-------
| bookZ.ru collection
|-------
|  Elisabeth Heyking von
|
|  Ille mihi
 -------

   Elisabeth von Heyking
   ILLE MIHI


   Erster Band

   Als halbwüchsiges Mädchen hatte sich Ilse in einen Leutnant verliebt. In Deutschland ist der erste beinahe immer ein Leutnant. Dieser war Dragoner. Was Wunder also, daß zu jener Zeit der Himmel Ilse besonders schön dünkte, mahnte er sie doch an eine geliebte blaue Uniform; was Wunder auch, daß sie, wenn die ersten Sterne zu funkeln begannen, flugs nach dem Orion suchte – dies ferne Gestirn erschien ihr ja nur wie das himmlische Abbild einer glänzenden Schärpe und zweier Epauletten und Sporen, das eigens für sie allabendlich am nachtblauen Himmelszelt angezündet wurde! – Den Leutnant unter den Sternen kannte Ilse viel besser wie den lebenden Leutnant auf Erden. Diesen kannte eigentlich nur Papa, vom Club her, wo sich abends die Herrenwelt des Städtchens traf – und da er Papa grüßte, hatte es sich allmählich so gemacht, daß er auch Ilse grüßte.
   In jenem fernen Frühling stand Ilse viel an den Fenstern des Eckhauses der Reh– und Breitenstraße, das sie mit ihrem alten Vater und dem alten Hausfräulein Greiner, genannt Greinchen, bewohnte. Gegenüber erstreckte sich ein weiter Garten voll blühender Büsche und hoher rauschender Räume, und in einem umgitterten Gehege dicht an der Straße liefen da viel zahme Rehe und Hirsche umher; furchtlos streckten sie das schwarze feuchte Geäse zwischen den Stäben hervor, ließen sich füttern und auf der braunen weichen Decke streicheln. Ilse hatte dies als kleines Mädchen täglich getan, und wenn sie jetzt so häufig am Fenster stand und hinausschaute, glaubten der alte Vater und das alte Hausfräulein nicht anders, als daß ihre Blicke den Rehen galten und freuten sich ob ihres noch so kindlichen Sinnes. – Aber nicht den Tieren des Waldes, die hier in behäbiger Gefangenschaft einstmalige Freiheit vergaßen, schenkte Ilse so reges Interesse, nein, sie spähte die Breitestraße hinab, durch die, von der Kaserne kommend, das Dragonerregiment morgens früh, blink und blank mit klingendem Spiel zum Exerzierplatz auszog und durch die es einige Stunden später, heiß und verstaubt, zurückzukehren pflegte.
   Manchmal geschah es, daß der blaue Leutnant Ilse oben am Fenster gewahrte; dann zog er die Zügel plötzlich scharf an und benutzte unmerklich die Sporen, so daß sein schwarzes Pferd, erstaunt ob so unsanfter Behandlung, unruhig zu tänzeln begann, wodurch der tadellose Sitz seines Reiters so recht zur Geltung kam; der grüßte dabei mit eleganter Bewegung zum Fenster hinauf, als wolle er sagen: ein wildes Roß zu bändigen, läßt mir noch immer Muße, nach einem hübschen Mädchen zu blicken.
   Nach solchem Morgengruß lag auf dem ganzen Tag ein festlicher Glanz für Ilse.
   Doch noch andere Gelegenheiten fand sie, den blauen Helden ihrer Träume zu erblicken.
   Soweit Ilse zurückdenken konnte, war sie alle Nachmittage mit der alten Hausdame spazieren gegangen. Diese hegte eine besondere Vorliebe für die stille vornehme Rosalienstraße, in der eine erstaunliche Anzahl wohlhabender alter Jungfern und Witwen wohnte und ein durch Kaffeevisiten und die Beobachtung der Nächsten mild gewürztes Dasein führten. Zu letzterem Zweck hatten sie an denjenigen Parterrefenstern ihrer Häuser, hinter denen sich ihre Lieblingssitzplätzchen befanden, kleine in die Straße hinausspringende Spiegel anbringen lassen, in denen sie die wenigen Leute, die unten vorübergingen, bequem sehen konnten. Ilse haßte schon als Kind die Straße mit den kleinen Spiegeln, hinter denen die alten Damen wie Spinnen lauerten; sie hatte damals sogar eine Neigung gezeigt, vor jedem der kleinen Scheiben die Zunge herauszustrecken, bis ihr bedeutet worden, daß dies ein Körperteil sei, den sittsame kleine Mädchen nur dem Arzt auf Verlangen weisen dürfen. – Jetzt aber dünkte sie die Langweile der Rosalienstraße, in deren Einöde sich nur selten eine blaue Uniform wagte, ganz unerträglich. Mit viel List gelang es ihr, Greinchen manchmal die Breitestraße hinabzuführen, an deren Ende sich die große gelbe Dragonerkaserne erhob. Ihr gegenüber lag eine kleine schäbige Konditorei, und Ilse, die sonst gar nicht gern Kuchen aß, erklärte nun häufig ein besonderes Verlangen nach einer bestimmten Tortenart zu empfinden, die nirgends so gut wie dort zu haben sei. Solch kindlichen Wunsch erfüllte Greinchen natürlich gern, und während Ilse in dem ärmlichen Laden langsam und mit Überwindung ein Stück Torte nach dem anderen verzehrte, spähte sie nach der Kaserne – und wirklich traf es sich bisweilen, daß sie den Leutnant dort ein– oder ausgehen sah.
   Auch entdeckte Ilse in ihrer Seele ein plötzliches warmes Interesse an den Predigten des Militärpfarrers Schmidt, die dieser Sonntags früh um acht Uhr, in der Stadtkirche auf dem Marktplatz mit dem Obelisken, vor den von ihren Offizieren geführten Dragonern zu halten pflegte. Alle Sonntag Morgen ging sie nun dorthin. Ilses Liebe gebot eben über Opferfreudigkeit mannigfaltigster Art!
   Auf diesen schwachen Grundlagen hatte Ilse, mit der Genügsamkeit frühester weiblicher Jugend, die vor Greifbarerem beinahe ängstlich zurückschreckt, ein traumhaft zartes Zauberschloß in ihrer Phantasie errichtet. Fein wie Spinnengewebe waren seine Wände, vor jedem Hauch rauher Alltäglichkeit wäre das duftige Gebilde zerronnen – und doch war es in seiner durchsichtigen Körperlosigkeit die eine große geheimnisvolle Realität ihres Daseins geworden. Ein in völliger Einsamkeit aufgewachsenes Kind, führte sie in diesem selbst ersonnenen Märchenlande ihr eigentliches Leben; was sich da zutrug, erschien ihr viel wahrer wie das, was man Wirklichkeit nannte, und die traumhaften Harmonien, die sie dort vernahm, übertönten des Alltags gleichmäßig leiernde weise; durch jene Gefilde schwebte ja auch ein blauer Märchenprinz, der auf Erden ein Dragoneroffizier war.
   Und welch seltsame Möglichkeiten malte sich Ilse doch aus, wenn sie abends spät im Dunkeln noch einmal ans offene Eckfenster trat. Drüben im Garten schliefen dann längst die Rehe, aber den Fliederduft und das raunende Rauschen der Bäume wehte der Nachtwind ihr zu. Geheimnisvolle Lieder glaubte sie zu vernehmen, süße Töne, die sie wie auf weichen Schwingen in ferne Sphären trugen. Ihr Herz dehnte sich dabei in einer unendlichen Sehnsucht – wonach sie sich aber sehnte, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Worte gab es dafür nicht, nur in leisen Melodien – die von selbst aus ihres Wesens Tiefen auf ihre Lippen stiegen, erzählte sie es alles der lauschenden Nacht. Es war in ihr ein beinahe schmerzhaft starkes Empfinden der Frühlingsschönheit da draußen, ein unbewußter Wunsch, dies Empfinden noch irgendwie bis zur Unerträglichkeit zu steigern, ein hilfloses Tasten in lauter Unbekanntem, ein Bedürfnis der Hingabe, der Aufopferung, der Selbstvernichtung. Aber strahlende Persönlichkeiten, hehrste Aufgaben müßten es sein, für die sie das eigene Ich darbringen würde. Mit dem kränklichen Papa abends Patiencen legen, Greinchen die Strickwolle wickeln, das waren keine Dinge, für die man sich begeistern konnte – und Begeisterung – ja Begeisterung war das Element ihrer Seele. Im Schwung und ergriffen von etwas Großem – da würde sie alles vermögen, da würde Opfer Wonne sein.
   Von Kriegsgefahren war zu jener Zeit, wie so oft im Frühjahr, mal wieder die Rede auf der Welt. Ilse durchfuhr das Wort wie eine scharfe Klinge; sie sah sofort im Geiste das blaue Regiment stolz und glänzend ausrücken, sah es in steter Gefahr weiter ziehend durch feindliches Land, sah den blauen Ritter in mörderischer Schlacht. Aber – nicht allein sollte er da sein – nein, als Marketenderin, als barmherzige Schwester, irgendwie würde es ihr gelingen, bei ihm zu stehen, und irgendwie würde sie die ihm bestimmte Kugel auffangen, würde sich schützend vor ihn werfen und sein Leben durch Hingabe des ihren retten! Und bei dem Gedanken an solch Sterben, für ein des Sterbens wertes Ziel, glaubte sie nicht banges Trauergeläut zu vernehmen, sondern ihre Seele war erfüllt vom siegreichen Klang einer jubelnden Fanfare.
   Eine verspätete, in nüchterne Jahrzehnte verschlagene Romantikerin mußte wohl die kleine Ilse sein, mit der regen, Gaukelbilder schaffenden Phantasie, der nach großen Erlebnissen dürstenden Seele, der schwärmenden Begeisterung – doch daß sie es war, ahnte sie nicht, war sich selbst noch größtes Geheimnis, wußte auch nicht, daß wem die Fähigkeit jauchzenden Jubels gegeben, ebenso die des grenzenlosen Verzweifelns eigen zu sein pflegt.
   Statt eines Krieges brachte dann aber der Frühling einen verspäteten Ball. Von einigen Familien wurde er im Klub des Städtchens arrangiert. Es war das erste derartige Fest, das Ilse mitmachen durfte. Ganz plötzlich hatte Papa den Entschluß gefaßt, sie hinzuführen. Papa auch war es, der ihr dort einen Herrn von Zehren vorstellte – ein belangloser, älterer Herr, wie es Ilses siebzehn Jahren schien – der Besitzer eines großen Gutes, wie Papa ihr nachher erzählte. Herr von Zehren führte Ilse korrekt und würdevoll durch die verschiedenen Touren einer Française, und führte sie ebenso zum Souper. Er sprach dabei von dem ethischen Werte des die Gesinnungen befestigenden Landlebens; er schilderte den segensreichen, zurückhaltenden Einfluß, den Großgrundbesitzersfrauen berufen seien, auf die dem zügellosen Stadtleben zustrebende ländliche Bevölkerung auszuüben; er erwähnte, daß seine eigene Mutter das Muster einer also tätigen Landedeldame sei. Ilse schaute ihn bei diesen Worten zum erstenmal näher an: er mußte doch wohl jünger sein, wenn er noch solch eine Mutter besaß. Sie selbst hatte längst keine mehr. – Ein Gefühl der Einsamkeit überschlich sie da mitten im Balle, und es fuhr ihr durch den Sinn, wie schön es sein müßte, gerade heute eine Mutter zu haben. Aber das alles war nur wie ein Vorbeihuschen von Schatten. Nichts von all den neuen Eindrücken dieses Abends zählte ja neben dem einen langen Walzer, den sie mit dem blauen Märchenprinzen tanzte. Der allein war Wirklichkeit, weil er Traum war. Und er würde ewig unvergeßlich bleiben! Als sie längst daheim in ihrem weißen Bettchen lag, glaubte sie noch des Walzers Weise zu hören. Dies sanfte Wiegen, dies wehmütig Süße, das also war des unbekannten Lebens Melodie? Und wie seltsam war doch das Gefühl gewesen, das sie beschlichen hatte, als er zuerst beim Tanz den Arm um sie gelegt – anders wie bei all den anderen – beinah, ja beinah wie ein bißchen Angst. Aber wovor? War es vielleicht eher Angst um ihn? Er gehörte ja einem heldenhaften, aber so gefahrvollen Berufe an! Jeden Augenblick konnte das Vaterland sein Leben fordern! Was für ein Idealist war doch solch ein Dragonerleutnant! Und welch schmerzliche Seligkeit müßte es sein, um ihn sorgen und zittern zu dürfen!
   Während der nächsten Tage war eine große erwartungsvolle Unruhe in Ilse; immer wieder eilte sie zum Eckfenster, summte leise des Walzers Melodie vor sich hin und spähte hinab auf die Straße – aber die eine blaue Uniform, nach der sie Ausschau hielt, kam nicht vorüber.
   Statt dessen kam Herr von Zehren Papa zu besuchen, und Papa behielt ihn zu Tisch da. In aller Eile gab Greinchen für Friedrich ein Paar frische weiße Baumwollhandschuhe zum Servieren heraus und ließ noch schnell ein Gericht einschieben – eine Büchse Schoten und gewickelte Eierkuchen als Beilage – und das Kompott wurde als süße Speise serviert mit Waffeln vom Konditor, die das Stubenmädchen atemlos geholt hatte.
   Bei dieser Gelegenheit erfuhr Ilse, daß ihr Vater Herrn von Zehrens Mutter früher gekannt hatte. Wie tätig sie damals war, hob auch er hervor. Ja, solch eine energische Frau! welch Glück für den Mann, welch Beispiel einem ganzen Hauswesen! Greinchens gutmütiges Bulldoggengesicht nahm dabei einen ganz ungewohnt bissigen Ausdruck an, und Ilse dachte an die eigene tote Mutter – ob die wohl auch energisch gewesen? Sie wußte eigentlich gar nichts von ihr.
   Und dann wandte sich Herr von Zehren mit der Frage zu ihr, ob sie das Landleben liebe? Ilse, die die Gabe besaß, bei Worten immer gleich Bilder zu sehen, erblickte im Geiste einen mit gelben Narzissen besäten Wiesengrund, durch den, unter überhängenden Erlen, ein Flüßchen plätscherte, zwei Menschen schritten Hand in Hand am Wasser entlang, zwei Menschen, die in Ilses Märchenland stets zusammen wandelten. »Oh ja!« antwortete sie inbrünstig, nur die selbst beschworene Vision sehend, »das Landleben müßte … himmlisch sein«. »Das freut mich sehr«, sagte Herr von Zehren so feierlich, als ob er Begleitworte zu einer Kirchengrundsteinlegung spräche.
   Und wieder vergingen einige Tage, was konnte nur geschehen sein, daß er gar nicht mehr vorbei kam? War er krank oder verunglückt? Einen schrecklichen Sturz draußen in der Setzallee des Waldes, wo die Offiziere ihre Pferde trainierten, sah Ilse sogleich vor sich, aber dann sagte sie sich, daß solches Begebnis doch im ganzen Städtchen längst bekannt geworden und auch zu ihr gedrungen wäre. Und dann kam die Erklärung.
   Das Abendessen war eben abgetragen worden, Greinchen hatte die Brille aufgesetzt und aus ihrem Arbeitskorb die defekte Damastserviette genommen, die sie heute noch stopfen wollte, da trat Friedrich ein, der alt war wie alles in diesem Haushalt und überreichte Papa die Abendpost. Der schaute zuerst ein bißchen in die Zeitungen, dann öffnete er den einen Umschlag der dabei lag. Ilse konnte sehen, daß er eine gedruckte Anzeige enthielt.
   »Schau, schau«, sagte Papa, nachdem er sie gelesen, »der hat sich also verlobt«. Er schob das Blatt Ilse hin: »Ein hübscher flotter Kerl – ich glaub, du hast neulich auf dem Ball auch mal mit ihm getanzt – die Familie der Braut kenn ich dem Namen nach – reiche Industrielle vom Rhein – für ‚nen armen Leutnant höchst erfreulich, wirklich höchst erfreulich! – Ja, und nun Ilse, reich mir die Karten her – ich will dir noch einmal die Myrtenpatience zeigen, aber du mußt auch wirklich acht geben, daß du sie endlich lernst.
   Tagelang nachher ging die arme kleine Ilse mit dem Gefühle umher: »So etwas überlebt man nicht«. Ältere Menschen würden ob dieses Glaubens gelächelt haben, mit ein bißchen wehmütiger Sehnsucht nach den eigenen Jahren, da solch Empfinden noch möglich war; aber keine älteren Menschen erfuhren ja, daß dem Kind eine Welt vernichtet worden, wenn auch nur eine geträumte Welt. Ilse besaß niemand, mit dem sie sich aussprechen konnte, die Wirklichkeit, die sie umgab, war für Gefühlsgeständnisse wenig geeignet – vielleicht war das mit ein Grund, daß sie sich so leicht ein Märchenschloß geschaffen hatte. So versenkte sie sich ganz in das, was ihre siebzehn Jahre für einen lebenslänglichen Kummer hielten. – Was wäre denn das auch für ein Gefühl, das nicht lebenslänglich wäre? fragte sie sich mit der Intransigenz der Jugend, die nur Werden und noch nie Vergehen erlebt hat.
   Als sie dann aber bemerkte, daß die Tage sich aneinander reihten, ohne den erwarteten Tod zu bringen, ja daß sogar der anfängliche Appetitmangel und die Schlaflosigkeit vor der Macht der Zeit wichen, sagte sie sich: »Ich bin offenbar zum Sterben zu gesund und vielleicht ist das gut so, denn für den armen kränklichen Papa wäre es doch hart, ganz allein mit Greinchen zurück zu bleiben, aber aller Hoffnung und Lebensfreude bin ich gestorben, für mich kann es nur noch ein Dasein strengster Pflichterfüllung geben«. Und wie einst das Zauberschloß des blauen Ritters so malte sie sich nun die graue Stadt des Entsagens aus. Zwischen Papa und Greinchen würde sie die vielen, vielen Jahre vorüber schleichen sehen, und je älter Greinchen würde, desto mehr würde es ihr zufallen, die Damastservietten zu stopfen und aufzupassen, daß die Fenster ganz so blitzblank geputzt würden, als ob es sich je noch verlohnen könnte, durch ihre Scheiben hinauszublicken. Ja, so würde des Lebens Melodie werden! Keine wiegende, wehmütig süße Walzerweise – nein, eintönig knarrend wie ein Göpel, den müde Pferde im Kreise drehen.
   Ilses Interesse an den Rehen des gegenüber liegenden Gartens, den Torten des schäbigen Konditorladens und den frühen Predigten Pastor Schmidts war völlig geschwunden, und wenn sie jetzt von weitem das Pferdegetrappel ausrückender Schwadronen vernahm, so schloß sie eiligst das Eckfenster, setzte sich ans Klavier und übte Tonleitern, mit aller Kraft ihrer schlanken Finger. Es war überhaupt merkwürdig, wie sehr in dieser Zeit der alte Flügel sie anzog, von dem sie mal gehört, daß er noch von der Mutter ihrer Mutter stamme. Als sei er ihr einziger Freund. Ein Freund, von dem sie dunkel ahnte, daß er Töne für alle leiden berge, wenn es nur gelänge, sie ihm zu entlocken. Suchend tastete sie nach dem, was in den Saiten schlummern mochte, in schmerzlichem Bedürfnis sich selbst auszusprechen, wußte nicht, daß dieser künstlerische Drang, für inneres Erleben eine besondere Sprache zu finden, ein ererbtes Gut war, von der einstmaligen Besitzerin des Flügels auf sie, die Enkelin, übergegangen. – In Einsamkeit stand sie vor all dem sich unbewußt leise in ihr Regendem. Der wohlmeinende, aber stets kränkelnde Papa, das um dessen Gesundheit dauernd besorgte Greinchen waren wohl nicht die geeigneten Menschen, dem Kinde sein inneres Wesen zu erklären und seinen Lebensweg so zu leiten, daß die Anlagen, die ihm durch Abstammung überkommen sein mochten, Entfaltung fänden. – So kam es, daß Ilse weniger noch von sich wußte als andere Siebzehnjährige, und bei der völligen Abgeschiedenheit, in der sie gelebt, auch gar nicht ermessen konnte, welcher Boden künftig ihrer Entwicklung gedeihlich sein würde.
   So vergingen einige Monate, die Ilse so schrecklich lang schienen, wie die Zeit nur die noch ganz Jungen dünkt.
   Dann erhielt sie einen Heiratsantrag von Herrn von Zehren.
   Sie erhielt ihn durch Papa übermittelt, denn der Bewerber war ein korrekter Mann und hatte sich vor allem der väterlichen Zustimmung vergewissert.
   »Ich brauche dir nicht erst zu versichern, daß du in deinen Entschließungen völlig frei bist«, sagte Papa, »aber ich kann nicht umhin, zu bemerken, wie sehr ich hoffe, daß du den ehrenvollen Antrag dieses ernsten Mannes wohl überlegen wirst«.
   »Möchtest du denn nicht lieber, daß ich immer bei dir und Greinchen bliebe?« fragte Ilse.
   »Wie könnte ich etwas so Unvernünftiges wünschen«, erwiderte Papa, »ich bin alt und krank, und in Herrn von Zehrens Händen wüßte ich dich sicher geborgen, wenn ich mal die Augen schließe. Seine Charaktereigenschaften bieten die Gewähr für ein solides, fest begründetes Familienglück«. Dann sprach Papa weiter von der materiellen Lage, die durchaus befriedigend und sicher sei. »Seit dem Tode seines einzigen Bruders ist Herr von Zehren Besitzer des Fideikommisses Weltsöden im Kreise Sandhagen, das er mit Hilfe seiner Mutter selbst bewirtschaftet. Er hat mir klar und offen über die dortigen Verhältnisse Aufschluß gegeben; es scheint ein Besitz zu sein, aus dem sich mit Kapital noch viel machen ließe. Und du hast ja das Vermögen deiner Mutter. Auch an künftige politische Betätigung denkt Herr von Zehren. – Auf eines freilich muß ich dich aufmerksam machen: er ist ein pflichteifriger Mann, gewohnt sich selbst nie zu schonen – als solcher wird er auch große Anforderungen an seine Frau stellen. Ein Leben ohne Verantwortung wie bisher wirst du dort nicht führen können: Du wirst großen Pflichten und Aufgaben gegenüber stehen.« Was Papa beinahe widerstrebend, um der Forderung unparteiischer Sachlichkeit zu genügen, hinzugesetzt hatte, und was manch anderes Mädchen abgeschreckt hätte, das war nun gerade für Ilse das Entscheidende. Hohe Pflichten und Aufgaben? Die wünschte sie sich ja! Nach einer Enttäuschung wie der jüngst erlebten, konnte es ja gar nichts anderes mehr für sie geben, – das Leben sollte hart und schwer sein und viel von ihr fordern, sie war bereit, großen Zwecken zu dienen. – An Herrn von Zehren selbst dachte sie dabei kaum – es erschien ihr wie eine Erleichterung und Rechtfertigung, daß sie für ihn so gar nichts von dem empfand, was ihre Phantasie für den Helden ihrer einstmaligen Träumereien erfüllt hatte.
   So erklärte sie ihrem sichtlich erfreuten Vater ihre Bereitwilligkeit, die Werbung des ernsten pflichteifrigen Mannes anzunehmen.
   Papa eilte aus dem Eckzimmer, wo die Unterredung stattgefunden und kehrte alsbald mit Herrn von Zehren zurück. Ilse hatte sich sein Erscheinen nicht so unmittelbar vorgestellt, und nun ward ihr doch etwas bang zumute, besonders als Papa sagte: »Jetzt sprecht Euch aus, liebe Kinder, ich will nicht stören«, und sie mit dem Fremden allein ließ.
   Herr von Zehren kam mit langen Schritten zu ihr ans Eckfenster und ergriff ihre Hand. Er war sehr lang und sehr mager, und seine hagere Gestalt mit den abschüssigen Schultern endete in einem auffallend kleinen Kopfe. Er nahm in Wahrheit wenig Platz ein, aber Ilse war, als fülle er plötzlich das ganze Zimmer mit seiner Gegenwart. Unwillkürlich trat sie noch dichter ans Fenster zurück.
   »Die Antwort, die mir soeben übermittelt worden ist, beglückt mich unendlich«, begann er. Sie wußte nicht, was darauf zu sagen und schwieg daher. Er fuhr fort: »Ich heiße Theophil, liebe IIse, willst du mich so nennen?«
   »Ja, Herr von Zehren,« antwortete sie, »ich werde Sie Theophil nennen, wenn Sie es wünschen.«
   Er lächelte, wie mädchenhaft scheu sie doch war!
   »Aber du mußt auch du zu mir sagen«, sagte er.
   »Ja, das werde ich wohl müssen, … aber … meinen Sie wirklich … schon jetzt?«
   »Ich bitte dich darum!« Plötzlich beugte er sich von seiner ganzen langen Höhe herab, und sie hatte die Empfindung, als sei sie unter die Klinge eines scharfen Taschenmessers geraten, das auf sie niederklappte. Sie hielt den Atem an. – Es tat aber nicht weh. Er hatte sie auf die Haare geküßt, und ein bißchen von dem Kuß hatte noch gerade ihre Stirn gestreift. Es war eine gleichgültige Empfindung … eigentlich gar keine. – »Bei den meisten Dingen ist offenbar die Angst vorher das Schlimmste«, philosophierte Ilse innerlich, »was verheiratet sein eigentlich ist, weiß ich nicht, und hab ja auch niemand, den ich fragen könnte – aber damit wird es wohl ebenso gehen!«
   »Hast du mich denn etwas gern?« hörte sie indessen Herrn von Zehren fragen.
   »Nicht so sehr wie Papa und Greinchen«, antwortete sie sofort, »ich kenne Sie, … dich ja auch noch nicht so lange.« Und dann setzte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinzu: »Wenn Sie aber meinen, daß das nicht genug ist, um sich zu verheiraten, so sagen Sie es mir bitte, nicht wahr? Ich habe so ein Gefühl, als ob es beim Heiraten vieles geben mag, was Sie besser wissen müssen als ich!«
   Es war doch erquickend, solcher Unberührtheit in unserer Zeit zu begegnen, dachte er und sagte: »Du empfindest genau, wie man es von einem wohlerzogenen Mädchen unserer Gesellschaft nur wünschen kann, liebe Ilse. Wir erwarten ja auch von der Frau, die wir heiraten, eine andere Art Gefühle wie … wie … nun wie von den anderen. Und Liebe? – Nun, die findet sich bei gut gearteten, pflichtbewußten Frauen ganz von selbst in der Ehe.«
   Am Abend dieses Tages schrieb Herr von Zehren seiner Mutter: »Sie ist in allem noch sehr jung, beinahe ein Kind, aber voll der besten Absichten und sicherlich leicht lenkbar, so daß alles Unerwünschte, genial Künstlerische, was etwa von der singenden Großmutter auf sie übergegangen sein könnte, ohne Mühe im Keim zu ersticken sein wird. Möchte es Dir, verehrteste Mutter, gelingen, sie zu modeln, daß sie Dir möglichst ähnlich werde! Ihre Gesundheit, nach der Du fragst, scheint mir vortrefflich: sie hat tadellose Zähne und volles Haar; sie ist noch recht mager, aber von ihrem guten Appetit konnte ich mich überzeugen und ich hörte, wie Fräulein Greiner sie ob ihres üblichen zehnstündigen Schlafes neckte; ich hielt es für richtig, da gleich zu erwähnen, daß in Weltsöden Winters um sechs und Sommers um fünf aufgestanden wird. Das Vermögen, das sie von ihrer Mutter direkt geerbt hat, das aber, wie Du weißt, vom alten Herzog Bernhard, ihrem morganatischen Großvater, stammt, ist größer noch, als wir dachten – so bildet es immerhin eine Entschädigung für die durch die Großmutter so sehr gestörte Ahnenreihe. Die Zinsen hat der Vater nicht, wie ihm freistand, verausgabt, sondern sie alljährlich zum Kapital geschlagen. Ich werde es jetzt, bei der Urbarmachung von Wüste Teufelstrift, gut verwenden können. – Der Vater scheint mir recht abgängig zu sein, und von ihm hat sie ja auch noch mal ein Erkleckliches zu erwarten. Väterlicherseits hat sie nur ganz entfernte Verwandte, wie Du wohl schon aus dem Gotha ersehen haben wirst; mütterlicherseits sind überhaupt keine vorhanden, was unter den gegebenen Verhältnissen ja eine Erleichterung ist.«
   Gleich nach der Verlobung reiste Herr von Zehren auf sein Gut zurück, und Ilse hatte die Empfindung, als sei eigentlich gar nichts Besonderes geschehen, nur daß sie an einem ihrer schlanken Finger einen glatt goldenen Reif, ihren künftigen Trauring, trug, der die Tendenz hatte, leicht herabzurutschen, und daß Greinchen sie häufig lang und innig ansah, sich die Augen wischte und flüsterte: »So eine glückliche Braut, das ist doch was zu Schönes«.
   Und dann fuhr Papa mit ihr auf einige Tage nach Berlin. Dort sollte sie verschiedene Verwandte ihres Verlobten kennen lernen und mit ihrer künftigen Schwiegermutter zusammentreffen, die es bereitwillig übernommen hatte, für Ilse die Ausstattung auszusuchen »wie sie sich für Weltsöden schicke«. – Dieser Begegnung ging Ilse mit sehnsüchtig pochendem Herzen entgegen, denn wie nun auch das Verheiratetsein sich erweisen mochte, eine Mutter zu besitzen, mußte unter allen Umständen schön sein!
   Die verwitwete Frau von Zehren, geb. von Saßmacken, war beinahe ebenso lang wie ihr langer Sohn, aber wo er vertrocknet und verwittert war, hatte sie sich ausgedehnt, nicht zu Rundungen, sondern zu weiten Flächen. Es war alles groß an ihr, mit Ausnahme der Augen, die klein, schlau und wie versteckt hinter den weiten Backenflächen lagen. Die laute, häufig in polterndes Lachen übergehende Stimme erweckte zuerst nur den Eindruck ländlich ungenierter Derbheit; sie schien zu sagen: »Ich habe stets so laut sein dürfen, wie ich wollte, denn ich erscholl ja immer nur über eigenen Feldern«. Sie konnte aber auch bisweilen eine zweite Klangart annehmen, die weniger bieder, sondern mehr hart und herrisch war.
   Mit kräftig zupackenden Händen, die an breiten Gelenken saßen, faßte Frau von Zehren ihre künftige Schwiegertochter bei den Schultern, zog sie ans Licht und sagte: »Also dich hat sich mein Theophilchen ausgesucht? na, laß dich mal anschauen«.
   Ilse hatte dabei die Empfindung, als würde sie von einem Elefanten inspiziert; es beruhigte sie, sich dabei zu erinnern, daß diese Dickhäuter in der Naturgeschichtsstunde als gutmütige Tiere geschildert wurden – besonders rührende Geschichten gab es ja über ihre Freundlichkeit gegen die kleinen Kinder in Indien – doch als sie zu Frau von Zehren aufschaute und in ihre kleinen Augen blickte, erinnerte sie sich plötzlich, gelesen zu haben, daß die Elefanten bisweilen auch sehr böse werden können und dann in der Wut alles niedertreten.
   Die Schwiegermutter war doch ganz anders, als sich Ilse eine Mutter vorgestellt hatte!
   Frau von Zehren ihrerseits äußerte, nach diesem ersten Zusammentreffen mit der künftigen Schwiegertochter, zu ihren beiden Schwägerinnen, Askania und Lidwine, die für die große Gelegenheit ebenfalls nach Berlin gekommen waren: »Wenn man von der Ilse abrechnet, was die Schneiderin an Spitze und Chiffon hinzu getan hat, so bleibt für mein Theophilchen wenig genug übrig.«
   »Aber im wesentlichen ist es doch eine erfreuliche Partie, liebe Gottliebe,« warfen die Fräulein von Zehren schüchtern ein. Sie waren magere, eingeschrumpfte alte Jungfern; in ihrer Jugend hatte man ihnen die sich ihnen bietenden Heiratsmöglichkeiten ausgeredet, »damit das Geld nicht aus der Familie gehe«; jetzt lebten sie abwechselnd in Weltsöden und in dem benachbarten adligen Stift zum heiligen Dornenkranze, dem sie angehörten, und die Familie, der man sie einst geopfert, war zu ihrem Götzen geworden. Sie darbten und sparten an allen Ecken, um dem in Theophils hagerer Person verkörperten Begriff dereinst etwas mehr hinterlassen zu können.
   Am Abend dieses Tages gab Frau von Zehren in einem der großen Berliner Hotelrestaurants zu Ehren der Verlobten ein Diner, bei dem sie die Zehrensche und Saßmackensche Verwandtschaft vereinigte.
   Man konnte sofort erkennen, zu welcher der beiden Familien die Einzelnen gehörten. Die Zehren waren alle dürr und zusammengeschrumpft, die Saßmacken dagegen breit und auseinanderfließend, so daß die ewig hungrig ausschauenden Zehren wie verwitterte Felsen zwischen den weiten Flächen der wohlgenährten Saßmacken hervorragten. Die Herren hatten alle das Johanniterkreuz aus weißem Tuch auf den Frack geheftet; ein paar Damen trugen Diamanten in geschmacklosen Goldfassungen, andere begnügten sich mit Broschen aus Hirschzähnen; Tante Askania und Tante Lidwine aber hatten, wie bei allen ganz feierlichen Anlässen, die blank getragenen Schwarzseidenen angelegt, in denen sie dereinst auch begraben sein wollten, und auf ihren verkümmerten Busen ruhte, gleich einem Symbol der Entsagung, das silberne von einem Dornenkranz umschlungene Kreuzabzeichen ihres Stiftes.
   Laute Stimmen hatten sie alle; die Männer sprachen, als kommandierten sie auf Exerzierplätzen, die Frauen, als trieben sie Mägde auf Gutshöfen zur Arbeit an. Papas Stimme konnte Ilse in dem Gedröhne gar nicht vornehmen. Wie fein und schmal er doch mit seinem welken, leidenden Gesicht neben Frau von Zehren aussah! Und Ilse, für die Papa bis dahin eigentlich nur eine entfernte, geheimnisvolle Respektsperson gewesen war, empfand da plötzlich und zum erstenmal ein Gefühl naher Zusammengehörigkeit. Sie hätte dem gern nachgesonnen, aber da stand schon der Onkel Zehren-Kummerfelde – Eiffel-Zehren, wie man ihn nannte – in seiner ganzen Länge auf, klopfte ans Glas und erklärte schnarrend, daß in den hier vertretenen altpreußischen Familien von jeher jedwedes Lebensereignis zuerst einen Blick zum Throne hervorgerufen habe, und daß dieser Geist noch heute in ihnen allen lebendig sei – und in diesem Sinne fordere er die Anwesenden auf, mit ihm zu rufen: Seine Majestät, der König, Er lebe hoch! hoch! hoch! – Alle Anwesenden waren aufgesprungen; die ältere Generation stimmte in das Hoch schallend ein; die jüngeren Herren dagegen schrien eifrig: Hurra, Hurra, Hurra!
   Kaum hatte sich der Onkel Zehren-Kummerfelde gesetzt, so erhob sich der Vetter Zehren-Kandau und bewillkommnete die Braut in der »Familie«. Dies Wort mußte sicher mit lauter großen Buchstaben geschrieben sein, so feierlich wurde es ausgesprochen. Und Ilse erfuhr, daß die Zehren viel älter landeingesessen seien als das Herrscherhaus, zu dessen Throne sie bei allen Gelegenheiten emporblickten; sie hörte, wie Thilo und Witold Zehren einst der Schrecken der Straßen gewesen waren, und die Reisenden des Mittelalters Gott mit Zähren um Schutz vor den Zehren angefleht hatten; sie hörte, daß alle Zehrensche Burgen und Güter im dreißigjährigen Kriege zerstört worden seien, und noch heute die Wüste Teufelstrift öde und verlassen an der Stelle läge, wo einst blühende Gehöfte gestanden, die die Kaiserlichen und Schweden niedergebrannt hatten. Das erste Haus, was nach jenen Schreckensjahren von dem einzig überlebenden Zehren, Kaspar Zehren, wieder aufgebaut worden war, hatte er dann »Weltsöden« genannt. Und Segen hatte auf diesem Hause gelegen, es war zum Stammsitz des seitdem weitverzweigten Geschlechts geworden, die jüngeren Linien Zehren-Kummerfelde, Zehren-Kandau, Zehren-Wansen waren aus ihm hervorgegangen. Ja wahrlich, Gottes Verheißung: Dein Same soll sein wie Sand am Meere, war an den Zehren in Erfüllung gegangen! – Sie alle hatten dann als Staatsbeamte und Militärs, vor allem aber als Landjunker, jene kernigen Eigenschaften besessen, von denen man wohl sagen darf, daß die Größe Preußens auf ihnen beruht, erklärte der Redner mit biederer Selbstgefälligkeit, und ihre Frauen hatten sämtlich auch noch zum guten alten Schlag gehört, wo die Frau in den Interessen des Mannes aufgeht und nichts eigenes mehr kennt; eine jede von ihnen hatte auch das Hab und Gut der Familie wacker gemehrt. – Als Schlußeffekt erwähnte dann Vetter Zehren-Kandau, daß ein Ahnherr eine vom Landesfürsten einst beabsichtigte Standeserhöhung abgelehnt habe, weil kein Menschgeborener einen Zehren zu erhöhen vermöchte.
   Die Rede sollte eigentlich Ilse gelten, aber es war eine Eigentümlichkeit aller Zehren, daß sie stets auf die eigene Bedeutung zu sprechen kamen, und als der Kandausche Vetter sich setzte, hatte er so viel Rühmliches über »die Familie« gesagt, daß Papa, der nun aufstand und auf sie sprechen wollte, kaum Neues mehr hervorzuheben fand. So entstand denn ein allgemeines Hochrufen und Anstoßen auf das Brautpaar. Dabei fiel Ilses neuer Ring, der die Tendenz hatte herabzugleiten, von ihrem schlanken Finger nieder und rollte auf den Tisch. »Ich glaube, wir müssen ihn wirklich etwas enger machen lassen,« sagte sie zu Theophil, aber Frau von Zehren warf ein: »Trag ihn doch vorläufig auf dem Zeigefinger, denn in Weltsöden sollst du mir schon dicker werden, da rutscht er nicht mehr herunter; Zehrensche Eheringe halten fest.«
   Nach dem Essen stand man noch etwas bei Kaffee und Zigarren herum, und es wurde die blöde Glücksstimmung zur Schau getragen, in der sich die Menschen bei Verlobungen nun einmal gefallen, als habe noch niemand je von unglücklich ablaufenden Ehen gehört. Über den Likörgläsern machten Onkel und Vettern mit geröteten Gesichtern allerhand täppische Späße und flüsterten in wohl vernehmlichen stimmen Theophil all die zarten Neckereien ins Ohr, die, nach ihrem ländlich derben Geschmack, der Gelegenheit zu entsprechen schienen. Während dem wurde Ilse von Tanten und Basen gemustert und beurteilt und bekam noch viel über Weltsöden und die Familie zu hören.
   Aber es wurde bald aufgebrochen, denn eigentlich war man sich doch ganz fremd. Die des Stadtlärms ungewohnten Landdamen gähnten schon längst verstohlen vor sich hin und sehnten sich, schlafen zu gehen, während die Herren im Gegenteil nur darauf brannten, den Frack mit dem keuschen weißen Kreuze gegen unscheinbarere Tracht zu vertauschen, um dann den angebrochenen Abend in Berliner Lokalen möglichst fidel zu beschließen.
   »Heiliger Theophil, du mußt mit!« riefen die Jüngeren.
   »Kindings, das schickt sich doch nicht für einen Bräutigam!« warf Onkel Eiffel-Zehren ein.
   »Ach was! Nicht wahr, er darf doch? Du gibst ihm Urlaub, Cousinchen?« wandten sich einige Vettern lärmend an Ilse. Und ein ganz junger sagte beruhigend mit verschwommenen weinseligen Äuglein: »wir werden schon auf ihn achtgeben.«
   »Achtgeben? Das hat unser Theophil doch nicht nötig,« rief ein anderer.
   Während die Gesellschaft noch also im Hotelflur stand, und Mäntel und Hüte aus der Garderobe gebracht wurden, trat von der Straße kommend ein großer, schlanker Mann durch die Drehtüre ein. Sobald er Theophil erblickte, kam er auf ihn zu, und sie begrüßten sich wie alte Bekannte.
   »Also Sie sind wieder in Deutschland?« fragte Herr von Zehren, »ich vermutete Sie in Petersburg?«
   »Ach nein, von dort bin ich längst fort,« antwortete der Fremde. »Zuletzt war ich in Japan und augenblicklich habe ich einige Wochen Urlaub. – Doch Sie selbst? was führt Sie nach Berlin? ich dachte, Sie lebten jetzt ganz auf Ihrem Gute?«
   »Allerdings, seit dem Tode meines Bruders ist das ja meine erste Pflicht,« antwortete Zehren gemessen, »denn nichts kann auf dem Lande die Aufsicht des Herrn ersetzen. Aber ich habe mich verlobt, und meine Mutter hat gerade heute hier ein Familiendiner für uns gegeben. Sie müssen meine Braut kennen lernen,« und sich zu Ilse wendend, sagte er: »Erlaube mir, dir Baron von Walden vorzustellen.«
   Der Fremde verbeugte sich tief vor Ilse, und als er sie dann anblickte, fuhr sie plötzlich zusammen. Beinahe erschrocken, wo hatte sie denn schon solche Augen gesehen? und woher kam ihr sein ganzes Wesen so bekannt vor? woran erinnerte er sie nur? – Wie ein verblaßtes, aus weiter Vergangenheit auftauchendes Bild sah sie da, während eines kurzen Augenblicks, das Gesicht des blauen Ritters ihrer frühesten Träume noch einmal vor sich – aber schon war es fern, fern, wie in dichtem Nebel zerflossen. – Glich Herr von Walden etwa jenem? – Seltsam! sie konnte sich jetzt auf die einst so wohlbekannten Züge nicht mehr genau besinnen – es war, als habe der Fremde sie da in dieser Sekunde aus ihrem Gedächtnis verwischt.
   »Wer war denn das?« fragte sie, als er sich empfohlen hatte und starrte ihm nach wie einer rätselhaften Vision.
   »Wolf von Walden?« sagte Herr von Zehren gleichgültig, »oh, den kenn ich schon lange. Er kam auf die Universität ein Semester ehe ich abging, und jetzt ist er in der Diplomatie.«
   »Wolf von Walden,« wiederholte Ilse leise, als sei es eine geheimnisvolle Zauberformel, deren verborgenen Sinn sie hinter dem melodischen Klange suche, »Wolf von Walden – ich habe doch den Namen noch nie gehört.«
   »Nein, wahrscheinlich nicht,« antwortete Herr von Zehren, »er stammt nämlich aus einer Familie Siebenbürger Sachsen und erst er ist als ganz junger Mensch nach Deutschland zurückgewandert.«
   »Warum tat er das denn?« fragte Ilse, und es war ihr dabei, als zwänge sie fremder Wille zu fragen.
