte sich Peter auf sein Laublager, das Gesicht der Wand zugekehrt, um den Qualm nicht einatmen zu müssen, der die Höhle erfüllte.


   Eva hütet das Feuer

   Die Höhlenwand, an der Peter lag, war längst im grellen Sonnenschein, aber er wachte nicht auf.
   Eva war schon eine geraume Weile auf den Beinen, hatte sich am Bach gewaschen und sah mit blanken Augen und klarem Kopf in die Welt.
   Ihre erste Arbeit war, drei Tauben zum Frühmahl herzurichten. Von der Feuerstelle stieg ein dünner Rauchfaden auf.
   Das Feuer war schon längst ausgegangen; doch der stark angekohlte Strunk glomm auf der Unterseite. Auch unter der Asche fand sich noch Glut.
   Eva legte trockenes Moos und Wacholderzweige darauf, dann blies sie die Kohlen mit vollen Backen an. Das harzige Reisig fing Feuer, die grünen Nadeln knisterten und pufften, die Wacholderbeeren blähten sich und zersprangen. Eva legte Holz zu, rupfte die Tauben, nahm sie aus, tat Salz und Gewürz daran, spießte sie auf einen grünen, hakenförmig gebogenen Zweig, dem sie einen gegabelten Ast als Stütze gab, und drehte sie rasch über dem Feuer. Sie freute sich, dem hungrigen Peter einen so leckeren Frühstücksbraten vorsetzen zu können. Vorüber waren die Tage, da sie das Fleisch roh essen mußten. Nie mehr durfte es ausgehen, das wärmende, lichtspendende, das freundlich-gefährliche Feuer ... Eifrig drehte die Hand den Spieß.
   Der Duft von qualmendem Wacholder und angebrannten Flaumfedern zog durch die Höhle und kitzelte den Schläfer in der Nase, so daß er laut niesend erwachte.
   Noch wußte er nicht, was die Düfte zu bedeuten hatten und rieb sich die Augen. Er brauchte lange, bis er sich zurechtfand. Sein Kopf war wie benebelt, und die geröteten Augen schmerzten. Peter hatte Hunger und Durst, quälenden Durst. Ein Blick auf das Feuer brachte auch ihm die neue Sachlage zum Bewußtsein. Er stieg zum Bach hinab, kauerte sich ins strömende Wasser und tauchte den Kopf ganz hinein. Das tat wohl.
   Als er zu Eva zurückkehrte, streifte er ein halbgares Täubchen vom Bratspieß, packte mit jeder Hand ein Bein und riß den Braten auseinander. Eva sah ihm vergnügt zu und mußte lachen, weil er sich beinahe die Lippen verbrannt hätte. Bald aber folgte sie seinem Beispiel. Sie bliesen die heißen Stücke an, schlenkerten sie in der Luft und schmausten mit einer Lust, die ihnen aus den Augen leuchtete.
   So ungern die Höhlenkinder früher Wurzeln und rohes Fleisch hinuntergewürgt hatten, weil der Hunger sie dazu zwang, so genußvoll aßen sie jetzt vom Gebratenen und Gewürzten. Das sah anders aus, duftete und schmeckte anders als rohes, nach Blut riechendes Fleisch.
   Sie aßen und aßen, bis von den drei Tauben nichts mehr übrig war als die Knochen. Die dünnen Röhrenknochen der Beine und Flügel kamen ins Allerlei.
   Übersatt und faul legte sich Peter wieder ins Laub. Aber Eva ließ ihn nicht lange ruhen.
   Das Feuer war niedergebrannt, Holz mußte beschafft werden. So ging er denn, seine Trägheit überwindend, in den Wald. Da lagen abgestorbene Bäume genug. Er hieb sich einen Astschlitten zurecht, belud ihn und schleppte zur Höhle, was er fortbringen konnte: dürre Äste, Zweige und Stammstücke.
   Den Rest des Tages und einen Großteil der Nacht verbrachten beide damit, die Rehe auszuweiden und abzuhäuten. Dann zerlegten sie das Fleisch in handliche Stücke, salzten es und hängten es nahe über dem Feuer an die Randhölzer des Trockenbodens, so daß der aufsteigende Rauch es bestreichen konnte.
   Alles Bangen vor der grimmigen Winterkälte war vorbei, alle Angst vor den Bären geschwunden. Im Bereiche des Feuers war Eva vor ihnen sicher. Sorglos konnte Peter der Jagd und der Waldarbeit nachgehen, während Eva als Hausfrau das Feuer hütete und das kostbare Rauchfleisch betreute, indem sie ab und zu durch Wacholder und dürres Laub die Glut nährte, so daß sie ruhig glimmend duftenden Rauch erzeugte.
   Auch das Reinigen und Spannen des Gedärms der drei Rehe besorgte sie, holte sich den am Bachufer unter Steinen eingewässerten Bergflachs herauf, trocknete ihn am Feuer, klopfte ihn mit einem Holzschlegel, um die brüchig gewordene Rinde loszulösen, und war glücklich über das – wenn auch karge – Ergebnis an Flachs, den sie zwischen den Handflächen zu Fäden zwirbelte.
   Ein Übelstand aber vergällte ihr den Aufenthalt in der unteren Höhle. Die drei Rehdecken im schrägen Gang verbreiteten, obwohl sie eingesalzen waren, einen unerträglichen Gestank.
   Peter kam auf den Gedanken, auch die Felle durch Räuchern vor dem Verderben zu schützen. Zwei davon sollten bald zu Kleidern verarbeitet werden; er holte sie herein, reinigte sie mit einem Schabstein vom anhaftenden Fett, rieb sie mit Lehmstaub trocken, spannte sie über gekreuzte Stäbe und hängte sie, Fleischseite nach unten, an ein Gerüst aus Eschenstämmchen hoch über das Feuer. Dann legte er Gras auf die Glut und sah mit Befriedigung, wie der aufsteigende Qualm die feuchten Hautflächen bestrich. Was schadete es, wenn sie verrußten, er wollte sie schon wieder sauber bekommen.
   Die dritte Haut, das Fell des stärkeren Bocks, sollte einstweilen auf die Bearbeitung warten, ohne die Luft der Wohnhöhlen mit ihrem Geruch zu verpesten. Er trug sie hinunter in den wasserleeren Waldgraben, der sich vom Fuchsenbühel zum Klammbach zog und mit zusammengeschwemmtem Laub gefüllt war. Dort vergrub er sie und legte Steinbrocken darauf.
   Peters Vermutung war richtig gewesen: Das Räuchern nahm den Fellen den üblen Geruch.
   Eva schliff an einem flachen Granitbrocken, den sie in den Lehmboden ihrer Höhle eingelassen hatte, neue Nadeln zurecht, denn sie wollte aus den Fellen anliegende Winterkleider anfertigen.
   Das Nähen selbst war eine langwierige, unbehagliche Arbeit. Für jeden Stich mußte zuerst mit dem Hartsteinbohrer ein Loch gemacht werden, die handgezwirbelten Fäden waren knotig, die nicht gewalkten Felle widerspenstig.
   Diese Schwierigkeiten störten Eva nicht, aber etwas anderes. Ein brennender Durst, an dem der zu stark gesalzene Braten schuld war, zwang sie, die Arbeit immer wieder im Stich zu lassen und zum Bach hinunter zu eilen. Wenn sie nur ein Gefäß gehabt hätte, um sich einen Trinkwasservorrat in die Höhle zu schaffen! Peter wußte Rat: Aus dem größeren Rehbockschädel wollte er ihr ein Gefäß machen. – »Pfui!« Eva spuckte vor Ekel aus, denn der Schädel stank abscheulich! In der Wärme waren Reste vom Gehirn, Fleischfasern und die Beinhaut an den Knochen in Fäulnis übergegangen. Da grub Peter eine handtiefe Grube in den Lehmboden des schiefen Ganges und füllte sie mit einem wässerigen Brei aus Asche und Lehm. Dahinein legte er den Schädel, dessen Hirnkapsel er mit demselben Brei gefüllt hatte. Als er ihn nach einigen Tagen herausnahm und im Bache mit frischgebrochenen Fichtenzweigen von innen und außen gebürstet hatte, war der üble Geruch verschwunden.
   Bis die Schädeldecke mit der Hartsteinsäge abgesägt, die Schalenränder zugeschliffen, die Schädelnähte verpicht waren, vergingen mehrere Tage, und das Ergebnis war doch nur eine flache Schale, die freilich durch die zwei Stirnzapfen, die als Füße dienten, standfest war. Je nun, viel war's nicht, aber besser als gar nichts. »Weißt, Everl, die Steinbockshörner, die wären richtig.«
   Doch auch das Steinbocksgehörn mußte mit denselben Mitteln gereinigt werden wie der Schädel. Aber ganz geruchlos war es auch dann noch nicht. Peter lehnte die Hörner an die Höhlenwand und wollte die gründlichere Reinigung anders versuchen. Da fiel sein Blick auf die angekohlten Holzstücke, die um die Feuerstelle lagen. Von denen kratzte er mit einem Hartsteinschaber die Holzkohle, füllte damit die Hörner und goß Wasser nach. In einigen Tagen mußte es sich ja zeigen, ob er das richtige Mittel gefunden hatte.
   Eva aber war ungeduldig. Sie benützte weiter die Schädelschale und ärgerte sich laut, daß so wenig hineinging. Wie das im Winter werden solle ?
   »Ich kann doch das Wasser nicht in einem Korb heraufschleppen!« sagte Peter, als Eva wieder einmal schimpfte. Oder doch? Konnte er nicht die Fugen des Geflechts auch mit Lehm oder Harz verstreichen, wie er es beim Salzkorb getan hatte ? Ohne Zögern ging er daran, alle Fugen eines Tragkorbes von innen und außen dick mit breiigem Lehm zu verstreichen. Peter hielt den Korb gegen das Licht der untergehenden Sonne. Sie schimmerte nicht durch. Da konnte auch das Wasser nicht durchsickern. Wenn sich der Lehm einmal mit Wasser vollgesogen hatte, war er undurchlässig.
   Behutsam stieg Peter mit dem neuen Gefäß zum Bach hinunter und brachte es halbgefüllt in die Höhle. Das Wasser war trüb. Eva mußte abwarten, bis es sich klärte. Sie brauchte nicht lange zu warten.
   Wieder war ein brauchbares Gerät geschaffen!
   Beim Abendessen schwatzten die Höhlenkinder von einer behaglichen Zukunft, bis die Müdigkeit sie auf ihre Lager trieb. Peter schaute noch lange im flimmernden Lichte des knisternden Feuers zur Decke der Höhle empor, wo der Fleischvorrat im langsam ziehenden Rauch hing, und dachte an die Erlebnisse der letzten Tage und Nächte. Kichern mußte er, als ihm einfiel, wie die Bären vor den brennenden Zweigen geflohen waren. Er nahm sich vor, ihnen noch öfter so heimzuleuchten.
   Doch dazu sollte er etwas haben, worin er das Feuer mit sich tragen konnte, ein Gefäß, das die Glut bewahrte, ohne selbst zu verbrennen ...
   Wie einfach! Ließ sich in einem mit Lehm ausgestrichenen Korb Wasser tragen, warum nicht auch glühende Kohlen? Moderholz darauf, das nur langsam glimmen konnte, und einige harzbestrichene Stäbe, harzbestrichene Pfeile zur Hand, die sollten taugliche Waffen werden gegen die Bären – ja, das mußte möglich sein.
   Dann fiel ihm ein, daß er unlängst im Schlaf einen Steinschlag gehört hatte. Ob's ein Traum gewesen war, ob Wirklichkeit, das wollte er morgen erkunden. Das Feuer wollte er mitnehmen, um sich die Bären vom Leib zu halten. Feuerkorb und Brandpfeile!


