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| Sonnleitner Theodor Alois
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| Die Höhlenkinder im Steinhaus
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Alois Theodor Sonnleitner
DIE HÖHLENKINDER IM STEINHAUS
Einander gut sein bis zum Tod
Peters Genesung zog sich länger hin, als Eva geglaubt hatte. Mehr als der Blutverlust schwächte ihn der dauernde Aufenthalt im geschlossenen Raum. Sein Schlafbedürfnis war geschwunden, er lebte in einem Zustand unruhigen Wachträumens, sprach mit sich selber, war einmal am Verzweifeln und ein anderes Mal voller Hoffnungen und Pläne, was er erfinden und arbeiten wollte. Das spröde Grauzeug, das sich in den Ofenschlacken gezeigt hatte, weil er das braune Sumpferz als Baustein verwendet hatte, wollte er schmiedbar machen. Vielleicht war das das Eisen, aus dem Ähnls harte Messer und Beile, die Säge und die Sichel bestanden hatten, die nun mit dem Alten unter den Trümmern des Steinschlags in der Klamm lagen. Peters Worte klangen so klug, so wohlüberlegt, daß Eva weinen mußte, wenn sie an die Möglichkeit dachte, der flackernde Geist des Erfinders könnte verlöschen.
Kaum war der frühzeitig gefallene Schnee verschwunden, zog Eva mit ihrem flachen Besenrechen, der gelegentlich auch als Heugabel diente, aus, das abgeworfene Laub zu sammeln, Trockenfutter für die Scheckin. Zum Befördern flocht sie an einem Regentag einen hohen geräumigen Buckelkorb, den sie an Fellstreifen über die Schultern hängen konnte. Beim Laubrechen fand sie eine Menge abgefallener Nüsse, Kastanien, Mispeln, Beeren, auch Holzbirnen und zwei abgeworfene Rehkrickel. Sie breitete die Früchte zum Trocknen auf den Fußböden der drei Hütten aus, später wollte sie sie nach und nach auf erhitzten Steinplatten dörren.
Endlich, zur Zeit der ersten Fröste, besserte sich Peters Zustand, seine Eßlust nahm zu, sein Schlaf wurde ruhiger. Die Ziege hatte längst aufgehört, Milch zu geben, und Eva mußte für Peter allerlei dünne Suppen kochen. Als Zukost reichte sie gebratene Kastanien. Als die Scheckin unausgesetzt meckerte, weil sie das Eingesperrtsein nicht gewöhnt war, brachte Eva die Geiß auf die Grableiten und band sie an eine krumme Föhre, an der sie äsen sollte. Die Scheckin meckerte trotzdem weiter; ihr Geschrei wurde von den Mischlingen gehört, den Nachkommen der zahmen Geiß, die einst die Ahnl bei ihrer Flucht in den Heimlichen Grund mitgebracht hatte, und von den Steinböcken im Gewand. Und als Eva das dritte Mal ihre Scheckin heimholen kam, fand sie oberhalb der Föhre gröbere Losung, offenbar von einem Bock. Von da an wurde die Geiß wieder ruhig und erfreute ihre Pflegerin durch einen gesegneten Appetit. Die Tageszeit, die Eva für Außenarbeiten nützte, verschlief Peter oder verträumte sie wachend.
Wenn Eva dann, von der Tagesarbeit erschöpft, sich zu ihm setzte und von der Zukunft sprach, wie sie ihr vorschwebte, da überbot er sie an Plänen. Die Siedlung im Pfahlbau werde er durch ein neues Heim ersetzen – die Hüttenwände zeigten ja vielfach Risse im Lehmbelag. Ihr ganzes Gefüge war durch die wachsenden Eckbäume gelockert.
Die toten Pfähle neben ihnen wuchsen nicht mit. Die Sonnige Leiten am Fuß der Südwand, in deren Höhlen die Bären hausten, war für Peter ein Ort der Sehnsucht geworden. Dort, wo im Schutz der Südwand keine Lawinengefahr drohte, wo die Tage milder waren als im Talgrund, reiften die Kastanien, die Walnüsse, die Mispeln, Quitten, Wildbirnen und Wildäpfel. Er beneidete die Bären um den besten Platz an der Sonne, und er haßte sie als gefährliche Mitbewohner des Heimlichen Grunds. Mitten im Winter, wenn sie in den Höhlen schliefen, werde er sie mit Feuer und Rauch vertreiben. Ja, und dann wolle er die Bärenhöhlen durch einen starken Vorbau nach außen erweitern und dort mit Eva hausen. Ja, so werde es sein ... Eva wußte, daß der Genesende seine Kräfte überschätzte, aber sie widersprach ihm mit keinem Wort.
Am nächsten Tag schneite es, da verließ Peter zum erstenmal die Hütte. Er freute sich an den Spuren, die er, den Hofzaun entlanggehend, im Neuschnee hinterließ. Spurschnee! Jagdzeit!
Vor dem Lagerplatz der Ziege, die nur durch das vorspringende Dach und eine Wand vor dem Schnee geschützt war, blieb Peter stehen. Die langentbehrte frische, prickelnde Luft berauschte ihn; er war länger im Freien geblieben, als ihm zuträglich war, ein Rückfall seiner körperlichen Schwäche blieb nicht aus.
Widerstrebend ergab er sich darein, die beste Jagdzeit ungenützt verstreichen zu lassen. Inzwischen schmolz der Schnee; Nachtfröste setzten ein, denen das letzte Laub erlag. Als wieder frostfreie Tage kamen, erholte sich Peter wenigstens soweit, daß er mit Evas Netzen in der Umgebung des Pfahlbaus fischen konnte. Ja, eines Tages unternahm er in voller Jagdausrüstung, begleitet von Schnapp, eine Floßfahrt nach der Moorleiten.
Als Beute brachte er einen lebenden Igel heim, den Schnapp in einem hohlen Baum schlafend gefunden hatte. Eva schlug vor Staunen die Hände über dem Kopf zusammen. Sie tippte Peter mit dem Finger an die Stirn: »Ja, bist du denn nicht gescheit? Soll ich dir den Igel braten?«
»Nein, nicht braten, der bleibt am Leben. Die Ahnl hat auch einen Igel im Stall gehabt. Der fängt die Mäuse weg und das Ungeziefer!«
Der Igel gewöhnte sich bald an seine neue Umgebung, verschlief die Tage, strolchte nachts umher und durchstöberte jeden Winkel nach Asseln und anderem Kleingetier.
Nach wenigen Tagen stellte er sich, wenn Eva das Essen brachte, als Bettler bei ihr ein und kratzte mit den Vorderpfoten an ihren Fußknöcheln. Mit einem Happen Fischfleisch, den sie ihm reichte, trollte er sich, kehrte aber bald wieder zurück und ließ seine kleine rosige Zunge spielen. Hielt Eva aber einen Bissen zu hoch, so wurde er zornig und fauchte gewaltig, als wäre er wer weiß wie groß.
An milden Wintertagen, an denen das Herdfeuer die Stube genügend erwärmte, saß Eva am Webstuhl. Aber die abgenützte Webwalze machte die Arbeit zur Qual. Peter begann, einen neuen Webstuhl zu bauen, zuerst ein vierbeiniges Gestell zum Auflegen des Rahmens, so daß Eva von oben auf die liegend gespannten Schichten der Einser– und Zweierfäden sehen und die Webnadel leicht durch die Fadenfächer hin und her führen konnte. Aber an die Webwalze wollte er nicht heran. Das Fadenheben beim Fachwechsel mußte anders gehen, fand er.
Je mehr Peter sich in die neue Aufgabe vertiefte, desto häufiger verbrachte er die Zeit zwischen den Mahlzeiten allein in seiner Pfahlhütte, wo er mit Holzkohle auf Mergelplatten allerlei Entwürfe zeichnete. Er kehrte zum Schiebekamm zurück, bei dem an den Enden der Zinken die Zweierfäden befestigt waren. Aber statt der groben Zinken, mit denen sich die Bastfäden nur locker verweben ließen, wollte Peter dicht gereihte, dünne Zinken verwenden. Das brauchten keine hölzernen zu sein, es konnten auch Fadenschlingen sein, die am Kammstab festgebunden wurden und die Zweierfäden so unterfingen, daß diese hochgehen mußten, wenn der Kammstab in die Höhe gezogen wurde.
Zunächst baute Peter aus vier daumendicken Stäben einen Webrahmen, so breit wie eine halbe Armlänge. Die Längsseiten machte er dreimal so lang. Die Längsfäden wickelte er der Länge nach um den Rahmen, so daß eine Lage Fäden über dem Rahmen, die andere unter ihm eine Schicht bildeten. Die oberen Fäden sollten als Einserfäden in gleicher Lage bleiben, die unteren als Zweierfäden gehoben und gesenkt werden.
Dann schnitt er den Kammstab zurecht, lang genug, um quer auf beiden Längsseiten des Rahmens aufzuliegen. In der Hochstellung konnte er durch untergeschobene Klötze gehalten werden. Hierauf knüpfte Peter zunächst einen Faden ans linke Ende des Kammstabes, zog ihn hinter dem ersten oberen Längsfaden herunter, unterfing mit ihm den ersten unteren Längsfaden, zog ihn zwischen dem ersten und zweiten Einserfaden wieder hinauf und knüpfte ihn so an dem Kammstab fest, daß der untere Längsfaden in einer fingerlangen Schlinge ruhte; dies wiederholte er der Reihe nach, bis die Schiingenführung jedes unteren Längsfadens zwischen zwei oberen Längsfaden durchging und alle Schlingen oben am Kammstab festgeknüpft waren. Jetzt lagen alle Einserfäden in den Zwischenräumen der Fadenzinken.
Nun zog er mit der Linken den Kammstab hoch und sah mit Freude, daß alle unteren Längsfäden gleichzeitig von den Zinken emporgezogen wurden, so daß sie sich an zwei Stellen mit den oberen Längsfäden kreuzten. Hinter und vor jeder Kreuzung bildeten die Fäden je ein Fach. Quer durch dieses Fach führte Peter die lange Webnadel mit dem der Länge nach aufgewickelten Arbeitsfaden, den er an den ersten Einserfaden geknüpft hatte.
Als er aber den Kammstab senkte, blieben die Zweierfäden mit den Einsern fast in gleicher Höhe, und sie sollten doch wieder hinuntergehen und den Arbeitsfaden überkreuzen und von ihm ein neues Fach bilden! Da half Peter nach, indem er seine Rechte am oberen Ende des Rahmens ins Fach zwischen die beiden Fadenschichten schob und so die Zweierfäden hinunterzwang. Durch das Fach, das nun vor der neuen Fadenkreuzung entstanden war, zog er wieder den Arbeitsfaden ein. Das Gewebe wuchs! Weil aber die Gänge des Arbeitsfadens zu weit voneinander eingezogen waren, mußten sie mit dem Anschlagkamm aneinandergeschoben werden.
Endlich war der Erfinder mit dem neuen Gerät zufrieden und übergab es Eva. Sie machte große Augen, dankte und sprach vor sich hin: »So hab ich‘s mir auch gedacht.« Peter mußte lachen. Sie hatte sich‘s auch so gedacht! Mehr als ihr karger Dank freute ihn, daß sie sofort zu weben begann. Es ging so lange gut, bis die vom Zug des Webkammes gedehnten Zweierfäden schlaff wurden. Da half sie sich, indem sie alles Garn mit einem klebrigen Brei aus Kastanienmehl und Wasser anfeuchtete und trocknen ließ. Das machte die Fäden straffer und widerstandsfähiger. Was sie dann mit Geduld und Sorgfalt zustande brachte, war ein steifes Gewebe von der Breite einer Armlänge. Solche Webstücke konnte sie aneinandernähen und Kleider daraus machen! Vorher aber mußte das Gewebe durch Bürsten mit Weberkarden aufgerauht und der trockene Kleister daraus entfernt werden. Jetzt erst war das Zeug geschmeidig und dicht.
Peter trachtete, die ungleiche Spannung des Garns überhaupt zu verhindern. Unverdrossen baute er einen neuen Webrahmen, dessen Breitenhölzer an den Enden Falze bekamen. Mit diesen umfaßten sie die Innenseiten der Längshölzer und konnten an ihnen nach außen geschoben und durch Holznägel festgesteckt werden.
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Der rauhe Winter war schon fast vorbei. Die untergehende Sonne hatte sich dem Winterhorn genähert, und der Tag der Sonnwende stand bevor. Die Eisdecken des Moorsees und des Klammbachsees gleißten im Widerschein des tiefstehenden Sonnenballs. Peter, der sich nun ganz gesund fühlte, rüstete sich, die Bären zu belagern und erging sich in großartigen Reden. Schon teilte er die Bärenfelle zwischen Eva und sich.
Da nahm sie sich ein Herz, faßte seine Rechte mit beiden Händen und sprach mit einem Ernst, der ihn aufhorchen ließ: »Die Sonne ist am Winterhorn. Morgen ist Sonnwend. Komm mit mir nach den alten Höhlen. Dort zünd ein Feuer an, und vor dem Sonnenbild dank dem Herrgott, daß er dich und mich erhalten hat.«
Peters Gesicht hellte sich auf.
»Und dort sag laut, daß du immer mit mir gut sein willst – immer gut, hörst du? Auch ich werde geloben, daß ich dein gutes Weib sein werde, solange ich lebe. Sag, Peter, willst?«
Da drückte er ihre Rechte, und mit aller Entschlossenheit sprach er schlicht und laut: »Ja, Eva!«
Am nächsten Tage fuhren sie, mit ihren besten Pelzen angetan, über die blanke Eisdecke des Klammbachsees. Eva saß auf dem Schlitten, die Stirnbinde mit bunten Federn und Ebereschendolden geschmückt, vor sich den Feuertopf, dem bläulicher, nach Wacholderbeeren duftender Rauch entstieg; und Peter lief auf seinen knöchernen Schlittschuhen hinter dem Schlitten her. Er trieb ihn vorwärts, die Arme gegen die Rückenlehne gestemmt, die er aus einem armdicken Waldrebenbogen hergestellt hatte.
Am Sonnstein angelangt, verließen sie das Eis, sammelten am Rande des Urwalds dürres Holz und schichteten es vor den alten Höhlen auf. Als der feurige Sonnenball sich zum Gipfel des Winterhorns senkte, züngelten die ersten Flammen an den harzigen Nadeln empor. Gerötet vom Widerschein der untergehenden Sonne, umweht vom würzig duftenden, bläulichen Rauch standen die groß gewordenen Kinder des Heimlichen Grunds Hand in Hand. Dann stiegen sie zum Heiligtum in Evas alter Höhle auf.
Vor dem Sonnenbild knieten sie nieder.
Eva begann feierlich vorzusprechen, und Peter sprach ihr Satz für Satz nach: »Gott, du hast uns vor den Menschen da draußen errettet – wir danken dir. Du hast uns am Leben erhalten, als die Wasser kamen – wir danken dir. Du hast uns die Gewalt gegeben, uns der Bären und der Geier zu erwehren – wir danken dir!
Vater! Wir sehen dich nicht, aber wir sehen, was du hast werden lassen und werden läßt. So erkennen wir dich. Du gibst allen deinen Geschöpfen Licht und Wärme durch deine Sonne.
Dein Hauch bringt die Wolken. Sie tränken die Erde und laben alles Lebendige. Du läßt alle satt werden von dem, was du erschaffen hast. Dein Atem durchweht auch uns. Du willst das Leben und liebst alles Lebendige. Du bist unser Vater, wir sind deine Kinder. Wir lieben dich, wir wollen, daß du an uns Freude habest. Darum tun wir, was dein Wille ist. Wie du gut bist zu allem, was da lebt, wollen auch wir gut sein einer dem andern. Was dem einen gehört, gehöre dem andern. – In Arbeit, in Schmerz und Leid wollen wir uns beistehen bis zum Tode!«
Eva faßte Peters Rechte und hielt sie umklammert. Seine Hand erwiderte den Druck der ihren. Peter und Eva küßten sich.
So war vor Gott der Ehebund geschlossen worden.
Feuer dran!
Von nun an lebte Eva als Peters Frau in seiner geräumigen Hütte. Ihr verlassenes Heim diente als Vorratshaus für Heu und Brennholz. Da Peter sich Evas Fröhlichkeit erhalten wollte, achtete er auf ihr Mienenspiel. Aus ihrem Gesicht las er unwillkürlich Zustimmung oder Ablehnung. Evas Gefühl für das, was sich gehört, ging auch in Peters Wesen über. Ihrem Sinn für das Schöne, von dem ja Ordnung und Sauberkeit untrennbar sind, versuchte Peter sich anzupassen. Der tägliche Gebrauch von Seifenbrei und Kamm wurde auch ihm zum Bedürfnis. Beim Essen aus gemeinsamer Schüssel strich er sich das Mus nicht mehr mit der Hand in den Mund, sondern benützte den plumpen irdenen Löffel. Auch die Fleischbrocken schob er nicht mehr mit der Hand in den Mund, sondern spießte sie auf ein spitzes Stäbchen. Wenn Eva morgens und abends mit Gott und den Ahnen Zwiesprache hielt, war Peter zwar nur schweigsamer Gefährte, aber er dachte mit, was sie sprach, und wurde unter Evas Einfluß anders, ruhiger, ordentlicher.
Sein niederes Bett, unter dem noch nie hervorgekehrt worden war, so daß der Igel dort stets erfolgreich nach Asseln gejagt hatte, ersetzte Peter durch ein kniehohes, vierbeiniges Bettgestell. Unter dem konnte Eva täglich saubermachen. Für die Koch– und Vorratsgefäße brachte er an der Wand breite Borde an, die er mit seinen Bronzekeilen aus Fichtenholz gespalten und mit der Axt behauen hatte. Damit die Asche nicht mehr im Wohnraum herumlag und zertreten wurde, führte er um die Feuerstelle eine fast kniehohe Mauer auf. Im Herdwinkel stellte er die Bildstöckel der Ahnen auf und hängte die brennende Ampel davor. Während Eva alle Risse im Lehmbelag der Wände verstrich, bereitete er aus gebranntem Kalk einen Topf voll Kalkmilch, mit der sie den Anstrich der Wände erneuerte. Am Herd fügte er zwei Bänke im Winkel aneinander. Die Mergelscheibe, die ihm bisher als Tischplatte gedient hatte, wenn er, auf dem Boden hockend, aß, versah er mit vier hüfthohen Füßen und stellte den so entstandenen Tisch vor den Bänken auf; ein warmer, bequemer Platz zum Arbeiten, Essen und Schwätzen war geschaffen.
Fröhlich verrichtete Eva ihre häuslichen Arbeiten. Als Peter seine Jagdgänge wieder aufnahm, gab es frisches Wildbret, einmal sogar eine Wildgans, die er über dem Moor abgeschossen hatte. Seit Eva Peters Frau war, bereitete sie die Mahlzeiten mit erfinderischer Liebe, denn ihr Mann hielt viel auf gutes Essen. Ob sie auf dem flachen Mahlstein den granitenen Quetscher über Kastanien oder Schwadenkorn hin und her führte, ob sie mit dem Küchenschlegel Fleisch weichklopfte oder, vor dem Herde kauernd, mit einem Gänseflügel die Glut anfachte, sie freute sich darauf, ihren Mann schmausen zu sehen.
Bald kamen Stürme auf, die schwer lastende Schneemassen antrieben. Das Dach der Wohnstube bog sich durch, und der Schilfhut über dem Rauchloch wurde abgerissen.
Höchste Zeit, ein anderes, besseres Heim zu finden! Peter entschloß sich, die Bärenhöhlen zu erobern. Ehe er daran ging, die noch im Winterschlaf befangenen Bewohner durch Feuer und Rauch zu ersticken oder zu vertreiben, forschte er nach, ob die Höhlen irgendwo oben noch einen Ausgang hätten. Vom Moorbachursprung kletterte er mühsam über die Schichten der Kalkfelsen und gelangte an ein verlassenes schmales Bachbett, das sich nach rechts, den Bärenhöhlen zu, senkte. Je weiter er darin abwärts ging, desto dünner wurde die Schneedecke des Geröllbodens. Dort, wo das Rinnsal in einen Felsspalt mündete, war aller Schnee weggeschmolzen. Aus dem unten breiteren, oben schmaleren Durchlaß stieg ein lauer Hauch herauf; er roch nach schimmeliger Losung.
Aha, diese Windluke da war der obere Ausgang der Bärenhöhlen! Vergebens versuchte Peter, auf allen vieren kriechend, sich hier durchzuzwängen. Wenn er in der untersten Höhle ein Feuer anfachte, könnten die vor dem Gluthauch flüchtenden Bären wohl bis hierher gelangen, aber hinaus könnten sie nicht, auch unten nicht; denn kein Tier geht durch Feuer! In Gedanken versunken, machte sich Peter auf den Heimweg.
Föhnwetter brachte einen warmen Tag. Schnee und Eis wurden zu Matsch. Dann aber setzte dichtes Schneetreiben ein, unaufhörlich fielen die Flocken.
In einer grauenvollen Nacht, als Gestänge, Geflecht und Gebinde des Pfahlbaus, von wuchtigen Sturmstößen erschüttert, kreischten und ächzten, saßen Eva und Peter in Pelze gehüllt auf dem Bettrand, in Ängsten wachend. Sie lauerten auf den Augenblick, wo die baufällig gewordene Hütte zusammenkrachen und vom Sturm davongetragen würde. Eng an Peter geschmiegt, starrte Eva ins Licht der Ampel, das nur matt durch das Gehäuse aus Schweinsblase schimmerte. Sie fühlte die Spannung in Peters Armen. Er war entschlossen, sich dem stürzenden Dach entgegenzustemmen und seine Frau vor dem drohenden Tode zu bewahren oder mit ihr zu sterben. Müde vom Harren, Bangen und Lauern, schlummerten die beiden ein und merkten nicht, daß es draußen still wurde. Als Eva, frostgeschüttelt, im Morgengrauen erwachte, löste sie sich sacht aus Peters Umarmung. Sie sah die Tür klaffen und trat ins Freie – es war windstill.
Vom farblosen Himmel blinzelten die Sterne verblassend durch dünne Wolkenfetzen, die, in einem hohen Luftstrom schwimmend, von den Salzwänden her nach den Hochgipfeln jenseits der Klamm flogen. Eva rüttelte den Schläfer wach: »Peter, Peter, es friert!« Der Schlaftrunkene begriff nicht gleich. Kaum aber hatte er sich vergewissert, daß trockener Frost eingesetzt hatte, sagte er frisch, als hätte er die ganze Nacht geruht: »Jetzt wird‘s richtig! Wenn‘s friert, schlafen die Bären in ihren Höhlen, und heut noch räuchere ich sie aus!«
Vergnügt bereitete Eva das Frühstück: zwei geräucherte Forellen, einen Topf Eichelbrühe, den sie mit Honig süßte, und zwei Hände voll Kastanien. Das heiß genossene Frühmahl wärmte sie, und von neuer Zuversicht erfüllt, bestiegen sie das Floß und fuhren, durch die dünne Eisdecke brechend, mit Feuerkorb und Schlitten zur Triftleiten hinüber und stiegen quer durch den Eichwald zu den Bärenhöhlen hinauf. Unterwegs beluden sie den Schlitten mit dürrem Fichtenreisig und belegten damit den Boden der untersten Höhle. Vom Walde holten sie abgestorbene Äste, Moderholz und feuchtes Laub. Damit füllten sie die Höhlen bis zur Decke; denn es sollte nicht nur ein starkes Feuer werden, sondern auch viel stinkenden Rauch geben. An drei Stellen stopfte Peter Bäusche von fettgetränktem Nesselwerg zwischen die Fichtenreiser der Bodenauflage, nahm glimmende Holzkohlen aus dem Feuerkorb und legte sie ins Nesselwerg. Es fing Feuer. Knisternd leckten die Flammen an Reisig und Ästen. Eva kehrte mit dem Schlitten heim.
Langsam entwickelte sich gelber Qualm, da und dort flammte ein Zweig Nadelholz auf. Weil die Höhle hoch oben einen Ausgang hatte, saugte sie die Rauchmassen an. Hoch und breit bis zur Decke und den Seitenwänden loderte das Feuer im ganzen Höhlenraum. Vor seinem heißen Atem wich Peter bis an den Waldrand zurück. Da begann es sachte zu schneien. Unbekümmert um den dichter fallenden Schnee, starrte Peter auf das qualmende Feuer, den Jagdspeer wurfbereit in der Hand. Nichts rührte sich. Falls die Bären nicht schlafend erstickt waren, mußten sie vor dem Gluthauch und Qualm zur Windluke fliehen! Nichts zeigte sich. Gegen Mittag entschloß sich Peter zum Heimgehen. Das Feuer mochte noch lange fortbrennen, das Moderholz noch lange glimmen und qualmen.
Als er drei Tage später, mit Pechfackeln und Beil wohlversehen, die verrußten Höhlen durchstöberte, fand er darin fünf tote Bären; zwei davon waren aufrechtstehend erstarrt, festgeklemmt im Spalt der Windluke. Nach Peters Ansicht waren alle Bären vernichtet. Peter eilte mit der guten Kunde heimwärts. Lehm– und rußverschmiert, wie er war, schloß er Eva im Taumel der Freude in seine Arme, dann mußte sie mit ihm nach den Bärenhöhlen.
Als die beiden die eroberten Behausungen daraufhin ansahen, wie sie sich wohnlich einrichten ließen, entsprach keine ihren Anforderungen. Den oberen fehlte es an Licht, und die unterste hatte einen viel zu abschüssigen Felsboden. Dennoch zogen sie in aller Eile ein, weil Peter sofort einen Vorbau errichten wollte, der nur eine Erweiterung der Höhlen zu sein brauchte.
Eisen
Die Rückkehr zur Höhlensiedelei gestaltete sich nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatten. Wohl gelang es ihnen, in einem Tage mit Steinen, Bruchholz und Lehm den untersten Teil des Höhlengrundes so weit zu heben, daß ein halbwegs ebener Boden zustandekam. Aber der gewonnene Raum reichte kaum hin, an der linken Wand eine Lagerstatt zu errichten, in der Mitte der Höhle die Feuerstelle zu mauern und rechts die Ziege anzupflocken. Lästig waren die sonst so geschätzten Fuchshunde, sie erwiesen sich als recht unsaubere Mitbewohner. Auch war kein Tageslicht für einen Werkplatz vorhanden und kein Raum für die Nahrungsvorräte, die im Berginnern verschimmelt wären. Evas Webstuhl und viele Werkzeuge mußten einstweilen im baufälligen Pfahlbau bleiben. Sie drängte Peter, die Höhle durch einen Vorbau nach außen zu erweitern. Bevor er aber die dazu nötigen Fichtenstämme fällen konnte, mußte er die Bären abhäuten, damit Eva Felle und Fleischvorrat räuchern und das Gedärm reinigen konnte, das zu Bogensaiten, Bind– und Nähfäden verarbeitet werden sollte.
Drei Tage hatte er vollauf zu tun. Die Bärenfelle spannte er über gekreuzte Stäbe, um sie zum Abschluß des Höhlentores zu verwenden. Eva schleppte Kochgeschirr und trockenes Brennholz herauf, stellte auf einen Steinsockel neben dem Bett die tönernen Ahnenbilder, rammte in eine Felsenritze einen Stab, hängte die immer brennende Ampel daran und legte eine Rehhaut voll Kastanien neben die Feuerstelle. Um den Fleischvorrat aufzuhängen, klemmte sie Knüttel in den schrägen Schacht, der zu den oberen Höhlen führte, und zündete darunter ein Räucherfeuer aus Fichtenreisig an. Als sie Salz aus dem Berge holte, war sie glücklich, daß sie sich auf dem Wege zu den alten Wohnhöhlen nicht mehr vor den Bären zu fürchten brauchte. Vor den Wildschweinen, die sich im Eichenbestand aufhielten, hatte Eva keine Angst. Denen brauchte sie nur aus dem Wege zu gehen. Wohlgemut schleppte sie das halbgefüllte Rehfell aus der Salzkammer im Berg durch die alten Wohnhöhlen und schleifte es zu den Bärenhöhlen. Hier lehnten schon ein paar armdicke Fichtenstämme, die Peter gefällt hatte, schräg vor dem Eingang, und der Boden war mit abgeschlagenen Reisern bedeckt. Daran knabberte die Scheckin, die Peter mit langem Riemen an einem der Stämme festgebunden hatte. Nicht weit davon kauerte er in Gesellschaft der Fuchshunde, die mit viel Behagen Bärenknochen abnagten, und erneuerte die locker gewordene Bindung seines einzigen noch brauchbaren Bronzebeiles.
Eva begann gleich mit den Vorbereitungen zum Räuchern. Tagsüber nahmen sich beide kaum Zeit, ein paar Kastanien zu essen und einige Worte zu wechseln. Als es aber in der frühen Dämmerung zu schneien begann, lehnte Peter alles, was er an Stämmen vorbereitet hatte, so vor die Höhle, daß die Wipfelenden über dem Höhlentor die Felswand berührten und in der Mitte der Öffnung ein hohler Spalt blieb. Er schloß ihn durch einen Vorhang aus Bärenfellen. So war die vom Feuer erhellte Wohnhöhle vor der kalten Nachtluft geschützt.
Während Peter und Eva das gut gewürzte Rippenstück eines Jungbären an grünem Stab über dem Feuer drehten, legte Peter ausführlich dar, wie er sich den Bau des neuen Heimes dachte. Er zeigte ihr den rohen Aufriß auf einer Mergelschieferplatte. Kein Steinhaus sollte es werden, sondern nur eine dickwandige Pfahlhütte, ein Vorbau zur Erweiterung der Höhle, ein festes Gefüge, das dem Winddruck widerstehen konnte. Kreuzweise an den Ecken aufeinandergelegte und durch tiefe Einkerbungen ineinanderversenkte Baumstämme sollten die Wände bilden, deren Fugen sich mit Moos und feuchtem Lehm verstreichen ließen.
Am nächsten Tag erlegte Peter unweit seines verfallenen Töpferofens, aus dessen Mauer er einige Kalksteine gebrochen hatte, ein Jungschwein, das er gleich heimschaffte. Als er zurückkehrte, um die Kalksteine zu holen, fiel sein Blick auf die verrosteten Bruchstücke des Grauzeugs, das er vor seiner Verwundung aus dem Sumpferz ausgeschmolzen hatte. Sie fesselten seine Aufmerksamkeit so sehr, daß er nicht mehr an den Kalk dachte. Es reizte ihn, die im Vorjahr mißglückten Schmiedeversuche wieder aufzunehmen. Wenn es ihm gelänge, das spröde Grauzeug hämmerbar zu machen, dann böte ihm das im Moorschlamm abgesetzte Sumpferz die Möglichkeit, breite Keile und Beile zu schmieden, die beim Bau der Blockhütte bessere Dienste leisten würden als sein schmales Beil aus Braunzeug.
Viel zu ungeduldig, den Schmelzofen wiederherzustellen, hob er im Lehmboden neben der Bachmündung eine fußtiefe Grube aus und holte aus seiner verlassenen Pfahlhütte die beiden Blasebälge, Nesselwerg, Klemme, Hammer und Lederschurz. Dann schleppte er einen Granitblock herbei, der ihm als Amboß dienen sollte. Vom nahen Meiler trug er einen Schurz voll Holzkohle zur neuen Feuerstelle. Für die Windzuführungsrohre der Blasebälge stach er von außen zwei Löcher schräg durch den Lehm, so daß deren Mündungen in der halben Tiefe der Grube ins Innere führten. Die von außen in die Windgänge eingefügten Gebläserohre dichtete er mit nassem Lehm ein, füllte die Grube zur Hälfte mit Holzkohle, schüttete die rostigen Bruchstücke seines Grauzeugs – es war Gußeisen – darauf und deckte sie mit einem Haufen Fichtenreisig auf einer Unterlage aus trockenem Nesselwerg.
Dann kehrte er zu Eva zurück und holte von ihrer Feuerstelle einen Topf voll Glut, die er mit Moderholz deckte. Laufend langte er wieder bei der Grubenesse an, brachte die Glut an die Holzkohle und setzte seine Blasebälge in Gang, indem er sie abwechselnd rechts und links mit dem Zugriemen blähte und mit den Füßen niedertrat. Unter den Gebläserohren begann die Holzkohle zu glühen; dieses Glühen setzte sich in der ganzen Füllung fort und teilte sich auch den Metallbrocken mit. Bläuliche, rauchlose Flämmchen züngelten aus der Glut. Kaum bemerkte Peter, daß die Blasebälge unter seinen Füßen dampften, als schon der linke Balg vom Fußrost bis zum Windgang platzte. In seinem Eifer hatte Peter nicht mehr daran gedacht, ein bewegliches Hindernis in den Windgang einzubauen. Für diesmal war der Schmelzversuch mißlungen. Erst mußten die Mängel und Schäden des Gebläses behoben werden.
Die Metallstücke in der Grubenesse glühten aber so lebhaft, daß Peter nicht widerstehen konnte und sich mit der Klemme ein faustgroßes Stück herausholte. Es zerbarst beim Hämmern, und der Schmied warf es in die Glut zurück und versuchte es mit einem zweiten, einem dritten und vierten. Dieses letzte Stück war eines, das den Schmiedeversuchen im vorigen Sommer zweimal widerstanden hatte. Und was Peter gerade an diesem Stück am wenigsten erwartet hatte, geschah: Es gab dem Druck des Hammers nach, ohne zu bersten. Selbst als es nicht mehr glühte, streckte es sich unter den wuchtigen Schlägen zu einem stumpfkantigen Keil. Ein Fehlschlag auf die federnde Klemme gab dem noch nicht fertigen Keil so viel Schwung, daß er in flachem Bogen vom Amboßstein in den Bach flog. Als Peter den Keil aus dem Wasser zog, war er lauwarm und an seiner Oberfläche blauschwarz angelaufen. Aussichtslos, ihn in der verlöschenden Glut wieder schmiedbar zu machen!
Die rauhe Oberfläche des granitenen Amboßsteines aber verlockte Peter, durch Schleifen zu erreichen, was er zu schmieden versäumt hatte. Sofort fiel ihm auf, daß der neue Keil seine Bronzebeile an Härte übertraf. So mühevoll und langsam das Schleifen vor sich ging – es verdroß Peter nicht. Je härter das Werkzeug war, desto länger mochte es die Schneide behalten.
Eva wunderte sich, daß ihr Mann, den sie vergeblich zum Essen erwartet hatte, erst in der Abenddämmerung und ohne Kalk heimkam und ihr freudestrahlend einen Keil in die Hände legte, dessen Schneide so glänzte wie die eines frischgeschliffenen Beiles zu Ähnls Zeiten! Es war wirklich Eisen, nicht schlechter als das, aus dem das Werkzeug des Ähnls bestanden hatte.
Das Blockhaus
Beim Frühstück, das die beiden Menschen wie in alter Zeit neben dem Feuer kauernd einnahmen, war Peter schweigsam. Er grübelte darüber nach, wie er eine schwere Axt schmieden könnte, ähnlich dem durchlochten Steinbeil. Und sie sollte an einem eichenen Stiel verläßlich festsitzen! Noch kaute er am letzten Bissen, als er schon die Schneeschuhe anschnallte, er wollte die an der Grubenesse verschneiten Geräte und Eisenbrocken heimholen.
Gegen Mittag kam Peter schwerbeladen zurück. Er brachte Gußeisen und Holzkohle. Einen Schritt vor Evas Feuerstelle, also ganz nahe am Höhlenausgang, baute er eine neue Grubenesse, flickte den zerrissenen Blasebalg und fügte in die Windwege rollende Hindernisse ein. Er schmiedete zunächst ein Beil, das mit dem eisernen Stiel ein Stück bildete. Schon die ersten Versuche zeigten, daß die Schwere des Stiels die Wucht des Beiles verminderte. Unverdrossen schmiedete er das Werkzeug, das ihn enttäuscht hatte, zu einem fingerdicken, drei Finger breiten Band um. Die eine Hälfte dieses Bandes hämmerte er über die Nase des Ambosses krumm, daß sie als Haube ein großes Öhr umschloß; die andere Hälfte schmiedete er breit und scharfkantig. Dann härtete er die so entstandene Axt. Als Schaft trieb er von oben her einen Eichenprügel mit dem dünneren Ende voran so in das Öhr ein, daß die Axt sich am dickeren Ende festrammte; ein Zweigstummel am dicken Ende sicherte sie vor dem Abgleiten.