   »Na, vermutlich, weil die Deutschen sich dort nicht sonderlich wohl fühlen,« erwiderte Herr von Zehren. »Und er ist jemand, der sich gern betätigen und hervortun möchte. Schon als Student hatte er allerhand hohe Ziele und Ideen, schwärmte für ein Großdeutschland und solche gute Dinge.«
   »Oh, das finde ich schön,« sagte Ilse wie träumend, »jemand, der von weither zu seiner ursprünglichen Heimat zurückkehrt und nun etwas ganz Großes für sie leisten möchte.«
   »Na ja,« antwortete Zehren gönnerhaft, »ist ja auch ganz nett – aber eigentlich haben wir in Deutschland Deutsche genug.«
   »Morgen um acht Uhr holst du mich ab,« hatte Frau von Zehren nach dem Diner zu Ilse gesagt, »hier in der Stadt sind die Leute ja alle Langschläfer, da findet man früh die Läden leer und kann in Ruhe aussuchen.«
   Und so geschah es. Frau von Zehren hatte eine lange Liste all dessen aufgestellt, was in Weltsöden fehlte, und danach wurde nun Ilses Ausstattung zusammengesetzt. Dieses Ergänzungsverfahren war zwar praktisch und den Begriffen Zehrenscher Weltordnung wohl angemessen, aber für Ilse bot es wenig Befriedigung; sie konnte kein Interesse an all diesen vereinzelten Stücken gewinnen, die zu lauter ihr unbekannten Sachen passen sollten. Und während Frau von Zehren Heißwasserkannen und Linoleumteppiche für einige Fremdenzimmer bestellte, wo diese Dinge gerade schadhaft geworden sein sollten, schweiften Ilses Gedanken weit ab. was konnten das wohl für große Ziele sein, die für Deutschland zu erreichen waren? fragte sie sich sinnend. Und ihre Phantasie malte ihr abenteuerliche Entdeckungszüge in dunkle Erdteile aus und Verhandlungen mit wilden schwarzen Häuptlingen, worin diese, gegen einige Schnüre Glasperlen, weite Gebiete zur Besiedlung an blonde germanische Männer abtraten. – Über solche Bilder sah sie gar nicht die Emailwaschgeschirre, die Frau von Zehren für Dienstboten kaufte.
   In einem Laden aber erwachte doch ihr Interesse. Da hatte man ihr weiße Möbel mit großblumigen Kretonnebezügen gezeigt, und sie rief: »So möchte ich mein eigenes Schlafzimmerchen haben!« Aber Frau von Zehren antwortete mit entschiedenem und alles weitere abschneidendem Tone: »Euer Schlafzimmer ist überhaupt fix und fertig. Es ist dasselbe, was mein seliger Mann und ich bewohnt haben, und wo auch mein Theophilchen geboren wurde. Die Einrichtung ist noch wie neu, Nußbaum mit hellbraunem Rips und Straminborten, die ich alle selbst zu meiner Aussteuer gestickt habe. Man war zu meiner Zeit fleißig mit der Nadel.«
   Danach überließ Ilse alles ganz der Schwiegermutter, was diese selbstverständlich zu finden schien. Auch Theophil gab ja in allem seiner Mutter nach; er hatte sonst recht entschiedene Ansichten, wie Ilse allmählich erkannte, aber vor einer Einsprache der herrischen alten Dame wichen sie sofort. – Frau von Zehren verstand es eben meisterhaft, sich überall Geltung zu verschaffen; sogar die Berliner Ladenkommis flogen bei den Befehlen dieser Landedeldame mit der lauten Stimme, den langen flachen Hängebacken, listigen Äuglein und großen groben Händen, die so genau Leinwand auf Wert oder Unwert zu befühlen verstanden. – Als sie aber einmal in einem Laden nicht rasch genug bedient wurde, sah sie den Verkäufer durchbohrend an und sagte: »Guter Mann, sie scheinen nicht zu wissen, mit wem sie zu tun haben: Ich bin die Frau von Zehren auf Weltsöden.« – Und merkwürdigerweise wirkte es auf den verdutzten Jüngling, als habe sie gesagt: Ich bin der Polizeipräsident von Berlin.
   Die mit Besorgungen angefüllten Berliner Tage glitten an Ilse vorüber wie der wirre Fiebertraum einer kranken Wirtschaftselevin. Allerhand ernsthafte, langweilige Dinge, Kupferkasserollen und Staubtücher, Spirituslampen und Bettvorleger, die alle seltsam bedrohliche Fratzen zu schneiden schienen, zogen da in feierlicher Polonaise vorüber. Sie wußten, das wichtigste für eine Ehe waren sie. Und Frau von Zehren erwies sich als unermüdlich in der Beschaffung dieser sicheren Grundlagen des neuen Hausstandes. Sie ließ Ilse dabei kaum zu Atem kommen, denn sie sagte: »Unnütz solle man nicht in den teueren Berliner Hotels herumhocken und nicht mehr als durchaus nötig gutes Geld vom Lande an die Städter verausgaben.«
   Als Ilse dann wieder mit Papa zurück war in ihrem heimatlichen Städtchen, ging auch dort die Zeit schneller vorüber als je zuvor, und plötzlich war der Herbst und mit ihm der Hochzeitstag gekommen. – Ilse hatte einmal nach Weltsöden geschrieben, wie schön es doch sein würde, eine kleine Hochzeitsreise nach Italien zu machen, aber Theophil antwortete, daß er dazu leider keine Zeit haben werde, da er die Arbeiten in Wüste Teufelstrift selbst überwachen müsse. Frau von Zehren, der ihr Sohn offenbar Ilses Brief mitgeteilt hatte, schrieb ihrerseits: »Sie halte nichts vom faulen Herumlungern in welschem, katholischem Lande als Beginn eines norddeutschen Ehelebens – die Ehe sei kein Spaß, sondern die Übernahme ernster Pflichten gegen Land und Bevölkerung, man solle daher auch dort beginnen, wo man von rechtswegen hingehöre.«
   Ernste Pflichten. Ja, ja, die wollte Ilse ja auch übernehmen, waren es denn nicht gerade die, die sie zuerst angelockt hatten? Ja – ja – aber – sie war doch vielleicht schon etwas weniger pflichtenthusiastisch als damals bei der Verlobung – und es blieb doch recht schade, daß die Reise nach Italien aufgegeben werden mußte.
   Von ihrem Hochzeitstag erinnerte sie sich wenig. Wenn sie später daran zurück dachte, war es mehr ein theoretisches Rekonstruieren, wie es alles gewesen sein mußte. Die vielen Zehren und Saßmacken, die geschäftige Aufregung von Greinchen, der längs des gutmütigen Bulldoggengesichts beständig Tränen herabsickerten, die Feierlichkeit des alten Friedrich. Die Trauung hatte in der Stadtkirche auf dem Marktplatz stattgefunden. Theophils neun lange und eckige Nichten hatten mit allzu hohen Stirnen und straff zurückgekämmtem weißblonden Haar als Brautjungfern hinter ihr gestanden; die eine hatte gerade ein Gerstenkorn und die andere eine entzündete Oberlippe. Dann mußte wohl das Dejeuner gekommen sein mit den Reden und dem Vorlesen der von allerhand Ilsen meist unbekannten Menschen gesandten stereotypen Glückwunschtelegramme. – All das war unpersönlich und konnte bei vielen anderen Hochzeiten genau ebenso gewesen sein.
   Nur an einen Augenblick erinnerte Ilse sich später als an ihr eigenstes Erlebnis. Als sie schon ihr Reisekleid angehabt hatte, blieb sie noch einmal am Fenster des Eckzimmers stehen und schaute hinüber zu dem großen Garten; die alten Bäume rauschten im Herbstwind, und die Rehe hatten sich eng aneinander gedrängt, unter ihrem Schutzdach vor dem beginnenden Regen geborgen. Papa war hereingekommen, um ungestört von ihr Abschied zu nehmen und da, ganz plötzlich, hatte sie sich ihm in die Arme geworfen, wie noch nie im Leben, mit einer sinnlosen, rasenden Angst im Herzen, die wie ein Ertrinken war. Sie hatte kein Wort herauszubringen vermocht, so sehr schüttelte sie ein krampfartiges Weinen. Und Papa hatte auch die Fassung verloren. Er klopfte sie unablässig auf die Schulter und sagte in einem fort: »Es ist ja gar nicht so schlimm, es ist ja gar nicht so schlimm.« Und bei diesen immer wiederholten Worten mußte Ilse, ebenso unvermittelt wie sie geweint, nun auf einmal lachen – denn gerade so und mit demselben Tonfall hatte ihr Papa einst zugeredet, wie sie als Kind krank gewesen und die Arznei nicht hatte nehmen wollen: »Sie schmeckt gar nicht so bitter, sie ist wirklich nicht so bitter.«
   In diesem Augenblick hatte Frau von Zehren ins Zimmer geschaut und ungeduldig gemahnt: »Ilse, Ilse, es ist die höchste Zeit, der Wagen wartet.« Als sie aber das tränenüberströmte Gesicht ihrer Schwiegertochter erblickt, hatte sie sie mit kräftig zugreifenden Händen bei den Schultern gepackt und gerufen: »Ich glaub gar, du weinst? Du gehst doch in dein Glück! So einen Mann wie mein Theophilchen kriegt wahrhaftig nicht jedes Mädchen!« »Sie müssen das Kind entschuldigen,« hatte Papa sanft geantwortet.
   Dann hatte Ilse plötzlich mit Theophil im geschlossenen Wagen gesessen, und in dem stärker und stärker gegen die Scheiben klatschenden Regen war es die Breitestraße hinunter und zum Bahnhof gegangen. In dem Eisenbahnkupee, als der Zug aus der Halle gerollt war, und die Stadt mit der nächsten ihr noch wohlbekannten Waldumgebung verschwand, und die Gegend fremd, wie ein neues Leben, wurde, hatte das krampfartige Weinen Ilse noch einmal gepackt, stumm und unbeholfen saß Herr von Zehren ihr gegenüber, in dem großkarrierten Reisemantel und einer ebensolchen Mütze, die für seinen Kopf etwas zu weit war. Seine langen, ungelenken Beine sprangen über den Sitzplatz weit vor, so daß seine mageren Kniee ihr Kleid streiften. Er tat ihr plötzlich leid, so daß sie noch schluchzend sagte: »Du mußt mir nicht böse sein.« Und Theophil antwortete feierlich: »Ich achte deine Gefühle, liebes Kind; sie sind mir eine Bürgschaft für die Zukunft, denn eine anhängliche Tochter wird sicher auch eine pflichttreue Frau werden.« – Da schlug Ilses Weinen unvermittelt in Lachen über, und sie rief: »Oh Theophil, genau dasselbe hat ja der Pastor heute früh bei der Trauung gesagt.« – »Ja,« antwortete er gemessen, »es war eine gute Rede – und nun – da wir ja hier allein sind, gestattest du wohl, daß ich mir eine Zigarre anzünde, ich kam nach dem Dejeuner nicht mehr dazu, und sie fehlt mir nach dem Essen.«
   Abends spät trafen sie in Berlin ein. Dort wollten sie die Nacht bleiben und am nächsten Morgen weiterreisen nach Weltsöden.
   Und nun war der nächste Morgen gekommen, wie auch solche Morgen schließlich einmal kommen. – Sie standen unten im Bahnhof Friedrichstraße. Ihr Mann nahm die Billette und gab das Gepäck auf. Er hatte nicht viel Übung im Reisen und schien nervös und hastig. Dadurch dauerte es sehr lange. Sie wartete etwas abseits beim Handgepäck. Mit großen Augen, in denen ein neuer, erschreckter Ausdruck lag, starrte sie vor sich hin. Unaufhörlich fuhren Droschken vor. Koffer, die von dem noch immer niederströmenden Regen durchnäßt waren, wurden von draußen angeschleppt und dann am Gepäckschalter nach den verschiedensten Weltgegenden aufgegeben – arme, zerstoßene, in dem grauen Wetter kläglich aussehende Dinge, die willenlos hierhin, dorthin mußten, nach fremdem Geheiß. Ist man denn selbst etwas so sehr anderes? dachte Ilse.
   »Guten Morgen, gnädigstes Fräulein!« tönte es da plötzlich an ihr Ohr.
   Überrascht wandte sie sich um.
   »Herr von Walden?« sagte sie erstaunt und empfand wieder bei seinem Anblick jenes unerklärliche Gefühl, als habe sie ihn schon lange gekannt und fände ihn wieder.
   Er hatte die Zigarette, die er rauchte, fortgeworfen und war zu ihr getreten; sie fühlte, daß er sie forschend betrachtete.
   »Welch reizendes Zusammentreffen,« sagte er, »aber kann ich Ihnen nicht vielleicht irgendwie behilflich sein?«
   »Oh nein, ich danke Ihnen,« antwortete sie, »ich warte nur … auf … die Billetts. Aber,« setzte sie hastig hinzu, »was tun Sie hier? verreisen Sie?«
   »Ja,« antwortete er, »mein Urlaub ist abgelaufen, und ich stehe gerade im Begriff, mich auf meinen neuen Posten zu begeben – nach Marokko.«
   »Ach,« rief Ilse sehnsüchtig, »wie schön muß das sein, solche Reisen machen zu können.«
   »Ich freu mich auch sehr darauf,« sagte er, »aber Sie selbst, gnädigstes Fräulein, reisen doch auch, was ist denn Ihr Ziel?«
   »Wir … wir fahren … nach …«
   In diesem Augenblick kam Theophil, erregt und geschäftig, vom Gepäckschalter zurück. »Na endlich ist das erledigt,« sagte er, »was hat man mit den Kerls für eine Schererei! Nun komm aber rasch hinauf, liebes Kind! Da hast du dein Billett, du mußt es oben vorzeigen – aber verlier es nur nicht.« Jetzt erst gewahrte er Walden, der neben Ilse stand und verwundert von ihr zu ihm schaute, »Was, sie sind da, Walden? Guten Tag! Guten Tag! Aber verzeihen Sie! Wir müssen schnell hinauf!«
   »Ja, mit welchem Zuge reisen Sie denn?«
   »Schnellzug nach Sandhagen.«
   »An der Ostbahn? Oh, da haben Sie noch Zeit. Na, ich begleite Sie hinauf, mein Zug geht ein paar Minuten nach dem Ihrigen.«
   Während Herr von Zehren mit langen Schritten voranstürmte, hatte Walden Ilses Handtäschchen genommen und schritt neben ihr die Treppe hinauf.
   »Also Sie sind schon verheiratet?« sagte er, und in seiner Stimme war jetzt ein anderer Klang.
   »Ja,« antwortete sie leise, »seit gestern.«
   »Wie … seltsam … ist doch das Leben,« murmelte er vor sich hin, und dabei fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er irgend eine Vorstellung verscheuchen.
   Und wieder fühlte sie, daß er sie einen Augenblick forschend betrachtete, als läse er in ihren Zügen etwas Neues, etwas, das gestern noch nicht darin gestanden.
   Da senkte sie die Augen.
   Als sie wieder aufblickte, waren sie oben in der großen Bahnhofshalle angelangt. Er schaute sie jetzt nicht mehr an, sondern sprach mit Theophil.
   »Ein interessantes Land, Ihr neuer Posten!« hörte sie ihren Mann zu Walden sagen.
   »Ja,« antwortete dieser, »und eines der letzten, wo noch nicht alles an andere vergeben ist – es wäre schön, wenn sich da etwas für Deutschland machen ließe.
   »Na, na,« meinte Theophil, »machen Sie man dort vor allem keine Verwicklungen! Schwärmer wie Sie haben schon oft Feuer und Blut über die Welt gebracht, und das Fatale bei solchen Geschichten ist, daß wir Steuerzahler nachher dafür aufkommen müssen, und daß die sozialdemokratischen Stimmen dadurch anwachsen.«
   »Ich gehe ja nur als bescheidener Sekretär hin,« erwiderte Walden lachend, »da werde ich schwerlich Gelegenheit haben, ein Muspili zu entfachen.«
   »Na Gottlob!« sagte Theophil und setzte dann hinzu: »Und wenn Sie das nächstemal auf Urlaub kommen, so besuchen Sie uns doch in Weltsöden.«
   »Es wäre schon möglich, daß ich mal in Ihre Gegend käme,« antwortete Walden, »mein früherer Chef, Helmstedt, ist doch wohl Ihr Nachbar?«
   »Sogar mein allernächster. Aber er ist bisher immer nur kurz dagewesen – die Gräfin hat, fürchte ich, keinen rechten Sinn für unser norddeutsches Landleben – aber vielleicht sind sie jetzt nach seinem Rücktritt mehr in Frohhausen.«
   Doch da donnerte der Zug auch schon dröhnend und dampfend in die Halle. Die Waggontüren flogen auf. Eilige Menschen stiegen aus den Wagen, noch eiligere klommen hinein. Hurtige Träger belegten Plätze mit Handgepäck.
   Nun lehnte Ilse am offenen Fenster ihres Abteils. Walden stand mit abgenommenem Hute unten auf dem Bahnsteig.
   »Also – gute Fahrt!« rief er hinauf.
   »Ihnen auch – glückliche Reise,« antwortete sie von oben.
   Dann ging es wie ein plötzliches Erschauern durch die lange Reihe großer schwerer Wagen. Der Zug setzte sich in Bewegung.
   Ilse schaute noch einmal zurück, und da war ihr, als habe sich Waldens Gesicht in dieser Sekunde völlig verändert – woher kam das Mitleid, die Trauer, die Ungeduld, in die sie da blickte? Wozu machte er die paar raschen Schritte dem Zuge nach, als wolle er ihn anhalten? Was hatte das zu bedeuten?
   Aber schon waren sie aus der Bahnhofshalle heraus, ehe sie recht wußte, ob sie das alles denn auch wirklich gesehen hatte.
   »Seltsam,« sagte sie sinnend, »wie wir diesem Herrn von Walden begegnen! Zuerst gleich nach unserer Verlobung und jetzt wieder gleich nach unserer Hochzeit – hat es nicht etwas – etwas Schicksalhaftes?«
   »Schicksal,« antwortete ihr Mann, »ist ein Wort, das man nicht gebrauchen sollte – wir haben Pflichterfüllung und Gottvertrauen.«
   Dabei zog er aus der Tasche seines großkarrierten Mantels die Kreuzzeitung, schob sie Ilse hin und vertiefte sich dann selbst in eine Broschüre über die Maul– und Klauenseuche.
   Ilse hatte sich in die entfernteste Wagenecke gesetzt, wo seine weit vorspringenden Kniee ihr Kleid nicht streifen konnten. Sie schloß die Augen.
   Es war später Nachmittag, als der Zug in Station Sandhagen hielt. Aus den tief hängenden Wolken drieselte ein feiner kalter Regen herab auf das weite, sandige, ewig dürstende Land. Ganz flach dehnte es sich aus, nur stellenweise anschwellend zu einstmaliger Dünenbildung. Kümmerliche, nordischem Krummholz gleichende Kiefern wuchsen da kärglich, alle durch den stetig wehenden Ostwind wie in trauernder Sehnsucht gen Westen geneigt. Die Stadt selbst lag weiter landeinwärts, man sah ihre Umrisse mit dem einen mächtigen Trutzturm grau in grau am Horizonte verschwimmen.
   Einige Honoratioren waren von dort zur Station gekommen, um Herrn von Zehren zu beglückwünschen und als erste daheim erzählen zu können, wie die junge Weltsödensche Frau denn eigentlich ausschaue. Mit diesen stämmigen, vierschrötigen Herren mußte ein Glas geleert werden in dem kleinen Bahnhofsrestaurant, wo Töpfe mit verkümmerten Myrten am Fenster standen und auf der schokoladefarbenen Tapete, zwischen allerhand agrarischen Anzeigen, ein Öldruckbild der unglücklichen Königin Luise prangte, die einst in dieser Gegend auf ihrer Flucht gerastet haben sollte.
   Jochem der Kutscher und Jürgen der Knecht, beide mit arg verregneten hochzeitlichen Sträußen im Knopfloch, verluden mittlerweile die Koffer zwischen Stroh auf dem Leiterwagen und breiteten eine Plane darüber; darauf fuhr Jürgen damit ab.
   Als man dann endlich aus dem Bahnhofsgebäude heraustrat, sagte Herr von Zehren: »Aber Jochem, du hast ja den geschlossenen Wagen genommen?« »Ich dachte doch,« antwortete Jochem und kratzte sich hinterm Ohr, »von wegen die junge gnädige Frau, die doch aus der Stadt ist.« »Aber jetzt ist sie eine Landfrau, Jochem, und mit dem offenen Jagdwagen wären wir viel rascher vom Fleck gekommen.« – »Ja, zwei Stunden werden die Herrschaften bei den Wegen heute schon brauchen,« meinte der Stationsvorsteher, der Ilse in die schwere geschlossene Kutsche half. Dann stieg Theophil ein, Jochem knallte mit der Peitsche, an die er ebenfalls ein kläglich herabhängendes Sträußchen befestigt hatte, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
   »Fatale Gewohnheit der Leute, dies Biertrinken,« knurrte Herr von Zehren nach einer Weile, »ich fürchte, die Kälte ist mir auf den Magen gefallen – aber weißt du, die Stadt Sandhagen wählt mit in unserem Kreise, und die Sozialdemokraten wühlen da schon gerade genug gegen uns – drum darf man‘s eben mit den paar guten Elementen nicht verderben.«
   Nach einigen Minuten Fahrt hielt der Wagen, und durch die vordere Fensterscheibe gewahrte Ilse, wie Jochem oben auf dem Bock den Zylinder mit der Kokarde abnahm, ihn sorgfältig in eine Hutpappschachtel tat, die er hinter seinen Beinen wohl verborgen hielt und statt dessen eine Livreemütze aufsetzte. Dann ging es weiter.
   Es dunkelte rasch. Ilse konnte bald nichts mehr von der Gegend unterscheiden. Sie fühlte nur, daß der Wagen die Chaussee verlassen hatte und dann auf tiefem Sandweg schwer und langsam weiter fuhr in die Finsternis hinein. An einigen besonders schwierigen Stellen hörte sie Jochem den Pferden ein ermunterndes »Man tau, man tau« zurufen – oder war das Papa, der zu ihr sagte: »Es ist nicht so schlimm, es ist nicht so schlimm« – sie wußte nicht mehr, was wirkliches Erleben, was träumendes Erinnern war. Aber sie mußte dann doch wohl eine Zeitlang fest geschlafen haben, denn plötzlich schreckte sie auf, konnte sich zuerst gar nicht recht besinnen, wo sie war und hörte dann Herrn von Zehren sagen: »Gleich werden wir ankommen.«
   Der Wagen war in einen weiten Hof eingebogen. Auf der einen Seite sah Ilse hoch oben an einem Gebäude ein Transparent, an dem das Wort »Willkommen« in dem immer heftiger wehenden Winde unruhig hin und her flackerte, noch einmal aufflammte und dann zu erlöschen schien.
   »Das hat der Verwalter am Giebel des Wirtschaftsgebäudes angebracht,« erklärte Theophil, »drüben auf der anderen Seite wohnen wir.«
   Nun hielten sie vor dem Herrenhause. Aus der weit geöffneten Tür fiel Lichtglanz hinaus ins Dunkel, viele Menschen standen da wartend. Und Theophil stellte vor: Der Verwalter Rumkehr und seine Frau, die Hofmeister der Vorwerke, der Förster. »Na Treumann,« unterbrach er sich, »Sie haben sich ja auch mittlerweile mit der Anne Dore verheiratet?«
   »Zu Befehl, vor vier Tagen,« antwortete strammstehend der große junge Förster, von dessen gebräuntem Gesicht die blaßblonden Haare und Brauen und die blauen Augen beinahe weiß abstachen.
   »Und wo ist denn Ihre Frau?«
   Eine junge rosige Frau, die mit strahlenden Augen zu dem Förster aufschaute, trat vor.
   Wie glücklich sie aussieht! dachte Ilse, während Herr von Zehren weiter zu Treumann sprach: »Morgen komme ich raus und seh nach, wie weit Ihr in Teufelstrift seid.«
   »Morgen schon?« entfuhr es dem erstaunten Förster.
   »Gewiß,« antwortete Herr von Zehren feierlich und so laut, daß alle Umstehenden ihn hören mußten, »denn das Bewußtsein, eine Familie gegründet zu haben, muß uns erst recht mit neuem Arbeitseifer erfüllen.«
   Und dann nannte er Ilse die noch übrigen, den Gärtner, seine Gehilfen, die Gartenweiber, den Schweizer, den Schäfer, die Mamsell, den Diener, die Mädchen.
   Es waren beinahe lauter Leute aus der Gegend, die zum Teil schon lange auf dem Gute waren. Aus ihren meist wässerig blauen Augen schauten sie Ilse prüfend, aber ohne sonderliches Wohlwollen an: Sie war die neue Frau – ja – aber sie war vor allem eine Fremde, und vorläufig würde man sich ihr gegenüber abwartend verhalten. Unwillkürlich empfand das Ilse, und die wohlbekannten Gesichter der Leute daheim bei Greinchen stiegen in ihrer Erinnerung auf; sie hätte so gern ihr eigenes langgewohntes Mädchen von dort mitgenommen, aber Frau von Zehren hatte dagegen entschieden: »Fremde paßten nicht nach Weltsöden.«
   Von den Menschen blickte nun Ilse zu den Dingen. An den Türen waren Girlanden aus Tannenreisern und Herbstlaub angebracht. Georginen saßen darin wie bunte regelmäßige Rosetten.
   »Wie hübsch Sie alles geschmückt haben,« sagte Ilse freundlich.
   »Ach wir hatten ja auch draußen so viel chinesische Laternen angebracht,« erzählte der Verwalter, »aber der Wind hat sie alle ausgelöscht – es wollte gar nicht recht festlich werden.«
   »Auch die Georginen müßten viel schöner sein,« sagte der Gärtner, »aber sie sind mir zu sehr verregnet.«
   »Ja,« warf die Mamsell ein und rümpfte die Nase, »sie riechen ganz säuerlich und lassen schon die Blätter fallen – wir werden die Girlanden bald wieder abnehmen müssen – auf alle Fälle, ehe die gnädige Frau Mutter zurückkommt, sie kann das nicht sehen, wenn irgendwo auch nur ein Stäubchen liegt.«
   »Aber nun wollen wir zu Abend essen, Mamsell,« unterbrach sie Herr von Zehren, der die übrigen schon entlassen hatte, »ich möchte endlich was Warmes zu mir nehmen. Das kalte Bier von vorhin liegt mir immer noch auf dem Magen. Komm, liebes Kind!« Und damit führte er Ilse in das lange, niedrige, dunkel getäfelte Speisezimmer, in dem eine von Hirschgeweihen gehaltene Hängelampe den Eßtisch beschien. »Aber du hast ja falsch gedeckt, Peter,« wandte er sich sofort verweisend zum Diener, »hier oben an der Spitze ist doch der Platz meiner Mutter, der hat immer für sie frei zu bleiben; die gnädige Frau und ich werden rechts und links von ihr sitzen.“
   Als Peter den Tisch umgedeckt hatte, sagte Theophil zu Ilse: „Es ist besser, daß das von Anfang an so gemacht wird, Mama kömmt ja in einer Woche hierher zurück.“
   So saßen sie an jenem ersten Abend im Weltsödener Speisezimmer. Es gab da nahrhafte warme ländliche Gerichte, und Mamsell hatte rasch einen heißen Grog für Theophil gebraut. Der tat ihm wohl; er wurde sichtlich vergnügter, verlangte, daß Ilse auch davon koste, und einmal, als Peter gerade das Zimmer verlassen hatte, haschte er sogar über den Tisch nach ihrer Hand und drückte die dicken roten Lippen darauf, die wie ein Widerspruch in seinem mageren Gesichte standen. Ilse fuhr erschreckt zusammen, denn es war ihr gerade jetzt an diesem Tisch, der mit seinen Blumen und Früchten etwas beruhigend Behagliches hatte, zum erstenmal gelungen, all das aus ihrem Gedächtnis zu bannen, was sie den ganzen Tag wie ein unheimliches Gespenst hinter sich gefühlt hatte. – Sie schaute ihren Mann angstvoll an und gewahrte in seinen Augen den seltsamen Ausdruck wieder, den sie seit gestern abend kannte.
   Sie schob ihren Teller weg und wäre am liebsten davongelaufen – den ganzen weiten Weg zurück zu Papa und Greinchen – aber das war ja unmöglich. Sie kam sich plötzlich völlig verloren und hilflos vor. Nun zwang sie sich, recht langsam weiter zu essen. Das hielt wenigstens Peter im Zimmer. – Aber auch das zierlichste Spielen mit einer Treibhaustraube, das gedankenverlorenste Zerpflücken der Verveineblättchen im Wasser der Fingergläser und das sorgfältigste Abtrocknen der gewölbten rosa Nägelchen muß schließlich ein Ende nehmen.
   Herr von Zehren war aufgestanden.
   »Nun wirst du mir das ganze Haus zeigen, nicht wahr?« bat sie.
   »Nein, dazu ist es heute wirklich zu spät, liebes Kind,« antwortete er, zog ihren Arm durch den seinen und sagte schmunzelnd: »Wir wollen in unser Zimmer gehen.«
   Es war das Zimmer, das Frau von Zehren Ilse geschildert hatte. Nußbaum mit hellbraunem Rips. Über den Gardinen waren Lambrequins aus Straminstickerei angebracht, lila Stiefmütterchen zwischen rehfarben abschattierten gotischen Ornamenten; ebensolche Streifen zierten die Polstermöbel und waren alle Werke von Frau von Zehrens rührigen Händen. Auf der braun und goldenen Tapete hingen Daguerreotypen und Photographien von vielen Zehrens und Saßmackens, die, gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als die ganze bräutliche Einrichtung neu gekauft worden war, selbst auch jung und frisch gewesen sein mochten. Zwischen ihren verblaßten Gesichtern prangten verschiedene eingerahmte Bibelsprüche.
   An einer Wand aber standen ernst und feierlich die beiden in Nußbaum geschnitzten Betten dicht nebeneinander, gemischte Vorstellungen von Altar und Schlachtbank erweckend. Auf dem schneeweißen Kopfkissen des einen Bettes lag, weithin sichtbar, ein Buch.
   »Was ist denn das?« wandte sich Herr von Zehren, darauf weisend, an das derbe rothändige Stubenmädchen, das eben die Vorhänge an den Fenstern zusammenzog.
   »Die gnädige Frau Mutter hat vor ihrer Abreise das Buch auf das Bett der jungen gnädigen Frau gelegt,« antwortete das Mädchen und stapfte mit einem mühsam unterdrückten Grinsen auf dem breiten Gesicht aus dem Zimmer.
   Ilse nahm das Buch und schlug es auf. Theophil schaute neugierig über ihre Schulter hinein, und zusammen lasen sie:
   F. A. Ammon.
   Mutterpflichten.
   Darunter stand in Frau von Zehrens steiler Handschrift:
   »Meiner Schwiegertochter zu Beherzigung.«
   »Ja, ja,« sagte Theophil, »Mama ist wie das Landrecht, sie denkt vor allem an den Zweck der Ehe – na, und weißt du, kleines Ilseken, der ist eben für einen Majoratsherrn auch wirklich verflixt wichtig.«
   Ilse lernte zwei ganz verschiedene Inkarnationen desselben Theophil kennen. Da war der Theophil der Tage, gemessen und würdevoll; in Geste und Tonfall an Kanzel– und vaterländische Vereinsredner mahnend, deren Sätze auf Amen oder Hurra auszuklingen pflegen. Lehrreich und herablassend nannte der sie: »Liebes Kind.« – Und daneben gab es einen ganz anderen Theophil, jenen, der, wie manche Kakteen– und Violensorten, nur mit einbrechender Dunkelheit sein wahres Wesen offenbarte. Sobald die ihm Halt verleihende Tagesgewandung von ihm abglitt, gingen seine ungelenken Glieder wie ausgerenkt auseinander, und mit dem allzu kleinen Kopf auf dem allzu langen Halse und den abschüssigen Schultern glich er dann in seiner Dalbrigkeit einer verliebten Giraffe. Mit heißem Atem in ihr Ohr flüsternd, nannte sie dieser Theophil: »Mein Lutschbonbonchen!«
   Ja, immer genauer lernte sie die beiden so verschiedenen Inkarnationen kennen! Lernte auch beobachten, daß, je ungemessener der eine Theophil sich seinen Gefühlsäußerungen hingegeben hatte, der andere um so feierlicher des nächsten Tages war. Als schäme er sich nachträglich dessen, was er einige Stunden vorher doch Liebe genannt. Als fürchte er, sich durch dies Gefühl zu sehr an Ilse zu verlieren und etwas von der Autorität einzubüßen, die ihm als Mann und Zehren zustand, wie um das Gleichgewicht wieder herzustellen, sprach er dann besonders viel über Pflicht. Von den Pflichten der Regierung zur Erhaltung des so notwendigen Standes der Großgrundbesitzer, von den Pflichten des Geistlichen gegenüber dem Kirchenpatron, von den Pflichten all seiner eigenen Angestellten hatte er ja stets gern geredet; jetzt aber, wo er sich für »eine junge ungefestigte Frau verantwortlich fühlte«, sprach er am allermeisten über »die Pflichten des Weibes«. – Er wußte deren eine ganze Liste, und sie bedeuteten eigentlich nichts Geringeres, als ein völliges Aufgeben jeglicher eigenen Persönlichkeit. Die Selbstauflösung als höchste sittliche Forderung. Das Besessenwerden des einen Menschen durch den anderen, der passive Daseinszweck, dem sich Ausleben dieses anderen zu dienen. – Geschmack, Ansichten, Stimmungen, Sehnsuchten der Frau waren in der Zehrenschen Weltordnung wertlose Faktoren. Die Aufgabe des Weibes bestand darin, möglichst rasch und auf allen Gebieten zur gänzlichen Unterordnung und Anschmiegung an den lebenslänglichen Herrn, den Mann, zu gelangen. – Mit weihevollem Augenaufschlag nannte Theophil dies alles zusammenfassend »das Aufgehen in den Interessen des Mannes«. – Als Gegenleistung stellte er Ilse den etwas vagen Begriff in Aussicht, »sie in Ehren halten zu wollen«, wie es einem deutschen Edelmann gezieme und schon Tacitus an den alten Germanen rühme.
   Es war kein leichter Kursus, den die kleine Ilse bei diesem Lehrmeister durchmachte!
   Und doch sagte sie sich, daß alles, was die Tage brachten, vielleicht zu ertragen gewesen wäre. Aber sie lernte ja auch den Ekel vor sich selbst kennen und die brennende Sehnsucht, irgendeinen Winkel auf Erden zu besitzen, wo man sich gegen jedermann einschließen und wieder »ich« sein darf. Das späte Einschlafen bei verhaltenem Schluchzen kannte sie, den immer wiederkehrenden Traum, daß es ja alles gar nicht wahr sei, und dann das Entsetzen beim Erwachen, es doch alles wahr zu finden.
   »Nur noch Pflichten« hatte sich die kleine Ilse einst gewünscht, nach jener ersten Lebensenttäuschung, die ihrer ahnungslosen Jugend beschert worden – wenige Monde nur war das her, heut aber dünkte sie ihr ganzes damaliges Empfinden in graue Fernen gerückt, heut, wo sie erfahren, daß es Dinge gibt, die, sobald sie Pflicht scheinen, Erniedrigung bedeuten. – Sie sagte sich dies alles aber nicht gleich so deutlich, denn während dieser ersten Zeit ging sie wie verstört umher in dem neuen fremden Leben, erst allmählich dämmerte es in ihr auf, daß sie grausam betrogen worden war. »Hätt ich das alles gewußt, ich würde nie ja gesagt haben,« dachte sie und erschrak, daß sie es dachte. Denn ach, wie sollte sie es nur anfangen, dies Leben zu ertragen, das eigene Unwissenheit und Irrtum anderer in falsche Bahnen gelenkt und das so unabsehbar lang vor ihr zu liegen schien?
   Die verregneten chinesischen Laternen, die Festgirlanden mit den säuerlich riechenden rosettenartigen Georginen waren abgenommen worden. Mamsell hatte ein großes Reinmachen veranstaltet; in Holzpantinen wateten dabei die Mädchen durch das Seifenwasser, das sich über die Steinfliesen des Flures ergoß; mit Waschen und Wischen, Schütteln und Klopfen wurde der Dämon Staub vertrieben. – Und dann war die gnädige Frau Mutter zurückgekehrt. Theophil hatte sie von Sandhagen abgeholt. Nun war der Platz am oberen Ende des Eßtisches wieder besetzt. Und nicht er nur. Frau von Zehren füllte das ganze Haus. Sie füllte es mit ihrer Stimme und mit ihrer rastlosen Emsigkeit. In die verborgensten Winkel drangen ihre kleinen tückischen Augen, und vom eigenen Sohn bis zur letzten Magd im Schweinestall prüfte ein Jeder, ob nicht geheime Schuld sein Gewissen drücke.
   Ilse mußte der Schwiegermutter überall folgen, treppauf, treppab, vom Boden bis zum Keller, durch die Wirtschaftsräume, Vorratskammern, Waschküche und Ställe. Für den nahenden Winter gab es da so viel vorzubereiten, als ginge man einer Belagerung entgegen, lauter Dinge, von denen Ilse im kleinen städtischen Haushalt Greinchens nichts geahnt hatte. »Ahnungslos« war ja überhaupt das Wort, das Frau von Zehren in ihrem Innern oft wiederholte, als endgültiges Urteil über die kleine zierliche Schwiegertochter, mit den großen erschrockenen Augen. Sie gab sich auch nicht viel Mühe, Ilse zu unterweisen, denn es war so viel leichter, die Dinge, wie seit Jahren, mit Mamsell selbst weiter zu besorgen. Aber dabeistehen sollte Ilse, darin lag ein für ungefestigte Jugend heilsamer Zwang; sie sollte nicht etwa persönlicher Anlage folgend, eine eigene unabhängige Tätigkeit suchen, denn das wäre der gestrengen Frau von Zehren als Zeitvergeudung erschienen, als Mißachtung des geheiligten Begriffes »in den Interessen des Mannes aufzugehen«.
   So schaute denn Ilse zu, wie Mamsell im Obstkeller Birnen und Äpfel auf langen Borden ausbreitete und aus den Mottenkisten Winterdecken hervorholte, die weithin einen tränentreibenden Duft von Naphthalin, Pfeffer und Tabak verbreiteten. Eine unheimliche Handlung des häuslichen Kultes, der Ilse mit fasziniertem Interesse folgte, war auch das Zerhacken der großen Zuckerhüte in unregelmäßige Stücke; sie zitterte bei jedem Schlag um Mamsells Finger, und das Knirschen des Zuckers gemahnte sie an Eis, aus dem sich Nordpolfahrer Hütten bauen. Aber das Schlimmste dünkten Ilse doch die Schlachttage – da hob sich ihr das Herz, wie damals in der Geschichtsstunde, wo die Menschenopfer der Azteken geschildert wurden, ein dunkler Strudel tat sich vor ihr auf, der sie unentrinnbar hinabzog – sie konnte einfach nicht dabeibleiben.
   Und das also waren die großen Pflichten? Sie sollten das Leben füllen? sie und die Schrecken dunkler Stunden?
   Ob die Männer vielleicht höhere, ernstere Aufgaben besaßen? Sie hatten doch alle soviel von »der Familie« gesprochen, in dem bloßen Wort schon hatte Ruhmesklang gelegen. Und Ilse suchte mehr von der Familie zu erfahren.
   Treueste Hüterinnen dieses Wissens vom Zehrentum, seinen Anfängen, Kämpfen und Zielen, waren anerkanntermaßen die beiden alten Tanten, Askania und Lidwine, die, wenn sie nicht im Stift zum heiligen Dornenkranze weilten, in einem kleinen Häuschen am Ende des Weltsödener Gartens ihr stilles Dasein führten. Es war dies eigentlich Wittumhaus, aber Frau von Zehren hatte es den Schwägerinnen überlassen, da sie ja bei dem Sohn im Haupthaus wohnte. Die beiden verhutzelten Fräulein, mit den flachen Busen und schwarzen Kleidern, pflegten von den toten Zehren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts wie von jüngst verstorbenen Verwandten zu reden, über deren Verlust es schwer hält hinweg zu kommen. Herren, die, in Allongeperücke, friderizianischem Haarbeutel oder prall anliegenden Uniformen der Freiheitskriege, aus wurmstichigen Rahmen von den Wänden herabblickten, wurden Ilse als der teure Gisbert, der unvergeßliche Job, der früh abberufene Kuno genannt. Das Interesse, das die hübsche junge Nichte für all die alten grauen Histörchen über diese Längstentschwundenen zeigte, schmeichelte den beiden Stiftsdämchen. Aber wie sehr Ilse auch fragte und lauschte, besonders Hervorragendes und Begeisterndes konnte sie nicht entdecken. Die Familie war eine sehr alte, aber sie war stets in ereignisloser Mittelmäßigkeit stecken geblieben. Mittlere Zivil– und mittlere Militärämter hatten die Zehren gelegentlich bekleidet und dazu mittelgroße Güter besessen. Eine gewisse Größe lag nur darin, daß sie dies seit so vielen Jahrhunderten getan hatten. Mit der gleichen Konsequenz hatten sie auch, soweit es in dieser nicht reichen Gegend möglich gewesen, seit altersher stets getrachtet, wohlhabende Mädchen zu heiraten – aber auch darin waren sie über ein gewisses unauffälliges Mittelmaß, das Neigung als Motiv immer noch glaubhaft erscheinen ließ, nie hinausgekommen. Es war sogar ein charakteristischer Zug des Zehrentums, im Biedermannston von der Liebe zu reden, auf der sich alle Zehrenschen Ehen aufbauten – man glaubte es ihnen schließlich beinahe, daß sie ideal und uneigennützig angelegte Edelnaturen seien, und es war sicher nur eine Folge des besonderen, auf ihnen ruhenden Segens, daß ihre Gefühle sich nie finanziell Unwürdigen zuwandten.
   Auf dem Gottesacker, rings um die Weltsödener Dorfkirche, lagen alle seit dem dreißigjährigen Kriege gestorbenen Zehren begraben, und noch ältere Leichensteine, die nach jener allgemeinen Verwüstung wieder aufgefunden worden, waren da nachträglich aufgestellt. – Nach dem Gottesdienst, bei dem allsonntäglich der himmlische Segen auf »den Patron dieser Kirche und sein ganzes Haus« herabgefleht wurde, wobei die Gemeinde verstohlen zum Zehrenschen wappengeschmückten Gestühl blickte, und Theophil sich darin würdevoll und doch demütig in ganzer Länge aufrichtete, – nach solcher Erbauung blieben die Tanten Askania und Lidwine gern an den Gräbern stehen und erklärten Ilse die verwitterten alten Inschriften, während die herbstlichen Birken– und Ebereschenblätter auf sie niederrieselten. – Da lag Gudulla Borgwedde, die mit Claus Caspar verheiratet gewesen – deren Geld hatte zum Wiederaufbau des Weltsödener Herrenhauses beigetragen; Radegunde Ramschwagin, Hans Ellarts Frau und Erbtochter auf Vorwerk Todtenbehr, das sie in die Familie gebracht; Hetelwine Eptingen, Tam Segewins Ehegemahl, mit deren Mitgift Dürrenheide urbar gemacht worden war. Und so ging es weiter – eine lange Reihe von Frauen, deren Geld in den hungrigen, sandigen Boden gesteckt worden war, ohne ihn fett machen zu können, und die nun längst selbst in ihm schliefen. Jede von ihnen hatte, zu ihrer Stunde, der Bereicherung und Fortpflanzung der Familie Zehren gedient und war von ihr aufgesogen worden, ohne doch ihre magere Mittelmäßigkeit zu wandeln.
   Und im Rieseln der herbstlichen Blätter sann Ilse nach über all diese toten stillen Frauen, sann nach, wie wohl ihr Leben gewesen, und ob auch sie morgens die Angst vor dem Tage, abends die Furcht vor der Nacht gekannt?