   Feuerkorb

   So gern Peter gleich am Morgen des nächsten Tages aufgebrochen wäre, er konnte nicht gleich fort.
   Der Wasserkorb gab ihm zu schaffen. Der Lehmbelag der Seitenflächen war im Wasser zergangen. Während er den Schaden behob, fiel ihm sein Plan, einen Feuerkorb zu machen, wieder ein.
   Ach was, dazu konnte der mit Lehm ausgestrichene Korb dienen, der als Wassergefäß doch nichts taugte. Für das Wassertragen mußte etwas anderes her! Peter holte einen von Evas Körben her, nahm eine Rippe, die als Spachtel diente, und strich damit Harz, das er zuvor auf einem heißen Stein erwärmt hatte, in seine Fugen. Dann hielt er den Belag über das Feuer. Das Harz schmolz und verschloß alle Zwischenräume des Geflechts. Als dabei abstehende Holzfasern in Brand gerieten, löschte er die Flammen mit Lehmstaub und bestreute damit den Korb innen und außen, um die Klebmasse zu decken. Während dieser Arbeit, die fast den ganzen Vormittag in Anspruch nahm, ließ Peter den Lehmbelag seines Feuerkorbs in der Nähe der Feuerstelle übertrocknen und verstrich die entstehenden Risse des Belags immer wieder mit Lehm.
   Eva, die Peter bei der Arbeit zugesehen hatte, wußte, wie sehr es ihn zum Steinschlag zog, aber ihr zuliebe machte er erst den Korb fertig. Nun war sie mit dem neuen Wasserbehälter zum Bach geeilt und hatte ihn gleich ausprobiert: Das Gefäß, in dem das Wasser klar blieb, war leicht und undurchlässig.
   Nach einer ausgiebigen Mahlzeit schaufelte Peter mit einem Schulterblatt glimmende Kohle und Moderholz in den alten Wasserbehälter und zog durch den oberen Rand einen starken, aus Waldreben geflochtenen Zopf, das war ein vorzüglicher Traghenkel. Peter war zufrieden und machte sich wohlbewaffnet auf den Weg.
   Am Fuchsenbühel fand er viele neue Knochenreste, ließ sie aber liegen. Er hoffte auf bessere Beute. Als der Schatten des Sonnsteins gerade gegen die Südwand zeigte, langte Peter bei der Stelle an, wo er nach dem ersten Steinschlag den Steinbock gefunden hatte. Hier entdeckte er gebleichte Knochen und ein abgenagtes Ziegengerippe. Das Gehörn war flach und eine gute Handspanne lang; es zeigte schwache Wülste und eine geringe Krümmung; wahrscheinlich stammte es von einer noch jungen Geiß. Die Hörner ließen sich leicht von den Stirnzapfen ziehen, und Peter steckte sie trotz ihres üblen Geruchs hinter seinen Gürtel. Das eine sollte ein tragbares Salzgefäß werden, das andere ein Trinkbecher oder eine Messerscheide. Da nichts mehr zu finden war, wandte er sich dem Laubwald zu, hinter dem er die Höhle der Bären vermutete.
   Bevor er das gefährliche Gebiet betrat, legte er dürres Gras und Laub unter das glimmende Moderholz auf die Glut seines Feuerkorbes, blies sie an und sah beruhigt dichten Qualm daraus emporsteigen. Er verließ sich darauf, daß schon der Rauchgeruch die Bären fernhalten werde.
   Wohlgemut drang er in den Wald ein, dessen Eichen und Buchen den Boden dicht beschatteten. Zahlreiche Wildschweinspuren ließen erkennen, daß diese nahrhafte Gegend das Schwarzwild anzog.
   Die Baumkronen waren von Buchfinken, Meisen, Kernbeißern, Grünlingen, Hähern, Holztauben, aber auch von Eichhörnchen bevölkert. Eines davon, ein junges Tierchen, schoß Peter herab und nahm es als Wegzehrung mit. Im Weitergehen suchte er auf dem Waldboden nach abgefallenen Früchten. Da gab es grüne, angenagte Eicheln und viele hohle, von Würmern ausgefressene oder von Hörnchen entkernte Bucheckern. Nur selten fand Peter in den borstigen, vierblättrigen Fruchtbechern die dreikantigen Bucheckern unversehrt. Mit den Zähnen löste er die Kerne heraus. Sie schmeckten ihm wegen ihres größeren Fettgehaltes besser als Haselnüsse.
   Plötzlich wurde der Wald lichter. Durch niederes Strauchwerk trat Peter auf eine mit Steingeröll bedeckte Waldwiese.
   Drüben, wo der Boden zur Sonnleiten und Südwand anstieg, standen saftig grüne, großblättrige Bäume mit weit ausladenden Kronen. Uralte Bäume mußten es sein. Darunter lagen, im Gras verstreut, soweit die Zweige reichten, mehr als walnußgroße, feinstachelige Kugeln, aus deren klaffenden Rissen braune Kerne hervorlugten. Da waren sie ja, die Edelkastanien, die Maroni! Peter kannte sie von der Ahnl her.
   Er löste erst eine aus ihrem Stachelkleid, riß die braune, lederartige Haut mit den Zähnen ab und knusperte den harten, weißen Kern.
   Der schmeckte fast so gut wie eine Haselnuß, war aber härter. In heller Freude darüber, daß er endlich in den Kastanien die rechte Winternahrung entdeckt hatte, machte sich Peter ans Einsammeln. Da er nichts hatte, worin er die Früchte hätte forttragen können, legte er sie in den Feuerkorb auf Moder und Asche. Als er nichts mehr unterbringen konnte, gedachte er zu rasten und sein Eichhörnchen zu braten.
   Eben wollte er mit einem gegabelten Zweig glühende Holzkohlen aus dem Korb holen, als ihm eine sonderbare Bewegung unter den Kastanien auffiel. Die drehten sich und hüpften, und plötzlich krachte es in der Glut. Lebhafter sprangen die Kastanien, einige hüpften sogar über den Rand des Korbes. Ihre verkohlte Haut war geplatzt, und die braungebrannten Kerne rauchten und dufteten. Was gut riecht, schmeckt meist gut. Leicht ließen sich die locker gewordenen Kerne aus den spröden Schalen lösen. Sobald sie ein wenig abgekühlt waren, kostete Peter davon. Sie waren weich, mehlig und süß. Jetzt fachte er sein Feuer an, balgte das Eichhörnchen ab, salzte es, steckte das kleine Wildbret an einen Zweig, drehte es über der Glut und hielt ein königliches Mahl.
   Als das Feuer niedergebrannt war, tat er die glühenden Kohlen in seinen Korb, legte Moderholz und Asche darüber, tat oben drauf noch einen Vorrat von Kastanien für Eva und setzte seine Nachforschungen fort.
   Oberhalb der Lichtung betrat er wieder den Wald, blieb aber schon nach wenigen Schritten überrascht stehen.
   Ein wilder Walnußbaum stand da, an dessen tief herabhängenden Ästen viele Nüsse hingen, deren grüne Rinde schon braune Flecken zeigte. Auf dem Boden verstreut lagen einige völlig ausgereifte Früchte, deren schwarzbraune, eingeschrumpfte Rinde sich beim Auffallen von der Schale gelöst hatte. Ein handlicher Schlagstein und ein flacher Grundstein waren bald gefunden, die ziemlich dicken Nußschalen barsten unter Peters Schlägen, der sich dann die fettreichen Kerne schmecken ließ.
   Auch hier war viel zu ernten. Bei der Vorstellung, wie Eva sich über den Reichtum an Nüssen und Kastanien freuen würde, wollte er ihr einen gellenden Juchzer hinüberschicken, da bemerkte er, daß er nicht allein war.
   Kaum einen Pfeilschuß weit oberhalb stand zwischen den Baumstämmen ein mächtiger Bär aufrecht auf den Hinterbeinen, die linke Vordertatze auf den Wurzelballen eines umgeworfenen Baumes gestützt, die rechte Pranke hing schlaff herab. Er hatte die Äuglein neugierig auf den Eindringling gerichtet und wiegte kaum merklich den Oberkörper. Peter erschrak; in seinen Halsadern pochte es. Ein dünner, blauer Rauchschleier stieg aus dem Feuerkorb und strich, vom Wind verteilt, sachte hinüber zum Bären, der mit vorgestreckter Nase die Luft prüfte. Den Geruch kannte er. Sein Fell war an der Brust stark versengt. Erinnerte er sich des flammenden Pfeiles?
   Peter überlegte, ob er das Raubtier wieder mit einem brennenden Pfeil angreifen sollte. Freilich konnte er nicht wissen, wie es sich bei Tage verhalten würde. Da nieste der Bär und ließ sich kopfschüttelnd auf alle viere nieder. Dann machte er kehrt und trabte gemächlich der Felswand zu.
   »So«, sprach Peter zu sich selbst, »gehst du mir aus dem Weg, dann sollst auch Ruhe vor mir haben.«
   Glücklich über den Schutz, den sogar der Rauch seiner glimmenden Kohlen bot, packte Peter sein Gerät und schritt, die Südwand zur Linken, weiter.
   Er näherte sich dem Steinkar, das dem Neuen Steinschlag vorgelagert war, und kam an Mispeln vorbei zu Schlehen und wilden Apfelbäumen. Zahlreiche geschundene Bäume, geknicktes Jungholz und herumliegende, frisch niedergegangene Gesteinsbrocken zeigten ihm, daß er im Bereich des letzten Steinschlags war. Er hatte also nicht geträumt! Vorsichtig trat er aus dem Schatten des Waldrandes, fachte erst ein helles Schutzfeuer an und begann die Halde abzusuchen. Zwar fand er kein Steinwild, hingegen einen Alpenhasen im braunroten Sommerkleid. Beinahe hätte er den Hasen in den gleichfarbigen Bruchstücken des Gesteins übersehen, wenn ihm nicht die weißen Augenringe und die schwarzgeränderten Löffel sowie der blendend weiße Bauch aufgefallen wären.
   Peter fand noch zwei Murmeltiere, halb begraben unter Steintrümmern. Das eine war bereits von Füchsen benagt; sie mußten noch vor kurzem dagewesen sein und hatten wahrscheinlich vor dem verdächtigen Rauchgeruch das Feld geräumt.
   Beim Bloßlegen der Murmeltiere fand Peter grüne, weißgeäderte, fettig glänzende Steine – Serpentine —, die zu Werkzeugen taugen mochten. Er steckte sie in seine Gürteltaschen. Beim Weitergraben fiel ihm auf, daß andere harte Steintrümmer deutlich geschichtet waren. Sie bestanden aus winzigen runden Kieselhörnchen und Glimmerplättchen. Es waren Sandsteine, die von hoch oben herabgekollert sein mochten. Im Heimlichen Grund hatte er derlei sonst nicht gefunden. Einige davon steckte er in seinen Korb quer über die Kastanien. Sie mochten als Schleifsteine besser dienen als die Granitbrocken. Die beiden Murmeltiere und den Hasen band er an den Hinterbeinen zusammen und hängte sie über die linke Schulter.
   Am Ufer des Moorbachs balgte er die Tiere ab, warf das schon etwas riechende Fleisch ins Wasser und freute sich am Gewimmel der Fische, die sich daran gütlich taten. Dann wanderte er langsam im Bachbett abwärts.
   In der leise bewegten Luft schwebten die weißen Spinnweben des Altweibersommers und einzelne Samenflocken von Disteln, Bocksbart und Löwenzahn. Hummeln und Bienen suchten die letzten Gipfelblüten des Himmelbrandes und der Wegwarten nach Nahrung ab. Hier und da flatterte ein müder Falter träge auf, von dessen zerfransten Flügeln der Farbenschmelz abgerieben war. Es herbstelte.
   Eva empfing ihn sehr vergnügt. Nicht nur, daß sie sich über die vier neuen Felle, über die Nüsse und gebratenen Kastanien freute, auch sie hatte etwas zu zeigen. Ihr war es gelungen, das Wildkatzenfell sauber und geschmeidig zu machen. Zuerst hatte sie seine Innenseite mit Talgresten eingerieben. Das sei eine arge Schmiererei gewesen, erzählte sie, sie habe es aber mit Aschenlauge und Lehm wieder gesäubert und entdeckt, daß der Brei aus Fett, Lehm und Aschenlauge nicht nur den Katzenbalg, sondern auch ihre Hände von jedem Schmutz gereinigt hatte. Wohlgefällig drehte sie vor Peters Augen ihre Hände hin und her. Und noch etwas anderes freute sie: Die Steinbockshörner hatten durch die Holzkohle ihren üblen Geruch ganz verloren; eines davon sollte nun als Trinkgefäß, das andere als Salzbehälter im Wohnraum bleiben. Es war ihr auch geglückt, das trocken gewordene Katzenfell geschmeidig zu machen, indem sie es über die Kante ihres Sitzstrunkes gezogen hatte. Von nun an sollte jedes Fell gewalkt werden.
   Im ruhigen Wasserspiegel des Wasserkorbes hatte sie gesehen, wie abscheulich zerzaust sie aussah. Das Kämmen mit den Fingern war halt ein unzulänglicher Notbehelf. Da war sie auf den Einfall gekommen, statt der Finger etwas Dünneres zum Ordnen der Haare zu verwenden. Sie hatte harte Zweige geschält, die Stäbchen angebrannt, damit sie nicht zerspleißen konnten, und an einem Granit spitz zugeschliffen; dann hatte sie eines neben das andere mit kreuzweis gespannten Darmsaiten an ein Querholz gebunden. Stolz zeigte sie Peter das sauber gekämmte, vom Stirnband zusammengehaltene Haar, ließ ihn ihren neuen Kamm bewundern und begann, auch seine lang und wirr gewordenen Haare zu kämmen.
   Peter hatte nichts dagegen. Als er sich gar die Hände nach Evas Beispiel mit dem von ihr erfundenen Gemisch gereinigt hatte, schmeckte ihm das Essen außerordentlich gut. Er kam sich wie ein besserer Mensch vor. Was war geschehen? Aus Aschenlauge, Fett und mit Sand vermischtem Lehm war eine brauchbare Seife geworden! Seife und Evas Kamm brachten die jungen Höhlenmenschen wieder zwei Schritte vorwärts auf dem Wege zu einem behaglichen Leben. Schön wollte sie's haben, die Eva. Nach der argen Not, in der sie ihr Leben kümmerlich gefristet hatten, ohne sich sonderlich um ihr Äußeres zu kümmern, waren sie endlich so weit, daß es ihnen an nichts Notwendigem gebrach, so daß auch für das Schöne Sinn und Zeit blieb.


   Herbsternte

   Nun besaßen sie den Feuerkorb, in dem sie die Glut als schützenden Begleiter mit sich tragen konnten. Das gab den beiden ein solches Gefühl der Sicherheit, daß sie sich ohne Angst in die Gegend der Südwand wagten, um dort mit der Kastanienernte zu beginnen.
   Für Eva war der erste Erntetag ein Freudenfest. Der Herbstwind schüttelte die Kastanien massenhaft aus den Kronen und trug den Qualm des Schutzfeuers in alle Richtungen, so daß ein dünner Rauchschleier weithin durch den Wald zog.
   Peter ließ Eva allein sammeln und folgte den Spuren der Wildschweine, bis er ihrer am Eichenbestand unterhalb des Alten Steinschlags ansichtig wurde, wo sie eine große Schlafgrube, den Kessel, bezogen hatten. Er brachte den halben Tag damit zu, dem weiterziehenden Rudel nachzuspüren. Von der anfangs gehegten Absicht, mit Pfeil oder Speer einen Frischling zu erlegen, kam er ab, da er die Bache und nicht minder einen abseits vom Rudel wühlenden Keiler fürchtete. Er suchte nach etwas Wuchtigem, das sich schleudern ließe, um das junge Tier aus sicherer Entfernung durch einen einzigen Wurf zu töten. Endlich fand er einen armlangen Wipfelstummel mit einer mehr als faustgroßen Wucherung, eine natürliche Keule. Behutsam nahm er sie auf und schlich, von Baum zu Baum Deckung suchend, dem Schwarzwild nach. Erst als er sich dem Waldrand näherte, wo das Rauschen des Moorbachfalles das Knacken der Reiser unter seinen Füßen übertönte, wurde er kühner. Da merkte er, daß einer der Frischlinge hinter den anderen zurückgeblieben war und zwischen zwei toten, von hohen Farnen überwucherten Baumriesen im feuchten Grunde wühlte. Über den weichen Moderboden hin gelang es Peter, lautlos näherzuschleichen; dann duckte er sich unter die Farne und schlug den Frischling gerade in dem Augenblick mit seiner Keule zu Boden, als der Kleine sichernd den Kopf hob. Lautlos war das Jungtier zusammengebrochen. Mit klopfendem Herzen hob Peter es auf, blieb aber, die Keule in der Rechten, hocken, jeden Augenblick bereit, sich zur Wehr zu setzen. Nichts regte sich, nur das gleichmäßige Rauschen des Moorbachfalles war zu hören.
   Vorsichtig erhob er sich und lugte aus. Ihm schien, als sei die Alte unruhig geworden und suche ihr Junges. Er schnellte empor und jagte mit seiner Beute zurück. Ohne umzuschauen, stürmte er weiter, über tote Bäume, durch Morast und Ried, der Stelle zu, woher der Wind ihm den Rauch entgegentrug. Atemlos langte er bei Eva an. Die Freude, mit der sie die Beute entgegennahm, schien ihm ein wenig lau. Als sie ihn bat, ihr einen Dorn aus der Fußsohle zu ziehen, begriff er, warum sie nicht zum Jubeln aufgelegt war. Obwohl er den nur leicht eingedrungenen Dorn entfernt hatte, konnte Eva vor Schmerzen kaum auftreten. Erst als er zerkaute Beinwellblätter auf die Wunde gelegt und den Fuß mit großen Huflattichblättern und grünen Rindenstreifen verbunden hatte, konnte sie humpelnd weitergehen. Und nun kehrte auch ihre gute Laune zurück. Wohlgefällig streichelte sie das noch weiche Borstenkleid des Frischlings, an dessen rötlicher und gelber Längsstreifung sie sich nicht sattsehen konnte. Dann zeigte sie stolz, was sie gesammelt hatte. Ihr und Peters Korb, beide waren beinahe voll brauner Kastanien, aber auch Bucheckern, Mispeln und einige Wildäpfel waren darunter. Neben den Körben lagen große Sträuße von Mehl– und Eisbeeren, zwei Büschel Steinquendel und Lauchzwiebeln, die Eva am Waldrande ausgegraben hatte.
   Langsam legten sie mit ihren Lasten den Heimweg zurück. Durch den Wald wagten sie sich nicht. Sie mußten einen Umweg machen. Als sie aus dem Laubwald auf das Steinfeld hinaustraten, ging die Sonne gerade hinter der Henne unter, umgeben von rotgolden gesäumten Wolken, in deren Widerschein der Sonnstein leuchtete, während die Firne hoch über den Salzwänden in feierlichem Alpenglühen erstrahlten.
   Glücklich saßen sie am Höhlenfeuer und atmeten den köstlichen Duft des bratenden Frischlings ein, der an einem grünen Stab von beiden abwechselnd über der Glut gedreht wurde. Und als das Fett herabtroff und im Feuer ungenützt verprasselte, beeilte sich Eva, eine der gereinigten, längst geruchlos gewordenen Rehschädelschalen darunter zu halten, in deren Nasenhöhle sie einen Stab gesteckt hatte. Dieser »Schöpflöffel« fing den Saft auf, der, mit Wasser versetzt, eine warme, schmackhafte Suppe ergab.
   Am Rande des Feuers hüpften und knisterten die Kastanien; die Schmausenden malten sich aus, wie behaglich sie den Winter verbringen wollten: geschützt vor Kälte, mit reichen Vorräten an Kastanien, Rauchfleisch, Salz und Gewürz versehen. So mochte er denn kommen, der harte, lange Bergwinter!
   Als am nächsten Morgen ein heftiger Herbststurm den Regen gegen die Außenwand ihrer Höhle peitschte, schliefen die Sorglosen lange in den Tag hinein. Eva war als erste wach. In ihrem verletzten Fuß brannte und klopfte es. Sie stand auf, nahm eine Handvoll Werg vom Bergflachs, tauchte ihn in das Wasser, das noch vom Vortag im Wasserkorb war, und begann den Fuß zu kühlen.
   Peter, der endlich auch aufstand, holte einen Klumpen frisches Fichtenharz, bestrich damit Evas Wunde und verband sie mit Werg, das er auch noch mit Harz tränkte.
   Vom Frischling, dessen Rest am Gestänge des Trockenbodens im Rauch hing, nahmen die Kinder weniger als am Vortag, aßen statt dessen reichlich Kastanien und versuchten auch einige Holzäpfel, die aber viel zu sauer waren. Gebraten ließen sie sich genießen. Eva, immer darauf bedacht, die Vorräte zu mehren und zu sichern, begann gleich, Apfelschnitze zu machen, die sie in der Nähe des Feuers auf Steinplatten zum Dörren auflegte. Peter nahm seine neue Keule vor, mit der er den Frischling erschlagen hatte, entrindete sie, verstärkte ihr dickes Ende durch eingetriebene Hartsteinsplitter, wirbelte sie um den Kopf und dachte dabei an einen Kampf mit Bären, vor denen ihm jetzt nicht mehr angst war.
   Eva drängte Peter, auf einem Zeichenstein die Ereignisse des Tages festzuhalten. Geschmeichelt nahm er das neue Bild in Angriff. Eine geeignete Mergelplatte war bald gefunden. Er zeichnete zunächst den Frischling, wie er von der Keule getroffen wurde; daneben ritzte er stachelbesetzte Kreise für die Kastanien ein, dann einen übergroßen Dorn und daran das wenig gelungene Abbild von Evas Fuß. Über alles aber setzte er die Sonne, wie sie hinter der Henne unterging – und mitten in die Fläche einen einzelnen Strich.
   Die eingeritzten Zeichen bedeuteten: »Im ersten Jahr unseres Daseins im Heimlichen Grund, zur Zeit, als die Kastanien reif waren und die Sonne gerade hinter der Henne unterging, habe ich mit der Keule ein Jungschwein erlegt, und Eva hat sich einen Dorn eingetreten.«
   Während Peter die Striche noch mit Rötel verstärkte, begann Eva, sich eine schützende Fußbekleidung zurechtzumachen. Sie wollte sich nicht wieder einen Dorn eintreten.
   Murmeltierbälge mochten das richtige sein. Eva schlitzte die Bauchseite auf, fettete die Felle innen tüchtig ein, walkte sie geschmeidig und verlängerte die Haut der Pfoten mit daran geknüpften Fellstreifen, so daß sie diese »Schuhe« kreuzweise über den Knöcheln befestigen konnte. Um die wunde Sohle nicht unmittelbar mit dem Fell in Berührung zu bringen, wollte sie Birkenrinde einlegen, Rinde von einem jungen Baum. Ihre Oberfläche ist glatt und zart wie Leder und nicht knorrig und rissig wie das Rindenkleid alter Bäume. Sie holte sich ein passendes Stück, ergriff einen Brocken Holzkohle, stellte erst den rechten Fuß auf die Rinde und fuhr mit der Kohle seine Umrisse nach. Mit dem linken machte sie es ebenso und schnitzelte mit einem Jaspissplitter die Rindensohlen nach der Zeichnung zurecht. Da sich die trockene Rinde immer wieder aufrollte, weichte sie sie ein und legte sie dann in ihre Schuhe, die sie gleich anzog und ungeachtet der Schmerzen, die ihr der Druck in der Wunde verursachte, an den Füßen festschnürte. Die klaffenden Maulöffnungen der Murmeltierfelle, aus denen ihre Zehen hervorguckten, verschnürte sie so gut es ging und war nicht wenig stolz auf ihre Leistung.
   Als der Regen nachließ, zog Peter allein zur Ernte aus, für die ihm der Wind gut vorgearbeitet hatte: Der Waldboden war mit Früchten dicht besät.
   Die reiche Ernte machte das Flechten neuer Vorratskörbe notwendig, und der Dörrboden in beiden Höhlen mußte verbreitert werden.
   Eva fiel die Aufgabe zu, das Eingesammelte zu ordnen und so zu schichten, daß es möglichst wenig Platz einnahm. Brombeeren, Schlehen und die vom Liegen weich gewordenen Mispeln dörrte sie auf erhitzten Steinplatten.
   Peter betrieb das Früchtesammeln nicht lange. Bald ging er wieder der Jagd nach. Auch von erlegten Kleintieren wurde das Fleisch eingesalzen, geräuchert oder getrocknet. Ebenso wurden die Bälge der Hörnchen und Vögel in den Rauch gehängt. Bald zeigte sich, daß eingesalzene und geräucherte Felle, sorgfältig gewalkt, den üblen Geruch und die Sprödigkeit verloren.
   Jeder Tag machte die Kinder müde. Evas Fußwunde eiterte zwar, verheilte aber bald.
   Sonntags wurde nicht gearbeitet. Wohlgewaschen und gekämmt, machten sie ihren Morgengang zum Grab der Ahnl. Hier berichteten sie der Toten von ihren Erlebnissen, ihren Arbeiten, ihren Sorgen, Freuden und Hoffnungen; hier beteten sie zum Allmächtigen, den die Verstorbene angerufen hatte und von dem sie so wenig wußten.
   Den Rest des Tages verbrachten sie, durch den Heimlichen Grund schlendernd, in eifrigem Gespräch über die Arbeiten, die in der nächsten Woche getan werden sollten.
   Viele Mühe machte ihnen das Feuer, das nicht ausgehen durfte. Wenn sie auch zeitweise nur Moder auflegten und es auf diese Weise erhielten, so brauchte es doch Holz, und es war für Peter nicht leicht, genügend herbeizuschaffen. Er kannte von früher her, als die Ahnl noch lebte, die Schrecknisse eines Gebirgswinters. An den Geierhängen waren oft wochenlang die Schneemassen so hoch um die Hütte angeweht gewesen, daß keine Möglichkeit bestanden hatte, vom tiefliegenden Wald Brennholz zu holen. Darum war die Ahnl immer darauf bedacht gewesen, große Holzvorräte für den Winter um die Hütte her anzuhäufen. Diese Erfahrungen trieben Peter, rastlos Holz einzuschleppen und vor der Höhle aufzustapeln.
   Die Tage wurden merklich kürzer, und die Notwendigkeit, die Arbeitszeit um einige Stunden zu verlängern, zwang die Kinder, darüber nachzudenken, wie sie die unstete Beleuchtung, die das flackernde Feuer gab, verbessern könnten. Bald kamen sie darauf, Föhrenzweige in Ritzen der Höhlenwände zu klemmen. Weil aber gespaltene Zweige mehr Licht gaben als runde, wurden fortan nur gespaltene verwendet.
   Nicht immer lebten die beiden in Frieden. Obwohl Peter wiederholt erfahren hatte, daß Eva in manchen Dingen nicht minder findig war als er, hatte er sich ein herrisches Wesen angewöhnt, das sie oft verletzte. Wenn sie etwas, das er ihr auftrug, nicht gleich oder nicht so geschickt ausführte, wie er es haben wollte, fuhr er sie ungeduldig an. Daß sie jünger und schwächer war als er, darauf nahm er keine Rücksicht.
   Es kamen neblige Tage mit Regenschauern, und Eva wurde von einem Schnupfen befallen. Zum Schneuzen hatte sie nichts als Moos und Werg. Sie war nicht in bester Stimmung. Peters Grobheit und sein allzu großes Selbstbewußtsein verletzten sie mehr denn je. Sie wehrte sich auf ihre Art, wurde scheu und abweisend, und plötzlich stand zwischen ihr und ihm eine unsichtbare Schranke.