Während des Abendessens hatte er das neue Werkzeug vor sich liegen und liebäugelte mit ihm wie mit einem neuen Arbeitsgenossen, der Gutes versprach. Immer wieder nahm er es in die Hand, immer wieder mußte Eva es bewundern. Und sie heuchelte nicht, als sie sagte: »Peter, du kannst doch alles, was du wirklich willst, alles!« Nach dem Essen wollte er die neue Axt schleifen, aber Eva nahm ihm die Arbeit ab.
Es kamen drei frostklare Tage; Peter benützte sie, um Fichtenstämme zu fällen.
Als die Axt stumpf geworden war, suchte er in den Trümmern des Neuen Steinschlags nach einem geeigneten Schleifstein. Er wählte einen aus, der viele Quarzkörner und wenig Glimmer enthielt. Der neue, nur daumendicke Schleifstein ließ sich mit beiden Händen gut an der Axtschneide entlangführen und nahm ohne allzu großen Kraftaufwand genug vom Eisen weg. Peter dachte auch an Eva und suchte für sie einige kleinere Wetzsteine. Mit seiner frischgeschärften Axt machte er sich von neuem an die Arbeit. Sie griff gut ins Holz, aber beim dritten Hieb flog sie vom Stiel: Der Zweigstummel daran, der das Eisen am Abgleiten gehindert hatte, war durchgerieben. Ärgerlich machte sich Peter daran, einen neuen Stiel zu schnitzen.
Schon am Abend des ereignisreichen Tages zog er einen der Baumstämme vor dem Eingang in die Höhe, behackte ihn auf vier Schritt Länge und kerbte die beiden Enden handtief ein, dort sollte der Stamm aufgelegt und eingelassen werden. Beim Abendessen und noch lange danach sprach er vergnügt davon, wie festgefügt seine neue Blockhütte werden sollte.
Außer der neuen Axt verwandte Peter beim Kerben der Stammenden noch die zweihändige bronzene Säge; sie griff trotz Evas Hilfe nicht tief ein, da ihr Band im Rücken stärker war als in der Schneide. Peter kam auf zwei Verbesserungen: Erst mußten die Zähne der Säge an ihren Spitzen auseinandergebogen werden, so daß ein Zahn schräg nach links, der nächste schräg nach rechts außen stand und so fort; dann mußte das Sägeblatt an beiden Enden in einen leicht angespaltenen Bogenstab geschäftet werden, so daß es gespannt wurde und sich von einem Arbeitenden allein handhaben ließ. Auch das Sägeblatt mußte länger und härter sein, und Peter hämmerte einen eisernen Stab flach und dünn. Eine ganze Woche brauchte er dazu, weil er erst einen Meißel schmieden, härten, schleifen und beim Ausstemmen der Zähne am Sägeblatt oft anglühen mußte. Endlich war die Säge zu seiner Zufriedenheit ausgefallen, und nun verarbeitete er einen großen Eisenbrocken zu einem wuchtigen Hammer und kleinere Eisensplitter zu einfachen Nagelstäben, trieb sie kammartig in einen kurzen, armdicken Prügel, schäftete in zwei vorgebohrte Löcher die beiden Spitzen eines gespaltenen langen Steckens und übergab das neue Ding Eva: »Da, das ist ein neuer Rechen. Schaut wie eine große Hand aus mit vielen Fingern dran. Damit wirst du dich leichter tun beim Laubzusammenscharren.«
Peter schmiedete ihr auch noch ein krummes Grasmesser, das er flach in einen gespaltenen Stiel schäftete, und gab ihr eines der schmalen Quarzsand-Schieferstücke als Wetzstein.
Bald darauf ging Eva in einer mondhellen Frostnacht hinaus und plünderte die Preiselbeerstauden an der Lehne des Alten Steinschlags, und Peter wagte sich zwischen die niedergegangenen Steinmassen des Neuen Steinschlags, um sie nach altem Brauch zu durchstöbern. Auch diesmal stieß er auf abgestürztes Wild, zwei Steinböcke, und fand, daß Fleisch, Gedärm, Felle und Hörner verwendbar waren. Als die zunehmende Kälte Eva gar zu arg zusetzte, half Peter ihr das Grünfutter heimschaffen und staunte nicht wenig, wieviel sie mit ihrem plumpen Grasmesser geschnitten hatte. Nach einem kräftigen Frühmahl holten beide den versäumten Nachtschlaf nach, erwachten aber, als die Sonne die Morgennebel zerteilt hatte, und verbrachten den hellen Tag in emsiger Arbeit.
Zunächst galt es, die Steinböcke abzuhäuten, Fleisch und Felle zum Räuchern vorzubereiten. Vergnügt schwang Peter draußen sein neues breitschneidiges Beil, entastete gefällte Stämme und kürzte sie auf die Länge von vier Schritten. Dann erst holte er sich den lange vergessenen Kalk, mauerte feste Steinsockel um die vorderen Eckständer und setzte den Blockhüttenbau, wie er ihn sich vorgezeichnet hatte, fort. Trotz Evas Hilfe dauerte es volle sechs Wochen, bis er das Dachgebälk mit Schilf decken konnte, während Eva die Fugen der Blockwände mit Lehm und Moos abdichtete. Sie wunderte sich, daß der Mörtel zwischen den Steinen weich blieb, hoffte aber, daß er bei wärmerem Wetter doch noch hart werden würde. Peters Allerlei räumte sie in die linke Hälfte des Hohlraumes unter dem Stubenboden. Die rechte Hälfte sollte einstweilen die Geiß beherbergen und eine Falltür die Abfallstoffe vom Wohnraum aufnehmen.
Während die beiden ihr neues Heim einrichteten, herrschte draußen ein Schneetreiben, als wollten sich die Wintergeister noch einmal austoben, ehe der Lenz ihre Macht brach. Aber die dicken Bohlenwände der Blockhütte boten besseren Windschutz als die dünnen, geflochtenen Wände der Pfahlhütten.
Der Schneefresser
Sooft es noch schneite, auf den Hängen der Sonnleiten blieb der Schnee nicht mehr liegen. Über Goldprimeln und blühenden Heidekräutern gaukelten langgeschwänzte, gelbe Falter und weiße mit roten Augenflecken. Vom besonnten Werkplatz schauten Peter und Eva sorgenfrei hinüber zur schneebedeckten Grableiten und hinunter zum winterlich öden Steinfeld. Eva sang bei der Arbeit mit Ringamseln und Goldhähnchen um die Wette. Wie die Vögel reihte sie tiefe und hohe Töne aneinander und freute sich daran. Unter der Südwand, wo keine Steinschläge drohten, hallten Peters Axtschläge wider. Er rodete einen Bestand von Fichten und Buchen, Eva brauchte Platz für ihre Nutzpflanzen; sie sollte das Wildgemüse nicht mehr im weiten Talgrund zusammensuchen müssen. Er gab es von vornherein auf, die starken Bäume mit Axt und Säge zu fällen; es genügte, jeden Stamm auf der Sonnenseite tief einzukerben; den Rest konnte der nächste Föhnsturm besorgen.
Und der »Schneefresser« kam, noch ehe die Grableiten grünte. Es war gegen Abend eines ungewöhnlich hellen Frühlingstages. Glanzlos versank die Sonne zwischen blutigroten Wolkenbänken. Von fernher klang ein noch nie gehörtes Rauschen rieselnder Wasser und bewegter Baumkronen. Erst als der Mond, umgeben von einem blaßgelblichen Hof, über den Salzwänden emporstieg, suchten Eva und Peter ihr Lager auf. Der Schneefresser war unterwegs, endlich! Dennoch sprangen sie entsetzt auf, als frühmorgens das Krachen eines stürzenden Baumriesen jäh ihren Schlaf beendete. Sie lauschten dem Heulen in der Luft, dem Stürzen der angekerbten Bäume, dem Surren und Sirren stiebender Sandkörner. Zeitweise aussetzend, dann wieder mit erneuter Wut an der Blockhütte zerrend, dauerte der heiße Sturm den Tag über und tat die von ihm erwartete Arbeit.
Gegen Abend wurde es still. Alles war gut vorübergegangen! War es das wirklich? Aus der Höhle kam ein feines Klingen, dann ein kurzes Aufheulen des Sturmes im Walde. Eine schwere Luftwoge prallte gegen die Vorderwand der Blockhütte, so daß sie aufächzte und bebte. Peter und Eva sprangen gleichzeitig von ihren Sitzen. Sie fühlten den Hüttenboden unter ihren Füßen wanken, hörten das Gebälk der Wände und des Daches in den Kerben scharren und kreischen. Ehe sie sich recht besinnen konnten, wurde das Dach über ihren Köpfen weggerissen; Balken, Stangen, Schilfbündel wirbelten steil an der Felswand hoch. Asche und glühende Kohlen wurden vom Herd weg nach allen Seiten zertragen. Brüllend vor Schreck zerrte unten die Geiß an ihren Riemen. Da schlüpfte Eva hinab und schnitt sie los, damit sie sich ins Freie flüchten könnte. Sie selbst floh in die Bärenhöhle. Dorthin stürzte auch Peter und ihm nach die drei Fuchshunde. Hand in Hand standen die ihres Heimes Beraubten in der finsteren Höhle und lauschten dem Entsetzlichen, dem sie entronnen waren. Draußen schlug ein Sturmstoß von unten her an, hob Bodenhölzer und Seitenbohlen, als wären sie dürres Reisig, und trieb sie scheuernd die Felswand hinauf.
Peters Werk war vernichtet. Eva sah nicht die Zornestränen an seinen Wimpern, sie fühlte nur sein stoßweises Schluchzen, das Zucken seiner Hand. Da legte sie ihm ihren Arm um den Hals und sprach auf ihn ein:
»Schau, Peter – wir haben ja uns, uns ist nichts geschehen. Es hätt‘ auch anders kommen können. Wir sind ja schon im Frühling – und bald wird‘s Sommer. Im Herbst wär‘s schlimmer gewesen, viel schlimmer.«
Peter wühlte nachdenklich im Fell seines Lieblingshundes. Eva hatte recht. Gut, daß es jetzt schon so gekommen war. Und wie so oft in schlaflosen Nächten überlegte er, was zu tun sei. Zurück in die niederen, dämmerigen Bärenhöhlen? Nein, niemals! Er würde eine Höhle bauen, eine geräumige Höhle – aus schweren Felstrümmern und Mörtel – genau unter der Südwand, wo kein Steinschlag drohte das Dach aus schweren Baumstämmen – und Felsbrocken darauf – kein Sturm sollte es abdecken können – allen Stürmen sollte es trotzen, sein Steinhaus – für immer!
Brandstätten auf der Sonnleiten
Um die Mittagsstunde des nächsten Tages verließen Peter und Eva die Höhlen, lockten die Geiß, banden sie im Freien an und suchten die vom Sturm verstreuten Trümmer ihrer Blockhütte und ihr Gerät zusammen. Alles Werkholz wurde vor der Höhle für den neuen Bau bereitgeschichtet. Zwischen der Südwand und dem Gewirr gestürzter Bäume gelangten sie zu einer mannsstarken Fichte, nahe am Felsen, eine stürzende Buche hatte sie gestreift. Neben der geschundenen Fichte lag die riesenhafte Buche, weit abseits ihr abgeknickter Wipfel und zwischen beiden ein toter Buntspecht. In der oberen Bruchhälfte des Buchenstammes war die Bodenmulde der kunstvoll gezimmerten Nisthöhle zu sehen, die Decke der Spechtwohnung samt dem Flugloch fand sich im Bruch des Wipfelstückes. Sinnend betrachtete Peter die zerstörte Höhle, die der Vogel mit großem Fleiß gezimmert hatte. Er nahm den keilförmigen Schnabel des Spechtes zwischen die Finger und prüfte mit dem Daumen die Schneide der steilgestellten Spitzkante. Er reckte den Vogelhals, der wie ein kurzer Axtstiel den Kopf mit dem lebendigen Werkzeug geführt hatte. Je länger er den Schnabel betrachtete, um so auffallender erschien ihm dessen Ähnlichkeit mit seiner eigenen Axt.
Kopfschüttelnd machte er Eva auf diese Ähnlichkeit aufmerksam. Auch sie betrachtete das Wunder und meinte dann in ihrer schlichten Art: »Ja, Gott hat den Axtschnabel des Spechts früher erfunden als du deine Axt; Enten und Gänsen hat er Ruderfüße früher wachsen lassen, als du das Ruder erfunden hast.«
Peter arbeitete von nun an täglich bis zur Abenddämmerung, während neben der künftigen Hausfichte ein Reisigfeuer prasselte. Eva schaffte das Astholz weg und stapelte es vor der Bärenhöhle auf. Die Säge kreischte, die Axt klang. So ging es wochenlang, bis die Stämme kahl waren. Mit Hilfe eines Hebebaumes rollte Peter die entasteten Fichten so weit an den Waldrand, daß der Bauplatz unter der Südwand frei wurde. Die Stämme der alten Buchen aber lagen massig auf dem künftigen Gartengrund. Sie mit der Säge zu zerlegen, war unmöglich.
Die Zeit der Erdbeerblüte war da, und mit dem Bau des Steinhauses mußte begonnen werden, wenn es vor dem Winter unter Dach kommen sollte. Drei Wochen lang brannte Peter Kalk, schmiedete Werkzeuge und schleppte Steine; seine Handflächen bedeckten sich mit Schwielen. Aber köstlich waren die Feierstunden, in denen es nicht wenig zu lachen gab; denn Bläff und Einäugel hatten Junge, schiefergraue Wollknäuel, die miteinander balgten, ihre Mütter zausten und den eigenen Schwänzen nachjagten.
Als es wärmer wurde, schlugen in den Schlupfwinkeln unter dem Holz Schlangen ihr Heim auf und sonnten sich auf den Baumstümpfen. Diese neuen Gäste waren unerwünscht. Peter schaffte große Bündel Fichtenreisig unter die verstümmelten Kronen der liegenden Baumriesen und wartete auf einen ruhigen Tag, um Feuer anzulegen. Dem Walde zu säuberte er einen breiten Bodenstreifen von dürrem Gezweig und Laub; ein nackter Saum sollte das Weitergreifen des Feuers verhindern.
An einem windstillen Abend knatterten die Fichtenreiser. Qualmend, zischend leckten die Flammen an den abgestorbenen Stämmen und züngelten senkrecht empor. Als die Nacht anbrach, stieg vom breiten Glutherd wogendes Feuer auf, krachend zerbarsten die Stämme; durch die flimmernde, heiße Luft flatterten von allen Seiten zahllose Nachtfalter und Schwärmer dem ungewohnten Lichte zu. Mit versengten Flügeln fielen sie zu Boden. Peter, der das Feuer bewachte und es mit einem nassen Zweigbesen bewaffnet umkreiste, fegte glimmende Reiser und sterbende Schmetterlinge in die Glut, aber auch Schlangen, die ihre Schlupfwinkel verlassen hatten, und solche, die von fernher dem Feuerschein zugekrochen waren.
Ein Platzregen kurz vor Sonnenaufgang löschte das Feuer. Weiße Dampfwolken stiegen von den schwelenden Stammresten auf, ein dicker Brei aus Asche und Holzkohle floß zähe über die verheerte Sonnleiten hinunter bis zum Kastanienwäldchen, wo er sich staute. Schlaftrunken taumelte Peter zur Höhle.
Zwei Tage später schafften Peter und Eva die verkohlten Holzreste an den Waldrand, säuberten die Brandstätte und begannen den künftigen Gartenboden aufzulockern. Dabei verbog Eva den dünnen Stiel von Peters bronzenem Handspaten. Da bog sie den Stiel so, daß aus dem Spaten eine Haue entstand, mit der sich wie mit dem gekrümmten Finger einer Hand scharren ließ. Peter schäftete sie rasch in einen längeren Stiel, und nun griff sie im Schwung tiefer in die Erde ein.
Doch Evas erster Versuch, frisch ausgegrabenes Wildgemüse einzupflanzen, mißlang kläglich. In der Sonne blieb keiner der Pflänzlinge am Leben. Um doch noch im gleichen Jahr einen Erfolg zu erzielen, rieb Eva aus vorjährigen Dolden wilder Mohrrüben die Samen und legte sie einzeln in flache Grübchen. Peter grenzte durch Auflegen von Baumstämmen den Baugrund ab und begann Bausteine herbeizuschleppen.
Bald kam er davon ab, die Steine einzeln heranzutragen. Er nahm ein Fell und legte eine Ladung darauf. Zufällig kam ein großer Brocken auf einen Holzknüttel zu liegen und ließ sich leicht auf dieser natürlichen Walze weiterbewegen. Ohne es zu wollen, hatte Peter ein neues Beförderungsmittel gefunden! Von nun an legte er längere Steinblöcke, die sich nicht leicht befördern ließen, auf je zwei Rundhölzer und schob sie über den zwei rollenden Knütteln vorwärts. Eva, die jetzt keine schwere Arbeit tun konnte, mußte das hinter dem Steinblock frei gewordene Rollholz aufheben und es wieder vor die Last legen.
Nach vier Wochen Arbeit, sie hatten noch lange nicht genug Bausteine angehäuft, war es mit Evas Kraft vorbei; sie konnte nicht einmal mehr die Rollhölzer vortragen. Peter, fast berstend vor Ungeduld, die Mauern des Hauses wachsen zu sehen, unterbrach das Heranschaffen der Steine. In einer Lehmgrube übergoß er einen Teil seines gebrannten Kalkes mit Wasser, und als die Kalkmilch brodelte, setzte er Sand zu, so daß ein breiiger Mörtel entstand.
Ehe die dicke Mauer kniehoch war, brachte die Geiß zwei Zicklein zur Welt; eines, das weibliche, war zart gebaut und weiß wie Bläß, die Stammutter der Mischlinge; das andere, ein Böcklein, zeigte die dunkle Färbung der Steinböcke; auf der Stirn hatte es einen weißen Fleck. Es erbte den Namen des im Vorjahr verunglückten Schwärzel.
Schon am Abend ihres ersten Lebenstages standen die Zicklein auf ihren plumpen Beinchen, die sie beim Saugen so drollig spreizten, daß Eva lachen mußte, sooft sie es sah. Es lag viel Zärtlichkeit in der Art, wie sie die Tierchen auf den Armen herumtrug.
Für Peter hatte der Anblick seiner schönen, jungen Frau etwas Rührendes. Und Eva litt es gern, wenn er ihren Kopf zwischen seine schwieligen Hände nahm oder über ihre Haare strich.
Bau des Steinhauses
Und wieder mußte Peter den Hausbau unterbrechen: Die Scheckin und ihre Jungen brauchten Winterfutter. Zwei Wochen lang schaffte er Heu herbei, das er dicht am Stamm einer breiten Fichte vor den Bärenhöhlen häufte, so daß der von den Ästen nach außen geleitete Regen an der Oberfläche des Heuschobers niedergleiten konnte. Im Alten Steinschlag, wo Eva die Scheckin und ihre zwei Jungen angepflockt hatte, stellte sich ein wilder Bock ein, den Peter zwar mit der Wurfleine fing, der aber als unzähmbarer Ausreißer bald wieder in die Freiheit entwich.
Ohne sich über den Verlust zu ärgern, kehrte Peter zu seinem Bau zurück. Die Quetschwunden, die er bei der Arbeit davontrug, bestrich er mit frischem Harz und kümmerte sich nicht weiter darum. Er dachte nur an das Haus, das vor dem Winter fertig werden mußte. Zu Eva war er ganz anders als früher. Etwas Weiches, Zärtliches war in sein Wesen gekommen, das den rauhen Eindruck seiner gedrungenen Gestalt milderte und sein sonnverbranntes, von schwarzem Haupt– und Barthaar umwalltes Gesicht veränderte. Eva fühlte, wie gern er sie hatte. Ihr zuliebe beschränkte er sich einstweilen auf die Wohnküche, deren Wettermauer er zuerst fertig machen wollte. Da Eva ihm nicht mehr helfen konnte, baute er ein bankartiges Holzgerüst, auf dem er Bausteine und Mörtelgefäß bereitstellte. Als die Wettermauer fertig war, nahm er die Stirnmauer in Angriff. Eva, der die Wettermauer schief vorkam, holte von ihrem Webstuhl einen der mit einem Lehmklumpen beschwerten, straffen Fäden, legte das obere, freie Ende an die Mauer und machte Peter darauf aufmerksam, daß unten zwischen dem gespannten Faden und der Mauer ein fast handbreiter Abstand war. Peter lächelte über den von ihr entdeckten Schönheitsfehler der Mauer; er wußte ja, daß der hart werdende Mörtel die Bausteine zu einem einzigen Felsen verbinden werde.
Regentage bedeuteten für ihn keine Unterbrechung der Arbeit; er schleppte Bausteine und pries die Kühle. Der Spätsommer war da, die Mauern des Hauses wuchsen. Da er Eva bei der Zubereitung der Mahlzeiten in der Nähe haben wollte, errichtete er unweit der rechten hinteren Ecke ihrer künftigen Stube, der Türschwelle schräg gegenüber, den neuen, aus Steinen gemauerten Herd. Aus Rücksicht auf seine Frau, der er das Bücken und Kauern vor der Feuerstelle ersparen wollte, baute er den Herd hüfthoch auf. Hinter der Feuerstelle wollte er die Räucherkammer anlegen. Unter der sorgfältig gefügten Wölbung des Herdes hatte er eine Nische freigelassen, in der das Brennholz vorgetrocknet werden sollte. Eva war froh über den vervollkommneten Herd. Nur einen Wunsch hatte sie noch: Peter sollte ihr statt der Steine, die sie gelegentlich unter ihre Töpfe und Näpfe zu legen pflegte, um dem Feuer darunter Raum zu geben, einen Dreifuß machen, wie ihn die Ahnl gehabt hatte. Und Peter schmiedete aus gebogenen Eisenstäben den Dreifuß, der nun ein ständiges Küchengerät blieb.
Damit der Rauch abstreichen konnte, führte Peter von der linken Herdkante aufwärts eine Mauer bis zur voraussichtlichen Höhe des Daches auf, wo die Rauchluke ausgespart werden sollte. An der Außenseite dieser Mauer machte er eine Nische für die Ahnenbilder. Die Ausführung der Stirnwand des Hauses ging rasch vor sich, da Peter die Tür– und Fensteröffnungen ausgespart hatte; er war in bester Laune und teilte Evas Freude, deren Möhrensamen in ihrem ersten Gartenbeet fast alle aufgegangen waren. Weil es so gut gegangen war, entschloß sie sich, trotz der vorgerückten Jahreszeit, noch ein zweites Beet anzulegen und es wieder mit Möhrensamen einzusäen. Wenn auch vor dem Winter nicht mehr auf eine Ernte zu hoffen war, so mußte doch das spät gesäte Gemüse früh im nächsten Jahr kommen!
Schwüle Tage kamen mit nächtlichen Gewittern, und auf den Wettersturz folgte eine kühle, windige Zeit mit gelegentlichem Regen. Peter ahnte den nahenden Herbst und beschleunigte seine Bauarbeit. Während ihn die von Eva beanstandete Wettermauer vor dem Klammwind schützte, stand er auf dem Gerüst und vermörtelte sorgfältig die Fugen der Stirnmauer. Plötzlich gab die Wettermauer dem Winddruck nach; das von fallenden Steintrümmern getroffene Gerüst kippte um, und Peter stürzte samt seinem Mörteltopf auf den Steinhaufen. An Schienbeinen und Ellbogen blutend, rappelte er sich auf.
Eva, die im Alten Steinschlag ihre Scheckin gemolken hatte, kam, durch das Gepolter der stürzenden Steine neugierig gemacht, herbeigeeilt und erschrak beim Anblick des Trümmerhaufens. »Peter, sag, hast dir weh getan?« Er schüttelte den Kopf. Sie aber bemerkte die Quetschwunden und legte blutstillende Feuerschwammlappen auf. Und dann sah sie, wie ihr Mann vom Webstuhl einen Spannfaden holte und die lotrechte Stirnmauer nachprüfte; sie lächelte still vor sich hin.
Trotz seines Arbeitseifers war Peter erst kurz vor der herbstlichen Tagundnachtgleiche so weit, daß er die Fensteröffnungen durch Steinplatten abschließen konnte. Und schon drängte die Zeit.
Frühreif abgefallene, wurmstichige Eicheln und Kastanien mahnten ihn an die nahe Herbsternte. Diesmal würde er allein sammeln müssen! So arbeitete er denn in mondhellen Nächten oder beim Schein einer Pechfackel, bis ihm die Hände den Dienst versagten.
Eine Woche nach dem Tage, an dem die sinkende Sonne die Henne erreicht hatte, konnte er mit dem Legen der Dachbalken beginnen, die noch vom Blockhaus stammten.
Diesmal sollte ihm kein Föhn das Dach abheben! Peter legte die stärksten Längsbalken gleichlaufend mit der Felswand und der vorderen Hausmauer in ausgesparte Lücken der Quermauern ein, wo er sie zwischen Steinkeile und Mörtel bettete. Aus zwei Fichtenstämmen fügte er eine Leiter zusammen, und nun ging das Legen der Dachbalken rasch vonstatten, da sie ja schon die richtige Länge hatten. Sorgfältig band er sie nieder und deckte sie mit Schilf, das er mit Stäben und Steinblöcken beschwerte.
Und Eva beeilte sich, die zuvor eingeweichten Tierblasen auf Rutenrahmen zu spannen; sie sollten in die Fensteröffnungen eingefügt werden. Schon bot das neue Heim den Sonnleitnern sicheren Schutz vor allen Wetterunbilden. Eva weißte die Stubenwände und flocht eine schulterhohe Tür, bei günstigem Wetter wollte sie viel Licht in die Stube hereinlassen. An Fellen zum Verhängen der großen Lichtluke war kein Mangel.
Nach der Riesenarbeit des Hausbaues empfand Peter die Tage der Herbstjagd als Erholung. Er erbeutete einen Rehbock und zwei Jungschweine, deren Fleisch er in den Rauchfang hängte. Als der erste Schnee die Sonnleiten vorübergehend bedeckte und Eva es ungern sah, daß Peter die Scheckin mit den Zicklein in die bereits eingerichtete Wohnstube brachte, errichtete er noch einen kleineren Anbau, der von der Wohnküche aus zugänglich war. Die hintere Hälfte des neuen Raumes wurde zum Stall, die vordere zur Vorratskammer bestimmt. So konnte Eva bei schlechtem Wetter zu Tieren und Vorräten gelangen, ohne sich die Füße naß zu machen. Da sie ihr Lager neben der warmen Herdmauer haben wollte, baute er ihr ein neues, hochbeiniges Bett und stellte das alte für sich an der Wettermauer auf. Und sooft Eva seine Rechte mit beiden Händen umfaßte, war er glücklich.
Mutterschaft
Die Sonne näherte sich merklich dem Winterhorn. Weich lag der Neuschnee auf dem Dach des Sonnleitnerhauses. Aber die Felswand, die zugleich die Rückwand der Wohnstube war, glänzte feucht vom niederrieselnden Schmelzwasser, sooft die Sonne die Schneemassen auf den Bändern und in den Rissen der Südwand taute; der lehmige Boden wurde weich. Und wieder nahm Peter die Bauarbeit auf. Eine dicke Mörtelschicht, die das Wasser von der Felswand zum Dach ableiten sollte, trug er dort auf, wo das Dach den Felsen berührte. Die Felswand selbst verkleidete er auf der Stubenseite mit senkrecht verspreizten, flach behackten Fichtenständern. Dann zimmerte er Wandbretter, auf die Eva ihre Koch– und Eßgeschirre stellen konnte. Und da es ihr mißfiel, daß seine Schmiedewerkzeuge und sein Allerlei in der Wohnküche lagen, richtete sich Peter die verlassene Bärenhöhle als Werkstatt ein.
Nach einem erfolgreichen Jagdgang baute er den Rauchabzug zur Räucherkammer um und fügte zwischen ihre Wände eiserne Querstäbe ein, an denen er alle bisher gesammelten Fleischvorräte an Haken aufhängte.
Es war am Tage vor Sonnwend. Blutrot versank die Sonne dicht am Winterhorn. Am nächsten Morgen war der Boden mit lockerem Neuschnee bedeckt. Spurenschnee! Peter schliff die Stahlspitze seines Speeres nach und koppelte Schnapp und Einäugel an die Riemen. Er wollte ein Wildschwein erjagen; Wildschweine waren jetzt fett von der Eichelmast. In der dämmerigen Stube sah er nicht die Angst in Evas Gesicht, als sie ihn bat, bald heimzukommen. Er versprach es leichthin. Aber draußen im Wald hatte er nur seine Beute im Sinn – Beute, die Fett gab, das im Winter nicht fehlen durfte! Erst gegen Mittag gelang es ihm, tief unten im Eichenbestand an der Triftbucht einen Keiler zu erlegen. Den Nachmittag verbrachte er damit, das schwere Tier den holprigen Waldpfad bergauf zu schleifen.
Es dämmerte schon, als er vor den Bärenhöhlen rastete. Beim Anblick des Reisighaufens, den er für das Sonnwendfeuer gerichtet hatte, holte er Stahl, Stein und Zunder aus seiner Jagdtasche und schlug Feuer. Den glimmenden Schwamm schob er mit einem harzgetränkten Wergbüschel unter das Reisig und blies mit vollen Backen die Glut an. Erst als die Flammen loderten, schleppte er seine Beute heimzu. Eva sollte von der Schwelle des Hauses aus das Sonnwendfeuer sehen.
Als er in die düstere Wohnstube trat, fiel ihm zuerst auf, daß die Herdflamme am Verlöschen war. Fröhlich rief er: »Da bin ich!« Keine Antwort, keine Bewegung in der Stille des Raumes. Bläff kroch heran und zwängte sich an dem Lauschenden vorbei ins Freie, um nach alter Gewohnheit vom Blute des Beutetieres zu lecken. Da erblickte Peter im zuckenden Licht der Ampel Evas bleiches Gesicht auf dem Kissen ihres Lagers. Warum gab sie keine Antwort? Mit klopfendem Herzen näherte er sich dem Bett. Schlief sie? Warum war sie so blaß? Lauschend neigte er sein Ohr zu ihrem Munde. Sie atmete still und regelmäßig. Sie lebte! Da rief er sie noch einmal beim Namen, leise, aber eindringlich: »Eva, Everl! So hör doch!«
Ihre Augenlider flatterten, ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, ihre Lippen öffneten sich, und wie im Traum, sprach sie: »Wie soll er heißen?«
Da erst gewahrte Peter das Köpfchen des Kindes, um das die Mutter den rechten Arm gelegt hatte. Er sank auf die Knie und dankte dem Allmächtigen, der das Wunder hatte geschehen lassen. Da erwachte das Kind und quäkte leise vor sich hin. Was die alte Ahnl einst dem Findling beim Kräutersammeln mitgeteilt hatte über die Pflege von Mutter und Kind, fiel Peter, dem Vater, wieder ein. Er machte Feuer und wärmte Wasser für ein Bad. Durch die Tierblasen der Fenster drang gedämpft ein Schimmer des Sonnwendfeuers herein. Und als er das Kind badete, gab Eva ihm den Namen: »Hans soll er heißen, wie der Ähnl, und alles können soll er, wie der Ähnl! – Gott möge unser Kind beschützen!«
Der kleine Hans
Das Kind gedieh, die Mutter aber brauchte lange, bis sie sich erholte. Sie klagte über den kalten Boden. Die Felle auf dem Lehmflöz waren vom Schimmel befallen. Peter belegte den Boden mit flach behauenen Stämmen, die noch von den Wänden der Blockhütte übrigwaren. Das bißchen Milch, das er der Scheckin noch abmelken konnte, gab er Eva, buk Fruchtfladen und kochte, wonach es sie gelüstete. Für den kleinen Hans fand sich ein tragbares Bettchen, nämlich die Futterkrippe der Geiß, die Peter mit Heu, Rehfellen und weichgeklopften Scheiben von Buchenschwämmen auslegte.
Die junge Mutter sehnte sich nach der Sonne. Warme Winternachmittage hätte sie am liebsten draußen verbracht. Peter baute ihr aus Birkenstämmchen einen bequemen Sessel mit Rückenlehne und Armstützen und legte ihn mit Fellen weich aus; und vollends glücklich war Eva, wenn er mit ihr draußen zu Mittag aß. Sie fühlten sich sicher im Frieden des Hauses, den auch die Fuchshunde nicht stören durften.
Hansls Gesicht, das anfangs so faltig und verdrießlich ausgesehen hatte, wurde rund und glatt. Seine Eltern fanden es entzückend. Nicht minder bewunderten sie seine winzigen Hände und Füße, mit denen er fuchtelte und zappelte. Seine Augen, die in den ersten Lebenswochen ausdruckslos ins Unbestimmte geblickt hatten, richteten sich immer aufmerksamer auf alles, was leuchtete, glänzte und sich bewegte. Sein Lächeln und Krähen wurden von Mutter und Vater als Zeichen von Klugheit bejubelt. Bald drehte Hansl sein Gesicht den Dingen zu, von denen ein Ton ausging, und schien sich zu freuen, wenn er entdeckte, was da geklungen hatte. Sein glücklicher Vater bastelte ihm aus leeren Walnüssen, in die er Steinchen einschloß, eine Rassel, die Hansl unermüdlich schüttelte. Um seine Ohrenfreuden zu vermehren, ließ Eva ihre alte bronzene Bratpfanne vom Deckenbalken herabbaumeln und schlug mit dem Kochlöffel darauf. Dem langausklingenden »Gunn-n!« lauschte der Bub mit offenem Munde. Da gab Eva ihm den Kochlöffel und hängte die Pfanne tiefer. Der Kleine schlug auch danach, meist traf er daneben, da seine Hand noch nicht der Führung des Auges gehorchte; sooft es ihm aber glückte, schrie er vor Freude.
Der Nachwinter war mild. Laue Stürme schleuderten Schneeregen gegen die schlaffgewordenen Tierblasen in den Fensterluken. Die kalten Baumkronen des nahen Laubwaldes ächzten und warfen totes Geäst ab. Immer häufiger wurden die föhnigen Tage. Dröhnend fuhren Schnee– und Steinlawinen zu Tal. Die Brandstätte auf der Sonnleiten prangte im Schmuck der Huflattiche, deren Blütensönnchen sich auf beschuppten Stengeln der Sonne zuwendeten. An stillen Tagen saß Eva auf ihrem Sessel im Sonnenschein und nähte ihrem Sohn das erste Hemdchen aus weichgewalktem Rehleder, denn Nesselgewebe war zu rauh für seine zarte Haut. Vater Peter schnitzte an einem Spielzeug für den Sohn oder an Eßlöffeln aus dem harten Holz des Eisbeerbaumes.
Auf den Höhen schmolz der Schnee, und über die kahle Brandstätte der Sonnleiten rieselten glitzernde Bächlein. Dem Stubenboden aber entstieg ein schwerer, muffiger Geruch. Da riß Peter einige Bodenbalken auf und entdeckte zu seinem Entsetzen, daß die Erde unter dem Holz breiig war; das Bodengebälk schimmelte und moderte, von weißen Fäden des Hausschwammes durchzogen.
Peter grub für das Bergwasser Abzugsgräben an beiden Seiten des Hauses und bewarf den Sockel der Mauern bis auf den Felsgrund mit Mörtel. Anschließend grub er den Stubenboden bis auf die felsige Unterlage ab und deckte ihn mit angekohlten Baumstämmen. Darauf legte er einen Lehmbelag, den er, um ihn zähe zu machen, mit Ziegenmist vermischt und geknetet hatte. Unter der Stirnmauer des Hauses stach er Abzugsrinnen, damit das Wasser ablaufen konnte.
Unterhalb des Hauses, auf der nach den Bärenhöhlen gelegenen Seite, hob er eine knietiefe Grube aus. Darin sollte sich das Bergwasser sammeln und einen Teich bilden.
Die föhnige Zeit gab Peter viel zu tun. Der Boden des künftigen Gemüselandes, wo noch die Strünke der verbrannten Bäume standen, mußte gelockert werden. Eva half dabei. Weil der Hang, an dem die Schmelzwasser haltlos niederrieselten, so steil war, legte sie die Beete als breite Stufen an, wo das Wasser sich stauen und dann versickern mußte. An ihren Möhren, die sie im vorigen Sommer gesät hatte, entdeckte Eva Dinge, die ihr zu denken gaben. Die Wurzeln jener Möhren, die sie so frühzeitig gesät hatte, daß sie noch im Herbst zum Blühen kamen, waren mager und zähe, die Wurzeln der zu spät gesäten aber dick und saftig. Eva beschloß, die gut Geratenen blühen zu lassen und ihre Samen im Spätsommer auszusäen. Damit aber die Ziegen nicht wieder das Gemüseland kahlfressen konnten, sollte Peter den ganzen Anbaugrund mit einem schulterhohen Zaun umhegen.