   Eine Ecke des Kirchhofs war für diejenigen Zehren freigehalten, die künftighin noch sterben würden. Askania und Lidwine hatten sich hier längst schon ihre beiden Plätzchen ausgesucht und sprachen mit solchem Gleichmut von der Zeit, wo sie, in den blank getragenen Schwarzseidenen, da liegen und auf die Auferstehung warten würden, als handle es sich um eine Reise, für die sie im Eisenbahnkupee gute Eckplätze belegt hätten. – Ilse aber erschauerte angstvoll im rauhen Herbstwind bei dem Gedanken, auch einst hier auf dem Kirchhof zu liegen. Sie konnte es sich nicht vorstellen, daß ein mit dem Zehrenschen und ihrem eigenen Wappen geschmückter Grabstein auf ihr lasten würde, und künftige Kirchhofsbesucher sich über die Inschrift beugen und dann sagen würden: »Ilse, des Theophil Frau – ach ja, mit deren mütterlichem Erbteil ist damals wüste Teufelstrift angeschont worden.« – Aber es war nicht so sehr der Begriff des Totseins, gegen den sich ihr junges Leben sträubte, als die Vorstellung, mit diesen Menschen, denen sie sich so wesensfremd fühlte, für alle Zeiten vereint schlummern zu müssen.
   Unter dem neuesten der Grabsteine ruhte Gotthold, Theophils älterer Bruder, durch dessen Tod diesem Weltsöden zugefallen war. Er hatte eine Witwe mit neun Töchtern hinterlassen. Im Alter von zweiundzwanzig bis herab zu sechs Jahren standen die Nichten, denn mit einem ans Heroische grenzenden Eigensinn hatte die jetzt verwitwete Schwägerin, Mechtildis, sich immer neuem Versuche hingegeben, ob nicht doch noch der ersehnte Sohn und Erbe ihr entsprießen würde. – Aber statt seiner war Tochter auf Tochter gefolgt, und nun, nach ihres Mannes Tode, wohnte sie mit ihnen allen, kümmerlich und verbittert, in einem früheren Pächterhaus, das sie von Theophil mietete. Es waren dies die Mädchen, die Ilse zuerst als Brautjungfern bei ihrer Hochzeit gesehen, groß und eckig, mit allzu hohen Stirnen unter straff zurückgekämmtem weißblonden Haar, alle neun litten sie leicht an geröteten Augen oder entzündeten Ohren und Lippen, stießen beim Sprechen mit der Zunge gegen die Zähne und schienen um Mund und Nase stets leicht geschwollen zu sein. Aber sie trugen ihre Häßlichkeit wie eine Schickung Gottes, gegen die anzukämpfen frevelhafte Auflehnung sein würde.
   Aus diesem Hause wehte Ilse eine besonders kühle Luft entgegen. Den Augen der bei der ständigen Pflege ihrer Töchter bitter grübelnden Mechtildis erschien die junge Schwägerin als die sie verdrängende Siegerin, die nun sicher den Erben gebären würde, der ihr selbst versagt geblieben. Bei jedem Besuch musterte sie sie verstohlen und erkundigte sich mit krankhaft regem Interesse nach Ilses Gesundheit; es zog die blutleere, ausgemergelte Frau immer wieder hin zu der Nachfolgerin auf Weltsöden, und ob sie gleich nicht wollte, konnte sie es doch nicht lassen, stets von neuem in all diesen verschleierten Fragen zu spüren. Sie hätte es nie zugegeben, und es konnte ihr selbst ja auch nichts mehr nützen oder schaden – aber in den tiefsten Gründen ihres Wesens erblickte sie in jedem schwindenden Tag, der das Kommen eines Zehrenschen Erben nicht näher brachte, eine Genugtuung für sich, die töchterreiche Frau.
   Und da waren noch andere Augen, die lauernd zu Ilse hinblinzelten und in unbewachten Augenblicken feindlich auf ihr ruhten. Fräulein von St. Pierre, die Hofdame bei einer kleinen Fürstlichkeit und Cousine von Mechtildis war, verbrachte bei dieser häufig ihre Urlaubszeiten. Theophil, der eckig magere, hatte sich früher von diesem reifen Mädchen mit der glatten weißen Haut und den behaglichen Rundungen jahrelang verschwiegen anschwärmen lassen. Es war ihm das ein wohlig umschmeichelndes Gefühl gewesen, etwa wie das Bewußtsein, daß irgendwo ein weicher Lehnsessel stände, stets bereit, ihn mit geöffneten Armen zu umfangen. Aber er ließ sich nicht umfangen – höchstens, daß es mal zu einem verstohlenen Händedruck gekommen – im Gegenteil betonte Theophil damals, daß er als jüngerer Sohn an Heiraten gar nicht denken könne. Als ihm dann aber durch des Bruders Tod Weltsöden zugefallen war, hatte Fräulein von St. Pierre bestimmt gehofft, daß die magere Hand, die sich bisher nur im verborgenen von ihren eigenen wohlgepflegten Fingern hatte streicheln lassen, nunmehr offen nach ihr greifen würde, um sie aus allen bitteren Abhängigkeiten des Hoflebens hinaus in die süße Geborgenheit einer standesgemäßen Ehe zu führen. – Aber es widersprach allen Zehrenschen Grundsätzen, ein armes Mädchen zu heiraten, und Theophil verstand es, sein Herz zu stählen und Grundsätzen wenigstens treu zu bleiben. – Fräulein von St. Pierre war zwar gleich nach des seligen Gotthold Tod zu der trauernden Mechtildis geeilt, doch Theophil vermied alle Gelegenheiten, in den verschwiegenen Alleen des Parks, oder an dem von trautem Zusammenleben summenden Teekessel, mit der appetitlich molligen Hofdame allein zu sein. Mit weihevollem Augenaufschlag und dem abgeklärten Lächeln der Entsagenden sprach er von der nicht näher definierten »Pflicht« als einzigen Richtschnur im Leben eines Majoratsherrn. – Bei seiner bald darauf erfolgenden Vermählung richtete sich Fräulein von St. Pierres Enttäuschung dann auch nicht gegen Theophil, in dem sie ein Opfer sah, sondern gegen die ahnungslose Ilse, die ihr als kokette Herzensräuberin erschien. Denn Fräulein von St. Pierre dachte in Quadersteinen; es gab kein Rütteln, das ihre einmal gefaßten Anschauungen verschoben hätte; sie lebte in einer Welt unumstößlicher Begriffe, wie es ihr als einer Hofdame wohlanständig erschien: Man war Herr oder Dame, hoffähig geboren oder nicht, gut oder böse. Ilse ward ungesehen und ungehört den Bösen zugezählt, und Fräulein von St. Pierre widmete ihr jenen gefährlichen Haß, dessen geistig Unbemittelte fähig sind.
   Ilse empfand, dunkel und ohne sich noch die Gründe recht zu erklären, das Feindliche, das sie umgab. Zuweilen, wenn sie zwischen ihrer Schwiegermutter, Mechtildis und Fräulein von St. Pierre saß, war ihr, als sei die Luft mit lauter spitzen Glassplittern erfüllt, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Dann überkam sie ein Gefühl des Frostes und der Armut, daß sie hätte betteln mögen – aber um was, wußte sie selbst nicht recht – vielleicht um jenes kostbarste aller Geschenke, ein bißchen Zärtlichkeit.
   Die gab ihr niemand. Theophil am allerwenigsten. Er kannte nie fremde Sehnsucht, nur immer eigenes Verlangen. – Ilse erinnerte sich später, daß sie in jener ersten Zeit, wo sie sich oft wie gestrandet vorgekommen, bei einbrechender Dämmerung einmal allein in ihrem Zimmer gesessen hatte, das Herz schwer von innerer Verlassenheit. Da war Theophil eingetreten, und unwillkürlich und unüberlegt hatte sie ihm die Hand hingehalten. Sie empfand ja solch ein Bedürfnis nach leisen freundlichen Worten, nach etwas Musik des Herzens! – Aber statt dessen war es dann alles so garstig gewesen! – Gab es denn wirklich zwischen Mann und Frau immer nur diese eine Tonart? Durfte das sein, daß ein Mensch den anderen zu einer willenlosen, ihm gehörenden Sache erniedrige?
   Er aber, der vor der herrischen Mutter in lebenslänglicher schwächlicher Nachgiebigkeit verharrte, fand einen seltsamen Reiz darin, sich selbst immer wieder zu beweisen, daß er dieses scheuen, zag zurückschreckenden Wesens Gebieter sei.
   So glitten die Tage dahin und reihten sich aneinander zu Wochen und Monden.
   In wüste Teufelstrift wurde fleißig gearbeitet. Vom Morgengrauen an war Förster Treumann mit seinen Leuten draußen, wenn sie in der Frühe kamen, lagerte der dichte Nachtnebel noch bläulich kalt und alles verbergend über der Erde; die Arbeiter tappten hinein und verschwanden schon nach ein paar Schritten in dem wehenden Grau, wie Schiffe auf nebliger See. Trieb aber ein Lufthauch den Dunst auseinander, daß der Boden für einen Augenblick dazwischen sichtbar wurde, so erhöhte dies noch den Eindruck unheimlicher Meerfahrt, denn langhin rollenden Wogen gleich schien dann die gelbbraune Sandfläche sich bis in weite Fernen zu ziehen.
   Nach Tische pflegte Theophil seine Mutter und Ilse im kleinen Jagdwagen hinauszufahren. Dann stand man draußen eine Weile herum, und immer wieder wurden dieselben Dinge mit dem Förster besprochen. Boden siebenter Klasse war stellenweise Wüste Teufelstrift! Da mußten die schlimmsten Partien erst mal mit Besenpfriem angepflanzt werden, und wo der Sand gar zu sehr verwehte, wurden Spriegelzäune gebaut, ihn zu halten. – Bessere Teile bepflanzte man gleich mit zweijährigen Bankskiefern. Zwei Männer mit der Kulturleine schritten voraus, steckten sie mit Pflöcken an beiden Enden fest und bezeichneten dann die Stellen, wo die jungen Pflänzchen, anderthalb Meter auseinander, hinkommen sollten. – Ihnen folgten zwei Reihen Frauen; die ersten gruben mit Spaten die Löcher, die zweiten pflanzten die Bäumchen schnell ein, daß die geöffnete Erde nicht noch mehr austrockne. – Auf einer anderen weiten Strecke dagegen wurden jetzt nur die Löcher gegraben, daß sich während des Winters der Schnee darin sammle, und im Frühjahr gepflanzt werden könne. – Eine dritte Schonung endlich ließ Theophil mit besonderer Sorgfalt anlegen. Dort wurde gute Erde in Wagen angefahren und dann mit Karren in Haufen zwischen die Reihen geschüttet, und in jedes aufgegrabene Loch taten die Frauen etwas von der schönen dunklen Erde um die Wurzeln des Bäumchens, das sie pflanzten. – Das war das teuerste Verfahren, aber dank Ilses mütterlichem Erbteil konnte man sich solchen Versuch wohl mal leisten.
   So wurde auf Wüste Teufelstrift mit den Bäumchen experimentiert, und es gab auch da solche, denen von Anfang an, ohne ihr Verdienst und Zutun, günstigere Lebensbedingungen geboten wurden als anderen.
   »Werden das denn wirklich jemals schöne große Bäume werden?« fragte Ilse, auf die kümmerlichen Pflänzchen weisend, den Förster.
   Der zuckte die Achseln. »Die Bäumchen an sich sind nicht schlecht, gnädige Frau,« antwortete er, »aber auf solchem Boden ist auch von der anspruchslosesten Pflanze nicht viel zu erwarten. Nach sechs Jahren können diese hier ungefähr einen Meter hoch sein, falls wir bis dahin nicht zu arge Dürre haben, und sie nicht die Schütte kriegen.«
   »Nun und dann später?«
   »Ja, – nach zwanzig Jahren muß man sie abtreiben, aber in der Zwischenzeit haben sie doch vielleicht den Boden etwas gebessert, durch ihren Schatten, die angesammelte Feuchtigkeit und den Nadelabfall.«
   Zwanzig lange Jahre hier im Sande stehen, nur um den Boden zu verbessern für die, so nachher kommen würden! Der achtzehnjährigen Ilse klang das endlos lang. Sie fröstelte im matten Schein der sinkenden herbstlichen Sonne. – War das wirklich des Lebens ganzer Zweck und Inhalt? ein Jeder immer nur Vorbereitung für einen Künftigen? – Gab es nichts Höheres, wie nur geduldig still halten an dem Platze, den Zufall oder eigene Blindheit bestimmt? – Pflichten waren ihr früher, halb unbewußt, stets als schwer zu vollbringende, heroische Taten erschienen, und nun dämmerte es vor ihr auf, daß, in der Jugend, schwerer als alles Tun, das tatenlose Verzichten ist.
   Eines Nachmittags, als Theophil seine Mutter und Ilse wieder einmal nach Wüste Teufelstrift kutschiert hatte, trafen sie dort des Försters junge Frau.
   »Schau mal an,« sagte Frau von Zehren, »die Anne Dore hat es ohne ihren Mann nicht aushalten können und ist ihm nachgelaufen.«
   »Ja – es gibt auch solche Frauen,« murmelte Theophil.
   Die Anne Dore war rot und verlegen geworden, und Treumann entschuldigte ihre Anwesenheit.
   »Nun, wenn sie Sie nur nicht von der Arbeit abzieht …«, meinte Theophil herablassend.
   Während er dann mit seiner Mutter und dem Förster den Fortschritt der Arbeiten besichtigte, blieben die beiden jungen Frauen zurück.
   »Mein Mann ist jetzt schon von früh ab hier draußen,« sagte Anne Dore, »da wollt ich doch mal nach ihm schauen – die gnädige Frau werden das sicher begreifen.«
   »Sind sie wirklich so gern mit ihm zusammen?« fragte Ilse.
   »Na, das will ich meinen!« antwortete Anne Dore lachend, »den ganzen Tag und – die ganze Nacht!« Und dann setzte sie hinzu: »Dazu heiratet man doch!«
   Ilse sah sich um, ob niemand sie hören könne, und ohne die junge Försterfrau anzublicken, fragte sie dann eilig und leise: »Wußten sie denn … was das eigentlich heißt … sich zu verheiraten?«
   »Na gewiß doch,« antwortete die andere, »und es war oft schwer genug zu warten während unserer langen Brautzeit – bis er die Stelle hatte, auf die hin wir heiraten konnten – na, aber jetzt! —«
   Aber Anne Dore lief ihrem Mann den langen Weg bis Wüste Teufelstrift nicht mehr häufig nach, sie sah blaß und müde aus. Einen Sonntag nach dem Gottesdienst rief Frau von Zehren sie beim Verlassen der Kirche zu sich und stellte eine Art Verhör mit ihr an, während Treumann abseits stehen blieb und halb stolz, halb schuldbewußt den Jägerhut zwischen den Fingern drehte. Nachdem sie dann Anne Dore mit gnädigem Kopfnicken entlassen halte, trat Frau von Zehren wieder zu Theophil und Ilse, die am verschneiten Grabe des töchterreichen Gotthold auf sie gewartet hatten. »Bei Anne Dore ist‘s soweit,« sagte sie unsanft zu Ilse gewandt, »die kriegt ein Kind – hat zur selben Zeit geheiratet wie ihr – ja, so eine Frau kann das – na, ich hoffe bestimmt, du machst es ihr bald nach.«
   Aber trotz dieses Wunsches, der wie ein Befehl des Zehrenschen Familiengeistes klang, ergab sich für Ilse keine Veranlassung, die in F. A. Ammons Werk erhaltenen Ratschläge anzuwenden. – Und es begann allmählich eine erbitterte Stimmung in Weltsöden zu herrschen. Die rund herum auf ihren Gütern sitzenden Vettern fingen an Theophil leise zu necken, wenn sie ihm bei Jagden, Kreistagen oder Familienvereinigungen begegneten: »Na, heiliger Theophil, was Neues zu Haus?« – Theophil kehrte dann mit dem Ausdruck beleidigter Würde heim; bisweilen hüllte er sich in langes mürrisches Schweigen, oder er gab Ilse zu verstehen, daß sie sein Ansehen in der Familie mindere. Bei seiner Mutter beschwerte er sich, als würde ihm vorenthalten, worauf er ein gutes Recht habe.
   Frau von Zehren aber konnte und wollte es nicht glauben, daß auch in der Ehe dieses ihres zweiten Sohnes der heiß ersehnte Erbe ausbleiben könne. Damit wäre ja die älteste Linie der Familie ausgestorben und Weltsöden, dem sie die Kräfte ihres ganzen Lebens geweiht hatte, würde übergehen auf den Kummerfelder Zweig! So etwas konnte der liebe Gott doch nicht zugeben? – Vor allem aber würde sie selbst es nicht zugeben, man konnte dem lieben Gott nicht alles überlassen, was auch Pastor Rockstroh darüber sagen mochte, es mußte Ihm manchmal helfend beigesprungen werden – dazu gab es ja Ärzte auf der Welt.
   So wurde der alte Arzt aus der Kreisstadt, der seit vielen Jahren die jungen und alten Zehren behandelte, nach Weltsöden berufen.
   An der ganzen Person des alten Dr. Liebetrau war der auffallendste Teil sicher seine Nase. Vom feurigen Rosenrot bis zum tiefsten Violett erglühend, thronte sie in seinem Gesicht wie eine Herrscherin, umgeben von einem Hofstaat seltsamer kleiner Protuberanzen; zwei Wäldchen schwarzer Borsten erstreckten sich aus den breiten Nasenlöchern bis herab zu den finsteren Forsten des Schnurrbarts. Mit Schnupftabak, den er in einer mit dem Schattenriß Nettelbecks gezierten Horndose stets bei sich führte, bediente Dr. Liebetrau diese Nase, wie eine Weihrauch heischende Gottheit, und er schneuzte sie in rote Foulard-Taschentücher, auf deren türkischen Mustern die Spuren des Tabaks wenig sichtbar waren.
   Zitternd erwartete Ilse den Doktor. – Wie sehr sehnte sie sich doch nach der Zeit zurück, da sie von Papa und Greinchen so wohl gehütet worden war, daß sie nichts von des Lebens Wirklichkeiten geahnt hatte! Und welch bitteres, dem Haß ach so verwandtes Gefühl, stieg doch bisweilen in ihrer geheimsten Seele gegen den auf, der ihr Traumdasein zerstört und an seine Stelle nur Grauen und Widerwillen gesetzt. Die ganze Welt erschien ihr heute angefüllt mit schauerlichen physischen Dingen. Tierische Triebe lagen als Ursprung hinter allem Lebenden; die ganze Schönheit der Welt, an der sie sich einst kindlich gefreut, war Trug und Blendwerk, sie entstieg ja eklen Tiefen. Manchmal wurde die arme kleine Ilse von solchen Bildern verfolgt wie von Dämonen, daß sie vor sich selbst schauderte. Wo waren all die zarten schönen Gebilde, die ganze große Sehnsucht ihrer Mädchentage hin verweht? – Dann zog sie sich voll Scham und krankhafter Überempfindsamkeit in sich selbst zurück, beneidete die Schnecken um ihr Gehäuse, in das sie sich allzeit verkriechen können und schuf sich ein Ideal einsamer Askese. Als Wehr gegen all das, was sie als Erniedrigung empfand, träumte sie von Nonnentum, von Welten ätherisch geschlechtsloser Wesen – und vernahm doch schon in dem verborgensten Innern ihres Wesens eine Stimme, die leise flüsterte: Du willst verneinen, was du ja noch gar nicht kennst.
   Und nun sollte dieser Arzt kommen und würde an all das rühren, was sie so gern vergessen wollte.
   Aber Dr. Liebetrau erwies sich als gar nicht erschreckend. Mit den kleinen klugen Äuglein, die wie vergessen zu beiden Zeiten der heroischen Nase lagen, schaute er Ilse gutmütig an. »Also man kann es nicht erwarten, daß wir ein eigenes Wickelkind haben?« sagte er, »sind ja selbst beinahe noch eins!«
   Und als er nachher von Frau von Zehren eifrig nach etwa notwendigen Kuren oder Operationen ausgeforscht wurde, antwortete er: »Tun Sie vorläufig gar nichts. Lassen Sie das junge Frauchen erst mal heranwachsen und zu Kräften kommen. Es ist ein zartes Pflänzchen. Und wozu auch die Ungeduld? Warten Sie‘s doch ruhig ab – Rom ist auch nicht an einem Tage erbaut worden.«
   »Aber bester Liebetrau,« entgegnete Frau von Zehren, »ich hab doch mein Lebtag noch nicht gehört, daß zu so was viele Tage nötig seien, und Sie reden heut ganz anders wie neulich, wo ich entdeckte, daß die Küchendörte ein uneheliches Balg erwartet – da meinten Sie, ich solle ihr verzeihen, denn so ein Unglück sei doch nun mal gar so rasch geschehen.«
   Um aber Frau von Zehren die Beruhigung zu gewähren, daß doch etwas geschähe, um das Kommen des künftigen Erben zu beschleunigen, verordnete Dr. Liebetrau viel Ruhe und gute Ernährung und verschrieb Eisen und Arsenikpillen. Während er dann den mit Nettelbecks Bild gezierten Deckel der Horndose aufklappte und seiner Nase das Tabaksopfer darbrachte, sagte er: »Ich halte es übrigens wirklich für ein Unglück, so sehr jung ein Kind zu bekommen.«
   »Aber bester Liebetrau,« rief Frau von Zehren, »es gibt doch viele Frauen, die nicht älter sind wie meine Schwiegertochter und die doch gesunde Kinder kriegen!«
   »Ich dachte nicht nur an die physische Seite,« antwortete der alte Arzt, »aber vom Gefühlskonto geht solcher allzu jungen Mutter leicht das Beste verloren, denn sehen Sie, wo keine Zeit zu wahrer Sehnsucht gewesen ist, da kann nachher auch nicht die rechte Freude sein.«
   »Aber ich würde mich doch freuen,« meinte Theophil würdevoll.
   Einstweilen freute sich nur die Schwägerin Mechtildis. Über ihre bleichsüchtigen, verhärmten Züge huschte jetzt bisweilen der Schatten eines triumphierenden Lächelns. Sie fragte und forschte nach alledem mit der spürenden Neugier der ausgemergelten Frau, die ihr Leben zwischen Schwangerschaften und Niederkünften verbracht; auch ihre Mägde mußten sich bei denen des Herrenhauses stets von neuem erkundigen, und sie wußten bald, daß sie einem sonst verdienten Tadel leicht entgingen, wenn es ihnen nur gelang, rechtzeitig hinzuwerfen: »Na, bei der jungen Gnädigen drüben ist‘s noch immer nichts.«
   »Wie sehr begreife ich deinen Kummer, liebste Mama!« sagte Mechtildis mit süßsauren Lippen zu Frau von Zehren, als diese sie eines Nachmittags zum Kaffee besuchte. »Bei mir konnten wir doch bis zuletzt hoffen – neunmal im ganzen – und wer weiß, was noch geschehen wäre, wenn mir der Himmel meinen teuren Gotthold nicht so frühzeitig entrissen hätte – aber hier, wo so gar nichts ist …«
   Mechtildis hatte gerade ihrer Tochter Adelgunde, die mal wieder an geschwollenen Drüsen litt, ein mit Salbe beschmiertes Läppchen hinter das Ohr gelegt und schickte sich nun an, ihrer Tochter Hugoline Tropfen in die entzündeten Augen zu träufeln. Sie kam aus solchen Verrichtungen nie heraus bei den vielen stets an irgend etwas kränkelnden Mädchen.
   »Ja, Mechtild,« antwortete Frau von Zehren und schaute den häßlichen Enkelinnen nach, die das Zimmer nach vollendeter Operation verließen, »ja, neunmal war es – aber wenn man‘s heut bedenkt, wär das alles doch besser nicht gewesen – denn was soll aus den vielen armen Mädels werden?«
   Doch da fuhr die sanfte, farblose Mechtildis auf, als ob in ein blasses, abgebrühtes Suppenhuhn plötzlich Leben wiederkehre, und sie sagte mit erregter Stimme und brennenden Flecken auf den Wangen: »Nun, meine Töchter sind alle im adligen Stift vorgemerkt und können da eintreten – sollte Ilse dagegen Töchter kriegen, so beständen die die Ahnenprobe freilich nicht.«
   »Du meinst wohl wegen ihrer Mutter?« fragte aufschauend Fräulein von St. Pierre, die sich gerade auf Urlaub vom Hofdienst bei Mechtildis aufhielt, »wie war doch gleich die Geschichte?«
   Fräulein von St. Pierre kannte die Geschichte aufs genaueste, aber es freute sie, immer von neuem etwas zu hören, was Ilse in ihren Augen irgendwie herabsetzte, und Mechtild tat ihr den Gefallen. Eifrig wiederholte sie: »Nun ja, Ilses Mutter war doch nur die Tochter der Sängerin Ingeborg Thor Hacken, die mit dem Herzog Bernhard von Mömpelgarde morganatisch verheiratet gewesen sein soll.«
   »Das ist allerdings nichts Stiftsfähiges,« sagte Fräulein von St. Pierre und rümpfte die Nase. Mit überlegenem Lächeln betrachtete sie dann ihr eigenes Bild in dem aus drei Stücken zusammengesetzten Mahagoni-Trumeauspiegel zwischen den beiden Fenstern von Mechtilds Wohnzimmer. Sie wiegte sich dabei etwas in ihren zur Breite neigenden Hüften, als wolle sie sagen: Bei mir sind nicht nur die zweiunddreißig Ahnen in Ordnung, sondern ich wäre auch fähig gewesen, diese Vorzüge auf kräftige Nachkommen zu übertragen.
   Nur die Tanten Askania und Lidwine, die sich auch gerade bei Mechtild zum Nachmittagsstippkaffee eingefunden hatten, versuchten zum Guten zu reden.
   »Ich erinnere mich noch ganz genau an die Ingeborg Thor Hacken,« meinte Tante Askania, »und kann‘s begreifen, daß sich der Herzog in sie verliebte, wie sang sie die Lucia! und was war sie hübsch! Nicht wahr, Lidwine?«
   »Ja, ja,« antwortete eifrig das andere alte Stiftsdämchen, »und wißt ihr, manchmal will‘s mir scheinen, als habe unser reizendes Ilschen auch so etwas Apartes von ihr abbekommen.«
   »Na, da sei aber Gott vor!« rief Frau von Zehren inbrünstig aus.
   Die beiden alten Stiftsdamen zogen erschrocken ihre gehäkelten Tücher, deren sie stets mehrere bei sich trugen, fester um die flachen Busen, und Lidwine sagte verschüchtert, aber doch immer noch im Bestreben, für das Lieblingsnichtchen einzutreten: »Ich meinte ja nichts Schlimmes, liebste Gottliebe – und die Thor Hacken war ja auch durchaus anständig – und hat nachher nur noch für Wohltätigkeitszwecke gesungen – ich wollte bloß sagen, daß das Ilschen anders ist … wie die Mädchen hier in der Gegend … so … als stecke vieles in ihr, was wir nicht kennen.«
   »Ja, ja,« fiel Tante Askania ein, die nun auch wieder Mut gegen die gefürchtete Schwägerin gefaßt hatte, »sie kann sich so prachtvoll begeistern, wenn man ihr erzählt, und sie so dasitzt mit den großen weitgeöffneten Augen. Mir ist‘s immer – als ob sie etwas Schönes suche!«
   »Aber sie hat doch alles!« riefen gleichzeitig Frau von Zehren und Fräulein von St. Pierre.
   Während also bei Mechtild über sie gesprochen wurde, saß Ilse in einer Bodenkammer des Weltsödener Herrenhauses. Ganz zufällig, als einmal im Spätherbst große Wäsche gewesen und die Mägde in dem weiten Raum unter dem hohen Giebeldach die Wäsche an den kreuz und quer gespannten Stricken zum Trocknen aufhingen, hatte sie diese Kammer entdeckt. »Da drin sind nur alte Bücher und solch unnützer Kram,« hatte die Schwiegermutter auf ihre Frage geringschätzig geantwortet, »das meiste stammt von Onkel Thilo.«
   Damals hatte Ilse nur einen Blick in das Zimmer werfen können, aber jetzt, wo Dr. Liebetrau Ruhe verordnet hatte und ihr daher mehr freie Zeit gegönnt wurde, schlich sie sich oft hinauf und kauerte nieder zwischen den vielen Büchern, die sich am Boden in Stößen und Ballen türmten und die Regale an den Wänden bis zum Dache füllten. Zuerst hatte sie scheu geblättert, wie ein kleines Mädchen, das fürchtet, bei verbotener Lektüre ertappt zu werden. Bald aber las und las sie mit großen Augen und glühenden Wangen und vertiefte sich ganz in die verschiedenen Welten, die die Bücher verschiedener Länder und Zeiten ihr offenbarten.
   Aber so verschieden diese vielen Bücher auch waren, erkannte Ilse staunend doch bald, daß sie alle immer wieder, jedes auf seine Art, von demselben handelten: von der Liebe. Schon vor Jahrhunderten an felsiger, vom atlantischen Ozean wild umbrauster Rüste, hatte sie Dichter zu Gesängen begeistert, die heute noch immer fortklangen. Die Sage von Tristan und Isolde las Ilse und vernahm, wie jene zwei stolzen Herzen, von der Liebe Zaubertrank bezwungen, Welt und Gesetz vergaßen. Nach dem gewaltigen Sturmlied der Leidenschaft, das Ilse aus dem alten Epos entgegenschallte, erschienen ihr spätere Schriften matt und verzärtelt; sie blätterte nur flüchtig in den französischen Werken des achtzehnten Jahrhunderts, die Onkel Thilo gesammelt hatte. Die waren mit zierlichen Vignetten und Stichen illustriert, auf denen schelmische Amoretten die Vorhänge reich verzierter Rokokobetten neckisch lüpften, und eine ruhende Schöne von einem galanten Pagen in holder Verwirrung überrascht wurde, leicht und tändelnd wurden da die Dinge der Liebe behandelt – doch auch hier wieder als die eine große Lust der kurzen Erdentage gepriesen. – Andere Gefächer waren gefüllt mit empfindsamen deutschen und englischen Romanen. Die Helden und Heldinnen dieser Geschichten schwelgten bei Mondschein in wehmütig süßen Gefühlen, schwärmten und dichteten sich an, während die Nachtigall flötete, lehnten in fließenden Gewändern an Urnen tragenden Postamenten, bauten der Freundschaft Tempel, ritzten des geliebten Gegenstandes Namen in die Rinde der Bäume. Ätherische Wesen waren sie, denen die Tränen gar leicht an den langen Wimpern hingen, schöne Seelen, die, um sich von Trennungspein und Liebesgram zu befreien, mit blassen schlanken Händen die selbstmörderische Waffe gegen den Busen zückten.
   Doch neuere Bücher auch fand Ilse. Die Romane der George Sand und ihrer zahllosen modernen Nachfolger. Da las sie von Frauen, die nicht ob einmaligen Irrtums den lockenden Freuden des Lebens entsagen, sondern mit verlangenden Händen greifen, wonach ihr Herz begehrt. All die berückenden Worte von der befreienden Macht der Leidenschaft gegenüber der starren Gewalt des Gesetzes tönten der kleinen Ilse aus den lang geschlossenen Zeiten entgegen, und sie vernahm auch hier das Rauschen jenes alten Liedes vom Recht auf Glück und Liebe, dessen betörender Klang schon so manches junge Herz hingerissen hat. Da war nicht die Rede von selbstverleugnendem Ausharren auf ödem, freudlosem Feld, sondern die Heldinnen dieser Bücher ließen sich von den mächtigen Schwingen eines starken Willens zur Lebenslust über alle Schranken hinweg zu den Zielen ihrer Sehnsucht tragen, woran die leichtlebigen Marquisen des achtzehnten Jahrhunderts in den kurzen Jahren zwischen ihrem Austritt aus dem Kloster und der Karrenfahrt zum Schafott nur verstohlen und lächelnd genascht hatten – worüber die blutarmen und gefühlsreichen Schönen empfindsamerer Zeiten in Sehnsucht zerschmolzen und hingestorben waren – das nahmen sich diese Töchter jüngerer Tage mit der Gebärde selbstherrlichen Rechtes.
   Und vielleicht lag hierin etwas, das verborgene Saiten in Ilses Wesen anschlug. Einer alles überwindenden Begeisterung für ein Ziel fühlte auch sie sich fähig. – Nur das Ziel selbst verstand sie nicht recht. Und mit aufgekrauster Stirn, den Kopf zwischen die Hände gestützt, grübelte sie nach: um was drehte sich denn eigentlich alles? – schließlich wollten alle diese Heldinnen doch immer nur dasselbe: statt des einen Mannes einen anderen. – Konnte das wirklich etwas so ganz verschiedenes sein?
   So begann sie zu ahnen, daß es Geheimnisse geben müsse, von denen sie nichts wußte, Gefühle, die sie nicht kannte, Gewalten, vor denen alles andere schweigt, daß es einen auch heute ebenso mächtigen Zaubertrank gäbe, wie zu den fernen Zeiten von Tristan und Isolde. Eine Art Neugier regte sich bisweilen in ihr. Dann las und las sie eifrig weiter, als ob sie in den Büchern Aufklärung finden müsse. – Manchmal auch hielt sie inne und träumte in der Dachkammer vor sich hin, ließ die Menschen an sich vorübergleiten, die sie in ihrem kurzen Leben nicht gekannt, aber doch gesehen hatte. Ein junger Klavierlehrer tauchte in ihrer Erinnerung auf, der mehr Ausdruck in seine Augen wie in seine Finger gelegt hatte, wenn er ihr die Sonaten vorspielte, die sie üben sollte; der engbrüstige Geistliche, der sie eingesegnet hatte, Spaziergänger, denen sie in der Straße begegnet war, und die ihr nachgeblickt hatten; auch der blaue Märchenritter ihrer kindischen Träume, der den Gang ihres Lebens ahnungslos so sehr beeinflußt hatte und dessen Züge in ihrem Gedächtnis doch nur noch ganz verschwommen standen. – Ach, sie alle konnten ihr nichts sagen.
   Doch weiter dachte sie dann inmitten Onkel Thilos verstaubter Bücher an ihre Verlobung und Hochzeit, an all die neuen Gesichter, die sie damals zuerst gesehen. Da löste sich von den Übrigen Herrn von Waldens Gestalt, wie aus weiter Ferne schien er langsam auf sie zuzuschreiten und schaute sie an – anders als all die anderen. Sollte er ihr etwas zu sagen haben?
   Aber sie mußte selbst über diesen Einfall lachen. Zu Herrn von Walden waren ihre Gedanken wohl nur durch eine unbewußte Ideenverbindung mit Onkel Thilo gewandert. Denn wie Walden heut, war ja Onkel Thilo einst Diplomat gewesen, hatte auch in fernen, fremden Weltteilen gelebt. Ferner und fremder noch als jetzt mußten sie zu seiner Zeit gewesen sein – damals reiste man ja noch meist mit Segelschiffen! – von seinem letzten exotischen Posten hatte Onkel Thilo einen Papagei, einen Affen und ein Leberleiden nach Weltsöden heimgebracht. Das Leberleiden hatte ihn gar bald auf den Friedhof gebracht, der Papagei und der Affe dagegen waren nach ihrem Tode ausgestopft worden und prangten noch heute unten in Theophils Stube an der Wand, zwischen den Hörnern und Geweihen heimatlicher Böcke und Hirsche. Mit den vielen Büchern hatte sich Onkel Thilo in dem entlegenen Lande sicher oft die Zeit vertrieben, denn sie waren wohl gelesen, und viele Stellen hatte er unterstrichen und mit Randbemerkungen versehen. – Ob wohl Herr von Walden auch so viel las, dort, wo er jetzt war? – Aber der wollte ja nicht nur einen Papagei und Affen mitbringen, sondern »allerhand« für Deutschland erringen, – er hatte »Ziele«, wie Theophil gesagt – da blieb wohl nicht viel Zeit für Bücher. – Ziele, hohe Ziele haben! – Das mußte schön sein, das bedeutete wohl, diejenigen Dinge zu tun, von denen die anderen Leute nur in Büchern lesen. – Ach, glückliche Menschen!
   Aber was für Ziele haben denn Frauen? dachte Ilse weiter. Eigentlich gar keine selbständigen, keine, für die man sich so recht zu begeistern vermöchte. Bekommen sie einen Mann, der sich große Aufgaben stellt, so dürfen sie ihm vielleicht helfen und dienen – und das müßte freilich schön sein. – Ja, den richtigen Mann zu bekommen, das war offenbar der eine Hauptzweck im Leben jeder Frau – darin stimmten ja auch die verschiedensten Bücher Onkel Thilos überein. Des Sinnens müde vertiefte sich Ilse von neuem in ein Buch, das ihr an diesem Tage gerade in die Hände gefallen war. »Die Wahlverwandtschaften« hieß es, und darin gab es auch viel Not und Verwirrung, weil zwei sich geirrt hatten und der eine für den anderen wohl nicht der Richtige war. Sie hatte gelesen bis zu der Stelle, wo Charlotte in den Zügen ihres Kindes eine Ähnlichkeit mit dem Hauptmann und in seinen Augen die Augen Ottiliens wiedererkennt. Ganz ergriffen war sie von diesem, geheimstes Sehnen offenbarenden Wunder. – Doch nun sprang sie erschrocken auf, denn es fiel ihr ein, daß es bald Essenszeit sein mußte. Noch ganz benommen von dem eben Gelesenen rannte sie aus ihrem Versteck herunter. Aber glücklicherweise waren weder Theophil noch Frau von Zehren heimgekehrt.
   Dagegen saß Anne Dore im Flure. Schwerfällig wollte sie sich erheben, als sie Ilse gewahrte, doch diese drückte sie mitleidig in den Sessel nieder.
   »Ich warte auf die gnädige Frau Mutter,« sagte Anne Dore, »ich bringe ihr das Muster eines Kinderhemdchens zurück, das sie mir geliehen hat. Ich habe schon viel für die kleine Ausstattung fertig.«
   »Ihnen ist wohl recht bange?« fragte Ilse leise und schaute teilnehmend auf die entstellte Gestalt und das müde Gesicht, dessen einstmalige Röte unter großen gelben Flecken verschwunden war.
   »Ach nein,« antwortete Anne Dore lächelnd, »zum Sterben wird‘s ja wohl nicht gleich kommen. Na, und geht‘s auch das erstemal schwer, so hat man doch was vom Leben gehabt.« Und dann setzte sie hinzu: »Ich wünsche mir, daß es ein strammer Jung« ist, der meinem Mann recht ähnlich sieht!«
   Ilse hörte ihr schweigend zu und wieder fühlte sie, daß sie, wie droben bei den Schilderungen der Bücher, so hier im wirklichen Leben, vor Unbekanntem stand, und daß der schlichten Anne Dore ein bescheidenes Tröpfchen jenes geheimnisvollen Zaubertrankes zuteil geworden, der ihr selbst vorenthalten geblieben. – was mußte das für ein mächtiges Gefühl sein, das diese Frau so gefaßt von Schmerz und Gefahr reden ließ? – Und dann dieser Wunsch für das Aussehen des Kindes?
   In diesem Augenblick traten Frau von Zehren und Theophil eilig und erhitzt von draußen ins Haus. Und wie nun Ilse die Gestalt ihres Mannes sah, mit dem langen Halse und den abfallenden Schultern, die an die Umrisse einer Champagnerflasche mahnten, und in dem hageren Gesicht die dicken roten Lippen gewahrte, die wie ein Widerspruch zu allem übrigen wirkten, da flammte plötzlich der leidenschaftliche Wunsch in ihr auf: »Nie, nie ein Kind, das ihm gleicht! Mein, ganz mein müßte es sein! … oder? … Charlotte? … —«
   Aber der kleinen Ilse Herz war ja leer von Bildern.
   Bald nach ihrer Ankunft in Weltsöden hatten Theophil und Frau von Zehren Ilse in der Nachbarschaft vorgestellt; da aber die meisten umliegenden Güter von lauter Zehren bewohnt wurden, so war durch diesen Verkehr kein sonderlich neues Element in ihr Leben getreten. Sie wurden zu mehr oder minder feierlichen Diners eingeladen, deren Stunde zwischen drei und sechs Uhr schwankte. Man saß lange zu Tisch bei kräftig nahrhaften Speisen und stand schwer und mit geröteten Köpfen auf. Von den Angelegenheiten der verschiedenen Verwandten wurde gesprochen, von Kornpreisen, Viehzucht, künstlichem Dünger und Holzverkäufen. Manchmal auch streifte man Fragen der inneren Politik, da aber alle Anwesenden zu derselben Kaste gehörten und über solche Dinge nur die in dieser Kaste als selbstverständlich geltenden Ansichten hegten, so kam es nie zu einer Diskussion: etwas so Unstandesgemäßes wie abweichende Meinungen über derartige fundamentale Begriffe hätte keiner dem anderen überhaupt zugetraut. Eher schon gab es in landwirtschaftlichen Fragen auseinandergehende Anschauungen, weil da jeder persönliche Erfahrungen gesammelt hatte.
   Sobald nach dem Essen Kaffee und Liköre von den anwesenden jungen Mädchen gereicht worden waren, wanderten die Herren, lange schwere Zigarren paffend, zu den Wirtschaftsgebäuden, um Vieh und Scheunen, Brennerei und Ziegelei zu besichtigen. Frauen, die ihre Güter selbst bewirtschafteten, schlossen sich solchem Rundgang der Männer bisweilen auch an, während die anderen in Wohnzimmer oder Veranda sitzen blieben, oder auch, durch Park und Gemüsegarten schlendernd, gegen die Sehnsucht nach dem gewohnten Mittagsschläfchen ankämpften.
   Die Damen befanden sich bei diesen Vereinigungen immer in der Mehrzahl, denn die Söhne der verschiedenen Familien waren abwesend, auf Universitäten und in Regimentern, während die zahlreichen Töchter daheim saßen und in standesgemäßer Tatenlosigkeit einer Schicksalswendung entgegenharrten. Sie alle besaßen irgendein kleines Talentchen, das gepflegt wurde, um die vielen Stunden der langen Tage zu füllen. Die liebe Emmy malte für Weihnachten und Geburtstage Blumen auf seidene Fächer; Karolinchen brannte unter heftigem Benzingeruch Ritterburgen auf hölzerne Schreibmappen für die Brüder, Hirschköpfe auf die Ofenbank in Papas altdeutschem Zimmer; unsere Hedwig übte fleißig Clementi; Gabriele verstand es sogar, Geschehnisse des Familienlebens in artige Knittelverse zu kleiden und mit solchen bei festlichen Gelegenheiten zu erfreuen. All diese Dinge wurden mit Wichtigkeit von Müttern und Tanten behandelt, die doch alle wußten, daß sie nur das wohlerzogene Warten verbergen sollten und in den erhofften Ehen alsobald verschwinden würden.
   In diesen Diners wurden häufig die jeweiligen Gutspastoren mit ihren Frauen geladen. Es entsprang dies nicht besonderen religiösen Bedürfnissen, denn Religion war den meisten mehr eine Schicklichkeits– wie Herzensfrage, etwas, worüber man eigentlich gar nicht nachdenkt, sondern was so selbstverständlich ist, wie daß man vor dem König Front macht. Aber man wollte nach außen dokumentieren, daß weltlicher Besitz und geistliche Macht zusammengehören, und Theophil sagte würdevoll: »wir benötigen den Einfluß des Pastors bei den Wahlen, daher müssen wir auch seine soziale Stellung möglichst stützen.«
   Ein anderer in der ganzen Gegend oft hinzugezogener Gast war Dr. Liebetrau. Nicht etwa geistiger Übereinstimmung halber. Hatte doch die Cousine Zehren-Kandau sogar einst über ihn geflüstert: »Ich fürchte bisweilen wirklich, unser alter Liebetrau glaubt nicht mal an den lieben Gott,« worauf die Tanten Askania und Lidwine beschwichtigend antworteten: »Dann würde der liebe Gott ihm doch sicher nicht die Gnade zuteil werden lassen, so viele Menschen zu heilen.« – Es ging aber von dem alten Mann mit der gebirgsartigen Nase und den klugen Äuglein ein solcher Zauber von Wohlwollen und Verständnis für jedes Leid aus, daß ihm alle Frauen halb unbewußt gewogen waren. – Und Dr. Liebetrau, der vor langen Jahren schon als Witwer in die Gegend gekommen und seitdem einsam hauste, studierte auch außerhalb des Krankenzimmers mit Vorliebe seine weiblichen Patienten. Nach den Diners blieb er immer im Kreise der Damen.