   Pelztiere

   Die Nebeltage vergingen, die Sonne schien wieder. Peter und Eva sammelten, was sie finden konnten, und wieder kam eine regenreiche Woche, aber die beiden mußten weiterernten. Peter fürchtete einen allzu frühen Schneefall. Die nasse Kälte zwang die Kinder, sich jetzt schon in ihre für den Winter bestimmten Tierfelle zu hüllen. Eva trug einen Brustfleck aus dem Fell der Wildkatze; die stark eingefettete Decke der Rehgeiß dagegen benutzte sie – Haare nach innen – als Rückenschutz. Eichelspangen verbanden den Brustfleck über den Schultern und an den Hüften mit dem Rehfell. Jede Eichel war durchlocht und auf eine Darmsaite gefädelt. Mit dieser war sie am Rande des einen Fells befestigt, während sie durch einen Schlitz des anderen gezogen und außen quergestellt war. Die Beinfelle hatte sie zu Streifen aneinandergenäht, mit denen sie die Unterschenkel umwand. Spangen aus Eicheln und gedrehtem Darm hielten die durchlochten Fellränder zusammen.
   Die Kleinbälge des schadhaft gewordenen Schultermantels benützte Eva, um ihren Lendenschurz bis über die Knie hinab zu verlängern.
   Peters Bekleidung war einfacher. Sie bestand aus den beiden Hälften der alten Steinbockshaut, die von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurden. Das Hasenfell hatte sich Eva angeeignet. Prall mit Moos gefüllt, diente es ihr nachts als Kopfkissen und bei Tag mit der nach innen gestülpten Haarseite als Handmuff, den sie sich an einem Band aus Fellstreifen um den Hals hängen konnte.
   In den bitterkalten Nächten machte sich der Luftaustausch zwischen dem Berginnern und den geheizten Wohnhöhlen als scharfer Zugwind bemerkbar, gegen den sich die Bewohner schützen mußten. Peter scharrte sich in der dicken Lehmschicht seiner Höhle eine so tiefe Schlafgrube aus, daß er in seinem Laublager wie ein Dachs versank. Eva, unter deren Lager Felsboden war, errichtete mit Peters Hilfe einen kniehohen Wall aus Felsbrocken, dessen Zwischenräume sie mit Moos verstopfte. Aus den vielen Eichhornfellen wurden zwei Decken geheftet, die die Schläfer vor der kalten Nachtluft schützten. Trotz der Fellkleider, die nur grob zusammengeheftet waren, fürchtete Peter den Bergwinter. Sie brauchten noch andere Felle, rauhhaarige Pelze; Füchse wollte er haben und Wildkatzen – ja, er verstieg sich in seinen Wünschen sogar zu Bärenpelzen!
   Das Raubwild aber ließ sich am Köderplatz nicht mehr sehen; der Rauchgeruch in der Umgebung der Menschenhöhlen machte die Tiere mißtrauisch und vorsichtig. Kolkraben und Nebelkrähen waren die Gäste am Köderplatz; ihre Wachtposten hielten benachbarte Baumwipfel besetzt und meldeten jede Annäherung der Menschen. So beschloß Peter, den Bewohnern des Fuchsenbühels ihre Pelze abzunehmen. Der Bau lag ja im felsigen Gelände, die Füchse würden sich also nicht leicht einen Fluchtausgang graben können. Aushungern wollte er sie, zum Verlassen ihres Baues durch diejenige Röhre zwingen, vor der er eine Falle aufstellen wollte. Diese Falle, das Ergebnis nächtelangen Grübelns, konnte nach seiner Überzeugung nicht versagen.
   Die notwendigen Vorarbeiten am Fuchsbau kosteten Peter nicht geringe Mühe. Erst schleppte er eine Menge Felsbrocken herbei und verkeilte alle Ausgänge bis auf einen, der, nach den Spuren zu schließen, am meisten befahren war. Diesen Ausgang verlängerte er um gut drei Schritte, indem er aus großen, schweren Steinen zwei gleichlaufende Reihen von halber Kniehöhe herstellte. Der Gang dazwischen war ungefähr eine Handspanne breit. Diesen Aufbau deckte er mit großen, flachen Steinen. Zwei davon stützte er, die Breitseiten nach unten, mit je einem schräg nach außen gestellten Pflock derart, daß die Pflöcke im Weg waren. Der dem Fuchsbau am nächsten liegende Fallstein hatte nur den Zweck, dem Fuchs den Rückweg abzuschneiden, falls er an den Sperrstab stieß und den Stein zum Einfallen brachte. Der zweite, wuchtigere Fallstein aber war einen Schritt weiter so in der Schwebe gehalten, daß er dem darunter vordringenden Fuchs beim Herabfallen das Rückgrat abschlagen mußte. Die Falle war fertig, nun hieß es abwarten. Drei Tage vergingen, ohne daß ein Stein sich gerührt hätte. Gab es noch einen Ausgang, den Peter nicht kannte?
   Endlich, am vierten Morgen, lagen beide Fallsteine unten. Als Peter, zitternd vor Aufregung, den ersten Deckstein abhob, lag da nicht, wie er erwartet hatte, ein Fuchs, sondern ein plattgequetschtes Tier, bedeutend größer als eine Katze, mit weißer Stirn und breiten, schwarzen Augenstreifen. Es war ein Dachs. Mit bebenden Händen hob Peter die Beute auf, stellte die Falle möglichst geräuschlos von neuem und trabte heim.
   Die nächsten Tage brachten ihm unerwartet reiche Beute. Eines nach dem anderen suchten die ausgehungerten Tiere das Freie und fielen der heimtückischen Falle zum Opfer. Zwei Dachse und fünf bei ihnen wohnende Füchse, von denen drei noch Spuren des wolliggrauen Jugendkleides trugen, waren der Erfolg menschlicher Jägerlist. Vorläufig wurden die Felle ungeteilt, Innenseite nach außen gekehrt, vom anhaftenden Fett freigeschabt, mit Moos prall gestopft, mit Salz, Lehm und Asche eingerieben und in den Rauch gehängt. Aus den Dachsbälgen sollten Winterschuhe, aus den Fuchspelzen Kleider gemacht werden, bestimmte Peter.
   Schon wurden die Tage merklich kürzer; das Wetter heiterte sich auf. Auf Morgennebel folgte milder Sonnenschein. Die Höhlenkinder durchstreiften gemeinsam den Heimlichen Grund und trugen ihre Ernte ein. Nur noch eines wünschte sich Peter: Ein ausgewachsenes Wildschwein wollte er erlegen, um Fett zu gewinnen.
   In Gelb, Rot und Lila prangten Sträucher und Laubbäume. Die Füße der Kinder furchten die immer höher werdende Schicht des abgefallenen Laubes. Noch einmal unternahm Peter einen gefahrvollen Aufstieg zur Salzlecke, um Vorrat zu holen, und dann hatte er Muße zu weiten Jagdgängen, bei denen er sich so recht als Mann zu fühlen begann. Am achten Sonntag nach der Entdeckung des Feuers, als die Kinder gerade am Grabe der Ahnl ihre Andacht verrichteten, schwebten die ersten Schneeflocken bei völliger Windstille sachte vom Himmel herab. Sie deckten den Boden mit einer dünnen Schicht von zartem Weiß, aus dem die vergilbten Grashalme hervorsahen. Doch schon am Nachmittag war der Schnee vom Talgrund verschwunden. Noch war es Herbst.
   Mochte der Winter kommen mit seinen Frösten und Schneestürmen! Die Höhlenkinder hatten ein Heim, sie hatten Felle und Nahrungsvorräte. Behütet und genährt wohnte das gezähmte, Wärme spendende Feuer bei ihnen. Heller als der Mond erhellte ihnen ein brennender Kienast die Höhle im Berge. Und wenn Peter sich mühte, mit seinem Steinmesser harzige Kiefernzweige zu spalten, die als Leuchten dienen sollten, mußte er an den Ähnl denken, wie er an Winterabenden beim Klieben von Kienspänen mit der Ahnl geplaudert hatte.


   Beute im Schnee

   Als sei der frühe Schnee nur eine Laune des Himmels gewesen, kamen jetzt heitere, wenn auch kühle Wochen. Der Laubfall vollzog sich nur allmählich; noch war kein Frost eingetreten, kein Sturm hatte die Blätter von den Bäumen geräumt. Den herrlichsten Schmuck des Heimlichen Grunds bildeten die leuchtenden Kronen der Ahorne an den Rändern der Waldbestände und auf den Lehnen. Goldgelb schimmerte das Laub der oberen Zweigenden, ging nach unten in Rot über und ergab mit dem Grün der tiefer sitzenden, noch genährten Blätter einen berauschenden Farbendreiklang. Und die weißstämmigen Birken erst! Sie verwandelten ihre Kronen in zarte, blaßgelbe Schleier, die das Düster des Moorgrundes und die Nadelwaldbestände auf der Grableiten mit goldenem Leuchten durchsetzten.
   Angst hatten die Kinder in der Dämmerung nur vor Wildkatzen. Obwohl es Peter bei der ersten Begegnung mit einem dieser Tiere gelungen war, es zu töten, so zweifelte er doch, ob er sich auf die Treffsicherheit seines Pfeiles verlassen konnte. Die Zeit der früh einbrechenden Dunkelheit war für die jungen Menschen eine Zeit des Grauens und des Bangens. Die sinkende Nacht erfüllte sie mit Ahnungen von Gefahren; es trieb sie nach Hause in die behagliche Sicherheit ihrer Höhlen, die vom Duft des Holzrauchs, der gedörrten Früchte, der würzigen Kräuterbüschel und der Fleischvorräte erfüllt waren.
   Als die Schlehen und Kornelkirschen schon überreif waren, stellten sich die ersten großen Schneefälle ein.
   Eines Tages watete Peter, dessen Füße wohlverwahrt in eingefetteten Dachsschwarten steckten, bis zu den Knöcheln im glitzernden, stäubenden Neuschnee, um für die Trockenböden, die sich unter der Fülle der Vorräte bedenklich bogen, neue Stützen zu holen. Schon hatte er am Sonnstein junge Ahorn– und Eschenstämmchen aus dem Jungholz am Bachufer neben dem Feuerkorb angehäuft und trug nur noch Tannenreisig herbei, mit dem er das Deckengeflecht verdichten wollte, als sein Blick auf flüchtig verwischte Fuchsspuren fiel. Also gab es noch irgendwo in der Nähe Füchse, deren Bau ihm unbekannt war! Er ging den Fährten nach und bekam zwar nicht die Füchse zu sehen, aber das verendete Stück Rehwild, dem der Besuch der roten Räuber gegolten hatte. Es war ein alter Bock mit einem sonderbar gestalteten Geweih, dessen Wucherungen wunderlich nach allen Seiten abstanden. Peter staunte, daß der Bock um diese Zeit sein Geweih noch nicht abgeworfen hatte. Der Schnee, der das Tier bedeckte, war zum Teil weggescharrt, und aus dem offenen Maul des Bockes, dessen Muffel zerbissen war, hingen die blutigen Reste der Zunge, an der die Füchse gerissen hatten. Peter packte den Bock an dem überstark beperlten Geweih und schleifte ihn zum Feuerkorb. Dabei fiel ihm auf, daß das Tier über Erwarten mager und leicht war. Er beeilte sich, es abzubalgen.
   Da der Bock offenbar an einer Krankheit oder an Altersschwäche zugrunde gegangen war und Peter dem Fleisch nicht traute, überließ er es dem Raubwild. Er suchte nun einen Schlittenast, um das Fell, den Schädel und die Holzlast fortzuschaffen. Sein Blick fiel auf zwei junge, aus einer Wurzel wachsende Eschenstämmchen. Ihre Wipfel waren unter der Last einer vom Wind umgelegten morschen Fichte gekrümmt. Der Wurzelballen der Bäumchen ragte zur Hälfte aus dem Erdreich. Gewöhnt, auffallende Dinge und ihre Verwendbarkeit zu prüfen, erkannte Peter in den gebogenen, unten verwachsenen Jungstämmen die Hauptbestandteile eines besseren Beförderungsmittels, als es der einfache Ast gewesen war. Wenn er die in der Erde steckende Wurzel abhieb, die krummen Stämmchen von allen unnützen Ästen und Zweigen befreite und durch Querhölzer verband, hatte er ein tragfähiges Schleppzeug, vielleicht auch für später. Peter machte sich sofort an die Arbeit, hatte aber große Mühe, die Wurzeln aus dem Geröll zu lösen. Als er sie nach eifrigem Graben und ungezählten Hieben mit der Steinaxt bloßgelegt hatte, war er trotz der Kälte in Schweiß gebadet. Seine Geduld war so erschöpft, daß er wie ein Rasender an den im Boden steckenden Wurzeln zerrte.
   Da entdeckte sein suchender Blick einen armdicken Knüttel. Den schob er unter den Wurzelballen, legte einen Steinbrocken unter den so gewonnenen Hebel und drückte mit aller Kraft auf dessen frei emporragendes längeres Ende. Ein Krach, ein Prasseln von Steinen und Reisig – Peter fiel längelang in den Schnee, und um ihn her lag zerbrochenes Geäst der verdorrten Fichte; sie war im selben Augenblick niedergestürzt, als Peter ihr die Stütze genommen hatte. Mit Entsetzen erkannte er, daß er von dem stürzenden Baum beinahe erschlagen worden wäre. Wie hatte er nur die Fichte außer acht lassen können! Wenn ihm etwas geschehen wäre! Wenn Eva allein zurückbleiben müßte, könnte sie ohne ihn leben? Peter beschloß, in Zukunft besser aufzupassen, umsichtiger zu werden. Aber schon im nächsten Augenblick begann er, seine Schlittenkufen von allem störenden Ast– und Wurzelwerk freizumachen. Querstäbe band er unten in den Winkeln an den nach oben ragenden Ästen fest; diese sollten als Seitenstützen stehenbleiben. Es kam ein schmaler, aber brauchbarer Schlitten zustande. Als Peter seine Ausbeute an Stäben der Länge nach an den Querstangen festgemacht hatte und den Schlitten zu ziehen versuchte, fand er die Last so leicht, daß er von der zerbrochenen Fichte eine ansehnliche Tracht Brennholz dazupackte. Als letztes verstaute er das Fell, den Bockschädel, und obenauf kam der Feuerkorb. Seinen Jagdspeer und den Bogen steckte er zwischen die Hölzer, er selbst stellte sich zwischen die steil aufgebogenen Schlittenkufen.
   Wie leicht die Bürde über den Schnee glitt! Nur wo die Holzladung für den Erntepfad zu breit war, spießte sich die Fracht am Gesträuch; aber einige Axthiebe halfen durch. Peter nahm sich vor, den Erntepfad breiter zu bahnen und seine Unebenheiten auszugleichen. Aus dem Pfad mußte ein Fahrweg werden. Schon war die Dämmerung hereingebrochen, als er sich mit seiner Fuhre den hellerleuchteten Wohnhöhlen näherte. Blauer, duftender Holzrauch strich zu ihm herüber.
   Peter dampfte vor Anstrengung, als er beim Steigbaum anlangte. Vor dem lodernden Herdfeuer streckte er sich der Länge nach auf den Lehmboden und ließ sich von Eva füttern. Sie reichte ihm erst gebratene Kastanien, dann eine Mergelplatte voll Frischlingsbraten und Preiselbeeren. Mit vollen Backen kauend, erzählte der Heimgekehrte von seinen Erlebnissen und Plänen, wie er erlegtes Wild, Ernteertrag und Brennholz heimbringen wollte.
   Am nächsten Tag begann Peter mit dem Bau eines Schutzwalls am Eingang der unteren Höhle; er verstopfte auch die beiden Seitengänge, um die kalte Außenluft abzuhalten. Eva, die gerade das Essen zubereitete, freute sich, daß die Höhle nun viel besser durchwärmt wurde. Der Rauch stieg ruhiger zur Decke auf, wo er sich im Gestänge des Trockenbodens staute, ehe er durch das Loch ins Freie entwich.