Kaum war der Zaun fertig und der kleine Hofraum vor dem Haus vom Garten abgeschlossen, brachte die Scheckin, gerade als die Sonne hinter der Henne unterging, vier gesunde Zicklein zur Welt, unter denen nur ein Böckchen war. Eine Woche danach erfreute Bleß, die Einjährige, ihre Pfleger durch ein weibliches Zicklein. Alle Sorge um Felle und Fleisch war vorbei. Wenn auch ein Teil der Milch den Zicklein überlassen werden mußte, den größten Teil des Jahres hatten die Sonnleitnerleute Milch im Überfluß. Aber der Zuwachs an Ziegen, die Peter nicht immer bewachen konnte, zwang ihn, auch den Weideplatz im Alten Steinschlag in weitem Bogen zu umzäunen. Erzverarbeitung, Töpferei und die geliebte Schmiedearbeit, alles mußte zurückstehen, bis der Zaun fertig war. An der Felswand entstand aus groben Felsbrocken und schwerem Gebälk ein niederer Stall, in dem die Tiere bei Unwetter Schutz fanden.
Eva, die Pflänzlinge für den Gemüsegarten beschaffen mußte, trug auf ihren Wanderungen ihren Buben im Rucksack mit sich. Sie war wieder gesund und kräftig. Hansl, für den sie einen Liegekorb aus Weidenruten geflochten hatte, nachdem er einmal aus der Krippe gepurzelt war, behinderte sie nicht in ihrer Arbeit. Hatte er sich an der Mutterbrust sattgetrunken, dann lag er vergnügt in seinem Korb, auf Moos und Feuerschwammlappen weich gebettet, mitten im Gartenland. Als Sonnenschutz diente ein Tannenast, den Eva neben ihm ins Erdreich steckte. Seine Augen folgten den Schmetterlingen, die von Blume zu Blume gaukelten, und den Singvögeln, die zwitschernd die Beete nach Insekten absuchten. Der Kleine machte auch an sich selbst allerlei Entdeckungen: Er fand, daß jeder Finger sich in den Mund stecken ließ; er zog die Beine herauf und versuchte bald an der linken, bald an der rechten großen Zehe zu lutschen. Er strich sich mit den Fingern über die Lippen und brummte dabei. Er schuf sich ein wunderliches Kauderwelsch, das seiner Mutter wie eine fremde Sprache vorkam. Unfaßbar war es ihr, daß Hansl den heimkehrenden Peter mit »Atja« ansprach und seinen Mund in breitem Lächeln verzog. Atja! – woher hatte er dieses Wort?
Die Fuchshunde und deren Junge beschäftigten ihn unausgesetzt. Sobald er sie sah, kroch er ihnen auf allen vieren nach; und jeder Hund hieß bei ihm einfach »Haff, haff«! Hatte er bei Tag zu viel geschlafen, dann begann er nachts seinen ganzen Wortschatz auszukramen. Und mochten die Eltern noch so müde sein, sie lauschten seinen vieldeutigen Selbstgesprächen, bis er sich in den Schlaf gelallt hatte.
Der Röhrbrunn
Im Ziergarten grenzte Peter eine Ecke für die Zicklein ab, die nicht mehr bei ihren Müttern trinken sollten. Für die kommende Heumahd schmiedete er das breitrückige Grasmesser dünner, so daß es länger scharf blieb, und gab ihm eine weit vorgreifende, halbmondförmige Krümmung, damit es die Grasbüschel besser umfassen konnte. Den Wetzstein, ein Stück Kieselschiefer, tat er in ein Bockshorn und etwas Wasser dazu.
Nach dem Heuen half er Eva bei der Gartenarbeit. Sie hatte im Frühjahr schon beim Setzen bedacht, welche Pflänzchen viel und welche weniger Wasser brauchten. Ihr Lieblingsgemüse, die Brunnenkresse, hatte sie gleich unterhalb des kleinen Teiches in der linken oberen Gartenecke eingesetzt und anschließend daran Sauerampfer und den kleinen Baldrian, in den Beeten junge Schwarzwurzeln, Bocksbart, Gundelrebe, Maßliebchen, Löwenzahn und Wegwarte; dann kamen die Möhren und die Würzkräuter, Thymian, Gundelkraut, Kümmel, Anis, Fenchel und Lauch. Die unterste, feuchteste Bodenstufe war mit sprießendem Schwadengras begrünt. Sie hatte die Pflänzchen in großen Abständen gepflanzt, so daß deren Blattsterne sich ausbreiten konnten. Zwischen ihnen aber ging das vom Wind gesäte Unkraut so üppig auf, daß Eva mit dem Jäten kaum nachkam. Die meiste Mühe machte ihr das Gießen der durstigen Pfleglinge auf den oberen Bodenstufen, denn der Sommerregen hielt auf der sonnbestrahlten Berglehne nie lange vor, und der kleine Teich lag meist trocken. Eva mußte das Wasser vom entlegenen Moorbachfall in Töpfen herbeitragen.
Zwischen den Beeten kroch Hansl herum und schwatzte vergnügt vor sich hin. Den Eltern fiel es nicht leicht, die Sprache des Kleinen zu verstehen. »Nini« hießen die gelben Blüten des Löwenzahns, aber auch die gelben Falter und die Goldkörnchen an der Halskette der Mutter, und die Großen meinten, es bedeute »gelb«. Aber die hellblauen Blüten der Wegwarte waren auch »nini«; da mußte es wohl »schön« bedeuten. Und »nini« waren die reifen Erdbeeren – es hieß also auch so viel wie »gut«.
Waren schon die alten Füchse trotz alles Schimpfens nicht immer stubenrein, die Jungen wurden es überhaupt nicht. Und Hansl ging nie an einer Missetat vorbei, ohne »ä-!« zu sagen. »Ä-!« sagte er auch zum Lehm am Teichrand, zu schimmeligen Kastanien, zu seinen Händen, wenn er in der Erde gewühlt hatte. Aber auch unreife Erdbeeren warf er mit einem verächtlichen »Ä-!« von sich. Es waren also nicht nur selbsterfundene Namen für Dinge, sondern Urteile über das, was ihm gefiel oder mißfiel.
Als Evas größter Topf zerbrach, machte Peter zwar aus einem abgesägten, hohlen Baumstück einen Kübel, den er einstweilen mit Weidenbändern umwand, damit das Holz nicht reißen konnte. Eva hatte aber keine Freude an dem plumpen Gefäß. Der Boden quoll auf, und der Kübel wurde trotz der Reifen rissig.
Im Geißengarten hatten die Ziegen bald alles Gebüsch abgefressen, das sie erreichen konnten. Täglich mußte ihre Futterraufe mit frischgeschnittenem Grünfutter gefüllt werden, täglich mußten sie getränkt werden. Da Peter den Schmelz– und den Töpferofen wieder in Ordnung brachte und viel Arbeit hatte, sorgte Eva für die Ziegen. Die Tiere waren rührend anhänglich, weil sie ihnen auch Salz zu bringen pflegte. Peter trug sich mit dem Gedanken, die Bewässerung des Gartens in der Weise zu lösen, daß er vom Moorbachfall einen Wasserarm quer über den Alten Steinschlag bis zum Haus leitete. Vom Teich aus, den er zu einem Sammelbecken ausbauen wollte, könnte dann das ganze Gartenland berieselt werden, und Eva wäre das mühsame Wasserschleppen ein für allemal los.
Je anstrengender die Wochen waren, desto peinlicher hielt Eva an der Heiligkeit des Sonntags fest. Schon am Vortage wurde gründlich aufgeräumt und abends gebadet. Keine Schmutzarbeit durfte den Feiertag stören. Saubere Kleider wurden angezogen, Lieblingsspeisen kamen auf den Tisch. Der Besuch des Ahnlgrabes und des Sonnenbildes in den alten Wohnhöhlen war eine gemeinsame Wanderung durch die Heimat, ein Rückerinnern an die schwere Vergangenheit. Für Hansl, der abwechselnd von Vater und Mutter getragen wurde, war dieser Spaziergang ein Schwelgen in Licht, Farbe und Duft. Auch regnerische Sonntage hatten ihr Schönes. Da holte Eva die Zeichensteine und Wochenstäbe hervor und las mit Peter, wie alles gewesen war und wie gut sich alles gefügt hatte.
Für Hansl kamen schmerzensreiche Tage: seine Zähne brachen durch. Eva mußte ihn allmählich an Milchbrei gewöhnen. Sein Wimmern und Wehklagen, das jetzt seine Selbstgespräche unterbrach, verstummte nur, wenn er etwas fand, woran er die wachsenden Zähne versuchen konnte. Aus Angst, daß er einen abgenagten Holzsplitter verschlucken könnte, suchte Eva nach etwas Harmlosem, Feinfaserigem und erinnerte sich der Wurzelstöcke der weißen Schwertlilien. Ein Stück davon schabte sie sauber ab, trocknete und durchlochte es und hängte es dem Kleinen an einer langen Schnur um den Hals. Und sooft er nagen wollte, nahm er das duftende Hölzchen in den Mund und biß darauf herum.
Peter hatte inzwischen aus Raseneisenerz einen Vorrat an Eisen ausgeschmolzen. Indem er es immer wieder anglühte und klopfte, machte er es hämmerbar. Als er für Evas Wasserkübel zwei eiserne Reifen schmiedete, hielt er sich zwar genau an das Maß des Gefäßes, konnte aber nur den einen, noch glühenden Reifen aufbringen; der zweite, der längst erkaltet war, saß am Rande fest. Erst als er auch ihn wieder glühend gemacht hatte, konnte er ihn auftreiben und sah, wie beim Erkalten des Reifens sich alle Fugen der Kübelwand schlössen. Aber Eva hatte an dem Kübel noch immer keine Freude; er war viel zu plump und zu schwer.
Der Bau der Wasserleitung war schwieriger, als Peter gedacht hatte. Drei Wochen brauchte er, bis er quer über die Steinschlaglehne eine Rinne angelegt und die Leitungsrohre aus hohlen Baumstämmen bis in die Nähe des Hausteiches geführt hatte. In einer mondhellen Nacht, während Eva schlief, vollendete Peter sein Werk. Als die Familie am nächsten Morgen vor dem Haus beim Frühmahl saß, hob Hansl den rechten Zeigefinger. Horch! hieß das. Mit offenem Munde lauschte er hinüber zum Teich und schaute bald Eva, bald Peter an, der ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte. Eva sah nach, was denn da rieselte. Ein Wasserstrahl aus dem Baumrohr! Eva trat einen Schritt näher und sah die lange, schnurgerade gemauerte Rinne, Peters heimliches Werk, von ihm ersonnen und geschaffen, damit ihr das Wasserschleppen erspart werde. Sprachlos vor Freude faßte sie seine rissige, schwielige Rechte und zog sie an ihre Brust. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn auf Mund und Wangen. Keine Mühe scheuen, wenn es gilt, dem andern eine Plage zu ersparen – das war die rechte Liebe.
Gärten
Peter wollte die Bewässerungsrinnen zu allen Beeten führen, Eva aber wehrte sich dagegen. Ihre Pfade und der breite Mittelweg sollten trocken bleiben. Sie half ihm, als er in der linken, unteren Ecke des Gartens ein zweites Sammelbecken anlegte, zu dem das Wasser vom oberen Teich in einer stufenförmig angelegten Steinrinne niederrieseln sollte. Daß die Leitung offen mitten durch den Ziegengarten führte, machte das Wasser zum Trinken unbrauchbar. Der Sonne preisgegeben, kam es beim Haus lau und schal an. Das mußte anders werden! Peter überließ die Gartenarbeiten wieder seiner Frau und deckte im Verlauf einer Woche die Wasserrinne mit Glimmerschiefer und Rasenflözen zu. Für die Geißen, die bisher aus der offenen Rinne getrunken hatten, mauerte er in der Nähe der Futterraufe ein Becken aus, das aus einem Spalt der Leitung gespeist wurde. Munter plätschernd rann das Wasser von Stufe zu Stufe und belebte die Stille des Gartens. Sogar nach regenlosen Wochen, als Gras und Kräuter der Halden gelb wurden, stand in Evas Garten das Gemüse üppig. Der Moorbach wurde ja von den Schmelzwassern hochgelegener Firne und Gletscher gespeist, und so tat die Wasserleitung in der Zeit der Dürre ihren Dienst.
An einem sonnigen Mittag stand Peter mit seiner Frau am unteren Teich und bewunderte die schwimmenden, üppigen Blattsterne der Wassernüsse, die Eva dort angesiedelt hatte, und das auf derselben Bodenstufe hüfthoch stehende Schwadengras. Plötzlich drang vom Hausteich her ein heftiges Plätschern herüber und gleichzeitig ein durchdringender Schrei! Peter raste zurück, Eva mit flatternden Haaren ihm nach. Sie fanden Hansl zappelnd im seichten Wasser, Kopf unten, Beine oben. Nach dem ersten Schrecken erschien ihnen der Unfall als großes Glück. Wieder hatten sie den Trost: »Gut, daß es jetzt geschehen ist und nicht ein andermal, es hätte schlimmer ausgehen können.« Nun, da Hansl ins Wasser gefallen war, wurde es höchste Zeit, einen Schutz um die beiden Teiche zu schaffen. Noch in derselben Woche pflanzte Peter ringsherum daumenstarke Weidenruten, deren Seitenzweige er untereinander verband; als Zugang setzte er Gittertüren ein.
Noch war Hansls unfreiwilliges Bad nicht vergessen, als ein anderes Ereignis seine Eltern erschreckte. Eva kniete vor ihrem Maßliebchenbeet und schnitt von den starken Mutterstöcken die zarten Jungstauden aus, die sie mit Blättern der Wegwarte, des Spitzwegerichs und mit Schwadenkorn zu einem Mus kochen wollte, als Hansl, den sie auf dem Mittelweg in die Sonne gesetzt hatte, durch sein lautes »Nini, nini!« ihre Aufmerksamkeit erregte. Den Blicken des Kindes folgend, gewahrte sie mitten unter den blühenden Möhrenstauden eine grüne Eidechse, während von einem Baumstrunk aus eine Sandotter auf das schreckgelähmte Tierchen starrte. Da schleuderte Eva ihr Grabmesser blitzschnell nach dem zusammengerollten Leib der Schlange und heftete ihn am Holze fest; dann hob sie ihr Kind auf, ihr Herz pochte zum Zerspringen. Mein Gott, wenn‘s da oben Schlangen gibt!
Hastig suchte sie Peter in der Höhle auf und berichtete von der neuen Gefahr. Er legte den Hammer weg, nahm Eva das Kind ab und schritt mit ihm nachdenklich dem Heim zu. Den Schlangenleib bedeckte er mit trockenem Fichtenreisig und zündete es an. In der nächsten Woche stöberte er mit Einäugels und Schnapps Hilfe in den hohlen Weiden am Moorbach zwei Igelfamilien auf, die er am Waldrand ansiedelte, wo noch viel angebranntes Holz lag. Nachts aber strolchten sie durch die ganze Sonnleiten. Das war ihr eine große Beruhigung; jetzt konnte Hansl, dem der kleine Hof allmählich zu eng wurde, ungefährdet auch im Garten spielen. Die Igel rotteten die Schlangenbrut aus. Eva nahm ihren Buben auch in den Geißengarten mit und bis zum Moorbach, wo sie noch spätblühende Dotterblumen und Vergißmeinnicht aushob, die sie am Rinnsal in ihrem Garten einpflanzte.
Indes war die Zeit der zweiten Heuernte gekommen. Peter hatte drei Heuhaufen geschichtet, als ein Wetter aufzog. Mitten in der Nacht entlud es sich mit solcher Heftigkeit, daß die Schläfer vom blauen Feuer der Blitze, vom Krachen, Knattern und Grollen naher und ferner Donnerschläge erwachten. Die Welt stand wie in Flammen, die Erde bebte. Hansl schrie, seine Eltern bangten, ob der Blitz ihre Hausfichte und ihr neues Heim verschonen werde. Eva zog den Docht ihrer Ampel vor den Ahnenbildern höher und begann in ihrer Angst laut zu beten. Dies beruhigte alle, und als der Regen auf das Dach trommelte, schliefen sie wieder ein. Am frühen Morgen entdeckte Peter, daß das abströmende Wasser einen Graben unter dem Gartenzaun gerissen hatte; aber dringlicher als die Ausbesserung des Schadens war ihm das Sammeln von Pilzen und Beerenfrüchten. Hansl mußte es sich gefallen lassen, daß er mit Bläff und den jungen Hunden in der Stube eingeschlossen wurde.
Ungesehen zog eine Bache mit sechs Frischlingen durch den Kastanienwald. Im Abflußgraben des unteren Teiches wühlend, entdeckte die Wildsau das Loch unter dem Zaun. Sie zwängte sich durch, und ihre Frischlinge folgten ihr; dann nahmen alle im unteren Teich ein Schlammbad, fraßen von den Wassernüssen die Blattsterne samt den Früchten, zerwühlten die Gemüsebeete und gelangten durch die offene Tür des oberen Zaunes in den Hof. Ein paar verstreute Kastanien vor der Türschwelle des Hauses entlockten der Bache ein behagliches Grunzen. Im Hause schlug Bläff an, die hohen Stimmen der Jungfüchse heulten dazwischen – es war ein ohrenzerreißendes Gezeter.
Vom Lärm gereizt, versuchte die Wildsau, mit ihren Hauern die Tür auszuheben. Da stürzte Peter in langen Sätzen herbei. Der Türrahmen ächzte, die Tür bog sich: die Bache zwängte ihren keilförmigen Kopf zwischen Schwelle und Tür. In die Stube eindringend, traf sie zunächst auf Bläff, die, sinnlos vor Angst, sich mit heiserem Gekläff ihr entgegenstellte. Ein Hauerstoß traf die Hündin, und im nächsten Augenblick starb sie unter den Füßen des gereizten Eindringlings. Da bohrte Peter der Wildsau die blanke Spitze seines Speeres hinter dem Schulterblatt tief in die Brust. Hellrotes Blut spritzte hochauf, und röchelnd blieb das Tier liegen. Nun drängte sich Eva an Peter vorbei in die Stube, riß ihren schreienden Buben vom Boden hoch und barg ihn an ihrer Brust. Peter stand wie angewurzelt vor dem gefällten Wild und starrte auf die tote Hündin. Was wäre aus dem Kinde geworden, wenn der Haushund sich der Bache nicht entgegengestellt hätte? Eva verließ mit Hansl die Stube und stand schluchzend im verwüsteten Garten; sie weinte der guten Bläff nach, und Hansl weinte, weil er die Mutter weinen sah. Als Peter ihr nachkam, küßte sie ihn, dann fragte sie: »Was tun wir mit den Frischlingen?« – »Aufziehen!« sagte er nur. Da führte Eva die zwei Milchziegen in den Geißengarten im Alten Steinschlag, und Peter brachte die Frischlinge einstweilen im Ziegenstall unter. Dann verrammelte er das Loch unter dem Gartenzaun mit Steinen. Beim ersten Fütterungsversuch drängten sich die jungen Schweinchen ängstlich in eine Ecke des Stalles und steckten die Köpfe zusammen. Aber schon am nächsten Morgen nahmen sie die Kastanien vom Boden auf, und bald fraßen sie aus der Hand.
Peter mußte jetzt unter dem Garten, wo der Teich seinen Abfluß hatte, einen »Saugarten« mit einem Unterschlupf anlegen und eine hüfthohe Mauer hochziehen. Ja, er wollte den ganzen Gemüsegarten mit einer solchen Mauer umhegen. Die Herbstfruchternte dehnte sich nun bis zum ersten Schneefall aus, denn die Schweine brauchten auch Winterfutter. Knapp bevor der Winter Ernst machte, war der Saugarten eingehegt. Die rechte obere Ecke der Mauerung war mit angekohlten Baumstämmen, Rasen und Steinen gedeckt, so daß ein dreieckiger Unterschlupf entstand, in den Eva eine dicke Laubschicht streute. Die Schweinchen wurden aus dem Ziegenstall in den geräumigen Saugarten geschafft, in dem die jungen Tiere vergnügt hin und her jagten. Dann aber begannen sie zu wühlen. Kein Wurm, keine Schnecke, keine Käferlarve, keine Kastanie unter dem Laub entging ihren Rüsseln, mit denen sie geräuschvoll alles durchschnupperten.
Nachdem noch Laubstreu und Brennholz eingebracht waren, sahen die Sonnleitnerleute ohne Sorgen dem Winter entgegen. Was sie brauchten, hatten sie beisammen. Der armen Bläff aber, die Eva im Garten begraben hatte, stellte Peter eine Sandsteinplatte aufs Grab. Darauf hatte er den Tod des Hundes eingeritzt zum immerwährenden Gedächtnis.
Der Sonnleitnerhof
Die Sonne näherte sich dem Winterhorn. In der durchwärmten Stube holten Peter und Eva nach, was sie in der schönen Jahreszeit über all dem Bauen und Pflanzen versäumt hatten. Er nahm sich der Felle und Pelze an, sie spann, webte und nähte. Hansl beobachtete die arbeitenden Eltern und begann nachzuahmen, was sie taten. Seine Mutter erklärte ihm, was sie gerade arbeitete, und er sprach ihr meist die letzten Wörter der Sätze nach.
»Hansl, jetzt kochen wir Suppe. Wasser ins Töpferl, dann Schrot« – »dann Schrot«. »Dann tun wir Gundelkraut und Fett hinein« – »Fettinei« ... So ging es den ganzen Tag; der Bub lernte schauen und horchen, die Worte der Mutter deuten und nachsprechen. Wenn die Erwachsenen vom »Hansl« sprachen, wußte er, daß er gemeint war, und sprach dann von sich wie von jemand anderem.
Peter verbrachte manchen Tag in der Bärenhöhle, wo er unbeobachtet allerlei bastelte, womit er Mutter und Kind zur Sonnwendfeier erfreuen wollte. Als erstes schmiedete er einen Feuerbock.
Für Eva, die für das Zuschneiden der Felle nur das Messer hatte, machte er aus der schwächsten seiner Schmiedeklemmen eine Art Schere, indem er die langen Enden messerartig flachschmiedete, härtete und schliff. Dann kam ein eiserner Spanleuchter daran, den Eva hinstellen konnte, wo sie gerade Licht brauchte. Außerdem schnitzte und meißelte er ihr aus einem Ahornklotz eine Schüssel zum Teigkneten. Die Innenseite des plumpen Gefäßes schabte und glättete er mit einem Hartsteinschaber, wie Eva sie seit der Steinzeit zum Putzen der Häute benützte. Für Hansl formte er aus Lehm allerlei Figuren zum Spielen.
Am Tage vor Sonnwend schlachtete er eines der wohlgenährten Jungschweine. An Hansls erstem Geburstagsfest stellte Peter in der Wohnküche ein abgesägtes Fichtenbäumchen in einem sandgefüllten Topf auf den Tisch. Eva opferte ihr letztes Wachs und knetete es um gezwirbelte Fäden; die so entstandenen Kerzchen befestigte sie an den Zweigen des Bäumchens. Während sie mit Hansl im Stall war, um vor dem Abendessen die Tiere zu füttern und zu melken, legte Peter um den Fuß des Bäumchens bemooste Steine, baute aus fünf Mergelplatten ein Steinhaus, stellte Hansls Lehmfiguren davor und legte die Schere vor Evas Stuhl auf den Tisch. Dann trug er die Speisen auf und zündete die Lichter des Bäumchens an. Mit drei Schlägen gegen die Bratpfanne rief er Mutter und Sohn herbei. Das war ein Schauen, ein Staunen und Freuen! Bevor Eva noch ihre Geschenke berührte, reichte sie ihrem Mann als Überraschung eine neue Pelzmütze und Fäustlinge. Fischsuppe, Jungschweinbraten, Kastanienkuchen mit Haselnüssen und Apfelschnitten, danach eine Schale Eicheltrank, das war das Festmahl, bei dem die glücklichen Eltern lange saßen, angebettelt von den Hunden, die mitfeiern durften. Als Hansl, müde gespielt, im Bett lag, steckten die Großen einen brennenden Span in den neuen Kienleuchter und blieben noch lange auf.
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Der Winter setzte streng ein. Ein Jungschwein nach dem anderen wurde geschlachtet. Nur zwei, ein Keiler und eine Bache, erlebten den Frühling; sie sollten die Stammeltern einer zahmen Schweineherde werden.
Als es Frühling wurde, wimmelte es von Zicklein, so daß Peter bald anfangen mußte, einige zu schlachten. Vier gute Milchziegen und ein Bock wurden als Stamm der Ziegenherde geschont. Eva erhielt so viel Milch, daß sie an manchem Tag einen Topf voll aufhob, um daraus Suppen und Tunken zu machen. Als die in großen irdenen Töpfen aufgehobene Milch sauer wurde, diente sie allen als erfrischendes Getränk. Bald entdeckte Eva, daß nach dem Abseihen und Ausdrücken des Milchwassers im durchweichten Topf ein dicker, körniger Brei zurückblieb, der, mit Salz und Kümmel gewürzt, gut schmeckte und sattmachte. Bewahrte sie von diesem Brei eine Schale voll Brocken für Peter auf, damit sie ihm etwas mitgeben konnte, wenn er ins Heuen ging, so verwandelte sich das weiße Zeug schon nach drei Tagen in einen würzig duftenden Streichkäse, der, mit Kastanienfladen gegessen, ein gekochtes Essen ersetzte. Trocknete der Käse im Topf ein, so wurde er zwar hart und körnig, blieb aber trotzdem genießbar. Dies brachte Eva auf den Gedanken, für die milcharme Winterzeit einen Vorrat von Trockenkäse zu bereiten. Über eine große Schüssel legte sie Stäbe, darüber einen mit Weißkäse gefüllten Seihersack und darauf einen Holzrost, auf dem schwere Steine lagen. Längst verblaßte Bilder aus der Zeit der Ahnl stiegen herauf. Die Ahnl hatte das abgeflossene Milchwasser Molke genannt und sie nicht nur zu Suppen und Tunken verkocht. War jemand krank an der Lunge oder krank am Herzen, mußte er Molke trinken. Zum Sauerstellen der Milch und für den Käse knetete Eva neue Gefäße, die ihr Mann bei nächster Gelegenheit brennen sollte. Hansl fand die Reste des weichen Tons unwiderstehlich. Unter seinen Händen entstanden zwar nur allerlei Walzen auf kurzen Beinen; für ihn aber waren sie Schweinchen, Zicklein, Hunde und Eichhörnchen.
Seit Eva eine Knetschüssel besaß, machte ihr das Kuchenbacken mehr Freude als je. Gewohnt, nichts Brauchbares verderben zu lassen, rührte sie den Teig mit Molke an. Ihre dünnen, in viel Fett gebackenen, mit frischem Beerenobst belegten Molkenfladen und -kuchen dufteten und schmeckten köstlich.
Im Gemüsegarten zeigten sich alle Pflanzen dankbar dafür, daß sie Licht, Platz und guten Nährboden hatten. Am Zaun entlang gingen Veilchen auf, deren genießbare Blätter breiter, deren dunkle Blüten größer waren als die ihrer Schwestern im Rasen. Die Möhren gediehen. Eine von den Ziegen kahlgefressene Lorbeerstaude, die Eva aus einem windgeschützten Winkel des Alten Steinschlags in ihren Garten herübergerettet hatte, stand im jungen Grün frischer Schößlinge. Heckenrosen und Brombeerstauden übersponnen Zaun und Mauer. Aus den Weidenstäben an den Teichrändern wurden lebende Zäune; üppig trieben sie ihre langen, schlanken, gelben Ruten; Eva brauchte nicht weit zu gehen, als sie für die kommende Herbsternte neue Körbe zu flechten begann.
Noch im selben Sommer baute Peter die Gartenmauer bis zu Schulterhöhe fertig. Und als die Wildschweine sich wieder im Kastanienwald einstellten, nahm er sich vor, auch ihn mit einer Mauer zu umfrieden.
Die Herbsternte verbrachte Hansl in halber Gefangenschaft und bitter wehklagend, denn die hinteren Backenzähne drängten durch das Zahnfleisch. So weh tat es ihm, daß die Schmerzen bewirkten, was alle Freuden nicht vermocht hatten: Hansl fand heraus, daß er es war, dem etwas weh tat, daß er es war, der da wimmerte und weinte, während die Hunde mit eingeklemmten Schwänzen und gesenkten Ohren vor ihm kauerten. Als seine Eltern mit vollen Körben heimkehrten und die Mutter ihren heulenden Sohn mit einer Handvoll Brombeeren zu trösten versuchte, wehrte er den sonst begehrten Leckerbissen ungnädig ab: »I mag net.« Ich mag nicht! hatte er gesagt.
Hansls Rollschlitten
Jahre vergingen. Auf dem Schilfdach des Steinhauses grünten dicke Moospolster. Die Sonnleitnerleute fühlten sich vor Ungemach bewahrt. Daß unter der nie austrocknenden Schilfdecke der Hausschwamm das Dachgebälk zermürbte, ahnten sie nicht. Kaum merklich senkte sich die Stubendecke. Das war schon lange so und mochte noch lange so bleiben.
Die Haustiere gediehen. Wohl waren die Nachkommen der Wildziegen schwächlicher als ihre Vorfahren, die in der Freiheit gelebt hatten, aber ihre Euter gaben mehr Milch. Auch die Nachkommen der Wildschweine waren schwächer, gutmütiger und setzten mehr Fett an. Einzelne Fuchshunde verfärbten sich unvollkommen, sie behielten die graue Färbung ihres Jugendkleides zeitlebens, andere wurden scheckig.
Peter, der sich früher bis an die Grenzen seiner Kraft angestrengt hatte, nahm es jetzt leichter und sorgloser. Die Mauer um den Kastanien– und Nußbestand hatte er angefangen; weil er aber die Bausteine von immer weiterher heranschleppen mußte, verlor er die Lust und hörte mittendrin auf, an der Mauer zu arbeiten. Lieber pflanzte er in Evas Garten Buschbäume von Quitten, Waldäpfeln und Holzbirnen.
Hansl war gewachsen. Er trug ein ärmelloses Leibchen aus zwei Zickelfellen und bockslederne Kniehosen. Mit Mutter und Vater sprach er in ihrer Sprache, als sei es immer so gewesen; sein Kindergeschwätz hatte er vergessen. Aber selbsterfundenes Spielzeug zog er jedem anderen vor und hob es lange auf.
In den Sand, der in großen Haufen zum Decken der Gartenwege bereitlag, grub der Bub Wohnhöhlen für seine Puppen. Das Bächlein aus dem Teich, in dem ab und zu eine kleine Forelle dahinschoß, die sich vom Moorbachfall hierher verirrt hatte, zog ihn unwiderstehlich an. Dicht daneben grub er sich ein Staubecken mit spannhoher Steinwehr, legte Lehmfigürchen, gefangene Rosenkäfer, Bockkäfer und Schnecken auf Rindenstücke und ließ sie treiben.
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Aus Ton Gestalten zu kneten, war Hansls Lieblingsspiel geworden. Sie sahen wunderlich genug aus: Da war ein Mann ohne Rumpf, dessen Beine unmittelbar am Kopfe saßen; dort ein Fuchs mit acht Beinen, von dem Hansl behauptete, daß er laufe. Peter begann, sich mehr mit seinem Sohn zu beschäftigen. Und Hansl staunte, was der Vater alles konnte, der unter dem Gebläse auf einem glühenden Holzkohlenstück Gold schmolz und daraus für Mutter ein Kleinod schmiedete. Noch höher stieg Hansls Bewunderung, als der Vater zu Beginn des Winters aus weichem Schnee einen Schneemann und ein Schneeweib formte. Und am Heiligen Abend fand Hansl einen kleinen Schlitten unter dem Lichterbaum. Er wurde ein kühner Schlittenfahrer. Kreischend sauste er die Hänge hinunter. Als die Bindungen des fleißig benützten Schlittens zerfetzt und dieser unbrauchbar geworden war, bastelte Hansl selber einen kleinen Schlitten. Drauf sitzen konnte er freilich nicht, aber damit spielen.
Schon wurden die Halden wieder grün, aber Hansl schleppte noch immer den Spielzeugschlitten hinter sich her über den holprigen Boden. Eines Tages beobachtete Peter, wie der Bub, der ihm beim Fortschaffen schwerer Steinblöcke zugesehen hatte, daumendicke Holunderstäbchen unter die Kufen seines Schlittens schob und einen beinahe kopfgroßen Stein auflud. Das Mark der Stäbe hatte er früher einmal beim Spiel herausgestoßen, jetzt waren die Stengel hohl. Genau so, wie es der Bub beim Vater gesehen hatte, legte er eine Rolle hinter der anderen unter den Schlitten, nahm das hinten frei gewordene Rollholz auf und legte es wieder vor.
Die Höhlung der Stäbchen reizte den Kleinen. Dort, wo nichts war, mußte wieder etwas hinein! Er steckte eine Weidenrute durch einen der Holzstäbe, faßte diesen an den Rutenenden, drückte ihn auf den Boden und rollte ihn hin und her.
Während Peter dem Spiel des Kindes zusah, kam ihm ein Gedanke, über dessen Selbstverständlichkeit er lächeln mußte. Er nahm Hansls kleinen Schlitten, zog durch beide Rollhölzer Weidenruten, knickte die Enden nach oben um und band sie steil ans Gestänge des Schlittens, so daß die Walzen unter den Kufen befestigt waren, ohne sie zu berühren.
Beim Ziehen des beladenen Fahrzeuges drehten sich die Walzen quietschend um ihre Achse, ohne daß diese sich verschob. Noch am selben Tage begann Peter, einen neuen Schlitten mit starken Kufen zu bauen, der auf zwei darunter angebrachten Rollhölzern laufen sollte. Da es ihm aber zu viel Zeit gekostet hätte, die armlangen, dicken Walzen zu durchbohren, begnügte er sich damit, an den Enden einer Walze fingerdicke Löcher zu bohren; darin ließ er starke Asthaken ein und machte die nach oben gerichteten, längeren Schenkel seitlich an den Schlittenkufen fest. Aber schon nach zwei Tagen war ein Zapfen des Achsenhakens abgedrückt. Ärgerlich wollte Peter wieder zur vollen Achse zurückkehren und begann, einen langen Bohrstab zu schmieden, mit dem er das Rundholz der Länge nach durchbrennen wollte.
Während der langwierigen Arbeit am Bohrer kamen ihm Bedenken, ob der Vorteil, den er auf diese Art gewann, die Mühe lohnte, ob nicht die Reibung der langen Achse in der Walze den Vorteil aufhöbe.
Nachts lag Peter lange wach und suchte in Gedanken nach neuen Wegen. Als er sich am nächsten Morgen wieder an die Arbeit machte, ließ er den Bohrer als Zapfen im Holz und kürzte ihn außen auf Spannlänge. Dann trieb er in das andere Ende des Rundholzes einen zweiten Zapfen und hatte so eine Walze, die sich mit festen Achsenenden in den durchlochten Steilhölzern drehen sollte. Leider war der plumpe Walzenkarren schon unbeladen so schwer, daß Peter darauf verfiel, die eiserne Achse durch Schlittenkufen zu treiben und statt der einen langen Walze zwei kurze Walzen, also zwei Radscheiben, an den Seiten des Schlittens anzustecken. Es gelang, nur mußten die Scheiben durch außen angebrachte Querzapfen gesichert werden, damit sie nicht abglitten.
Seit Peter seine Aufmerksamkeit und Kraft dem werdenden Karren zuwandte, mußte Eva alle Garten– und Hausarbeit allein verrichten. Eines Tages war der Karren fertig; Peter belud ihn mit Bausteinen. An einem Morgen stand Eva nicht auf, das Frühmahl zu bereiten. Sie war ernstlich erkrankt. Ungern unterbrach Peter seine Bauarbeit und tat, was an Hausarbeit und Pflege nötig war. Erst nach der Heuernte war Eva soweit hergestellt, daß er sich wieder seiner Lieblingsbeschäftigung widmen konnte. Da sich die hölzernen Radscheiben stark abnutzten, schmiedete Peter Eisenreifen herum, und als die Kufen, von der durchlaufenden Achse zerrieben, unter der Last brachen, mußte ein neuer Karren gebaut werden, dessen eiserne Achsenlager unter den Kufen angebracht und dick eingefettet wurden. Jetzt erst war das Fahrzeug dauerhaft.
Auch Hansl bekam einen kleinen Karren, den er sogleich mit Gras und Kräutern belud.