   An einem solchen Nachmittag des frühen Frühjahrs erzählte er: »Ich war heute morgen in Frohhausen – der Graf und die Gräfin sind wieder da.«
   Man spitzte die Ohren. Augen, die sich schon in einschläfernder Verdauungslangweile schlossen, öffneten sich wieder. Auch Ilse, die im Kreise würdiger Landmatronen saß, horchte gespannt auf, denn sie war schon oft an den geschlossenen Pforten des großen Frohhausener Parks vorbei gekommen und hatte bedauert, daß dieses, Weltsöden zunächst gelegene Gut unbewohnt war.
   Die Gastgeberin, Frau von Zehren-Kandau, sagte seufzend: »Ich habe es auch schon gehört – ja, wenn die Helmstedts nur nicht gar so schlecht zu uns paßten.«
   »Das ist nicht zu verwundern,« meinte Theophils Mutter abfällig. »Sie haben hier ja nie dauernd gelebt, sondern sind immer in der Welt herumgezogen.«
   »Ach Designatus, wie schrecklich muß das sein!« sagte die alte, behäbige, glatt gescheitelte Pastorin zu ihrem Mann, dem alten Pastor Rockstroh. Der antwortete: »Ja, ja, die Gebundenheit an die ländliche Scholle ist und bleibt eben doch das stärkste Bollwerk gegen die zersetzenden Kräfte eines Weltbürgertums.«
   »Ich meine aber nicht nur das,« fuhr Frau von Zehren-Kandau fort, »bei dem Beruf des Grafen sind ihm allerdings die natürlichen Interessen eines landeingesessenen Edelmannes etwas abhanden gekommen, aber unsere Herren würden ihm jetzt, wo er den Abschied genommen hat, ja gern helfen, daß er hier die richtige Stellung gewinnt, in den Kreisausschuß und sogar in den Provinziallandtag kömmt, – nein, nein, viel schwieriger ist die Frage mit ihr!«
   »Ja, da hast du recht,« warf Frau von Zehren-Kummerfelde ein, »denn man weiß wirklich nicht, worüber man mit ihr sprechen soll. Bei all ihrer Liebenswürdigkeit fühl ich mich doch immer ungemütlich, und ich kann den Verdacht nicht los werden, daß sie eigentlich im stillen auf uns herabsieht.«
   »Na, dazu hat sie doch wahrhaftig keinen Grund!« rief die blasse Mechtild so eifrig, daß auf ihren farblosen Wangen rote Flecken aufflammten. »Man weiß doch, wieviel über sie und ihre erste Ehe gemunkelt worden ist – die vielen Kurmacher! Und … ihrem jetzigen Manne soll sie ja schon damals recht … nun … recht nahe gestanden haben.«
   Die welken Gesichter der alten Stiftsdamen erröteten verschämt, und Tante Askania sagte begütigend: »wir dürfen nicht vergessen, sie ist eben keine Deutsche.«
   Und Tante Lidwine setzte hinzu mit dem Gefühl, alle Mängel zu erklären: »Sie ist vor allem keine Protestantin.«
   »Aber mein gnädigstes Fräulein,« griff nun der alte Pastor Rockstroh mit dem Bewußtsein ein, lobenswerte Objektivität zu üben, »ich muß doch bemerken, daß auch die katholische Kirche die Nichtbeachtung des sechsten Gebotes verdammt.«
   »Mag sein, Herr Pastor, mag sein,« entgegnete Frau von Zehren-Kandau, »aber sie werden uns nie einreden, daß solche Fragen von Leuten wahrhaft ernst genommen werden, die nur zu beichten brauchen und dann gleich von neuem anfangen können.«
   »Die Beichte,« sagte der alte Pastor, »ist mir eigentlich das Sympathischste in der katholischen Kirche – man muß dadurch mancher armen Seele helfen können.«
   »Aber Designatus!« entfuhr es vorwurfsvoll der alten Pastorin, die mit Beichtstühlen vage, unheimliche Vorstellungen verband.
   »Ja, ja,« stimmte Dr. Liebetrau sinnend dem Pastor zu, »es läßt sich in der Tat manches dafür anführen. Den Protestantinnen ersetzen übrigens wir Ärzte und gelegentlich auch Rechtsanwälte die Beichtväter.«
   »Na, na, bester Liebetrau, wer hätte denn Ihnen schon gebeichtet?« fragte Theophils Mutter.
   »Aber viele, meine gnädigste Frau, viele!« antwortete der alte Arzt, »denn man beichtet ja oft, ohne es selbst zu wissen! Um übrigens auf Gräfin Helmstedt zurückzukommen, so habe ich immer gehört, daß sie allen Grund gehabt hätte, in ihrer ersten Ehe sehr unglücklich zu sein.«
   »Das ist aber doch keine Entschuldigung!« rief Mechtild.
   »Ob es eine Entschuldigung ist?« sagte Liebetrau bedächtig, »dabei käme es wohl auf das Forum an. Aber die häufigste Erklärung für das, was man Unrechttun nennt, wird wohl immer das Unglücklichsein bleiben!«
   In diesem Augenblick wurde zum Abendimbiß gerufen, mit dem solche Zusammenkünfte ihren Abschluß fanden. Dr. Liebetrau blieb einen Augenblick in der Veranda zurück, klappte den mit Nettelbecks Bild gezierten Deckel der Horndose auf und brachte seiner hügelreichen Nase den langentbehrten Schnupftabak dar. Ilse hatte auf ihn gewartet und spielte gedankenverloren mit ihrem Trauring, der immer noch die Tendenz hatte, leicht herabzugleiten. Nachdem Dr. Liebetrau reichlich geschnupft, geniest und geschnaubt hatte, sagte er zu ihr: »Die Gräfin Helmstedt hat mich übrigens sehr nach Ihnen gefragt.«
   »Nach mir?« fragte Ilse erstaunt, »warum denn?«
   »Wenn ich recht verstand, hat sie durch gemeinsame Bekannte von Ihnen gehört, und sie freut sich darauf, Sie kennen zu lernen, – während sie den meisten Menschen hier, wie Sie ja schon hörten, eher kühl gegenübersteht. Ich glaube übrigens, Ihnen wird Sie gefallen.«
   Ilse errötete, ohne recht zu wissen, warum. Unter Dr. Liebetraus klugem und zugleich nachsichtigem Blick hatte sie die Empfindung, als habe auch sie, ohne es zu wissen, ihm schon gebeichtet, und als ahne er, daß wer ihrer Umgebung kühl gegenüberstand, vielleicht wohl Aussicht hatte, ihr selbst verwandt zu sein.
   Bald darauf wurden die Wagen gemeldet, und die Gäste, die nicht, weiter Entfernungen halber, in Kandau selbst übernachteten, bekleideten sich mit all den verschiedenen Hüllen, Staub– und Regenmänteln, Lodenkapes, flauschigen weiten Fahrulstern, Kapuzenkragen und weichen Tüchern, wie sie sich nur in alten Landhäusern ansammeln. Dann fuhren sie in den verschiedensten Richtungen davon.
   Auch Frau von Zehren, Theophil und Ilse hatten den offenen Weltsödener Wagen bestiegen und waren abgefahren. Nach einigen Minuten hielt Jochem an und vertauschte den Livreezylinder, den er in die mitgebrachte Pappschachtel tat, mit der Mütze. Dann ging es in mildem Trab weiter.
   Es war eine seltsam laue und einschläfernde Luft, und wirklich vernahm Ilse auch bald die regelmäßigen Atemzüge Theophils und seiner Mutter; sie selbst blieb wach und genoß dies Gefühl, allein wach zu sein. Sie ward sich plötzlich bewußt, daß während der letzten Wochen unendlich viel bisher Ungeahntes in dämmerhaften Umrissen an ihrem Horizonte aufgetaucht war, durch die Bücher, die sie gelesen, wie auch durch manche Aussprüche Dr. Liebetraus. Sie fühlte sich hilflos und wie beängstigt vor all diesem Neuen. Die Welt war voller Fragezeichen.
   Nun kamen sie an Frohhausen vorüber. Heute brannte Licht in der alten Laterne über dem großen Eingangstor zum Parke. Zu beiden Seiten standen alte einstöckige Pförtnerhäuschen mit hohen, abgesetzten Dächern. Dahinter erstreckte sich die dunkle Baummasse der breiten Lindenallee, die zum Schlosse führte. Der Fahrweg folgte von da ab eine Strecke lang der Umfassungsmauer des Parks. Es war sandiger Boden. Aus dem milden Trab waren die Pferde in Schritt übergegangen. Oben auf dem Bock senkte Jochem den Kopf, ein paarmal vorwärts, ein paarmal seitwärts, richtete sich dann aber jedesmal erschrocken wieder auf – doch schließlich war auch er wie seine Herrschaft eingenickt.
   Und in der tiefen nächtlichen Stille war es Ilse, als schwebe zu ihr, der allein wachenden, aus der Richtung des unsichtbaren Schlosses der leise Klang eines fernen, unbekannten Liedes.
   Am nächsten Nachmittag hatten sich einige Verwandte im Weltsödener Gartensaal zum Tee eingefunden, als Graf und Gräfin Helmstedt gemeldet wurden. Und wie Ilse die Gräfin nun wirklich eintreten sah, hatte sie das Gefühl: dies ist ein Erlebnis. Sie empfand für sie sofort jene mit Scheu gemischte Bewunderung, die ganz junge Mädchen gerade für ältere Frauen bisweilen hegen. An die Jahre, die Gräfin Helmstedt zählen mochte, dachte freilich niemand bei ihrem Anblick. Sie war wie jemand, der vielleicht nie sehr jung gewesen und sicher nie sehr alt erscheinen würde. Ihr volles duftiges Haar schimmerte bisweilen grau, doch konnte man es ebensogut für ein unbestimmtes Blond halten, und neben den bunten Waschblusen und derben Sergeröcken der anderen Damen schien, was sie trug, kein wirkliches Kleid zu sein. »Gewänder« war das Wort, das Ilse einfiel. Und auch darin hatte sie etwas Zeitloses.
   Die langstielige Lorgnette vor die Augen haltend, die zwischen lang bewimperten, halb geschlossenen Lidern blinzelten, kam sie von weitem auf Ilse zu. Doch wie sie nun, vor ihr stehend, die Augen plötzlich aufschlug, waren diese so klar und leuchtend, daß die Lorgnette nur noch ein Spielzeug der weißen Hände mit den Perlenringen schien.
   »Also nun seh ich Sie endlich,« sagte die Gräfin, »Wolf Walden hat mich nämlich ganz begierig gemacht, er schrieb so viel von Ihnen.«
   »Von mir?« fragte Ilse erstaunt, »aber er hat mich ja kaum gesehen. Meinen Mann freilich kennt er schon lange.«
   »Ja, das kömmt vor, daß man den Mann lange kennt und doch mehr über die Frau schreibt,« antwortete die Gräfin mit einem leicht perlenden Lachen, das den Eindruck machte, als glitte es mit verständnisvoller Nachsicht über alle Vorkommnisse des Lebens dahin. »Er fragte in seinem letzten Briefe, ob ich Sie kennen gelernt hätte – ja, und nun möcht ich Sie wirklich kennen lernen.«
   Die Gräfin hatte in allem, was sie tat, die selbstverständliche Souveränität von Frauen, die viel gefeiert worden sind. Als sich bald darauf die ganze Gesellschaft vom Saal in den Garten begab, um die ersten Tulpen zu sehen, schritt sie neben Ilse durch die mit Buchsbaum eingefaßten Kieswege. Und Ilse wußte nicht recht, wie es zuging, aber sie hatte dieser fremden Frau bald all die Einzelheiten ihres Daseins anvertraut, während sie sprach, empfand sie, welche Wohltat es war, so reden zu können, und daß sie sich solche Aussprache wohl schon längst gewünscht haben mußte. Sogar von den Büchern droben in der Bodenkammer erzählte sie. Die Gräfin kannte all die Werke, die Ilse nannte; sie hörte mit nachsichtigem Lächeln ihre glühende Schilderung der allen Hindernissen zum Trotz glücksuchenden Heldinnen Georges Sands, und dann sagte sie milde: »Ja, ja, davon träumen einmal wohl alle armen Kettenträger – und wen die Götter lieben, dem erfüllen sie den Traum – aber sie lassen auch manchen dran zugrunde gehen.« Dann brach sie ab und sagte mit plötzlicher Lebhaftigkeit: »Aber nun erzählen Sie mir vor allem von Ihrer Musik – denn Sie, eine Enkelin von Ingeborg Thor Hacken müssen ja ein ganz besonders begnadetes Menschenkind sein! Sie singen doch natürlich?«
   Ilse errötete, sie wußte ja nun längst, daß die Zehrens ihr diese Großmutter nie verziehen hatten, diese längst verstorbene Großmutter, die sich ein kunst– und schönheitsbegeisterter Sprosse fürstlichen Geblüts als einzige »Tat« seines Lebens mit der linken Hand von der Oper fortgeholt hatte. Es war seltsam, nun plötzlich eine so andere Bewertung kennen zu lernen, zu erleben, daß der Name dieser Großmutter, der von den Zehrens behandelt wurde, wie ein unvertilgbarer Rostfleck auf einem Tischtuch, den man durch Blumen oder Konfektschalen scheu verbirgt, von der Gräfin laut gerühmt wurde, als gäbe er der Enkelin ein Anrecht, zu den besonders Begünstigten des Lebens zu gehören! Und Ilse antwortete: »Als Kind habe ich sehr viel Klavier gespielt und auch immerzu gesungen, so ganz von selbst – und Papa sagte, wenn ich erst alt genug sei, solle ich auch Gesangunterricht erhalten – aber – da hab ich mich ja verheiratet.«
   Es klang so herzbrechend traurig, als ob ein armes Mäuschen piepste: da fiel die Fallentür hinter mir zu, dachte die Gräfin. Und sie sagte eifrig: »Das ist aber doch kein Grund, nicht jetzt mit dem Singen anzufangen. Ich bin ja ganz sicher, es steckt Talent in Ihnen. Wir werden es probieren und ausbilden. Kaliwoda ist jetzt für einige Zeit bei uns, und Lydia Neuland, die sollen Ihnen Unterricht geben. Sie müssen recht viel zu mir kommen.«
   Die ganze Gesellschaft war nun bei dem Rondel angelangt, wo um alte Sandsteinfiguren die flammenden Tulpen in großen Beeten blühten. Und Gräfin Helmstedt wandte sich zu Theophil: »Nicht wahr, Sie erlauben mir, Ihnen Ihre Frau diesen Sommer manchmal zu entführen?« und sich an seine Mutter richtend, sagte sie: »Töchterlose Frauen wie ich sind auf Anleihen angewiesen.«
   Theophil fühlte sich geschmeichelt, denn wenn man auch über Gräfin Helmstedt gern klatschte, so lag vor allem doch viel Neid in dem, was man über sie vorbrachte. Es ließ sich ja nicht fortleugnen, daß sie eine Frau war, die eine Rolle in der Welt gespielt hatte, die an jedem Hofe bekannt war und mit allen Berühmtheiten in Verkehr stand. Von ihr bemerkt zu werden, war immerhin eine Auszeichnung. Darum verzog auch Mechtild den Mund bittersüß: Es wäre doch natürlicher gewesen, wenn Gräfin Helmstedt bei diesem plötzlichen Wunsch nach töchterlichem Anschluß an eine ihrer neun Mädchen gedacht hätte! Während wiederum Frau von Werbach-Stolfitten, geborene von Zehren, sich sagte, daß von allen jungen Damen der Verwandtschaft für die kunstenthusiastische Gräfin doch nur ihre Gabriele hätte in Betracht kommen können, die die Begebenheiten des Familienlebens in so artige Verse zu bringen wußte. – Allerhand Begierden waren in diesen mütterlichen Herzen wach geworden durch der Gräfin Worte. Sie war bisher keiner der Damen in der möglichen Rolle einer gutmütigen Tante erschienen, in deren Hause die Mädels gratis erstklassige Musikstunden ergattern konnten. Warum aber sollte nun gerade Cousine Ilse solche Vorteile genießen? Cousine Ilse, die ja schon einen Mann hatte, wodurch an sich Musikstunden doch wirklich überflüssig wurden, und die obendrein diesen anfechtbaren Stammbaum besaß und sich nicht einmal beeilte, ihre erste und wichtigste Frauenpflicht zum Fortbestand der Familie zu erfüllen.
   Später auf der Rückfahrt nach Frohhausen sprach Gräfin Helmstedt dann mit Lebhaftigkeit über Ilse, während ihr Mann ihr mit derselben liebevollen Bewunderung zuhörte, die er vor zwanzig Jahren für sie empfunden hatte, damals, als sich jener Roman zwischen ihnen Zutrug, über den noch heute die Edeldamen des Kreises Sandhagen sich gerne gruselnd unterhielten.
   »Wir müssen diesem armen Kinde beistehen,« sagte die Gräfin.
   »Ja, wir müssen,« antwortete er, ihren überzeugten Ton nachahmend, »denn das ist nun einmal deine Spezialität, Gisi! Du hast sicher irgendein Tröpfchen von Don Quichotes Blut in den Adern und erblickst überall Unterdrückte, denen du helfen mußt.«
   »Es ist ein Abtragen eigener Glücksschuld, Ludwig,« sagte sie leise, »und diese kleine Ilse tut mir nun mal gar zu leid – sie sieht ja so erschrocken aus wie ein Elfchen, das zwischen lauter Ichthyosauren verirrt wäre.«
   »Und das hätte dann doch wenigstens Flügel und könnte davon,« antwortete ihr Mann.
   »Ja, die kann ich ihr freilich nicht geben,« sagte die Gräfin, »aber wenigstens soll sie oft zu uns kommen – weißt du, sie erinnerte mich beinahe schmerzlich an mich selbst, wie ich war, damals, ehe ich dich kannte.«
   In dem Wagen stahl sich ihre Hand in die seine, als wären sie zwei junge Liebesleute.
   »Dann aber wuchsen dir die Flügel,« sagte er.
   »Die schenktest du mir ja,« antwortete sie, »daß ich mit dir könnte.«
   »Und du hast es nie bereut —? —« Es sollte eine Frage sein, aber er war ihrer Antwort so sicher, daß es mehr wie eine dankbare Behauptung klang.
   Sie antwortete auch gar nicht, sondern lachte nur ihr leise perlendes Lachen.
   »So wenig bereut,« fragte er nun, »daß du sogar dasselbe Erleben einer anderen wünschen würdest?«
   »Ja,« antwortete sie ohne Besinnen, »wenn der andere wie du wäre.«
   Sie lachten nun beide, und der Graf sagte, indem er auf die flache nüchterne Gegend wies, aus deren sandigem Boden es spärlich sprießte: »Ich glaube etwas an den Einfluß der Umgebung auf die Erlebnisse – wir beide trafen uns in Griechenland – hier in dieser Gegend muß man sehr sicher sein vor allen befreienden Begebenheiten.«
   »Ja, Kummerfelde, Sorgental, und wie die Orte alle heißen – das klingt freilich nicht nach Flügelwachsen! – Wie verschieden, Ludwig, müssen doch deine Vorfahren von den Zehrenschen gewesen sein! Ganz zur selben Zeit, nach dem dreißigjährigen Kriege, bauten sich eure beiden Ahnherren hier wieder an, der eine nannte sein Haus Weltsöden, der andere aber schuf sich unser liebes Frohhausen!«
   »Er ahnte vielleicht dein einstmaliges Kommen, Gisi – und all das Beste hier hast doch du geschaffen!«
   Der Wagen verließ nun die Landstraße. Durch das weit geöffnete Tor, über dem die alte schmiedeeiserne Laterne hing, fuhr er, vorbei an den beiden niedrigen Pförtnerhäuschen mit den hohen abgesetzten Dächern und bog in die lange Allee uralter Linden. Ganz am Ende, über der ansteigenden Rampe, schimmerte lockend das weiße Schloß.
   Dort in dem weißen Schlosse schrieb Gisi Helmstedt noch am selben Abend:
   »Lieber Walden! Da säßen wir denn auf der »heimatlichen Scholle«, wie es ja wohl heißt. In vergangenen Jahren bin ich zwar schon oft während der kurzen Urlaubsreisen meines Mannes ein paar Wochen hier gewesen, aber jetzt, wo seine amtliche Laufbahn beendigt ist, werden wir wohl häufiger und länger hier sein und wollen gleich dies Jahr mindestens bis in den Spätherbst bleiben. – Bei jenen früheren Besuchen habe ich auch hier Land und Leute nur mit dem gewissen, zwar rasch erfassenden, aber doch etwas oberflächlichen Diplomatenblick betrachtet, den wir uns alle angewöhnen, um uns schnell in den wechselnden Milieus zurecht zu finden, durch die fremder Wille unser nomadisierendes Dasein treibt. Jetzt aber ist mit allem äußeren Zwang auch alle Eile aus dem Leben geschwunden, und ich kann diese Welt mit jener Gründlichkeit betrachten, die ein Charakterzug meiner angeheirateten Landsleute sein soll. Ich kann – um ganz deutsch zu reden – trachten, zu ergründen, was hinter den Erscheinungen als eigentliches Wesen steht.
   Und da will es mich nun dünken, daß dies Eigentlichste etwas ganz Feststehendes, Unveränderliches ist, so daß die Menschen hier, Männer wie Frauen, nicht so sehr differenzierte Persönlichkeiten der modernen Welt zu sein scheinen, als vielmehr Inkarnationen von unwandelbaren Begriffen – von Begriffen, die wohl aus dem kärglichen Boden des Landes stammen und mit seiner Geschichte zusammenhängen. – Leute sind es, deren Vorfahren von jeher unter oft harten und beinahe immer einengenden Lebensbedingungen aufwuchsen und die das Verbum »müssen« häufig genug konjugiert haben mögen. Dadurch wird wohl dies Trotzige und zugleich doch streng Disziplinierte in sie gekommen sein, das uns Menschen weicheren Materials so oft auffällt – eine Wesensmischung, die aus zwei sich scheinbar widerstreitenden Elementen besteht und die doch den festen Kitt bildet, der hier alles zusammenhält.
   »Du sollst dich auf der ererbten Scholle behaupten« ist, glaube ich, eines jeden oberster, unanfechtbarer Glaubenssatz. Was diesem Ziele dient, muß gestützt, was ihm hinderlich ist, bekämpft werden. Da gibt es kein Schwanken noch Zaudern. Denn all die Leute hier sind, glaub ich, ganz ehrlich überzeugt von der Richtigkeit und Heilsamkeit derjenigen Weltordnung, die sie repräsentieren, weil es eben diejenige ist, auf der sich von altersher ihr Preußen aufgebaut hat und die dabei die Existenz ihres eigenen Standes sicherstellt. Etwas, das diese Weltordnung beeinträchtigt, müßte ihnen als ein ebensolcher Frevel erscheinen, wie eine absichtliche Deteriorierung des Grund und Bodens, in dem ihr ganzes Dasein wurzelt. Von inneren Kämpfen, Entwicklungsgängen und Wandlungen, von dem quälenden Zweifel »was ist Wahrheit?« wird wohl schwerlich jemand hier angefochten, und ein jeder könnte bei der Konfirmation neben dem religiösen auch zugleich ein Gelübde der staatlichen und sozialen Überzeugungen ablegen, die er bis zu seinem seligen Ende treu bewahren wird.
   Solchen versteinerten Anschauungen gegenüber wird jedes Anderssein zur Schuld, und ich fühle, wie hier nicht nur mein Ausländertum, sondern auch Ludwigs von der hiesigen etwas abweichende politische Färbung mit Mißtrauen betrachtet wird. Ja, jede eigenartige Individualität ist schon unbeliebt und erscheint als gefährlich, weil sie in den Verdacht kommt, am Bestehenden eine unerlaubte Kritik üben zu wollen. Und Menschen, die selbst sicher bereit wären, für ihre Überzeugungen Opfer zu bringen, ja sich dafür nötigenfalls totschießen zu lassen, schöpfen aus diesem Bewußtsein eigener Unanzweifelbarkeit die Berechtigung des Hasses gegen jeden Andersdenkenden, wehe aber besonders dem, der, aus ihren Reihen sich lösend, angestammter Tradition entgegentreten wollte! Den würden sie erbarmungslos als geächteten Deserteur verfolgen!
   Und in dieser Umgebung der Schroffheit und grazienlosen Härte habe ich nun die junge Frau Ilse von Zehren kennen gelernt, die sie neulich in Ihrem Briefe erwähnten! Ein Wesen aus einer ganz anderen Welt, dem man das künstlerische Blut und die übersensitive, schwärmerische Anlage sofort anmerkt. – Da kann man sich wohl fragen: wie wird sie, die wie eine Verkörperung von Glücks– und Schönheitssehnsucht erscheint, sich hier Zurecht finden, wo eine so völlige ästhetische Bedürfnislosigkeit herrscht, und wo das wenige, was an Kunst als zulässig geduldet wird, auch noch den Stempel autoritativer Genehmigung tragen muß?
   Nun, ich will auf alle Fälle suchen, sie möglichst zu uns zu ziehen, und es wird mir selbst ja eine Freude sein, etwas Schönheit in ihr Dasein zu bringen, vor allem will ich sehen, ob sie eine ausgesprochene Verausgabung zur Musik hat, wie es bei ihrer Abstammung von der berühmten Sängerin Ingeborg Thor Hacken eigentlich anzunehmen ist. – Das wird Sie gewiß interessieren, lieber Walden, der Sie mir mit Ihrem Singen so oft schöne Stunden bereitet haben.«
   Gräfin Helmstedt gehörte zu den Menschen, deren Wünsche immer durch äußere Begebenheiten gefördert werden. So erfüllte sich auch ihr Wunsch, Ilse häufig bei sich zu sehen, ganz von selbst. Theophils Mutter, die vielleicht einen ihr allzu intim dünkenden Verkehr verhindert hätte, wurde zu ihrer plötzlich schwer erkrankten Schwester berufen; sie war zwar eine der Frauen, die über dem Verwandtenkreise des Mannes ganz den eigenen vernachlässigen, aber dieser Depesche der Schwester mußte sie folgen. Nach eindringlichen Ermahnungen an die alte erfahrene Mamsell, nur ja nicht das rechtzeitige Einmachen von grünem Stachelbeermus zu vergessen, und Anweisungen an den langjährigen Gärtner, über die Zeitabstände, in denen Erbsen und Bohnen gelegt werden sollten, und unter völliger Übergehung der Schwiegertochter bei all diesen Anordnungen fuhr sie seufzend ab – im Gefühl, die Weltsödener Wirtschaft allerhand tückischen Gefahren zu überlassen.
   Ilse hätte nun eigentlich gern gezeigt, was sie konnte, und vielleicht auch an diesem ersten selbständigen Walten Freude gefunden, aber es gab gar keine Gelegenheiten zum Eingreifen in diesen seit vielen Jahren einer regelmäßigen Routine folgenden Haushalt. Die junge Frau des Besitzers war ein Gast im Hause und nicht mal ein sonderlich hoch bewerteter. Denn wenn auch der Zauber ihrer allzu zarten Schönheit bisweilen auf diesen oder jenen wirkte, und besonders der Gärtner sie oft anschaute, wie eine der fremdländischen Blumen, mit denen er sich so viel mehr Mühe wie mit den landläufigen Pflanzen geben mußte, so wußte man doch längst in Hof und Haus, daß neben der alten Gnädigen die junge nur eine sehr geringe Autorität war. Und all diese überaus einfach und natürlich empfindenden Menschen achteten ja auch in jeder Frau hauptsächlich nur die Mutter.
   Vielleicht hätten Theophil und Ilse nun in dieser ersten Zeit längeren, ungestörten Zusammenseins den Weg zueinander noch zurückfinden können, aber dieser Weg war doch wohl schon allzu weit geworden, und gar zu viel trennende Hindernisse lagen darauf. Ganz zu Anfang, wenn Theophil Ansichten aussprach, die Ilses Überzeugungen entgegengingen, hatte sie pochenden Herzens, aber mit einer seltsamen Tapferkeit widersprochen: nicht aus Rechthaberei, sondern weil sie noch den Wunsch und die Hoffnung hegte, mit ihm zur Verständigung zu kommen. Da hatte sie Theophil aber kopfschüttelnd angesehen und dozierend gesagt: »Du erstaunst mich, liebes Kind, durch dies förmliche Suchen nach eigenen, mir widersprechenden Einwänden. Du solltest dir doch sagen, daß ich nur dein Bestes will, und daß es vom Herrn also gefügt ist, daß du dich wie meinem physischen Schutz so auch meiner geistigen Führung anvertrauen sollst.«
   Diesen anfänglichen Wortgefechten trachtete Ilse nun schon längst aus dem Wege zu gehen, und sie war während der letzten Monate sehr still geworden, weil sie einzusehen begann, daß ihre wohlgemeinten Aussprachsversuche doch zu nichts führten. Theophil dagegen, der in diesem neuerlichen Schweigen weniger die der Frau wohl anstehende Selbstauslöschung zu erkennen glaubte, wie vielmehr ein Beharren in verborgenem Trotze, stellte nun oft absichtlich Behauptungen auf, von denen er ahnte, daß sie ihr widerstreben mußten. Es machte ihm denselben Spaß, sie zu Entgegnungen zu reizen, wie junge Hunde zu necken, bis diese zuschnappten, worauf er ihnen dann einen erzieherischen Klaps auf die Schnauze zu versetzen pflegte. Ließ sich Ilse aber wirklich zu einer widersprechenden Äußerung verleiten, so seufzte er gekränkt und sagte verweisend: »Die Insubordination liegt dir offenbar im Blute,« was eine Anspielung auf Ilses fürstlichen Großvater und musikalische Großmutter sein sollte, die sich so eigenwillig einst ihren Lebensweg gebahnt. Theophil strafte Ilse dann, indem er tagelang gar nicht mehr mit ihr sprach, und es konnte dabei vorkommen, daß er überhaupt vergessen hatte, was eigentlich der ursprüngliche Anlaß zu seiner Mißbilligung gewesen war.
   Aus diesen zuerst einzelnen Anlässen ging dann allmählich eine dauernde Wandlung in ihrem Verkehre hervor. Mehr denn je verbrachte Theophil jetzt seine Morgen auf dem Felde, in den Ställen und dem Walde, von dem ererbten Mißtrauen geplagt, daß Rumkehr und Treumann strengster Beaufsichtigung bedürften. Heiß und müde kehrte er heim zum Mittagessen, bei dem er die während seiner Morgenwanderungen eingetroffenen Zeitungen und Briefschaften las.
   Nachher zog er sich mit der Zigarre in sein Arbeitszimmer zurück, zu kurzem Schlaf und umständlicher Erledigung der verschiedenen Eingänge; danach ging er wieder aus bis zum Abend. Auch während der von Ilse so sehr gefürchteten Stunden in dem braunen mit Straminstickereien gezierten Zimmer, blieb er jetzt meist kühl und zerstreut – es war, als habe das Erzwingen eigenen Willens allmählich an Reiz verloren. Häufiger als früher benutzte Theophil alle Anlässe, in die Kreisstadt zu fahren, für deren Honoratioren der Besitzer von Weltsöden ein großer Herr war. Und häufiger auch als sonst kehrte er unterwegs bei Mechtild ein – in einen Sessel gestreckt schaute er wohlgefällig zu, wie Fräulein von St. Pierre sich über den Teetisch beugte, zwischen Zuckerdose und Butterbrötchen mit den rundlichen, weißen Händen hantierte und ihm, weichen, wiegenden Ganges, die dampfende Tasse an seinen Platz brachte, als sei es eine symbolische Handlung, die sagen sollte: Hier war eine Frau, die keine eigenen Ansichten gekannt und nur dem Mann gedient hätte.
   Theophil bemerkte es kaum, daß währenddessen in Ilses Leben neue Einflüsse traten.
   Beinahe täglich war sie jetzt im nahen Frohhausen, und wenn die Gräfin sie nicht im Wagen holen ließ, so legte sie den kurzen Weg zu Fuß zurück.
   Als Ilse das erstemal dort eintrat, war sie ganz benommen gewesen von dem Fremden, das sie sah. Aus allen Orten, wohin ihres Mannes Laufbahn sie geführt, hatte Gräfin Helmstedt Andenken mitgebracht. In ihrem Hause konnte man einen Spaziergang durch ihr Leben machen, und da ihr Leben sich in den verschiedensten Ländern abgespielt hatte, war es eigentlich ein Spaziergang durch die ganze Welt. Aber es lag in alledem nichts von der Kühle unbenutzter Sammlungen. – Die persischen, mit seinen Miniaturen geschmückten Bände wurden aufgeschlagen und studiert; die japanischen Vasen dienten wirklich großen Sträußen; und mit den verblaßten chinesischen Sammeten waren alte italienische Möbel bespannt, zu deren abgeriebenen Vergoldungen sie seltsam harmonisch stimmten. Alle Dinge hatten eine tatsächliche Beziehung zu ihren Besitzern. Darum fühlte sich Ilse bald heimisch in Frohhausen – heimisch auch bei dem antiken Eros mit den geschlossenen Augen und tastend ausgestreckten Händen, der auf hohem Sockel im lichten Hausflur stand und den Graf und Gräfin Helmstedt einst aus Griechenland heimgebracht hatten, aus Griechenland, wo sie sich vor zwanzig Jahren zuerst gesehen.
   Immer inniger und dankbarer schloß sich die vereinsamte Ilse ihren neuen Freunden an. Sie wurden ihr zu Führern in bisher unbekannten Welten. Denn fremder noch wie die Gegenstände aus fernen Ländern waren die Gedanken und Erzählungen, die Ilse in Frohhausen vernahm. Andächtig lauschte sie, wie da Menschen, die zu den bekanntesten der Erde gehörten, als Freunde, Kollegen, als frühere Mitarbeiter oder Gegner erwähnt und beurteilt wurden. Und es konnte manchmal irgendein zufälliges Wort plötzlich vor ihr enthüllen, wie sehr dem Grafen einst die Begebenheiten der Weltgeschichte nicht Dinge gewesen waren, von denen man überrascht in den Morgenzeitungen liest, sondern an deren Werden er in manch schlafloser Nacht mitgearbeitet hatte.
   In dem Zimmer, wo die Besitzer Frohhausens Ilsen also erzählten, blickten von den Wänden die Porträts etlicher Souveräne auf sie herab. Fremde und heimische. Und allerhand andere höchste Huldbeweise waren da aufgespeichert – Dosen, Nippes, kostbar eingerahmte Photographien, Vasen königlicher Manufakturen und was der Dinge mehr sind, durch die Gunst sich äußert und die sie meist überdauern. – »Requisiten der Vergangenheit« nannte die Gräfin all diese Sachen, die den Besuchern aus den Nachbargütern gewaltig imponierten und Graf Helmstedt in ihren Augen ein großes Ansehen verliehen. Er war doch der einzige in der Gegend, der Herrscherbilder besaß und Photographien, auf die allerhöchste Hände in einem Augenblick froher Laune huldvolle Grüße, scherzende Worte hingeschrieben hatten. Worte, die, so nach Jahren gelesen, wie versteinertes Lächeln wirkten, dessen Grund niemand mehr kennt.
   Ilse ließ sich von dem Grafen die Episoden erklären, auf die da angespielt wurde. In wieviel Begebenheiten und Charaktere hatte er doch Einblick gehabt! Ihr Herz schlug höher bei dem Gedanken an solch ein Leben, das wirklich Leben gewesen. Und dann wieder schien es ihr unendlich hart, daß das alles hier so endete, und die ungenutzte Kraft dieses Mannes nur noch im Ertragen der weiteren Jahre verbraucht werden sollte. – War denn wirklich Entsagen immer und überall das letzte Wort? In jedem Dasein, auch solchem, das sich mit so stolzem Fluge weit über Durchschnittsmaß erhoben? – Sie wollte nicht zugeben, daß dies ein Allen geltendes Gesetz sein könne. Der Jugend Glaube an Sonderrecht und ihre Zuversicht, Unerreichtes doch zu erreichen, sträubten sich gegen solche Erkenntnis. Sie begriff oft kaum, wie der Graf die ihm jetzt beschiedene ländliche Stille so heiter und gut ertragen konnte.
   »Sehnen Sie sich nicht oft ganz schrecklich nach Ihrem früheren Leben zurück?« fragte sie ihn einmal in der ihr eigenen, oft noch ganz kindlichen Art.
   Und er antwortete: »Nach dem früheren Leben, wie es in Wirklichkeit war? Oh nein. – Wohl aber nach dem einstmaligen Glauben, so viel im Leben schaffen zu können. – Im übrigen kann, wer in den Geschäften ist, nie früh genug nach einer schicklichen Gelegenheit spähen, sich aus ihnen zu entfernen, denn keiner noch starb in den Sielen, dem nicht der Nachruf geworden wäre: Er ist zu lang im Dienst geblieben.«
   Oft auch malte sich Ilse sehnsüchtig aus, wie das Schicksal der Frau neben dem des Mannes gewesen sein mußte. Mit welcher Begeisterung sie gewiß an allem teilgenommen und geholfen hatte. – Ja, jener waren eben Ziele gewiesen worden, die jeder Hingabe würdig waren! Und Ilse fühlte, wie sich in ihrem eigenen innersten Wesen die Fähigkeit zu unendlicher Aufopferung beinahe stürmisch regte – wenn ihr nur auch Aufgaben geworden wären, die sie mit sich fortgerissen hätten!
   Wie sie nun die Gräfin nach jenem früheren Leben einst fragte, antwortete diese mit leisem Lächeln und halb geschlossenen Augen: »Ja, es war erhebend, dies Gefühl, großen Zwecken gemeinschaftlich zu dienen, diese Hoffnung, erreichen zu können, was wir kurzlebige Menschen bleibende Erfolge nennen, und was doch meist nach fünfzig Jahren überholt, verändert, entwertet ist. – Aber das wirklich Schöne, das war doch nur, daß wir beide uns liebten und wußten, daß das, inmitten aller wechselnden Bilder, das Bleibende sei.«
   Da mußte sich Ilse sagen, daß nicht nur der äußere Bau ihres Lebens kläglich und dürftig neben dem der neuen Freundin erschien, sondern daß ihm vor allem das gleiche, starke und alles tragende Fundament fehlte. – Und das war etwas, was sich bei einem Bau nicht mehr nachholen läßt.
   Wenn aber solch plötzliches Erkennen gar zu trostlos in Ilses schimmernden Augen zu lesen stand, dann streichelte die Gräfin sie mitleidig, wie ein armes Kind, das im Schlafe beraubt worden ist, und diese sanfte Frauenfreundschaft beschenkte mit so viel, daß Ilse darüber vergaß, wie arm sie eigentlich war.
   Doch wie eine Angst überkam sie manchmal der Gedanke, daß dies Zusammensein doch einmal aufhören müsse. »Was soll aus mir werden, wenn Sie erst wieder fort sind?« klagte sie.
   » Sie müssen, wenn wir im Winter in Berlin sind, auch eine Zeitlang hinkommen« – antwortete die Gräfin.
   »Das ist unmöglich, wir sind hier ja wie eingewurzelt,« seufzte Ilse, deren Jugend alle Zustände noch als Endgültigkeiten erschienen.
   »Ach Kindchen,« sagte die ältere Frau, »scheinbare Unmöglichkeiten räumen sich oft ganz von selbst aus dem Wege, so daß man manchmal glauben könnte, im Wünschen läge wirklich eine zwingende Macht.«
   Aber Ilses tägliche Besuche vergingen nicht nur in Gesprächen, vor allem sollten sie ja ihrer musikalischen Ausbildung gelten.
   Kaliwoda und Lydia Neuland hatten sie geprüft, ihr Klavierspiel, Gehör und Geschmack gelobt und ihrer Stimme eine schöne Entwicklung prophezeit, vom Glauben der Gräfin an die von der Großmutter ererbte Begabung getragen, wähnte nun Ilse, da läge die Zukunft und Möglichkeit, ein allereigenstes Dasein zu führen. Sie begann zu hoffen, ihre Stimme würde sich als so groß und schön erweisen, daß sie es vielleicht erreichen würde, ihrer Ausbildung halber im Winter nach Berlin zu dürfen. Der Gedanke, selbständig etwas leisten zu können, verlieh ihr Flügel. Sie entsann sich, wie sie einst, als ganz kleines Mädchen, ein Feuerwerk gesehen, wie sie den glänzend aufschwirrenden und in tausend Sternen zerstiebenden Raketen nachgeschaut und das bewundernde »ah« – der Menschen vernommen hatte, und wie da der kindische Wunsch in ihr entstand, auch einmal solch ein leuchtendes Etwas sein zu können, das strahlend zu Himmelshöhen steigt und nächtliche Finsternis zu blendendster Helle wandelt. – Und nun glaubte sie, daß dieser kindische Wunsch in Wahrheit ein Vorausahnen der in ihrer Eigenart begründeten Zukunft gewesen, und daß er sich ihr endlich erfüllen solle. Denn in der Kunst, da konnte ja auch eine Frau zu Höchstem gelangen und lichten Glanz über ein sonst dunkles Leben breiten.
   So sang und übte Ilse mit dem ganzen Tatendurst ihrer Seele. Wie stürmende Belagerer steile Höhen erklimmen, wie Schiffbrüchige in leckem Boot zum Ufer rudern, so arbeitete sie. – Leben, mehr als Leben galt es ja.
   Nie hatten Kaliwoda oder Lydia Neuland eine derartige Schülerin unterrichtet.
   »Mir ist manchmal bang um sie,« sagte der Pianist zu Lydia, »weil ich fürchte, daß sie dran zugrunde gehen würde, wenn etwas ihren Flug unterbräche.«
   »Und das könnte leicht geschehen,« antwortete die Sängerin, »denn das eigentliche Stimmmaterial ist doch schwächer in ihr wie die Begeisterung.«
   Kaliwoda nickte. »Ja, diese Begeisterung! Als wir ihr zuerst sagten, daß ihre Ausbildung sich lohne, da kam über sie ein erlöster Ausdruck, den ich nur einmal früher gesehen habe. Bei meiner Tournee in Amerika war es, in einer Minenstadt des Westens – da wurden gerade verschüttete Arbeiter aus einem Bergwerk zutage gebracht – die hatten diese selbe verzückte Glückseligkeit, als sie das Licht erblickten.«
   Die beiden großen Künstler förderten Ilse mit ihrem ganzen Können. – Zuerst hatten sie es nur aus Gefälligkeit für Gräfin Helmstedt unternommen, die ihnen, den ruhelos wandernden, durch vieles Getrennten, in Frohhausen einen Sommerhafen bot, wo sie, nach des Jahres Anstrengungen und Fahrten, einmal nebeneinander vor Anker gehen konnten; dann waren ihre feinen Künstlernerven von Ilses eigentümlichem Zauber berührt und in Schwingung gebracht worden, und schließlich interessierten sie sich für die Aufgabe selbst. Denn Ilse machte überraschende Fortschritte. Gräfin Helmstedt war bei dem Unterricht oft zugegen. Sie hatte ihr ganzes Leben Künstler um sich versammelt, gehörte zu den Menschen, die in Bayreuth und bei allen Musteraufführungen anzutreffen sind und verbrachte selbst täglich Stunden am Klavier. Ilses künstlerische Erweckung war so recht eine Tat nach ihrem Herzen, das überall impulsiv beglücken und befreien wollte. Ilse, die Unverwöhnte, empfand das. Es kettete sie an die Freundin. »Ich werde Ihnen das Glück meines Lebens verdanken,« sagte sie schwärmerisch.
   So verging eine selige Zeit mit unbegrenztem Arbeiten und unbegrenztem Hoffen.