 //-- * * * --// 
   Peter war von seiner Arbeit so in Anspruch genommen, daß Eva sich der Rehdecke annehmen mußte, die auf dem nassen Boden neben dem Schlitten lag. Die Haut zu reinigen und im Bocksgraben bei dem bereits eingelagerten Fell unter Laub und Steinen zu vergraben, war keine appetitliche Arbeit. Sie tat sie aber und entdeckte dabei, daß die früher eingelagerte Haut nicht faulig roch, sondern vom durchnäßten Laub einen herben, nicht unangenehmen Geruch angenommen hatte. Die Haare lösten sich vom aufgequollenen Leder. Eva fröstelte. Beim Arbeiten in der Nässe waren die Murmeltierfelle ihrer Schuhe feucht geworden. Heimgekommen, zog sie sich in ihre Kammer zurück und vergrub sich förmlich im Laub und Moos ihres Lagers.
   Kaum hatte sie sich einigermaßen erwärmt, so stopfte sie ihr aufgeweichtes Schuhwerk mit dürrem Moos aus, damit es beim Trocknen nicht einschrumpfe. Dabei stellte sie fest, daß die Sohlen an einigen Stellen durchgerieben waren, während die eingelegte Birkenrinde widerstanden hatte. Also war Birkenrinde zäher. Eva überlegte und beschloß, zur Verstärkung des weichen Leders auf jede Sohle zwei Rindenstücke zu nähen. Das Vorbohren der Nählöcher an den Sohlenrändern mit einem spitzigen Knochensplitter war eine Heidenarbeit und machte sie so ungeduldig, daß sie die Löcher daumenbreit voneinander entfernt anbrachte, nur um schneller fertig zu werden. Als sie daran ging, die trockengewordenen Schuhe mit den neuen Sohlen zu benähen, war sie mit ihrer Kunst am Ende. Was sie auch versuchte, es gelang ihr nicht, die Nadel mit der Darmsaite dort durchzuführen, wo sie es beabsichtigte. Sie mußte die Schuhe auf der Ristseite schlitzen. Aber die Häute waren so mürbe, daß sie keinen Stich hielten. Eva war den Tränen nahe und warf die Arbeit entmutigt beiseite. Dann dachte sie nach und fand einen Ausweg. Sie holte aus dem Bocksgraben eines der eingelegten Rehfelle, reinigte es, schnitt zwei große Lappen heraus und nähte sie so feucht, wie sie waren, zwischen den äußeren und inneren Rindensohlen fest, stellte dann den einen Fuß auf ein inneres Sohlenblatt und faltete über dem Rist die Lappenenden empor, nähte sie über der Fußspitze zusammen und schnitt Überflüssiges weg. Hinter der Ferse zog sie das Leder hoch und nähte an den Seiten die Falten zusammen. An die Zipfel heftete sie breite Lederstreifen, wickelte sie kreuzweise um Fußgelenk und Wade und band sie unter dem Knie fest. Nachdem sie auch den anderen Fuß bekleidet hatte, überließ sie es ihrer Körperwärme, das weiche Leder zu trocknen. Als es einigermaßen hart geworden war, rieb Eva die Außenseite ihrer Schuhe mit einem Gemisch von zerlassenem Wachs und Fett ein, wobei sie besondere Sorgfalt auf das Dichten aller Nähte verwendete.
   Freudestrahlend zeigte sie Peter ihr verbessertes Schuhwerk, das keine Nässe durchließ. Noch am selben Tag sah sie mit Genugtuung, daß Peter, der bisher einfach Dachsschwarten um seine Füße gewickelt hatte, sich nach ihrem Muster neue Schuhe machte. Gleich nach dem Abendessen verschwand Eva hinter ihrem Lagerwall und wühlte sich ins Moos und Laub. Sie wollte ungestört nachdenken, wie sich aus der Schwarte des Wildschweins, das Peter bestimmt noch erlegen würde, dauerhafte Schuhe herstellen ließen.
   Peter kniete auf dem Boden vor einem Sandstein und führte auf dessen rauher Fläche einen Knochensplitter hin und her, er wollte eine flache, lange und zweischneidige Speerspitze zurechtschleifen. Nach kurzer Zeit tat er die Arbeit beiseite. Seine Augen waren trocken und heiß vor Schlaf, und so legte auch er sich zur Ruhe, ohne einen Block Moderholz auf die Glut zu legen. Zum erstenmal hatte er es vergessen.


   Der Föhn

   Als die letzte Glut unter der Asche des vernachlässigten Feuers erloschen war, wurde es kühl in den Höhlen. Eva, deren einer Arm bloßgelegen hatte, erwachte im Morgengrauen und stieg fröstelnd über den Steinwall ihres Lagers, um nach dem Feuer zu sehen. Dichter Nebel erfüllte ihre Höhle; die Wände, an denen sie sich hinabtastete, troffen vor Nässe. Draußen schneite es, und der Wind hatte Schnee in die Höhlen geweht. Eva stocherte in der Asche der Feuerstelle. Plötzlich schrie sie auf: »Das Feuer ist aus, ganz aus!«
   Peter schnellte auf. Verflogen war seine Schläfrigkeit. Ungläubig kauerte er vor der Feuerstelle im Schnee. Kein Rauch! Kein Fünkchen Glut! Zitternd vor Aufregung und Kälte, hob er die vom Schnee feucht gewordenen angekohlten Holzreste vom Rand der Feuerstelle ab, drehte sie um, blies sie an, sie blieben schwarz.
   Vorsichtig streifte er die Asche beiseite, sie war noch lauwarm.
   Hoffend und bangend wühlte er weiter. Da schrie er plötzlich auf in Schmerz und Freude. Er hatte sich die Finger verbrannt. Tief unter der Aschenschicht war noch Glut!
   Rasch legte er sie bloß und streute trockenes Moos, Wacholderzweige und Fichtennadeln darauf, dann blies er erst vorsichtig und ein wenig später mit vollen Backen von einer Seite hinein und Eva von der anderen.
   Kleine Flämmchen schlugen aus der Glut und schlängelten sich an den harzreichen Reisern empor. Das neuerweckte Feuer leuchtete, knisterte, qualmte, reichlich genährt von den beiden Höhlenkindern. Und als die Flammen kniehoch emporzüngelten, da packte Peter Eva an den Schultern und schüttelte sie in einem Übermaß von Freude.
   In abgebrochenen Sätzen machte er sich Luft: »Das wär' was g'wesen! Zugrund hätten wir gehen müssen in der Bärenkälte. Das darf nicht mehr passieren! Der Schnee muß draußen bleiben!« Daß er vergessen hatte nachzulegen, verschwieg er. Als er Eva losließ, griff sie sogleich nach ihrem Wurzelbesen und kehrte den Schnee zu einem Haufen zusammen.
   Dann holte sie aus dem Allerlei ein Schulterblatt vom Hirsch und beeilte sich, den Schnee, der in der Wärme zu schmelzen begann, über die Steinbrüstung hinauszuschaufeln. Peter schickte sich gleich an, dem Schnee, dem er das Verlöschen des Feuers zuschob, den Zugang zu verwehren.
   Erst mußte er die lückenreiche Schutzmauer, die er am Eingang zur unteren Höhle aus losen Steinen kaum kniehoch aufgeführt hatte, zerklauben und daraus eine sichere Unterlage für den Weiterbau schaffen. Da er aber viel mehr Steine brauchte, als er hatte, war er gezwungen, neue herbeizutragen. Draußen lag der Schnee fußhoch. Gleich nach dem Frühstück suchte Peter im Bachbett aus dem groben Geröll die größten Trümmer heraus, verstärkte seinen Schlitten durch aufgelegte Quer– und Längshölzer und führte Steinbrocken herbei.
   Als er die meist abgerundeten Steine auf die Grundmauer legen wollte, erwiesen sie sich als untauglich. Besser waren flache, eckige, scharfkantige Bruchsteine, wie sie auf der Salzlehne herumlagen. Dorthin begab er sich. Den Schlitten ließ er auf der rechten Bachseite. Auf den Gangsteinen, die mit ihren Schneehauben weit aus dem seichten Wasser ragten, überschritt er den Bach. Mit Evas Schneeschaufel, die er an einen langen Stiel gebunden hatte, säuberte er einen Fleck der Schutthalde von Schnee und zerrte eine Anzahl Mergelplatten aus dem Gesteins-Schutt.
   Da er die Steine einzeln zum Schlitten tragen mußte, wurde ihm vom Schleppen gehörig warm. So arbeitete er tagsüber und nahm sich kaum Zeit, etwas zu essen. Erst in der Dämmerung fiel er über das Fleisch her, bastelte noch ein wenig im Schein des Feuers und schlief dann die Nacht durch. Am Abend des dritten Tages war die Mauer bis zur halben Höhe des Höhleneingangs gediehen.
   Nur an der Seite, wo Peter sein Lager hatte, standen die obersten Steine an der Höhlendecke an.
   Daneben war eine Lücke als Durchlaß für den Steigbaum, zu deren Verschluß ein aus Ruten geflochtenes, mit Fellen behängtes Türgitter eingefügt werden konnte.
   Am Morgen des vierten Tages war es unmöglich, draußen etwas zu unternehmen. Es schneite nicht, aber dicker, gelbgrauer Nebel erfüllte den Talkessel, die Luft schien zu stehen. Matt leuchtete die Sonne als rote Scheibe durch den Dunst, den ihre Strahlen nicht aufzulösen vermochten. So blieb es bis Mittag, dann wurde der Ausblick über den Talgrund frei, die Sonne brach durch die Nebelmassen und verzehrte sie.
   Als die Ostseite des Sonnsteins im Schatten lag, schien die Mittagssonne hell in die Tiefe des Heimlichen Grunds. Schneewasser tropfte von allen Zweigen und rieselte glitzernd an Ästen und Stämmen herab.
   Peter, der erst aus seiner Schlafgrube gekommen war, als Eva ihn zum Essen gerufen hatte, aß im Stehen und machte sich dann zur Salzlehne auf, um neue Bausteine zu holen. Er stapfte durch Schneematsch. Als er den Bach überschritt, fiel ihm auf, daß die Gangsteine verschoben und leicht überflutet waren. Der Bach rauschte lauter als sonst. Die Luft über dem Talgrund war so klar, daß Peter die Umrisse der drei Gipfel über den Klammwänden – Horn, Henne und Spitz – deutlicher sah als jemals. Über den Zinnen der Grabwände entstanden leichte Wölkchen und lösten sich rasch wieder auf. Dann bildete sich eine lange, massige Wolkenbank, die am Rande der Felsen zu kleben schien.
   Das alles sah Peter mit Befremden. Von Ahnls Zeiten her wußte er, daß der warme Föhn, der Schneefresser, auf den diese Vorzeichen gepaßt hätten, im Frühling wohl zu fürchten war, wo er große Schneemassen zum Schmelzen brachte. Jetzt aber war es Spätherbst, und es lag wenig Schnee.