Klein-Eva
Im Spiel hatte Hansl begonnen, auf seinem Karren den Ziegen Futter zu bringen, und im Ernst wurde es seine tägliche Pflicht. Je öfter er die Ziegen versorgte, um so lieber gewann er sie. Er war entsetzt und traurig, als eines Tages ein Bartgeier sich mitten aus der Herde ein Zicklein holte und das klagende Tierchen in seinen Fängen in die Lüfte trug. Von Hansls Geschrei herbeigerufen, sah Peter den Raubvogel gegen die Klammwände zu abstreichen, ohne ihm einen Pfeil nachschicken zu können. Da er weder Zeit noch Lust hatte, sich mit Pfeil und Bogen im Geißengarten auf die Lauer zu legen, einigte er sich mit Eva, daß Hansl jeden Morgen als Hüter mit seinem Lieblingshund in den Geißengarten ging, versorgt mit Nahrung und ausgerüstet mit der alten Bratpfanne, auf der er Lärm schlagen sollte, wenn ein Geier zu nahe käme. Und Hansl wurde ein gewissenhafter Geißbub.
Peter baute wieder an der langen Mauer. Zur Zeit der Sommersonnenwende brachte er drei honigschwere Waben heim. Zwei Waben überließ er Eva zum Süßen des braunen Eicheltrankes, den sie mit Milch zu mischen pflegte; aus der dritten drückte er den Honig in einen großen Topf und verdünnte ihn reichlich mit Wasser. Dieser Trank schmeckte ihm besser als »leeres« Wasser. Den Topf trug er in die Bärenhöhle, die Eva nie mehr aufräumte. Er trank nur sparsam von diesem Gemisch. Nach einigen Tagen merkte er, daß es trübe wurde. Es bekam einen prickelnden Geschmack und einen fast widerlichen Geruch. Wieder nach einigen Tagen versuchte er, müde vom Steineführen, von neuem den sonderbaren Trank und fand ihn geklärt. Etwas von seiner ursprünglichen Süße war wieder zu spüren, ein kräftiger, gar nicht mehr widerlicher Geruch stieg aus dem Gefäß. Kaum hatte er ein paarmal tüchtig geschluckt, da wich die Müdigkeit von ihm wie durch einen Zauber. Und Peter staunte, wie leicht ihm danach die Steine vorkamen. In allen seinen Bewegungen war mehr Schwung als nötig, bald aber war er wieder müde. Da stärkte er sich von neuem. Beim Abendessen war er ungewöhnlich gesprächig.
Als Eva ihn darauf aufmerksam machte, daß sich die Stubendecke wieder ein wenig gesenkt hatte, lachte er überlaut und fuhr mit der Rechten großartig durch die Luft: »Ach geh, wenn das Dach so schwere Steintrümmer tragen kann, wie ich ihm aufgeladen habe, dann widersteht‘s auch dem Wind; es hält schon noch!« Staunend beobachtete Eva das Getue und Gerede ihres sonst so klugen Mannes, sagte aber noch nichts, sondern legte Hansl schlafen. Doch das Dach ließ ihr keine Ruhe, sie wollte ihrem Mann noch einmal begreiflich machen, daß er es erneuern müsse, bevor der Winter seine Schneelasten darauf legte; aber als sie zurückkam, hatte Peter seinen Kopf auf die Tischfläche gelegt und schlief schnarchend mit offenem Munde.
Verstohlen und sparsam trank Peter weiter. Und immer stellte sich die gleiche wunderbare Wirkung ein. Sooft Eva abends vom Dach anfing, begegnete sie Peters unbegreiflicher Sorglosigkeit.
Wenn sie Hansl im Geißengarten aufsuchte, wanderte sie mit ihm Hand in Hand durch das weite Gehege, gefolgt von den Lieblingsziegen, umhüpft von den Zicklein, die nicht müde wurden.
Je weiter der Spätsommer vorrückte, desto seltener besuchte Eva den Geißengarten. Peter machte sich verdrossen an die zweite Heuernte. Sein Labetrank war ausgegangen. Da suchte er eines Tages Eva in der Vorratskammer auf und verlangte den Honig, den er ihr gegeben hatte. Vergeblich sagte sie ihm, sie habe ihn für den Winter bestimmt, der gesüßte heiße Eicheltrank werde dann jedem von ihnen wohltun. Doch Peter beharrte auf seiner Forderung, bei seiner schweren Arbeit brauche er den stärkenden Trank.
Und ohne Evas Wissen nahm er ihren Honig an sich, und bald hatte er wieder den ersehnten Met. Und wenn er beim Mauern an das baufällige Dach denken mußte, schob er den Gedanken beiseite: Ach was, hat nächstes Jahr Zeit; wird schon noch den Winter aushalten! Hansl staunte, wie hoch der Vater diesmal die Heuschober baute und fragte sich, ob er selbst je so stark sein würde wie der Vater. Eva hütete das Haus; seltener und seltener ging sie über die Schwelle. Bei Gewittern, die sich in den letzten Sommerwochen häuften, fuhr sie nach jedem Blitz zusammen, der rollende Donner brachte sie zum Weinen.
Die Herbstfruchternte kam, Peter arbeitete allein im Walde, wieder vom Morgengrauen bis in die sinkende Nacht; Hansl durfte die Ziegen nicht verlassen. Für den Sonnleitner war es eine ungeheure Aufgabe, für Menschen und Haustiere genügend Fruchtvorräte für den Winter herbeizuschaffen. Der Labetrank war längst ausgetrunken.
Eines Nachmittags mußte er so stark an Eva denken, daß er mitten in der Arbeit aufhörte und nach Hause rannte, als ob sie ihn gerufen hätte.
Er fand sie im Bett. Sie lächelte ihm entgegen. Neben ihr lag ein überzartes, flachsblondes Kind. Und als Peter die Mutter küßte, flüsterte sie: »Eva soll sie heißen.«
Zu spät!
Unerwartet früh setzte starker Schneefall ein und machte der Sammelarbeit Peters ein Ende. Ruhig und stetig schneite und schneite es, zwei Tage, drei Tage. Auf dem Dach des Steinhauses lag der Schnee kniehoch, breiig zusammengeschmolzen vom lauen Wind, der an ihm leckte. Und tiefer senkte sich die Stubendecke. Everl verschlief die Tage im Bett neben der Mutter, mitten in der Nacht aber begehrte sie laut weinend zu trinken. Dann konnte Peter nicht mehr einschlafen. Und die Nacht war so lang! Er hörte, wie das Schmelzwasser vom Dachrand tropfte, er vernahm ein verdächtiges Knistern im Deckengebälk. In Gedanken sah er etwas Furchtbares geschehen. Nach einer durchwachten Nacht eilte er mit Beil und Säge in den Wald, fällte eine schenkeldicke Fichte und klemmte den auf Stubenhöhe gekürzten Stamm zwischen den mittleren Deckenbalken und den Fußboden. Dann sammelte er Brennholz, das er an der Hausmauer aufschichtete. Sein Nachtschlaf war wieder tief, das Weinen seiner kleinen Tochter hörte er kaum mehr. Auch Eva war wieder beruhigt.
Eines Tages machte der Winter Ernst. Der Klammwind drückte die Schneewolken tief in den Talkessel. Sie ließen ihre Eisnadeln an den Südwänden niederwirbeln, und ehe der Abend kam, lagen Wald, Moor und Steinfeld unter einer blendendweißen Decke. Es wurde still, die Luft war klar. Aber ein Sonnenuntergang, dessen flammende Röte das dünne Gewölk des Himmels durchleuchtete, kündete nahen Sturm.
Hansl schlief längst, da saß Peter noch auf dem Bettrand bei Eva und kündigte ihr an, im nächsten Sommer müsse sie in der Bärenhöhle hausen, bis er das Dach abgetragen und durch ein besseres ersetzt habe. Vor Mitternacht stillte Eva noch ihr Kind. Dann schliefen alle.
Als der Morgen graute, hörten sie draußen ein pfeifendes Jaulen, ein an– und abschwellendes Heulen. Ein jäher Sturmstoß fegte durch das Rauchloch und blies Asche und glühende Kohlensplitter den Hunden in den Pelz, daß sie scharf kläffend aufsprangen. Da erwachte Eva, deckte ihr Kind sorgfältig zu und verließ ihr Lager. Sie kleidete sich notdürftig an und trat vor den Herd. Wie stets bei Föhngefahr, schob sie den Feuerbock beiseite, fegte die Glutreste auf ein Häufchen und stülpte eine Tonschüssel darüber. In der Stube wurde es dämmerig. Die Ampel vor den Ahnenbildern brannte trüb und winzig. Da stand auch Hansl auf und hielt sich an Evas Rockfalte. »Mutter, ich fürcht‘ mich.« Der Sturm warf sich von vorn auf das Haus. Die Tür ächzte und quietschte. Eva begann laut das Stoßgebet der Ahnl: »Gott und alle guten Geister, steht uns bei!« Peter erwachte, lehnte den umgestürzten Tisch gegen die Tür und verspreizte ihn von innen mit seinem Jagdspeer gegen den Boden. Der Sturm ließ nach, als hole er Atem für einen neuen Ansprung. Dann wuchtete eine schwere Luftwoge auf das Dach des Steinhauses. Ein Ächzen im berstenden Dachgebälk ... Holz, Steine, Schilf, Moos und Schnee alles krachte herab!
Schreckensstarr stand Eva im Schutz des Herdgemäuers, über dem die Balkentrümmer schräg zur Stubenmitte niederhingen. Wo die Stubendecke gewesen war, flutete der morgende Tag herein. Dünne, sturmgepeitschte Wolken jagten über den Himmel. Da löste sich Eva aus ihrer Starre, und mit gellender Stimme schrie sie in das Toben sturmzerwühlter Schneemassen hinein: »Everl! Das Kind!« Peter, der zwischen der Vorderwand und den schräg niederhängenden Balkentrümmern unverletzt geblieben war, zwängte sich zur Herdmauer vor, tastete über Evas Bett hin, wühlte in Schnee und Moder, hob sorgfältig die auf die Bettdecke gefallenen Steine ab und fand Everl regungslos. Das Kind war warm und schien unverletzt... Er legte es der Mutter in die ausgestreckten Arme. Everl weinte nicht. Die Mutter horchte an des Kindes Mund. Everl atmete nicht! Everls Herz pochte nicht! Everl war tot.
Verwaiste Katzen
Der Sturm hatte sein Werk getan. Der Ziegenstall, die Vorratskammer, der Herdraum, den Peter durch Bruchstücke des Dachgebälks gegen die verwüstete Stube zu abgeschlossen hatte, das war nun die Behausung der Sonnleitnerleute.
Im Garten, nahe bei dem Rosenstrauch, wurde die kleine Tochter begraben. Still weinte sich die Mutter aus, kein Wort des Vorwurfs kam über ihre Lippen, aber der Grabhügel des Kindes sprach unerbittlich von Versäumnis und Schuld. Kein Honigtrank gab barmherziges Vergessen.
Am Tage nach dem Begräbnis stieg Peter zum Ufer des unteren Moorbachs hinunter und begann Fichten zu schlagen. Er kürzte die Bäume an Ort und Stelle. Da er auf seinem zweirädrigen Karren die Langhölzer nicht fortschaffen konnte und auch nicht jeden Baum einzeln schleppen wollte, baute er in aller Eile einen starken Hilfskarren, vorerst ohne die Radscheiben mit Eisen zu beschlagen. Beide Karren verband er zu einem vierrädrigen Wagen und lud so viele Langhölzer auf, daß er ihn schweißtriefend gerade noch ans Haus ziehen konnte. Nach schwerem Tagewerk verzehrte er stumpfsinnig vor Müdigkeit sein Essen und schlief am Tisch ein. Aber nachts wurde er von Alpträumen heimgesucht.
Als die gröbsten Spuren des Unglücks beseitigt waren und das neue, mit Rasenflözen und Steinen gedeckte Notdach den Wind von der Stube abhielt, war Peter der alleinige Bewohner des einst so vertrauten Raumes. Eva, die sich in der Sturmnacht erkältet hatte, war krank und schlief mit Hansl im warmen Ziegenstall.
In den Blicken seiner gebrochenen Frau las Peter den Groll, dem sie keine Worte gab. Dahin war Hansls sorglose Kindlichkeit. Ernst las er der blassen Mutter jeden Wunsch von den Augen ab und tat für sie, was er konnte. Ob er die Haustiere fütterte oder bei der Zubereitung der Mahlzeiten half – sein Tun war nicht mehr Spiel, sondern Arbeit.
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Lang war der Winter, aber eines Tages war seine Herrschaft vorüber. Die Maßliebchen– und Löwenzahnbeete standen in Blüte, und Eva bepflanzte den Grabhügel ihrer Tochter mit Goldprimeln, Bergnelken und Immergrün. Mit der Zeit milderte sich Evas Leid. Unter dem Einfluß der Sonne und der Frühlingslüfte wurde sie kräftiger, so daß sie einen Teil der Hausarbeiten wieder selbst übernehmen und Hansl sich mehr um die Ziegen kümmern konnte, die im Geißengarten ihre Jungen zur Welt bringen sollten. Eva sah, wie ihr Mann sich härmte und in harter Arbeit abquälte. Je weiter seine Vorbereitungsarbeiten für das neue Dach fortschritten, um so mehr verschwand der Groll aus Evas Zügen. Als Peter jedoch, ermutigt durch ihr verändertes Wesen, mit seiner schweren Hand liebkosend ihre Schulter streicheln wollte, wies sie ihn ab. Da ging er wortlos.
Nach der ersten Heuernte waren die entrindeten und angekohlten Bauhölzer von der Sonne übertrocknet, aber nicht trocken genug. Da hieß es noch warten. Peter machte sich an andere Vorarbeiten. Das Dach sollte steiler werden, damit der Schnee besser abgleiten konnte. Die einzelnen Balken sollten durch Eisenklammern miteinander verhängt und fest ins Mauerwerk gemörtelt werden. So holte er denn einige Karren Raseneisenerz von der Goldbachmündung, heizte den Schmelzofen, verwandelte das Gußeisen in Schmiedeeisen und machte Eisenstäbe von halber Armlänge. Ihre Spitzen bog er um; die eine sollte gut eingemörtelt in der Mauer sitzen, die andere als Kralle das Holz halten. Als das Schwadenkorn reifte, war das neue Dach fertig. Peter baute noch einen flachen Zwischenboden unter dem schrägen Dach ein, der nach unten die Stubendecke, nach oben einen luftigen Tragboden für die Fruchtvorräte abgeben konnte. Erst als die Stube mit einem Gemisch von Kalkmilch und Lehm freundlich gestrichen war, zog Eva ein und brachte das Heim in Ordnung. Der Winter vermochte den Sonnleitnerleuten nichts mehr anzuhaben.
Wieder war der Frühling ins Land gezogen. Nach einer mondhellen Nacht brachte Peter vom Moorsee eine gefesselte Wildente mit ihren acht Küken, die als gelbliche Flaumbälle Eva und Hansl entzückten. Mit der Klemmschere kürzte Peter die Schwingen der Mutterente und setzte sie in den Hausteich, an dessen oberen Rand er einen niederen Stall baute. Gleich am zweiten Tag ihrer Gefangenschaft fraßen die neuen Ankömmlinge gierig alles, was ihnen gestreut wurde, sie gründelten im kleinen Teich und durchstöberten alle Winkel des eingezäunten Platzes.
Auch die Ziegen und die Fuchshunde bekamen wieder Junge, und ein Schwalbenpaar stellte sich ein. Die unzähligen Fliegen, die den Abfallhaufen neben dem Stall an der Südwand umschwirrten, zogen sie an. Hier gab es Nahrung in Hülle und Fülle, und so dauerte es auch nicht lange, bis sich die Gäste unter dem Dachrand ihr Nest aus feuchten Lehmklümpchen bauten, die sie durch eingezogene Grashalme verbanden. Und ehe eine Woche vergangen war, saß das Weibchen im gemauerten Nest auf ihren Eiern.
Nach weiteren zwei Wochen steckten die fast nackten Jungen abwechselnd ihre unförmigen Köpfe aus dem runden Flugloch der Nestkammer, rissen bettelnd und einander stoßend die Schnäbel auf, sooft eines der Alten Futter brachte. Die Zahl der Fliegen im Stall nahm zusehends ab, die gefräßigen Schwalbenjungen bekamen Federn und machten bald ihre Flugübungen über dem Hof.
Eines Morgens kam Peter, munter pfeifend, vom Neuen Steinschlag herüber. Hoch in seiner Rechten hielt er ein graues, schwarzgezeichnetes Tier, an dem der Hund ungeduldig emporsprang. Er legte Eva eine Wildkatze in die Hände und begann zu erzählen. Er hatte das Raubtier mit einem Pfeil angeschossen, weil es in den Hausfrieden eingebrochen war und sich vom Hof eine Taube geholt hatte. Den Blutspuren folgend, hatte er mit Schnapps Hilfe die verwundete Katze vor einer hohlen Fichte des Urwaldes erschlagen, ehe sie in ihr Nest eindringen konnte, aus dem drei Junge miauend herausgeguckt hatten.
Eva preßte die Lippen zusammen, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit. Das Schicksal der toten Taube hatte auf sie wenig Eindruck gemacht. Lebten nicht auch sie, ihr Mann und ihr Kind vielfach vom Fleisch getöteter Tiere? Aber der qualvolle Tod der Katzenmutter, der Hunger der verwaisten Kätzchen griffen ihr ans Herz. Wortlos starrte sie vor sich hin.
Peter, der Dank erwartete, weil er ein Raubtier erlegt hatte, das auch das Leben Hansls hätte bedrohen können, deutete den Ausdruck der Trauer auf Evas Gesicht falsch, er hielt ihn für Mißbilligung seiner Tat, hatte er doch einst gelobt, kein Muttertier zu töten. Er nahm Eva die Beute ab und hängte die Katze verdrossen an den Zaun; später wollte er sie abbalgen.
Unterdessen zog Eva sich und Hansl die schweinsledernen Schuhe an und füllte einen Henkeltopf mit frischgemolkener Milch. Als sie sich zum Fortgehen anschickte, fragte Hansl, dem ihr gedrücktes Wesen auffiel: »Mutter, was hast du denn?« Da zog sie den Kleinen an sich und sagte erregt: »Die große Katze war eine Mutter, so wie ich deine Mutter bin. Der hohle Baum im großen Wald da unten ist ihr Haus, dort hat sie drei Kinder, weißt du? Und die Kinder haben Hunger, essen möchten sie, sie weinen vor Hunger. Da hat sie ihnen was zu essen bringen wollen, hat uns eine Taube genommen, und dafür ist sie erschlagen worden ... Und jetzt gehen wir zu den Katzenkindern!« In der Linken den Milchtopf, an der Rechten ihren Sohn, die Augen auf die Spuren ihres Mannes geheftet, strebte die Sonnleitnerin vorwärts durch Jungholz und Gestrüpp, bemerkte da und dort Blut und drang in den Urwald ein. Über vermoderte Baumleichen und niedergetretenes Farndickicht gelangte sie zum Wohnbaum des Raubtieres, an dessen Fuß in einer Blutlache die tote Taube lag. In der Baumhöhle, weit über Evas Kopfhöhe, im Stamm der alten Fichte, zeigten sich die runden Köpfchen dreier Jungkatzen und verschwanden blitzschnell.
An ein Erklettern des Baumriesen, den zwei erwachsene Menschen kaum umspannt hätten, war nicht zu denken. Da hob Eva den Buben auf ihre Schultern. Er tastete sich am Stamm empor zu voller Höhe, griff beherzt ins Innere der Höhlung, zog ein Kätzchen nach dem anderen heraus und reichte sie der Mutter hinab, die ohne Scheu die weichbepelzten Tierchen zwischen Brust und Hemd barg.
Dann stellte sie Hansl wieder auf den Boden, hieß ihn den Milchtopf aufnehmen und beeilte sich, aus dem unheimlichen Dunkel des Urwaldes zu kommen.
Behutsam streichelte sie die vor Angst zitternden Jungtiere. Als der düstere Wald hinter ihr lag, ließ sie sich am Fuß eines Baumes nieder und legte die Kätzchen in ihren Schoß. Und Hansl, der vor ihr auf den Fersen kauerte, übernahm es, den Tieren die Atzung anzubieten. War es die längst abgekühlte Milch oder das ungewohnte Gefäß? Jedes zog den Kopf zurück, sooft ihm Hansl das Schnäuzchen in den Topf steckte.
Da tauchte Eva den Zeigefinger in die Milch und führte ihn einem der Kätzchen in den Mund. Und siehe da – es begann zu lecken und leckte fort, als Hansl seiner Mutter die Milch in die hohle Hand goß. Das Schmatzen des einen lockte die anderen an, und bald drängten sich drei runde Köpfe in Evas hohle Hand. Bald war der Topf leer, und die drolligen Kerlchen begannen ihre winzigen Pfoten zu lecken und sich zu waschen.
Zuhause machte Eva ihnen in einem Korb ein warmes Nest. Sie wollte ihnen die Mutter ersetzen.
Hansl wird hart
Im Sonnleitnerhof balgten sich die Jungkatzen, sie belauerten und haschten einander, sie neckten die jungen Fuchshunde, deren Scheinkämpfe sich mit viel Gekläff und Geknurr abspielten; sie versteckten sich hinter großen Steinen im Hof und sprangen Hansl und Eva an die Beine.
Das schwächste der drei Kätzchen war am zutraulichsten. Es bekam den Namen Schnurri und wurde Hansls Schlafkamerad. Seine beiden Brüder aber, Grauli und Fleck, verscherzten sich die Gunst der Menschen. Sie töteten Singvögel am Futterplatz, sie fauchten, bissen und kratzten, sooft Hansl versuchte, ihnen durch ein paar Hiebe deutlich zu machen, daß sie den Hausfrieden störten.
Eines Tages sagte Peter zu seinem Buben: »Hansl, schau, Fleck und Grauli sind nicht zum Aushalten; immer wollen sie etwas umbringen. Wenn wir sie am Leben lassen, machen sie alle Vögel tot, die Mutter so gern hat. Weißt was, wenn‘s kalt wird und die zwei ihren Winterpelz haben, dann schieß‘ ich sie tot, und wir machen der Mutter warme Fäustlinge aus ihrem Fell, Fäustlinge, die ihr bis über die Ellbogen reichen.«
Er hatte die Worte gut gewählt. Hansl nickte; die Vorstellung, daß die Mutter weiche, warme Fäustlinge bekommen sollte, ließ ihn die kalte Zeit herbeiwünschen.
Von da an sperrte er die beiden Katzen jedesmal ein, wenn er die Vögel fütterte; seine Schnurri aber klemmte er sich unter den linken Arm, und wenn sie beim Heranfliegen eines Vogels nur zuckte, schimpfte er sie aus.
Selbstverständlich verstand Schnurri nicht die Worte, aber den warnenden Ton deutete sie richtig, und es fiel ihr nicht schwer, sich zurückzuhalten, da sie ja täglich gut gefüttert wurde. Nach wenigen Tagen war sie die Vögel so gewöhnt, daß sie schnurrend auf der Türschwelle saß. Schnurri wurde eine richtige Hauskatze, die in Stall und Vorratskammer Mäuse jagte, in Feierstunden aber bei der Familie saß und mit ihrem Schnurren zur Behaglichkeit beitrug.
Wie im Vorjahr mußte Hansl im Geißengarten die Ziegen hüten. Am besonnten Eingang der Wohnhöhle hatte er für Schnurri ein weiches Mooslager gerichtet. Unter einem feuchten Lappen lag ein Lehmklumpen bereit, aus dem er, wenn er Lust verspürte, Gefäße und Figuren formte, die schon viel besser ausfielen als früher.
Eines Tages hatte er an einer armlangen Darmsaite einen Holzspan als Fahrzeug auf dem Wasser hin und her gezogen und dann im Übermut um seinen Kopf gewirbelt. Dabei hatte er entdeckt, daß das rasch bewegte Ding surrte. Je schneller er das Schwirrholz herumwirbelte, desto höher wurde das Surren. Das tönende Holz erschien ihm wie ein geheimnisvolles Lebewesen; es war ja die Stimme des Windes. Sofort schnitzelte er aus einem Hartholzsplitter ein größeres Schwirrholz, band es an eine lange Saite und dann an einen kurzen Peitschenstock. Dieses Spielzeug ließ er nicht nur im Geißengarten schwirren, sondern schon in aller Frühe im Sonnleitnerhof. Eines Morgens traf er damit einen Milchtopf und zerschlug ihn. Dafür bekam er vom Vater die ersten ärgerlichen Scheltworte zu hören.
Eines Tages aber traf Hansls Schwirrer die Wange der Mutter; ihr Schmerzensschrei erschreckte ihn bis ins tiefste Herz; er stürzte vor ihr nieder und umklammerte angstvoll ihre Knie. Sie solle ihm nicht böse sein, das habe er nicht gewollt.
Die blutunterlaufene Stelle auf Evas Wange war noch wochenlang zu sehen! Hansl hatte Ursache, den Kopf hängen zu lassen, und sah die Schwirrhölzer vorläufig nicht mehr an.
Nach der letzten Heumahd und nach der Herbstfruchternte nahm Peter eines Tages seinen Sohn auf die Jagd mit und zeigte ihm, wie man Rehe beschlich und erlegte.
Vergessen waren jetzt die Schwirrhölzer; das Schießen mit Pfeil und Bogen löste sie ab. Nur Raubvögel wollte er schießen, denn Singvögel hatte die Mutter viel zu gern, ihr wollte er um keinen Preis weh tun. Raubvögel und Tauben waren ihm erlaubt. Ja, auch Tauben, und bald steuerte Hansl, der mit Pfeil und Bogen geschickt umzugehen lernte, zur Ernährung bei.
Auch seine Pfeile schnitzte er selber, aus Schilfhalmen. Eines Tages blies er aus reiner Spielerei in einen Halm und zuckte erschreckt zusammen, als ein schriller Ton entstand. Weil er aber allem auf den Grund ging, blies er immer wieder und merkte, daß die Höhe des Tons etwas mit der Länge des Schilfhalmes zu tun hatte: je kürzer der Halm, um so höher der Ton!
Er schnitt sich eine Anzahl verschieden langer Schilfpfeifen zurecht, denen er abwechselnd hohe und tiefe, zeitweise auch so schrille Töne entlockte, daß seine Eltern sich die Ohren zuhielten.
Hansl probierte seelenruhig weiter seine Pfeifen aus, reihte sie zwischen Daumen und Fingern aneinander und übte so lange, bis er den Frageruf der Goldamsel beinahe richtig nachahmen konnte. Die Pfeifen aber, die diesen Wohlklang ergaben, band er an ein flaches Holz und hatte nun eine Rohrflöte von sieben Tönen, die er genau kannte. Seine musikalischen Übungen brachten Eva auf den Gedanken, ihm mit Peters Hilfe ein weniger schrilles Instrument zu verschaffen. Sie erinnerte sich der Darmsaiten am Spannstab, die sie durch Zupfen zum Schnarren gebracht hatte. Zwischen einem kräftigen Schilfhalm und einem Querholz wurden acht Darmsaiten angebracht; sie konnten mit einem Drehpflöckchen verschieden gespannt werden und gaben, wenn man daran zupfte, je nachdem hohe oder tiefe Töne. Das gefiel Hansl so gut, daß er die Töne mitsummte.
Evas Wasseruhr
Trübe, sonnenlose Wintertage kamen. Eva, die in der Tageseinteilung vom Wetter unabhängig sein wollte, erfand einen recht einfachen Zeitmesser. Er bestand aus zwei gleich großen Töpfen, von denen der eine mit Wasser gefüllt, auf einem durchlochten Dreifuß, der andere darunter stand.
Die dicken Topfböden hatte sie mit einem Hartsteinsplitter so weit durchbohrt, daß ein Pfropf, aus einem hohlen Hartriegelstab angefertigt, genau in das Loch paßte. Im Markloch des Pfropfes steckte ein dünnes, in vier Abständen gekerbtes Stäbchen. Eva stellte den mit Wasser gefüllten Topf auf den Dreifuß, und wenn an einem sonnigen Mittag der Schatten des linken Türpflockes der Gartentür auf den linken Rand der Stubentür fiel, zog sie das Stäbchen aus dem Pfropf des oberen Topfes und steckte es in den Pfropf des unteren. Tropfen auf Tropfen fiel dann in das untere Gefäß, in dem unmerklich das Wasser anstieg und es bis zum nächsten Mittag füllte. So hatte Eva es mit verschieden weiten Bohrungen erprobt. War der untere Topf zu einem Viertel voll, so stand der Wasserspiegel bei der ersten Kerbe des Stäbchens: Ein Viertel des Tages war verstrichen.
Am nächsten Mittag wechselte sie die Töpfe aus und goß oben so viel Wasser nach, wie aus einem ihr unerklärlichen Grunde geschwunden war. Wohl stellten sich Ungenauigkeiten ein, wenn ein paar Mittage nacheinander der Sonnenschein ausblieb, aber für Evas Ansprüche ging ihre Wasseruhr genau genug; ihr Arbeitstag war eingeteilt.
Der metallische Ton der Bratpfanne rief nicht nur Hansl und Peter zum Essen, auch Schnurri und die Hunde stellten sich ein, die Schweine grunzten, die Ziegen meckerten, und selbst die Enten schnatterten, denn alle waren gewöhnt, ihr Essen vor den Menschen zu bekommen.
An naßkalten Sonntagen pflegte Hansl, von seiner Mutter angeleitet, die Zeichensteine und Wochenstäbe vor sich hinzulegen, aber bald ordnete er sie selbst nach der Reihenfolge der Geschehnisse, von denen sie berichteten. Und dann erzählte er, was die Mutter erzählt hatte. Er begann, mit Rötel oder Holzkohle auf Mergelschiefer die sprechenden Bilder nachzuzeichnen. Je öfter er dies tat, um so einfacher wurden die Bilder, um so reicher aber auch die selbsterfundenen Zeichen. Beine bedeuteten »gehen«, »laufen«, »steigen«, je nach ihrer Stellung; ein Kopf mit einem Bart besagte »Mann« oder »stark«; ein Korb mit Früchten »viel«; eine Wellenlinie konnte »Wasser« bedeuten oder auch »fließen«. Und wenn Hansl »vorlas«, was er gezeichnet hatte, klang es lebhafter und lebendiger. Das wiederum gefiel seinem Vater so gut, daß auch er Bilder für sein Tun und Wollen erfand.
Eva freute sich über die vielen Bildschriften und vor allem, wenn sie hörte, was sie an Gedanken ausdrückten.
Auch in ihr lag ein Schatz verborgen, und Hansl hatte den Schlüssel dazu. Wenn er in der Dämmerstunde drängte und bat: »Mutter, erzähl etwas!« – dann ging die Schatzkammer auf, und Mutter Eva, die Vielbeschäftigte, wurde zur Märchendichterin. Sie lauschte auf etwas Wunderbares, das in ihr raunte und flüsterte, und immer fing es an: »Es war einmal ...« In allem, was aus ihr sprach, siegte das Gute, das Schöne, das rechte Maß. Und Hansl nahm alles in sich auf und vergaß auch in seinem späteren Leben nicht, daß zum Glück des Menschen Güte und Gerechtigkeit gehören.
Der findige Hansl
Der Winter war vorbei. In den Nächten hallte der Wald wider von den schauerlichen Gesängen der Wildkatzen. Schnurri ließ es sich nicht nehmen, Nacht für Nacht in den Wald zu verschwinden, sie mußte beim Singen dabei sein. Die Tage verschlief sie, als ob sie das Spielen verlernt hätte. Nach zwei Wochen aber wurde sie wieder ein munterer Kamerad.
Der Vater baute eine lange Sitzbank, die auf vier gegrätschten Beinen fest und sicher stand. Hansl aber machte sie zu seiner Werkbank. Im Reitsitz saß er darauf und bastelte dies und das. Mutter Eva knetete Ton für neues Geschirr und litt es gern, daß ihr Sohn die Gefäße ausschmückte. Solange sie noch feucht waren, gaben sie dem Druck seiner Finger nach, und naß aufgetragener Ton blieb an ihnen haften. So entstanden Töpfe mit Gesichtern, mit allerlei Tiergestalten und Blumen, schöner, als sein Vater es fertigbrachte.
An der Ziegentränke, die durch einen Wasserstrahl aus der Leitung gespeist wurde, wuchs ein Weidenschößling, von dem ein Zweig so schräg herüberragte, daß seine Blätter vom fallenden Wasser getroffen und niedergedrückt wurden. Sooft er emporschnellte, immer wieder mußte der Zweig hinunter und schlug mit der Spitze klatschend auf einen Stein der Mauerung. Dieses stete Aufschlagen gab Hansl zu denken: Bewegung, Schlag und Schall! Das rinnende Wasser erschien ihm wie etwas Lebendiges, das eine Arbeit leistete. Und er wollte ihm etwas Wichtiges zu tun geben.
Sein halbmüßiges Hirtenbubenleben behagte ihm nicht mehr; lieber hätte er daheim der kränkelnden Mutter geholfen, statt im Ziegengarten auf Geier zu lauern, die sich nur selten zeigten. Und er sann darauf, ein Schlagwerk zu bauen, das, vom Wasser getrieben, seine Bratpfanne immer wieder zum Tönen bringen sollte; dann würden die Geier den unruhigen Ort ganz meiden, und er müßte nicht immer da sein. Sein suchender Blick fiel auf einen abgebrochenen Fichtenwipfel mit vier Astquirlen. Hansl rammte rechts und links vom Wasserstrahl zwei Stäbe in den Boden und legte den Wipfel in die Gabelungen, so daß die Zinken des zweiten Quirls vom fallenden Wasser getroffen wurden; sie machten unter dem Wasserdruck nur einen einzigen Ruck. Nun spaltete er alle Zinken auf und verbreiterte sie durch eingeschobene Brettchen. Jetzt drehte sich das Wasserrad, bis sich der linke Astquirl am Gabelständer spießte. Ihm schnitt Hansl alle Zinken ab und ließ nur einen Knoten übrig. Und nun setzte er den Gabelständer so nahe an den Knoten, daß er das Hin– und Hergehen der Quirlwelle hinderte. So blieben die Schaufeln des Rades immer unter dem Wasserstrahl; das Wasserrad drehte sich unerwartet schnell. Die auf gleiche Länge gekürzten Zinken des dritten Quirls sollten das eine Ende eines Schlaghebels drücken, damit sein anderes Ende in die Höhe ginge und nach dem Loslassen auf die Bratpfanne schlüge.
Aus einem Holunderstab machte Hansl den Hammerstiel und durchlochte ihn in der Mitte der Quere nach; dann durchbohrte er die Gabel eines Standholzes, steckte ein Eisenstäbchen als Achse durch die Gabel und den in ihr ruhenden Hammerstiel. Die Pfanne schob er unter den eingezwängten Hammerstein. Das andere Ende des Stiels, das er verbreitert hatte, mußte von den Zinken des treibenden Quirls getroffen werden.
Hansl hatte sich alles so gut ausgedacht, aber – das Schlagwerk war stumm. Das Wasserrad drehte sich so rasch, daß die Zinken den Schlaghebel viel zu schnell nacheinander streiften und der Hammer nie Zeit hatte, auf die Pfanne niederzufallen. Er wurde auf halbem Wege durch den Druck des nächsten Zapfens wieder gehoben. Da entschloß sich der junge Erfinder, von den fünf Zapfen des Quirls drei zu kürzen, so daß nur der erste und der dritte lang blieben. Und jetzt erlebte er seine Überraschung: Bei jeder Umdrehung des Rades schlug der Hammer erst stark, dann schwach auf die Pfanne: Gunn – gunn – gunn – gunn so klang es ohne Unterlaß. Hans lauschte verzückt und merkte nicht, daß sich alle Ziegen und Zicklein hinter ihm versammelt hatten und erstaunt auf das wunderliche Klingen horchten. In Gedanken versunken stand der Erfinder da. Eine Ahnung dämmerte ihm auf, daß der Druck des fallenden Wassers vielleicht auch noch anderes leisten könnte, als ein Schlagwerk zu treiben.
Angelockt von dem sonderbaren Klingen waren Peter und Eva in den Ziegengarten geeilt. Ihr Sohn bemerkte sie erst, als der Vater ihm die Rechte auf die Schulter legte. »Bub, das hast du gut gemacht! Sag, wie bist du denn drauf gekommen?« Nun erzählte Hansl, warum, wozu und wie er die »Geierscheuche« erfunden hatte. Eva lächelte. Hansls Hilfe daheim war ihr hoch willkommen.