   Ilses Vater hatte eigentlich in diesen Wochen seinen längst angesagten Besuch in Weltsöden ausführen wollen, aber dann schrieb Greinchen für ihn ab, weil er wieder von seinen alten Herzbeschwerden geplagt würde. – Statt seiner traf ein schöner Flügel ein, den er Ilse schenkte, nachdem sie ihm von ihren Musikstudien geschrieben hatte. Sie stellte das Instrument in ein Zimmer neben der braunen mit Straminstickerei gezierten Schlafstube. Es war dies ein unbenutzter Raum, wie er von voraussichtigen jungen Paaren für alle etwaigen Vorkommnisse bereit gehalten wird, und der in Weltsöden noch nicht seinen eigentlichen Namen führen konnte, sondern mit einer gewissen vorwurfsvollen Schärfe als »das leere Zimmer« bezeichnet wurde.
   Da stand nun der Bechstein, und Stunden konnte Ilse davor verbringen. Denn hier war sie ganz ungestört, niemand lauschte; und neben den von Kaliwoda und Lydia vorgeschriebenen Übungen und Stücken fanden ihre Hände und ihre Stimme allmählich eigene Begleitungen zu eigenen Melodien. Tastend und unbeholfen noch und doch für sie selbst unendlich beglückend. Als ob der Bann der Einsamkeit von ihr genommen würde, war dies Erlebnis, eine Sprache gefunden zu haben, in der sie all das große unklare Sehnen ausdrücken konnte, für das sie Worte nicht wußte. Ihre ganze Persönlichkeit entfaltete und kräftigte sich daran. Die Musik war ihr zur inneren Befreiung geworden.
   Weit über Erwarten hatte sich Frau von Zehrens Aufenthalt bei ihrer erkrankten Schwester ausgedehnt, doch endlich war sie dort entbehrlich und kehrte heim. Und alle Sorgen, die sie während der langen Abwesenheit geplagt, erwiesen sich als unbegründet, denn in Reih und Glied standen in der Speisekammer die Gläser eingemachter Beerenobste; und im wohlverwalteten Küchengarten waren die Gemüse in sorgsam erwogener Anordnung gesät, so daß sie bis zum späten Herbste erfreuliche Reihenfolge versprachen. Weise auch hatte Mamsell die große Wäsche gerade vor Rückkehr der gnädigen Frau Mutter beendet, und in den lavendelduftenden Schränken lagen die schimmernden weißen Linnen, wie reine Gewissen, die auch vor strengster Prüfung nicht zu bangen brauchten. – So konnten denn die äußerlichen Dinge selbst vor Augen bestehen, die eigentlich Mängel zu finden wünschten, und die Gereiztheit, mit der Frau von Zehren stets von Reisen heimkehrte, mußte andere Gebiete suchen. Und da fand sie, daß der Geist des Aufruhrs, den Pastoren und weltliche Autoritäten so häufig rügen mußten, auch in ihr bisher wohlgehütetes Reich gedrungen war. – Als Frau von Zehren am Morgen nach ihrer Ankunft gesagt hatte: »Nun will ich mal überall revidieren,« war der Schwiegertochter gleichgültige Antwort gewesen: »Du hattest ja Mamsell deine Befehle gegeben, sie wird wohl alles gemacht haben, wie du wolltest.« Und ohne Anerbieten der Begleitung hatte sie die Schwiegermutter ihre Wanderung antreten lassen.
   Auf ihrem Inspektionsgang kam Frau von Zehren auch in das leere Zimmer und entdeckte den neuen Flügel. Ilse, die den noch immer leicht hinabgleitenden Trauring abgenommen hatte, saß davor und übte gerade Mignons Lied von Thomas, in diesem Raum, dessen eigentliche Bestimmung war, nur Wiegenlieder zu vernehmen.
   – Im Beisein der Mamsell unterdrückte Frau von Zehren ihr Mißfalllen ob solcher Neuerung, aber später, in Gegenwart Theophils, sagte sie: »Du scheinst mir deine ganze Zeit am Klavier zu vertrödeln, liebe Ilse.«
   »Oh nein!« antwortete Ilse, »ich trödle wirklich nicht – ich arbeite sehr eifrig an meiner Musik.«
   »Du arbeitest?« wiederholte die Schwiegermutter erstaunt. »Na, jede von uns hat ja genügend Musik gelernt, um mal der Jugend zum Tanz aufzuspielen und im Chor mitsingen zu können, – aber arbeiten hätten wir das doch kaum genannt.«
   »Ich hoffe auch etwas mehr damit zu erreichen,« erwiderte Ilse, und dann setzte sie inbrünstig hinzu: »Ich muß mir doch irgendein Leben schaffen.«
   »Mir scheint, du hast das Leben aller jungen Frauen.«
   »Ja, siehst du, wenn das wirklich das Leben aller jungen Frauen ist – dann … genügt‘s mir eben nicht.«
   »Theophil!« rief Frau von Zehren, »Theophil, was sagst du dazu?«
   Aber Theophil sagte gar nichts. Ihm war unbehaglich zu Mute. Er war zwar seit frühester Jugend daraufhin erzogen, der Mutter stets beizustimmen; da ihn aber Ilses neueste Musikpassion in keiner seiner Gewohnheiten störte, war er geneigt, ihr darin freie Hand zu lassen. Außerdem schmeichelten ihm auch etwas die auffallende Beachtung, die Ilse bei Helmstedts fand, und die häufigeren Einladungen, die auch er dadurch notwendigerweise nach Frohhausen erhielt. Zu der Erkenntnis, daß die Heirat mit Ilse nicht die geeignetste für ihn gewesen, war er ja, mit langsamem Denken und dank der Nachmittagstees in Mechtilds Haus, allmählich gekommen, aber dem ländlich bäuerischen Verstand entspricht es, auch aus einem schlechten Handel mit Zähigkeit größtmöglichen Vorteil zu ziehen, – wenn es daher nun mal zu Ilses Mitgift gehörte, gerade bei Leuten wie Helmstedts Sympathie zu erwecken, so mußte man das mitnehmen, konnte es vielleicht sogar mal praktisch, etwa auf politischem Gebiete, ausnutzen. – Aber er fühlte, daß die Mutter irgendeine beistimmende Unterstützung von ihm erwartete, und so begann er langsam und feierlich: »Ich fürchte ja freilich auch, daß Ilse kein rechtes Verständnis für die Pflicht hat, ganz in den Interessen des Mannes aufzugehen, und daß ihr Sinn immer noch zu sehr nach Eigenem strebt, – was indessen dieses bißchen Geklimpere und Gesinge betrifft, so schadet es ja niemand – und – na, ich versteh allerdings nichts davon, aber,« und er endigte hastender, »bei Helmstedts fand man‘s neulich hübsch.«
   »Wenn du dich danach richten willst, was in Frohhausen hübsch gefunden wird,« rief Frau von Zehren erregt, »so kann uns das freilich weit führen! Der ganze Verkehr dort paßt nicht für solch eine unreife, ungefestigte Seele! – Gerade diese beiden sogenannten Künstler, die, wie mir Mechtild schrieb, Ilse Unterricht geben – nun – diese … diese … sie sollen ja zusammen in wilder Ehe leben!«
   »Oh Mama!« fiel Ilse eifrig ein, »so ist das wirklich nicht! Der arme Herr Kaliwoda möchte sich ja so gern von seiner Frau scheiden lassen, und dann würde er Fräulein Neuland sicher gleich heiraten – aber in seinem Lande sind Scheidungen so schwierig, und seine Frau, die er doch seit Jahren nicht mehr gesehen hat, und die gar kein Verständnis für ihn und seine Kunst hat, will ihn absolut nicht freigeben, was soll er da tun?«
   »Nun das ist doch sehr einfach, was er tun sollte, liebe Ilse: Was man nicht nach Gesetz und Sitte besitzen kann, dem entsagt man eben.« Es klang so klipp und klar, als ob Frau von Zehren eine große Schere zuklappe.
   Ilse jedoch machte noch einen Verteidigungsversuch zu Gunsten ihrer neuen Freunde: »Herr Kaliwoda und Fräulein Neuland brauchen sich gegenseitig so sehr zu ihrem künstlerischen Schaffen – und dann denkt euch doch nur in die armen Menschen hinein: Daß sie sich im Sommer so einige Wochen treffen, ist das einzig Schöne, was sie im Leben haben!«
   »Nein, nein, liebes Kind,« sagte nun auch Theophil gemessen, »das sind nur bequeme Ausreden für einen Mangel an Selbstzucht. In allem, was du da vorbringst, liegt ein verderblicher kosmopolitischer Zug, und dies Spielen mit dem Begriff der Lösbarkeit der Ehe ist für unser hiesiges Empfinden höchst verletzend! und sollte es auch dir wie jeder Frau sein. – Dagegen will ich nicht in Abrede stellen,« setzte er hinzu, »daß es Vergehen des Weibes gibt, nach denen dem Mann allerdings nichts anderes übrig bleibt.«
   Ilse warf ihr hübsches Köpfchen in die Höhe und entgegnete lebhaft: »Na, ich kann nur sagen, daß diese Frau Kaliwoda, die ihren Mann durchaus festhalten will, mir sehr würdelos erscheint.«
   »Ich finde im Gegenteil, daß sie achtungswert handelt, ihrem Mann die Rückkehr in ein geordnetes Leben offen zu halten,« fiel Frau von Zehren ein. »Aber ich fürchte, liebe Ilse, du bist schon etwas angekränkelt von allem, was du in Frohhausen gehört haben magst, – na, und ob dies viele Musizieren und Exaltiertwerden dir überhaupt zuträglich ist? – Am besten wird wohl sein, ich lasse mal Liebetrau kommen und höre, was der davon hält.«
   So endete das Gespräch, und Dr. Liebetrau ward wieder einmal nach Weltsöden berufen. Ihm schüttete dann Frau von Zehren ihr Herz aus, und in mühsam unterdrückter Erregung schloß sie ihre Darlegung mit den Worten: »Und in das leere Zimmer hat sie den Flügel gestellt, verstehen sie, bester Liebetrau? – In das leere Zimmer!«
   »Ja, ja, meine gnädige Frau, ich verstehe,« antwortete der Arzt beschwichtigend und klopfte dabei auf den mit Nettelbecks Silhouette gezierten Deckel der Horndose – »verstehe auch, daß es Sie betrübt, daß das Zimmer, abgesehen vom Flügel, noch leer ist, – aber,« und dabei reichte er den Höhlen seiner gebirgigen Nase den Schnupftabak dar, »ich sehe in diesem Instrument doch lediglich einen Notbehelf, zu dem die kleine Frau halb unbewußt greift, sie ist eben eine Suchende, die den Weg noch nicht gefunden hat.«
   »Bester Liebetrau, was sind das nun wieder für moderne Redensarten, und noch dazu von Ihnen, der Sie doch ein alter Mann sind, wie ich eine alte Frau bin, – von so was redete man doch gar nicht, als wir jung waren!«
   »Freilich nicht, aber heutzutage sind die Menschen nicht mehr so einfach – oder bilden sich wenigstens ein, es nicht zu sein, – und wenn wir Alten noch etwas Einfluß behalten wollen, müssen wir uns halt in sie hinein zu denken trachten.«
   »Und was ist es denn, was meine Schwiegertochter Ihrer Ansicht nach sucht?«
   »Freude, meine gnädigste Frau. Freude an sich selbst, am eigenen Wert, vor allem daran, etwas Eigenes zu leisten.«
   »Aber sie hat doch meinen Sohn?«
   »Nun ja, nun ja!« antwortete der Doktor und zog das türkische Taschentuch hervor, »das sagt jede Mutter und hält damit alles für abgetan, und daß die Schwiegertochter hübsch dankbar sein soll.«
   »Dazu hätte sie doch auch allen Grund! Aber ich will Ihnen etwas sagen, Liebetrau, es weht eben ein schlimmer Wind über die Erde, und unser guter Rockstroh hatte wahrlich recht, als er neulich in der Predigt sagte: ›Die Unzufriedenheit auf der Welt ist so groß, daß nächstens die Säuglinge an der Mutterbrust sich beschweren werden, Milch statt Sahne zu erhalten‹«
   »Hm, hm,« machte Liebetrau und schneuzte sich heftig in das türkisch gemusterte Taschentuch, »das wäre freilich schlimm; aber wenn hier in Weltsöden erst ein Säugling ist, wird er sicher weniger umstürzlerisch denken.«
   »Ja – wenn!« seufzte Frau von Zehren.
   »Ach,« sagte Liebetrau zuversichtlich, »es sollte mich gar nicht wundern, wenn sich der bald einstellte. Das junge Frauchen macht sich seit einiger Zeit sehr heraus und sieht entwickelter aus. – Na, und mit all ihren Ideen jetzt müssen Sie halt Geduld haben, meine Gnädigste – das sind Kinderkrankheiten der Seele, und je heftiger sie auftreten, desto normaler ist nachher oft die Gesundheit – es wäre ja freilich besser gewesen, wenn sich all das hätte vor der Ehe abspielen können, so daß diese selbst die Erfüllung gewesen wäre, – aber hoffen wir, daß, wenn erst im leeren Zimmer neben dem Flügel eine Wiege steht, darin das ›Eigenste‹ sein wird, an dem Ihre Schwiegertochter die Freude findet, nach der sie jetzt noch sucht.«
   »Gott erhör Sie, Liebetrau! Aber,« und dabei blitzten Frau von Zehrens kleine schlaue Äuglein tückisch über den weiten Elefantenwangen, »eins will ich Ihnen doch sagen: Ich werde dafür sorgen, daß es nicht zu sehr ihr eigenstes wird.«
   So durfte denn Ilse fortfahren, am Bechstein zu üben und in Frohhausen in musikalische und andere neue Welten Blicke zu tun. – Es kam jedoch bisweilen vor, daß sie sich beim Üben müde fühlte, ihr Rücken tat ihr weh, und manchmal wurde ihr schwindlig; dann nahm sie sich aber doppelt zusammen, daß niemand es bemerke, und sie gewahrte dabei mit Genugtuung, daß Kräfte in ihr schlummerten, die, sobald sie zu einem lohnenden Zweck aufgerufen wurden, bereitwilligst antworteten. Und den Zweck hatte sie ja nunmehr gefunden: Sie ersang und erspielte ihrem Leben einen Inhalt. – Das zunehmende eigene Können und Verstehen der Musik war für sie wie das Anwachsen eines geheimen wohlgehüteten Schatzes. Schmerzlich leer war das Leben ihr bis dahin erschienen, aber wenn sie sich jetzt zwischen Theophil und der Schwiegermutter auch noch so fremd dahin bewegte, so wußte sie ja, daß sie etwas besaß, woran sie nur zu denken brauchte, um Niedergeschlagenheit und Einsamkeit zu verscheuchen, wenn sie jetzt nachts im braunen Schlafzimmer aufwachte und aus dem nußholzenen Bette neben ihr Theophils Schnarchen in regelmäßigen Knarr– und Sägetönen zu ihr drang, dann summte sie ganz leise eine der neuen Melodien vor sich hin, und alsobald entschwand die Wirklichkeit, und sie wähnte sich fern und frei in einer Welt, deren Harmonien ihr gehörten.
   Ein paar Wochen später, nach dem Mittagessen, als sich Theophil bereits zum Rauchen in sein Zimmer begeben hatte, und Frau von Zehren gerade die Likörflaschen in das mit geschnitzten Jagdemblemen gezierte Büfett aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einschloß, trat die Mamsell ins Eßzimmer. Sie hatte den erregten Ausdruck ungebildeter Leute, die sich stets freuen, als erste eine grausige Nachricht bringen zu können. Mit flüsternder Stimme meldete sie: »Die Försterin liegt seit heute früh in den Wehen – es soll schlimm stehen, und der Förster ist ja seit gestern für den Herrn verreist.«
   »Ist denn die Rückschwart nicht bei ihr?« fragte Frau von Zehren.
   »,Ja, jetzt ist sie da,« antwortete die Mamsell, »aber sie war ja heute nacht bei der Köppen Sophie und hat erst spät hingekonnt.«
   »Na, da wollen wir mal nachschauen,« sagte Frau von Zehren und wandte sich dann zu Ilse: »Du kannst mich begleiten.«
   Ilse waren bei den Worten der Mamsell die Kniee plötzlich ganz weich geworden, als könnten sie sie nicht mehr tragen, und sie hatte unwillkürlich nach einer Stuhllehne gegriffen; aber sie raffte sich zusammen, schalt sich feige und folgte der Schwiegermutter, die bereits im Flur stand und sich den dort hängenden braunen Gartenhut mit den karrierten Bindebändern aufsetzte. Dabei überkam Ilse jedoch wieder das seltsame Gefühl, in einen schwarzen Strudel hinabgezogen zu werden, das sie während der letzten Wochen schon mehrmals empfunden hatte. Frau von Zehren bemerkte ihre plötzliche Blässe und sagte: »Ja, so sind nun heutzutage die jungen Menschen: Sie verlangen immer mehr, aber sie vermögen immer weniger. Jetzt kann eine Frau schon nicht mehr mit ansehen, wie ein Kind geboren wird! Na,« schloß sie verächtlich, »bleib bei deinem Klavier, dazu taugst du wohl besser.«
   »Nein, nein, Mama,« antwortete Ilse, die den Schwindelanfall nunmehr überwunden hatte, »ich komme sehr gerne mit – die arme Anne Dore tut mir ja so schrecklich leid.« Beim Verlassen des Hauses blieb sie einen Augenblick vor der Tür stehen, um die sich Schlingrosen rankten. In großen Dolden blühten sie, blutrot und üppig sprießend, wie verkörperter Lebenswille. Ilse brach einen der Zweige ab, der die Blumenfülle kaum zu tragen vermochte.
   »Was willst du damit?« fragte Frau von Zehren.
   »Ich werde Anne Dore die Blumen mitbringen, vielleicht machen sie ihr Freude,« antwortete Ilse und entfernte sorgsam die Dornen, so daß sie nicht gewahret, wie Frau von Zehren, stumm zum Himmel aufschauend, die Achseln zuckte.
   Dann gingen sie den kurzen Weg zum Forsthaus durch die gemähten Wiesen. In großen Haufen lag das duftende Heu, um auf den bereitstehenden Erntewagen eingefahren zu werden. All die Zittergräser, Gänseblumen, blauen Glocken und rosa Federnelkchen, der rote Klee, die Schafgarben, Butterblumen und Vergißmeinnicht, von denen noch vor wenig Tagen ein jedes sein aufrechtes, blühendes Sonderdasein geführt hatte, waren hingesunken und unkenntlich geworden in den graugrünen Ballen, die die Mägde auf die Wagen türmten; aber schon begannen unter den lockenden Sonnenstrahlen neue Halme und Knöspchen aus den Wurzeln hervorzutreiben, und auch auf diesem armen Boden blieb die ewige Lebenskraft Siegerin.
   Weiße Schmetterlinge spielten paarweise in der warmen Luft, Bienen summten geschäftig um die Linden längs des Weges, vor einem Knechthäuschen kauerte ein blondes barfüßiges Kind und hielt ernst und wichtig einer Familie gelber flaumiger Entchen einen Napf vor, während eine im Sonnenschein lang ausgestreckte Katze ihre Jungen säugte. Die Natur mit ihrem Sorgen für die Kommenden erschien als eine milde freundliche Macht, und Ilse, von der im Freien die Angst um Anne Dore und das eigene Mißbehagen gewichen waren, sagte sich, daß es schön sei für das kleine Kind Anne Dores, an diesem sonnigen, glückverheißenden Tage der wonnigen Welt geboren zu werden.
   Das Försterhaus war ein altes trutzig dreinblickendes Gebäude mit dicken Mauern und schmalen vergitterten Fenstern. In fernen unruhigen und selbstherrlichen Zeiten hatten es die Herren von Zehren als Gefängnis benutzt. Ein freier Platz daneben hieß noch die Galgenstätte. Gleich dahinter begann der dünne Kiefernwald.
   Es war kalt und finster in der unteren Diele und seltsam still, wie tot, nach all dem schwirrenden, summenden und schnatternden Leben draußen. Eine schmale steile Holztreppe führte zum ersten Stock. Wie nun die beiden Frauen, aus dem Lichte kommend, sich in der Dunkelheit emportasteten, tönte von droben ein Wimmern, das Ilse noch nie vernommen. Sie schaute erschreckt zur Schwiegermutter. Aber Frau von Zehren stieg unbekümmert weiter, als gehöre dieser klagende Laut zu der rechtmäßigen Ordnung der Dinge, an der nichts je zu ändern, und Ilse folgte ihr auf der steilen Treppe, die in alten Zeiten Gefangene stöhnend gegangen waren, und die zum geheimsten Verließ zu führen schien, wo eines schauerlichen Kultes Opfer gepeinigt werden. – Oben war ein schmaler Flur. Eine Tür öffnete sich von innen, die lange hagere Gestalt der Rückschwart wurde darin silhouettenhaft sichtbar, und das leise Wimmern tönte lauter.
   »Wie steht‘s?« fragte Frau von Zehren. Die Rückschwart murmelte etwas, das Ilse nicht vernahm; nur die letzten Worte verstand sie: Es war zu Dr. Liebetrau geschickt worden. – Frau von Zehren nahm den braunen Hut mit den karrierten Bändern ab, legte ihn auf den Tisch im schmalen Flur und schritt dann resolut in das Zimmer, dessen Tür die Rückschwart offen hielt. Ilse trat nach ihr ein. Der Zweig roter Rosen aber war ihr wie von selbst aus der Hand geglitten und auf den Boden des finsteren Flures gesunken.
   Das Zimmer war beinahe so dunkel wie der Gang davor; kaum, daß sich ein Sonnenschimmer durch das schmale vergitterte Fenster an der Dicke der Mauern entlang und bis auf das Bett schlängeln konnte, wo Anne Dore bleich und verstört lag. – Geschäftig bemühten sich Frau von Zehren und die Rückschwart um die Kranke, und ihre Bewegungen glichen sich in ihrer selbstverständlichen Sachlichkeit und einer gewissen ländlichen Derbheit, die selbst der offenbare Wunsch wohlzutun nicht zu verfeinern vermochte.
   Ilse war in der dunkelsten Ecke stehen geblieben und starrte lautlos auf Anne Dores Mund, der sich bisweilen vor Schmerz verzerrte, auf die weiße Stirn, an der das Haar in feuchten Strähnen klebte. – Oh! die Natur war doch keine freundlich milde Macht! wie Ilse vorhin draußen gedacht, nein, sie war noch heute ganz so grausam und unverständlich, wie die Menschen, die in vergangenen Jahrhunderten dieses selbe Zimmer als Folterkammer benutzten. Und plötzlich fragte sich Ilse, ob Papa, wenn er dieses hier hätte sehen können, wohl noch sagen würde: Es ist ja nicht schlimm, es ist nicht so schlimm!
   Einmal, als Frau von Zehren und die Rückschwart in die Küche gegangen waren, schlich sich Ilse zaghaft zu Anne Dore heran und streichelte leise die nassen Hände, die sich in die Decke gekrampft hatten.
   Es war ihr, als sei ein grauenhaftes Etwas da im Zimmer, das sie nicht sehen, sondern dessen Nähe sie nur fühlen konnte, das aber Anne Dores weit aufgerissene Augen deutlich erblickten. – Die kleine Ilse fürchtete sich so sehr, daß sie dachte, es müsse eigentlich weniger schlimm sein, zu sterben, wie solche Furcht zu empfinden, aber über all diese Furcht hinaus ging doch noch das Mitleid, das ihr wie ein physischer Schmerz am Herzen riß. Sie wollte so gern dem armen wimmernden Wesen helfen, das sich da vor ihr in Schmerzen wand, den Abgrund überbrücken, der stets den einen Menschen vom andern trennt, und einen jeden in Einsamkeit erhält; sie wollte Anne Dore ganz, ganz nahe kommen, so nahe, bis daß diese fühle, es gibt nur ein Leben und ein Leiden, und das tragen wir alle zusammen.
   Die Zeit schlich. Endlos schienen sich die Minuten und Viertelstunden zu dehnen. – Frau von Zehren schaute auf die Uhr, blickte zum Fenster hinaus und murmelte: »Er müßte schon da sein.« – In all ihrer Unerfahrenheit fühlte Ilse doch, daß es mit Anne Dore in jeder dieser schleichenden Viertelstunden schlimmer wurde, daß das grauenhafte Etwas näher und näher rückte. – Und dies fern zu halten, es zu überwinden, dies arme stöhnende Leben zu retten – das war doch das Einzige, worauf es ankam, ein Ziel, jeden Opfers wert, etwas, für das es leicht sein müßte, sich selbst hinzugeben. Ilse vergaß alles andere darüber, vergaß, wie schwach sie sich selbst fühlte, wie nur die Aufregung sie noch aufrecht hielt. – Sie sah das Achselzucken der Rückschwart, die nichts mehr vermochte, – da faltete sie in ihrem dunkeln Winkel die Hände und betete stumm: Nimm mich statt ihrer, lieber Gott, laß mich für sie sterben!
   Aber endlich kam Dr. Liebetrau. Und mit ihm trat auch Zuversicht ins dunkle Zimmer. – Ilse fühlte, da ist einer, der kämpfen wird. – Er bemerkte sie gar nicht, wie sie da im Schatten kauerte und gebannt vor sich hinstarrte. – Er achtete nur auf Anne Dore, und selbst Frau von Zehren war ihm in diesem Augenblick nichts anderes wie die Rückschwart, die er zu allerhand Handreichungen kurz und bündig hin und her beorderte. – was eigentlich geschah, wollte Ilse gar nicht sehen, sie fühlte, daß es furchtbar sein mußte; sie lauschte nur auf die kleinen freundlichen, seltsam weichen Worte, mit denen Dr. Liebetrau Anne Dore ermutigte.
   Und dann trat Frau von Zehren zu Ilse und sagte ihr, sie solle in der Küche nach dem heißen Wasser sehen und es hereinbringen. – Schwankend ging sie hinaus; sie fühlte plötzlich wieder den Schwindel, das Hinabsinken in einen finsteren Strudel. Sie klammerte sich beim Gehen an die Möbel. Niemand bemerkte es. Die drei waren über das Bett gebeugt. ein seltsam süßlicher Geruch zog durchs Zimmer. Ilse wurde ganz weh davon.
   Mühsam hob Ilse den schweren Kessel vom Herde, goß das heiße Wasser in eine Kanne, füllte den Kessel von neuem, stellte ihn zurück aufs Feuer. – Dazwischen fuhr sie sich mit der Hand über Rücken und Schenkel. Sie hatte plötzlich unerträgliche, ziehende Schmerzen. Sie mußte sich auf den Küchenstuhl setzen. – sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen.
   »Ilse, Ilse,« rief da Frau von Zehren an der Tür, »bring doch endlich das Wasser.«
   Sie nahm die schwere Kanne und schwankte herein. Es rauschte und summte ihr in den Ohren, und dazwischen hörte sie die Stimme der Rückschwart: »Stramme Bengels für Zwillinge!« Anne Dores Stöhnen hatte aufgehört, dagegen füllten andere Töne das Zimmer, kleine rührende Schreie unbefragt in die Welt gefetzter Wesen, die sich instinktiv vor dem Leben fürchteten.
   Frau von Zehren und die Rückschwart hielten jede ein kleines, feuchtes, rotes Etwas in den Armen.
   »Gieß das Wasser in die Wanne,« sagte Frau von Zehren.
   Nun wurde Dr. Liebetrau Ilse gewahr, »Was, Sie sind hier?« fragte er erstaunt.
   »Ich war ja die ganze Zeit hier,« antwortete sie. »Aber nicht wahr,« fragte sie flehend, »nun ist es doch vorbei?« Es klang wie beginnendes Schluchzen in ihrer stimme.
   »Jawohl,« antwortete Liebetrau behaglich, »nun ist es für diesmal vorbei, und mit Zwillingen ist es ja auch wohl gerade genug – na, es steht ja alles gut.«
   »Oh, es war schrecklich, schrecklich!« seufzte Ilse, und das Schluchzen wurde deutlicher.
   »Nur ruhig, nur ruhig,« beschwichtigte Liebetrau. Aber seine Worte halfen nichts mehr, Tränen liefen an ihren Wangen herab, und ein konvulsivisches Schluchzen schüttelte sie.
   »Aber Ilse,« sagte Frau von Zehren ungeduldig von der Badewanne aus, über die sie und die Rückschwart sich wie böse Feengevatterinnen beugten. »So nimm dich doch ein bißchen zusammen.«
   Dr. Liebetrau aber umschloß die erschöpft daliegende Anne Dore und die weinende Ilse mit dem gleichen Blick nachsichtigen Mitleids und sagte leise: »Ja, solche Stunden fordern eigentlich zu große Dinge von solch armen kleinen Menschenstäubchen – ‚s ist ungerecht.« Dann wandte er sich an Ilse: »Nun gehen sie aber wirklich nach Hause – Sie hätten gar nicht herkommen sollen.« – »Sag Theophil, daß ich noch hier bleibe,« rief ihr Frau von Zehren nach.
   Nun stand Ilse draußen im Korridor. Er war finsterer noch als vorher bei ihrer Ankunft, sie streckte die Hand nach dem Treppengeländer aus. Im selben Augenblick aber schoß ihr der ziehende Schmerz viel stärker noch als vorher durch Rücken und Schenkel. Es war, als würden ihr die Kniee ganz weich. Kalte Tropfen traten ihr auf die Stirn; sie blickte in einen finsteren Strudel, der sie unerbittlich in sich hineinzog. Sie wollte sich halten, tappte mit der Hand in der Luft, aber sie fand keine Stütze. Und sie fühlte nun, wie sie hinabstürzte in eine dunkle endlose Leere. – Sie hörte einen gellenden Schrei. Hatte sie den ausgestoßen? – Und dann empfand sie einen stechenden Schmerz im Rücken. Jetzt bin ich tot, dachte sie. – Dann dachte sie nicht mehr. Aber sie hörte noch, Stimmen, rauschend und summend, ganz weit fort. – Nun hörte sie nicht mehr. – Sie war gar nicht mehr da. – Aber etwas war noch irgendwo, das hörte. Was hörte? – Nun war auch das nicht mehr da.«
   Nichts war.
   Und das war die barmherzigste Zeit, als nichts mehr war. Später war wieder etwas da, wie aus weiten Fernen zurückgekommen, das litt. Lange Stunden. Als ob das Leiden nie enden würde. Aber dann endete es doch. Allmählich.
   Aber nicht, als sei der Schmerz vorüber, sondern als sei das Etwas zu schwach geworden, um noch zu empfinden. Nur keine Bewegung, keinen Laut, daß der Schmerz nicht wieder fühlbar wird. Ganz still lag das Etwas, lange Stunden.
   Später einmal, da öffneten sich die Augen. Blickten mit müdem Erstaunen. Fanden sich nicht zurecht. Was hatten sie denn früher beim Erwachen gesehen? Eine braune Tapete … Gardinen mit Straminstickerei … die waren nicht mehr da. Vielleicht hatten die Motten sie gefressen? Es war ja wohl alles sehr lange her. Alles? Was denn?
   Nun suchten die Augen. Ein Asternstrauß stand da. Was für andere Blumen hatten die Augen denn zuletzt gesehen? War da nicht einmal ein Zweig roter Rosen gewesen? Ja, rote Rosen, halb verwelkt, auf einem dunklen Flur hingesunken – und darunter – ein finsterer Schlund und auf seinem Grunde Leiden, Leiden.
   Nun wußte sie alles wieder. Verstand auch, was seitdem geschehen. Besann sich plötzlich auf Dinge, die Spuren in ihrem Gedächtnis hinterlassen hatten, und die sie doch ohne Bewußtsein ihres Geschehens erlebt haben mußte. – Jetzt erkannte sie auch, wo sie lag. Das leere Zimmer war es. Und Worte, die sie einmal vor langer Zeit gehört, tönten in ihrem Erinnern, Worte in Dr. Liebetraus Stimme: »Tragt sie ins leere Zimmer, da ist‘s am ruhigsten.« Und dann etwas später war da eine andere Stimme gewesen: »Mein armes Kind,« hatte die ganz leise und immer wieder gesagt, »mein armes Kind!«
   Aber eigentlich klang es, als sagte sie: »Es ist doch schlimm, ja sehr schlimm.«
   »Papa,« sagte Ilse, sie wußte ja nun, daß er die ganze lange Zeit dagewesen.
   Und da war er auch schon. In dem Sessel neben ihrem Bette saß er, mager und zusammengeschrumpft – als sei weniger von ihm da wie damals – wo sie ihn zuletzt gesehen – wo er noch sagte: »Es ist ja nicht so schlimm.« – Ob er jetzt wußte, wie es wirklich war? Vielleicht, denn er sah so blaß, so vergrämt aus. – Sie versuchte, ihm die Hand hinzustrecken. Eine ganz mager und klein gewordene Hand, und der glatte goldene Ring, der immer die Neigung gehabt, herabzugleiten, war fort. Mußte wohl in der langen Zeit endgültig weggerollt sein.
   »Erzähl mir, Papa,« bat sie leise, »was alles gewesen.«
   Behutsam, schonend sprach er von ihrem Sturz, von der langen schweren Krankheit. – »Du wußtest wohl damals selbst gar nicht, daß du ein Kindchen erwartetest,« fragte er flüsternd. Sie schüttelte den Kopf, und ein nachträgliches Entsetzen stieg in ihre Augen. »Theophil und seine Mutter sind sehr unglücklich,« fuhr Papa fort, »denn all diese Hoffnungen sind ja nun vernichtet – und es ist ja auch traurig.«
   Ilse atmete tief und mußte wohl noch sehr schwach sein, denn ungehindert ließ sie den Gedanken auch gleich zu Worten werden: »Ach nein, Papa, das ist gut so – es wäre ja doch wohl wie sie geworden.«
   »Still, still, Kind,« wehrte Papa ängstlich. »Jetzt im Wachen darfst du so etwas nicht sagen.«
   »Hab ich während der Krankheit viel so gesprochen?«
   Papa nickte und flüsterte: »Aber ich hab die anderen dann immer herausgeschickt.«
   Ihre Augen trafen sich, und Ilse sah: Ja, Papa wußte nun, wie es wirklich war.
   »Greinchen oder ich waren immer bei dir,« fuhr Papa fort.
   Greinchen, ach ja, Ilse entsann sich, deren Stimme hatte sie ja auch in den Fieberträumen zu vernehmen geglaubt.
   »Ich ließ Greinchen nachkommen, sobald ich sah, wie schlimm es um dich stand,« erzählte Papa.
   »Und die anderen?« fragte Ilse nach einer Weile.
   »Oh, sie waren alle sehr erschrocken und besorgt,« antwortete Papa, »der arme Theophil, deine Schwiegermutter, deine Schwägerin und ein Fräulein von St. Pierre, die gerade zu Besuch bei ihr war; auch die Kummerfelder und vor allem die beiden alten Stiftsdamen haben sich beständig nach dir erkundigt.«
   »Ja, ja,« sagte Ilse gleichgültig, »aber andere? waren nicht auch andere da?«
   »Gräfin Helmstedt ist alle Tage selbst gekommen,« erwiderte Papa, »die Blumen dort brachte sie – sie sagte, es solle etwas von ihr dastehen, wenn du erwachen würdest.«
   Papa schwieg eine Weile und sagte dann leiser: »Sie hat viel über dich mit mir gesprochen.« Und wieder schwieg er, seufzte und murmelte vor sich hin: »Ach Kind! man will ja immer das Beste, aber man weiß so wenig.«
   Es waren hindämmernde, noch halb traumhafte Empfindungen, in denen Ilse die nächsten Tage verbrachte. Die Jugend in ihr konnte nicht anders, als sich über das rückkehrende Lebensbewußtsein freuen, aber die Erinnerung fürchtete sich davor, das Dasein von neuem aufnehmen zu müssen. – Es wäre schön gewesen, noch recht lange so weiter liegen zu können, geborgen durch Papas und Greinchens Gegenwart. Die beiden verstanden es, ihr ganz unauffällig alles Störende fernzuhalten, scharfe Klänge zu mildern, Reibungen zu verhüten. – Aber daß all das doch da war und ihrer wartete, das wußte Ilse wohl, wenn Papa und Greinchen erst fort waren, dann würde alles wieder sein wie früher, schlimmer vielleicht, denn sie fühlte ja, daß manche Gegensätze noch angewachsen waren, daß ihre Krankheit wie eine lange Reise gewirkt hatte, von der man, scharfsichtiger geworden, zurückkehrt: sie las nicht nur Enttäuschung, sondern auch Vorwurf in Frau von Zehrens und Theophils Augen. Sie selbst dagegen empfand nicht nur Gleichgültigkeit, nein, etwas wie Erlösung. – Sie sann jetzt oft nach über jene Möglichkeit, die, ihr selbst unbewußt, ihr Leben eine kurze Spanne Zeit enthalten hatte. Ein furchtbares Geheimnis schien es. Wenn sie daran dachte, empfand sie wie jemand, dem Gewalt angetan worden. Wieder und wieder fragte sie sich mit nachträglichem Schauder: Wie durfte so etwas überhaupt geschehen, wenn nicht des eigenen Wesens Innerstes dazu ja gesagt?
   Über Papa war eine Unruhe gekommen, er drängte nach Hause, seit es Ilse besser ging, wollte sich unterwegs in Berlin aufhalten, wo er mit seinem langjährigen Berater, Justizrat Schilderer, dringende Geschäfte habe. – »Solltest du je einen Rat brauchen, so wende dich an den,« sagte Papa, und Ilse zuckte die Achseln – was gab es da zu raten? Sie mußte eben suchen, die Wirklichkeit möglichst zu vergessen und sich wieder auf ihre geheime Insel retten. Von ihrem Bette aus schaute sie nach dem Flügel, der in eine Ecke geschoben worden war – dort war ihre geheime Insel.
   Als Ilse ihre Tage schon wieder auf dem Sofa verbringen konnte, reisten Papa und Greinchen ab. Es war dann zuletzt, trotz all seines Drängens, als ob sich Papa gar nicht von Ilse trennen könne, immer wieder griff er nach ihrer Hand, streichelte die lose hängenden Haare, hob das weiße schmale Gesicht in die Höhe und blickte in die noch größer gewordenen Augen. – ›Warum sind wir je auseinander gegangen, da wir doch so sehr zusammengehören?‹ dachten sie beide. Und Papa beantwortete die stumme Frage: »Ich bin ein kranker Mann, Kind, ich wollte gut für dich sorgen,« sagte er traurig. – In Ilse aber regte sich die Gegenfrage: »Gibt es denn keine andere Weise, für eine Frau zu sorgen, wie sie einem Mann zu geben?«
   Ach, wer doch stark und frei wäre, sich ein eigenes Leben zu schaffen!
   Über den Kiesplatz drunten rollte nun der Wagen davon, in dem Theophil Papa und Greinchen nach Sandhagen fuhr. – Bei dem verhallenden Ton wollte es wie verzagende Hoffnungslosigkeit und bange Ahnung unwiderruflichen Abschieds in Ilse aufsteigen, aber sie bezwang sich: Stark und frei mußte man werden, sich ein eigenes Leben schaffen – und wenn es auch schon zu spät scheint.
   So erhob sie sich vom Sofa, schritt auf noch schwachen Füßen zum Klavier. – Zaghaft zuerst berührten ihre Finger die Tasten, suchten die Begleitungen der Lieder, die sie vor Monden zuletzt gesungen, fanden sie wieder gleich einst gekannten Zauberformeln und mit ihnen all die Hoffnungen, die geheimen Seligkeiten jener vergangenen Tage. – Ja, singen wollte sie wieder, singen, in den hellsten, jauchzendsten Tönen ihrer Stimme, Töne, denen sie selbst damals oft mit erstauntem Entzücken gelauscht. Ein Preislied sollte erschallen, daß ihr in allem Elend dies eine große Glück des Gesanges gegeben!
   Ihre Augen strahlten, sie öffnete die Lippen: Ein schmetterndes Preislied sollte es werden!
   Aber was war das? Wo blieb der erwartete Schall? Kaum ein Ton entrang sich ihrer Kehle … nicht mal ein Echo früherer Klänge rief ihr mühsames Pressen hervor. – Entsetzt und doch noch ungläubig versuchte sie es abermals, versuchte statt des Liedes einzelne Töne, versuchte es leise, versuchte es laut. – Das konnte doch nicht wahr sein? Sie mußte sich geirrt haben. – Aber da war kein Irrtum, – die Stimme war verschwunden, war statt ihrer gestorben. – Die Stimme, die ein neues Leben ersingen sollte.
   Da stützte sie die Arme auf den Flügeldeckel, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte fassungslos.
   So fand sie Dr. Liebetrau, der von Frau von Zehren zu seinem täglichen Besuch hereingeführt wurde.
   »Ja, ja, mein Kind,« sagte Frau von Zehren freundlicher als sonst, als sie Ilses tränenüberströmtes Antlitz gewahrte, »es fängt nun wohl an, dir zum Bewußtsein zu kommen, welch Unglück deine unzeitige Krankheit über die Familie gebracht hat! Da magst du freilich weinen.«
   »Doktor,« rief Ilse noch ganz benommen und ohne Frau von Zehrens Worte recht verstanden zu haben, »liebster Doktor, ich habe … meine Stimme verloren – ich kann nicht mehr singen!« und sie fing wieder zu schluchzen an.
   »Darüber weinst du?« rief Frau von Zehren, und die kleinen tückischen Äuglein funkelten über den weiten Wangenflächen, »an solche Lappalien vermagst du zu denken, wo Weltsöden vielleicht an die Kummerfelder kommen wird – denn Liebetrau meint ja, daß du nun doch wohl schwerlich mehr …«
   »Aber, aber,« unterbrach sie der Arzt, »lassen wir doch all das und freuen wir uns, daß die junge Gnädige uns überhaupt erhalten geblieben ist.«
   »Ja, aber bester Liebetrau! können Sie denn das verstehen!« erwiderte erregt Frau von Zehren, »sein Lebtag hat man‘s mit Gott und der Kirche gehalten, und nun muß man das erleben: Diese kleine Anne Dore, wo doch gar nichts drauf ankommt, die muß man da mit zwei, sage mit zwei Jungens sehen – und bei uns, wo es sich doch ums Erlöschen der ältesten Linie handelt – bei uns – ich frag Sie: wo ist da noch eine Gerechtigkeit?«
   »Ich sehe auch wahrhaftig keinen Grund zur Freude, bloß weil ich am Leben geblieben bin, Dr. Liebetrau,« fiel Ilse bitter ein, »denn was soll mir Leben an sich – das Singen war ja doch meine einzigste Freude – und nun hat mir ein sinnloses Schicksal meinen eigensten Lebenszweck genommen!«
   Dr. Liebetrau schnupfte und schneuzte sich in das türkisch gemusterte Taschentuch und blickte dabei mit der wehmütigen Nachsicht, die er für alle Gebrechen hatte, auf die beiden gegen stärkere Macht hadernden Frauen. – Und doch, dachte er, werden sie beide lernen müssen, sich davor zu beugen, ob die eine es nun Gott und die andere Schicksal nennt: denn keinem von uns wird es erspart, Opfer zu bringen, und zwar ist es immer gerade das Liebste, was als schwerstes Opfer von einem jeden gefordert wird. Der einen hier ist es der alte Fetisch der Familie, der anderen der moderne Abgott der Ausbildung eigener Gaben.
   Laut sagte er dann zu den beiden: »Jedes Leben endet mit Entsagung, mit dem Mosesblick auf Länder, zu denen wir nie gelangen – aber wir können wenigstens trachten, einer dem anderen den Weg zu erleichtern, auch wenn wir Zweck und Ziel nicht verstehen.«
   Ilse erschauerte, da sie von des Arztes Lippen das Wort vernahm, dem sie immer wieder begegnete – Entsagung. – Der Name stand auf so vielen Wegweisern – führten denn alle Straßen dorthin? – und war auch sie schon von unerbittlicher Macht endgültig auf solche Straße gedrängt? —
   Der Spätherbstwind strich wieder über das flache Land, und aufblickend sah Gräfin Helmstedt, wie er an ihrem wohlgeschlossenen Fenster die gelben Blätter vorüberjagte. Ein Vollstrecker der Gebote der Verschwenderin Natur schleuderte er das Gold durch die Lüfte.