 //-- * * * --// 
   Als Peter das Steinesammeln wieder aufnahm, bemerkte er, daß der Schnee zusehends schwand, und unter seinen Füßen und ringsumher raunten und rieselten Wässerchen. Von den einzeln stehenden Bäumen fielen große Tropfen wie nach einem Platzregen. Peter brauchte die Schaufel nicht mehr, die Steinplatten sahen naßglänzend aus dem Geröll hervor. Er nahm auf, was er heben konnte, und schleuderte es die Lehne hinab. Dabei wurde ihm sonderbar heiß. Noch schrieb er die Wärme seiner Anstrengung zu; aber eine seltsame Niedergeschlagenheit erfaßte ihn, eine angstvolle Unrast und Mattigkeit, die er nicht zu deuten wußte. Plötzlich horchte er auf: Ein gewaltiges Brausen ging durch die Luft. Und die Wolkenbank dort drüben am Rande der Grabwände hatte sich in Fetzen aufgelöst, die, vom Sturm gedrückt, über die Wandränder niederfegten zum Grund, wo sich noch kein Blatt regte.
   Dann stieß ein heißer Windstoß herab, der die Eschen und Fichten wie Schilfhalme bog; da und dort stürzte krachend ein Baum. Peter stand wie gelähmt. Gebannt sah er die rasende Bewegung der Wolkenfetzen, die der brausende Sturm von den Grabwänden zum Talgrund niederjagte und dann an der Südwand emporriß.
   Der Schnee um ihn her war ganz verschwunden. Plötzlich erschütterte ein donnerartiges Getöse, dem ein Prasseln und Knattern folgte, die Luft. War eine Lawine, ein Steinschlag niedergegangen? Ungewiß, ob nicht auch über ihm todbringende Massen in Bewegung geraten seien, stürzte Peter in langen Sätzen abwärts, durchwatete den stark angeschwollenen Bach und hastete nach seiner Höhle. Dort angekommen, hockte er sich hinter die Mauer ins Laub seines Lagers. Jetzt erst fühlte er sich geborgen. Eva kauerte sich schluchzend neben ihn. Er starrte wie betäubt vor sich hin. Draußen wuchs das Sausen und Brausen des Sturmes, der sich breit und massig auf den Urwald geworfen hatte. Bebend lauschten die beiden dem Krachen abgestorbener Äste, dem Niederwuchten toter Baumriesen.
   Über die niedere Schutzmauer drangen Sturzwellen der bewegten Luft in die Höhle ein, wirbelten die Asche der Feuerstätte hoch, zerstreuten die glimmenden Holzreste, fachten die Glut zu Flammen an und ließen die Feuerzungen gierig über den Boden lecken. Da fuhr Peter aus seiner Betäubung auf: Das Feuer durfte sich nicht ausbreiten, durfte die Stützen des Trockenbodens nicht ergreifen!
   Mit dem Wurzelbesen fegte Eva die verstreuten Kohlen gegen die Schutzmauer, kehrte sie auf ein Häuflein, bedeckte sie mit abgebrannten Stücken von Moderholz und beschwerte diese mit aufgelegten Steinplatten.
   Als Peter an der Mauer vorbei in seinen geschützten Winkel zurückkehren wollte, warf ihn ein Windstoß zu Boden.
   Er blieb liegen, stützte sich auf die Ellbogen und schaute, unbekümmert um den warmen Sturm, der in seinem Haar wühlte, hinaus in das Wogen der Baumkronen.
   Er sah geknickte Äste und Baumwipfel dahinfliegen, er lauschte dem Sausen, Klingen und Brausen des Sturmes, er hörte das grobe Bruchholz zur Erde stürzen.
   Da überkam ihn plötzlich eine Freude: Der Schneefresser arbeitete für ihn, schaffte ihm neue Vorräte an Brenn– und Werkholz, ersparte ihm unzählige Axtschläge! Was die Borkenkäfer an Bäumen getötet hatten, brach der Sturm nieder.
   Der Föhn tobte nicht lange. Unvermittelt trat wieder Ruhe ein. Die Bäume standen regungslos. Unten im Bocksgraben, wo die zwei Häute unter Laub und Steinen lagen, schoß gelbes Wasser dem Klammbach zu. Die Felle mußten gerettet werden!
   Trotz der Sorge, ein Steinschlag könnte ihn treffen, eilte Peter hinunter, fand die Felle noch unter den Beschwersteinen und kam mit ihnen heil zu Eva zurück. Während sie angstvoll warteten, was noch kommen würde, und in die unheimliche Stille des Grundes hinauslauschten, sahen sie den Bocksgrabenbach anschwellen. Bald schoß das lehmgelbe Wasser in der Höhe des Grabenrandes dahin. Es führte Rasenstücke und Schwemmholz dem Klammbach zu, aber auch ertrunkene Waldmäuse, Vogelleichen, Schneckenhäuser, Stauden von Alpenrosen und Heidekraut, Wurzelstöcke und ausgewaschene Zwiebeln. Peter litt es nicht mehr in der Höhle. Blitzschnell war er unten im neuen Rinnsal und fing alles auf, was er brauchen konnte.
   Zwei Alpenhasen warf er ans Ufer, eine Menge Lauchzwiebeln, einen Haufen Holz und Moos. In seinem Sammeleifer war es ihm entgangen, daß der Himmel sich verfinstert hatte. Erst als ein schwerer, lauer Regen auf seinen Rücken fiel, schaute er auf.
   Er schaffte das Erbeutete eiligst zur Höhle, wo es von Eva mit Jubel entgegengenommen wurde.
   Draußen rauschte der Regen. Eva trug dem Feuer neue Nahrung zu und umbaute es mit einer niederen Steinmauer. Dann bereitete sie das Essen, und Peter stellte das Schwemmholz zum Trocknen auf. Rings um die Feuerstelle stapelte er die nassen Knüttel, die bald zu dampfen begannen. Den Rest des Holzes schichtete er an der Schutzmauer und über sie hinaus bis zur Höhlendecke. Nur einige Lichtluken und den Eingang ließ er frei.
   Eva, die fleißig Scheiter und Zweige zugereicht hatte, zog sich, als die Dämmerung hereinbrach, müde in ihre Schlafkammer zurück. Peter aber arbeitete beim Licht eines brennenden Föhrenastes weiter. Er stäubte die glitschigen Rehfelle, deren Haardecke vielfach losgegangen war, tüchtig mit Asche ein und schnitt Ruten zu, um so bald wie möglich eine Trennungswand zwischen dem Herdraum und seiner Schlafstelle aufzurichten. Er wollte endlich vor der Rauchplage ein wenig geschützt sein. Bevor er seine Schlafgrube aufsuchte, zog er den Steigbaum herauf, versorgte das Feuer und schloß den Höhleneingang und den Aufgang zu Evas Kammer ab. Der eintönig niederrauschende Regen schläferte ihn ein.
   Als Peter am nächsten Tag die zwei geretteten Rehfelle am Bach schwemmte, fiel ihm ihr herber Rindenduft auf, der den üblen Fäulnisgeruch verdrängt hatte. Daß die Holzasche alle Haare glatt weggebeizt hatte, war für ihn eine nicht minder wertvolle Erfahrung. Das ältere Fell spannte er ans Gestänge des Trockenbodens; für das neuere vertiefte er einen aufgefüllten Tümpel.
   Schon am Nachmittag desselben Tages war der Bocksgrabenbach stärker angeschwollen und brachte viel Kleinholz, aber auch Baumstrünke mit, die Peter rasch einheimste.
   Als das nasse Holz in der Höhle zum Trocknen ausgebreitet war, füllte sich der ganze Raum mit Dampf, der sich an den Wänden zu Wasser verdichtete. Unbehaglich war's in den Höhlen. Ihre Umgebung war ungangbar, da der Bocksgrabenbach über seine Ufer getreten war. Die Höhlensiedler arbeiteten daheim und zankten sich. Peter ärgerte sich, daß viele getrocknete Beeren verschimmelt waren. Auch die gedörrten Pilze waren verdorben, sie rochen abscheulich. Vieles, was sie mit Mühe eingetragen hatten, mußte weggeworfen werden. Für den langen Steigbaum war die Höhle zu niedrig, und Eva mußte, auf Peters Schultern stehend, sich mit der einen Hand am Trockenboden festhalten und mit der anderen herumräumen. Peter, dem das zu langsam ging, verlor die Geduld.
   Er entschloß sich, einen der Baumstrünke aus dem Bocksgrabenbach zum Daraufsteigen zu richten, um nicht immer von Evas Hilfe abhängig zu sein. Das Zurechtzimmern des hüfthohen Strunkes, von dem die abstehenden Wurzeln abgehackt werden mußten, kostete Peter viel Zeit. Besonders hielten ihn die immer wieder notwendigen Ausbesserungen seiner Steinbeile auf, deren Schäftung mangelhaft war: Die Bindung lockerte sich während der Arbeit. Das Zurichten der Steinbeile war eine Nebenarbeit, die ihn von seiner Hauptaufgabe so ablenkte, daß er mehr Zeit auf das Ausprobieren neuer Bindungen verwendete als auf die Zimmerarbeit selbst. Endlich, nach zwei Tagen angestrengter Tätigkeit, war der Trockenboden in Ordnung. Das Flechten der Trennungswand, die den Rauch von den Schlafstellen abhalten sollte, konnte Eva allein besorgen. Inzwischen war das Schwemmholz halbwegs trocken geworden, und Peter begann mit der Verarbeitung.
   Einen bewurzelten Baumstrunk, der ihm bis zu den Ellbogen reichte, bestimmte er zum Werkstock, zwei kleinere zu Hockern. Die Betreuung des Feuers, das Trocknen und Schichten des Holzes überließ er jetzt Eva ganz. Dafür erfüllte er ihr den Wunsch, den Ausblick ihrer Kammer mit Steinen und Holz zu verbauen, so daß nur eine kleine Lichtluke blieb, durch die nicht viel Schnee eindringen konnte.
   Eva, die einen angeborenen Sinn für Ordnung besaß, bemühte sich, den Fußboden der unteren Höhle, der mit Zweigen, Rinden, Geräten und Werkzeugen übersät war, zu säubern.
   Das Allerlei schaffte sie in den rechten Hintergrund der Höhle und machte so einen Raum, der wegen der niedrigen Decke nicht begangen werden konnte, wenigstens als Lagerplatz für Dinge nutzbar, über die sie nicht immer stolpern wollte. Was sie an unbrauchbaren, übelriechenden Abfällen fand, das kehrte sie in den kurzen »Schiefen Gang«, jenen zuletzt entdeckten Höhlenausgang, aus dem sie leicht ins Freie geschafft werden konnten.
   Mit der Rumpelkammer war Peter einverstanden, als Eva aber auch die Aschen– und Holzreste hinüberkehren wollte, erhob er Einspruch.
   Die angekohlten Holzreste waren noch brauchbares Brennmaterial, und die Asche war nicht nur zum Reinigen der Hände notwendig, sondern auch zum Entfetten der Bälge. Er legte eine Aschengrube an und machte sich an die Bearbeitung der Fuchsbälge.
   Im Lehmboden seiner Höhle hob er eine kleine flache Grube aus, rührte darin aus Wasser, Salz, Lehm und zermürbtem Laub einen Brei an, rieb damit die Fuchsbälge auf der Fleischseite ein und breitete sie in der Nähe des unteren Schiefen Ganges aus; dort mochten sie eine Zeitlang liegen bleiben. Dann nahm er den fast in Vergessenheit geratenen Elsternbalg vor, den er zu einer Kopfbedeckung für Eva bestimmt hatte, scharrte den Rest des salzigen Lehmbreies aus der Grube und füllte damit die zukünftige Haube.
   Während der Arbeit an den Fellen erwachte in Peter die Jagdlust. Aber draußen rauschte noch immer der Regen nieder, Tag und Nacht, Nacht und Tag. Doch in den Wohnhöhlen gab es dringende Arbeit genug. Die nur flüchtig eingegrabenen Stützen des stark belasteten Trockenbodens zeigten eine bedenkliche Neigung umzufallen. Durch schräge Stäbe, die Peter einrammte und an die Stützen band, gab er dem Ganzen größere Standfestigkeit. Nachdem dies getan war, machte er sich wieder an die Felle, die unter dem ausgetrockneten Lehmbrei beinahe geruchlos, aber auch so hart geworden waren, daß sie erst eingefettet und mühsam weichgerieben werden mußten. Dann klopfte er die fast trocken gewordene Lehmmasse aus dem Elsternbalg, zog innen eine Waldrebenranke als Spannring ein, verband ihn mit den in die Flügel und den Kopf eingelassenen Stützruten, steckte ein paar abgeschliffene Granate als Augen in den Vogelkopf und freute sich, als Eva die Haube aufsetzte und sich im Spiegel des Wasserkorbes beschaute. Durch mancherlei Halsverrenkungen brachte sie es sogar fertig, auch den blaugrün schillernden Stoß, der ihr über den Nacken hing, im Spiegelbild zu sehen.
   Aus den beiden stärkeren Fuchsbälgen wollte Eva für Peter Kniestutzen machen, aus den zwei schwächeren Stutzen für sich selbst. Der fünfte Balg endlich sollte Evas neuer Muff werden. Das mit Moos ausgestopfte Hasenfell blieb jetzt ihre Kopfstütze.
   Der nächste Tag war, wie Peter an seinen Zeitstrichen ablas, ein Sonntag. Der Regen hatte schon in der Nacht aufgehört. Als die Nebel sich im Laufe des Vormittags verzogen hatten, war das Grasland am Bocksgrabenbach vom Wasser frei, und der helle Herbsttag lud die Kinder ein, ihre Höhle zu verlassen. Zum Grab der Ahnl wollten sie. Sorgfältig gewaschen und gekämmt, angetan mit ihren Winterkleidern, an den Füßen die neuen Schuhe, die Kniestutzen an den Waden, im Federschmuck ihrer Kopfbedeckungen stiegen sie, den Feuerkorb in den Händen, den Steigbaum hinab.
   Sie gingen langsam am Fuß der Höhlenwand den Bocksgrabenbach aufwärts.
   Schon waren sie am Fuchsenbühel angelangt, und noch immer konnten sie den Bach nicht überspringen. Aber auf dem unterwaschenen Ufer standen dicht beieinander zwei armdicke Tannen, die sich schräg über den Bach neigten. Wären sie drüben aufgelegen, so wären sie als Stegbäume brauchbar gewesen. Peter versuchte, sie niederzudrücken. Eva erriet seine Absicht. Gemeinsam stiegen sie die Bäume hinan, die Hände im Gezweig verkrallt; da gab das Ufer langsam dem Drucke nach, und die beiden Stämme legten sich sachte über den Bach.
   Diese Bäume sollten eine Brücke über das schmale, aber tiefe Bachbett werden, beschloß Peter, begnügte sich aber vorläufig damit, nur die paar aufragenden Wurzeln und Äste abzuschlagen. Dann belegte er mit Evas Hilfe die Brückenbalken mit aufgelesenem Prügelholz.
   Beim Grab, das von angewehtem Laub hoch überdeckt war, knieten sie nieder und verrichteten ihre Andacht. Sie hatten der Toten viel zu erzählen und dem Allmächtigen viel zu danken, aber auch viel von ihm zu erbitten. Der Winter war nicht mehr weit.


   Eva räumt auf

   In der Abenddämmerung des schönen Herbsttages kehrten die Kinder heim zum Feuer, müde und mit kalten Beinen, die nicht warm werden wollten. Da kam Eva, die beim Wegräumen der Asche festgestellt hatte, daß die Herdsteine heiß waren, auf den Gedanken, sich einen in das Laub ihres Lagers zu legen. Da sie ihn mit den Händen nicht fortschaffen konnte, half sie sich mit dem zu einem Doppelhaken gestutzten Astquirl eines starken Fichtenwipfels, und Peter machte es ihr nach.
   Die Wärmsteine zu Füßen, kuschelte sich jedes auf seinem Lager zusammen; sie spürten bald, wie das Kältegefühl wohltuender Wärme wich.
   Am nächsten Morgen unternahm Peter wieder einen Erntegang. Er war darauf gefaßt, in der Gegend der Südwand oder in einem neuen Steinschlag Bären zu begegnen, und hatte für sie einige Pfeile stark mit Harz bestrichen. Eva mußte daheim bleiben und das Feuer hüten.
   Bei der angefangenen Brücke am Bocksgrabenbach angelangt, dessen Wasser bereits stark gesunken war, flocht er, um das Brücklein zu festigen, von beiden Ufern her lebende Waldrebenranken seitlich um Querhölzer und Balken. Das Gezweig der langen, auf dem Boden liegenden Wipfelenden beschwerte er mit Steinen und Rasenstücken, und von den Wurzeln der Bäume schlug er so viel weg, daß die Brücke für den Schlitten befahrbar wurde. Er füllte den Ufereinbruch mit Steinen aus, so daß alles hüben und drüben fast eben ins Gelände eingebaut war.
   Mit wiegenden Schritten ging er versuchsweise auf der Brücke hin und her, bevor er seinen Weg zum Laubwald auf der Sonnleiten fortsetzte. Als er in großer Entfernung an einer der niedergegangenen Steinlawinen vorbeikam, sah er zwei alte und einen jungen Bären sowie Geier und Krähen beim Fraß. Er wagte nicht, ihnen die Beute streitig zu machen. Obwohl das Raubwild ihn auch bemerkt hatte, ließ es ihn unangefochten vorbei. Seinem Feuerkorb, auf dessen Glut er Gras und dürre Blätter gelegt hatte, entquoll dicker, gelblicher Rauch. Klopfenden Herzens setzte Peter seinen Weg am oberen Rande des Laubwaldes fort. So kam er zur Südwand.
   Dicht an einer großen Höhle, die er zum erstenmal näher sah, ging er vorbei. Aus der herumliegenden Losung und einer Menge gebleichter Knochen, die als Fraßreste darunter lagen, schloß er, daß hier die Bären hausten. Einige Wildschweinknochen nahm er mit, die konnte er brauchen. Er drang in den Laubwald ein.
   Hin und wieder hörte er im Laub ein Rascheln, das von irgendwelchen darunter laufenden Wesen herrühren mochte.
   Anfangs getraute er sich nicht, nach den unsichtbaren Tieren zu greifen, die ja auch giftig sein konnten; als er aber ein zwitscherndes Piepsen und Pfeifen vernahm, verlor er die Angst, griff rasch mit beiden Händen hinein und warf die Blätter in die Höhe. Ein schwarzes Tierchen, das mit emporgeworfen wurde, schlug er mit der flachen Hand tot. Es glich einer Maus, hatte aber ein spitzes Rüsselchen und verbreitete einen widerlichen Geruch. Nun, der Geruch mochte sich beim Braten verlieren, Peter hängte die kleine Beute mit einer Darmschlinge an den Lendengurt. Im Weitergehen fand er im Laub massenhaft benagte Ulmenfrüchte, Eicheln, Kastanien und Bucheckern. Nach und nach fing er noch vier dieser Spitzmäuse. Ihr glänzendes Fell gefiel ihm. Aus vielen kleinen Bälgen konnte sich Eva etwas nähen.
   Er betrat eine kleine Lichtung, wieder rührte sich etwas unter dem Laub. Ein Griff: abermals eine Maus! Sie war gelbbraun, stumpfschnäuzig und auffallend langgeschwänzt; es war eine Waldmaus.
   Kaum hatte er sie erschlagen, als sich eine zweite bemerkbar machte. Nach und nach fing er noch fünf Waldmäuse. Sie entstammten offenbar einem unter einer Hasel aufgedeckten Nest. Beim Ausräumen fand er einen Vorrat von angenagten Waldfrüchten, darunter auch – Holzbirnen! Wirklich und wahrhaftig Holzbirnen, wie sie einst die Ahnl von ihren Streifereien eingetragen hatte und im Laub ihres Lagers eingelegt weich werden ließ und so genießbar machte.
   Er versuchte eine vom Liegen nachgereifte, braune: Sie war süß und überaus saftig, ein wahrer Leckerbissen. Davon mußte er mehr haben. Die Bäume konnten ja nicht weit sein.
   Eifrig suchend ging er den Waldrand entlang und fand fast kreisrunde, violettbraune, glänzend lederige Blätter, die nur von Holzbirnbäumen herrühren konnten. Sie waren die Halde herabgeschwemmt worden; die gesuchten Bäume mußten also weiter oben stehen. Er ging wieder bergauf und drang am oberen Rande der sonnigen Leiten in den Wald ein. Nach wenigen Schritten sah er einen der dunklen Bäume fast entblättert vor sich, und unter ihm gab es walnußgroße Birnen genug. Die meisten waren überreif, braun und – wie er sich gleich überzeugte – wohlschmeckend, viele aber schwarzbraun, vergoren, verdorben. Es hatte zu lange geregnet. Nur wenige waren grün und gelblich, hart und noch ungenießbar. Was er an Früchten vom Gezweig erreichen konnte, pflückte er ab.
   Mitten im Sammeln blieb Peter wie angewurzelt stehen. Er starrte auf eine zerquetschte Birne am Boden. Die hatte jemand zertreten!
   Bald wußte er, wer vor ihm geerntet hatte und plump herumgetappt war. Da lag Losung mit unverdauten Obstkernen. Peter befand sich im Bereich der Bären, als ungeladener Gast! Noch waren sie drüben beim Fleischfraß an der Steinschlaglehne. Wenn nun einer unversehens zurückkam, was dann?
   Rasch fegte Peter ein Fleckchen Erde vom Laub rein und fachte ein Schutzfeuer an. Dann legte er die harzgetränkten Pfeile bereit.
   Kein Bär ließ sich blicken.
   Als Peter seinen Buckelkorb mit Holzbirnen gefüllt hatte, briet er eine Handvoll der braunen, süßen Früchte. Nach dem Mahl kehrte er vorsichtig und auf schnellstem Wege durch die einbrechende Dämmerung heim. Eva lachte die Freude über die Nachernte an gutem Obst aus den Augen. Jetzt sollten sie auch noch gedörrte Birnen haben!
   Für die Höhlenkinder gab es kein größeres Glück als gutes Essen im warmen Heim. Die mitgebrachten Mäuse waren Eva hochwillkommen. Sie freute sich auf das frische, zarte Fleisch, das wieder einmal anders schmecken würde als das hartgeräucherte Rehfleisch.
   Im hellen Lichte dreier Kienspäne wurden die Tierchen abgehäutet. Während Peter die zarten Bälge mit einem Brei aus Salz und Lehm bestrich und mit Moos ausstopfte, machte sich Eva daran, die elf kleinen Leiber auszuweiden und zu salzen. An einer frischen Weidengerte aufgereiht, wurden sie über dem Feuer gedreht. Peter, der einen der kleinen Braten versuchte, mußte sich fast erbrechen: Das Fleisch stank unerträglich. Verärgert betrachtete er das Köpfchen des Tieres. Im dünnen Schnäuzchen waren keine Nagezähne, keine Lücken hinter den Vorderzähnen, sondern dicht aneinandergereiht viele spitze Zähnchen. Aha, das war eine Spitzmaus! Sie hatte also ihren Gestank bewahrt. Er warf sie ins Feuer und beeilte sich, einige Wacholderbeeren zu kauen, um den üblen Nachgeschmack zu vertreiben. Eva erging es besser. Sie hatte für sich eine Waldmaus erwischt, und die schmeckte vortrefflich. Peter, der jetzt mit Nase und Augen Stück für Stück untersuchte, warf die ungenießbaren Spitzmäuse ins Feuer und nahm sich vor, die kleinen Stinktiere in Zukunft laufen zu lassen. Die Waldmäuse aber schmeckten ihm so, daß er sich die Finger danach leckte. Eine Handvoll Haselnüsse und Birnen vervollständigten das Mahl.
   Als es vorbei war, fragte Eva, indem sie mit der Hand einen Bogen rund um sich her beschrieb: »Ja, Peter, merkst du denn nicht, was ich inzwischen gemacht hab'?«
   In der Höhle war eine Ordnung wie nie zuvor. Der Boden war reingefegt, die mit Mergelplatten ausgelegte Feuerstelle mit sorgfältig aufgelegten Steinen umbaut, Evas Küchengerät und ihre Würzkräuterbüschel hingen wohlgeordnet an den Aststummeln der Trockenbodenstützen. Aus einem Sandhaufen sahen die Blattschöpfe eingelegter Schwarzwurzeln, Wegwarten und wilder Mohrrüben.
   An der rechten Höhlenwand standen der gefüllte Wasserkorb und die neuen Tragkörbe.
   Nah am Feuer waren die Hocker untergebracht, und vor der größten Lichtluke der Außenmauer stand Peters hoher Arbeitsstock – eine wohltuende Ordnung, wohin das Auge schaute.
   »Gut hast's g'macht, Eva«, sagte Peter anerkennend.
   Glücklich über sein Lob, erzählte sie ihm, was ihn auch noch freuen mußte. Sie hatte das alte Laub seines Lagers in den Schiefen Gang geräumt und seine Schlafgrube hoch mit trockenem Moos gefüllt. Die Bettdecken aus Eichhornfellen, die bei feuchtem Wetter so unangenehm rochen und deren Nähte vielfach aufgegangen waren, hatte sie durch Rehhäute ersetzt. Einen vorbereiteten Hasenbalg hatte sie gereinigt, eingefettet und mit dürrem Moos ausgestopft: ein Kopfkissen für Peter. Evas Augen leuchteten voll Stolz, während sie aufzählte, was sie alles fertiggebracht hatte.
   Da faßte Peter sie bei beiden Händen und sprach ihr die höchste Anerkennung aus, die er ihr sagen konnte: »Everl, wenn das die Ahnl erlebt hätt', daß du so g'scheit und fleißig geworden bist, die hätt' sich gefreut!«