Je weiter der Frühling fortschritt, um so schöner wurde das Leben auf der Sonnleiten. Die im Vorjahr aufgezogenen, gut gefütterten Enten hatten den Winter gesund überstanden. Alle waren zahm, nur der Enterich nicht. Jetzt saßen drei auf den Eiern, und bald wimmelte es auf dem Teich von jungen Entlein. Was die anderen an Eiern legten, verwendete Eva in der Küche. Da gab es Eierfladen auf Speckschnitten geröstet, das schmeckte wunderbar.
Zur Zeit der Erdbeerblüte brachte Schnurri fünf Kätzchen zur Welt. Auch die Fuchshunde hatten geworfen, und bald balgten sich die Jungen im Hofe herum. Kurz nach der ersten Heumahd heizte Peter den Töpferofen an und brannte Evas neues, von Hansl geschmücktes Geschirr. Der Bub aber hatte wieder etwas Neues ersonnen. Um die junge Bläff, die mit dem Namen ihrer Mutter auch alle deren guten Eigenschaften geerbt hatte, zum Ziegenhüten abzurichten, besteckte er ein Holzkreuz mit aufgelesenen Federn. Das band er an eine lange Darmsaite, die er über einen Baumast zog. Diesen »Geier« ließ er vor Bläff auf– und niederschweben und lehrte sie, danach zu schnappen. Die junge Hündin ging mit Feuereifer auf das Spiel ein und kläffte, bis ihr die Stimme überschlug. Und wenn es ihr gelang, dem sonderbaren Vogel eine Feder auszureißen, wurde sie von ihrem jungen Herrn getätschelt und gelobt. Dann hetzte er sie auf herumlungernde Krähen und Häher und freute sich an dem wütenden Gebell des Hundes, dem die Beute immer entschwebte. Vom Schlagwerk verscheucht, vom Hund abgeschreckt, waren die Geier nicht mehr zu fürchten, und Hansl konnte beruhigt der Mutter helfen: volle Futterkörbe herbeischleppen und Brennholz spalten. Oft sah Eva sinnend zu, wie ihr Sohn mit Freuden tat, was für sie zu schwer gewesen wäre. Wie stattlich der Bub heranwuchs, wie flink ihm die Arbeit von der Hand ging!
Hansl griff zur eisenbeschlagenen Mistgabel, um den Ziegenstall zu reinigen. Beim Abladen des Mistes auf dem Dunghaufen fielen ihm die üppigen Grashalme auf, die er trug; viel kräftiger und höher als die Halme des Schwadengrases waren sie! Und mitten unter ihnen wuchsen blaue Blumen, wie er sie vorher nie gesehen hatte. Dunkelblaue Sterne waren es, deren Ränder wieder aus Sternen bestanden. Daneben schaukelten große blutrote Blüten auf schlanken, fein behaarten Stielen. Er pflückte, was er davon erlangen konnte, und brachte sie der Mutter. Kopfschüttelnd betrachtete Eva die fremden Gäste. Peter, der gerade dazukam, nahm ihr den Strauß aufgeregt aus der Hand. »Die blauen sind ja Kornblumen! Kornblumen! Die Ahnl hat sie gesammelt; sie sind gut für hitzige Augen, gut für böse Wunden und wunde Mundwinkel. Und die blutroten da, die hat sie auch gebracht; giftiges Zeug, das die Leute schläfrig macht. Bub, wo hast sie her?« Da führte Hansl den Vater zum Düngerhaufen, und Peter pfiff wieder einmal vor sich hin, wie er das bei besonderen Überraschungen zu tun pflegte. Mit dem Jagdmesser grub er nach und fand an den Wurzeln tief unter der Streuschicht die halbvermoderten Schwungfedern eines Taubenflügels. Jetzt wußte er genug: »Hansl, weißt noch, wie du im vorigen Herbst die Tauben gerupft und ausgenommen hast? Die Federn, das Gedärm und die Kröpfe hast du auf den Mist getragen. Und die Kröpfe waren voll großer, dicker Körner.«
»Jaja«, sagte Hansl, »aber wo haben sie denn die Körner geholt?«
Peter beschrieb mit der Rechten einen weiten Bogen nach der Gegend hinter der Klamm: »Von draußen halt, aus der großen Welt.« Er verstummte; vor seinem inneren Auge tauchten blumendurchsetzte Kornfelder auf – Felder, an denen er in ferner Kindheit vorbeigekommen war.
»Die schönen Blumen auch?« fragte aufhorchend der Bub. »Gibt‘s dort draußen in der Welt viele solche Blumen?«
»Wohl, wohl, Bub, die gibt‘s«, bejahte der Vater, ohne der Frage eine Bedeutung beizumessen.
In Hansls Herzen aber erwachte die Sehnsucht nach der geheimnisvollen Ferne, und er fragte sich, ob draußen nicht auch gute Menschen unter den bösen hausten, wie das Korn und die blauen heilkräftigen Kornblumen neben dem giftigen Klatschmohn, der die Leute einschläferte.
Um ihren Sohn vom Grübeln abzulenken, lehrte Eva ihn ein Spiel, das ihr die Ahnl gezeigt hatte: Sie füllte einen Napf mit Seifenwasser und tauchte einen Strohhalm hinein, so daß ein Tropfen daran hängenblieb. Dann blies sie sachte durch den Halm, und es entstand eine hohle, wunderfeine Kugel. Hansl machte große Augen. Ah, wie schön! Wie war das nur möglich? Es gelang ihm, aus der Seifenlösung faustgroße Kugeln zu blasen, die in allen Farben des Regenbogens schillerten. Zum Spiel auf seiner Hirtenflöte und der kleinen Harfe war nun ein Lichtspiel hinzugekommen, das ihn eine andere Art von Schönheit erleben ließ. Die Freude an den herrlichen Farben, die auf der zarten Kugel einen wundersam bewegten, geheimnisvollen Reigen aufführten, war unsagbar. Vor der Schönheit, die die nahe Gegenwart bot, verging das Sehnen nach der großen Welt.
Sehnsuchtsmärchen
Als im Hochsommer schwere Getreideähren, die nicht gleichzeitig reiften, ihre schlanken Halme zur Erde bogen, wurden sie von Peter einzeln gepflückt und von Eva mit den Fingern entkörnt. Es war Weizen und Gerste durcheinander. Eva las das verschiedene Saatgut aus und bewahrte es gesondert in Körbchen auf. Hansl aber bereitete für die Mutter eine Überraschung vor. Er sammelte die Fruchtstände der Blumen, deren Samen er heimlich neben dem Zaun ausstreuen wollte.
Im Herbst, als der Wald rot, golden und erzbraun prangte, gruben Vater und Sohn den trockeneren Teil des Schwadenkornfeldes oberhalb des Saugartens mit neuen, langstieligen Hauen und Spaten um. Sie entfernten sorgsam, was an Rasenflözen darin war und brachten die Flöze auf die Brunnleiten. Dort sollte fortan alles Unkraut, aber auch Erde und Sand zwischen die Geröllblöcke eingeschüttet werden, damit der Boden ebener und grasreicher würde. Den zu festem Kompost verrotteten Dung des Abfallhaufens, in dem die Getreidehalme so üppig gewachsen waren, breiteten sie karrenweise auf dem neuen Acker aus und deckten Walderde darüber. Hansl, der den Rechen führte, glättete damit das lange und breite Beet. Eva teilte es in drei kleinere Beete; in das eine kam Schwadenkorn, in das andere Gerste und in das dritte Weizen. Sie versenkte jedes Samenkorn in ein Grübchen, eines vom anderen eine Handspanne weit entfernt. Jedes Körnchen sollte zum Wachsen Platz haben.
Als das geschehen war, begann für Peter und Eva die Pilz– und Wildobsternte im Wald; Hansl mußte unterdessen das Haus hüten und das Essen bereiten. Ihn reizten die leeren Flächen neuer Töpfe, die Eva zum Vortrocknen an den Herd gestellt hatte. Aber sein Zierat aus feuchtem Ton fiel vom trockenen Grund ab; da rührte er geschabten Rötel, mit dem er auf Mergelschiefer zu zeichnen pflegte, mit Kalkmilch zu einem hellroten Brei an und betupfte die Töpfe mit Blumenbildern. Für Blätter und Stengel zerklopfte er die grünen Steine aus Vaters Erzvorräten und zerrieb sie auf der Quetschmühle. Gemahlene Blausteine gaben die blaue Farbe für die Kornblumen ab. Besonders schön wurde ein Topf, den er erst mit Kalkmilch geweißt und dann mit den feuchten Farben betupft hatte.
Groß war Evas Entzücken über den Farbenjubel auf ihren Töpfen. Um der Pracht Glanz zu verleihen, befeuchtete sie die übertrockneten Töpfe mit Salzwasser und hoffte, daß nach dem Brand die Farben unter der Glanzschicht besonders schön leuchten würden. Als Peter ihrem Drängen nachgab und die Töpfe brannte, erlebten Eva und ihr Sohn eine große Enttäuschung. Die Farben waren teils abgeblättert, teils hatten sie sich verändert – aus dem Blau der Kornblumen war ein schmutziges Grün geworden. Dennoch waren beide stolz auf das Neue, von dessen Vervollkommnung sie sich viel versprachen.
Das obere Staubecken am Moorbachfall bekam eine niedere Steinmauer und eine Decke aus Baumstämmen; das Wasser sollte nicht gefrieren. Das schöne Wetter hielt an. Peter beschloß daher, den Röhrenbrunnen grottenartig zu überbauen und die gewölbte Brunnstube durch eine Tür in der Hausmauer mit der Wohnküche zu verbinden, damit Eva im strengen Winter trockenen Fußes zum Brunnen gelangen konnte. Aber für den Bau der Wölbung konnte er die Steine nicht so verwenden, wie sie im Neuen Steinschlag lagen, sondern mußte sie an Ort und Stelle keilförmig zurichten. Die Schmalseite unten, die Breitseite oben, wurden sie über Holzstützen von den Steinmauern aufwärts übereinandergelegt, immer näher zur Mitte, wo die Schlußkeile durch ihr Gewicht der Wölbung Halt gaben.
Es kamen kalte Tage, der Wind wurde schneidend, die beiden Maurer aber setzten den Bau der Brunnstube fort und waren nicht wenig stolz, als ihr Gewölbe fertig war. Es gab auch dann nicht nach, als sie die hölzernen Stützen wegnahmen – ja, als sich beide daraufstellten, hielt es sogar ihr Gewicht aus. Noch vor dem ersten Schneefall wurden sie mit dem Beschütten der Grotte fertig, in der nun auch Milch, Fleisch und anderes aufbewahrt werden konnte.
Jahre vergingen. Reicher wurde Peter an schmiedbarem Eisen, reicher Eva an buntem Geschirr, und reicher Hans an Kunstfertigkeit, schöne Dinge zu schaffen, der Mutter zuliebe und zur eigenen Lust. Dem Borstenpinsel, den die Mutter zum Weißen der Stubenwände benützte, hatte er viele kleine Pinsel aus Ziegenhaaren nachgebildet, mit denen er auf dem Tongeschirr seine Erdfarben auftrug und versuchsweise bald dieses, bald jenes zerriebene Gestein beimengte. Den schönsten Glanz erhielten seine Töpferfarben, wenn er den Erdfarben mehlig zerriebenen Quarzsand zusetzte. Und er kam darauf, daß keinem Farbenbrei das Kieselmehl fehlen durfte.
So ernst Hans es mit seinen Versuchen nahm, in seinem Herzen war er noch ein Kind, obwohl schon ein leichter Bartflaum seine Oberlippe dunkel färbte. Noch immer lauschte er Evas Märchen und dichtete sie für sich um. Wenn sie Kampfmärchen erzählte, war er der Held, der die Kämpfe bestand und die Furcht nicht kannte. Und gab‘s in der engen Welt des Heimlichen Grunds auch keine Feinde mehr zu besiegen, sein Geist suchte sie draußen in der großen Welt jenseits der Klammwände, wo die hartherzigen Menschen hausten und wo in wogenden Ährenfeldern Wunderblumen blühten. Vor dem Einschlafen dichtete er sich sein Lieblingsmärchen: Aus den Händen böser Riesen befreite er ein Mädchen, ein blauäugiges, das seiner blonden Mutter glich.
Die Sehnsucht nach der weiten Welt hatte sich des jungen Sonnleitners bemächtigt; er sann auf Mittel, die enge Heimat des Felsenkessels zu verlassen.
Doch sooft seine geheimen Wünsche, von denen er wußte, daß sie Mutter und Vater betrüben würden, ihn vorsichtig und wie absichtslos fragen ließen, ob denn kein Weg aus dem Heimlichen Grund hinausführe in die weite Welt, erfuhr er immer wieder: Nein, kein Weg führt hinaus. In der Klamm braust und gischtet die Ache, und Bergteufel lauern auf den Höhen – die haben den Ähnl im Steinschlag getötet!
Hans konnte das Träumen nicht lassen. Hatte nicht die Mutter erzählt, daß Menschen in Vögel und Fische verwandelt worden waren? Warum sollte das nicht wieder möglich sein? Alles war möglich. Er mußte nur die rechten, die zauberkräftigen Worte finden! Und aus seinen Wünschen wurden erträumte Erlebnisse. Als mächtiger Adler mit großen, weitausladenden Schwingen erhob er sich über die Höhen der Klammwände; hinter ihnen schimmerten die Eisfelder der Henne, des Sommerspitzes und des Winterhorns; weithin dehnten sich Bergwiesen mit Rindern und Schafen; aus der Tiefe tauchten bewaldete Hügel auf. Und seine Adlerfittiche trugen ihn darüber hinaus zu den Kornfeldern voll übergroßer, weitleuchtender Blumen.
Schlug nicht der Adler, der hoch über dem Gebirge schwebte, die Luft mit den Schwingen? Was der Adler konnte, warum sollte er, Hans, es nicht können?
Oh, einen Adler wollte er töten, seine Schwingen sich an die Arme binden, in die Lüfte wollte er sich erheben und über die Höhen schweben, hinüberschweben in die Welt, wo es noch etwas zu erkämpfen gab...
Wenn Hans singend und plaudernd bei der webenden Mutter saß, achtete er unwillkürlich auf die Bewegung ihrer Hände.
Daß die Zweierfäden sich mit Hilfe der Kammschlingen nur heben, aber nicht senken ließen, verdroß ihn. Er wollte der Mutter die Arbeit erleichtern und nahm sich vor, einen besseren Webekamm zu machen, mit fadendünnen Zinken, damit die Webe möglichst dicht würde. Ja, und starr müßten die Zinken sein, daß sie die Zweierfäden nicht nur heben, sondern auch hinunterdrücken könnten. In einer stillen Stunde beim Ziegenhüten begann Hans, das neue Gerät zu basteln und fand eine einfache Lösung der schwierigen Aufgabe: Er brauchte nur dünne Doppelfäden als Kammzinken der Quere nach über einen schmalen Rahmen zu spannen und in der Mitte jedes Doppelfadens zwischen zwei Knoten ein Öhr für den Zwischenfaden zu lassen – so mußten, wenn dieser Kammrahmen gehoben oder gesenkt wurde, alle durchgefädelten Zweierfäden gleichzeitig mitgehen. Damit aber das Loch für den Faden sich nicht verenge, mußten die Fadenzinken mit einem heißen Gemisch aus Harz und Wachs eingelassen werden, das beim Erkalten steinhart wurde. Wie erdacht, so gemacht: Der neue Webekamm tat den erwarteten Dienst. Durch das Harzwachs waren auch die Knoten und Fäden glatt geworden, so daß die Einserfäden in den Schlitzen zwischen den Zinken sich nicht merklich rieben. Das Garn hatte Hans vor dem Bespannen des Webrahmens nicht mit Kastaniensuppe, sondern mit einem Absud von Kornmehl vorbereitet, so daß es nach dem Festtrocknen des Kleisters noch glatter geworden war. Die spitz zugezwirbelten Zweierfäden ließen sich leicht durch die Öhre der Kammzinken fädeln.
Die lange, flache Webnadel war an den Kanten geschärft. So taugte sie nicht nur zum Durchziehen des Arbeitsfadens durch die Fächer, sondern auch zum Anschlagen der neuen Querfäden an die fertige Webe. Die zeitraubende Verwendung des Anschlagkammes entfiel.
Mutter Evas Augen strahlten, als die Erfindung ihres Sohnes sich so gut bewährte!
Brechelbank und Hanslbank
Seit aus dem Inhalt der Taubenkröpfe Getreidehalme und Ackerblumen aufgegangen waren, hatte Eva keinen vollen Taubenkropf mehr auf den Abfallhaufen geworfen. Sie besäte allmählich mit allen darin gefundenen Sämereien einige gut gedüngte Versuchsbeete im Garten und hoffte, auf diese Weise Pflanzen zu erhalten, deren Anbau sich besser lohnte als der von Wildgemüse. Was die Menschen in der großen Welt durch jahrelange Züchtung aus Wildgemüse und von weither stammenden Nutzpflanzen erzielt hatten, wurde ihr vielleicht durch die von Tauben aufgepickten Samen zuteil. Einzelne der in den Kröpfen vorgeweichten Samen gingen noch vor dem Winter auf, auch die Wintersaat grünte, und manches zur Unzeit Gesäte verdarb. Viele Körner aber hatten ihre Keimfähigkeit verloren.
Im nächsten Jahr brachte die Sommersonne manchen der Fremdlinge zum Blühen. Da machte sich zunächst allerlei schönblühendes Unkraut breit, aber auch gefüllte Gartennelken, kniehoher, himmelblau blühender Lein und üppige Stauden grellgelber Ringelblumen. Einzeln und in großen Abständen gesetzt gediehen prächtiger Gartenkohl und Kohlrüben mit kropfig verdickten Stengeln, wie die Ahnl sie einst bei den Bauern für ihre Arzneikräuter eingetauscht hatte. Hirse ging auf, duftendes Dillkraut, großblütiger Gartenmohn, Kletterbohnen, Kornraden und Getreidehalme, dazwischen Möhren mit dicken, gelben, süßen Wurzeln, ja sogar großblätterige Feldrüben und Linsen, Wicken, Erbsen.
Evas Gemüsegarten wurde zu klein. Vater und Sohn fällten zwei Buchen und einen Ahorn, und Eva legte neue Beete außerhalb der Gartenmauer an, die der Wildschweine wegen mit einer starken Dornhecke umzäunt wurden. Hans mußte sein Hirtenamt vernachlässigen und sich auf Bläff und auf das Schlagwerk verlassen. Einmal gelang es ihm, vom Hund herbeigerufen, einen Bartgeier abzuschießen, der sich gerade seiner Beute bemächtigt hatte. Hans hieb dem Geier die Schwingen ab und spannte sie zum Trocknen auf. Der Ertrag der neuen Gemüse war so reich, daß Eva nicht nur genug davon frisch verkochen, sondern auch einen großen Wintervorrat in einer Erdgrube einkellern konnte, die mit Fichtenästen und Rasenflözen vor Frost geschützt war. Groß war ihre Freude an den Hülsenfrüchten, von denen sie drei Körbe voll einheimste. Den geernteten Leinsamen bewahrte sie im ersten Jahr als Saatgut auf, aber schon im nächsten quetschte sie aus den Körben einen Topf voll honiggelben Öls. Als Hans nach einigen Wochen entdeckte, daß Flecken davon, die auf seinem Beinkleid verharzten, farbige Stäubchen festhielten, hatte er im Leinöl das Mittel gefunden, Erdfarben haltbar anzubringen. Von da an blieben die gezimmerten Truhen, Wandbretter und Löffelhalter nicht ohne bunten Schmuck.
Die Flachsstengel waren abgeerntet, Mutter und Sohn freuten sich auf das Einwässern, Darren, Brecheln, Hecheln, Spinnen und Weben, das sie gemeinsam tun wollten. Bisher hatte Eva die Rinde des gedörrten Flachses mühsam mit den Händen gebrochen. Hans unternahm es, ihr eine Brechelbank zu bauen. Diese sollte zwei steile Schalenhölzer tragen, zwischen denen ein langes, auf– und abgehendes Holzmesser die Rinde der quer aufgelegten Stengel knicken sollte. Zuerst mußte er ein brauchbares Schnitzgerät anfertigen. Um die splitterigen, unebenen, von einem Baumstamm abgespalteten Flachhölzer mit dem zweihändigen Schnitzmesser formen und glätten zu können, mußte er jedes zwischen Brust und Boden festklemmen. Das war zu unbequem, er versuchte es anders und legte das Holz auf seine lange Werkbank; der Vater mußte ein Ende des Holzes mit den Fäusten niederhalten, während Hans das Schnitzmesser führte. Dem Vater ging bald die Geduld aus. Da beschwerte Hans das eine Ende mit einem großen Stein, setzte sich rittlings vor das andere Ende seines Werkholzes und führte das Schnitzmesser vom Stein zu sich her über das Holz, daß dünne Späne entstanden. Aber selbst größere Steine gaben dem Zuge nach. Da erinnerte er sich an den Hebel, mit dem sich Bausteine und Baumstämme bewegen ließen, und verfiel darauf, mit einem drehbaren Hakenholz das Werkholz niederzuzwingen, aber noch wußte er nicht, wie er den Hebel anbringen sollte.
Wie manchmal im Leben kam ihm etwas Unerwartetes zu Hilfe. Mutter Eva wurde krank, und Hans mußte die Hausarbeiten übernehmen. Sobald er die Tiere versorgt und das Essen im Kessel über das Feuer gehängt hatte, rückte er seine Bank ans Bett der Kranken und schnitzte an den Teilen der Brechelbank. In der stillen Stube störte nichts sein Grübeln und Nachdenken. Er unterbrach die Arbeit an der Brechelbank und verbesserte seine Schnitzbank, meißelte in ihr eines Ende einen Durchlaß, bohrte dann die Seiten des Durchlasses und das Hakenholz quer durch und steckte einen Eisenstab als Achse des Hakenholzes durch die Löcher. Wenn er unten mit dem Fuß den Hebelbalken nach vorn drückte, bewegte sich oben der knorrige Kopf nach hinten abwärts gegen das Werkholz und drückte es fest an die Bank. Das Hakenholz war der starke Arm, den Hans gesucht hatte. Er gab dem knorrigen Astkopf die Gestalt einer klobigen Faust. Am Mittag rief Hans durch drei kräftige Schläge auf die Bratpfanne den Vater herbei. Staunend begutachtete Peter die Schnitzbank, die auch er gut gebrauchen konnte. Eva nannte das Gerät »Hanslbank«. Fröhlich führte der Erfinder das Schnitzmesser über das Werkholz, und ehe es Abend wurde, waren die Schalenhölzer der Brechelbank dünn und glatt.
Beim Abendessen aber sagte Eva, die den mit Arbeitsabfall übersäten Stubenboden nicht säubern konnte, sie wolle auf den Dachboden ziehen, damit sie den Wust von Spänen und Werkholz nicht immer anschauen müsse. Ihr Mann sah ein, daß die Wohnküche nicht auch Werkstatt sein konnte und beschloß, über der Küche einen neuen Wohnraum zu bauen, ein Obergeschoß aus festgefügten, mit Eisenklammern verkrallten Baumstämmen. Aber dazu waren große Vorbereitungen nötig, Eva mußte noch Geduld haben.
Hans räumte auf, so gut es ging, rückte am nächsten Morgen die Schnitzbank noch näher ans Bett der Kranken und brachte sie wieder in gute Laune: Er bat sie einfach um ein neues Märchen. Da begann sie zu erzählen und sagte mehr, als sie sagen wollte, und anderes, als sie vorgehabt hatte; es war, als spräche ein Geist aus ihr, dem ihre Zunge gehorchen mußte:
»Es war einmal ein Vater und eine Mutter, die lebten mit ihrem Sohn in einem schönen Tal fern von anderen Menschen. Der Sohn hatte Mutter und Vater so lieb, daß er ihnen das Leben leicht machen wollte. Dem Vater half er beim Schmieden und Schnitzen, beim Bauen und Heuen, der Mutter beim Kochen und Jäten, bei jeglicher Arbeit in Garten und Haus. Er besorgte die Haustiere, daß sie gern seinem Wort gehorchten. Und wenn die nebelgrauen Wintertage Vater und Mutter traurig machten, dann sang und pfiff er wie die Ringamseln und Zaunkönige und machte seine Eltern so fröhlich, als wär‘s Frühling um sie her. Und weil er alles konnte, was er aus Liebe unternahm, nannten sie ihn ›Kannalles‹. Ja, und als Kannalles groß wurde und ein weicher Bart sein Gesicht zierte, waren das Haus und die Gärten ringsumher mit allem versehen, was die drei Menschen zum Leben brauchten; sie hatten sogar mehr, als sie brauchten. Da sann Kannalles darüber nach, was er Neues schaffen könnte. Es fiel ihm aber nichts mehr ein, und er mußte öfter müßiggehen, als ihm lieb war. Da träumte ihm in einer mondhellen Nacht, er sei ausgezogen über leuchtende Firne und grüne Matten in die weite, weite Welt. Dort fand er ein wunderschönes Mädchen, das von einem dummen, bösen Riesen gefangengehalten wurde. Als Kannalles morgens aufwachte, verließ er Mutter und Vater und zog in die Welt hinaus, das schöne Mädchen zu suchen, das ihm Gott im Traume gezeigt hatte.
Über Felsenwüsten, Firnfelder und Steinkare, durch Wälder und Sümpfe wanderte er fort, bis er zu einem steinernen Haus kam, umgeben von fruchtbarem Boden und Wiesen, darauf die schönsten Rinder weideten. Dort sah er das Mädchen genauso schön, wie er‘s im Traum gesehen hatte. Es war vor ein schweres Hakenholz gespannt, das ein riesiger, einäugiger Mann in den Boden drückte, um damit die schwarze Erde aufzureißen. Kannalles trat hin vor die beiden und sprach den Riesen an: ›Gib mir das Mädchen! Gott hat es mir im Traum gezeigt; ich will nicht dulden, daß du es quälst.‹ Da streifte das Mädchen die Fesseln ab, die es hielten, richtete die blauen Augen auf Kannalles und trat einen Schritt näher.
›Wer bist du?‹ fragte der Riese und hob den Stab gegen ihn, ›das junge Ding gehört mir!‹ ›Ich bin Kannalles‹, gab der Jüngling zurück, ›Kannalles, der alles kann.‹ ›So, der alles kann?‹ fragte der andere und lachte dumm, ›das sollst du mir beweisen. Siehst du dort die starken Rinder auf der Weide? Keines von ihnen kann ich zwingen, mir das Hakenholz zu ziehen. Kannst du‘s?« Da holte Kannalles Salz aus seiner Wandertasche, trat auf das stärkste Rind zu und hielt ihm das Salz vor; mit der anderen Hand kraulte er es zwischen den Hörnern, strich ihm liebkosend über den Nacken und gab ihm gute Worte. Und siehe da – es leckte am Salz und folgte ihm. Da legte er ihm die starken Riemen an, die das Mädchen abgestreift hatte, band ihm zwei Stränge um das Maul, um es zu lenken, und dann drückte er das Hakenholz in den Boden und trieb das Rind zum Ziehen an. Nun löste ihn der Riese ab. Das Rind zog stärker als das Mädchen. Kannalles aber nahm es bei der Hand und führte es unbehindert durch Wälder und Sümpfe, über Steinkare, Firne und Felsen. Er brachte das Mädchen zu Vater und Mutter. Die empfingen es mit guten Worten, Kuß und Umarmung. Kannalles baute ein neues Haus für sich und sein Weib. Sein Vater wurde alt und schwach, seine Mutter gebrechlich. Kannalles aber und seine Frau sorgten für die alten Eltern und ließen es an nichts fehlen.
Im Haus der Jungen aber wuchsen Kinder heran, pausbackig wie die Äpfel im Sonnenschein. Und zeitlebens hatte Kannalles vollauf zu tun, daß es allen, die er liebte, gut ging. Und so wurde Kannalles ein glücklicher Mann.«
In diesem Märchen hatte Eva alles ausgedrückt, was sie im Herzen wünschte. Ihrem Sohn aber hatte sie ein Vorbild in die Seele gesenkt: Er sollte sich als Kannalles erweisen.
Und tatsächlich: Hans sann darüber nach, wie er der Mutter die Arbeit am Webstuhl noch mehr erleichtern könnte. Sie sollte beide Hände für die Führung der Webnadel freibekommen, und der Webkamm sollte sich mit dem Fuße heben und senken lassen. Jetzt, wo Hans mit dem Hebel umzugehen wußte, schien es ihm leicht, Tritthölzer und Hebel so anzubringen, daß der Webkamm, von den Füßen bewegt, sich heben und senken konnte. In wochenlanger Arbeit baute er aus geraden Prügeln ein festes Gestell, das alles zu tragen hatte: den Webrahmen mit den gespannten Längsfäden; den Webkamm mit den Litzen, durch deren Öhre die Zweierfäden gespannt waren; oben den zweiarmigen Hebel, an dessen vorderem Arm der Webkamm hing, während an seinem hinteren Ende die Zugschnur zum linken Trittholz hinabführte. Das rechte Trittholz verband er durch eine Schnur mit dem unteren Rande des Webkammes, so daß dieser durch einen Tritt gesenkt werden konnte. Als alles fertig war, machte der glückliche Erbauer vor Mutter und Vater die Webeprobe. Wie unwiderstehlich der Webkamm dem Zug der Tritthölzer gehorchte, wie genau der Fachwechsel vor sich ging!
Peter betrachtete lange das gelungene Werk des Sohnes und sagte nichts. Dann sprach er wie zu sich selber: »Viel Arbeit dran, viel saubere Arbeit! Aber – wieviel hat vorher erdacht und gemacht sein müssen, ehe das möglich geworden ist.« »Ich weiß schon, Vater«, sagte Hans bescheiden. »Angefangen hat‘s die Mutter, und die ersten Werkzeuge sind von dir.«
Bald darauf machte Peter seinem Sohn eine große Freude mit einem Steinblock, den er beim Erzsuchen aus dem Urgestein gelöst hatte. Er bestand aus ungewöhnlich großen Glimmerplatten. Peter wußte nichts damit anzufangen. Hans aber bemerkte an den abgestoßenen Rändern des Blocks, daß sich die Platten in hauchdünne, durchsichtige Blätter spalteten. Vorsichtig löste er Schicht um Schicht ab, paßte sie in Rahmen und ersetzte damit die gespannten Tierblasen in den Fensterluken. Nun drang das Licht von außen voll in die Stube.
Die Mühle am Bach
Die Schnitzbank hatte Hans beim Zurichten der Hölzer für den neuen Webstuhl gute Dienste geleistet. Er sah sich im Hause um, was er wohl noch schnitzen könnte. Jener plumpe Wassereimer, den der Vater aus einem hohlen Baumstamm gefertigt hatte, war arg rissig geworden. Für die vielen Vorräte waren die vorhandenen Körbe zu klein; Kübel und Truhen wollte die Mutter haben, und zum Geschirrwaschen breite, niedere Gefäße. Hans ging auf alle Wünsche der Mutter mit Feuereifer ein. Jeder Regentag war ihm als Basteltag hoch willkommen. Die an sich recht brauchbare Hanslbank erwies sich beim Zurichten der ungleich langen Flachhölzer für die Wände der verschieden hohen Holzgefäße als verbesserungsbedürftig. Zunächst meißelte Hans am Sitzende zwei neue Schlitze in die Bank, brachte darin ein verstellbares und verkeiltes Widerholz so an, daß das Werkholz unter der Klemmfaust nicht nach hinten abgleiten konnte; dann machte er die Klemmfaust selbst verstellbar, indem er die Achsenlöcher des Hebels vermehrte. So konnte er die Flachhölzer auch auf der Schmalseite aufstellen und die Kanten schräg schnitzen, damit sie sich zu gekrümmten Gefäßwänden zusammenfügen ließen. Weil aber das Werkholz auch in verschiedener Höhe bearbeitet werden mußte, meißelte er unterhalb der Klemmfaust einen dritten Schlitz durch die Bank, so daß er dort einen verstellbaren Lagerbock feststecken konnte. Nun ließ sich das Werkholz so weit heben, daß er sich während der Arbeit das Bücken ersparen konnte. Jetzt war die Schnitzbank so, wie er sie haben wollte! Und nun brauchte Hans noch einen Hohlmeißel, mit dem er die Innenseiten der Brettchen höhlen konnte, und zum Antrieb des Meißels einen Schlegel.
Da ihm das Kämmen der Flachsfasern zu lange dauerte, trieb Hans mehrere Reihen Eisenstäbchen in einen Holzblock; so entstand eine Kammbürste, deren Zähne in die Höhe starrten. Zog Eva das Faserbüschel kräftig durch diese Hechel, dann verfingen sich die gebrochenen Rindenstückchen mit etwas Werg an den Nägeln, während die golden glänzenden Flachsfäden in ihrer Hand blieben.
Der Winter machte den Arbeiten im Freien ein Ende, Hans konnte sich wieder ungestört dem Basteln widmen. Aber kaum hatte er den runden Boden eines Kübels fertig, den Rand schräg zugeschnitten, um ihn in die Kerben der Seitenwandhölzer einzulassen, da hatte Eva schon eine neue Aufgabe für ihn. Sie kauerte vor ihrer flachen Quetschmühle, die noch aus der Pfahlbauzeit stammte, und schrotete Weizenkörner. Hans sah, wie oft die Mutter ermüdet innehielt und nicht recht vorankam. Solange es wenig Körner zu schroten gegeben hatte, mochte die Quetschmühle genügt haben; aber jetzt war das anders. Suchend blickte Hans sich in der Stube um, ob irgendein Ding ihm Rat gäbe, sah dem Vater zu, wie dieser mit Hammer und Stahlmeißel eine Granitplatte in einen schweren Wirtelstein umzuwandeln suchte, der ihm beim Antrieb eines großen Bohrers dienen sollte. Peter wollte nämlich in die Balken des Obergeschosses Holznägel eintreiben. Nichts fiel ihm ein, dem Hans, er nahm seine Schnitzerei wieder auf. Sooft er ein Seitenbrettchen des Wasserkübels fertig hatte, legte er es so zum runden Bodenbrett, daß sie sich sternförmig aneinander reihten.
Als Eva beim Aufräumen die sorgfältig zueinandergepaßten Brettchen durcheinanderbrachte, mußte Hans sie am nächsten Tag mühsam wieder in die wohlbedachte Reihenfolge bringen. Diesmal bezeichnete er sie, damit sie nicht noch einmal durcheinandergerieten. Da er an den Fingern seiner Hand das nächstliegende Mittel zum Zählen hatte, ahmte er durch Striche erst die Finger, dann die Hand nach: auf das erste Brettchen ein Strich, auf das zweite zwei und so weiter, alles mit dem Meißel. Das fünfte Brettchen versah er mit einem groben Abzeichen einer Hand; vier Striche nebeneinander stellten die Finger vor, ein schräg abstehender den Daumen. Das zehnte Brettchen wurde mit zwei aneinandergefügten Handbildern gezeichnet. So hatte Hans ganz nebenbei einfache Zahlenbilder erfunden, die ihm von nun an bei allen seinen Arbeiten als Ordnungsmittel dienten.
Peter, der an der Hanslbank ebensoviel Freude hatte wie ihr Erfinder, versah dessen Schnitzmesser, den Flach– und den Hohlmeißel mit schrägen Schnittkanten, damit »der Bub« sich leichter täte; bald aber verdrängte er Hans von der Schnitzbank. Ihm war nämlich gelungen, die Granitscheibe kreisrund zu meißeln, und nun ging er daran, aus starken weißbuchenen Astgabeln das Gestell des Bohrers zu schnitzen. Hans hob den Wirtelstein auf. Prüfend führte er seine Hand über die grobkörnige Oberfläche und zuckte zurück: Die war ja brauchbar zum Zerkleinern der Getreidekörner!
Wochenlang mühte er sich, aus sehr hartem Sandstein einen in der Mitte durchlochten Mahlstein herzustellen, der sich als Läufer auf einem kegeligen Bodenstein drehen und so das Korn zerreiben sollte. Nach einem mißglückten Versuch gelang es ihm, den Bodenstein mit einer Randrinne zu versehen, die das Mehl aufnehmen sollte, das über eine Schnabelrinne in eine Schüssel abfallen konnte. Aber das schwerfällige Gerät erforderte Kräfte, die Mutter Eva nicht hatte. Als Hans das Korn auf der Handmühle mahlte, wurde er bald müde. Da dachte er an sein vom Wasser getriebenes Schlagwerk im Ziegengarten. Wäre es nicht möglich, auch das Mühlwerk vom Wasser treiben zu lassen, am unteren Moorbachfall zum Beispiel, wo die Strömung so stark war?