   Gräfin Helmstedt saß in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Es war ein stiller, beruhigend wirkender Raum, graugrün, von der Farbe ferner, in Nebel getauchter Wälder. Kein Zimmer für viele. Nur wenige bequeme Sessel und daneben zu steter Benützung bereit liegend einige Lieblingsbücher auf niedrigen Etagéren. Ein offener Flügel und als einziger Bildschmuck über dem Kamin ein Porträt ihres Mannes.
   »Wenn wir, wie die Chinesen ihren Palasthallen, jedem unserer Wohnräume einen symbolischen Namen verliehen, so würde ich dies das Zimmer der bleibenden Lebenswerte nennen,« hatte Gräfin Helmstedt einmal zu Ilse gesagt.
   Ein angefangener Brief lag auf dem Schreibtisch, und nachdem die Gräfin eine Zeitlang den vorbeiflatternden Blättern draußen sinnend nachgeschaut, schrieb sie weiter: »… so sind wir denn mit kurzen Unterbrechungen bald anderthalb Jahre hier, lieber Walden, viel länger, als wir anfänglich zu bleiben beabsichtigten. Und eigentlich nur, weil es uns unmöglich schien, unsere Nachbarin zu verlassen, die kleine Ilse, über die Sie mir damals zuerst geschrieben haben, und die seitdem in unser Leben hineingeflattert ist, wie ein armes zerzaustes Vögelchen, das man streicheln und liebhaben muß. Bald nach ihrer eigenen Krankheit kam die Nachricht vom plötzlichen Tode ihres Vaters, und der hat sie sehr mitgenommen, nicht so sehr, weil sie sich immer besonders nahe gestanden hätten, als weil sie während des Vaters Hiersein erst erkannten, wie viel sie sich hätten sein können. – Mir will es ja überhaupt scheinen, als ob so manches Gebäude erinnernder Liebe nicht die Trauer um das, was war, sondern um das, was hätte sein können, zur Grundlage hat. – Wir suchten Ilse über die ersten so schweren Zeiten hinwegzuhelfen. Sie hatte es nötig, denn im eigenen Hause fand sie wohl wenig Trost. Da herrscht nämlich nur Erbitterung über den Verstorbenen, der, unmittelbar vor seinem Tode, sein Vermögen derart festgelegt hat, daß die Tochter nur über die Zinsen verfügen kann. – Das gab eine arge Enttäuschung für die Zehrens, die auch dies Kapital gar zu gern ihrem Landesmeliorationsmoloch geopfert hätten. Die Stimmung, in der sie sind, erkannte ich, als neulich der Kummerfelder zum Weltsödener sagte: »Wenn dein Schwiegervater dies alberne Testament, statt beim Justizrat Schilderer in Berlin, in seinem eigenen Schreibtisch aufbewahrt hätte, und es wäre dir in die Hände gefallen, so hättest du es vernichten sollen.« – »Dabei würden sie mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen sein,« bemerkte mein Mann. – Aber ich glaube wirklich, wo es sich um das Heil ihres Grund und Bodens handelt, hören alle Skrupel auf.
   Nachdem wir aber zuerst nur aus Gefühlsgründen für Ilse geblieben waren, sind wir jetzt praktisch in ihrem Dienste hier tätig. – Der bisherige Reichstagsabgeordnete dieses Kreises ist nämlich kürzlich gestorben, und für die Neuwahl ist Herr von Zehren-Weltsöden als »unser Kandidat« aufgestellt worden. Sie können sich denken, wie gleichgültig es mir eigentlich ist, wer gewählt wird – ich habe zu lange im Auslande gelebt, um zu fragen, zu welcher der vielen hiesigen Parteien einer gehört, ob Fortschrittler, Nationalliberaler, Zentrumsmann – da draußen erschienen sie mir alle als dasselbe: Landsleute meines Mannes, – Deutsche. Und jeder, der kam, war willkommen. Auch dem Sozialdemokraten, der meines Mannes Muttersprache spricht, hätte ich gern die Hand gereicht. – Aber vielleicht kann ich ja nur deshalb so deutsch empfinden, weil ich eben keine geborene Deutsche bin. – Für diese Wahl hier bin ich aber Feuer und Flamme, als ob ich eine fanatische Politikerin wäre. Freilich nur aus ganz subjektiven Gründen, was ja bei weiblichen Überzeugungen häufig der Fall sein soll: um Ilse zeitweilig wenigstens in die angenehmeren Lebensbedingungen von Berlin zu verhelfen. – Und so sind wir denn hier, damit mein Mann, was er etwa an Einfluß auf Wähler besitzt, zu Gunsten des feierlichen Herrn von Zehren einsetze. – Unverdientermaßen werden wir von den Nachbarn ob dieses Eintretens für ›die gute Sache‹ sehr gelobt. ›Sie fangen doch an, für die wahren Interessen des Landes Verständnis zu gewinnen‹ sagte neulich die verwitwete Frau Mechtild von Zehren über uns. – Ich aber mußte dabei an all die Jahre draußen in der Ferne denken; welche Interessen, glaubt sie, vertraten wir denn dort?
   Sobald die große Schlacht hier vorüber und hoffentlich gewonnen sein wird, gehen wir nach Berlin. Schade, lieber Walden, daß Sie nicht auch dort sind! wir stehen ja nun außerhalb der Dinge, aber die herzliche Teilnahme für die Freunde, die noch tun und wollen, ist wach in uns geblieben, und ich hörte Sie gerne einmal wieder mit Ihrem schönen Enthusiasmus von den Aufgaben reden, die Sie hoffen, einst lösen zu dürfen. Besonders gern aber hörte ich Sie auch wieder singen.«
   Gräfin Helmstedt schloß den Brief und adressierte ihn an den Baron Wolf von Walden, Deutsche Gesandtschaft, Tanger.
   Nachdem der Brief über das blaue mittelländische Meer gereist und in der Hafenstadt des vielumstrittenen afrikanischen Reiches angelangt war, wurde er von einem braunen Boten hinaus zum Zeltlager gebracht, wo jüngere Diplomaten verschiedener Nationalitäten gerade kampierten und sich im edlen Sport des pig-sticking übten. – Einem schlanken, blonden, sonnengebräunten Mann, der nach scharfem Ritt in einem Klappstuhl vor seinem Zelte lehnte, übergab der Bote den Brief. Blaue Augen lasen ihn, blickten dann sinnend hinaus und gewahrten doch nicht mehr die afrikanische Landschaft mit der zufälligen internationalen Staffage – sahen statt dessen in weiter Ferne das Bild der Schreiberin, der Frau mit den bald silbern, bald golden schimmernden Haaren und den zeitlosen Gewändern. Und neben diesem Gesicht, das Walden kannte, seitdem er als jüngster Attaché seine Laufbahn an einer Botschaft begonnen, tauchte ein anderes auf, das er nur ein paarmal und ganz flüchtig vor zwei Jahren gesehen, und das doch, wenn es ihm seitdem bisweilen vorschwebte, ihn stets mit rührend stummem Vorwurf anzublicken schien, als sei er für ein großes Glück einst zu spät gekommen. Ob er sie je wiedersehen würde?
   Vom benachbarten Zelt klangen da spanische, französische, englische Laute in sein Träumen. Man rief ihn zum Tee. Er sprang auf, reckte die Glieder, schob den Brief in die Tasche. – Und wußte nicht, daß, während er so dastand im Schein der zum atlantischen Ozean niedersinkenden Sonne und dem Gelesenen noch einen Augenblick nachsann, in einem Zimmer der Wilhelmstraße in Berlin zwei Exzellenzen nach einer längeren Debatte über die Verschiebung der ihnen unterstellten menschlichen Figuren auf dem Weltschachbrett unter anderem auch zu dem Ergebnis gekommen waren, den Legationssekretär Baron Wolf von Walden im Laufe des kommenden Winters in das Auswärtige Amt zu berufen.
   Die Vorbereitungen zur Neuwahl im Kreise Sandhagen gingen unterdessen eifrig weiter.
   Als das Mandat Theophil von der Parteileitung angeboten worden war, hatte er zuerst Bedenken empfunden, ob er Weltsöden alljährlich mehrere Monate verlassen könne. Aber da hatte seine Mutter beleidigt aufbegehrt: War sie nicht da, und würde ihre Aufsicht etwa nicht genügen? Über dem Eifer, Theophil dies zu beweisen, vergaß sie alle anderen Zweifel, die sie selbst vorher etwa gehegt, und die sich nicht um den Sohn und das Gut, sondern um die Schwiegertochter gedreht hatten, war es ratsam, Ilse den Lockungen Berliner Lebens auszusetzen? Ilse, die doch nie so ganz fest und sicher in den Dienst des Zehrentums eingespannt erschien? Mit Mechtild, bei der sich auch gerade der alte Pastor Rockstroh und seine Frau befanden, sprach sie darüber.
   »Ich begreife Ihre Sorgen, gnädige Frau,« sagte der Hochehrwürdige, »denn Ihre Frau Schwiegertochter wird da manch sündiges Schauspiel erblicken, wird sie doch vielleicht sogar Bälle besuchen müssen.« Und dann setzte er mit gekreuzten Händen und dankbarem Blick zu seiner behäbigen und glatt gescheitelten Gattin hinzu: »Ja, darob preise ich wahrlich Maria, mein Weib, daß sie nicht nur nie hat getanzet, sondern auch nie hat tanzen sehen.«
   Mechtild hegte ganz dieselben Bedenken wie die Schwiegermutter. Ihr, die im Fanatismus freudloser Pflichterfüllung und im wohlgefälligen Kult eigener Begrenztheiten Ersatz für alle Enttäuschungen fand, blieb Ilse immer ein fremdartig ungebundenes Wesen. Sie hatte gehofft, die Schwägerin so schwer an ihrer Kinderlosigkeit tragen zu sehen, wie sie selbst an ihrem Überfluß wehleidiger Töchter trug. Daß Ilse statt dessen nie darüber klagte, und scheinbar nicht darunter litt, reizte sie wie die ärgste Auflehnung, denn Leiden schien ihr ein Joch, das jeder und vor allem jede tragen soll. – Sie gönnte Ilse zwar nicht die Zerstreuungen und möglichen Erfolge in Berlin – aber schließlich gehörte sie vor allem zu nährigem, ländlichem Geschlecht, das jede Eventualität zuerst auf den möglichen persönlichen Vorteil hin prüft. – Und der Aufenthalt Theophils und Ilses in der Hauptstadt versprach für sie allerhand solche Möglichkeiten: Kommissionsbesorgungen, Ausnutzung billiger Ausverkäufe, ja vielleicht Einladungen an eine ihrer neun Töchter! – So hatte sie denn die Schwiegermutter über alle Gefahren zu beruhigen gesucht. Die Onkeln und Tanten, Vettern und Basen aber hatten ihrerseits Theophil eifrig zugeredet, stolz im Vorgefühl, daß einer von der Familie den Kreis Sandhagen vertreten solle. – Und es bedurfte schließlich nicht viel Überredung bei Theophil: wenn er auch den Parlamentarismus als ein schwächliches Zugeständnis an den liberalen Geist ansah und oft über Volksvertretung gespöttelt hatte, so gewann dies alles in der eigenen Person ein ganz anderes Ansehen; er, der von der Mutter stets bevormundet und von der Frau scheu gemieden wurde, fühlte sich gehoben und wichtig bei dem Gedanken – ein Erwählter – vor allem ein Erwählter der Standesgenossen zu werden. – Seine würdevolle Feierlichkeit nahm beträchtlich zu.
   Ilse wurde überhaupt nicht nach ihrer Ansicht gefragt, sie war in den Augen aller Zehren mehr und mehr zu einer non valeur herabgesunken, sogar die alten Tanten Lidwine und Askania traten nur noch ganz schüchtern für das Lieblingsnichtchen ein. Papas wohlgemeinte Testamentsänderung, die Ilse sicher stellen sollte, hatte vorläufig dazu geführt, daß sie behandelt wurde, als habe sie gutes Zehrensches Geld veruntreut. Alle Vierteljahr, wenn Justizrat Schilderer ihr die Zinsen ihres Kapitals sandte, mußte sie dieselben Sticheleien von Theophil und Frau von Zehren hören. Hätte sie über ihr Erbteil verfügen können, sie würde es ihnen gern gegeben haben. – Denn was lag ihr an Geldbesitz neben der Einbuße alles anderen!
   Das Klavier stand verschlossen, und sie sprach nie mehr von ihren einstmaligen musikalischen Hoffnungen – aber überwunden war der Schmerz darum nicht. Der Verlust ihrer Stimme erschien ihr wie eine ungeheuerliche Grausamkeit – es mußte irgendwo eine Macht geben, die bestimmt hatte, daß sie sich nicht retten durfte aus der trostlosen Hoffnungslosigkeit, was sie aufrichtete, wurde ihr alsobald genommen. Auch Papa war ja gestorben, kaum daß sie angefangen, sich etwas näher zu kommen. – So beugte sie denn den Kopf – nicht in der zustimmenden Entsagung, die beinahe Glück ist, sondern in dumpfer Niedergeschlagenheit, die bisweilen von Anfallen verzweifelnder Auflehnung unterbrochen wurde. – Immer mehr auch haßte sie das ganze kümmerliche Land, die spärlichen Kiefern, in denen der ewig wehende Wind immerzu klagte und stöhnte, den dürren Boden, aus dem die Pflanzen nicht in unwiderstehlichem Lebensdrang, sondern nur wie auf ein Geheiß der Pflicht zu sprießen schienen; und auch die Menschen waren ihr fremd und unheimlich geblieben, es war ihr, als spähten sie alle danach aus, daß ihr Schlimmes geschehen möge. – Nur bei Gräfin Helmstedt fühlte sie sich sicher und wohl.
   Im Winter nach Papas Tode hatte Gräfin Helmstedt, die für kurze Seit nach Italien auf ihre Besitzungen reisen mußte, zu Ilse gesagt: »Ich möchte Sie so gern bitten, mit uns zu kommen,« da waren Ilses Augen plötzlich ganz groß und starr geworden vor der Möglichkeit solchen Glücks, doch dann hatte sie müde geantwortet: »Ja, ich weiß, daß Sie das gern für mich täten – aber nachher – da paßte ich wohl noch weniger hierher.« – Die Worte waren aber für sie wie das kurze Öffnen eines Käfigs gewesen, das rasche Erblicken von allerhand Freiheitsmöglichkeiten. Ein Schwindel, ein Verlangen waren ihr davon zurückgeblieben.
   In solcher Stimmung war Ilse, als Theophil das Mandat angetragen wurde. – Fort? fort? – Sie wagte kaum daran zu glauben. Schon die nun beginnende Wahlagitation bedeutete ja für sie eine Entlastungszeit, denn Theophil hatte jetzt endlose Besprechungen mit Parteileitern, dem Landrat, allerhand Wahlagenten; dann kamen die Fahrten in die verschiedenen Orte des Kreises, die Wahlversammlungen, die Reden. – während er also daran arbeitete, die Wähler den betörenden Lockungen der Sozialdemokratie zu entreißen, und ihnen eindringlich ihre Pflichten gegen Thron und Altar und die Wichtigkeit der Erhaltung der Scholle vorhielt, hatte er keine Gedanken mehr für die Mängel der eigenen Frau. – Seine Gabe feierlicher Redeweise war auf andere abgelenkt, und da Frau von Zehren gleich zu Beginn der Wahlkampagne die Bewirtschaftung des Gutes übernommen und damit vollauf zu tun hatte, hätte Ilse ganz ungestört im einsamen Weltsöden träumen oder unbemerkt stundenlang bei Gräfin Helmstedt sitzen können. Aber bald genügte ihr das nicht, denn gerade in Frohhausen empfing sie zuerst die Anregung, sich selbst bei der Agitation Zu beteiligen. – Die Gräfin erzählte von Wahlen in England, die sie erlebt, und wie dort auf den Landgütern die Damen, in Ermangelung eigenen Wahlrechts, doch für ihre Männer Stimmung machten. »Wir müssen das arme Kind irgendwie anregen,« erklärte Gräfin Helmstedt ihrem Manne, »und es gibt ja Frauen, die imstande sind, sich für Politik zu begeistern, so daß sie ihnen wirklich ein Ersatz für vieles wird.«
   Graf Helmstedt mußte lächeln in Gedanken an Ilses weiche Lippen und große sehnsuchtsvolle Augen, und er antwortete: »Ja, Gisi, die gibt es – aber ich glaube, deine junge Freundin wird sich immer eher für einen Politiker wie für die Politik begeistern. Sie gehört zu denen, die in der Sache immer den Menschen lieben.«
   »Ja, den kann ich ihr freilich nicht schaffen,« sagte die Gräfin.
   Doch ihre Worte waren bei Ilse auf dankbaren Boden gefallen. Der bloße Gedanke, sich wieder für irgendein Ziel betätigen zu können und dadurch bestimmend in das eigene Geschick einzugreifen, war für Ilse eine Gesundung. Zuerst mit den Frauen der Wähler, dann mit den Wählern selbst begann sie zu sprechen. – Es war auch gar nicht so schwierig, die richtigen Worte zu finden – von allen Herren der Nachbarschaft hatte sie ja immer wieder diese selben Sätze vernommen, leblos hatten sie in ihrem Gedächtnis gelegen. Nun holte sie sie hervor und redete von monarchischer Gesinnung und Schutz der nationalen Arbeit, ohne sich sehr viel dabei denken zu können. – In Weltsöden und den umliegenden Örtern und Dörfern war man ja der Leute ziemlich sicher, und was die Frau des konservativen Kandidaten dort sagte, fand gewiß nur Zustimmung; die Gefahr lag in der Kreisstadt Sandhagen mit ihren kleinen industriellen Betrieben, von dort ging auch die Agitation des Genossen Priebatsch aus, der von der sozialdemokratischen Parteileitung entsandt worden war, um den Kreis Sandhagen, diese Hochburg feudaler Junkerherrschaft, durch die Lockungen billiger Nahrungsmittel und des Koalitionsrechtes der Landarbeiter zu erobern.
   Aber sogar bis in die Kreisstadt wagte sich Ilse. Die Handwerker, die sie gelegentlich hatte in Weltsöden arbeiten sehen, suchte sie zu gewinnen und bald wandte sie sich auch an die Ladenbesitzer. Mit tiefem Ernst setzte sie Schuster und Schneider auseinander, daß sie die Landwirtschaft stärken sollten, weil diese die beste Kundin der heimischen Industrie sei. – Der Kutscher Jochem hatte schwere Tage, fuhr nicht der Herr, so fuhr sicher die junge gnädige Frau unter allen möglichen Vorwänden in die Stadt, um diesen und jenen Wähler zu bearbeiten.
   Der Genosse Priebatsch begegnete Ilse ein paarmal auf ihren Fahrten, und er schaute mit einem gewissen neugierigen Interesse dieser blutjungen Frau von seltsam zarter Schönheit nach, die mit seinem Gegenkandidaten, auch so einem Brotverteurer und Schnapsbaron, verheiratet war, und die ihm als eine so energische Bekämpferin der Sozialdemokratie geschildert worden war. – Er ahnte nicht, daß es keineswegs altererbte politische Überzeugungen und staatserhaltende Grundsätze waren, von denen Ilse in den Kampf gegen die Umsturzpartei getrieben wurde, sondern daß ihr, wie zuweilen auch anderen, die Politik nur als Mittel zum Zweck diente. Dieser Zweck aber war der gerade so manchem Parteigänger des Genossen Priebatsch wohl verständliche Wunsch, aus der Abhängigkeit ländlicher Stellung in die Stadt zu entkommen, wo auch sie verhältnismäßige Freiheit zu finden hoffte.
   Theophil war zuerst verwundert über die Tätigkeitsentfaltung seiner Frau, und dann begann sie ihm zu schmeicheln; er glaubte darin eine späte Verneigung vor seiner Wichtigkeit zu erkennen, den verschämten Wunsch zu entdecken, ihm wenigstens auf einem Gebiete zu dienen.
   Theophil wußte von der eigenen Frau eben auch nicht viel mehr wie der Genosse Priebatsch.
   – Aber er belobte sie manchmal gönnerhaft, wenn er sah, wie sie eifrig die Flugblätter adressierte, die er an die einzelnen Wähler sandte: »Das ist ja sehr brav von dir, mein liebes Kind.«
   Am Wahltag fuhr Theophil mit seiner Mutter und Ilse schon früh in die Kreisstadt.
   Und während er im Gasthaus zum schwarzen Adler ausstieg, wo das Komitee seiner Parteifreunde versammelt war, fuhren die beiden Damen zur Landrätin, die sie aufgefordert hatte, den Tag in ihrem Hause zu verbringen, wo sie das Wahlergebnis am raschesten erfahren würden.
   Es war ein fortwährendes Kommen und Gehen von allerhand Boten, ein An– und Absausen von Radfahrern, ein Notieren des stündlichen Standes der Stimmen in den einzelnen Wahlbezirken, ein Addieren der schon bekannten Zahlen, ein Weitergeben der einlaufenden Nachrichten an das Regierungspräsidium, ein aufgeregtes Bewerten der noch ausstehenden Ergebnisse. – Um die Mittagszeit, als die Arbeiter aus den Fabriken Sandhagens strömten, und die sozialdemokratische Stimmenzahl plötzlich hoch anschwoll, wurde Ilse ganz beklommen. Ihre Wangen glühten, ihre Hände waren eiskalt – sie vergegenwärtigte sich erst da ganz, wie brennend sie Theophils Wahl wünschte, und was sein Unterliegen für sie selbst bedeuten würde!
   Aber am Nachmittag änderte sich das Bild – mehr und mehr konservative Stimmen wurden aus den Dörfern gemeldet. Das wackere flache Land! Wie sehr liebte es Ilse doch in diesem Augenblick!
   Bald hatte Theophil die absolute Majorität errungen, und immer noch schwoll die Zahl der ländlichen Stimmen. – Es gab nicht nur einen Sieg, sondern einen glänzenden Sieg.
   Stolz auf seinen Kreis trat der Landrat einen Augenblick bei den Damen ein: »Ja Sandhagen, das war doch noch ein altpreußischer Kreis, da war noch Verlaß drauf.« – Und Theophil kam feierlich unter der neuen Würde vom Schwarzen Adler herüber, und Onkel und Vettern drängten nach mit dröhnendem Lachen. – Champagner wurde gebracht, um mit den Damen anzustoßen auf diesen Sieg der guten Sache. Auch Dr. Liebetrau, der gerade des Weges kam, trat ein, um zu gratulieren, und sagte verschmitzt zu Ilse: »Ja, Berlin, das ist für manchen schon ein angenehmer Kurort gewesen.«
   Dann fuhren Ilse und Frau von Zehren heim, während Theophil in der Kreisstadt blieb. Im Schwarzen Adler sollte nun ein feierliches Parteifestessen abgehalten werden.
   Spät am Abend stand Ilse dann noch lange am Fenster des leeren Zimmers, das seit ihrem Unfall ihr Zimmer geblieben. – Sie schaute sinnend hinab auf den Gutshof. Zwei Jahre waren es her, daß sie da zuerst vorgefahren. – Oft waren die einzelnen Stunden wie Jahre so lang gewesen, und nun erschien ihr die ganze Zeit kurz und schon verschwimmend im großen Nebelmeer all dessen, was vorüber.
   Drüben am Giebel des Wirtschaftsgebäudes sah sie das dunkle Gestell des großen Transparentes, das der Inspektor, der Förster und ihre Leute seit Tagen bereit gehalten. Hell hatten vorhin zur Feier des erfochtenen Wahlsieges die Worte: »Hoch Zehren!« in die Nacht hinaus geglänzt. – Jetzt war das Licht längst ausgebrannt. Und Ilse empfand da plötzlich, daß auch in ihrem Leben etwas erloschen war, und daß über einem Abschnitt, an dem nun nichts mehr zu ändern, der Vorhang niedergelassen worden. – Und wie die Nacht da draußen, so lag auch die Zukunft dunkel vor ihr. Bangigkeit vor Unbestimmtem erfüllte sie, und es war ihr, als warte sie zitternd, welch Wort nun am Lebenstransparente vor ihr aufblitzen würde —
   Theophil hatte in den Zelten eine kleine möblierte Wohnung genommen, von deren Fenstern aus man zwischen den entlaubten Bäumen des Tiergartens die glatten Wände von Kroll, die Siegessäule und das Reichstagsgebäude hervorschimmern sah. Sein Arbeitszimmer war angefüllt mit Broschüren, statistischen Tabellen und Sitzungsberichten, die er mit Ehrfurcht behandelte, als so viele Beweise eigener Bedeutung. Aber er weilte wenig in der Wohnung. Früh schon griff er nach dem Zylinder, der ihn noch länger und ragender erscheinen ließ und wanderte dann mit dem tiefernsten, sorgenvollen Ausdruck des überbürdeten Staatsmannes hinüber in den Reichstag. Dort verbrachte er seine ganzen Tage und kehrte nicht einmal zur Mittagsmahlzeit heim, denn er hatte für nichts Zeit neben den Pflichten, die er betraut worden war, dort unter der goldenen Kuppel zu erfüllen. Wohl hatten ihm die alten Tanten Lidwine und Askania im letzten Abschiedsmoment zugeraunt, er möge auf ihr liebes kleines Ilschen im großen Berlin gut acht geben, aber die Worte waren verhallt und vergessen – und was wäre das auch für eine Aufgabe neben jener anderen gewesen, die Regierung davor zu hüten, sich vom rechten Wege ab allzu weit nach links verlocken zu lassen, und ihr vorzuhalten, wie sie für die Interessen des »wertvollsten Volksbestandteiles« am besten zu sorgen habe. – Theophil seufzte bisweilen tief auf unter der Last eigenen Verantwortlichkeitsgefühls.
   Alles, was jenseits von Heyl und Oriola saß, galt ihm als gefährliche Gesellen, vor deren Anschlägen es hieß, das Reich zu retten; er machte aus diesen Gefühlen kein Hehl, aber auch vor dem Regierungstisch war er der landangesessene, aufrechte Junker. Gegen Staatsminister, besonders solche bürgerlicher Herkunft, nahm er gern die Haltung eines zwar wohlwollenden, aber die Ausgaben mutwilliger Jünglinge doch streng kontrollierenden Vormundes an, und wenn gesprächsweise von diesen Exzellenzen-Herren künftige Forderungen für ihre Ressorts erwähnt wurden, so sagte er gewichtig: »Nun, dabei werden wir doch auch noch ein Wörtchen mitzureden haben.« – Jetzt, wo er sie selbst auszuüben glaubte, hätte er gewünscht, daß die an sich verwerfliche parlamentarische Macht eine größere sein möge. Ihm, der als jüngerer Sohn nie sonderlich beachtet worden, und der dann auch später vor der des Herrschens gewohnten Mutter sich stets weiter gebeugt hatte, schmeichelte es, nun plötzlich von einem ganzen Ministerium als ein Machtfaktor anerkannt zu werden. Begegnete er Soldaten in den Straßen Berlins, so sagte er sich wohlgefällig: »Die existieren, weil wir sie bewilligt haben.« Und voller Genugtuung dachte er an die Schlachtschiffe, deren Bau von seinem Ja oder Nein abhängen würde; an die Reichssubsidien, die er den Dampferlinien zu gewähren oder zu entziehen vermochte. Die Sicherstellung von Kranken und Altersschwachen hing von seiner Stimme ab, ja, ihr Einfluß drang bis weit über die Meere, wo er, an den fernen Gestaden deutscher Kolonien, Bahnbauten und Hafenanlagen verhindern oder entstehen lassen konnte. – Er nahm sich selbst so feierlich ernst und wichtig, daß man auf ihn aufmerksam wurde und sich zu fragen begann, ob dieser hagere Neuling mit dem allzu kleinen Kopf auf dem allzu langen Halse, den abschüssigen Schultern und der wie eine Champagnerflasche wirkenden Silhouette etwa berufen sein sollte, ein Führer zu werden.
   Und unterdessen schaute sich Ilse mit erstaunten Augen in der Berliner Welt um. Sie empfand etwas Erwartungsvolles, wie schon so mancher beim Betreten der großen Stadt, der in ihr etwas zu werden oder etwas zu finden hoffte. Neue, erhöhte Lebenskraft regte sich in Ilse, und sie schritt hier straffer durch die asphaltierten Straßen, als auf den sandigen Weltsödener Wegen. Dort gab es nie Unvorhergesehenes, man konnte mit geschlossenen Augen schleichen; hier galt es aufpassen, um beizeiten drohenden Zusammenstößen auszuweichen oder Grüße von Bekannten zu erwidern. Und auch die vielen Vorbeieilenden, nie zuvor Gesehenen, lohnte es, anzuschauen, dem Lebensgeheimnis nachzusinnen, das ein jeder mit sich tragen mochte. Manchmal war es Ilse dann auch, als ob sie in den Augen dieses oder jenes hastig seines Weges Gehenden ein plötzliches Interesse aufflackern sähe, als wollten seine Blicke sagen: Wie bist du jung, – wie bist du schön.
   Ilse wäre in diesen ersten Herbstwochen aber doch recht einsam in Berlin gewesen, wenn sie nicht Helmstedts dort vorgefunden hätte. Die wurden ihr Führer und Erklärer in dieser neuen Welt.
   Graf und Gräfin Helmstedt hatten für den Winter eine Wohnung in einem der großen Berliner Hotels bezogen. Sie schützten zwar Gesundheitsrücksichten vor und gingen weder an den Hof noch zu großen Festen, aber ihr eigener Salon füllte sich bald mit den vielen Leuten verschiedenster Kreise, die ihre Freunde geblieben, und auch mit den anderen, für die es ein Kuriosum, eine Sensation, etwas wie eine Premiere auf der Weltbühne war, »Helmstedts nach dem Sturz« zu sehen.
   Aber die Stimmung, Schiffbrüchige geworden zu sein, die jenen eigen, die nur durch ein Amt etwas bedeuteten, herrschte bei Helmstedts nicht. Der Gräfin merkte man sogar die Erleichterung an, offizieller Pflichten ledig, mehr noch als früher ihren künstlerischen Neigungen leben zu können, und der Graf blickte mit wehmütig ironischer Abgeklärtheit auf frühere Kollegen und neuerliche Nachfolger, die in ihren Botschaften oder Ministerien scheinbar wie in uneinnehmbaren Festungen saßen, von Bekannten und Untergebenen geflissentlich wie Ewigkeitswerte behandelt wurden, und die doch auch, bald vielleicht, für ersetzbar befunden werden würden. Eintagserscheinungen waren sie ja alle, wie er selbst. Da ihm bedeutet worden, daß er sein Tagewerk getan, mochten nun andere sich mühen – er schaute ihnen zu, neidlos und ohne Bitterkeit. »Die Leiter der Menschen sind wie Läufer, die Fackeln tragen,« pflegte er zu sagen, »nach einem bestimmten Stück Wegs müssen sie sie, so oder so, doch immer anderen schon wartenden Händen überlassen.«
   Nachdem man sich überzeugt, daß Helmstedts offenbar nichts wollten und daher auch nicht gefährlich werden konnten, und nachdem man sich natürlich auch vorsichtig vergewissert hatte, daß es von »oben« nicht übel vermerkt werden würde, begann auch die offizielle Welt, die zuerst gezaudert, bei ihnen zu erscheinen. Meist zu zweien, um es auf alle Fälle nicht allein gewesen zu sein, rauschten die Exzellenzen-Damen herein, mit einem Krankenbesuchen angemessenen Ausdruck und der deutlichen Absicht, recht freundlich zu sein gegen »die arme Helmstedt« – und dann rauschten sie nach einer Weile wieder heraus, ohne recht Gelegenheit gefunden zu haben, diese Vorsätze auszuführen, weil sie mit einer gewissen überlegenen Liebenswürdigkeit empfangen worden waren, vor der solch gütiges Gebenwollen völlig unangebracht erschien.
   Nach einem solchen Besuche sagte Gräfin Helmstedt zu Ilse: »Das sind alles in ihrer Art tüchtige Leute, aber eine gewisse Grazie, die des Lebens Härten mildert, geht ihnen meist ab. Uns Ausländern fällt es besonders auf, daß angeborene Liebenswürdigkeit hier selten ist.«
   Theophil, dem Ilse dies erzählte, meinte dazu: »Wir haben es ja auch gar nicht nötig, für liebenswürdig zu gelten; es genügt uns, gefürchtet zu sein. Liebenswürdigkeit hat mir stets etwas Suspektes – etwas welsch Jesuitisches; es ist keine der Tugenden, durch die Preußen groß geworden.«
   Selbst beobachtend, glaubte Ilse manches wahrzunehmen, was die Worte ihrer Freundin bestätigte. Sie lernte die Leute kennen, die sich so viel dünken, daß sie es nicht mehr für nötig halten, sich um irgendjemand zu bemühen – und die anderen, die so viel erst werden möchten, daß sie sich noch aller Welt angenehm zu machen und in jedem Lager Freunde zu erwerben trachten. Hieraus entstanden seltsame Nüancen im Verkehr. Die Manieren, die Begrüßungen, die ganzen Umgangsformen erschienen danach abgestuft und wohl berechnet. Es gab ältere Damen, über die junge Frauen zu Ilse geringschätzig flüsterten: »Es lohnt sich nicht, sich denen vorstellen zu lassen – die geben ja doch nichts.« Und andere wiederum, die stets von einem Gedränge umgeben waren. Auch konnte man aus der Art, wie eine Frau empfangen wurde, beinahe genau berechnen, was der Rang ihres Mannes sein mußte. Es war oft, als ob nicht Menschen, sondern lebendig gewordene Titel miteinander verkehrten.
   So hörte Ilse einst bei Gräfin Helmstedt eine Staatsministerin zu der Frau eines Rats aus demselben Ministerium sagen: »Wie seltsam, daß ich Sie heute hier treffe, ich habe nämlich gerade heut nacht von Ihnen geträumt.« Worauf die Jüngere sich halb erhob, eine Verbeugung andeutend und devot stammelte: »Aber Exzellenz, das wäre doch an mir gewesen.«
   Bei Helmstedts, wo Ilse täglich stundenlang war, sah sie an sich vorüberziehen, was sich so Berliner Gesellschaft nennt – eigentlich lauter streng abgetrennte Zirkel, die sich nur äußerlich berührten.
   Da gab es Hofleute, die ihren hohen Herrschaften wie Priester ihren Gottheiten dienten, und sich selbst dabei auch ungefähr wie von Gottes Gnaden vorkamen; sie zerfielen in die leise Säuselnden, von Kirchenbau Redenden und Spenden zu Wohltätigkeitszwecken Entlockenden, und in die anderen, die mehr eine kernig forsche Urwüchsigkeit hervorkehrten, um so ein unbeugsames Rückgrat zu markieren. Hofdamen, die auf zaghaft scheue, neu vorgestellte Debütantinnen wie heranschwimmende Eisberge bei Meerfahrten wirkten, Kälte verbreitend und die Angst erweckend, daß, wenn man auch scheinbar glatt an ihnen vorbeikäme, doch in submarinen Tiefen dauernd schädigende Zusammenstöße drohen könnten.
   Bei Helmstedts traf Ilse auch manche der Fürstlichkeiten, aus der zweiten und dritten Abteilung des Gothaer Hofkalenders, die, von der sommerlichen Stille ihrer Schlösser kommend, die Wintermonate in dem zurzeit gerade als vornehmstes geltenden Berliner Hotel verbrachten. Es kam vor, daß die einen oder anderen unter ihnen sich gerade in irgendeiner Etikettenfrage von oben her verletzt fühlten; die gestatteten sich dann ein mildes Frondieren und besuchten die in Ungnade gefallenen Helmstedts mit einer gewissen Ostentation, um ihre eigene Unabhängigkeit zu beweisen. Sie bildeten ein parterre de princes, das die Botschafter zu den Festen einluden, die sie für die Allerhöchsten gaben. Familien wie den Zehrens aber waren sie verhaßt, weil sie mehr und mehr den mittleren preußischen Adel verdrängten, ihm finanziell die soziale Konkurrenz unmöglich machten. Die Zehrens hatten gegenüber dem größeren Wohlstand, der raffinierteren Eleganz und kosmopolitischeren Gewandtheit all dieser Durchlauchten nur den einen Trumpf des Alters ihrer Familie in Händen. – Aber mit dem ließ sich nicht viel ausstechen! – In einer Zeit, die auf politischem Gebiet die gemäßigten Parteien vor dem Vordringen der extremen zusammenschrumpfen und mählich verschwinden sieht, vollzieht sich ein gleiches in der sozialen Arena. Der alte eingesessene Landadel mit seinem mittleren Wohlstand muß weichen, und als Überlebende im gesellschaftlichen Wettbewerb bleiben nur übrig: die Gruppe der kleinen Fürstlichkeiten mit ihrem Anhang und – die kommenden Herrschergeschlechter aus der Finanz und Industrie.
   Und auch diese Finanzfürsten lernte Ilse kennen. Männer, die durch die Fähigkeit, gute Geschäfte abzuschließen und nie für etwas zu teuer zu zahlen, groß geworden waren, die aber zur Erreichung ihrer sozialen Ambitionen keinen Preis zu hoch fanden und hier sehr reale gegen völlig imaginäre Werte umtauschten. – Ein Titel, ein kleines Wörtchen vor dem auf den Weltmärkten doch weit und breit berühmten Namen, die standen bei ihnen hoch im Kurse. Ländliche Namen vom Schlage Rinas in der Zukunft hielten sich auf über solch modernen Zuwachs der Hofgesellschaft, aber Gräfin Helmstedt, der eine ichthyosaurenhafte Edelfrau aus pommerschem Uradel über eine Regierung klagte, »die so verschwenderisch den Adel verliehe,« antwortete: »Ich finde es eigentlich kaufmännisch richtig, diese Ware loszuschlagen, so lange sich noch Liebhaber dafür finden – es könnte doch eine Zeit kommen, wo auch Titel zu entwerteten Ladenhütern würden.«
   Vorläufig schien diese Gefahr noch nicht nahe. Und war erst der Hof mit Müh und Not erreicht, »wo,« wie eine unbeugsame Magnatenfrau bemerkte, »man ja überhaupt allmählich die schlechteste Gesellschaft trifft« – so galt es, einzudringen in die kleinen, exklusivsten Koterien. Leute, die den Kredit ganzer Staaten nach Belieben zu beeinflussen vermochten, trachteten mit heißem Sehnen nach einem Stückchen mit einer Einladung bedruckten Karton, aus irgendeinem besonders schwer zu erobernden Hause. Und staunend hörte Ilse einen der ganz großen Geldgewaltigen, von dessen Wort Wohl und Wehe ganzer Arbeiterbataillone abhingen, strahlend erzählen: »An den Hof kommen ist schließlich leicht, aber gestern bin ich auf einem intimen Diner bei dem Herzog von X. gewesen – da war die Gesellschaft mal wirklich fein durchsiebt.«
   Aber ungeachtet dieser kleinen, nun einmal zur menschlichen Komödie gehörenden Seiten, mußte man doch dem Grafen Helmstedt recht geben, wenn er sagte: »Unter diesen Leuten stecken heutzutage unsere ganz großen Kerls.« Diese Männer und ihre Väter waren es ja, die Deutschland von einem für die anderen Nationen so bequemen und ungefährlichen Volk kleiner, mit bescheidenen Verhältnissen und geringem Gewinn zufriedener Händler, zu einem der größten Erwerber der Welt gemacht hatten. Mit der den genialen Finanzführern eigenen Witterung für den Erfolg, hatten sie einst die Mittel bereit gehalten für die großen Kriege, die das Land politisch an erste Stelle rückten. Und seit jener in heroischer Zeit geschaffenen fundamentalen Wandlung, hatten sie rastlos an dem materiellen Gedeihen und Ansehen des neu erstandenen Reiches gearbeitet. Ihre Banken waren zu Welthäusern angewachsen, befreit von fremder Bevormundung. Und das ganze Aussehen der Welt war durch sie ein anderes geworden, denn bei ihnen ja hatten die großen Erfinder die Mittel zur Materialisierung ihrer kühnsten Gedanken gefunden. Bisher unbekannte Naturkräfte waren erforscht und dienstbar gemacht, neue Heil– und Zerstörungsstoffe entdeckt worden. Zu ihrer Verwertung hatten die Herren des Geldes die großen Farbwerke, die Pulverfabriken, die elektrischen Gesellschaften geschaffen, neues Licht leuchtete auf Erden, mit neuen Geschwindigkeitsmöglichkeiten rechnete der Verkehr. Die Grenzen des als erreichbar Denkbaren waren um weite Spannen hinausgeschoben. – Und in noch viele andere Nebenflüßchen und Kanäle sickerten die mächtig treibenden gelben Fluten! Keine Kirche wurde gebaut, kein Krankenhaus noch Säuglingsheim gegründet, ohne daß man die Meister der goldenen Ströme um Beihilfe angegangen hätte; zu Kunsterwerbungen für die Museen, zu Erweiterungen wissenschaftlicher Institute, zu Erforschungen ferner unwirtlicher Weltstriche mußten sie beitragen – ja es wurden sogar die Summen angegeben, »die man von jedem einzelnen erwartete« und es kam vor, daß dabei ganz einfach eine Null der vom Geber ursprünglich beabsichtigten Spende angehängt wurde. Eine zweite Besteuerung war es, von schonungsloser Einschätzungskommission erhoben! – Und die also Gepreßten gaben, gaben immer wieder. Manchmal aus Interesse für die Sache, häufiger aus Interesse für die Personen, in deren hohem Namen gesammelt wurde, meist wohl, weil es so viel bequemer war, durch rasche Unterzeichnung eines Schecks den leidigen Bittgänger los zu werden, wie sich der Mühe höflicher Ablehnung zu unterziehen.
   Neben diesen Einheimischen lernte Ilse nun auch zum erstenmal Ausländer kennen, denn naturgemäß verkehrten bei Helmstedts viele Diplomaten – Diplomaten, die, in diesem von keinem Fremden so recht geliebten Lande, schärfer noch wie anderswo die traditionelle Kritik an dem jeweiligen Posten übten, und die dabei noch so sehr unter der Suggestion des gefürchteten Bismarckschen Geistes standen, daß sie immer wieder vergaßen, wie rasch dieser geschwunden, und die weit ausschauende Pläne und tückische Absichten dort vermuteten, wo man in Wahrheit sich immer mehr ziellos treiben ließ und in dem Ausweichen vor Zusammenstößen eine ängstliche Geschicklichkeit übte. – wie wenig aber solch nervöses Zagen den tatsächlichen Machtverhältnissen entsprach, das hätten wohl am besten gerade die fremden Militärbevollmächtigten bezeugen können, die mit lauerndem Blick nach der Scharte des Schwertes und der Lücke in der Wehr vergeblich spähten.
   Denn ihnen gegenüber standen ja jene, an deren wert in der ganzen Welt kein Zweifel besteht. Viele waren damals noch darunter, die einst kämpfend des Volkes Einheit geschaffen – Namen trugen sie, bei deren Klang Ilse war, als tönten eherne Glockenschläge. Und diesen erprobt Besten des Landes reihten sich in langem Zuge die ihnen nachstrebenden jüngeren Geschlechter an. Da waren die Herren mit den karmoisinroten streifen, die so viel rastlose, vorsorgende Arbeit leisten, und bei deren Anblick man denkt: »Die da wachen für uns, wir können getrost sein.« Und die vielen Tausend braven Leutnants der deutschen Armee, von denen ein paar Dutzend in jenem Winter gerade in Berlin ausgingen und Ilses Tänzer wurden.