   Jagd im Schnee

   Der sonnige Spätherbst lockte die Höhlenkinder hinaus, im Laubwald Nachernte zu halten. Sie fühlten sich im Umkreis des qualmenden Schutzfeuers sicher.
   Acht Körbe voll überreifer Birnen hatten sie, die mußten rasch gedörrt werden. Peter erhöhte die Herdumfassung und deckte sie mit quer aufgelegten Mergelplatten, auf denen die Birnen braten konnten. So war aus dem offenen Feuer ein geschlossener Herd geworden, freilich nur vorübergehend, weil die Steinplatten in der Hitze barsten.
   Den schönen Spätherbsttagen folgten ganz unvermittelt Schneestürme. Sie brachten sausende und klingende Massen von harten, glitzernden Nadeln und Sternchen, die an den Wänden niederfegten und in stäubenden Schwaden die Halden entlangwirbelten.
   Am Fuße der Höhlenwand häuften sich die Schneewehen, wurden fortgetragen und häuften sich von neuem kniehoch, mannshoch. Eisiger Sturm drang durch die Fugen der Schutzmauer und wehte den feinen Schnee in die Höhle.
   Als Peter versuchte, die Höhle zu verlassen, um den Vorrat an Brennholz zu ergänzen und Trinkwasser zu holen, sank er bis zu den Schultern im lockeren Schnee ein.
   Mühsam arbeitete er sich am Steigbaum empor und erklärte, von Kälte geschüttelt: »So geht's nicht.«
   Und doch mußte er Mittel finden, zum Bach und in den Wald zu gelangen. Trinkwasser und Holz mußten beschafft werden. Der Schnee stillte den Durst nicht, und das nimmersatte Feuer durfte nicht ausgehen.
   Da erinnerte er sich an seine Erlebnisse im Moor. Beim Aufrechtgehen war er eingesunken, beim Kriechen auf allen vieren hatte ihn der schwingende Boden getragen. Könnte er sich nicht auf dem Bauch über den Schnee fortbewegen? Wenn er seine Sohlen verbreiterte? Womit?
   Er mußte sich große Tragsohlen flechten. Da er nicht in den Wald gehen und schmiegsame Gerten holen konnte, zog er aus dem Trockenboden vier fingerdicke Fichtenzweige, die noch frisch und biegsam genug waren. Aus schwach gekrümmten Zweigen stellte er zwei Rahmen her, indem er die Enden mit Darmsaiten umwickelte.
   Dann holte er aus dem Allerlei ein Bündel Waldreben und einige Balgabfälle. Mit den Ranken verflocht er die Rahmen kreuz und quer, zerschnitt die Fußenden von Rehfellen zu breiten Streifen, fettete sie ein und machte sie als Bindung fest.
   Als Wassergefäße hängte er sich die größten Steinbockshörner an Darmsaiten um den Hals. So ausgerüstet, wagte er den Gang ins Freie.
   Die plumpen Schneeschuhe an den Füßen, hangelte er sich an den Aststummeln des Steigbaums hinunter, während er die Knie gegen den Baum stemmte.
   Auf dem lockeren Schnee unten sank er nur wenig ein.
   Da lachte er vor Freude, obwohl der Wind ihm die Schneenadeln durch jeden Ritz seines schlecht schließenden Fellkleides trieb.
   Nachdem Eva ihr Wasser hatte, wühlte er den Schlitten aus dem Schnee, ließ sich die beste Steinaxt und den Feuerkorb herunterreichen, die er beide auf dem Schlitten festband, und fuhr dem Walde zu. Beim Abschlagen dürrer Äste flog ihm das Steinbeil aus der Bindung und versank irgendwo im Schnee, wo es nicht zu finden war. Verdrossen schleppte er einen riesigen Haufen Streuholz zusammen und band es auf dem Schlitten fest, so hoch er reichen konnte.
   Langsam setzte er seine Last in Bewegung. Nicht ohne Gefahr, vom Wind umgeworfen zu werden, kam der hochbeladene Schlitten über die Brücke. Keuchend und prustend, an abschüssigen Stellen den Schlitten im Kreuz, strebte Peter am Bocksgraben abwärts der Höhle zu.
   Krampfhaft umklammerten seine kältestarren Finger die Schlittenkufen. Als er endlich vor der Höhle hielt, waren Hände und Füße gefühllos geworden. Eva mußte ihm die Schneeschuhe losknüpfen. Ihr überließ er das Abladen und Schichten des Holzes, kauerte sich verdrossen in seine Schlafgrube und versuchte, warm zu werden.
   Erst als die Herdmauern förmlich glühten und Peter das dampfende Holz aus ihrer Nähe schaffen mußte, war die Wärme im Höhlenraum gleichmäßiger.
   Peter dachte an die Plage seiner Schlittenfahrt, an die Angst, seine Finger zu erfrieren. Die Hände brauchten einen Schutz! Er beschloß, sie in Zukunft mit Eichhornfellen zu umwinden.
   Da es ihm nicht gelingen wollte, die Häute auch nur annähernd auf die gewünschte Weite zu dehnen, machte sich Eva daran, aus zwei Bälgen, die mit den Haarseiten zusammengelegt wurden, erst einmal den Fäustling für die rechte Hand zu nähen. Er wurde ein Sack, von dem ein unförmiger Daumen abstand. Peter lachte, war aber zufrieden und brachte ihr zwei andere Bälge für die Linke. Er überließ ihr die Arbeit ganz, während er für sein verlorenes Steinbeil einen Ersatz suchte.
   Die Darmbindung hielt die Wucht der Schläge nicht aus, das wußte er nun. Wie war das doch mit Evas Fleischklopfer? Richtig, Eva hatte einen Schaft in das Markloch eines Wirbels geschoben – sollte er es nicht noch einmal versuchen, einen Steinkeil zu durchlochen und einen Schaft einzutreiben? Daß er einen Hartsteinbohrer nicht mit der bloßen Hand durch den Steinkeil bringen konnte, war ihm klar; die Drehung mußte rascher und anhaltender sein. Zunächst suchte er nach einem Steinkeil, der sich leichter bearbeiten ließ als die quarzigen Steine. Im Allerlei fand er den grob keilförmigen grünen Serpentin aus dem Neuen Steinschlag. Mühsam versuchte er, ihn an einer Sandsteinplatte zu einem möglichst flachen Beil zu schleifen. Das ging aber so langsam, daß er es nach redlicher Plage aufgab und sich mit dem Ergebnis begnügte: einem plumpen Gebilde, das ungefähr einem Beil glich. Als wuchtige Schlagwaffe mochte es recht brauchbar sein. Er klemmte es in eine Ritze des Werkstrunks, hockte sich davor, umklammerte den Strunk mit beiden Fußsohlen und setzte die Steinspitze seines Pfeils an die Bohrstelle. Dann nahm er den Schaft des zum Bohrer gewordenen Pfeils zwischen die Handflächen und versetzte ihn in eine quirlende Drehung.
   Wohl entstanden an der Bohrstelle Kratzer im Stein, aber immer wieder glitt die Spitze des Pfeiles ab. Peter legte einen Rehwirbel über die Bohrstelle, kittete ihn mit Wachs und Harz fest, steckte die Bohrerspitze durch das Markloch des Wirbels und zwang sie so, beim Drehen an derselben Stelle zu bleiben; jetzt schien ihm das Gelingen nur noch eine Frage der Zeit und der Geduld.
   Erst als er die Hände nicht mehr bewegen konnte, nahm er die Führung ab und stellte fest, daß er sehr, sehr wenig ausgerichtet hatte. Die Kratzer waren noch immer Kratzer.
   Entmutigt legte er sein Bohrgerät hin und suchte Trost in der Mahlzeit, die Eva bereitet hatte.
   Die angefangene Arbeit ließ ihm keine Ruhe. Nach dem Abendessen nahm er die Bohrversuche wieder auf, wobei Eva ihn ablösen mußte, wenn er nicht mehr konnte. Da er meinte, durch starken Druck auf den Bohrer mehr auszurichten, mußte Eva einen Knochen mit der Gelenksgrube gegen das obere Ende des Bohrers drücken, während er weiter quirlte.
   Sobald er müde wurde, löste Eva ihn ab, und er übernahm das Aufdrücken. Lange, lange arbeiteten sie so. Plötzlich zerbrach der Pfeilschaft, und das Ergebnis ihrer Mühe war so kläglich, daß sie verstimmt und entmutigt schlafen gingen. Wieder ein Fehlschlag?
   Während Peter grübelnd und schlaflos in seiner Grube lag, begann es draußen wieder zu schneien. Es war windstill. Sacht fielen die Flocken und breiteten eine lockere Decke über den Heimlichen Grund.
   Am nächsten Tag frühstückten die Höhlenkinder sehr spät und freuten sich über ihr warmes Zuhause. Der Schnee hatte alle Fugen der Schutzmauer und der Gittertür ausgefüllt und lag handhoch in den Lichtluken. Peter nahm seine Bohrarbeit wieder auf, kam aber nicht viel weiter. Er legte den angeritzten Steinkeil samt dem Bohrer ins Allerlei und holte ein älteres Steinbeil hervor, das in einen gabelig verzweigten Ast gebunden und festgekittet war.
   Gegen Mittag hörte der Schneefall auf. Der Himmel war wolkenleer und von leuchtender Blässe. Frostige, klare, regungslose Luft lag über der flaumigen Schneedecke, die alle kleinen Unebenheiten des Bodens ausgeglichen hatte. Während Eva an einer Fellmütze für Peter nähte, fuhr er hinaus, Brennholz zu holen. Am Schlitten hatte er lange Riemen aus Beinfellen befestigt.
   Von den Bären war bei der eisigen Kälte nichts zu befürchten, die schliefen in ihren Höhlen. Ohne Feuerkorb, nur mit seinem Arbeitsgerät und den Waffen ausgerüstet, stapfte der Junge vor seinem Schlitten den Bocksgraben aufwärts, dessen seichtes Wasser tief zwischen den überhängenden Schneepolstern seiner Ufer dahinmurmelte.
   Glücklich kam Peter mit seinem Schlitten über die hochbeschneite Brücke und in den Wald, wo er die Schneeschuhe abschnallte, weil unter den Bäumen nur wenig Schnee lag.
   Unverzüglich ging er daran, das unter der dünnen Schneedecke liegende Bruchholz zu sammeln und gleich auf dem Schlitten zu verstauen.
   Schon hatte er die Schneeschuhe wieder angeschnallt und hielt die aufgebogenen Kufen des hochbeladenen Schlittens in den Händen. Da ließ ihn ein Knistern, das ein leichter Windhauch vom Waldrand herübertrug, aufhorchen. Dort, wo im Schutz der hohen Bäume der Schnee das Bodenreisig nur wenig deckte, wurden dürre Zweige niedergetreten. Wer ging da?
   Mit einem Schritt war Peter hinter dem nächsten Baum in Deckung und spähte hinüber. Ach, ein schwacher Rehbock, dessen graues Winterkleid sich kaum vom kümmerlichen Buschwerk abhob! Ruhig knabberte der Bock an der Rinde einer Haselstaude. Sein kleines Gehörn, das aus je einer stumpfen Stange bestand, war im Bast, war von Haut und Haaren bedeckt.
   Noch stand das Wild zu weit.
   Sachte nahm Peter den Bogen von der Schulter, legte einen Pfeil mit wuchtiger Steinspitze auf die Darmsaite und schlich sich, von Baum zu Baum Deckung nehmend, lautlos an. Je mehr er sich dem Bock näherte, um so stärker wehte ihm der Wind entgegen.
   Mit klopfendem Herzen stand er endlich in Schußweite. Die Hand zitterte am Bogen. Trippelnd äste der Bock am Gesträuch. Jetzt stand er auf den Hinterläufen, stemmte den linken Vorderlauf gegen eine Astgabel und reckte den Hals, um das junge Gezweig zu erreichen! Jetzt bot er dem Jäger die Flanke! Peters Arme strafften sich, und im nächsten Augenblick schwirrte der Pfeil von der Bogensehne. Er drang dem Tier tief in die Weichteile.
   Mit einem Satz sprang der Getroffene auf und flüchtete in langen, zuckenden Sprüngen. Von den Schneeschuhen behindert, konnte Peter nur langsam folgen. Er blieb weit zurück.
   Das schwerverwundete Tier hielt im Laufen ein, unschlüssig, wohin es sich wenden sollte. Da verließ der Jäger die blutige Spur und schlug einen Bogen gegen die Südwand zu. Dorthin sollte das Tier nicht flüchten.
   Mit lautem Geschrei trieb er es vor sich her, dem Graben zu. Langsamer wurden die Bewegungen des weidwunden Bocks. Es gelang ihm nicht, durch den tiefen Schnee des offenen Geländes zu kommen, er strebte deshalb zum Waldrand zurück. Peters Geschrei trieb ihn zum Bachbett, wo er erschöpft mit zitternden Flanken im Schnee steckenblieb. Da traf ihn die gutgeworfene Steinaxt des Jägers im Genick, und mit der überhängenden Schneewehe stürzte er ins Bachbett.
   Peter freute sich, ein so junges Tier erbeutet zu haben; das Fleisch mußte noch zart sein. Endlich langte er mit seiner Last bei Eva an und prahlte mit den überwundenen Schwierigkeiten.
   Eva sparte nicht mit ihrer Bewunderung. In ihre Freude mischte sich aber tiefes Mitleid mit dem anmutigen Tier; sie konnte nicht anders, sie mußte den Kopf des Rehes streicheln, dessen Augen noch im Tode schön waren.
   Auch sie konnte sich vor Peter ihrer Arbeit rühmen. Sie stülpte ihm eine aus allerlei Bälgen zusammengesetzte Mütze auf den Kopf und stemmte beide Arme in die Hüften. »Siehst du!« sagte sie, sehr mit sich zufrieden. Beide waren stolz aufeinander.
   Peter, der jetzt erst an den Füßen fror, streifte seine durchweichten Dachsschwarten ab, rieb seine Füße kräftig mit Schnee und wühlte sich in seine Schlafgrube ein.
   Die gebratene Zunge des Rehbocks war eine arge Enttäuschung. Zusammengeschrumpft, hornig hart und ungenießbar lag sie reizlos auf der Mergelplatte. Um so besser schmeckten die gerösteten Kastanien.
   Während des Essens liebäugelte Peter mit seiner Beute und überlegte, wozu er den neuen Balg am besten verwenden könnte.
   Eva, die darüber klagte, daß der Wasserkorb, dessen Harzbelag abbröckelte, das Wasser durchsickern ließ, brachte ihn auf einen neuen Gedanken.
   Wie wär's, wenn er die Haut des Bocks nicht auf der Bauchseite schlitzte, sondern nur in der Hals– und Schultergegend und sie im ganzen abzöge, wie er kleinere Tiere abzubalgen pflegte? Wenn der Kopfteil abgeschnitten wurde, ließ sie sich als Wasserschlauch gebrauchen.
   Noch kaute Peter am letzten Bissen, als er schon an der Arbeit war. Mit Evas Hilfe häutete er den Bock ab. Kopf und Laufenden schnitt er weg und band die Öffnungen fest zu.
   Dann machte er aus altem Laub, Rindenstücken, Salz, Asche und Schnee einen Brei an, füllte damit den umgestülpten Rehbalg und hängte diesen im Schiefen Gang auf.
   Dann hieß er Eva, am Bach das Gedärm des Bocks zu reinigen und die Harnblase aufzublähen. »Nimm meine Schneeschuhe«, sagte er, »daß du gut 'nunterkommst.« Eva wollte nicht gehen. Da trieb er sie hinaus. Er brauchte die Tageszeit, um an der neuen Steinaxt zu arbeiten. Wenn er den grünen Stein auch noch nicht zu durchbohren vermochte, so wollte er ihm wenigstens eine scharfe Schneide anschleifen.
   Den Steinkeil selbst hatte er in einer Fuge des Arbeitsblockes festgeklemmt. Mit beiden Händen führte er ein längliches, flaches Sandsteinstück darüber hin und her. Der grünliche Schleifstaub stieg ihm so lästig in die Nase, daß er den Steinkeil immer wieder mit Wasser begoß; dabei merkte er, daß der feuchte Stein sich besser schleifen ließ als der trockene.
   Bevor er viel ausrichten konnte, kehrte Eva zähneklappernd zurück; ihre Knie zitterten vor Kälte, so daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Sie warf die oberflächlich gereinigten Eingeweide auf den Boden, streifte mit steifen Fingern die Schneeschuhe ab und wollte in ihre Kammer hinauf. Peter aber, der über ihr Aussehen erschrocken war, rieb ihre Füße und Hände mit Schnee ab.
   Eva verkroch sich alsbald in ihrem Lager. Sie kauerte sich unter ihrem Rehfell zu einem Knäuel zusammen und hauchte in die gefalteten Hände. Da fiel Peter ein, daß er den beladenen Schlitten holen mußte. Er beeilte sich damit, um Eva nicht lange allein zu lassen. Als er zurückkam, zitterte sie noch immer vor Kälte.
   Da machte er sich daran, zwei Schulterstücke des Rehböckchens vielfach zu schlitzen und mit Wacholderbeeren, Lauchschnitten, Salz und Quendel zu würzen. Das sollte ein Braten werden!
   Noch war er nicht fertig, als Eva leise, mit kaum verständlicher Stimme rief: »Peter, Peter, mir – ist – ist – sooo – ka-alt!«
   »Ich bring' dir gleich was Warmes zum Essen!« rief er hinauf und fuhr fort, die an einen grünen Stab gespießten Fleischstücke über dem Feuer zu drehen. Während der halbgare Braten ein wenig abkühlte, belegte er den Rand des Feuers mit Kastanien. Auf einer Mergelplatte trug er dann die Rehschulter, umgeben von halbverkohlten Kastanien, zu Eva hinauf, und sie grub ihre Zähne in das noch dampfende Fleisch.
   Peter nickte ihr befriedigt zu: »Essen, Eva, essen – das macht warm!« Dann holte er sich auch seine Mahlzeit herauf. Diesmal aßen beide mehr, als zur Stillung des Hungers nötig war.
   Als Eva die letzte Kastanie verzehrt hatte, schob sie Peter die leere Steinplatte zu: »So, gut war's, jetzt ist mir wärmer. Nur für die Fuß' hätt' ich gern einen Wärmstein.«
   Peter beeilte sich, ihr nicht einen, sondern gleich drei Wärmsteine zu bringen, die er nacheinander im Traghaken heraufschleppte und, heiß wie sie waren, ihr zu Füßen ins Moos bettete.
   Bevor er selbst zur Ruhe ging, grub er für den Rest des Bocks draußen eine Grube unterhalb der Schutzmauer. Wie gut hatte das ungeräucherte Fleisch des jungen Tieres geschmeckt! Auch das übrige sollte frisch genossen werden. Die Fleischgrube beschwerte er mit Steinen.