Er machte sich an die Arbeit. Sie war alles andere als leicht. Wie konnte die drehende Kraft der liegenden Achse des Wasserrades auf die stehende Achse des Mahlsteins übertragen werden? Wieder halfen Astquirle weiter: Der steile Quirl des Wasserrades sollte mit seinen Zähnen die Zähne des liegenden Quirls an der steilen Achse des Steins schieben. Da die Quirläste die Trägheit des schweren Steines nicht überwinden konnten, mußten sie durch eiserne Zähne ersetzt werden, die wiederum nur an eisernen Achsen sitzen konnten. Um das Mahlgut einzuschütten, mußte das Loch im Läufer trichterförmig erweitert werden.
Über diesen schwierigen, genauen Arbeiten verging der Sommer. Die Getreideernte war so üppig, daß es Hans unmöglich dünkte, die Ähren wie in früheren Jahren mit der Hand auszuklauben. Das mußte anders gehen! Mit Lederriemen band er einen kurzen Knüttel an einen langen Stock, breitete auf dem reingefegten Lehmboden des Hofes die Getreidegarben aus und schlug mit seinem Flegel die Körner aus den Ähren. Peter machte für sich und Eva auch je einen Dreschflegel, und nun schallte es im Dreischlag durch den Heimlichen Grund: »Tipp-tapp-tapp, tipp-tapp-tapp...«
Aber noch schöner hörte sich das Schlagen der Zapfen an, als die Mühle am Moorbach, vom fallenden Wasser getrieben, für die Menschen die Arbeit tat. An dieser ersten Bachmühle, die noch mancherlei Mängel hatte, besserte Hans so lange herum, bis sie zuverlässig arbeitete.
Alle Eisenteile wurden mit Fett vor Rost geschützt. Und dann baute sein Vater einen Schuppen darüber, denn weder Regen noch Sonne sollten das kostbare Mahlgut verderben.
Das Obergeschoß
Eva drängte zum Umbau. Bisher hatte sie mit den Junghunden Geduld gehabt. Allmählich aber war es ihr unerträglich, mit ihnen samt deren Ungeziefer in der Stube zu hausen. Auch Hans sehnte sich nach einer eigenen Stube im Obergeschoß, wo er seine Funde aufheben und neue Werkzeuge, vor allem seine Erfindungen unterbringen konnte.
Volle zwei Jahre vergingen, bis die vielen Baumstämme gefällt, behauen, angekohlt und gekerbt waren, die den Blockbau des Obergeschosses auf der ganzen Länge des steinernen Unterbaues und des Stalles bildeten. Sein Bodenrahmen war im Steinbau eingemörtelt, Block an Block mit eisernen Klammern festgekrallt, damit kein Föhnsturm das Gefüge lockere. Dann verging noch ein halbes Jahr, bis der gewonnene Raum in Mittelstube, Vorratskammer und Sammelstube für Hans aufgeteilt und mit dem Notwendigsten ausgestattet war.
Als geschickter Zeugschmied und Schnitzer schuf Hans nach und nach für jede Art von Arbeit das richtige, kräftesparende Werkzeug. Seine Küchenmesser waren dünn und lang, die Schnitzmesser kurz an dickem Stiel; sein breites Beil zum Behauen des Bauholzes hatte einen nach rechts angebogenen Stiel, es taugte zum seitlichen Behacken der Werkhölzer, aber nicht zum Spalten von Brennholz. Auch an Meißeln hatte er eine reiche Auswahl: breite, schmale, schief– und rundschneidige. Seine Baumsägen waren grobzähnig und weitgeschrägt, seine Werksägen für Hartholz feinzähnig und schmalgeschrägt; weitaus feiner aber waren jene kleinen, aus gehärtetem Stahl gefertigten Spannsägen, mit denen er Knochen und Metall bearbeitete. Seine neuesten Werkzeuge waren eine Feile, ein gewundener Bohrer und ein Nageleisen. Die Feile hatte er aus einem glühenden Flacheisen mit einem harten Meißel behauen und dann gehärtet; den Bohrer verdankte er einem verunglückten Bohrversuch. Er wollte einen Balken mit einem angeglühten Eisenstab durchbohren und drehte ihn ab, als dieser erkaltet und brüchig geworden im Holz stecken geblieben war. Zuerst war Hans wütend, aber dann betrachtete er das gezwirbelte Stück Eisen genauer, pfiff durch die Zähne, holte seine Feile und begann, die Kanten der Windungen zu bearbeiten. Zum Schluß härtete er das Ding und hatte nun einen Bohrer, der, an einem gebogenen Holzgriff gedreht, sich rasch ins Holz fraß. Peter, der die Werkzeuge seines Sohnes bewunderte, dachte oft an die Zeiten, als er mit ein und demselben Hartstein graben, schaben und schneiden mußte. Er begann, seinen hochaufgeschossenen Sohn, der so viel von der Mutter hatte, zu schätzen und hörte auf seinen Rat. Und Eva merkte mit Freude, daß Hans, von seinen Arbeiten und Erfindungen abgelenkt, immer seltener an die »große Welt da draußen« dachte.
Peters Nägel waren anfangs nur langgespitzte Eisenstäbchen, deren dickeres Ende nach dem Einschlagen umgebogen werden mußte, wobei das spröde Metall meist an der Bugstelle brach. Hans bog die Nägel um, solange er sie glühend unter dem Hammer hatte, aber auch das war nicht das richtige:
Beim Eintreiben in das Holz verbogen sie sich erst recht. Nun versuchte er, das obere Nagelende kopfartig auseinanderzuschlagen. Es ging, aber jeder Schlag wurde von der Klammer, mit der die Linke das Eisenstück festhielt, auf den Arm übertragen, ein fortgesetztes Prellen, das wehtat und müde machte. Gezwungenermaßen erfand Hans ein Nageleisen. Es war nichts anderes als eine schwachfedernde, plumpe Klemme aus breitem Eisenband, zwischen deren dicken Backen der Nagel in einer Rille festgehalten wurde, während ein Reiterchen, aus einem umgebogenen Eisenstab geformt, die Backen aneinanderzwang, so daß sie nicht nachgeben konnten, wenn der Hammer den Nagelkopf breitschlug.
Wieder waren Erd– und Himbeeren reif. In ihren Duft mischte sich der süße Geruch von Heu. Die drei Oberstuben waren notdürftig eingerichtet. Darüber lag der geräumige Dachboden, in den, vom Herd des Obergeschosses ausgehend, die Räucherkammer hineinragte.
Im Fußboden der Mittelstube war ein viereckiger, mit einer Falltür gesicherter Durchlaß, zu dem von unten eine schmale Bohlenstiege heraufführte; sie war ein bißchen zu steil, nahm aber dafür der unteren Stube wenig Raum weg.
Die Mittelstube im Obergeschoß, wo unter der Räucherkammer und über der unteren Feuerstelle der neue Herd stand, war Mutters Reich; die rechte Kammer über dem verbreiterten Stall war eine Vorratskammer; die linke, mit der Aussicht auf die Brunnleiten, gehörte Hans. Sein Vater, der sich in seiner Werkstatt am wohlsten fühlte, war froh, die untere Stube zu behalten, wo er den Herdwinkel als Schmiede einrichtete und die linke Hälfte, wo sein Bett stand, zur Holzwerkstatt machte.
Noch im Herbst machte Hans den Dachboden durch eine Türluke, vor die er außen eine Leiter lehnte, von der Stallseite aus zugänglich, um so das Heu leichter auf den Boden schaffen zu können. Die alte Vorratskammer wurde mit dem Stall vereinigt, so daß auch die Ziegen mehr Platz hatten. Peter versah den Stall mit einem Boden aus hochliegenden Balken und brach für die abfließende Jauche in der vorderen Mauer eine Lücke aus, damit das Dungwasser dem Garten zugute käme.
Kaum war das starke Dach mit Steinen beschwert, der Dachboden mit Heu und Streu aufgefüllt, als die ersten Schneestürme losbrachen.
Evas Herdfeuer brannte nicht so gut, wie es in der unteren Stube gebrannt hatte. Da schuf Peter mit Hans eine vollkommenere Nachahmung des Herdrostes der Geißenhöhle. Jener hatte aus länglichen Steinen bestanden; der neue aber wurde aus fingerdicken Eisenstäben geschmiedet und kniehoch über dem Stubenboden in die Mitte des gewölbten Aschenraumes eingebaut. Nun konnte die Luft von unten her dem Feuer zuströmen. Zum Schluß überbaute Peter die Feuerstelle so, daß der Rauch abgefangen und in die Räucherkammer geleitet wurde, über die er einen gedeckten »Rauchfang« errichtete.
Peter suchte alle Überbleibsel seiner fast aufgebrauchten Eisenvorräte zusammen und wendete die nächsten Wochen daran, neues Eßzeug und für Eva eine neue Herdausstattung zu schmieden: einen Pfannenhalter, einen Kesselgalgen, einen Bratspieß mit Kurbel und Spießhaltern, Feuerzange und Schürhaken. Statt der einzelnen spitzen Stäbchen zum Aufspießen des Fleisches schäftete er je zwei Eisenspitzen in Holz und schuf so die erste Eßgabel der Familie. Es glückte ihm, noch vor der Wintersonnenwende mit seinen Schmiedearbeiten fertig zu werden.
Evas Wangen röteten sich, als sie am Heiligen Abend die kostbaren Geräte unter dem Lichterbaum fand. Aber ihre Freude wurde fast übertroffen von der Freude, die Vater und Sohn empfanden, als sie die wahren Wunder an Handarbeit sahen, die Eva vollbracht hatte: hohe, leinengefütterte Pelzmützen aus Hundefellen, warme Fäustlinge aus Katzenfellen und gut schließende Pelzjacken. Worüber sich aber die beiden Männer am meisten verwunderten, das waren sackartige, nahtlose Fußbekleidungen aus einem wolligen Garn, das durch Zusammenspinnen von Flachs– und Ziegenhaaren entstanden war. Das war Evas große Überraschung! Schon lange hatte sie versucht, ein rundherumgehendes Geflecht oder Gewebe herzustellen, was auf dem Webstuhl nicht möglich war. In der warmen Jahreszeit hatte ihr der Garten nie Muße für erfinderische Gedanken gelassen. Erst im Winter, als dank den Vorräten an Mehl, Fett und Fleisch ohne lange Vorbereitungen gekocht werden konnte, hatte sie Zeit gefunden, sich etwas auszudenken. Sie umwickelte erst einen, dann einen zweiten glattgeschabten Weidenrutenring mit einem gedrehten Faden – Strickel nannte sie ihn – und verflocht je zwei Wickelmaschen mittels eines zweiten Strickels, das sie mit einer groben Knochennadel führte. Dann zog sie den unteren Ring aus der Maschenreihe, umwickelte ihn, setzte ihn oben auf und flocht das Strickel an die Maschen darunter. So mühsam diese Flechterei gewesen war, so unbrauchbar erwies sich das Geflecht. Das erste so entstandene Säckchen verzog sich, die Wicklungen streckten sich. Erst als Eva nach vielen, vielen Versuchen von den zwei Strickeln abkam und das Lockerwerden der Wicklungen dadurch vermied, daß sie den oberen Faden unter der Nadel kreuzte, wurde das Geflecht dichter. Um das Strickel zu spannen, klemmte sie es zwischen zwei Finger der linken Hand und wickelte es um den Zeigefinger, den sie wie eine Kunkel abspreizte. Mit einer langen Holznadel in der Rechten stach sie durch eine Masche, fing mit der Nadelspitze den gespannten Faden ein und zwang ihn durch die untere Masche, die sie von der linken Nadel auf die rechte schob. So schlang und hob die Nadel eine neue Masche nach der anderen ab. Anfangs ging das Strickeln recht langsam, bis Eva ihre zwei langen Nadeln durch fünf kürzere, glattgeriebene aus Elsbeerholz ersetzte und die Finger mit der Zeit von selber wußten, was sie zu tun hatten. Von nun an klapperte das Strickelzeug so rasch, daß der gestrickelte »Säckel« zusehends wuchs. So waren die ersten zwei Paare entstanden, kleine fersenlose Säcke, die sich aber den Füßen anschmiegten und sie warm hielten.
Eva nützte den milden Nachwinter, um eifrig zu spinnen, zu weben, zu stricken und zu nähen, was sie und die Männer brauchen konnten: Säckel und Hemden – mindestens zweifach für jeden, damit gewechselt werden konnte. Und die Männer hielten mit ihrem Lob nicht zurück. Eva, die schon seit langem wieder kränkelte, gefiel es, im Lehnstuhl sitzend zu arbeiten, die schnurrende Katze im Schoß. Sie brauchte ja nicht aus dem Haus zu gehen und sich dem naßkalten Wetter auszusetzen. So blieb sie denn in der warmen, aber ungelüfteten Stube und wurde von Tag zu Tag bleicher und matter. Als der Frühlingsföhn die Schnee– und Steinmassen donnernd zu Tale schickte, konnte Eva vor Schwäche nicht mehr aufstehen. Eine unbeschreibliche Sehnsucht nach frischer Luft, nach Sonne ergriff sie. Sie, die in den Wohnräumen keinen Zug duldete, litt nun an Lufthunger. »Am liebsten möcht ich durch die Wand hinaus ins Freie!« Lächelnd stieß Peter seinen Sohn an: »Hans, mir scheint, wir werden mit dem Bauen nie fertig – die Mutter will durch die Wand ins Freie.« Er nahm Evas Rede wörtlich: Eine Türöffnung wollte er in die Mittelwand sägen und rund um das Haus einen luftigen Laubengang bauen, dessen Stützen vom Erdboden bis zum Dachrand ragen sollten. Dann konnte Eva zu jeder Tageszeit die Sonne aufsuchen, die ihr vielleicht Heilung brachte. Hans schilderte der Mutter die Aussicht über den ganzen Heimlichen Grund, wie er sie vom Dach aus genossen hatte. Da leuchtete ihr Gesicht vor Begeisterung: »Ja, ja, baut nur den Laubengang, das wird schön!«
Der Hakenpflug
Der Bau des Laubenganges drängte, aber noch unaufschiebbarer waren die Frühlingsarbeiten im Garten und auf dem Feld. Peter begnügte sich damit, in der Stirnwand des Hauses die Fenster auszuheben. Er und Hans fällten noch rasch die zum Bau des Laubenganges nötigen Bäume, sie sollten in der Sonne gut austrocknen. Nun begannen sie, die Erde mit Spaten und Haue zu bearbeiten. Doch das Graben und Hacken in der Erde ging nur Stich für Stich, Hieb für Hieb. Am liebsten hätten sie mit ihren Hauen den Erdboden langhin aufgerissen; aber dazu waren diese Geräte viel zu schwach. Eines Morgens musterte Hans die Überreste einiger gefällter und zum Teil verbrannter Bäume, ob sich darunter etwas Brauchbares fände, das die Arbeit abkürzen könnte. Ein angekohlter, schräg abgebrochener Buchenblock mit einem lang abstehenden Gabelast drängte sich förmlich auf. So mochte das Hakenholz des dummen Riesen ausgesehen haben im Märchen von Kannalles. Hans zerrte den Block aufs Feld, wo Peter schon den Spaten handhabte. Noch wendete Hans das Holzstück zweifelnd hin und her, da nahm es der Vater aus seinen Händen, drückte die Spitze des Blocks in den Boden und begann zu ziehen. Sie ritzte den Boden nur leicht. Dem ließ sich durch einen aufgebundenen Stein abhelfen. Tiefer wurde die beim Ziehen gerissene Furche. Als die Spitze unversehens aus dem Boden heraussprang, band Peter ans hintere Ende des Buchenblocks einen gabeligen Ast als Druck– und Führungsholz. Dann trieb er die Spitze wieder in den Boden. Hans verstand die Absicht seines Vaters. Unaufgefordert spannte er sich vor den so entstandenen Hakenpflug, den Peter mit dem Gabelholz lenkte. Die Hakenspitze riß eine grobe Furche. So arbeiteten die Männer, bis sie beide in Schweiß gebadet waren. Zwei Schläge auf die Bratpfanne riefen Hans zum Kochen des Mittagmahles; er ging ohne Widerstreben, hatten sie doch mehr Boden aufgepflügt, als sie mit Haue und Spaten in einer Woche hätten aufgraben können.
Die Spitze des hölzernen Pflughakens war bald abgerieben und wurde durch eine eiserne ersetzt. Ein altes grobes Messer, in einen gesägten Ritz des Pflughakens geschäftet, riß viel zu schmale Furchen. Der Holzpflug mußte mit einem eisernen Schuh versehen werden, der, spitz und scharfkantig, leicht in den Boden eindringen sollte. Drei Tage Arbeit an der Grubenesse, und Peter hatte mehr Schmiedeeisen, als er brauchte. Mit dem vervollkommneten Pflug gelang es den beiden, vor Ablauf einer Woche alles Ackerland aufzureißen. Dann säten sie Getreidekörner in die Furchen. Hans, der die hart gewordenen Erdschollen mit dem Rechen zu bearbeiten begann, um das Saatgut zu decken, wurde ungeduldig, ihm ging es zu langsam. Er verfertigte vier armlange Rechen mit eisernen Zinken, verband sie durch einen Rahmen aus Hartholz, nagelte eine gegabelte Stange als Deichsel daran, belastete den Rechenrahmen mit Steinen und zog ihn über die Schollen hin und her, bis alles Saatgut mit Erde bedeckt war. Das neue Ackergerät, die Egge, war da! Eine Woche später setzten die Frühlingsregen ein. Vater und Sohn verbrachten die nasse Zeit in ihrer Werkstatt. Sie halfen einander beim Schnitzen der groben, schmalen Fensterrahmen, die sich wie eine Tür auf– und zumachen lassen sollten; deshalb wurden an einer Seite breite, zähe Bänder aus Schweineschwarte aufgenagelt.
Mehr als Peters Kräuterabsud wirkten frische Luft und Sonnenschein auf Evas Befinden. Sie kam wieder so weit zu Kräften, daß sie die sonnigste Zeit des Tages im Garten verbringen konnte. Eva machte große Augen, als sie das Feld bestellt sah, aus dessen regensattem Boden die Sonne die roten Keimspitzen der Saat hervorlockte. Sie bewunderte den schweren Pflug, den Peter und Hans gemeinsam gebaut hatten! Tief atmend zog sie die duftgeschwängerte Luft ein, die von den sonnenbestrahlten Blumenhalden herüberwehte. Während sie Hans bei der Gartenarbeit half, sangen die Vögel in den blühenden Baumkronen; im Saugarten quiekten Ferkel, und vom Geißengarten her klang das Schlagwerk. Vom Moorbachfall kam ein stärkeres Geräusch herüber, als fiele ein schwerer Hammer in regelmäßigen Abständen auf Eisen. Hans mußte erkunden, was es war. Peter hatte gegenüber der Mühle an die Welle des Wasserrades ein Hammerwerk geschaltet, das wie das Schlagwerk eingerichtet war, nur daß der Amboß die Stelle der klingenden Pfanne einnahm, während ein langer Hammerstiel als Hebel von den Zapfen der Welle angetrieben wurde. Daneben schwelte Holzkohle in einer Erdmulde, zu der die Windröhren der Blasebälge führten. Das alles berichtete Hans der staunenden Mutter, und hastig arbeitete er weiter an den Gemüsebeeten; es zog ihn mächtig zum neuen Hammerwerk, wo der Vater Gußeisenbrocken in Schmiedeeisen umwandelte. Hans wollte bei dieser Arbeit helfen und übernahm das Blasebalgtreten, während Peter ein rotglühendes Stück Gußeisen nach dem anderen mit der Klemme aus der Esse hob, auf den Amboß legte und unter dem selbsttätig schlagenden Hammer hin und her schob. Unverdrossen erhitzte er es immer wieder, bis das Eisen seine Sprödigkeit verlor.
Mißvergnügt über das langweilige, schweißtreibende Ziehen und Treten der Blasebälge, spürte Hans den lebhaften Wind, der, vom Wasserfall verursacht, ihm über den erhitzten Leib strich. Ach, wenn sich doch die vom Wasserfall bewegte Luft einfangen und der Glut in der Esse zuführen ließe! Es gelang ihm leicht, den Vater zum Bau eines Windkastens zu bewegen. Unterhalb des Schaufelrades, wo der Wasserfall gischtend auffiel, stellten sie den bodenlosen Bohlenkasten ins Bachbett, so daß er das eingefallene Wasser abfangen und durchlassen konnte, umbauten ihn mit schweren Felsblöcken, deckten ihn und dichteten alle Fugen über dem Wasser. Im Deckel ließen sie nur das Wasserloch offen und an der Seite zum Hammerwerk ein Windloch, in das sie ein aus vier Flachhölzern geformtes Windführungsrohr einfügten. Wie Hans erwartet hatte, strömte durch das Rohr die im Windkasten zusammengedrängte Luft ununterbrochen in die Esse und fachte die Flammen an, so daß der Gußeisenklumpen in Weißglut geriet.
In langen Sätzen rannte Hans nach Hause. Mit glänzenden Augen berichtete er der Mutter vom gezähmten Wind, der von nun an für ihn und den Vater arbeiten sollte, und wie das Wasser die Mühle trieb und den Schmiedehammer dazu. Er schwelgte in Zukunftsplänen. Statt des breiten, schweren Hammers würde er einen schmalen, leichten vor den Antriebszapfen schalten; er würde die Zapfen vermehren, damit der Hammer schneller und leichter schlüge – ja, und statt des flachen Amboßes würde er einen gewölbten, einen kantigen oder hohlen unter den Hammer stellen und Eisenplatten und Gefäße schmieden, Eisenbänder durchlochen oder teilen! Daß er nicht übertrieb, bewies er schon in der nächsten Woche. Was er der Mutter an neuen Koch– und Eßgeräten vorlegte, übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Und Peter schmiedete in seinem Hammerwerk in zwei Tagen mehr Nägel, als er voraussichtlich zum Bau des Laubenganges brauchen würde.
Da das Bauholz für den Laubengang noch nicht trocken genug war, rodeten die Männer ein Waldstück, um neues Gartenland zu gewinnen. Das dauerte bis zum Spätherbst. An einem nebelfeuchten Tage fällten sie eine alte Buche, in deren Höhlung sie ein Bienenvolk entdeckten, das träge um die gefüllten Honigwaben kroch und bei dem naßkalten Wetter in seiner Behausung blieb. Peter und Hans hatten gleichzeitig einen guten Gedanken: Sie sägten den Stamm oberhalb und unterhalb der Bienenwohnung auf Manneshöhe zurecht und stellten ihn im Garten zwischen Steinblöcken auf, das Flugloch nach Süden gerichtet. Auf den Klotz setzten sie ein Regendach. An der Rückseite des Stocks brachten sie eine zwei Handspannen breite, verschließbare Öffnung an, dort wollten sie den Honig herausnehmen, ohne die Bienen zu stören oder gar zu vertreiben. Bei dieser Gelegenheit entdeckte Hans, daß die Bienen an die nach innen ragenden Astkerne ihre Waben geklebt hatten. Und nun tat er etwas: Er ahmte das Verfahren der Bienen nach! Er nahm die Honigwaben heraus und knetete die mit Larven besetzten Brutwaben an Stäbchen fest, verspreizte sie quer zwischen den Wänden des Stocks, fegte mit einem Entenflügel die kältestarren Bienen zusammen und schaufelte sie in den Stock, wo sie an den Wänden langsam emporkrochen. Eva hob die vollen Honigwaben in ihrer Vorratskammer auf. Nun hatte sie genug Honig für ihren Sonnstagskuchen und zum Süßen des braunen Eicheltrankes, jetzt und in Zukunft – denn im Garten wohnte ein Bienenvolk! Nachdem Peter und Hans die Rückseite des Stocks mit einem Brett verschlossen und die Fugen mit Lehm verstrichen hatten, meinten sie, für die Bienen genug getan zu haben und setzten ihre unterbrochene Holzarbeit fort. Eine Woche lang widerhallte der Heimliche Grund von ihren Axtschlägen. Dann kam die verspätete Herbsternte in Kastaniengarten und Eichenbestand und nach den ersten Nachtfrösten die Bergung der Laubstreu.
Der Winter ließ sich im wohlversorgten Steinhaus aushalten. Peter schnitt, kerbte und bohrte das Bauholz vor. Hans arbeitete in seiner Stube. Seine Sammlungen sollte man auch sehen, sie brauchten Helle, viel Helle. Hans schaffte sie, indem er in die Schmalwand auf der Westseite seiner Stube ein großes Fenster einließ. Als Scheiben nahm er dünn gespaltene, durchsichtige Glimmerplatten. Erst als der Raum von Licht durchflutet war, ordnete er seine Schätze auf die Wandbretter. An einem regnerischen Sonntagnachmittag holte er Mutter und Vater herüber. Sie wunderten sich über die Fülle von merkwürdigen Dingen und noch mehr darüber, was Hans über jedes einzelne zu sagen wußte, wie und wo er es gefunden oder erfunden, was die Dinge versprochen, welche Enttäuschung sie gebracht, was sie gehalten hatten, was ihm an ihnen rätselhaft war und an welches Ereignis sie erinnerten.
Nun holte Peter den Schädel des Bären herbei, den er vor der alten Wohnhöhle erschlagen, den Schädel der Wildkatze, die er am Tage der ersten Feuergewinnung erlegt hatte, und den gefundenen Schädel mit dem verstümmelten Hirschgeweih: »Stell‘s dazu!« Eva wollte nicht zurückstehen und übergab die Zeichensteine und Wochenstäbe. Der Sammler war überglücklich. Später verbrachte die Mutter manchen Sonntagnachmittag mit Hans in seiner »Sammlung«, und bald gingen beide ans Umräumen. Alle Wandbretter wurden leergemacht und die Gegenstände auf den Fußboden gelegt, wo sich das, was zusammengehörte, schier von selber zusammenfand. Beim Wiedereinräumen kam alles in die rechte Ordnung und ins rechte Licht. Auf dem untersten Bord lagen die Andenken an die Höhlenzeit, auf dem mittleren die der Pfahlbauzeit, und was zur Block– und Steinbauzeit gehörte, hatte auf dem obersten seinen Platz. Links vom Fenster aber kamen zuunterst die Kristalle und Erzstufen, dann die bunten Märchensteine und zum Schluß alles, was von Lebendem herrührte. Manches besonders schöne Stück wurde zur Zier an die Wand gehängt. Wenn Hans nachdenklich und schweigsam wurde, zeichnend oder bastelnd der Lösung einer Aufgabe näherzukommen trachtete, ließ ihn die Mutter allein. Am meisten beschäftigten ihn Wirkung und Vorteil des Hebels. Zwei Vorteile kannte er schon von der Hebestange und vom Schlagwerk her: mit wenig Kraftverbrauch eine große Last zu bewegen und die Richtung der Arbeitskraft in der Auswirkung zu ändern. Der Mutter hatte er einen Wunsch abgelauscht. Immer wieder hatte sie von einer Schere erzählt, die aus zwei beweglichen Messern bestanden und der Ahnl gehört hatte. Aber ihre Erinnerung daran war undeutlich. Jetzt versuchte Hans, ein Doppelmesser, wie er es sich vorstellte, zu schmieden. Er nahm zwei alte Messer, glühte sie dicht unter den Griffen an, schlug Löcher durch, legte sie kreuzweise übereinander und hämmerte einen kurzen Stift als Achse durch die beiden Löcher. Der Vater, dem er heimlich die mit zwei Händen bewegbare Schere zeigte, erinnerte sich, daß die Ahnl ihre Schere nur mit einer Hand bewegt hatte. Auch das war leicht zu machen. Hans brannte das Holz der Griffe weg und hämmerte die glühenden Stieldorne der Messer so nach außen um, daß ein Ring für den Daumen und ein zweiter für die Finger entstand. Dann härtete und schliff er die Scherenmesser, fügte sie zusammen und rieb sie mit Schachtelhalmstroh blank; nun schnitten sie Leder und Haare glatt. Und jetzt wußte er auch schon, was er dem Vater unter den Lichterbaum legen wollte: zwei andere Formen einer Schere: nämlich eine Schmiedezange, mit der er das Eisenstück, das er bearbeiten wollte, leichter festhalten konnte als mit der Klemme, und eine Beißzange mit breiten, kurzen, scharfkantigen Kiefern.
Am Heiligen Abend war die Freude beider Eltern groß. Die Güte der Schere erprobte Eva sofort an Hansens Kopfhaar, sie schnitt es im Nacken ab, so daß er es nicht mehr zu knoten brauchte. Peters Weihnachtsgabe für Frau und Sohn war eine hochgebaute Harfe mit siebzehn Saiten.
Hans verbrachte jede freie Stunde in seiner Sammlung, betrachtete seine Schätze, dachte nach, versuchte dies und das und verließ höchst ungern seine Stube, wenn sein Vater, der das Bauholz für den Laubengang sägte, Hilfe brauchte. Das kostete nur Zeit, die er so dringend für seine eigenen Arbeiten benötigte. Was lag näher, als wieder das Wasser für sich arbeiten zu lassen. Damit die Säge sich der Drehung des Mühlrades anpaßte, schmiedete er eine dünne, kreisrunde Scheibe aus Harteisen und versah ihren Rand mit geschränkten Zähnen. Dann brauchte er nur das Ende der Radwelle vierkantig zu beschneiden, die viereckig durchlochte Sägescheibe daranzustecken und mit zwei Querzapfen, anzuklemmen, oder nicht? Wie er es sich erdacht hatte, so ging es: Schob er an die sich drehende Sägescheibe einen Baumstamm der Quere nach, so schnitt sie Scheiter oder Scheiben, schob er ihr den Stamm der Länge nach zu, so schnitt sie Bretter. Aber auch das Schieben kostete Zeit! Da baute Hans oberhalb der Säge eine schräge Gleitbahn. Darauf legte er den entrindeten Stamm über Rollhölzer, so daß er sich durch die eigene Schwere auf die Säge zubewegte.
Die fast mühelose Herstellung glatter Bretter, von denen sich nach und nach die schönste Stubenausstattung tischlern ließ, erregte Peters unverhohlene Bewunderung, und aus Evas Augen strahlte die Freude. Doch wenn Hans seine Sammlung betrachtete und die Blicke über den Inhalt der unteren Wandbretter gleiten ließ, wurde er ganz bescheiden. Was hatte der Vater alles vor ihm ersonnen! Mit Vater hatte alles angefangen, ohne ihn wäre nichts von dem geworden, was nun war. Und weilten seine Blicke auf den Kristalldrusen, den Versteinerungen, den Früchten, den Schädeln, den Eiern, den gestreiften Schneckenschalen, dann dachte er an das, was die Mutter gesagt hatte, daß der Allmächtige alles geschaffen hatte. Und seine Ehrfurcht vor dem unsichtbaren Gott wuchs, der nur durch seinen Willen alles hat werden lassen, während er, Hans, doch zu allem die Hände brauchte. Fragen stiegen in ihm auf: Wie ist das geworden? Wie? Und warum gerade so und nicht anders? Was er wußte, was er selbst konnte, wie gering war es im Vergleich zu dem, was er nicht verstand, und zu dem vielen, was er nie und nimmer zu schaffen vermocht hätte! Vor ihm lagen Rätsel über Rätsel, die er lösen wollte, eines nach dem anderen. Ob er lange genug lebte? Jedes Weilchen seines Lebens war ihm kostbar geworden. Keine Gelegenheit durfte er versäumen, um neue Erkenntnisse zu erschauen, zu erlauschen, zu erforschen, zu erarbeiten. Die Menschen draußen in der großen Welt mochten wohl vieles wissen, das er von ihnen erfahren könnte. Und wieder packte ihn die Sehnsucht nach der Ferne und drängte, so daß er sich eiserne Schuhe mit abwärts gebogenen, scharfen Rändern schmiedete. Wie die Steinböcke mit ihren scharfkantigen Hufen, wollte er dann über Fels und Eis klimmen eines Tages, eines Tages ...
Gesäuertes Brot
Gegen Ende des Winters wurde Eva wieder krank, und Hans, der alle Hausarbeit auf sich nahm, verbrachte die meiste Zeit in ihrer Nähe. Ihr zuliebe sang er zum neuen Saitenspiel seine Erzählungen von längst und jüngst geschehenen Taten. Sooft er abkömmlich war, meißelte er heimlich an einem Backtrog, den sich die Mutter längst wünschte.
Im Frühling wimmelte es von Jungtieren, die Erde mußte bearbeitet werden, Frühlingsblumen prangten und dufteten, bunte Schmetterlinge, Hummeln und fremde Bienen kamen auf die Sonnleiten zu Gast. Was aber machten die Hausbienen in ihrem Baumstamm? Noch keine hatte das Flugloch des Stocks verlassen. Und doch war es hohe Zeit, daß sie mit dem Sammeln begannen. Der Honigvorrat Evas ging rascher zur Neige, als die sparsame Hausfrau vorausgesehen hatte. Peter, den Evas Kränklichkeit oft verdroß, kehrte wieder zum alten Brauch zurück, kleine Mengen Honig heimlich mit Wasser zu mischen und den gegorenen Met als Trost– und Labetrunk zu genießen. Nun, da er das Bienenvolk im Garten wußte, sah er keinen Grund, sich den Genuß zu versagen.
Das Bauholz für den Laubengang war fertig. Evas Bedürfnis nach Sonnenschein sollte bald erfüllt werden. Die Obstbäume, die im Vorjahr zurückgeschnitten und von Wurzeltrieben gereinigt worden waren, zeigten vielfach Kurztriebe mit vielen, auffallend großen Blütenknospen, die einen reichen Ertrag versprachen. Und Eva freute sich schon, daß ihre Hausbienen honigsammelnd von Blüte zu Blüte fliegen würden. Aber noch schienen sie ihren Winterschlaf zu halten. Die Bäume waren verblüht, die Fruchtknoten dick und prall, aber noch immer schienen die Bienen zu schlafen. Hans entfernte in Gegenwart der Mutter das Verschlußbrett an der Rückwand des Bienenstocks. Ein übler Gestank quoll ihnen entgegen. Auf dem Boden der Höhlung lagen die Bienen in Haufen beisammen, regungslos, mit Schmutz besudelt, einzelne von Schimmel überzogen: Das Bienenvolk war tot. Eva hatte Tränen in den Augen, und Peter, der hinzugekommen war, stieß einen Ruf tiefer Enttäuschung aus. Da sagte Eva, was sie ahnte: »Wißt ihr, was da geschehen ist? Verhungert sind sie! Ihr habt ihnen allen Honig genommen; das war ja ihr Wintervorrat. Arme Bienen!«
Peter kehrte wütend in seine Werkstatt zurück. Hans aber fegte den Bienenstock leer und wusch alle Wände mit Aschenlauge. Erst nach Tagen, als die Bienenwohnung vom Winde getrocknet und geruchlos war, fügte er die Hinterwand ein. Während er mit dem Vater am Laubengang baute, grübelte er darüber nach, wie er es anstellen sollte, für seinen Bienenstock ein neues Volk zu bekommen. Indes lockten die blühenden Ränder der Gemüsebeete fremde Bienen um so reichlicher an, je mehr Sommerblüher die Frühlingsblumen ablösten.
Hans verfiel darauf, das Flugloch des leeren Bienenstockes mit Honigwasser zu besprengen, um die Gäste auf die leere Wohnung aufmerksam zu machen. Sie gingen wohl ein und aus, aber keine Biene blieb darin über Nacht. Am hellen Mittag nach der Sommersonnenwende jedoch senkte sich ein schwärmendes Volk zum Stock nieder. Als wimmelnde Traube hing es unter dem Flugloch. Die Sonnleitnerleute beobachteten mit angehaltenem Atem, wie langsam der Einzug vor sich ging, während aus dem Innern des Stockes ein eigenartiges Summen drang, als riefe eine »Stimme« das Volk ins Innere. In der nächsten Woche ließen Peter und Hans ihren Laubengang im Stich und suchten den Wald nach hohlen Baumstämmen ab. Es gelang ihnen, im Garten neben dem besiedelten Klotz noch fünf andere aufzustellen, die Hans mit Bohrer, Meißel und Säge in geräumige Bienenwohnungen verwandelte. Er versah sie mit Querstäben zum Ansetzen der Waben. Zwei Klötze wurden noch im Laufe des Sommers von zugeflogenen Schwärmen besiedelt.
Im Spätsommer bauten Hans und Peter einen Windfang vor die Haustür und darüber für Eva ein Sonnenplätzchen, das durch eine Tür im Obergeschoß zugänglich war. An den Ausbau des Laubenganges kamen die beiden Männer noch nicht.