   Aber besonders fühlte Ilse sich zu den Marineoffizieren hingezogen. Sie erschienen ihr wie die jüngeren Söhne der großen militärischen Familie, die darauf brennen, sich gleich den älteren hervorzutun und auch Ruhm und Namen zu erwerben. Etwas der eigenen Begeisterungsfähigkeit verwandtes, den Wunsch, sich einmal für ein hohes Ziel ganz hingeben zu können, fühlte Ilse ihnen an. – Vielleicht würden sie alle dereinst in künftigem Kampfe fallen, sicher aber kehrte keiner anders wie ehrenbedeckt heim!
   Oft auch saßen an Gräfin Helmstedts Kamin jene anderen Pfeiler deutscher Größe, Gelehrte mit hohen durchfurchten Stirnen und grübelnden Denkeraugen. Bergesgipfeln glichen sie, die am frühesten den Strahl aufgehenden Tageslichts auffangen, und von denen es dann langsam hinabdringt zu den Ebenen. Menschen, die vorausdenken, was dann die anderen ihnen nachdenken müssen. – Vorsichtig, beinahe schüchtern im Ausdruck waren die besten dieser immer weiter tastenden Sucher, wohl wissend, daß heute Wahrheit scheinen mag, was morgen schon Irrtum ist. Aber neben diesen echten sah Ilse auch dieses Berufes Talmigottheiten, Leute, die, wie auch manch bis dahin ungenannter Schriftsteller oder Künstler, zu allgemeinem Staunen, in den Stand offizieller, aber ephemerer Berühmtheit versetzt worden waren.
   Gräfin Helmstedt besuchte im Laufe des Winters mit Ilse auch manche Ausstellungen und Ateliers – selbst die der verwegensten Neuerer auf den Gebieten der Kunst, denn wenn sie auch selbst aus klassischem Lande stammte, so war sie doch weitherzig in ihren Interessen, und das noch Unverständliche erschien ihr darum nicht unberechtigt. Die Seher geschwungener, sich symphonisch verschlingender und entwirrender Linien, die anderen, die die Natur in mosaikartig nebeneinander gesetzten Farbentupfen darstellten, die Massenverbrauchs! von Ölfarbe, die ihre Bilder mehr kneteten wie malten, die Zeichner, die mit etwas Tusche all den grauen farblosen Jammer ganzer Menschenklassen auf ein Blatt Papier zu bannen trachteten; die bitteren Karikaturisten mit dem ätzenden vernichtenden Griffelstrich, und ihre ausgelasseneren Brüder, denen alles nur Gegenstand verzerrenden Lachens war – sie alle betrachtete die Gräfin mit freundlichem Lächeln und meinte, daß aus all diesem verwirrenden Brodeln sicher noch einmal das große, moderne, neue Wege und Formen schaffende Genie geboren werden würde. – Theophil dagegen war all diese noch werdende und tastende Kunst ein Greuel, er war der Meinung, daß es Not täte, den Künstlern von oben eine bestimmte Marschroute vorzuschreiben: all diese Ungebundenheit widerte ihn an, weil er so etwas wie sozialdemokratischen Geist dahinter witterte.
   Ja, mancherlei Gestalten sah Ilse unter Gräfin Helmstedts Führung! Schmerzlich nur war ihr das Zusammentreffen mit den vielen Musikern, die sich bei der Freundin versammelten. Zu stark regte sich dann in ihr die Erinnerung an jenen kurzen Traum allereigensten Lebensinhalts und Zweckes. Am deutlichsten ward ihr dies bei einem Konzert, das die durchreisende Lydia Neuland in Berlin gab. Wie Ilse all jene Lieder nun wieder vernahm, die sie selbst unter Lydias Anleitung einst geübt, da glaubte sie, bei jedem Ton nicht nur die volle Stimme der Sängerin, sondern, einem fernen leisen Echo gleich, auch den Klang der eigenen toten Stimme noch einmal zu hören – und in ihr stiegen all die wehen Gedanken auf, die durch der Tage Abwechslung eingeschläfert worden, von denen sie aber trotzdem wohl gewußt, daß sie wartend doch immer da gewesen – denn ihre Seele wies ja dumpfe Stellen, in denen der Schmerz schlummerte und bei der ersten harten Berührung erwachen konnte.
   Oftmals genügte ein Wort, ja der bloße unerwartete Anblick Theophils, sie, wie in einem Blitzlicht, erkennen zu lassen, was hinter all den neuen gleitenden Erscheinungen die einen Augenblick vergessenen und doch unabänderlichen Faktoren ihres Lebens waren. Gerade angesichts all der Möglichkeiten, die hier die Welt von allen Seiten bot, kam es ihr mit voller Grausamkeit zum Bewußtsein, daß sie im Schlafwandel der Jugend in eine Falle geraten war, aus der sich herauszuarbeiten alle Jahre des Lebens nicht lang genug sein würden. Dann überkam sie Hoffnungslosigkeit, mitten in dem bewegten Treiben, und gleichgültig schien alles neben dem Einen, das blieb.
   Aber sie suchte solche Stimmungen abzuschütteln, denn viel wackere Tapferkeit lebte in ihr – und sie hatte auch schon die der verschwenderischen Jugend meist fremde Kunst erlernt, gute Tage nicht ungenutzt zu vergeuden.
   Und gute Tage waren diese ersten Berliner Zeiten.
   Erst später einmal sollte Ilse erkennen, daß sie, wie alle vorherigen Jahre, nur ein Vorspiel gewesen.
   *
   Neben all dem Neuen hatte Ilse aber auch etwas sehr Altbekanntes in Berlin gefunden. Greinchen lebte seit Papas Tod von der Pension, die er ihr ausgesetzt, in einem der in früheren Kiefernwäldern entstandenen Vororte, und war dort umgeben von den alten Mahagonimöbeln aus den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, die er ihr vermacht hatte. Da stand der Sessel mit dem verstellbaren Buchhalter an der Armlehne, der viereckige Ofenschirm, in den das mit Perlen gestickte Bildnis eines weißen Hündchens eingelassen war, die Chiffonniere, durch deren Glasscheiben man ein Idyll von Porzellanlämmern gewahrte, das Sofa, dessen Bezug aus schwarzem Roßhaargewebe mittels Nägel mit weißen Porzellanköpfen gespannt war. Weiße, gehäkelte Antimakassars lagen auf den Polstermöbeln, und ein ebensolcher Schoner schützte die bunten Blumen der Plüschdecke auf dem runden Tisch mit den Klauenfüßen. Über der Mitte des Sofas aber hing an der Wand eine Photographie Papas, um die eine schwarze Kreppschärpe geschlungen war. – Und inmitten all dieses altväterischen Hausrats, der aus Zeiten geistiger und politischer Einengung stammte, war ein völlig neues, fortschrittlich modernes Greinchen erwacht. Zwar brachte sie dem Kind, wie sie Ilse nannte, die gleiche altgewohnte Herzlichkeit entgegen, aber daneben entdeckte Ilse auch gänzlich Unerwartetes in dem ältlichen Fräulein mit dem gutmütigen Bulldoggengesicht. Denn Greinchen, die Jahrzehnte ihres Lebens ganz dem Dienste eines kränkelnden, oft griesgrämigen Mannes geweiht, der ihre Aufopferung kaum bemerkt hatte, war jetzt in ihrem vorgerückten Alter unter die Frauenrechtlerinnen vorgeschrittenster Richtung gegangen. War es nur der Einfluß der großen Stadt oder ein Bestreben, etwas von ihrer eigenen, grenzenlosen und unbeachteten Hingebung nachträglich zurückzunehmen – jedenfalls besuchte Greinchen jetzt eifrig Versammlungen zu Gunsten des Frauenstudiums, unterzeichnete scharfe Resolutionen und sprach selbst, mit erhitzten Wangen und bebender Stimme, von der Ausnutzung des Weibes durch den Mann, von dem Rechte auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, von dem Anspruch auf die nämlichen Bildungsmöglichkeiten. All diesen beredt vorgetragenen Theorien und Forderungen lauschte Ilse ehrfürchtig und erstaunt, daß so viel geistige Regsamkeit in dem kleinen dicken Fräulein gesteckt, das sie selbst doch früher stets so viel minder bewertet hatte, – aber wenn Greinchen mit viel Entrüstung, aber wenig Sachkenntnis, auf »die Knechtung der Frau in der Ehe« zu sprechen kam, da zuckte ein wehmütig überlegenes Lächeln um Ilses Lippen, und sie fühlte, daß sie der erregten Frauenrechtlerin über dieses eine Kapitel viel aufklärende Winke aus eigenster Erfahrung hätte geben können.
   Ilse hatte Greinchen zu einigen Vortragsabenden begleitet, und dabei war ihr zum ersten Male zum deutlichen Bewußtsein gekommen, daß Frau sein eigentlich nichts anderes heißt, wie zu den Menschen zweiter Kategorie zu zählen. Sie selbst, wie alle die Frauen, die da in dem Saale sich versammelt hatten, gehörte zur großen Schwesterschaft der minder Berechtigten. Aber während sie selbst für ihren persönlichen Fall dies stets als etwas Unabänderliches empfunden hatte, trachteten jene durch Agitation und Propaganda dagegen anzukämpfen und ihre Lage zu verbessern. Das Tapfere, das in der Aufnahme solch ungleichen Ringens lag, erregte Ilses Sympathie, und sie begriff, daß diese Frauen ihre ganze Energie und Kraft dafür einsetzten, den nach ihnen Kommenden bessere Entwicklungs– und Betätigungsmöglichkeiten zu schaffen, vielleicht würde es ihnen auch wirklich gelingen, allmählich das Los der Millionen erwerbstätiger Frauen günstiger zu gestalten. Ja, den vielen war vielleicht ein klein wenig zu helfen. – Was aber vermochte Gesetzgebung für eine einzelne arme Frau, die sich im Lebensweg geirrt?
   »Hast du eigentlich Justizrat Schilderer schon mal gesehen, seit du in Berlin bist?« fragte Greinchen, als Ilse eines Tages wieder in ihr Vororthäuschen kam.
   »Nein,« antwortete diese, »ich bin absichtlich nicht zu ihm gegangen, weil ich weiß, daß es Theophil nicht recht sein würde – er schreibt ja Schilderers Einfluß Papas Testament zu, durch das ihm die Verwaltung meines väterlichen Erbes entzogen ist.«
   »Na,« sagte Greinchen mit pfiffig frohem Lächeln, »wer nun auch damals deinen Vater dahin beeinflußt haben mag, hat dir auf alle Fälle einen großen Dienst geleistet.«
   »Ach weißt du,« erwiderte Ilse seufzend, »bisher hab ich davon nur Reibereien und stichelnde Bemerkungen von Theophil und seiner Mutter.«
   »Das will ich gerne glauben,« sagte Greinchen. »Sie fühlen eben, daß dir dein Vater damit die materielle Grundlage künftiger Unabhängigkeit hat bereit halten wollen.«
   »Künftiger Unabhängigkeit?« wiederholte Ilse fragend.
   »Nun ja,« antwortete Greinchen ganz trocken und geschäftsmäßig, »während unseres Aufenthalts in Weltsöden ist es deinem Vater und mir doch völlig klar geworden, daß du es in der dortigen Umgebung und Behandlung nicht sehr lange würdest aushalten können, und daß wohl auch deine Ehe zu denen gehören wird, über die die Welt das Nähere bei der Scheidung erfährt.«
   »Aber Greinchen!« rief Ilse, »und das alles sagst du mir so ganz ruhig und wie … selbstverständlich!«
   »Ja, liebes Kind,« antwortete das alte Fräulein, »warum sollte ich mich denn beim Gedanken an ein so häufiges Vorkommnis aufregen? Viele der Frauen, mit denen ich heute zusammen arbeite und kämpfe, haben genau das früher mal durchgemacht; auch sie hatten sich im Wege geirrt und haben dann ihre Freiheit zurück erobert. Dem Wert ihrer Persönlichkeit hat es nichts geschadet, und sie haben erst nachher ihr eigentliches Tätigkeitsfeld gefunden. – Die Hingabe an einen Mann,« dabei sandte Greinchen einen langen Blick zu der mit Krepp umschlungenen Photographie über dem Sofa, »die wollen ja die meisten Frauen durchaus mal kennen lernen – aber, glaub mir, die Männer sind und bleiben nun mal die ewig Verständnislosen, die Unterdrücker! Der Kampf für die Rechte der eigenen Geschlechtsgenossinnen gewährt eine ganz andere Befriedigung. – Auch du wirft noch zu uns kommen, wenn du dich erst frei gemacht hast.«
   »Ja, Greinchen,« sagte Ilse, »ich will ja gar nicht versuchen, vor dir zu tun, als ob ich mit Theophil etwa glücklich wäre – aber um mich, wie du sagst, frei machen zu können, müßten doch wohl noch ganz andere Gründe vorliegen – er hat mir ja schließlich kein besonderes Unrecht angetan.«
   »Na, warte nur nicht, bis er dir eines vorwerfen kann,« erwiderte Greinchen. »Und, Ilse, vergiß nicht, zum nächsten Referat über die Lage der Fabrikarbeiterinnen zu kommen.«
   Während Ilse nun Greinchens von Kiefern umstandenes Häuschen verließ, den im Sande abgesteckten Straßen der künftigen Villenkolonie bis zum Bahnhof folgte, und sie dann in dem Vorortzug zur Stadt zurückfuhr, hallten die eben vernommenen Worte noch lange in ihr nach. Es war so seltsam gewesen, sachlich nüchtern erörtern zu hören, woran sie bisher zu denken kaum je gewagt. Eine gewisse Beruhigung hatte freilich darin gelegen: etwa, als ob in einen finsteren Raum, wo sie allerhand Spuk vermutet, ein plötzlicher Lichtschein gefallen wäre und offenbart hätte, daß da in Wirklichkeit nur allerhand nützliche Geräte standen. Aber zugleich welch beängstigender Ausblick auf Streit und peinliche Unterredungen, auf Enthüllungen innerster, verborgener Erlebnisse. Oh, besser tausendmal, es alles weiter tragen, und daß nicht zu allgemeinem Gesprächsstoff würde, was so unendlich schmerzlich war! – Und dann mußte Ilse lächeln: Wie war Greinchen, deren eigenstes Leben in stillster, ereignislosester Hausbackenheit verlaufen, für andere doch so rasch zur Heraufbeschwörung schwerster Konflikte und äußerster Entschließungen bereit! Und als Ersatz und Trost für alles andere das Selbstvergessen in der Frauenfrage? Das mochte in Greinchens Jahren vielleicht möglich sein, aber für sie selbst? Ach nein! – Und dunkel fühlte Ilse, daß ihr noch nicht gegeben, in der Not der Millionen die eigene, oft so brennende Glückssehnsucht zu vergessen.
   Der Vorortzug hatte das freie Land verlassen, wo heute noch der Pflug die Erde aufwarf und todgeweihte Kiefern standen. Bald würden sich an ihrer Stelle neue Häuser erheben, und einige aus den Millionen würden hier draußen wohnen – wie Vorposten, denen bald die großen Scharen folgen. Der Zug, der draußen im flachen Lande ein weithin sichtbarer, eilender, schwarzer Streifen gewesen, – über dem ein zweites duftigeres, weißes Band schwebte, das mit ihm geeilt war, – glitt nun auf hohen Bogen zwischen den ersten ragenden Häusern hinein in die riesige Stadt. – Er verschwand darin wie verschlungen, sein weißer Dampf ward aufgesogen von all dem anderen, was da auch qualmte, rauchte, fauchte, und die Menschen, die er gebracht, und die draußen in der Leere wie Persönlichkeiten erschienen waren, verschwanden hier im Gewühl gleich Atomen.

 //-- * --// 
   Es kamen nun trübe, lastende Wintertage.
   In den Zimmern war es so dunkel, als hingen vor allen Gegenständen graue Schleier, durch die sie nur undeutlich hindurchschimmerten. In den Ecken verdichtete sich das Grau zu tiefer Finsternis, die Geheimnisvolles zu bergen schien. Wie Schatten im Nebel bewegten sich die Menschen, wenn das Hausmädchen morgens in Ilses Zimmer trat und die Vorhänge aufzog, sickerte ein schwacher Schimmer fahlen Lichtes herein, aber schon ein paar Schritte vom Fenster entfernt war es erloschen und untergegangen in all dem lastenden Grau.
   Alle Morgen traf Ilses erster Blick drei bunte Drucke alter englischer Rennbilder, die ihrem Bette gegenüber hingen und auf denen in dieser möblierten Wohnung schon die Blicke so vieler Mieter geruht haben mochten. Das eine stellte vor, wie ein ganzes Feld schlanker sehniger Pferde mit Jockeys in buntem Dreß zum Start bereit steht; der Starter hält das Fähnchen, mit dem er das Signal geben soll, und das ganze Feld wartet auf das Zeichen – seit fünfzig Jahren wartet es schon so! – Auf dem zweiten Bild wird ein Graben genommen – ein Pferd ist dargestellt, wie es eben beim Sprung hoch in der Luft schwebt. Viele Generationen von Pferden sind gekommen und gegangen, aber dies eine bleibt immer so zwischen Himmel und Erde hängen. Das dritte Bild zeigte die Tribüne. Eifrig beugen sich all die Damen in frühviktorianischen Trachten nach einer Seite, um die Pferde beim Finish zu sehen, und unten im Paddock recken sich Jockeys und Sportsleute in Vatermördern und seltsam hohen Hüten die Hälse aus, um von weitem den Sieger zu erkennen – aber sie können ihn noch immer nicht erblicken, ob sie gleich so viele Jahre ausschauen. Die drei Bilder waren Ilse allmählich zu einem Alpdruck geworden, sie empfand sie als Fragen, die endlich mal gelöst werden mußten. Manchmal in den Nächten dachte sie: Ob nun wohl der Sieger eintrifft? Aber der nächste Morgen zeigte, daß er noch immer nicht durchs Ziel gegangen.
   So war der Tag des Vortrags über die Lage der Fabrikarbeiterinnen gekommen, und Ilse sagte Theophil, daß sie ihm gern beiwohnen wolle. Doch er erwiderte, das sei unmöglich, weil er für sie beide eine Einladung zur Soiree bei Herrn von Tolck-Engel, einem einflußreichen Parlamentarier, angenommen habe. – »Überhaupt steckst du mir zu viel in all diesen Dingen,« sagte er ärgerlich, »und was heißt das: die Lage der Fabrikarbeiterinnen bessern zu wollen? – Wenn sie sich mit dem Verdienst ihrer Männer zufrieden geben und hübsch bescheiden leben wollten, wie früher, brauchten sie überhaupt nicht in die Fabriken.«
   »Viele haben wohl keine Männer,« sagte Ilse zaghaft, denn sie fühlte sich trotz Greinchens Belehrungen unsicher auf den Gebieten der Frauenfrage.
   Theophil aber beachtete ihren Einwand nicht und fuhr fort: »In all diesen Frauenbestrebungen liegt eine gewisse Auflehnung gegen die von altersher bestehende Ordnung. Gräfin Helmstedt hat dich wohl da hineingebracht?«
   Doch nun lachte Ilse. Ein leises, freudloses Lachen war es. Und sie antwortete: »Ach nein, Theophil, da irrst du, – denn Frauen, die so glücklich verheiratet sind wie Gräfin Helmstedt für die ist die Frauenfrage ja gelöst, und sie haben gar keine Zeit darüber nachzudenken.«
   »Und das soll für dich bedeuten …?«
   »Nun,« antwortete sie mit dem etwas wehmütigen Spott, der ihr hier in Berlin angeflogen war, »mir bliebe allenfalls noch Zeit, über ungelöste Frauenfragen zu grübeln – aber – wozu von all dem reden!«
   »Allerdings – und um so mehr, als ich im Reichstag heut wirklich nicht ob all dieser Kindereien zu spät kommen darf – also ich hol dich heut abend zu der Soiree bei Tolck-Engels hier ab.«
   »Ginge es wirklich nicht, daß du mich entschuldigtest?« fragte sie noch einmal furchtsam, als er schon Mantel und Zylinder anhatte, »ich weiß nicht warum, aber ich möchte so gar nicht hin.«
   »Mir dagegen kommt es sehr viel darauf an, und es schickt sich, daß du dich bei meinen Parteifreunden zeigst – und nun, liebes Kind, halte mich nicht länger von Wichtigerem zurück.«
   Mit feierlichen Schritten ging er davon. Sie war mechanisch ans Fenster getreten und starrte hinaus, wo alles grau und verschwommen war. Und dann sah sie Theophil unten in der Straße zum Reichstag schreiten, würdevoll sogar unter dem Regenschirm. Wie sie die kleiner und kleiner werdende, im rinnenden Grau schwindende Silhouette betrachtete, fuhr es ihr durch den Sinn: Es gibt Frauen, die ihren Männern so alle Tage nachblicken, um noch ein paar Sekunden länger ihre Gestalt sehen zu können, und die abends wieder da stehen und eben so hinausspähen, um die Heimkehrenden nur ja schon von weitem zu entdecken, und sich dabei sagen: gleich, gleich werde ich ihn wieder haben! – All das wird es in meinem Leben nie geben!
   Ilse lehnte noch lange am Fenster und starrte hinaus, und obschon sie die Dinge draußen kaum als Einzelheiten wahrnahm, empfand sie sie doch in ihrer Gesamtheit als bedrückend. Es war, als zöge die Trübsal durch die Lüfte gleich einem schattenhaften Wesen, in langen, wehenden Schleiern, über das stumpfe, dunkle Krollsche Gebäude kam sie geflogen, schwebte über die dürren Bäume, an deren Zweigen Fetzen ihres Gewandes hängen blieben, umkreiste wieder und wieder die Siegessäule, eine blaßgraue Nebelboa um sie windend, schleifte ihre lang hernieder schleppenden Hüllen über die Kuppel und Dächer des Reichstags, breitete ihren grauen wallenden Mantel über die ganze große Stadt. Niemand, der gerade in den Straßen ging, auf deren nassem Asphalt sich die Bäume und ersten Laternenlichter spiegelten, erkannte die Züge der Trübsal, wie sie droben durch die Lüfte schwebte, aber unsichtbar lastete sie doch auf allen.
   Auch auf Ilse senkte sich vom Himmel, aus dem alles Licht erstorben, eine unsichtbare Schwere immer bedrückender nieder, und aus dieser Beklemmung heraus erwuchs in ihr ein Gefühl unendlicher Sehnsucht. Schwingen hätte sie haben mögen, die weit ausgebreitet durch den Nebel tragen, – wie dort der große dunkle Vogel, der eben lautlos über die kahlen Wipfel des Tiergartens glitt und im Grau verschwand – fort, fort! – Und plötzlich mußte sie an die weiten Fernen der Erde denken, in denen Onkel Thilo einst geweilt, an Palmenbäume mit blanken knisternden Blättern, zwischen denen blaue Riesenschmetterlinge spielen, an weiße Paläste, die am Ufer südlicher Meere in der Mittagsglut träumen. Ob auch dort überall die suchende Sehnsucht lebte? Oder ob es vielleicht weit, weit draußen eine bestimmte Stätte der erfüllten Sehnsucht gab? – wonach sie sich aber sehnte, hätte Ilse dabei kaum zu sagen vermocht. Es war wie ein Tasten im Dunklen, nach Dingen, die es da irgendwo geben mußte, und die sie nicht finden konnte, ein ahnungsvolles Öffnen der Arme, ein Beben der Lippen, ein atemberaubendes Pochen im Herzen – ein zitterndes Hoffen, Schönes, unsagbar Schönes zu erleben.
   Und doch zugleich eine Angst.
   Als sie sich dann später für die Soiree ankleidete, wurde diese Angst immer stärker und unerklärlicher; sie mußte innehalten, sich setzen. »Ich will nicht in diese Gesellschaft. – Ich will nicht,« sagte sie plötzlich ganz laut, als läge darin eine Rettung. Dann aber kam es ihr selbst kindisch vor. Wovor fürchte ich mich nur, fragte sie sich, und eilte nun, fertig zu werden. Denn Theophil, der stets in Sorge war, zu spät zu kommen, mahnte schon ungeduldig an der Tür. – Als sie dann ihr Zimmer verließ, fiel ihr Blick noch einmal auf die bunten englischen Drucke: wie gespannt doch gerade heute abend die Damen in den frühviktorianischen Trachten nach dem Sieger auszuspähen schienen – und er kam und kam noch immer nicht.
   Die Gesellschaft bei Theophils politischem Parteifreund, Herrn von Tolck-Engel, schien dann auch wirklich wie alle Gesellschaften in diesem Hause zu verlaufen, und Ilse selbst dünkte ihre Angst davor nun völlig lächerlich. Eine Fürstlichkeit, die bei solchem Fest als Ehrengast nicht fehlen durfte, um der ganzen Veranstaltung etwas ihres eigenen Glanzes zu verleihen, war vorhanden: in diesem Falle irgendeine Herzogin Wanda; und auch dafür war wie immer gesorgt, daß jemand da sei, der es verstände, die steif und zwecklos herumstehenden Gäste in etwas angeregtere Stimmung zu versetzen: an jenem Abend zum erstenmal ein berühmter Komiker. Etwas ängstlich blickten auf ihn die nur an musikalische Darbietungen gewohnten Mütter erwachsener Töchter. »Aber sie können ganz unbesorgt sein,« sagte beschwichtigend die Hausfrau, »ich habe ihm natürlich eingeschärft, er dürfe, wegen der jungen Mädchen, ja nicht etwa gar zu komisch sein.«
   Der Komiker wurde der Herzogin vorgestellt, die es liebte, als Frau zu posieren, die selbst intellektuell hätte sein können, wenn sie nur gedurft. Im Flüsterton wurde von ihr gesagt: »wäre sie nicht als königliche Prinzessin geboren, so hätte sie sicher Hervorragendes geleistet,« Auf welchem Gebiet, wurde dabei nie näher bezeichnet, man seufzte nur verständnisinnig, als sei der Welt da Großes vorenthalten worden.
   »Ich habe Sie schon oft auf der Bühne bewundert,« lispelte die Hoheit, und während der Komiker ob so viel Huld in Ehrfurcht zusammenklappte, raschelte sie in ihrem engen, wie Eidechsenhaut schimmernden Kleid zum nächsten der eines ihrer Worte harrenden Gäste.
   Nachher flüsterte sie, mit einem Blick auf den Komiker, Frau von Tolck-Engel zu: »Es ist so wohltuend, mal mit solchen Leuten zu verkehren, man wird da von einer so ganz anderen Luft angeweht.« Sie empfand den prickelnden Reiz, einen gefährlichen Ausflug in unheimliches Grenzgebiet gemacht zu haben.
   Nachdem die Hoheit genügend Cercle gehalten, ließ sie sich auf einem Sofa im großen Saale nieder, umgeben von den würdigsten Damen, unter denen sich auch Fräulein von St. Pierre befand. Und der Komiker begann seine Rezitationen. Hausfrau und Mütter konnten unbesorgt sein. Es kam kein Wort vor, das die wohlgehütetste Komtesse nicht hätte hören dürfen. Dafür war es allerdings auch nicht gerade sonderlich komisch.
   »Hübsch – sehr hübsch,« lispelte die Hoheit nach jeder Nummer, und die sie umgebenden würdigsten Damen flöteten ihr nach: »so dezent – so zart.«
   Während Ilse dem Vortrag halb zerstreut lauschte, überschlich sie, wie bisweilen in Gesellschaft, ein Gefühl völligen Fremdseins. Und doch kannte sie alle Welt. Sie hatte den Exzellenzen-Damen guten Abend gesagt und war der Hoheit vorgestellt worden. Die jungen Mädchen hatten vor ihr den jeder verheirateten Frau gebürenden kleinen Knix gemacht, der zu sagen scheint: »Heut knixe ich noch vor dir, aber wenn ich in ein paar Wochen einen der Leutnants geheiratet habe, die dort in der Ecke stehen, brauche ich es nicht mehr.« Und Ilses Augen hatten, wie die so mancher Frau, darauf geantwortet: »Du süßes, kleines Gänschen, wie viel lieber knixte ich doch vor dir!« Dann waren die Leutnants aus den Ecken gekommen und hatten sich ihr vom Sohn des Hauses vorstellen lassen – immer gleich fünf oder sechs auf einmal, wodurch sie mehr generelle wie individuelle Bedeutung gewannen und an wandelnde Ziffern der Militärstatistik mahnten. Und auch die ernsten offiziellen Herren hatten Ilse begrüßt, Minister, Unterstaatssekretäre, von denen einige den Landesorden der Hoheit angelegt hatten, und die alle denselben Ausdruck trugen: etwas müde, etwas süffisant, wie lebendig gewordene Artikel der Norddeutschen, die zu sagen scheinen: – »Liebes Kind, das verstehst du ja doch nicht, warum soll ich dir‘s noch lang erklären.«
   Ja, Ilse kannte alle Anwesenden, und doch fühlte sie sich an diesem Abend so ganz besonders fremd und einsam. Und was kannte, was wußte sie denn auch von all diesen Leuten? Eigentlich doch nur ihre Namen. Es ist ja nie viel, was einer vom anderen wirklich weiß. Denn jeder ist ein Geheimnis und eine Einsamkeit. Jeder lebt auf seiner eigenen kleinen Insel, als müsse er wachen über etwas, das er da verborgen.
   Ilse blickte an all diesen scheinbar höflich Lauschenden entlang. Von Manchen war die übliche Maske während des Vortrags etwas herabgeglitten. Sie dachten ersichtlich an ganz andere Dinge – und nicht an sonderlich komische. Einen neuen fremden Ausdruck trugen sie plötzlich, vielleicht war das der wahre. – Denn was sonst alle verbargen, trat jetzt, da sie sich unbeobachtet wähnten, und ihnen selbst wohl kaum bewußt, einen Augenblick zutage. – »Aber was mochten sie wohl alle zu verstecken haben?« dachte Ilse. Und sie fand die Antwort in den vom Willen unkontrollierten Zügen. Die meisten verbargen wohl geheime Sorgen, Ehrgeize, Kränkungen, Ängste und viel, sehr viel Langweile – und einige, ganz wenige, hüteten ein bißchen heimliches Glück.
   Ja, auch solche gab es, und es war Ilse, als könne sie auf diesen wenigen, weicher und gütiger gewordenen und verträumt lächelnden Antlitzen das Wort lesen: »Glück, Glück.«
   Selbst ganz verträumt, sprach sie es leise vor sich hin: »Glück, Glück.«
   Und dann mußte sie plötzlich die Augen heben, mußte aufschauen und von fremder Gewalt gezwungen nach dem anstoßenden Salon blicken. – Da in der offenen Tür stand Wolf von Walden.
   Sie starrte ihn erstaunt an. War er es denn wirklich? und wie kam es, daß er hier so plötzlich vor ihr auftauchte? Dann fiel ihr ein, daß sie bei Helmstedts gehört hatte, er würde nach Berlin berufen werden. Aber sie hatte nicht geahnt, daß sein Kommen so nahe bevorstände. Und nachdem sie ihn so, ganz in Gedanken, einige Augenblicke angestarrt hatte, besann sie sich endlich und erwiderte mit einem etwas verwirrten, lächelnden Nicken seinen Gruß. Er sah dabei so froh aus – als sei es etwas sehr Schönes, von ihr gegrüßt zu werden – da nickte sie ihm unwillkürlich ein zweites Mal zu und errötete dann, daß sie es getan.
   Das kleine Nebenspiel ging während des Vortrags und über die Köpfe der Zuhörer zwischen ihnen beiden hin und her. Niemand bemerkte es. Nur Fräulein von St. Pierre, die gerade mit prall behandschuhter Rechten die langstielige Lorgnette über die Nase hielt, sah es. – Und wurde aufmerksam.
   Kaum hatte der Komiker geendet und die Hoheit sich erhoben, als Walden auch schon neben Ilse stand.
   »Sie sind wieder da?« sagte sie und fühlte dabei, wie sie verlegen errötete, daß ihr keine klügere Begrüßung einfiel.
   »Ja, es kommt mir selbst ganz seltsam vor, hier zu sein,« antwortete er. »Vor ein paar Stunden erst bin ich angekommen. Auf der Straße begegnete mir unser Wirt, den ich schon lange kenne, und er bestand darauf, daß ich heute abend herkommen müsse. Ich wollte zuerst gar nicht.«
   »Wirklich, Sie auch?« rief Ilse eifrig und dann, sein Erstaunen bemerkend, setzte sie erklärend hinzu: »Ich wollte nämlich gar nicht herkommen!«
   »Aber jetzt bin ich sehr froh, daß ich kam,« sagte er.
   Sie schwieg. Aber ihre Augen sagten dasselbe wie seine Lippen, während sie noch so standen, glitt, von der Hausfrau gefolgt, Herzogin Wanda raschelnd an sie heran, blieb plötzlich stehen und sagte: »Täusche ich mich oder sind Sie es wirklich, Herr von Walden?«
   Er verbeugte sich und antwortete: »Es ist wirklich Eurer Hoheit untertänigster Diener.«
   »Ich habe noch so oft an Ihr scharmantes Singen zurückgedacht,« lispelte die Herzogin, »damals auf meiner Weltreise hörte ich Sie ja – wo war es doch gleich? – Nicht wahr, in Bangkok?«
   »In Tokio, Hoheit,« verbesserte er.
   »Ja richtig, in Tokio, – ich wußte ja, in Asien,« sagte sie, »nun ich hoffe bestimmt, daß ich Sie heute abend doch wieder hören werde. Nicht wahr?«
   »Ich bin untröstlich,« antwortete Walden, »aber ich habe gar keine Noten bei mir.«
   »Aber die gibt es doch sicher hier im Hause,« sagte die Herzogin mit einem leisen Anflug von Ungeduld.
   »Selbstverständlich,« fiel Frau von Tolck-Engel eifrig ein, »wir haben eine Menge Noten da, und Herr von Walden wird bestimmt Bekanntes darunter finden.«
   »Nun also, kommen Sie, Herr von Walden, und singen Sie mir etwas Hübsches vor,« sagte Herzogin Wanda.
   »Zu gnädig,« antwortete Walden, »aber wer wird denn begleiten?«
   »Oh, das muß doch sicher irgendeiner hier können,« meinte die Hoheit, »nicht wahr, so jemand ist doch da?« wandte sie sich an ihre Wirtin.
   Verlegen antwortete diese: »Wir hatten nicht auf Musik gerechnet, Hoheit – ich bin außer mir, aber es ist kein professioneller Akkompagnateur zugegen.« – »Aber unter Ihren vielen Gästen wird doch jemand sein, der so viel spielen kann?« entgegnete die Herzogin, und in ihrer Stimme lag wieder der ungeduldige Klang. Die Hausfrau fühlte, daß der Erfolg ihrer Soiree in Frage gestellt war, wenn dieser hohe Wunsch nicht erfüllt werden konnte. – Hilflos sah sie sich um.
   In diesem Augenblick trat Theophil feierlich und gemessen an die kleine Gruppe heran, und nachdem Frau von Tolck-Engel ihm ihre Verlegenheit geklagt hatte, sagte er überlegen: »Aber das ist doch ganz einfach – da wird eben meine Frau aushelfen – sie hat ja in Frohhausen so viel musiziert und auch die eine Sängerin dort oft begleitet.«
   Ilse, die etwas abseits stehen geblieben war, fuhr erschrocken bei diesen Worten zusammen und wollte ablehnen, aber schon war sie von der Herzogin und der erleichtert aufatmenden Hausfrau umringt.
   »Oh wie reizend! wie schön von Ihnen! Sie helfen mir aus solch großer Verlegenheit!« riefen beide durcheinander.
   »Ich weiß wirklich nicht, ob ich es können werde,« warf Ilse leise ein und fühlte, wie ihr Herz zu hämmern begann, als stände sie plötzlich vor einer unbekannten Gefahr, in die der nächste Augenblick sie stürzen mußte. Dieselbe Angst, die sie vorhin zu Hause empfunden, war wieder da. – Sinnlos hatte sie sie genannt – war dies ihr Sinn gewesen? – Einen suchenden, flehenden Blick warf sie auf ihren Mann – der mußte ihr doch beistehen, der konnte nicht wollen, daß sie in dies drohende, unbekannte Etwas versänke. – Aber Theophil raunte ihr nur leise zu: »Es liegt mir sehr viel daran, daß du Frau von Tolck-Engel diesen Gefallen erweisest,« und zur Herzogin gewandt, sagte er mit einer ungelenken Verbeugung: »Meine Frau wird sich glücklich schätzen.«
   Dann stand sie mit Walden im Saal am Flügel, und von einer vergoldeten Etagére reichte ihnen die Hausfrau allerhand Notenhefte. Während sie beide suchend darin blätterten, bemerkte Walden, daß ihre Hände bebten. Da beugte er sich näher zu ihr und sagte: »Nicht fürchten! wir beide wollen uns schon zusammen durchschlagen.«
   Es lag so viel frohe Zuversicht und Siegesgewißheit in seiner Stimme! Sie fühlte, wie sie selbst dabei ganz ruhig wurde. – Unbekannten drohenden Gefahren hatte sie sich nahe geglaubt? aber die gab es ja gar nicht. Und wenn auch – wir beide wollen uns schon zusammen durchschlagen!
   Die Herzogin hatte sich wieder auf dem Sofa niedergelassen. Die durch ihren allerhöchsten Willen so plötzlich in des Abends Programm eingeschobene Nummer erregte allgemeines Interesse. Man drängte in den Saal. Es mußte dort etwas Besonderes sein. Man fragte und erzählte. Amateure? – Walden? Ach ja, der aus der Diplomatie. Zuletzt in Tanger? – Ja, und jetzt ins Auswärtige Amt berufen. Und sie? Richtig, die hübsche Frau, die Gräfin Helmstedt so sehr protegiert. Zehren? Jawohl – Zehren-Weltsöden, und der Mann Reichstagsabgeordneter.
   Während Ilse nun leise präludierte, hatte sich Fräulein von St. Pierre in den Kreis der um die Hoheit gruppierten würdigsten Damen gesetzt und hob mit der prall behandschuhten Rechten die langstielige Lorgnette zu den Augen empor.
   Dann sang er.
   Ilse konnte sich später nie erinnern, welche Lieder er da zuerst gesungen hatte. Sie war anfänglich viel zu sehr mit ihrer Aufgabe, der Begleitung, beschäftigt gewesen, als daß etwas anderes in ihrem Gedächtnis haften geblieben wäre. Herr von Walden hatte eine sehr persönliche Auffassung, und es erschien ihr zuerst schwer, ihm abwechselnd zu folgen und nachzugeben – bis sie plötzlich erkannte, daß er eigentlich genau so vortrug, wie sie selbst vorgetragen haben würde, wenn ihre Stimme noch gelebt hätte. Da wurde es ihr auf einmal leicht. Sie dachte nun nur noch daran, auf seine Absichten eingehend ihn zur Geltung zu bringen. Und dabei überkam sie ein ganz neues Gefühl – eine große Freude, so dienen zu dürfen, ein williges Selbstverlöschen, weil sie sich in eines anderen Art ganz wiederfand. Ganz und doch anders. Größer, mutiger, freier. Eine ungeahnte Seligkeit stahl sich in ihr Herz – kam sie von diesen ganz neuen Gefühlen, oder war es der Zauber seiner Stimme? – Sie wußte es nicht. Es war nur, daß das Leben plötzlich einen Zweck zu haben schien: dieser Stimme zu folgen und darüber alles andere zu vergessen.
   »Hübsch! sehr hübsch!« lispelte die Hoheit nach jedem Liede, und sobald Walden aufhören wollte, folgte dem »hübsch! hübsch!« ein »mehr! mehr!«
   Als er dann doch endlich innehielt, sagte Herzogin Wanda: »Ach singen Sie doch noch das eine Lied, um das ich sie schon in Bangkok bat – Sie wissen doch noch – das von Grieg.«
   »Meinen Hoheit: Du mein Gedanke?« fragte Walden.
   »Ja, ja«, antwortete die Herzogin, »ich habe es vor Jahren so viel gehört.«
   »Die Noten dazu scheinen nicht hier zu sein,« sagte Walden, der mit Frau von Tolck-Engel in den Heften zu suchen angefangen, »aber vielleicht gelingt es mir, mich selbst dazu aus dem Gedächtnis zu begleiten.«
   Ilse hatte ihm am Klavier Platz gemacht.
   Die Herzogin, die sich einbildete, zu der Zeit, als jenes Griegsche Lied und auch sie selbst jung gewesen, einmal eine große Liebe gehabt zu haben, lehnte sich im Sofa zurück und schloß die Augen.
   Nur mit halber Stimme sang Walden die wohlbekannte Melodie, als wolle er bloß Stichworte geben, an denen jeder die eigenen Erinnerungen weiter spinnen konnte. Und wirklich waren da noch manche Augen, außer denen der Herzogin, vor denen bei diesen Klängen für eine kurze Spanne Zeit die banale gesellschaftliche Gegenwart versank, und statt ihrer allerhand Gewesenes oder auch nur Geträumtes wieder auferstand.
   Für Ilse aber, die noch keine Erinnerungen besaß, tönten die Worte wie eine Verheißung.
   »Du mein Sein und Werden, mein beßres Ich,« ach, wer doch das in einem anderen fände! – Und daß es das wirklich gab, das wußte sie jetzt plötzlich ganz genau. – Man konnte so sehr in einem anderen Leben aufgehen, daß darüber das eigene Sein bedeutungslos versank.
   Als dann später Ilse und Theophil im Wagen saßen und nach Hause fuhren, sagte er wichtig: »Es ist mir sehr viel wert, daß du Frau von Tolck-Engel mit dem bißchen Geklimper einen Gefallen hast erweisen können – Tolck-Engel wird nämlich sicher über kurz oder lang Landwirtschaftsminister werden – ich muß ihn mir warm halten. Siehst du nun, wie gut es war, daß du zu dieser Soiree kamst?«
   »Meinst du wirklich, daß es so gut war?« antwortete Ilse kaum hörbar und starrte durch die Fensterscheibe hinaus in den nächtlichen, nebelerfüllten Tiergarten.
   Als Ilse am nächsten Tage Gräfin Helmstedt besuchte, begrüßte diese sie mit den Worten: »Ich habe schon alles über den gestrigen Abend gehört. Wolf Walden war bei uns und hat mir erzählt, wie schön Sie seinen Gesang begleitet haben!«
   Und Ilse antwortete ganz schlicht: »Ja, dieses Begleiten hat mich so glücklich gemacht, daß ich darüber ganz vergaß, wie sehr ich mir doch früher wünschte, in der Musik Selbständiges zu leisten.«
   »Selbständige Leistungen,« sagte Gräfin Helmstedt sinnend, »sind für Frauen recht oft nur Notbehelfe, weil ihnen nicht das Glück wurde, einen anderen mit ihrem Herzen begleiten zu dürfen – das wird den meisten von uns doch stets das Liebste bleiben.«
   Ilse traf Walden von da an beinahe täglich. sie sahen sich auf den Bällen, Diners und Jours, den Wohltätigkeitsfesten und Ausstellungen – bei all den Veranstaltungen eines Berliner Winters, wo die Menschen zusammenkommen, sie wissen oft selbst nicht recht warum. Und außerdem fanden sie sich bei Gräfin Helmstedt. Da musizierten sie zusammen, denn Walden hatte, gleich nach dem ersten Versuch bei Tolck-Engels, erklärt, niemand akkompagniere so wie Ilse. Dadurch war dauernd wie durch ein Wunder der nagende Schmerz um die eigene Stimme von ihr genommen. Sie dachte kaum noch daran. Aber zwischen ihr und dem, der dies Wunder bewirkt, war ein geheimnisvoller Zusammenhang geschaffen.