   Die Schlagfalle

   Nun kam eine schlimme Zeit, Eva wurde krank. Zerschlagen, fröstelnd, von bohrenden Kopfschmerzen und Schnupfen gequält, lag sie in ihrer Schlafgrube. Es war so grimmig kalt, daß in den Nächten die Füchse bellten und in den Höhlen dicker Nebel stand, während draußen das Frostwetter die Luft weithin klar und durchsichtig machte. Eva hegte einen Groll gegen Peter, der sie in die nasse Kälte hinausgetrieben hatte und so an ihrer Erkrankung schuld war. Seine Pflege war rührend, aber unzulänglich, mindestens anfangs. Er legte ihr erhitzte Steine in das Lagermoos; sie nahm es dankbar hin. Doch seinem Vorschlag, allerlei herbe Kräuter zu kauen, folgte sie höchst ungern. Sie schmeckten so abscheulich bitter, daß Eva nach kurzer Zeit genug hatte und weitere Heilversuche rundweg ablehnte. Nur die hellste Zeit des Tages verbrachte sie außerhalb ihres Lagers und bereitete die Mahlzeiten. So zog sich ihr Zustand wochenlang hin. Anfangs blieb Peter noch ganze Tage daheim und bearbeitete die Felle oder schliff an seinem Beil. Auch die Versuche, das Steinbeil zu durchlochen, nahm er wieder auf, ohne viel zu erreichen. Schließlich aber mußte er den Vorrat an Brennholz und Fleisch erneuern.
   Auf seinen Streifzügen in der Nähe der Eichenbestände am Alten Steinschlag stieß er auf einen Wildschweinwechsel. Wie ein Hohlweg führte er durch die Schneemassen. Peter entschloß sich, dort eine Falle aufzurichten, wie er sie in schlaflosen Nächten ausgedacht hatte.
   Als Schlagbolzen, der über der engsten Stelle des Wechsels hängen sollte, hackte er ein armlanges, schenkeldickes Stück einer Föhre zurecht und ließ vom Astquirl spannenlange Stummel daran; an die wollte er Steine binden, um die Wucht des Bolzens zu steigern, in dessen unteres Ende er eine Hartsteinspitze schäftete. Aus Bocksgedärm drehte er ein langes Seil, das stark genug sein mußte, das Gewicht großer Fallsteine zu tragen. Es sollte, über den Wechsel gespannt, den Weg versperren und, unter einer Baumwurzel durchgezogen, am Stamm des nächsten Baumes bis zum ersten Ast und an ihm bis zu einer Gabelung geführt werden. Dort mußte der Schlagbolzen fallbereit befestigt werden. So weit war Peter mit seinen Überlegungen, als er im Schutz seines qualmenden Feuerkorbes die Falle in den Wechsel einbaute. Noch wußte er nicht, wie er den Schlagbolzen anbringen sollte, damit dieser bei einer Berührung des Seiles niedersauste. Er verließ sich darauf, daß ihm schon noch etwas einfallen werde.
   Durch einen Zug unten am Seil mußte dem Bolzen oben der Halt entzogen werden. Also befestigte er am oberen Ende des Spannseiles einen zwei Finger dicken, glattgeschabten, gut eingefetteten Gleitpflock, um den er die Tragschlinge des Schlagbolzens legen wollte. Quer über den Schenkeln der Astgabel, genau über der Mitte des schmalen Wechsels, band er Hölzer fest, die den vom Schlagbolzen beschwerten Gleitpflock tragen sollten.
   Endlich war es soweit; der Schlagbolzen hing so hoch über dem Spannseil, daß Peter die Stummel des Astquirls gerade noch mit den Händen fassen konnte. Nun holte er von der nahen Schutthalde des Alten Steinschlags Felsbrocken, die er am Quirl des Bolzens befestigen wollte. Vorsichtig versuchte er, ein schenkeldickes Felsstück von halber Armlänge an dem Aststummel festzubinden, ohne daß der Gleitpflock oben aus seiner Lage käme. Aber mit den kältestarren Fingern legte er den Stein so unvermittelt auf, daß der Bolzen ins Schwingen und der Gleitpflock aus seiner Lage geriet; im nächsten Augenblick sausten Stein und Bolzen herab. Nur der Schwingung des Bolzens hatte es der Fallensteller zu verdanken, daß der schwere Stein ihm nicht die Zehen zerquetschte, sondern sich dicht vor seinen Füßen in die Erde bohrte. Das war ein schöner Schreck für Peter! Immerhin, die Schlagfalle war gelungen. Ehe er sie richtete, trabte er heim, um Köder zu holen. Gegen Abend, als der Schneefall aufgehört hatte, kehrte er zu der Falle zurück und streute in Schrittabständen Kastanien auf den Wechsel, und zwar vor und hinter der Falle. Dann erst kletterte er mit einem Fellstreifen, an dessen Ende er den Schlagbolzen angebunden hatte, auf den Baum, der das Spannseil führte, hangelte am Ast seitwärts bis zur Traggabel, zog den Bolzen auf und hängte ihn mittels der Tragschlinge an den Gleitpflock.
   Vorsichtig kletterte er hinunter und machte sich ans Beschweren des Schlagbolzens. Durch sein vorheriges Mißgeschick gewitzt, verhinderte er das Schwanken des Bolzens, indem er wiederholt je zwei Steine gleichzeitig rechts und links auflegte, soviele der Quirl halten konnte.
   Der tragende Ast bog sich unter dem Zug der Steinbrocken, das Spannseil war gestreckt. Ehe Peter die Falle verließ, verwischte er seine Spuren im Schnee und kehrte heim.
   Als sich am anderen Morgen der Nebel von den Hängen löste, trabte Peter voll Zuversicht vor seinem Schlitten her, der Südwand zu. Aus dem mit Laub und grünen Fichtenreisern bedeckten Glutkorb quoll der Rauch in dicken Schwaden und trieb, vom Wind erfaßt, vor ihm her. Bei der Falle fand Peter ein junges Wildschwein, einen sogenannten Überläufer, das die Längsstreifen des Frischlings verloren hatte. Tot lag es unter dem Schlagbolzen, von dem sich die Trümmer gelöst hatten. Die Beute war steif gefroren, mußte also schon nachts oder am frühen Morgen der Jägerlist erlegen sein.
   Sie war eine leichte Bürde für den Schlitten. Ehe der vergnügte Fallensteller sich mit seiner Last heimwärts wandte, stellte er die Falle wieder her, bedeckte die Blutflecken und seine Fußspuren mit frischem Schnee und streute den Mundvorrat, den er mitgebracht hatte, als Köder.
   In der Höhle angekommen, eilte Peter zu Eva hinauf. Sie sah ihm verdrossen entgegen und rührte sich nicht aus ihrer Schlafgrube. Unbekümmert darum zeigte er ihr seine Beute, begann ausführlich von seiner Erfindung und dem Erfolg zu erzählen und auszumalen, wie der Braten schmecken würde, ja müsse: mit Lauch und Kümmel gewürzt und triefend von Fett! Salzspeck und Rauchfleisch, das nach Wacholder roch! Wie zu Ahnls Zeiten!
   Vor so viel Vorfreude vergaß Eva ihre Mißstimmung; auch ihr lief das Wasser im Munde zusammen. Sie stützte sich auf den Ellbogen, putzte sich die Nase mit einem Büschel Moos, strich sich die Haare aus der Stirn und stand auf. Nach flüchtiger Morgenwaschung trat sie zur Feuerstelle, legte eine Handvoll Kastanien in die Glut und begann, Reiser zu brechen und ein tüchtiges Feuer anzufachen.
   Peter zog das Wildschwein ab. Ihm lag daran, aus der Schwarte, die sich nur schwer vom angemästeten Speck löste, ein widerstandsfähiges Leder für Schuhe zu gewinnen. Noch ehe er mit dieser langwierigen Arbeit fertig war, nahm Eva Herz, Leber und Milz des Schweines, schlitzte sie mit dem Steinmesser und würzte die Innereien mit Salz, Lauch und Wildkümmel. Die so vorbereiteten Stücke spießte sie mit dazwischengelegten Speckstreifen auf einen grünen Stab und begann, sie über den Flammen zu drehen.
   Ehe das Mahl so weit ausgekühlt war, daß es genossen werden konnte, hing das gespannte Fell neben Schinken und Speckseiten am Gestänge des Trockenbodens im Rauch.
   Dann aber kam ein Schmaus, der alles übertraf, was die Höhlenmenschen bis dahin an Leckerem genossen hatten. Das eingesalzene Fleisch des Jungschweins kam in die Fleischgrube.
   Den Nachmittag verbrachte Peter am Klammbach, wo er im offenen Wasser Gedärm und Blase des Schweins reinigte. Schlotternd vor Kälte kehrte er in der Dämmerung heim und stürzte sich auf das Essen, das Eva aus den Resten vom Mittagsmahl bereitet hatte: Wildschweinbraten mit gerösteten Kastanien, getrockneten Beeren und Birnen, das konnte man gut zweimal essen!