Zur gleichen Zeit holten sich die Sonnleitnerleute zum ersten Mal eigenen Honig von den Stöcken und beschlossen, den Tierchen das als Wintervorrat zu lassen, was sie noch bis zum Herbst eintragen würden. Bei dieser Gelegenheit schaffte Peter drei Töpfe Honig für sich beiseite, damit ihm der Met nicht ausginge. Da er seinen heiter stimmenden Trank weder mit Hans noch mit Eva teilen wollte, verwahrte er ihn in der Bärenhöhle und schluckte heimlich davon, sooft er auf Fischfang zog, den er lange vernachlässigt hatte.
Evas Befinden besserte sich wieder ein wenig; Peter verschob den Weiterbau am Laubengang auf das nächste Jahr und widmete sich der Heuernte. Zum Helfer beim Einbringen hatte er sich einen starken Ziegenbock abgerichtet. Der wollte zwar anfangs nicht, aber unter dem Zwang des Riemenzeuges, das ihn an die zwei Zugstangen des Karrens fesselte, und angetrieben vom juckenden Schlag der Weidengerte, fügte er sich in sein Los. Nach dem Getreideschnitt hatte das Zugtier bereits gelernt, daß ein Zungenschnalzer des Lenkers »Los, zieh!« bedeutete und ein »Brr!« soviel wie »Halt!«
In der Speisekammer fehlte es Eva an nichts; leid tat ihr nur, daß es ihr noch nicht gelungen war, lockeres Brot herzustellen, wie sie es aus früher Kindheit in Erinnerung hatte. Ihre Fladen waren hart und nicht selten speckig. Da kam ihr ein scheinbar bedeutungsloses Ereignis zu Hilfe. An einem nebligen Tage, den Peter und Hans zum Einfahren von Brennholz benützten, entdeckte sie in einem Napf auf dem Herdrand einen Teigrest vom Tag vorher. Zu ihrem Staunen war der Teig bis zum Rand des Napfes gequollen und roch eigentümlich säuerlich, aber keineswegs widerwärtig. Eva scheute sich, den Teigrest in den Abfall zu tun. Ohne sich zu besinnen, vermischte sie ihn mit frischem Mehl, knetete das Ganze mit Milch und Wasser durch, gab etwas Salz darein und ein paar Körner Fenchel. Mit diesem Gewürz hoffte sie den vielleicht faden Geschmack des sauer gewordenen Teigs zu vertreiben.
Ehe sie den Kuchen formen konnte, mußte sie die Pfanne, die mit den angetrockneten Teigresten bekleckst war, reinigen und mit einem Brocken Schweinefett über dem Pfannenträger erhitzen. Wie erstaunte sie, als sie zu ihrem Teigklumpen zurückkehrte und sah, daß er viel größer geworden war!
Was sie mit der Hand herausnahm, war auffallend leichter als der Teig, den sie sonst zu verwenden pflegte. Nicht ohne Neugierde, was aus dem wunderlich angewachsenen Teig beim Backen werden würde, legte sie handtellergroße Stücke davon in heißes Fett auf die Pfanne. Die Laibchen wuchsen, und die gelbliche Rinde, die an der Oberfläche entstanden war, bekam Risse; dann wuchsen sie nicht mehr, aber ein köstlicher Geruch verbreitete sich durch den Raum. Eva, die aus dem Duft der neuen Speise voll Zuversicht auf einen ebenso guten Geschmack schloß, wendete die Brote, so daß die blasse Oberseite auch in das heiße Fett zu liegen kam. Gerade als das Gebäck fertig war, verkündeten die höheren Töne der Wasseruhr, daß der Mittag nahe war. Eva öffnete die Tür zu ihrem Sonnenplatz und schlug mit dem Kochlöffel dreimal kräftig gegen den Boden der Bratpfanne: Mittagessen!
Die beiden Männer ließen sich nicht lange rufen.
Diesmal wurde ihr das höchste Lob zuteil, das Peter zu vergeben hatte: »Ja, Everl, dein Brot schmeckt ja besser als der Ahnl ihres.« Und nach einigen Bissen setzte er hinzu: »So backen‘s die reichen Leute draußen in der großen Welt.«
»Reiche Leute?« fragte Hans dazwischen.
»Nun ja, Menschen, die mehr haben, als sie selber brauchen.«
Hans aß nachdenklich ... große Welt, schon wieder die große Welt, aus der das Korn gekommen war, die Kornblumen und die Schwalben! Nun war er überzeugt, daß die Menschen dort draußen wohl manches konnten und vieles wußten, wovon er im Heimlichen Grund nichts ahnte.
Als er einige Tage darauf der Mutter zusah, wie sie die halbgaren Brote in der Pfanne wendete, verfiel er auf den Gedanken, den Herd so zu verbessern, daß die Mutter das Brot, ohne es zu wenden, ausbacken konnte. Aus dicken Tonplatten, die zum Ersatz der hölzernen Wasserleitungsrohre gebrannt worden waren, beim Brennen jedoch ihre Wölbung eingebüßt hatten, baute er über die Feuerstelle des Obergeschosses eine Backröhre, die er auf Steinen hohlliegen ließ, so daß die unter und über ihr brennenden Flammen sie von oben und unten, von rechts und links erhitzen mußten. Besser als der tägliche Brei, besser als die Fladen schmeckte den Sonnleitnerleuten das tägliche Brot, eine Erfindung, an der sie sich alle beteiligt hatten.
Stillstand und Rückschritt
An Mühsalen ärmer, an Muße reicher, gingen die Tage der Sonnleitner dahin.
Seit Feuer, Wasser und Wind ihnen dienstbar waren, seit der Ziegenbock den Karren zog, verbessertes Werkzeug und Gerät die Arbeit leichter machten, ging alles auch viel schneller von der Hand. Was Peter zu bauen begonnen hatte, war fertig geworden. Den Nuß– und Kastanienwald umgab eine mannshohe Mauer; der Laubengang war vollendet; zwischen Brunnstube und Haus war eine kleine Waschkammer unter dem Laubengang eingebaut. Und der Südwand zu war ein Keller mit dicken Steinmauern und rasenbedeckten Wölbungen angeschlossen. Da Hansens kleine Backröhre sich bewährte, hatte er zu ebener Erde, dem Herd gegenüber die Steinmauer gewissermaßen ausgestülpt und einen großen Backofen errichtet, der, gut geheizt und reingefegt, zwölf Brotlaibe gleichzeitig buk, den Vorrat für ein paar Wochen. So gut hielt er die Hitze, daß nachher noch Früchte oder Flachs gedörrt werden konnten.
Im Winter verbrachte Hans halbe Tage auf den Eisflächen der beiden Seen. Es machte ihm Vergnügen, auf den hölzernen Schlittschuhen, denen er alte Messerklingen als Kufen eingetrieben hatte, über die glatten Flächen weit schneller hinzugleiten, als Peter es auf seinen knöchernen Schlittschuhen gekonnt hatte. In der wärmeren Zeit durchstreifte er alle Teile des Heimlichen Grunds, sammelte Merkwürdigkeiten für seine Denk– und Sammelstube, grub im eingeschwemmten Höhlenlehm nach Steinwerkzeugen, die er in das unterste Fach seiner Sammlung legte.
Der Viehbestand war aufs Notwendigste verringert; die gutgedüngten Äcker, der wohlgepflegte Garten gaben viel mehr Ertrag, als die drei Menschen und ihre Haustiere brauchten. Vom halbzahmen Nachwuchs der Fuchshunde und von den Jungziegen, die sie schlachteten, hatten sie einen reichen Vorrat an Fellen, die sich gut zu Kleidern und Decken verarbeiten ließen. Was Peter und Hans bastelten, war nicht mehr nur gegen die nackte Not. Sie hatten entdeckt, daß Horn sich in der Wärme biegen und mit einer einfachen Säge leicht bearbeiten ließ; der feine Kamm, die Hornlöffel waren nicht zweckmäßiger als die aus Holz oder Metall, aber schöner.
Peter, der viele Jahre hindurch von einer schweren Arbeit zur anderen geeilt war, empfand den halben Müßiggang als wohlverdiente Rast. Sein Sohn wurde ein Grübler, ein Beobachter seiner Umgebung, der manches bemerkte, was ihm früher entgangen war. Unter anderem war ihm aufgefallen, daß ein krummer Fichtenzweig, den die Mutter entrindet und als Aufhängehaken in eine Fuge der Steinmauer geklemmt hatte, sich an trockenen Tagen nach oben krümmte, bei trübem Wetter aber nach unten streckte. Weiter machte er die Erfahrung, daß es zu regnen pflegte, wenn die Zweigspitze ihren tiefsten Stand erreicht hatte. Um auch Vater und Mutter die »Sprache« der Wetterrute verständlich zu machen, bestrich er den Teil der Mauer, an dem das Rutenende auf und ab spielte, mit hellem Mörtel und zeichnete oben das Bild der Sonne, in der Mitte Wolken und zuunterst einen Alpensalamander, der ja bei nassem Wetter auf Regenwürmer Jagd macht; das hieß also: »Sonnig, bewölkt, regnerisch.«
Wenn Hans eine Wanderung unternahm, begleitete Eva ihn ein Stück Weges. Hand in Hand gingen sie und fühlten, daß auch ihre Gedanken Hand in Hand gingen. Von einem solchen Gang heimkehrend, pflückte Eva die Blüten der kleinen blaublühenden Schwertlilie. Sie tat davon in ihren groben Leinwandschurz, so viel sie erlangen konnte, um den Ahnen ein Blumenopfer zu bringen. Daheim entdeckte sie, daß einige zerdrückte Blüten ihre saubere Schürze blau befleckt hatten, und verfiel auf den Gedanken, sie zu zerquetschen und mit ihrem Saft die ganze Schürze zu färben. Zwar verblaßte die Farbe in der Sonne, aber immerhin war Eva daraufgekommen, daß sie mit Heidelbeeren, wilden Reseden und Walnußschalen Garnsträhnen verschieden einfärben und damit beim Weben ihr Zeug mit Zierstreifen schmücken konnte, für Hans ein untrügliches Zeichen, daß sie sich wieder gesünder fühlte. Ohne Selbstvorwürfe konnte er nun, die Steigeisen an den Füßen, den eisenbeschlagenen Bergstock in der Hand, mit Seil, Bogen und Köcher zu Höhen emporsteigen, die sein Vater nie erreicht hatte. Damit es ihm unterwegs nicht an guter Nahrung fehlte, stopfte Eva knusprige Brote in seinen Rucksack, füllte Milch in ein irdenes, mit Riemen umwickeltes Flachgefäß, das er kunstvoll aus zwei Hälften geformt, gebrannt und an den Rändern gedichtet hatte.
Hans zogen die Klammwände an. Jenseits des Moorsees, wo die alte Eibe an der steilen Klammwand ihm als Steigbaum diente, hatte er sich einen Pfad zur Höhe angelegt, mit Hammer und Meißel Stufen in die Wand gehauen und an eingetriebenen Eisennägeln geknotete Nesselseile befestigt. Ihre mit Steinen beschwerten Enden schwang er um höher gelegene Latschenbäume und Felsblöcke und hangelte sich daran empor.
Eines Tages stand er hoch droben auf der Felsenkante. Unter ihm lag im Mittagsglanz der grünumsäumte Moorsee mit den verfallenen Pfahlhütten und eine Stufe tiefer der breite Klammbachsee, durch den die Bachströmung einen glitzernden Streifen zog. Rechts, am Fuß der Grableiten, war der flache Hügel, unter dem die Ahnl im Schatten dreier kümmerlicher Kastanien ruhte, die im Laufe der Jahre aus dem ersten Fruchtopfer Evas emporgewachsen waren, ohne jemals reife Früchte zu tragen. Und jenseits des Sonnsteins gähnten hinter der dunklen Urwaldmasse die alten Wohnhöhlen und das Felsentor, aus dem der Klammbach kam. Darüber glänzte die kalte Wüste eisbedeckter Bergriesen. Dort war die Welt nicht, aus der das Korn gekommen war. Zur Linken säumte Laubwald die Südwände, hinter denen in breiter Ferne Hochgipfel ragten. Unter den grell beleuchteten Südwänden grüßte aus dem saftigen Grün der Sonnleiten das Steinhaus mit seinen Nebengebäuden herüber. Blauer Holzrauch stieg aus seinem Kamin. Wie klein nahm sich alles aus! Und vor dem Haus prangte der Garten, wogten die Getreidefelder.
Wieder mußte Hans an die Tauben denken, die aus der Welt dort draußen die Körner gebracht hatten. Jenseits der Klammwände mußte sie liegen, diese ersehnte Welt, in der das Gute und Wunderbare neben dem Schrecklichen daheim war. Und er konnte nicht hinüber – noch nicht! Hinter grünen Hochflächen türmten sich Felsenschroffen, die Fuß und Auge hemmten. Dort hausten Adler, die er im Blau kreisen sah, und von dorther kam wohl das braune, flüchtige Wild, das er manchmal in der Morgenfrühe aus der Ferne erspäht hatte, wenn es an schmalen Rasenbändern im Gefels äste. Steinböcke waren es nicht, er glaubte auf den Stirnen der Tiere kurze, schwarze, hakenförmig gebogene Hörner erkannt zu haben. Daheim, über dem Lager des Vaters, hing ein solches Gehörn, »Gamskrickel« nannte es der Vater. Und daß er nur einmal im Steinschlag derlei erbeutet hatte, erklärte er damit, daß die schwächeren Gemsen die Felsengebiete mieden, wo es Steinwild gab.
Einmal brachte Hans von seiner Höhenwanderung sein Milchgefäß noch halbvoll heim, und als er es entleerte, fanden sich gelbe, haselnußgroße Fettklümpchen, die Eva als Butter erkannte; aber wie die Ahnl sie bereitet hatte, wußte sie nicht mehr. Hans jedoch genügte es, zu wissen, daß die Butter sich durch die Erschütterungen beim Gehen aus der Milch geschieden hatte. Gern ging er wieder an die lange vernachlässigte Schnitzbank, begnügte sich aber nicht damit, der Mutter ein Gefäß zu bauen, in dem sie die Milch stoßen konnte. Diese Arbeit sollte das Wasser besorgen. Er verlängerte die Welle eines Wasserrades durch eine Achse, die er mit einem Speichenrad aus flachen Brettchen versah. Darunter stellte er einen kleinen, halbrunden Holztrog mit dem abgeschöpften fetten Rahm, in den die Speichen beim Drehen hineinschlagen mußten. Damit die Milch nicht verspritzt wurde, stülpte er eine Schüssel über den Milchtrog. Das Rad drehte sich, und seine Speichen besorgten das Butterschlagen.
Vom Butterbrot kam Eva auf etwas anderes: Quark mit Butter, gehacktem Salbei und Sauerampfer vermischt, gab würzigen Kräuterkäse, ein gesundes Essen!
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Eines Tages beobachtete Hans einen Adler, der auf der Hochfläche über den Klammwänden ein Murmeltier schlug und mit der Beute in den Fängen der höchsten Kante einer steilen Felswand zustrebte. Dort lag zwischen dem schräg niederhängenden Geäst einer alten Legföhre am Rande des Abgrundes der struppige Adlerhorst, für Hans unzugänglich. Der Gedanke, den Adler zu erlegen und mit dessen Schwingen das Fliegen zu erlernen, ließ ihn geduldig warten, bis der Raubvogel wieder abstrich. Aber der aufs äußerste gespannte Bogen brachte den Pfeil kaum zur halben Höhe der Wand, und unerreichbar hoch zog der Adler seine Kreise, nach neuer Beute äugend. Auf dem Heimweg schnitt sich Hans aus dem Eibenbaum einen starken Ast, der einen neuen federnden Bogen abgeben sollte. Doch was nützte der stärkere Bogen, wenn er ihn mit der Linken halten mußte und nur die Rechte zum Spannen der Saite frei hatte? So vermochte er ihn nicht stark genug zu biegen. Da bot sich ein sanft gekrümmter, am Ende gegabelter Eichenprügel an, ihm den Bogen zu halten, daß er die Saite mit beiden Händen spannen konnte. Der Bogen gab nach, und die straff gespannte Saite fand Widerstand an einem abstehenden Zweigstummel des Prügels. Jetzt legte Hans seinen längsten Pfeil links vom Eichenstab auf die Saite, zielte auf den Wipfel eines entfernten Baumes und wollte die Saite über den Widerstand heben. Der Zweigstummel aber gab dem Zug zu früh nach, er krümmte sich nach vorn, die Saite schnellte den Pfeil ab, der flog am Ziel vorbei und blieb hoch jenseits des Ziels im Stamm einer Legföhre an der Südwand stecken. Noch niemals war es Hans gelungen, einen Pfeil so hoch emporzuschießen. Er war mit dem vorläufigen Erfolg zufrieden.
Aber wie die Saite im richtigen Augenblick aus dem Widerstand bringen? Wochen vergingen, bis Hans darauf kam, diesen Widerstand beweglich zu machen. Und nichts lag näher, als den Hebel seiner Schnitzbank verkleinert am Bogenschaft anzubringen. Er stemmte einen Durchlaß in den Schießprügel und durchbohrte die so entstandenen Backenteile des Schaftes, um einen harteisernen Nagel als Achse quer durchstecken zu können. Dann schnitzte er aus gut getrocknetem Eisbeerholz den fast fingerlangen Widerstand. Dieser bekam oben einen Kopf, dessen Kinn die gespannte Saite zu halten hatte. Unten endete er in einem Zünglein. Der stärkere Mittelteil des Widerstandes wurde durchlocht, hier mußte die in den Backen sitzende Achse durchgehen. Den unförmigen Eichenprügel, dessen dickes Ende sich beim Abdrücken als Kolben gegen die Schulter stemmen ließ, entrindete Hans, spannte ihn in die Schnitzbank, glättete ihn mit dem Schnitzmesser, machte den Kolben flach, höhlte oben vom Durchlaß des Widerstandes bis zum gegabelten Ende mit dem Hohlmeißel eine Führungsrinne für den Pfeil aus, nahm den oberen, im Wege stehenden Zweigstummel der Gabelung weg, beließ aber den unteren, damit der Bogen im Zweigwinkel einen Halt hatte. Und weil beim Ziehen am Zünglein die gespannte Bogensaite mit einem hörbaren »Schnapp« über den im Durchlaß untertauchenden Kopf des Widerstandes hinüberhüpfte, nannte Hans sein neues Schießgerät »Schnäpper«. Seinen Eltern zeigte er es erst, als er den Kolben auf der einen Seite mit dem Sonnenbild, auf der anderen mit einem schwebenden Adler geziert hatte und mit dem Schnäpper gut umgehen konnte.
Bewundernd drehte der Vater Hansens neuestes Werk in den Händen. Eine Erinnerung dämmerte in ihm auf. Lächelnd sagte er: »Hans, wenn du alt genug wirst, erfindest du noch alles, was sie draußen haben in der großen Welt.«
Tags darauf kletterte Hans mit seinem Schnäpper zur Klammhöhe empor, und abends brachte er den Adler heim, samt einem weißen, krauswolligen Lamm, das der Räuber wohl draußen jenseits der Klammwände gegriffen hatte. Wieder etwas Wunderbares aus der großen Welt!
Jetzt hatte Hans keine Ruhe mehr; er mußte hinüber. Er brachte an den Adlerflügeln Riemen an, mit denen er sie an seinen Armen befestigte. Dann versuchte er, von der Höhe des Sonnsteins niederzufliegen zur Sandbank. Aber so kräftig er die Luft mit den Fittichen schlug, er sauste unaufhaltsam abwärts, kaum daß die Schwingen die Wucht seines Falles abzuschwächen vermochten. Bis zu den Knöcheln sank er im feuchten Sand ein, schlug sich Knie und Kinn blutig und fiel plump vornüber. Immer wieder versuchte er den Adlerflug nachzuahmen, und es dauerte eine Weile, bis ihm die Erkenntnis dämmerte, daß für seinen schweren Körper andere Fittiche nötig gewesen wären als die des Adlers.
Aber ganz gab er sein Vorhaben nicht auf.
War ihm so vieles gelungen, so sollte ihm das Fliegen auch noch gelingen, vielleicht anders, als er jetzt meinte! Vorerst aber fügte er sich darein, daß ihm in die Welt hinaus kein anderer Weg blieb als der durch die Klamm. Er hatte die Vorstellung, daß die Schlucht vom Abfluß des Seewassers erfüllt sei, dessen ununterbrochenes Rauschen durch den Grund hallte. Wenn er einmal imstande sein sollte, wie eine Forelle durch die reißende Ache seinen Weg zu nehmen, dann mußte er wohl erst das Schwimmen erlernen. Wie beneidete er die Wasserratten und Spitzmäuse im Bereich des Moorsees, die im Schwimmen und Tauchen gleich geschickt waren! Bei näherem Zusehen entdeckte er, daß sie nichts anderes taten, als ihre Beine wie im raschen Lauf zu bewegen. Das versuchte auch er in der seichten Triftbucht.
Da das Wasser nicht tief war, fanden die Füße immer wieder den Boden. Immerhin brachte er seine Beine dazu, das Wasser zu schlagen; leider geriet er dabei mit dem Kopf darunter und schluckte viel Nasses. Da mußte das Schlagen mit den Armen die Brust wieder heben. Das erste Mal ging Hans nicht eher aus dem Bad, als bis er, wenn prustend und keuchend, sich auf dem Wasser halten konnte.
Von da an setzte er seine Übungen täglich fort, an heißen Tagen ging er sogar zweimal zum Schwimmen, und bald fühlte er sich im Wasser so sicher, daß er sich nicht mehr an das Vorbild der vierfüßigen Schwimmer zu halten brauchte. Mit den Armen ausgreifend, wagte er sich in die Tiefen des Moorsees, wo er tauchte, wie die Wildenten zu tauchen pflegen. Zur großen Verwunderung seines Vaters brachte er aus dem Schlamm unter dem verfallenen Pfahlbau die ersten gebrannten Lehmscherben herauf und die Hälften eines Steinbeils mit einem Zapfen im Bohrloch. Als Altertümer bekamen sie in seiner Sammlung einen Ehrenplatz.
Hans wurde wieder in sich gekehrt und schweigsam. Er nahm sich, wie gewohnt, der Hausarbeit an; es gelang ihm jedoch nicht, die Mutter darüber zu täuschen, daß er an ungestillten Sehnsüchten litt.
Auch Eva, die um seine Zukunft bangte, wurde wortkarg, so daß ihrem Mann der Aufenthalt im Heim verleidet war. Er hatte gehofft, der sonnige Laubengang werde sie froh machen. Enttäuscht mied er ihren Anblick und hielt sich meist in der Triftbucht auf, wo er mehr zum Spaß als aus Notwendigkeit Fische fing. Ab und zu arbeitete er an einem neuen Floß. Er fügte starke, vierkantig behauene Fichtenbohlen dicht aneinander und verkrallte sie mit eisernen Klammern. Schließlich umrandete er den platten Floßboden mit einer kniehohen Brüstung und verstopfte alle Fugen mit Moos und zerlassenem Harz. Da er das plumpe Fahrzeug trotz untergelegter Walzen nicht allein ins Wasser schieben konnte, rief er Hans zu Hilfe, gab ihm aber gleich zu verstehen, daß diese »Plätten« sein Fahrzeug sei. Hans begriff nicht, weshalb der Vater das so betonte, sagte aber nichts. Er hatte keine Ahnung, daß Peter allein sein und unbeobachtet Met trinken wollte, und verzog sich verdrossen in den nahen Eichenbestand, er wollte den Vater und dessen Plätte vom Waldrand aus beobachten. Die erste Fahrt durch die kaum merkliche Kreisströmung des Buchtwassers ging nicht glatt vonstatten. Mit Axt und Säge mußte Peter, bis zu den Hüften im Wasser watend, das Fahrwasser von Hindernissen säubern. Kaum aber war er im tiefen Wasser über dem Klammbachbett, als die starke Strömung seine Plätte mitriß und der Klamm zutrieb. Nur der drehenden Bewegung seines Fahrzeuges hatte er es zu verdanken, daß er jenseits der Bachtiefe in die Gegenströmung geriet; sie brachte ihn oberhalb des Ahnlgrabes so nahe ans Ufer, daß er sich am Gebüsch bis in die Höhe des Sonnsteins hangeln konnte, wo die Plätte scharrend den Bodenschotter berührte.
Seine Absicht, bei der Rückfahrt schräg die Bachströmung unterhalb des Sonnsteins zu schneiden, erreichte er, indem er vom Hinterende des Fahrzeugs aus das breite Ruder der drehenden Wirkung des Wassers entgegenstemmte. Glücklich im ruhigen Fahrwasser der Triftbucht angelangt, stieß er einen langgedehnten Juchzer aus, der in Hans den Wunsch nach einem eigenen Fahrzeug erweckte. Die plumpe Plätte glich aber so wenig einem schlank gebauten, beweglichen Fisch, daß Hans beschloß, bei seinem Boot, das klein und leicht werden sollte, den Körperbau der Fische nachzuahmen. Vielleicht gelang es ihm dann, damit durch die Klamm-Ache in die große Welt hinauszukommen!
Die nächsten Tage verbrachte Peter mit Frau und Sohn. Heiter wie schon lange nicht mehr, ließ er sich von ihnen bei der Herstellung eines viereckigen Tauchnetzes helfen, das, an den gegenüberliegenden Ecken durch kreuzweise festgebundene Stäbe gespannt, an einer langen Stange von der Plätte aus ins Wasser gesenkt und mit der Beute hochgezogen werden sollte. Er selbst flocht aus starken Weidenruten einen Fischhalter, einen Korb von Mannslänge und halber Armlänge mit gut aufliegendem Deckel. In diesem Korb wollte er immer einen lebenden Fischvorrat im Wasser versenkt bereit haben.
Als es ihm gelungen war, zwei Äschen und eine Forelle zu fangen, fuhr er damit fort, bis der Fischhalter reichlich besetzt war. Die Tiere lagen, nachdem ihre ersten stürmischen Fluchtversuche vergeblich geblieben waren, stumpf ergeben auf dem Boden des Kastens. Schon in der nächsten Nacht stellte sich ein Fischotter als nächtlicher Dieb am Fischhalter ein. Peter war außer sich. Nach langem Lauern gelang es ihm in einer mondhellen Nacht, den Dieb durch einen Pfeilschuß zu töten. Zum Schutz seiner Beute ersann er einen Verschlußriegel, den er auf der Innenseite des Deckels in Ösen laufen und von außen mit einem Haken schieben konnte. Der Riegel des einfachen Schlosses gehorchte nur dem Schlüssel, der eine bestimmte Hakenlänge hatte. Vorsichtshalber machte sich Peter noch einen Ersatzschlüssel.
Nun kamen bei den Sonnleitnerleuten häufiger frische Fische auf den Tisch, in Salzwasser mit Kräutern und Wurzeln gesotten und mit zerlassener Butter übergössen oder am Spieß gebraten. Hunde und Katzen erbettelten sich ihren Anteil an den Mahlzeiten. Die Leidenschaft, mit der sich der Hausvater dem Fang widmete, schaffte einen überreichen Vorrat an Räucherfischen für den Winter. Diese neue Fangart mit ihren Geduldsproben, Erfolgen und Mißerfolgen machte Peter so viel Spaß, daß er ganze Tage auf der Plätte verbrachte.
Eva, die recht empfindlich geworden war, kränkte sich über diese neue »Vernachlässigung«, erreichte aber mit ihren Vorwürfen nur, daß der Mann sich in seinem Fahrzeug häuslich einrichtete, um bei jedem Wetter, auch nachts, draußen sein zu können. Er baute auf einen Teil des Floßes eine Hütte und setzte ihr ein schilfgedecktes, weit vorspringendes Giebeldach auf. Innen schichtete er ein weiches Mooslager auf und pflasterte die Feuerstelle mit Steinen und Lehm. An das Kopfende des Lagers stellte er eine Truhe für sein Geschirr, seine Werkzeuge und Nahrungsmittel; dort verwahrte er auch seine Met-Töpfe. Die plumpe Truhe verschloß er mit einem starken Eisenriegel, dessen Hakenschlüssel er mit Öhr und Schnur versah.
Als die fahrbare Hütte, deren Seiten sich mit Fellen verhängen ließen, fertig war, blieb Peter Tage und Nächte hintereinander draußen auf dem See. Dann wieder streifte er mit Bogen und Lockspeise die Umgebung des Moores ab, um Abwechslung in seine Kost zu bringen und Köder für die Fische zu gewinnen. Nebenbei sammelte er Dinge, die im Haushalt auf der Sonnleiten von Nutzen waren. Was er an Schilf hinaufbrachte, war mehr, als zur Ausbesserung des Daches gebraucht wurde. Hans wäre es lieber gewesen, der Vater hätte wie sonst das Heuen besorgt, da er selbst die wieder krank gewordene Mutter nicht allein lassen konnte. Aber nur einmal erinnerte er den Vater an das Heuen; er wagte es nicht wieder. Peter war der Anblick seiner kränkelnden Frau peinlich, er konnte ihr ja nicht helfen. Und Hans war groß und klug genug, die Mutter zu pflegen und daheim jede Arbeit zu tun. Peters Kummer wurde gemildert vom stillen Leben des schilfumrandeten Sees, der sich reich mit Wildenten, Bläßhühnern, Rohrdommeln und Reihern bevölkert hatte. Die Tage verdämmerte er in der Bootshütte.
Eine Plage, die er schon als Pfahlbausiedler sattsam kennengelernt hatte, waren die Stechmücken. Abends und nachts, aber auch an feuchten Tagen suchten sie massenhaft sein Wohnboot auf. Der Rauch des Herdfeuers schützte nicht immer vor diesen Quälgeistern, da der Wind oft den Qualm über den Plattenrand hinausdrückte. Um den Rauch beliebig gegen die Mücken blasen zu können, fertigte Peter ein tönernes Rauchtöpfchen mit einem von unten aufsteigenden Saugrohr an, das er noch durch einen hohlen Holunderstab verlängerte. Er stopfte dürres Laub in das Rauchgefäß, legte Glut auf und begann am Rohr zu saugen.
Das neue Gerät bewährte sich. Peter konnte mit dem Rohr den Rauch heraussaugen und ihn mit vollen Backen gegen die Mücken blasen. Sie mußten weichen. Daß dabei Zunge und Gaumen vom Rauch gebeizt wurden und wehtaten, nahm Peter in Kauf, und dann täuschte das Spiel mit dem Rauch auch über die Langeweile hinweg. Wenn Gaumen und Zunge gar zu sehr brannten, tat ein Schluck Met gut. Der gewohnheitsmäßige Genuß des sanft berauschenden Getränks machte Peters Sinn leicht; der sonst so ernste Mann wurde grundlos heiter und so geschwätzig, daß es Hans und Eva auffiel. Sauer gewordene Überreste seines Mets, die ähnlich rochen wie der von Ahnls Zeiten her bekannte Himbeeressig, brachte Peter zum Würzen von Tunken heim.
Der reiche Honigertrag der Bienenstöcke war für den Mann ein Anlaß, noch mehr Met zu bereiten und noch mehr und häufiger zu trinken. Oft schlug seine anfänglich heitere Stimmung aus geringfügigen Anlässen ins Gegenteil um. Er konnte über Nebensächlichkeiten so wütend werden, daß Mutter und Sohn es als Erleichterung empfanden, wenn er das Haus wieder verließ und auf seine Plätte zog.
Sein Rauchzeug verbesserte er, indem er einen starken Federkiel als Mundstück in das Holunderrohr steckte und dem Buchenlaub dürre Blätter von Erdbeeren, Huflattich, Waldmeister und Birken beimischte; aber er fand kein Kraut, das sich ohne Husten und tränende Augen schmauchen ließ. Trotzdem blieb das Rauchen, anfangs nur ein Abwehrmittel gegen die Mücken, ein angenehmer Zeitvertreib. Zunge und Gaumen wurden unempfindlich gegen den herben Geschmack. Trinkend und rauchend lebte Peter meist in einem Zustand leichter Berauschtheit, in dem er ernsten Gefahren gegenüber hilflos gewesen wäre.
Zum Glück gab es im Heimlichen Grund im Sommer keine Gefahren. Bären waren nicht mehr da, die Wildschweine selten geworden, sie hatten sich in die versumpften Gebiete des Urwalds zurückgezogen. Und die Umgebung der begangenen Pfade war mit Igelfamilien so gut besiedelt, daß sie von Schlangen frei war.
Was lag daran, daß Peter in seinem Wohnboot trank und rauchte? Wie hatte er für Eva gearbeitet, um ihr das Leben zu erleichtern und behaglich zu machen! Und nun war sie für ihn ein zartes »Rühr-mich-nicht-an« geworden. Bei Rauchtöpfchen und Metkrug vergaß er seinen Kummer, war willensschwach, ließ sich treiben und ahnte nicht, wie stumpf er geworden war. Was sein Sohn trieb, kümmerte ihn nicht mehr.
Hans sammelte seit geraumer Zeit allerlei Schlacken im Abraum beim Kalkofen, beim Töpfer– und Eisenschmelzofen und reihte sie in seine Sammlung nebeneinander.
Über die Entstehung dieser Rückstände gab zunächst ein verschlackter Kieselstein Auskunft, der zufällig im Kalkofen mitgebrannt worden war. Seine Oberfläche hatte sich mit einer glatten, weißen, harten und durchsichtigen Schicht überzogen. Sie konnte nur durch Zusammenschmelzen von Kiesel und Kalk entstanden sein. Vom Eisenschmelzofen waren dunkle Schlacken mit Tropfgebilden da; Hans zerschlug sie – sie waren hohl. Er erinnerte sich der Seifenblasen und fand die Erklärung: Der Gebläsehauch war in die glutflüssige Schmelze von Kalk, Kiesel und Eisen eingedrungen und hatte sie gebläht. Beim Abkühlen waren die Löcher in der Eisenschlacke geblieben. Da nahm er sich vor, alle ihm bekannten Bestandteile der Schmelzmasse zu zerreiben, zu mischen, zusammenzuschmelzen und dem flüssigen Brei mit einem langen Blasrohr, dessen unteres Ende aus gebranntem Ton sein sollte, einen großen Tropfen zu entnehmen. Den brauchte er nur aufzublasen, und dann mußte er beim Erkalten eine hohle, vielleicht durchsichtige Kugel werden. Aus diesen Kugeln wollte er, solange sie noch nicht erstarrt waren, Gefäße formen.
Klammbach-Durchbruch
Dem schönen, gewitterreichen Sommer mit seiner reichen Getreideernte folgte ein milder Herbst, und diesem ein harter Winter mit ungewöhnlich schweren Schneestürmen und Frösten. Er schien kein Ende nehmen zu wollen. Noch zur Frühlings-Tagundnachtgleiche lagen die Lehnen unter gefrorenen Schneemassen.
Als endlich der langersehnte Föhn über die Grableiten fegte und, vom Talgrund abprallend, über die Südwand emporstürmte, da stürzten die Schneewasser als Wildbäche von den Höhen; sie rollten und schoben das vom Frost abgesprengte, beim Tauen des Eises zu Tal gegangene Gestein vor sich her in den See. Dort wurden die abgelagerten Schottermassen von der Wucht der Wasser weitergedrängt und stauten sich vor der Schlucht, wo angeschwemmtes Schilf und Holz einen Damm bildeten.
Der Klammbachsee stieg zusehends. Vor den Augen der Sonnleitnerleute glänzte wieder eine einzige Wasserfläche, bedeckte den Talgrund von den Klammwänden an über den Sonnstein bis zu den alten Wohnhöhlen. Eintönig rauschte die Ache zwischen den Wänden der Klamm. Gewiß würden die Fluten wieder sinken, wenn erst die Schmelzwasser von oben versiegten. Besorgniserregend aber war die seltsame, unnatürliche Fröhlichkeit Evas, die mit den Augen von ihrem Sonnenplatz aus dem Strömen der Flut folgte. Sie wartete auf etwas Wunderbares, Erlösendes. Nach zwei schlaflosen Nächten war sie so schwach, daß sie nicht aufstehen konnte. Hans wagte nicht, sie allein zu lassen. Peter aber machte täglich auf seiner Plätte weite Fahrten kreuz und quer über den Talsee, der schon die Mauer des Saugartens bespülte. Er wußte, daß die Kranke bei Hans gut aufgehoben war, daß dessen Gesellschaft ihr wohltat. Was hätte es auch genützt, wenn er dageblieben wäre, wenn er mit ihr gesprochen hätte, wie ihm ums Herz war, sooft er sie leiden sah – wenn er ihr gesagt hätte, wie er mit Gott und den Hausgeistern haderte, die es geschehen ließen, daß ihm sein Liebstes dahinsiechte? Er hätte ihr das Herz schwer machen müssen mit der Frage, die ihn in nüchternen Stunden peinigte, mit der Frage, was aus ihm und Hans werden sollte nach Evas Tode, die allein das Leben lebenswert machte. Solange sie noch im Haus und Garten herumgegangen war, hatte er auf ihre Genesung gehofft. Jetzt hoffte er nicht mehr, er wartete nur auf das Schreckliche, dem er nicht entrinnen konnte – auf ein Leben ohne Eva.