   Räucherkammer

   Zum Frühstück tischte Eva nur Kastanien und gedörrte Heidelbeeren auf. Nicht riechen konnte sie das fette Schweinefleisch – mit einem Wort: sie hatte sich daran übergessen.
   Ihr Blick fiel auf einen Lehmbrocken, den sie mit der Asche vom Boden der ersten Feuerstelle gelöst hatte. Sie erschrak, denn er zeigte deutlich einen Fußabdruck und war klingend hart gebrannt. Langsam und nachdenklich verzehrte sie ihr Frühstück, drehte den sonderbaren Lehmscherben hin und her und hatte dabei ihre eigenen Gedanken. Daß der Lehm, offenbar vom ersten, in die Höhle gedrungenen Schnee naß geworden, den Abdruck von Peters Fuß zeigte, begriff sie, weil sie dergleichen schon oft bemerkt hatte. Sie konnte sich jedoch nicht erklären, warum er in der Gluthitze steinhart geworden war und die gegebene Gestalt behalten hatte. Das war eine wunderliche Entdeckung.
   Schon oft hatte sie bemerkt, daß es ihr schwerfiel, sich an das Aussehen der Ahnl zu erinnern, gerade in Augenblicken, wo sie sich nach deren Gegenwart sehnte; aber der Wunsch, die Gestalt der geliebten Toten vor sich zu haben, war ihr bisher als etwas Unerreichbares erschienen. Jetzt, da sie den Lehmklumpen in Händen hielt, der den Fußabdruck treu bewahrt hatte, kam es ihr ganz leicht vor, die Gestalt der Ahnl aus Lehm zu kneten und dann als »Bildstöckl« im Feuer zu härten. Freilich, sich selbst traute sie eine solche Leistung nicht zu. Aber Peter, der schon oft auf Bildsteinen allerlei Gesehenes festgehalten hatte, der mußte auch das zustande bringen.
   Evas Bitten nachgebend, sagte Peter zögernd zu. Nur nicht gleich, erst wollte er sich's gut überlegen.
   Ihn zog es zu der Schlagfalle; einen Traum, den er vor zwei Nächten gehabt hatte, nahm er als Vorahnung der Wirklichkeit. Wenn es stimmte, was der Traum verheißen hatte, dann – ja, dann mußte unter dem Bolzen ein starker Keiler liegen. Trotz dieser Zuversicht war er freudig überrascht, als er, bei der Falle angekommen, wirklich einen starken Keiler fand, der sich kaum einen Pfeilschuß weit vom Schlagbolzen fortgeschleppt hatte, bevor er tot war. Allein konnte Peter die schwere Beute nicht wegbringen.
   Erst mit Hilfe Evas, die er geholt hatte, gelang es, das mächtige Tier mittels untergeschobener Knüttel zu heben und zu wälzen.
   Sie brauchten einige Tage, bis sie den neuen Fleischvorrat für das Räuchern vorbereitet hatten. Das Überbraten des Eberkopfes nahm Peter selbst vor. Sorgfältig schabte er jede Fleischfaser von den Knochen. Mit einem gebogenen Buchenstab holte er das Gehirn aus dem Schädel. Den Stab hatte er am stärkeren Ende gespalten und im Spalt einen stark gekrümmten oberen Schneidezahn des Ebers festgebunden und -gekittet. Mit diesem an der Schneide hohlgewölbten Kratzer gelang es ihm, den größten Teil des Gehirns aus der Schädelkapsel zu ziehen. Der sorgfältig gereinigte Schädel sollte ihn immer an die gelungene Jägerlist erinnern.
   Eva verwahrte sich dagegen, daß Peter die Wohnhöhlen in Räucherkammern verwandelte, in denen sie beide mitgeräuchert worden wären.
   So entschloß sich Peter zum Bau einer besonderen Räucherkammer auf der Salzlehne, wo es genug Bruchsteine gab. Eine Höhle wollte er bauen, viel kleiner als Evas Kammer. Peter machte sich ans Werk, stand aber schon am Anfang vor einer großen Schwierigkeit: Durch die anhaltende bittere Kälte saßen die Steine so fest, daß sie sich nur durch ein starkes Feuer vom Grunde lösen ließen. Auch das schaffte er und schichtete die Brocken zu einer mannshohen Ringmauer. Eva, ganz verzagt durch die Kälte, konnte ihm nicht viel helfen, und so dauerte es fünf volle Tage, ehe die Räucherkammer bis auf die kniehohe Feueröffnung geschlossen war. Endlich wurden die mit Wacholderbeeren, Lauch, Kümmel und Salz gewürzten Fleischstücke an grünen Stäben zwischen den obersten Steinen festgemacht, wo der Rauch sie bestreichen konnte. In der Mitte ihrer Höhe war die Kammer verengt. Dort befand sich der Feuerraum für Moderholz, Wacholderreisig und Laub. All das war eine mühsame Arbeit, die nicht wenig Zeit kostete, da die Laubmassen des Waldbodens unter der Schneedecke hervorgeholt und übertrocknet werden mußten. Lose aufgelegte Mergelplatten bildeten das Dach der Räucherkammer.
   Als Peter endlich mit Hilfe eines Reisigfeuers das Moderholz im Räucherofen zum Glimmen brachte, wurde der Rauch so, wie er es vorausgesehen hatte, von der einströmenden kalten Außenluft im Ofen zum Fleisch emporgetrieben. Gottlob, es ging – für die Nahrung war gesorgt!
   Allerdings stellte die Versorgung zweier Feuerstellen nicht geringe Anforderungen an Peters Kraft und Ausdauer. Rumpf und Beine mit Fellen umschnürt, zog er Tag für Tag mit seinem Schlitten aus. Und als sich dann die Winterstürme einstellten und Massen von Neuschnee vor den Höhlen anwehten, konnte er mit Eva die Gefangenschaft ertragen. Weder das eingesalzene noch das geräucherte Fleisch verdarb. Peter wähnte es auch sicher vor dem rauchscheuen Raubwild. Während andauernde Fröste das Wasser im Bocksgrabenbach zu Eis erstarren ließen, war es in den wohlverwahrten und gutgeheizten Höhlen anheimelnd warm.
   Eva hatte mit der Zubereitung der Mahlzeiten und dem Ausbessern der Fellbekleidung vollauf zu tun, während Peter sich mit Behagen dem Basteln hingab. Die Arbeit am Serpentinbeil machte kaum merkliche Fortschritte; um so besser gelangen ihm die neuen, etwas plumpen Winterschuhe aus geräuchertem Schweinsleder. Es waren zwar nur Lappen, die geschickt um die Füße bis zur halben Wade gewunden und umschnürt werden mußten, sie hatten aber drei Vorzüge: Sie waren nahtlos, wegen der nach außen gekehrten Fettseite immer trocken, und die borstige Innenseite hielt den Fuß warm. Auch Eva verbesserte ihre Schweinsschwartenschuhe, indem sie sorgfältig zugeschnittene, mit Sandstein geglättete Rindensohlen einlegte und die Wadenwickel mit Eichhornbälgen, Haarseite nach innen, fütterte.
   Sie war nicht wenig stolz darauf, daß Peter ganz unvermittelt von ihr verlangte, sie solle seine Schuhe auch so herrichten.
   Beim nächsten Holzfahren durfte sie ihn begleiten. Es wurde ein lustiges Fahren. Auf dem Heimweg saß Eva, den Feuertopf vor sich, auf dem Schlitten, und Peter war vorgespannt; er lief, um sich zu erwärmen. Zum erstenmal seit Winteranbruch freute sich Eva über die Schönheit der im Rauhreif schimmernden Baumkronen. Vorher hatte die peinigende, von den Füßen aufwärtssteigende Kälte sie vollkommen empfindungslos gemacht für die leuchtende Pracht der winterlichen Welt.
   Ihre Augen folgten dem anmutigen Flug der Blaumeisen und Goldhähnchen; sie weideten sich am leuchtenden Rot der Gimpel, die als Gäste des Heimlichen Grunds hergezogen waren aus Gegenden, wo der Winter strenger herrschte. Als Peter an seinem Holzstapelplatz im Walde haltmachte, lauschten beide dem wundersamen Hochzeitslied der Kreuzschnäbel, die keine Sorge hatten, ihre Jungen gerade in der kalten Jahreszeit aufzuziehen. War doch der Nadelwald reich an harzreichen Samen, ihrem Lieblingsfutter.


   Peter trinkt das Blut des Besiegten

   An einem sonnigen Wintertag, als die Sonne schon unterging, erlegte Peter im Birkenbestand der Grableiten eine Rehgeiß. Die stark blutende Beute, die er hinter sich herschleifte, hinterließ eine breite rote Spur im Schnee. Tags darauf gewahrte er beim Holzholen deutliche Abdrücke von langsohligen Bärentatzen. Die Fährte ging bis zum Klammbach, den Peter auf den Gangsteinen überschritten hatte. Diese Entdeckung ließ ihn befürchten, die Bären könnten sich noch näher an die Höhle wagen, vielleicht sogar eindringen. Ihr Winterschlaf schien vorbei zu sein.
   Immer wieder stellte er sich vor, wie sein Kampf mit einem Bären verlaufen würde; er glaubte nämlich, daß ein im Winterschlaf gestörter Bär beutehungrig herumschweife. Er zweifelte, ob die klobige Steinspitze seines Speeres das zottige, dicke Fell des Ungetüms zu durchdringen vermöchte. Aus dem Allerlei suchte er den langen, bereits angeschliffenen Splitter vom jüngst gespaltenen Röhrenknochen des Hirsches hervor. Die weiße, fingerdicke Außenkruste des Knochens ließ sich auch auf dem Sandstein nur schwer scharfschleifen, sie war steinhart. Mit viel Mühe und Geduld gelang es Peter, den Knochensplitter zu einem langen, schmal zugespitzten, zweischneidigen Dolch umzuschleifen. Der ließ sich gut statt des Steinkeils in den gespaltenen Speer schäften. Dann nahm er eine eingewässerte Darmsaite, umwickelte die Schäftungsstelle und ließ alles erst einmal gut trocken werden. Um ganz sicher zu gehen, festigte er das Ganze noch dick mit Harzwachs. Wenn das nicht hielt!
   Peter häutete die Rehgeiß ab, und Eva übernahm, wie gewohnt, das Ausweiden. Da fand sie unterhalb des Herzens ein zart gebautes, noch unbehaartes Rehkitz, dessen Leib an einem Schlauch hing, wie eine Blumenknospe am Stiel hängt, durch den sie von der Mutterstaude ernährt wird. Eine dumpfe Ahnung vom Wunder des werdenden Lebens dämmerte in Eva auf. Dann aber stieg ihr die Zornesröte in die Wangen. Weinend machte sie Peter heftige Vorwürfe, daß er das werdende Leben im Mutterleib zerstört hatte. Dieses zarte Wunder Gottes, der das Junge fürsorglich im Leibe der Mutter wachsen ließ, damit es dort reife und zum eigenen Leben fähig werde. Peter suchte sich zu rechtfertigen: »Ich kann mich doch nicht darum kümmern, ob eine Rehgeiß tragend ist. Wir brauchen Felle und Fleisch. Dafür hab' ich zu sorgen!« Tief im Herzen aber schämte er sich und ging Eva aus den Augen.
   In der folgenden Nacht, Peter schlief längst, lag Eva noch wach; sie weinte um das Muttertier und das Junge. Plötzlich fuhr sie erschrocken auf und lauschte. Deutlich hatte sie Schritte gehört, schwere, tappende Schritte. Das war nicht Peter! Angestrengt horchte sie in die mondhelle Nacht. Nichts regte sich. Von der Luke her fiel ein bläulichweißes Lichtband schräg in ihre Kammer. Eva verließ ihr Lager, hüllte sich fröstelnd in ein Fell und sah hinaus. Über den Klammwänden stand der Mond, groß, rund, eine weiße Scheibe.
   Und wieder kam ein Geräusch, ein Pusten und Schnuppern, dann ein Scharren im Schnee. Schauer überliefen sie. Die Furcht vor Waldgeistern ließ sie erzittern, sie hätte sich am liebsten verkrochen, um nichts mehr zu hören. Aber die Angst vor der unbestimmten Gefahr trieb sie hinunter zu Peter. Der schlief im vollen Mondschein mit offenem Munde und schnarchte. Sie faßte ihn an der Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: »Peter, draußen ist wer!«
   Verschlafen streckte er sich und rieb die Augen. Plötzlich sprang er auf. Jetzt hatte auch er etwas vernommen. Mit einem Schlage war er völlig wach. Deutlich hörte er, daß unten im Schnee, über der Fleischgrube gescharrt wurde. Jetzt schlugen zwei Steine, die auf den Deckreisern lagen, hart gegeneinander...
   Peter schlich geräuschlos zur Schutzmauer, wo die frische Haut der Rehgeiß noch am Türgitter hing. Behutsam stellte er es beiseite, hielt sich mit den Fingerspitzen an den obersten Steinen der Mauer fest und neigte sich weit vor. Einen mächtigen Bären sah er, der eben dabei war, die Decksteine von der Fleischgrube zu räumen. Peter überlegte einen Augenblick, machte zwei Schritte nach links, so daß er genau oberhalb der Fleischgrube stand. Alle seine Kräfte aufbietend, stemmte er sich gegen die Schutzmauer, und im nächsten Augenblick gaben die nur lose aufeinandergehäuften Steinblöcke nach. Polternd stürzten sie in die Tiefe. Ihrem wuchtigen Fall folgte ein grauenhaftes, langgezogenes Heulen, das mit tiefen Tönen einsetzte und in ein Stöhnen überging. Eva hatte inzwischen ein Bündel harziger Kiefernzweige entzündet und neigte sich, die lodernde Fackel in der Hand, weit über die Mauer hinaus. Peter raffte seinen Speer auf, den er neben seinem Lager liegen hatte, und sauste die Felsrinne hinunter.
   Mühsam versuchte sich das verwundete Raubtier zu erheben. Sein Rumpf war von schweren Steinen bedeckt. Es öffnete den Rachen und wandte sich brüllend gegen den Menschen. Da stieß ihm der vor Entsetzen tollkühn Gewordene die schlanke Spitze der Waffe durch das weit aufgerissene Maul tief in den Schlund. Das Tier schlug mit den mächtigen Pranken nach dem Angreifer.
   Peter riß den Speer zurück und beendete das Leiden des Tieres, indem er ihm die Waffe ins Herz bohrte. Der Bär erhob sich nicht mehr. Nach einigen krampfhaften Tatzenschlägen ins Leere blieb er reglos liegen. Dick quoll sein Herzblut aus der breiten Wunde. Jetzt stürzte sich der Sieger auf den gefällten Feind, preßte seinen Mund auf die Wundränder und schlürfte in gierigen Zügen das warme Blut des Starken, als wolle er dessen Kraft in sich aufnehmen.
   Eva empfand Bewunderung und ein Grauen vor Peter. Erschlagen hatte er den gefürchteten Bären, und jetzt schlürfte er seine Kraft in sich ein, trank des Mächtigen Blut!
   Still zog sie sich zurück. Von dieser Stunde an wußte sie, daß Peter ihr an roher Kraft überlegen war. Er aber, den die schneidende Kälte bald ernüchterte, verbrachte den Rest der Nacht und den Morgen damit, die Mauer notdürftig auszubessern und in der Wärme eines gewaltigen Feuers den Bären abzuhäuten.
   Dann kroch er in seine Schlafgrube und schlief unter der schweren, noch feuchten Bärenhaut bis zum kommenden Mittag, wie berauscht vom starken Geruch, der dem Fell des Besiegten entströmte.

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   Wieder setzte der Winter mit aller Strenge ein. Stürme brausten einher und deckten den Grund mannshoch mit schimmernden Schneedünen, die, angeweht und fortgetragen, die Oberfläche stetig veränderten, bis Tauwetter und Frost sie unter einer Eiskruste erstarren ließen. Das Leben der Höhlensiedler war meist von harter Arbeit und tiefem Schlaf ausgefüllt.
   Wenn Peter an stürmischen Tagen den schwerbeladenen Holzschlitten heimgebracht hatte, verkroch er sich steif vor Kälte und Erschöpfung unter sein Bärenfell und verschlief einen halben Tag, während Eva sich mit dem Zerkleinern und Schichten der ungefügen Äste plagte.
   An windstillen, frostfreien Tagen pflegten die beiden sich in der behaglich durchwärmten Höhle mit Arbeiten zu beschäftigen, die geschmeidige Finger erforderten. Das Ausbessern der Steinbeile, das Zuschleifen knöcherner Pfeilspitzen, das Ergänzen der schadhaft gewordenen, ungleich gegerbten Fellbekleidung, all das waren dringende Aufgaben.
   Peter erinnerte sich seines Versprechens, Eva das Bild der Ahnl zu schaffen.
   Wenn er bis tief in den Tag hineingeschlafen hatte und nachts nicht gleich Ruhe fand, kreisten seine Gedanken um diese künstlerische Aufgabe, die ihm – nachts – kinderleicht erschien. Als er endlich daranging, seine Vorstellung von der Ahnl in knetbarem Lehm festzuhalten, da wurde eine verhutzelte Gestalt daraus, die nicht nur Hände und Füße hatte: Durch die Hakennase, die sich dem Kinn näherte und durch das gescheitelte Haar erinnerte die Figur tatsächlich ein wenig an die alte Frau. Eine zweite Lehmpuppe, etwas kleiner und mit flachem, ausdruckslosem Gesicht, sollte Peters Mutter vorstellen, deren Aussehen in seiner Seele verblaßt war; er hatte ihr ein winziges Püppchen in die Arme gegeben, das sein totes Schwesterchen sein sollte. Ermutigt von seinem Erfolg, bildete er noch einen alten Mann, der sich auf einen überlangen Bergstock stützte. Ein wallender Vollbart kennzeichnete ihn als den Ähnl. So roh auch die Darstellungen waren, die Höhlenkinder sahen nicht das, was sie vor Augen, sondern das, was sie in den Seelen hatten.
   In der Nähe der Feuerstelle hartgetrocknet, wurden die Ahnenbilder in einer halbdunklen Felsennische der oberen Kammer aufgestellt.
   Die Striche im Steinkalender führten von Sonntag zu Sonntag.
   Die Kinder gingen am heiligen Tag nicht mehr zum tiefverschneiten Grabhügel; sie verrichteten ihre Andachten vor den Bildern der Ahnen, die sie mit Gott vereint wußten. Hier sprachen sie mit ihren Schutzgeistern. Hier suchte Eva Trost, wenn sie sich krank wähnte und bat um Schutz vor bösen Geistern. Hier erneuerte Peter seinen Mut für bekannte und geahnte Gefahren.
   Und immer war es ihm, als spräche die Ahnl zu ihm: »Paß auf Eva auf, laß ihr kein Leid geschehen, sei gut zu ihr.«
   Mochten auch die Gegensätze im Wesen der beiden wie eine unsichtbare Wand zwischen ihnen stehen, sie hatten doch manche gute Stunde miteinander; denn helfen, geben und nehmen gehören zum glücklichen Leben. Und das anerkennende Wort für den, der etwas Gutes zuwege gebracht hat! Auch die Höhlenkinder erfuhren die Wahrheit dieser Erkenntnis. Am Lob des anderen entzündete sich das Selbstvertrauen und wagte sich an neue, größere Aufgaben. So träumte Peter davon, die Wohnhöhlen zu erweitern, Bären, Wildkatzen und Schlangen auszurotten, durchlochte Steinbeile herzustellen.
   Auch Eva dachte und plante weit voraus: Gut schließende Kleider wollte sie nähen, daß Peter und ihr weder Kälte noch Mücken etwas anhaben sollten. Betrachtete sie den hartgebrannten Lehmscherben mit dem Fußabdruck, so erschlossen sich ihr lockende Möglichkeiten. Der knetbare Lehm behielt ja jede Gestalt, die man ihm gab! Eva sah sich als Hausmutter, der es an nichts gebrach, und sie hoffte, daß es ihr gelingen werde, Peter zu ändern. Er mußte sein rohes Wesen ablegen; sie wünschte es, sie brauchte es – vielleicht tat er es ihr zuliebe.