Das Einholen von angeschwemmtem Holz und ertrunkenem Wild war für Peter nur ein Vorwand, dem Jammer im Haus zu entgehen. Nicht der Felle wegen wagte er sich auf die schwer dahinströmenden Wasser; denn an Fellen war mehr vorhanden, als die drei Menschen brauchten; je anstrengender die Arbeit außerhalb des Hauses war, um so eher vergaß er seinen Kummer. Und nach einem tüchtigen Schluck aus dem Met-Topf wurde er sogar fröhlich.
Es kamen Tage, an denen Eva kaum ihr Bett verließ. Sie litt keine Schmerzen, sie war nur furchtbar müde. Die Sorgen um die Häuslichkeit beschäftigten sie nicht mehr. Ob die Hunde, Schweine, Katzen, Ziegen jungten, ob die Enten ihr Futter bekamen, sie fragte nicht mehr danach. Der warme Föhn brachte ihr Atemnot. Dann verfiel sie in einen von Träumen erfüllten Halbschlummer, in dem sie flüsternd mit sich selbst, mit Gott oder mit der Ahnl redete, die sie wohl in ihrer Nähe wähnte. Morgens lag sie lange in schwerem Schlaf. Ihr Atem hob kaum merklich das leichte Rehfell der Bettdecke. Hans, der sie beobachtete, mußte oft lange hinschauen, ehe er dessen gewiß war, daß seine Mutter noch atmete.
Erst gegen Mittag, wenn die Sonne auf die blühenden Primeln und Maßliebchen schien, die Hans in Näpfen auf das Fensterbrett gestellt hatte, und Finken, Gimpel und Zeisige im Gezweig der Hausfichte ihre Frühlingslieder schmetterten, kam in die überzarte Gestalt ein Leben, das den Sohn immer wieder mit Hoffnung erfüllte. Die Stimme, mit der sie ihren »Buben« – so nannte sie ihn noch immer – um etwas bat, war klar und hatte sogar einen scherzhaften Klang: »Komm Hansl, jetzt mußt mich bemuttern, hast mich wieder in den hellen Mittag hineinschlafen lassen, jetzt rühr dich aber: waschen, essen!«
Und schon war Hans mit der Waschschüssel bei ihr, tauchte ein Stück Leinen in das kühle Wasser, wusch der Mutter, die sich im Bett aufgesetzt hatte, Gesicht, Hals und Hände und trocknete sie mit einem vorgewärmten Tuch ab. Er kämmte ihr das lange blonde Haar und legte ihr das Stirnband an. Unter das Stirnband aber schob er kleine Sträuße, Goldprimeln und Veilchen. Dann ging er in den Stall, frischgemolkene Milch zu holen, die seit langem Evas einzige Nahrung bildete.
Sie trank die Milch nicht aus; den Rest überließ sie ihrer Lieblingskatze, einer Enkelin der unvergeßlichen Schnurri, die an Zutraulichkeit von keinem anderen Haustier des Sonnleitnerhofes übertroffen wurde.
Behutsam trug Hans die Mutter von ihrem Lager auf das seine, dessen wohldurchlüftete und wohldurchsonnte Felldecken und Matten einen Hauch der Morgenfrische ausströmten.
Er brachte ihr die Katze, die sich umständlich in die Armbeuge ihrer Herrin kuschelte und vor sich hin schnurrte.
Und während die dünn gewordenen Finger der Kranken das weiche Fell der Katze streichelten, folgten ihre Augen dem Sohn, der das Bettzeug der Mutter hinaustrug auf den Birkenzaun des Laubenganges. Dann kam eine Plauderstunde, die alle Sorgen vergessen machte. Hans holte eine dunkle Schieferplatte, nahm ein Stück Speckstein und zeichnete der Mutter die Geschichte ihres Lebens. So ging der Tag dahin. Hans brachte die Mutter in ihr frischgemachtes Bett zurück, sang ihr ein wenig vor und plauderte sie dann wie ein Kind in den Schlaf.
Als der Vater am Abend heimkam und leise fragte, wie es der Kranken gehe, konnte Hans mit gutem Gewissen sagen: »Gut, Vater, gut geht‘s ihr.«
Eines Tages mußte Hans die Schweine in die Bärenhöhlen schaffen, weil die steigende Flut das Gartenland zu überschwemmen drohte. Ihn verdroß, daß der Vater schon in aller Frühe gegangen war und er die Mutter allein lassen mußte. Freundlich schien die Sonne auf die weite Wasserfläche, aus der die Kronen des Laubwaldes ragten.
Die Tiere waren versorgt. Hans war wieder bei der Mutter. In der Stube, deren Fenster mit Matten verhängt waren, herrschte traumhaftes Zwielicht. Gleichmäßig fielen die Tropfen der Wasseruhr. Die Kranke schlief.
Nachmittags erwachte sie zu ungewohnter Stunde an einem machtvollen Dröhnen, das aus der Klamm zu kommen schien. Als wären plötzlich alle ihre Lebenskräfte zurückgekehrt, setzte sie sich mit einem Ruck auf und rief nach Hans. Kaum hatte er sich auf dem Bettrand niedergelassen, umfaßte sie seinen Kopf mit beiden Händen und küßte ihn.
Hans, den das Dröhnen so beunruhigte, daß er am liebsten hinausgeeilt wäre, um nachzusehen, was vorging, mußte eindringlich fragen: »Mutter, was ist? Mutter, was ist, was hast du?« ehe sie zu sprechen begann.
Mit zitternden Händen strich sie ihm die Haare aus der Stirn und sagte langsam, jedes Wort wägend: »Hans, hör zu! Gott der Starke hilft – ich hab ihn gebeten. – Hörst du den Klammbach brausen? – So hat er gelärmt, damals, als das große Wasser durch die Klamm gelaufen ist – das große Wasser, vor dem wir in die Bäume auf dem Fuchsenbühel gestiegen sind. – Damals hat‘s die Klamm verlegt und dann nur halb freigegeben. – Aber jetzt, jetzt wird der Weg ganz frei werden, der Weg durch die Klamm. – Hörst du? Der Weg in die große Welt wird frei! Er wird frei, ich weiß es!«
Sie schob seinen Kopf auf Armeslänge zurück und sah ihm gespannt in die Augen. Er aber brachte kein Wort hervor.
Da begann sie wieder: »Oh, sag nur, was ich schon lang weiß – du magst nimmer dableiben im Heimlichen Grund du kannst nicht – und es wär auch schad um dich!«
Da schüttelte Hans abwehrend den Kopf, jetzt schämte er sich seiner geheimen Sehnsucht, die sie erraten hatte.
»Ich weiß wohl, du gehst nicht, solange ich lebe – nur solange ich lebe, bist du gefangen im Heimlichen Grund; dann aber bist du frei – ich hab keine Angst, wie‘s dir gehen wird, Hans – verlaß nur den Vater nicht!«
Ihre Stimme klang weich, und wieder zog sie seinen Kopf zu sich herunter. Und während sie ihm zusprach, er solle nicht weinen, begann sie selbst zu schluchzen. Und wieder fing sie an: »Wenn ihr mich begraben habt – dann suchst du den Weg durch die Klamm – hinaus in die große Welt, wo andere Menschen wohnen.« Die Lebhaftigkeit, mit der sie sprach, stand nicht im Einklang mit ihrem langen Siechtum. Flackerte ihre Lebensflamme zum letztenmal auf vor dem Erlöschen?
Den Mund an das Ohr des Lauschenden gepreßt, fuhr sie eindringlicher fort: »Aber sucht euch einen sonnigen Tag aus – einen sonnigen Tag nach vielen sonnigen Tagen, daß euch kein Steinschlag trifft in der Klamm.«
Da fuhr Hans zurück: »Mutter, ich bitte dich, hör auf! – Red nicht so, du darfst nicht sterben, du darfst nicht!«
»Sei still, Hans, sei still. Das Sterben ist nicht so, wie du meinst. Ich hab die Ahnl lebend gesehen, ich hab sie einschlafen sehen, und dann war sie tot; kalt ist sie geworden, und wir haben sie begraben. Ihr Atem hat ihren Leib verlassen und hat sich mit dem Atem des Allmächtigen vereinigt, und der Allmächtige ist überall. Darum ist sie auch immer bei uns gewesen, hat uns bewacht und beraten. Ich habe sie oft im Traum gesehen, habe mit ihr reden können. Und sie ist mir beigestanden in meinen schwersten Zeiten. Auch heut nacht war sie bei mir. Ihr Geist war immer da, bei mir, in mir. So wird auch mein Geist bei dir sein, Hans, – er wird dich hinausgeleiten aus dem Heimlichen Grund in die große Welt und wird dir den Weg weisen.«
Da bedeckte Hans sein Gesicht mit den Händen und weinte still vor sich hin.
Das ferne Dröhnen in der Klamm dauerte an, die Luft bebte, und Hans war es, als erzitterten die Balken des Stubenbodens unter seinen Füßen. Die Mutter atmete leise.
Nach einer Weile erst hob sie wieder an, als wollte sie ein Bedenken, das Hans noch haben mochte, zerstreuen. »Vor den Menschen da draußen müßt ihr keine Angst haben. – Die der Ahnl ans Leben gewollt haben, die sind alt oder tot. Und die anderen wissen nichts von ihr, nichts vom Vater und nichts von dir. – Ob sie gut oder bös sind? Ach Gott, sie sind, wie sie sind – gut und bös. Und ehe du eine Frau nimmst – Hansl, hörst du mich? – ehe du eine Frau nimmst, schau gut, ob sie von den Guten eine ist. Sie soll fröhlich sein und euch beide froh machen. – Daß die Menschen dich gut aufnehmen, dafür weiß ich dir einen Rat. Paß auf: Wo du jemand schwer arbeiten siehst, dort hilf – dort hilf ...«
Eva lehnte sich erschöpft und wie erlöst zurück und schloß die Augen.
Hans aber war entschlossen, die Nacht über bei der Mutter zu wachen. Er setzte sich in den Lehnstuhl am Kopfende ihres Bettes. Ihre beiden Ratschläge, vielleicht die letzten Worte einer Sterbenden, wollte er in seiner Bilderschrift niederschreiben, damit keines ihm jemals entfiele. Plötzlich erinnerte er sich des Vaters. Wo der nur so lange blieb? Ob ihm etwas geschehen war? Wie sehr er ihn liebte, empfand er jetzt, wo er ihn vielleicht verlor. Und er begann zu beten. Das Gesicht der Mutter vor den Augen, flehte er, daß sie erwachen möge, damit er den Vater suchen, ihn retten könne, den Vater, den Vater ...!
Und als ob sein starker Wille der Mutter neue Kraft gegeben hätte, röteten sich ihre Wangen, ihre Lider zuckten, sie öffnete die Augen weit: »Wo ist der Vater?« – Hans beugte sich über sie.
Noch ehe er antworten konnte, hatte sie ihn an den Schultern gepackt und schrie ihn an: »Wo ist er? Sag‘s, sag‘s!«
»Noch draußen«, kleinlaut brachte er es hervor.
Da schüttelte sie ihn mit einer Kraft, die er ihr nicht zugetraut hätte; ihre Finger gruben sich in das Fleisch seiner Oberarme, und befehlend stieß sie hervor: »Hol ihn, sonst nimmt ihn die Klamm!«
Auf kalter Höhe
Von zwei Hunden gefolgt, machte sich Hans auf die Suche. Der Waldweg zum Moor war mit angeschwemmtem Astwerk verlegt. Zwischen der Gartenmauer und dem Waldrand niedersteigend, vermißte Hans den Widerschein des Mondlichts auf dem Wasser, das noch bei Sonnenuntergang zwischen den Bäumen gestanden hatte. Tiefer steigend fand er den Waldboden mit Schwemmholz und angetragenem Laub bedeckt. Angeschwemmte Schneckenhäuser knackten unter seinen Füßen. Die Hunde blieben weit hinter ihm zurück, er ließ sie gewähren. Das Dröhnen des Klammbachdurchbruches war verstummt. Kaum hörbar drang aus der Tiefe des Grundes ein Plätschern und Murmeln herauf, wie er es sonst nur am oberen Moorbach zu hören gewohnt war.
Als er aus dem Walde trat, fand er statt der mondbeglänzten Seefläche mattschimmernde Bodenwellen, die sich beim Näherkommen als Sandbänke erwiesen. Keiner der Hunde folgte ihm mehr. Erst kam lockerer, lehmiger Sand, der unter jedem Tritt nachgab, dann Schotter und grobes Geröll, abgerundete, kopfgroße Trümmer von Tropfsteinen, die aus den Quellgrotten stammten. Das Murmeln des Baches wurde deutlicher. Als Hans ihn unterhalb des Sonnsteins erreichte, stand er vor einem tief eingerissenen Bachbett, in dem das Wasser gurgelnd und schäumend über Felsbrocken dahintobte. Es warf das Mondlicht grell zurück. Der See hatte sich durch die Klamm entleert und vieles mit sich fortgetragen. Der Bach hatte durch das alte Schwemmland des Steinfeldes ein tiefes Bett gerissen. Da wurden in den Uferlehnen Schichten von braun verkohlten Baumstämmen sichtbar. Die konnten nur von Wäldern herrühren, die vor undenklichen Zeiten gewachsen und durch wiederholte Überschwemmungen mit Schlamm, Sand und Geröll übermurt worden waren.
Hans, der sich nun vom Hause weit genug entfernt wußte, begann zu rufen: »Vater! Vater!« Die Felswände warfen den Ruf undeutlich zurück. Das Rauschen des Baches war nahe. Mühsam kämpfte sich Hans im Geröll des rechten Ufers weiter und rief immer wieder. Keine Antwort. Angst und Hast trieben ihm den Schweiß aus den Poren. Als er vom entblößten Seeboden zum Moor anstieg, wurde der Bach seichter und breiter. Bis zu den Klammwänden hin lag der Talgrund unter einem Wust von Schilf, entwurzelten Bäumen, Rasenflözen, Torf und aufgeweichtem Lehm, der mit Schotter durchsetzt war. In viele Arme geteilt, sickerte der still gewordene Bach durch die Murung. Es war unmöglich, hier weiterzukommen.
Zur Rechten gewahrte Hans, daß der Lehmwall, der den Moorsee gehalten hatte, durchgebrochen war. Da rieselte über die entblößte Felsstufe glitzerndes Wasser: Auch der Moorsee floß ab! Verwaschen zog sich, nach zwei Seiten flach abgedacht, ein Landrücken hin – die Triftleiten. Hans watete durch den knietiefen Schlamm des Triftbodens, wo er kreuz und quer über versunkene, von schlüpfrigen Algen überzogene Baumstämme klettern mußte, die noch von der ersten Überschwemmung dalagen. Er suchte nach dem Wohnboot des Vaters. Am Landungssteg war es nicht. Nur der Fischhalter hing am Steg, im angetriebenen Holz halb verborgen. Es stank nach verwesenden Fischen. Mühsam kämpfte sich Hans auf den festen Damm der Triftleiten.
Keuchend sah er sich um. In der Tiefe des Moorbachsees floß zwischen niedergegangenen Torfböden eine glänzende Wasserader; zerschobene, rissige Torfbänke säumten sie, vielfach bedeckt von gestürzten Erlen, Birken und Weiden, und mitten darin die Reste der alten Pfahlbauten. Wieder ließ Hans den langgezogenen Ruf ertönen: »Va-ter! – Va-ter!« Keine Antwort. Nur von unten das leise, gleichmäßige Rieseln des Moorbaches ...
Am Ufer aufwärts setzte er seine Suche fort. Den Töpferofen fand er von den Schneewässern unterwaschen und auf einer Seite eingestürzt. Als er an den Schmelzofen herantrat, flüchtete aus der gähnenden Höhlung eine Wildkatze. Auf der Moorleiten konnte der Vater nicht sein, sonst hätte er Antwort gegeben.
Die Hoffnung, ihn lebend wiederzufinden, schwand dahin. So aussichtslos es war, ihn der Klamm zu entreißen, wenn er mit den stürzenden Wassern hineingeraten war, Hans wollte es wissen. Er arbeitete sich im zähen Lehm hinunter zum Durchbruch.
Zunächst gelangte er an die alte Eibe, die ihm so oft als Steigbaum gedient hatte, wenn er auf seinem gesicherten Felspfad die Klammhöhe erreichen wollte, wo das Edelweiß wuchs. Jetzt lag der Baumriese mit unterwaschenen Wurzeln quer über dem neuen Schwemmland. Dort, im Schatten der Klammwände, ragte aus dem Gewirr von Wurzeln und Ästen ein dunkles Etwas, plump und flach wie eine Felsplatte, die sich mit einer Seite im Grund festgerammt hatte. Oder war es das Wohnboot des Vaters? Watend, kriechend, kletternd und schliefend drang Hans vor. Da berührten seine Hände die schlüpfrigen Bohlen des Bootes; festgeklemmt und halb umgekippt hatte es seinen Inhalt ins Gewirr des Schwemmholzes entleert. Hansens Puls hämmerte. In seinen Ohren war ein dumpfes Sausen und Schlagen. Mit dem Aufgebot aller Kräfte schrie er in die dunkle Masse der gestauten Wirrnis sein angstvolles: »Vater – Vater!« Keine Antwort kam, kein Stöhnen, nicht einmal der Widerhall seines Rufens von den nahen Wänden. Nur das Gurgeln sickernder Wasseradern im Anschwemmsel und das Rauschen der Ache im Klammtor waren zu hören. Dort unten mochte zerdrückt und erstickt der starke Mann liegen, um den daheim die kranke Frau bangte. Da war es Hans, als käme von der Klammhöhe herab ein klagender Ruf, wie der Aufschrei eines verwundeten Tieres. – Er lauschte angestrengt, er rief, er schrie und lauschte wieder – und vernahm nichts als das Rieseln und Rauschen der Wasser.
Gebrochen an Mut und Kraft schleppte sich der Hoffnungslose heimwärts. Der Mond war hinter den Klammwänden versunken, und vom feuchten Seeboden stieg träge der Nebel auf.
Als Hans in grauer Morgenfrühe daheim nach der Mutter sah, fand er sie schlafend. Wie er ging und stand, warf er sich auf sein Lager und versank in einen traumlosen Erschöpfungsschlaf. Als er erwachte, lag die Stube im grellen Sonnenlicht. Das Bett der Mutter war leer, die Tür offen. Er fand die Mutter, die seit Wochen keinen Schritt getan hatte, auf dem Laubengang kauernd. Wirr hingen ihr die Haare um das blasse Gesicht, ihre Augen suchten die Klammwände ab. Sie schien zu lauschen. Als Hans ihre Schulter berührte, fuhr sie erschrocken herum. Dann fragte sie unvermittelt: »Hast du‘s gehört? Er hat gerufen. Da, jetzt wieder!« Sie übersah die unsagbare Trauer in Hansens Zügen. »Ich hör nichts, Mutter!« Wie im Wahn fuhr sie fort: »Doch, von hoch oben her, wie aus den Wolken.«
Hans sah sie mitleidig an, alle Schlaftrunkenheit war von ihm gewichen. Dann straffte er sich, hob die widerstrebende Kranke empor, trug sie auf ihr Lager, hüllte sie in Felle und eilte hinunter, um die kläglich meckernden Ziegen zu melken und zu füttern; die übervollen Euter mochten sie wohl schmerzen. Als er mit der Milch zur Mutter zurückkehrte, fand er sie im Bett sitzend. Sie machte Miene, es wieder zu verlassen. Unrast hatte sie ergriffen. Ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren gerötet. Sie faßte Hans am Handgelenk und rief, ja schrie ihn an: »Was bist du noch da? Geh, geh, und such ihn – oben!« Sie stieß ihn von sich.
Und Hans ging. Er verstaute für alle Fälle im Rucksack ein flaches Milchgefäß zwischen Brot und geräucherten Fischen, wickelte sein starkes Nesselseil, das er beim Klettern im Felsgeklüft zu verwenden pflegte, um die Brust, steckte Beil und Handsäge hinter den Gürtel und trat, den metallbeschlagenen Bergstock in der Linken, vor seine Mutter. Einen Augenblick nur hielt sie seine Rechte mit beiden Händen umklammert, dann strich sie ihm über den Scheitel und schob ihn von sich: »Geh schon, geh mit den Hunden! Ich warte.«
Hans war es, als hätte sie gesagt: »Ich will und kann nicht sterben, ehe ich ihn gesehen habe.« Unten pfiff er den Hunden. Sie waren nicht da. Diesmal nahm er den Weg über die Brunnleiten hart an den Geröllhalden entlang und stieg im Moorbachtal nieder. Auf der Triftleiten angekommen, ließ er wieder seinen schrillen Pfiff ertönen, um die Hunde zu locken. Da, von drüben her, wo die gestürzte Eibe lag, hörte er ein heiseres Bellen, und dann sah er den Lieblingshund Evas, der in langen Sätzen die niedergegangenen Torfflöze des Moores überquerte und kläffend heranstürmte, an ihm hochsprang und ihm die Hände leckte. Dann aber machte der Hund kehrt und strebte, sich immer wieder umschauend, der alten Eibe zu. Hans lief im kiesigen Moorbachbett abwärts, er sprang, daß das seichte Wasser hoch aufspritzte. Er konnte ja nicht wie sein vierbeiniger Führer den kurzen Weg über das Moor nehmen, ihn hätte es nicht getragen. Erst auf dem Umweg über den Glimmerschieferriegel erreichte er die Eibe.
Und hier fand er auch den alten Jagdhund seines Vaters. Er lag als Wächter vor einem Fellstreifen, der als Fußwickel dem Vater gedient haben mochte.
Enttäuscht und gleichzeitig von zager Hoffnung erfüllt, stand Hans vor der gefundenen Spur, die hier Anfang und Ende hatte. Er spornte die Hunde an, ihm in der Umgebung des gekippten Bootes suchen zu helfen, aber sie wollten nicht. Hartnäckig kehrten sie zurück und beschnupperten den Stamm bis zum Gipfel. Das war auffallend, das war deutlich. Hans fiel die Weisung der Mutter ein: »Such ihn oben.« Und plötzlich kam ihm die Erleuchtung. Als die Strömung das Boot bis zur Eibe gerissen hatte, mußte der Steigbaum noch an der Felswand gestanden haben. Da hinauf hatte sich also der Vater gerettet. An den Geländerseilen des Felsensteiges, die Hans einst für sich dort angebracht hatte, mochte er sich emporgehangelt und die Nacht oben im Gewand zugebracht haben. Von ihm also war der Hilferuf gekommen, den er mißdeutet hatte. Ein Frösteln überlief Hans bei dem Gedanken, im Freien auf der kalten Klammhöhe übernachten zu müssen, wo es keinerlei Schutz gab gegen die nächtliche Kälte.
Hans suchte sich im Schwemmholz eine schlanke Lärche aus, hieb sie frei und lehnte sie an die Felswand. Dann stieg er auf. Den Hunden, die ihm ungebärdig nachbellten, warf er von oben zwei geräucherte Fische zu und hangelte sich dann an den Nesselseilen zur Höhe hinauf. Auf der kahlen Hochfläche angelangt, suchte er vergeblich das Gestein nach Spuren ab. Jetzt bedauerte er, keinen der Hunde mit heraufgetragen zu haben. Rufend und suchend drang er vor. Heiß brannte die Sonne auf den kahlen Felsboden, kein Lüftchen regte sich. Der Schweiß drang Hans aus allen Poren, und noch kam auf sein Rufen keine Antwort. Seine Zuversicht schwand, lähmender Zweifel verlangsamte seine Schritte. Was die Mutter gehört hatte, war vielleicht der Schrei eines Geiers gewesen, was sie gesprochen hatte, nur ein Irrereden der Kranken. Und führte die Spur, an der die Hunde hingen, weiter als bis zur gestürzten Eibe? Schwer wie Felsgestein wurden die Füße des Zweifelnden. Sich hinlegen, ruhen, schlafen hätte er mögen und dann erst die Hochfläche nach allen Seiten abgehen, ehe er zur Mutter zurückkehrte, um ihr das Schreckliche zu sagen, das sie nicht glauben wollte. Da sah er unweit eines überhängenden Felsens auf sonniger, kurz bewachsener Halde etwas Dunkles liegen: ein kauerndes Tier? – ein Felsblock? – oder —? Ein freudiger Schreck kam über Hans. Die Müdigkeit fiel von ihm ab, er eilte hin, er lief, er sprang und sank nieder an der Seite seines Vaters.
Aber wie sah der aus! Das Gesicht fahl, die Wangen schlaff, und das noch vor zwei Tagen schwarze Haupt– und Barthaar ergraut. Er rührte sich nicht. Sein Atem ging kurz und rasch, und seine Hände waren vor dem Mund geballt, als habe er versucht, sie durch den Hauch zu erwärmen. Die Knie waren an den Leib gezogen, der trotz der Sonne von Kälteschauern geschüttelt wurde. Hans fuhr über die Wange des Gefundenen. Leise, um ihn ja nicht zu erschrecken, flüsterte er ihm ins Ohr: »Vater, Vater! Ich bin‘s, der Hans.« Ein unverständliches Lallen war die Antwort, und enger krümmte sich der Leib des Schlafenden zusammen. Da rief der Sohn in seiner Verzweiflung: »Vater, wach auf, die Mutter wartet auf dich, Eva!« Der Schläfer riß die Augen weit auf. Nun redete Hans laut auf ihn ein, er rüttelte ihn und rieb seine Hände, um ihn wach zu erhalten. Er flößte ihm Milch ein und schob ihm bissenweise Brot und Fisch in den Mund. Der Erschöpfte aß wenig und sank wieder zurück. Seine Knie schlotterten.
In steigender Angst, der Tag könnte vergehen und die schrecklich kalte Höhennacht herreinbrechen, ehe er den Vater heimgebracht hatte, zog der Sohn den Widerstrebenden hoch, legte sich dessen linken Arm um den Nacken, faßte ihn um die Mitte und zwang ihn zum Gehen, den schweren Körper halb tragend, halb schiebend. Schwankend kamen sie voran. Aber die warme Sonne und der zurückkehrende Wille des Verunglückten lösten die Starrheit seiner Glieder. Nach zwei Pausen auf sonndurchglühten Felsblöcken langten die beiden beim Abstieg an. Hans, der seinem Vater nicht die Kraft zutraute, allein hinunterzukommen, band ihm ein Ende seines Kletterseils unter den Schultern um die Brust, schlang das Seil oberhalb der Felskante um einen Föhrenstamm und verlangte von Peter nur, daß er sich mit den Händen am Seil festhalten und mit den Füßen den Abstieg suchen sollte.
Als Peter den Steigbaum berührte, empfingen ihn die heulenden und kläffenden Hunde. An der Eibe sank er nieder und wehrte den Hunden nicht, die ihm wie sinnlos vor Freude Gesicht und Hände leckten.
Hans glitt am hängenden Seil herab.
Auf halbem Wege zum Sonnleitnerhof mußte noch einmal Rast gemacht werden. Noch stand die Sonne über den Klammwänden, aber die Schatten der Bäume lagen lang auf dem Grunde.
Da nestelte Peter die Kette aus Bärenzähnen, Zeugen seiner Siege über die Ungetüme, von seinem Halse, band sie dem Haushund um und jagte ihn mit einer Handvoll Sand heimzu, voraus zu Eva, als Boten seiner Rettung.
Hans sucht sich eine Frau
An Eva war ein Wunder geschehen. Jetzt, wo es galt, den wiedergewonnenen, schwerkranken Mann gesund zu pflegen, riß ihr starker Wille den schwachen Körper vom Lager empor. Anfangs konnte sie nur auf kurze Zeit ihr Bett verlassen und verlangte dann von Hans bald dies, bald das, wovon sie glaubte, daß es dem Kranken wohltäte. Sie flößte ihm warme Milch ein und dampfende, würzige Kräutertränke. Immer wieder erneuerte sie die Wärmsteine, mit denen sie sein Lager heizte. Peter mußte schwitzen und wurde davon so schwach, daß er sein Lager nicht verlassen konnte. So lag er wochenlang. Bei den ersten Gehversuchen klagte er über Schmerzen in allen Gelenken. Er verriet dem Sohn, in welchem Winkel der Bärenhöhle er seinen Labetrunk verborgen hatte. Der würde ihn kräftigen und heilen. Auch Eva hoffte es. Da Peter aber Schmerzen in den Gelenken fühlte, gab sie ihm davon nichts zu trinken, sondern rieb ihrem Mann damit täglich die Gelenke ein. Schon nach einer Woche ließen die Schmerzen merklich nach.
Und weil Eva die Ursache des Übels der kalten Nacht auf der Klammhöhe zuschrieb, die dem Körper ihres Mannes zu viel Wärme entzogen hatte, wollte sie seinem Leib recht viel Wärme zukommen lassen. Heiße Bäder sollte er haben. Hans mußte die Waschkammer unter dem Laubengang in eine Badestube verwandeln, den Fußboden mit einem Lattenrost aus Lärchenholz belegen und alle Mauerfugen sorgfältig vermörteln. Neben Evas kleinem Waschtrog wurde ein größerer Badetrog aus gut verfalzten Lärchenbohlen aufgestellt. Die offene Feuerstelle wurde mit verkeilten Steinen überwölbt, die den Raum lange warmhalten sollten.
In das Badewasser kamen erhitzte Steine. Zischend und singelnd stiegen von den Heizsteinen die Dampfbläschen auf, und die Badestube füllte sich mit heißem Nebel, in dem Peter verweilen mußte, bis Hans die Heizsteine aus dem heißen Wasser entfernt hatte. Dann mußte der Kranke in die Wohnstube; dort wurde er trockengerieben, in Tücher gehüllt und ins Bett gesteckt. Einmal wöchentlich kam er ins heiße Bad; nachher war er jedesmal sehr matt und vor allem hungrig; er bekam kräftig zu essen, und anschließend schlief er lange und tief. Langsam setzte die Genesung ein.
Auch Eva erstarkte zusehends. Der Wunsch, den Mann und Vater ihres Sohnes wieder gesund zu sehen, zwang sie, ihre eigene Schwäche zu überwinden.
Noch ehe der Sommer verging, stand Eva wieder vor dem Kochherd und bereitete für Peter, wonach er Verlangen hatte: Brote, mit Speck belegt und auf Speck gebacken, in Teig gebratenes Selchfleisch, Forellen in zerlassener Butter, gesäuertes Kitzfleisch, würzige Gemüsesuppen, Eierfladen mit Heidelbeermus, Eicheltrank mit Milch und Honig in reicher Abwechslung – alle Tage ein Festessen, das gab Peter wieder Kräfte. Die beiden Genesenden verbrachten die wärmste Tageszeit im Sonnenschein auf dem »Gang«, von dem aus sie die Gärten und Felder der Sonnleiten überschauen konnten, wo jetzt Hans allein alle Arbeit tat. Die Mutter ahnte wohl, welche Hoffnungen der Sohn für sich an die Genesung der Eltern knüpfte.
Bei aller Behendigkeit wäre Hans mit dem Absicheln des reifen Getreides nicht rechtzeitig fertig geworden; die Körner wären überreif auf dem Felde ausgefallen, hätte er sich die Arbeit nicht vereinfacht. Seine Rechte war vom Sicheln wie gelähmt. Er mußte ihr einen Ruhetag gönnen, im Hammerwerk. Dort brauchte er nur einen glühenden, gebogenen Eisenstab langsam unter den selbsttätigen Hammer nachzuschieben. Es entstand eine armlange Sichel mit dünngeklopfter Schneide. Dieses lange Grasmesser wollte er mit beiden Armen in weitem Schwung führen. Er schäftete es in ein gespaltenes Eichenstämmchen, an dem er zwei seitlich abstehende Aststummel als Handgriffe gelassen hatte. So vollkommen das neue Gerät aussah, erst mußten Schneide und Spitze sanft gebogen und dem Zweck angepaßt werden, wenn Hans aufrecht schreitend damit mähen sollte, ohne den Boden zu treffen.
Das neue Gerät bewährte sich gut. Von Zeit zu Zeit mußte er die Schneide mit einem feucht gehaltenen Splitter aus Quarzsandschiefer schärfen, eine geringe Mühe – denn der junge Mann wurde mit dem Getreideschnitt an einem Tag fertig, ohne nachher besonders müde zu sein.
Als Hans auf dem Bockskarren die ersten Getreidegarben eingeführt und sie auf dem glattgetretenen, sauber gekehrten Boden unter dem Laubengang ausgelegt hatte, kamen Vater und Mutter und halfen. Beim Dreschen zu dritt gab Hans den kräftigen Vorschlag, Peter und Eva folgten. Glücklich lächelten sie einander an: So fröhlich und gemeinsam hatten sie schon lange nicht mehr gearbeitet! Nach dem Dreschen holte Eva ihr größtes Sieb, Hans schaufelte die ausgedroschenen Körner hinein und rüttelte es, daß der sanfte Klammwind Spreu und winzige Unkrautsamen davontrug.
Als die Alpenrosen blühten und die Vogelmütter auf ihren Eiern saßen, erwachte in Hans unwiderstehlich die Sehnsucht nach der großen Welt. Halbfertig lag sein Schmalboot im Gras der ehemaligen Triftbucht; der See aber war verschwunden, sein Boden mit Huflattich, Pestwurz und Sauerampfer überwuchert, die aus angeschwemmten und angewehten Samen aufgegangen waren. Der Eingang zur Klamm war undurchdringlich mit Schwemmholz verlegt, durch das der Klammbach still seine ungezählten Arme sickern ließ; sie vereinigten sich in der Klamm wieder zur schäumenden Ache.
Eva verstand die Unrast ihres Sohnes. In stillen Dämmerstunden war sie seine Vertraute. Wie sie ihm einst Märchen erzählt hatte, so sagte sie ihm jetzt alles Ernste, was ihres Lebens Weisheit war, und verschwieg nichts. Sie wurde Hansens Anwalt beim Vater, alle seine Bedenken zerstreuend.
Sooft der Sohn auszog, den Weg in die Welt zu finden, bestand sie darauf, daß er sein bestes Gewand aus weichgewalktem Bockleder anzog. Sie schmückte seinen Hut aus Buchenschwamm mit Goldprimeln und füllte den Rucksack mit Wegzehrung für mehrere Tage.
Als er endlich den lange gesuchten Übergang gefunden hatte und wiederholt tagelang nicht nach Hause kam, betete Eva voll Zuversicht um die Erfüllung ihres heißen Wunsches.
Eines stillen Sommerabends saß sie, die Katze im Schoß, mit Peter auf ihrem Lieblingsplatz vor der Tür des Obergeschosses; unverwandt schaute sie zu den Klammwänden hinüber. Sie ahnte etwas.
Brennend rot sank die Sonne zwischen Henne und Spitz. Zartes Gewölk prangte in rotem Gold, gedämpft tönte das Läuten des Schlagwerks vom Geißengarten herüber, die Baumkronen im Kastaniengarten schwankten leicht im Abendwind, und auf dem höchsten Wipfelzweig der Hausfichte flötete eine Goldamsel.
Da schallte ein Juchzer durch die Abendstille. Von der Klammhöhe kam er, und die fernen Salzwände warfen den Jubelschrei zurück. Das war das verabredete Zeichen, daß Hans eine Frau gefunden hatte, eine Frau nach dem Herzen der Mutter. Das Geschlecht der Sonnleitner sollte fortbestehen.
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Das war die Geschichte der Sonnleitner-Leute. Eine der Ur-Urenkelinnen Evas ist die Mutter des Erzählers: ein Mensch, der lieber gelitten hat, als daß er andere hätte leiden lassen. Mutter Marias Haare sind silberweiß geworden im Kampf gegen Unglück und Plage, die sie und die Ihrigen beinahe zu Boden gezwungen hätten, wenn ihre vorsorgende, opferfreudige Liebe nicht gewesen wäre.
Wir alle sind Nachkommen von Höhlensiedlern. Die Vorfahren eines jeden von uns haben den gleichen weiten Weg zurückgelegt. Wir haben die Sehnsucht nach dem Licht geerbt, die Lust am Schaffen und das Verständnis für die Sprache der Dinge um uns her. Die Freude an neuen Erkenntnissen, die Liebe zum Schönen, die Arbeit für andere und damit für uns selbst – das sind unsere Seligkeiten. Widerwärtigkeiten und Hemmnisse entmutigen uns nicht.