   Bei all ihren Zusammenkünften sprachen sie indessen kaum je etwas, das nicht jeder hätte hören können, doch es war, als hätten all ihre Worte einen verborgenen, nur ihnen beiden bekannten Sinn. So lebten sie in einer sie von allen Übrigen absondernden Atmosphäre. Und einer fühlte des anderen Nähe, noch ehe sie sich sahen. Dann gewann alles plötzlich Bedeutung, was vorher trivial und langweilig erschienen. – Ja, es waren wirklich zwei sehr verklärende Augenpaare, die auf diesen Berliner Winter schauten, der die meisten Leute doch so gleichgültig und stereotyp dünkte, wie die vielen anderen, die ihm vorangegangen!
   Wie war das so rasch über sie beide gekommen? wie hatte es angefangen? Das war nachher so schwer zu sagen. Es schien, als sei es von aller Ewigkeit an so gewesen.
   Und was hatte Ilse unter den vielen jungen, eleganten und liebenswürdigen Männern, die sie kennen lernte, gerade zu diesem einen so sehr hingezogen? Auch das war nachher schwer zu sagen. Vielleicht daß sie gleich fühlte, wie sehr sie ihn anzog. Aber diese Erklärung warf ja eigentlich nur eine neue Frage auf.
   Zwei Körnchen Staub mußten sie wohl sein, die der Wind zusammenblies. »Aber beseelt ist solcher Staub,« sagen die Menschen, »da muß er doch Rechenschaft geben können?« »Ja, über Mark und Pfennige ist das leicht, liebe Oberrechnungskammer, aber über das Entstehen von Gefühlen? Über all das Unbewußte, das in solchem Staubkörnchen schlummert?«
   Und Ilse dachte auch in jener ersten Zeit gar nicht an Verantwortung und Rechenschaft.
   Sie war wie von einem Strom ergriffen, gegen den es keine Wehr gab, der so stark war, wie nur das ganz Naturgemäße ist. Sie erlebte all das Süße, Wunderbare, das in ihren Jahren zu erleben jedes Menschen schönes Recht sein sollte, und all dies war so völlig im Einklang mit dem von der Natur gewollten, wie daß die Bäume im Frühling knospen, und die Nachtigallen in warmen Nächten sehnsüchtig schlagen. Nur was die Menschen ihrer Unwissenheit vorher angetan, daß sie schon verheiratet war, – das hätte nicht sein dürfen. Was das Gesetzmäßige schien, das war hier das Unsittliche.
   Sie empfand dies aber noch nicht mit völliger Klarheit, sondern ließ sich treiben auf dem großen Strome, schloß die Augen vor den Konflikten, zu denen sie unerbittlich kommen mußte. Und sie konnte es, weil noch nichts zwischen ihnen beiden ausgesprochen worden, weil sie noch in einem seligen Traume lebten.
   Später dann, als sie sich jede liebe Einzelheit jener Zeit zurückzurufen begann, um sie wie einen großen Schatz zu bewahren, erinnerte sie sich, daß sie damals zuweilen gedacht: dem gefalle ich, wie ich bin, der will nicht immer an mir ändern – und wie neu es ihr gewesen, durch ihr bloßes Sein beglücken zu können. Sie erinnerte sich auch, wie gern sie ihn hatte aus der fernen, weiten Welt erzählen hören, von der er so viel gesehen. Durch ihren Verkehr mit Helmstedts war ja ihr Interesse gerade für manche der Fragen, die Walden beschäftigten, schon geweckt worden. Aber sie merkte durch seine Gespräche doch erst recht, wie viel es in der Welt noch gab, wovon so eine zwanzigjährige Matrone wie sie rein gar nichts wußte! – Das Schönste aber war, daß sie ihn ohne Scheu nach allem fragen konnte, denn hinter allen weicheren und noch verschleierten Gefühlen bestand von Anfang an etwas Kameradschaftliches zwischen ihnen. Eine gewisse selbstverständliche Sicherheit, daß einer dem anderen helfen würde, und man sich aufeinander verlassen konnte. Er nahm auch nie die gewisse männliche Überlegenheitspose an, vor der Ilse so oft verstummt war. Sie fühlte sich ihm gegenüber, bei aller Anerkennung seines größeren Wissens und weiterer Erfahrung, doch nie als Wesen zweiter Kategorie, dem angedeutet wird, daß es gewisse Dinge nie begreifen werde, wenn er mit ihr sprach, verstand sie eben auch alles. – Selbst die Politik, die ihr in den gelegentlichen Gesprächen der Gutsnachbarn stets als ein noch öderes Gebiet wie die allersandigsten Weltsödener Felder erschienen war, zeigte, von ihm erläutert, plötzlich ganz neue Seiten. Freilich drehte es sich bei seinen politischen Betrachtungen nicht immer nur um die Höhe der Schutzzölle, die gegen fremde landwirtschaftliche Produkte zu erheben seien, – es gab offenbar noch andere Gesichtspunkte, von denen aus die Beziehungen zwischen den Nationen beurteilt werden konnten.
   Vor allem aber wies Walden Ilses Begeisterungsfähigkeit neue Ziele. Erst durch ihn, den Eingewanderten, wurde in ihr der Patriotismus entfacht, die Liebe zum Lande, dem wir entstammen, das Bewußtsein, ihm unendlich viel zu verdanken und zu schulden. Vaterland bedeutete für Ilse bisher das kleine Städtchen, in dem ihre kurzen Mädchentage verstrichen, und Weltsöden, wo sie sich so völlig fremd gefühlt. Er aber lehrte sie nun das weite Vaterland kennen, in seinen Leistungen, seinen Bedürfnissen. Sie ließ sich gern von ihm erzählen, wie es ihn selbst zurückgezogen in dies Land, aus dem ferne Ahnen einst ausgewandert, und wie er ihm nun dienen wollte und wie er auch hoffte, in diesem Dienste Besonderes leisten zu dürfen. In solchen Worten lag aber nicht jenes persönliche Strebertum, das Ilse, sogar in ihren kurzen Berliner Erfahrungen, schon an so manchem bemerkt hatte, sondern ein jugendlich schwungvoller Glaube sprach daraus, beinahe ein Fanatismus. Nicht Karriere, sondern innere Berufung war Walden sein Amt. Und wenn sie ihm lauschte, dann liebte auch sie die Riesenstadt bis auf die Bäume des Tiergartens, und das ganze große Reich samt seinen vielen Bewohnern mit einer neuen großen Liebe. Diesem Reich auf vorgeschobenem Posten zu dienen und sein Ansehen draußen in der Welt zu mehren, das waren wahrlich Aufgaben! Und ein großes Sehnen erfüllte sie, – ach wer da mit könnte und helfen dürfte!
   Ilse fühlte sich wachsen und werden. Sie gewahrte an der Freude, die Walden offensichtlich empfand, ihr seine Ideen und Pläne mitzuteilen, daß sie doch wohl befähigt sein müsse, auch schwierigen Fragen Verständnis entgegenzubringen. Das machte sie froh und zuversichtlich. Sie legte die in Weltsöden ihr erwachsene ängstliche Scheu ab, ward lebhafter im Gespräch, freier im Äußern ihrer Ansichten. Und auch ihr Aussehen gewann unter dieser inneren Wandlung. Man nannte sie jetzt nur noch »die hübsche Frau von Zehren.« Sie selbst begann mehr an ihr Äußeres zu denken – denn es war ja nun einer da, dem sie so deutlich anmerkte, daß er Wert darauf legte und Freude empfand an der Bewunderung, die sie erregte. Sie war ihm dankbar für all das Freudige, das er in ihr Leben gebracht.
   Ja, freudig schien es – und mußte doch unendlich schmerzlich werden. Denn es konnte ja nicht ausbleiben, daß Ilse dazu kommen mußte, Vergleiche anzustellen. Daß sie keine glückliche Frau sei, wußte sie ja längst. Aber wie unglücklich und vereinsamt sie war, erkannte sie doch erst jetzt völlig, wo sie inne wurde, wie das Leben hätte sein können. Eheliches Unglück tritt ja meist erst dann ganz klar ins Bewußtsein, wenn der Andere erscheint. Und der Andere bleibt in solchen Fällen selten aus.

 //-- * --// 
   Walden hatte Ilse einmal beschrieben, wie er klopfenden Herzens zum ersten Male in das Auswärtige Amt getreten war, mit wie großen Erwartungen und ehrfürchtiger Scheu er sich dort umgesehen hatte. Ihm erschien die Wilhelmstraße ja nicht als jener stille Ozean der Langenweile, den Fontane einst darin erblickte, sondern sie war ihm der Weg zu diesem einen Hause, wo die großen Geschicke der Nation entschieden werden. Da wirkten und webten die Männer, die berufen waren, das Ansehen und die Interessen des Reichs in der ganzen Welt zu wahren, feindliche Ränke frühzeitig zu durchschauen und unschädlich zu machen, und die Stimme Deutschlands jederzeit mit dem Nachdruck zur Geltung zu bringen, die der dahinter stehenden Macht entspricht, – die dafür sorgen sollen, daß die Freundschaft eines starken Deutschlands als jenes begehrenswerte Gut bewertet bleibe, zu dem sein größter Sohn sie einst gemacht. Auf die Tätigkeit in diesem schlichten grauen Hause blickten ja auch die vielen im ganzen Weltall verstreuten Stammesbrüder, und jeder Erfolg, der hier errungen wurde, hob fortwirkend auch deren Mut und Lebenskraft. Menschen, die in den einsamen Wäldern Süd-Chiles oder dem Gewühl nordamerikanischer Riesenstädte lebten, die in den flachen Geländen des Ostseestrandes unter fremder Herrschaft standen, oder in Wolfs eigener Heimat, dem bergigen Sachsenlande Siebenbürgens, seit bald achthundert Jahren ihre Eigenart bewahrten – sie alle empfanden, wenn der Wilhelmstraße etwas gelang, ein stolzes Gefühl der Blutsgemeinschaft.
   Wenn Ilse jetzt selbst einmal hier vorbeikam, schaute auch sie mit neu erwachter Ehrerbietung auf das Gebäude, an dem sie vor Waldens Kommen achtlos vorüber gegangen war, und das nun durch seine Worte so viel Bedeutung gewonnen hatte. Und sie wollte auch wissen, was die unscheinbare Außenseite im Innern barg, und ließ sich immer ausführlicher darüber von Walden erzählen. Vielleicht mochte sie dabei selbst glauben, daß ihre Fragen abgeklärtem Interesse an dieser historischen Stätte entsprangen, aber in Wahrheit wollte sie sich doch nur die Räume vorstellen können, in denen er seine Tage verbrachte.
   Gleich vom Torweg an mußte er beginnen und die Tür beschreiben, die sich, durch einen Draht gezogen, nach innen öffnet und beim Zugehen einen seltsam glucksenden Ton von sich gibt. »Wie unterdrücktes Schluchzen abgetakelter Exzellenzen,« sagte Walden lachend, mit dem siegessicheren Frohsinn der Jugend, der die Zeit, da auch sie einst nur noch in Erinnerungen leben wird, so endlos ferne scheint. Der Portier mit der roten Nase, die so fein wittert, wessen Stern im Steigen begriffen und wer den Zenith der Karriere bereits überstiegen hat, dünkte Ilse eine wichtige Persönlichkeit, beinahe ebenso geheimnisvoll wie die beiden Sphinxe, die rechts im Innern die Freitreppe bewachen und dem hoffnungsvollen Attaché ebenso wehmütig spöttisch nachzulächeln scheinen, wie dem müden zittrigen Botschafter. Das Vestibül oben mit den Kandelabern aus der Empirezeit kannte Ilse durch Wolfs Beschreibungen und das Kuppeldach, durch das das Auge zum diplomatischen Himmel blickt. Sie wußte jetzt auch, daß es ein Allerheiligstes gibt, so »politische Abteilung« heißt, und daß Kanzleidiener in Frack und Orden, auf die durch langjährigen Verkehr etwas von geheimrätlicher Würde übergegangen ist, der verborgenen Staatssekretär-Gottheit die Besucher melden.
   »In dem großen Wartezimmer,« sagte Walden, »hängt ein Porträt Friedrich Wilhelm III., und wie ich zum ersten Male dort stand, und zu dem Bilde dieses unschlüssigen und unglücklichen Königs aufsah, war es erhebend, daran denken zu können, daß in diesem selben Hause dann der große Mann gewohnt und gewirkt hat, der die Schmach tilgte, die jenem einst geschah.«
   Wenn Ilse Walden so reden hörte, stellte sie ihn sich vor, wie er in dem grauen Hause in einem langen schmalen Zimmer saß, das einen einfachen gelben Schreibtisch, ebensolche Bücherregale und ein Ripssofa enthielt, dessen Sprungfedern seit Jahren zerbrochen waren – und voller Stolz sagte sie sich, daß er, in dieser aller welschen Verweichlichung abholden Umgebung, nun auch mit daran arbeitete, daß die Sonne nie wieder Tage der Schmach bescheinen könne.
   In Gesellschaften, wo Ilse, wie die Mehrzahl deutscher weiblicher Jugend, bisher die Männer bevorzugt hatte, die das Vaterland mit der Waffe verteidigen, suchte sie nun jene mehr auf, die ihm hauptsächlich mit Wort und Feder dienen. Abende, wo sie Herren des Auswärtigen Amtes traf, erschienen ihr durch diesen Umstand allein schon reizvoll. Sie empfand vor ihnen eine gewisse Scheu, wie vor großen Zaubermeistern, deren Tätigkeit unerklärlich ist, und diese Herren wären sicher selbst am erstauntesten gewesen, wenn sie geahnt hätten, welchen Nimbus sie in den Augen dieser hübschen, jungen Frau besaßen. Sie verklärte sie und dichtete sie um – nur weil sie täglich mehrere Stunden mit Wolf zusammen waren. Am glücklichsten aber fühlte sich Ilse, wenn es ihr bei solchen Gelegenheiten gelang, das Gespräch auf Wolf selbst zu bringen, und voll heimlichen Stolzes vernahm sie, daß ihm eine große Karriere prophezeit wurde.

 //-- * --// 
   In jenen Tagen fanden gerade parlamentarische Debatten statt, in die Wolfs höchste Vorgesetzte eingriffen. Da begann Ilse sich sogar für den Reichstag zu interessieren, und sie studierte in den Zeitungen die Sitzungsberichte, ganz wie sie einst, da der blaue Märchenritter in ihrem Leben herrschte, ihm zu Liebe Torte gegessen und den frühen Predigten eines Militärpfarrers gelauscht hatte. Was sie nicht verstand – und es war dessen recht viel – mußte ihr Walden erklären.
   Unter solcher Führung lernte sie nun freilich nicht den Reichstag selbstbewußter Abgeordneter kennen, die in sich die Beaufsichtiger und Erzieher der Regierung erblicken und wähnen, daß alles im Lande zum besten stände, wenn nur ihre Machtbefugnisse vermehrt würden. Nein, sie sah den Reichstag, wie er Regierungsvertretern erscheinen mag – als einen gefährlichen Kranken, den man nun mal im Hause hat und mit dem man auskommen muß, der sich im allgemeinen ja auch leidlich harmlos benimmt und wohl selbst kaum ahnt, wie furchtbar er in seinen Ausbrüchen werden könnte, den es daher gilt, mit freundlichen Worten und Beschwichtigungsmitteln in möglichst ruhiger Stimmung zu erhalten.
   Noch nach vielen Jahren erinnerte sich Ilse mit besonderer Deutlichkeit an eine bestimmte Reichstagssitzung, der sie in der Abgeordnetenloge beigewohnt hatte. Theophil zeigte eine gewisse herablassende Genugtuung, als sie ihn bat, ihr ein Billett dafür zu verschaffen, denn er sollte an dem Tage selbst reden, und da erschien es ihm ja nur schicklich, daß seine Frau ihm in Ehrfurcht lauschen wollte.
   Es handelte sich um eine Nachtragsforderung für die Subventionierung eines der lieben Koloniechen, in denen nicht alles geht, wie es gehen sollte, und wo immer irgend etwas Unerwartetes passiert, was, wie die meisten unvorhergesehenen Dinge, nachher mit Geld ausgeglichen werden muß. Ilse stand ganz auf seiten der Regierung und entdeckte in sich ein überraschend großes Verständnis für die Bedürfnisse der lieben Landsleute im fernen Erdteil. Sicherlich sollten doch diese armen Menschen das bißchen Geld erhalten! Und es war auch gar nicht verwunderlich, daß Ilse sich für die Regierungsvorlage so warm begeisterte, denn sie blickte ja von ihrer Tribüne nicht nur herab auf die mehr oder minder kahlen Staatsmännerschädel, in denen der Weg erdacht wird, auf dem Deutschland zu Ruhm und Ehre geführt werden soll, sondern zwischen diesen ehrwürdigen, verantwortlichen Häuptern sah sie auch jüngere Herren der verschiedenen Ministerien, die ihren Chefs in kritischen Lagen, gleich aufmerksamen Sekundanten, mit Akten und Notizen hilfreich beisprangen – und unter diesen jüngeren Herren befand sich an jenem Tage als einer der eifrigsten auch Wolf von Walden.
   Theophil dagegen, der als Redner der Rechten auftrat, griff die Vorlage an, denn es war eine der seltsamen politischen Konstellationen, wo die staatsgetreuen Konservativen es mit ihren Prinzipien für vereinbar hielten, der Regierung die Gefolgschaft zu verweigern. Irgendein geheiligtes agrarisches Interesse mußte vielleicht durch die Unterstützung dieser Kolonie gefährdet scheinen.
   Von seiten der Regierung wurde ihm dann mit jener auf Erstaunen beruhenden Schärfe geantwortet, die gerade die Vergehen sonst artiger Lieblingskinder hervorzurufen pflegen.
   Bei dieser ungewohnt energischen Abfuhr, die dem Abgeordneten des Kreises Sandhagen zuteil wurde, blickten unwillkürlich mehrere seiner Fraktionsgenossen zu Ilse in die Höhe, und auch aus der Diplomatenloge richteten sich auf sie manch neugierige und bedauernde Blicke. Sie aber empfand nicht nur völlige Gleichgültigkeit ob Theophils Bedrängnis, sondern es regte sich beinahe eine kleine uneingestandene Genugtuung in ihr, daß ihm, dem mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit so gern Dozierenden, einmal so kräftig widersprochen wurde.
   Ja, da unter des Reichstags goldener Kuppel fühlte sie es einmal wieder mit voller Gewalt, wie gänzlich fern und fremd er ihr war. Mochten auch Bahnen gebaut und Dampferlinien subventioniert werden, die weiße und schwarze Menschheit einander näher bringen – für sie beide, die gesetzlich eins waren, gab es keine solche Möglichkeit!
   Als Ilse später aus dem Reichstagsgebäude trat, wehte ihr, nach der Schwüle drin, der Duft ersten Frühlings wohltuend entgegen. Es begann bereits zu dämmern, und im Zwielicht tauchte plötzlich Walden vor ihr auf. Als ob er da gewartet hätte.
   »Sie wollen wohl noch zu Gräfin Helmstedt?« fragte er, und als Ilse bejahte, fuhr er fort: »Ich gehe in derselben Richtung, darf ich Sie ein paar Schritte begleiten?«
   Sie nickte nur. Ihr Herz pochte plötzlich so stark.
   Dann gingen sie zusammen zwischen den vielen, vielen Menschen. Und doch hatte sie gerade da im Gewühle all der unbekannten Existenzen die Empfindung, zum ersten Male ganz allein mit ihm zu sein. Und das war wie ein großes Glück.
   Als Walden sich dann vor Gräfin Helmstedts Hotel von Ilse verabschiedete, hatte er, ohne daß sie selbst recht wußte, wie es geschehen, von ihr erfahren, daß sie am nächsten Nachmittag einen Besuch in der Königin Augustastraße zu machen habe.
   Wie zufällig begegnete er ihr dort, und dann gingen sie wieder zusammen, am Kanal entlang und unter den Bäumen, in denen der Saft stieg und die Knospen schwellten. Durch den schmalen Streifen Anlagen schritten sie, an der stillen Eckvilla der Von der Heydtstraße vorbei und weiter am einsamen Herkulesufer, drehten an der Brücke ganz von selbst wieder um, ohne daß einer den anderen gefragt, und gingen denselben Weg noch einmal zurück, achtlos auf alles um sie her. Sie sprachen unwillkürlich leise, obschon niemand sie belauschen konnte, nur um sich durch dies gemeinsame Flüstern noch mehr von der ganzen übrigen Welt abzusondern. Und jeder hörte in des anderen Stimme ein bisher unbekanntes Beben. Wie erste tastende Schritte einer Entdeckungsreise waren ihre oft zaghaften Worte, und sie hatten ja auch über das Neuland ihrer Seelen noch so viel voneinander zu erfahren. Und doch wollten sie sich schon gegenseitig ihre lange Zusammengehörigkeit beweisen, suchten nach gemeinsamem Erinnern, nannten den Tag, wo sie sich zuerst im Leben begegnet waren. Zum ersten Male – und doch: wie ein Wiederfinden von etwas, wonach sie lange schon Heimweh empfunden, war jenes erste Sehen ihnen beiden gewesen! Leise gestanden sie sich‘s unter den Knospen treibenden Bäumen.
   »Und dann später in dem Bahnhof,« sagte er, »da blickten Sie mich an, wie ein armes Kind, dem ein großes Unrecht geschehen.«
   Sie erschauerte in schmerzlichem Erinnern und antwortete: »Es geschieht so viel erlaubtes Unrecht auf Erden.«
   Dann schwiegen sie beide. Sannen dem rätselhaften Wehen des Schicksalswindes nach, der mit den armen Menschenstäubchen oft so grausam spielt, die falschen unentrinnbar zusammen wirbelt und die rechten sich finden läßt, wenn es zu spät ist – zu spät.
   Noch manchesmal gingen sie so, in eigenes Fühlen und Denken versunken. Achtlos alles übrigen, sahen sie nur einer den anderen.
   Und immer unentbehrlicher wurden den beiden diese kurzen Begegnungen, wo sie sich so allein und weltentrückt dünkten. Dagegen hörten nun die Zusammenkünfte bei Helmstedts auf, denn diese verließen Berlin in dieser Zeit, um sich, wie beinahe alljährlich, für einige Monate in die Heimat der Gräfin zu begeben. Ilse sah sie zwar mit Bedauern scheiden, aber sie empfand doch nicht jene klaffende Lücke, vor der sie sich früher gefürchtet, wenn sie an diese bevorstehende Trennung gedacht. Es war eben etwas in ihr Leben getreten, das anderem kaum noch Raum ließ. – Gräfin Helmstedt ihrerseits mochte zwar eine Ahnung haben, was in Ilse vorging, aber sie hatte nicht daran rühren wollen, weil sie wohl wußte, daß die Warner vor Feuer oftmals die wahren Brandstifter sind. Nur beim Abschied hatte sie Ilse besonders zärtlich in die Arme geschlossen und ihr zugeflüstert: »Vergessen sie nie, Kindchen, daß ich Sie sehr lieb habe.« Dann waren andere Freunde herangetreten, und Ilse hatte ihr nur halb verträumt zunicken können.

 //-- * --// 
   Doch während Wolf und Ilse also weltvergessen in eines schönen Traumes Wegen wandelten, späheten und sahen andere Augen – auch übelwollende. Und Fräulein von St. Pierre in ihrem Hofdamenzimmerchen, das mit zahllosen Photographien höchster Personen geziert war, schrieb mit langen, spitzen Buchstaben: »So sehr Ihr Euch alle aber freuen könnt über das, was ich Dir, liebste Mechtild, von dem wachsenden Ansehen deines Schwagers geschrieben habe, so bedauerlich ist es, daß Deiner Schwägerin alles Verständnis zu fehlen scheint für die Pflichten, die ihr, als Frau gerade solch eines hervorragenden Mannes, obliegen. Anstatt für das große Glück, ihm anzugehören, in Demut dankbar zu sein und Euern alten Namen stolz zu hüten, scheint sie nur an persönliche Erfolge zu denken und verliert in der Sucht nach Bewunderung die richtige Haltung. Ich will absichtlich nichts Schlimmeres annehmen. Aber Tatsache ist, daß sie sich von einem Herrn von Walden aus dem diplomatischen Dienst auffallend die Kur machen läßt, ja daß man sie sogar abends auf einsamen Spaziergängen mit ihm beobachtet hat. Bei unserer nahen Verwandtschaft und meiner großen Verehrung für Eure ganze Familie hielt ich es für meine peinliche aber gebieterische Pflicht, Dich, liebste Mechtild, hiervon in Kenntnis zu setzen.«
   Mechtild, die gerade müde und verbittert am Bette ihrer an einem Ohrengeschwür leidenden Tochter Hetelwina saß, als ihr dieser Brief vom ländlichen Postboten gebracht wurde, vergaß darob sogar die mütterlichen Pflegepflichten, die so viele Stunden ihres eintönigen Daseins füllten. Sie sprang auf, ließ sich kaum Zeit, Mantel und Galoschen anzuziehen und eilte dann, trotz aller Müdigkeit, auf der durchweichten Landstraße nach Weltsöden. Sie, die ob ihrer neun Töchter gering geachtete, konnte es kaum erwarten, der Schwiegermutter zu zeigen, wieviel schlechter doch die Familie bei der Wahl der neuen Schwiegertochter gefahren sei, und wie nunmehr Güter gefährdet waren, die sie treu gehütet. So watete sie mit Fräulein von St. Pierres Brief in der Tasche und roten Flecken auf den abgehärmten Wangen durch den schier unergründlichen Schmutz ländlicher Frühlingswege zu ihrem Werk der Gerechtigkeit.
   Das Ergebnis ihres Gesprächs mit Frau von Zehren war, daß diese ihren Koffer vom Boden herunter holen ließ, sowie den altertümlichen Beutel, dessen sie sich bei jeder Reise bediente und auf dem in Perlenstickerei ein Hündchen dargestellt war, das treulich einige Gepäckstücke bewachte. »Nicht alle Besitztümer werden so gut gehütet,« dachte Frau von Zehren, und ihre tückischen Äuglein glimmten hinter den weiten Wangenflächen, während sie Schwämme, Kamm und Zahnbürste, Filzschuhe und Nachthemd in den Beutel packte. Dann ließ sie noch zwei Spickgänse einwickeln, für die Weltsöden berühmt war. Rumkehr, Treumann, Mamsell und das ganze Dienstpersonal aber waren sprachlos: daß die gnädige Frau Mutter in dieser für die Landwirtschaft so wichtigen Zeit plötzlich Weltsöden verlassen könne, hätte keiner für möglich gehalten!
   Wie ein Meteor fiel Frau von Zehren gegen Abend in die Wohnung in den Zelten. Sie traf nur den ob ihres plötzlichen Erscheinens ganz bestürzten Sohn zu Hause.
   »Ist in Weltsöden etwas Schlimmes passiert?« war seine erste Frage.
   »Um Weltsöden kannst du unbesorgt sein,« antwortete die Mutter, »da führe ich die Aufsicht. Es handelt sich um euch hier – und ich will nur hoffen, daß da noch nichts Schlimmes geschehen ist.«
   Und indem sie die Bindebänder der kleinen Reisekapotte löste, begann sie sofort, dem Sohn mitzuteilen, welche Warnung sie erhalten.
   Aber Theophil war nicht so bereit, sich beunruhigen zu lassen, wie Frau von Zehren erwartet hatte. Während dieser Monate der Unabhängigkeit und des steigenden Bewußtseins eigener Wichtigkeit hatte er sich der Bevormundung entwöhnt. Nicht ganz so kritiklos wie bisher hörte er der Mutter zu und empfand dabei peinlich, daß sie in den kleinen Berliner Stuben noch überwältigender wirkte als auf den weiten heimatlichen Feldern. So war sein erster Wunsch, diese ganze alberne Angelegenheit, die ihm da plötzlich aufgedrängt werden sollte, beiseite zu schieben.
   »Verehrteste Mama,« sagte er gemessen, »meine Bescheidenheit verbietet mir, auf die Gefühle näher einzugehen, die bei Fräulein von St. Pierre mitgesprochen haben mögen, als sie es für nötig fand, Mechtild zu schreiben. Daß diese aber Ilse nicht sonderlich wohl will, weil sie eben die Nachfolgerin auf Weltsöden in ihr sieht, wissen wir doch alle.«
   »Ganz schön, ganz schön!« rief Frau von Zehren, »aber die Tatsachen bleiben doch: die einsamen Abendspaziergänge mit einem Herrn!«
   »Wenn Ilse wirklich etwas so Unüberlegtes getan hat, muß es ihr eben verwiesen werden,« erwiderte Theophil, »aber es können ja auch ganz zufällige Begegnungen gewesen sein.«
   »Mit einem Herrn, der allgemein als ihr Kurmacher gilt?« fragte Frau von Zehren skeptisch.
   »Verehrteste Mama,« antwortete Theophil mit überlegenem Lächeln, »wenn der Herr wirklich Ilsen die Kur macht, tut er mir leid – er könnte sich nämlich ebensogut um ein Stück Holz bemühen – ich kenn sie doch.«
   In diesem Augenblick erscholl die Flurklingel, dann vernahm man Ilses Stimme draußen im Vorplatz, und Theophil setzte rasch hinzu: »Da kommt sie übrigens selbst, und du kannst sie ja nun persönlich nach allem befragen.«
   Die Tür ging auf und Ilse trat ein. Eine andere wie die vor wenigen Monaten aus Weltsöden abgereiste, das fühlte Frau von Zehren sofort. Freier schien sie, selbstvertrauender, wie jemand, der durch irgendein Vorkommnis des eigenen Wertes bewußt geworden. Und viel, viel hübscher sah sie aus, konstatierte die Schwiegermutter beinahe widerstrebend, aber freilich, setzte sie in Gedanken hinzu, was vermögen nicht die großstädtischen Schneiderinnen, gegen deren Künste das Strafgesetz eigentlich Paragraphen enthalten sollte.
   Theophil, der bis dahin aus Bequemlichkeit Ilse eher verteidigt hatte, fühlte nun bei ihrem Anblick eine plötzliche Gereiztheit: Schließlich war sie es doch, die diese ganze unerquickliche Auseinandersetzung über ihn heraufbeschworen hatte und an dem lästigen mütterlichen Überfall schuld war, – und dies alles in einem Augenblick, wo seine Zeit und ungeschmälerten Kräfte den wichtigen Fragen des Staatswohls gehören sollten. Kaum hatte denn auch Ilse die Schwiegermutter begrüßt, so fragte er sie unwirsch: »Wo kommst du denn her?« und war eigentlich auf ein verlegenes Ausweichen gefaßt.
   Aber Ilse antwortete ganz unbefangen: »Ich war draußen bei Greinchen.«
   »Natürlich,« sagte Theophil ärgerlich, »eine Person, die sicher mit schuld ist an dem Testament deines Vaters, das mich lächerlich macht, die erscheint dir als passender Umgang.«
   Und Frau von Zehren setzte seufzend hinzu: »Ja, ja, Ilse, mein armes Theophilchen hat recht, du scheinst überhaupt alle Sorge um sein Ansehen und seinen Namen zu vergessen – ich bin eigens deshalb hierher gereist …«
   »Du mußt mich entschuldigen, verehrteste Mama,« unterbrach sie Theophil, der die Uhr gezogen hatte, »aber ich werde zu einer Kommissionsberatung erwartet, und du besprichst das alles auch wohl am besten mit Ilse allein.«
   Froh, einen Grund zu haben, allen weiteren Erörterungen zu entgehen, verließ er das Zimmer schnelleren Schritts, als seine Feierlichkeit sonst zuließ. Doch von der Tür aus wandte er sich noch einmal an Ilse: »Schenke den Worten meiner Mutter Beachtung, liebes Kind!«
   Kaum waren die Damen allein, so sagte Frau von Zehren auf Ilse zuschreitend: »Also du hast einen Liebhaber!«
   Ilse prallte zurück und schrie auf: »Das ist nicht wahr!«
   »Es freut mich, dich dies so bestimmt behaupten zu hören,« sagte die ältere Frau, »aber wenn du dich derart benimmst, daß die ganze Stadt es für wahr hält, kommt es eigentlich aufs selbe heraus.«
   »Aber was habe ich denn getan?« fragte Ilse mit bebender Stimme.
   »Nun, alle Welt hat dich mit diesem Herrn von Walden nachts in den Straßen gesehen – das willst du doch nicht etwa leugnen?«
   »Ich bin ein paarmal mit ihm spazieren gegangen,« antwortete Ilse, »aber niemals des Nachts – doch wenn auch – wäre das wahr, was du vorhin sagtest, so würden wir uns doch wohl anderswo wie in der Straße sprechen können.«
   »Du scheinst ja in solchen Dingen sehr gut Bescheid zu wissen,« sagte Frau von Zehren mit einem tückischen Blick der kleinen Äuglein, »nun, wenn du dich so unschuldig fühlst, wirst du es auch gern beweisen wollen: Ich bin gekommen, dich nach Weltsöden mitzunehmen.«
   »Nein, nein!« rief Ilse, »das ist unmöglich!«
   »Unmöglich?« wiederholte die Schwiegermutter gedehnt, »so steht es also doch?«
   »Aber ich kann mich doch nicht wie ein unartiges kleines Mädchen wegführen lassen!« entgegnete Ilse mit Entrüstung, »ich hab ja gar nichts getan – ich glaube … du hättest jedes Wort hören können, was wir gesprochen haben.«
   »Um so unverständlicher ist deine Weigerung,« sagte Frau von Zehren, »wenn du aber dabei bleibst, werden dein Mann und ich eben auf andere Mittel sinnen müssen, dich von diesem Herrn zu trennen.«
   Wieder funkelten die kleinen Augen so tückisch, daß Ilse plötzlich von einer sinnlosen Angst um Wolf ergriffen wurde. Als müsse sie sich schützend vor ihn werfen.
   »Ihr wollt ihm doch nichts tun?« stieß sie hervor.
   »Ihm?« wiederholte Frau von Zehren spöttisch. »Sei unbesorgt – sicher nicht so, wie du zu glauben scheinst – dazu wäre mir mein Theophilchen denn doch wirklich zu schade. Wir werden morgen eine Entscheidung treffen.«
   Die ganze Nacht lag Ilse mit weit geöffneten Augen da. Sie konnte nicht schlafen, weil gar zu viel in ihr wach geworden. Was sie sich nicht einmal als Möglichkeit flüsternd zugestanden, das war ihr als Tatsache mit lauten Worten entgegengeschleudert worden.
   Wie hatte die Schwiegermutter doch gesagt? Du hast einen Liebhaber? – Zischend, als ob mit glühenden Eisen ein Schandmal in zuckendes Fleisch gebrannt würde, so hatte es geklungen. – Und war doch eigentlich ein so hübsches Wort: einer, der einen anderen lieb hat. – Das sollte wohl jeder für jeden sein. Aber so hatte es die Schwiegermutter nicht gemeint. Denn die Menschen lieben einander so wenig, daß dies Wort für sie nur einen Sinn besitzt. – Eine einzige Beziehung gibt es also, in der man – sich wirklich lieb hat?
   Und in den langen Stunden der Nacht dachte Ilse an Dinge, die ihrem Wesen bisher fremd geblieben.
   Am Morgen, als es sacht im Zimmer zu dämmern begann, traf wie immer der erste Frühlichtstrahl den bunten Druck, auf dem die viktorianischen Schönen so eifrig zu spähen schienen.
   Jetzt wußte Ilse, daß, so lange er auch zögern mag, der Sieger endlich doch einmal kommt.
   Zu Frau von Zehrens Befremden erwies sich Theophil dem PIane, Ilse nach Weltsöden zu senden, gar nicht geneigt. »Wir haben, ehe der Reichstag in die Osterferien geht, gerade noch ein paar Einladungen angenommen, da müßte solche plötzliche Abreise doch sehr auffallen,« sagte er.
   »Ich fände das verhältnismäßig einerlei im Vergleich zu den Gefahren, die ich voraussehe,« entgegnete die Mutter, »glaub mir, mein Theophilchen, sie sind wirklich vorhanden.«
   »Aber selbst, wenn du recht hättest, verehrteste Mama, nach den Ferien müßte Ilse doch mit mir hierher zurückkehren, denn ich könnte doch nicht in Berlin leben und meine Frau dauernd in Weltsöden lassen? Ich kann ja nicht mal den Grund dafür anführen, daß sie der Kinder halber auf dem Lande bleibt – da wir doch nun mal keine haben.«
   »Leider!« seufzte Frau von Zehren.
   »Und warum soll ich schließlich auch das einbüßen, was sie noch am besten versteht: unsere gesellschaftliche Stellung zu stärken.«
   »Das hast du doch nicht nötig?« rief die Mutter, »Zehren bleibt Zehren!«
   »Gewiß,« antwortete er würdevoll, »aber so viel habe ich hier doch schon gemerkt: eine Frau zu haben, die gefällt, kann immerhin nicht schaden.«
   Er empfand bei dem ganzen Gespräch hauptsächlich nur eine gewisse gereizte Langeweile. Die längst eingetretene Gleichgültigkeit gegen seine Frau ließ ihn so gern glauben, daß die Mutter in ihrer geschäftigen Herrschsucht übertreibe und eingebildete Schrecknisse sähe. Die Beliebtheit, deren Ilse sich bei dem aufsteigenden Gestirn der Tolck-Engels, bei der Herzogin Wanda und so manchen anderen erfreute, mochte er nicht missen; sie sollte ihm zur Erreichung von persönlichen Zielen dienen, die ihm vorschwebten, seitdem er in der die verschiedensten Ehrgeize entfesselnden Hauptstadt weilte.
   »Ja, wenn du auf meine Vorschläge wirklich nicht eingehen willst,« hub Frau von Zehren von neuem an, »dann muß eben dieser Herr von Walden aus Berlin entfernt werden.«
   Theophil schaute erstaunt auf die in streitbarer Feldherrnpose dastehende Mutter. »Das wäre allerdings bei weitem das Beste,« sagte er, »aber wie wolltest du das zustande bringen?«
   »Das wäre traurig, liebes Theophilchen,« antwortete sie mit einem tückischen Blick der kleinen Augen, »wenn wir Zehren in Preußen nicht mehr so viel gegen einen Menschen vermöchten, der doch schließlich ein Fremder ist und keinen Anhang hat!«
   Gleich nach dieser Unterredung verließ die gnädige Frau Mutter erhobenen Hauptes das Haus, und mit festem Schritt ging sie durch die Straßen Berlins, das aus Weltsöden mitgebrachte Paket Spickgänse unter dem Arm.
   Frau von Zehren war mit der Frau eines der Vorgesetzten von Herrn von Walden einst im selben adligen Stift erzogen und eingesegnet worden, und seitdem Herr von Höhenrath, der Mann dieser früher wenig beachteten Schulgefährtin, den Aufstieg begonnen, der zu solcher Größe führen sollte, hatte Frau von Zehren die einstmaligen Beziehungen wieder aufgenommen und eifrig gepflegt. Sendungen von Schinken, Würsten und Spickgänsen gingen jeden Winter aus Weltsöden an das Haus des Staatsmannes; Spargel und Apfel folgten im Laufe der wechselnden Jahreszeiten. Beim Einpacken dieser ländlichen Produkte dachte Frau von Zehren dann jedesmal: Wer weiß, wozu das noch mal gut sein kann! – Denn wie so manches, was das Zehrentum tat, war auch dies ein Ergebnis weiser Voraussicht.
   Zu dieser einflußreichen Jugendfreundin hatte sich Frau von Zehren nunmehr auf den Weg gemacht.
   Als sie in den mit grünem Plüsch und imitierten Kameltaschen möblierten Salon der Exzellenz mit ihrem Paket unter dem Arm eintrat, saßen mehrere Herren und Damen um die Hausfrau herum. Denn es war deren Empfangstag. Frau von Zehren warf einen einzigen prüfenden Blick auf die Gäste und klassifizierte sie alsobald in Gedanken, ebenso treffend wie verächtlich, als »Nichtpreußen.«
   »Meine gute Minette,« rief sie mit lauter Stimme, indem sie unbekümmert zwischen den Fremden auf die Freundin zuschritt. Und ebenso, nur erstaunter, antwortete diese: »Meine gute Gottliebe! Sieht man dich endlich mal!« – Dann umarmten sich die beiden wiederholt, wobei das Paket Spickgänse gegen den breiten Rücken der in grauen Alpakka gekleideten Exzellenz klopfte.
   »Ich habe gerade meinen Jour,« flüsterte dabei Minette, »aber sie gehen nu bald.« Und dann machte sie Frau von Zehren bekannt mit Señor und Señora de la Delicias, von der peruanischen Gesandtschaft, Mrs. Landsend, der Frau des amerikanischen Sekretärs, Fehmi Bey von der türkischen Botschaft, Oberst Oki Abunai, dem japanischen Militärattaché.
   Es wollte aber kein rechtes Gespräch zwischen ihnen und der Edeldame aus dem Kreise Sandhagen zustande kommen, und die Fremden erfüllten denn auch Frau von Höhenraths Hoffnung, indem sie sich bald empfahlen. Als die letzten gegangen waren, sagte Frau von Zehren, ihnen nachschauend: »Gott, Minette, wenn ich bedenke, daß wir zusammen im Stift gewesen sind und nun sehe, mit was für Menschen du verkehren mußt – da waren ja sogar Heiden darunter!«
   »Ja, ein Vergnügen ist‘s wahrhaftig nicht immer,« antwortete die Exzellenz und atmete erleichtert auf, wobei die große Kameenbrosche an ihrem Halse auf und nieder ging – »aber nu erzähl mal von dir selbst, Gottliebe, du bist wohl gekommen, dich an deinen Kindern zu erfreuen? Dein Sohn wird ja schon viel genannt im Reichstag und deine Schwiegertochter – na, mein Alter und ich haben ja nicht Zeit, viel auszugehen – aber man hört doch so, daß sie sehr gefällt und so musikalisch sein soll.«
   Damit hatte sie der Freundin den erwünschten Anknüpfungspunkt gegeben, und Frau von Zehren begann auch alsobald zu berichten: Ja, ja, der Sohn machte sich in der Tat, man prophezeite ihm sogar noch mancherlei Erfolge auf diesem modernen Weg des Parlamentarismus – und die Schwiegertochter – nun ja, sie war ganz hübsch und nett – nur leider keine Kinder und auch wenig Aussicht dazu.
   »Wie bedauerlich!« warf Minette teilnehmend ein, während Gottliebe tief seufzte und dann gleich fortfuhr: »Ja, sehr, sehr bedauerlich! Auch wegen Weltsöden – aber – das ist doch noch nicht das Schlimmste!«
   »Meine gute Gottliebe, du erschrickst mich.«
   »Ja Minette, es ist auch wirklich etwas sehr Trauriges, um was es sich handelt, und eigentlich bin ich eigens aus Weltsöden gekommen, um mit dir darüber zu reden.«
   »Sprich, sprich!« und die Kameenbrosche auf dem grauen Alpakka hob und senkte sich wieder.
   »Also siehst du,« hub Frau von Zehren an und erzählte nun, daß in dieser Zeit, wo ihr Theophilchen die ländlichen Interessen im Reichstag vertrete, der jungen unerfahrenen Frau von einem höchst gefährlichen und völlig skrupellosen Don Juan nachgestellt würde, der – Gottliebe konnte es nur mit schmerzlichem Bedauern erwähnen – zu den sonst so achtbaren Untergebenen von Minettens Mann gehöre und der, während er bisher im Ausland verwendet worden, unglücklicherweise gerade in diesem Winter nach Berlin berufen worden sei.
   Sichtlich entrüstet strich die Exzellenz über ihren tugendsamen glatten Scheitel und rief: »Ja, dann müßte man doch daran denken, wie er am besten von hier entfernt werden könnte!«
   »Gott, Minette,« antwortete Frau von Zehren, »ich würde nie gewagt haben, darum zu bitten, aber damit wäre allerdings der Familie der Frieden zurückgegeben.«
   »Laß mich nur machen, meine gute Gottliebe,« sagte die Exzellenz mit resolutem Tone, »ein Institut für Ehestörer ist das Auswärtige Amt nicht. Ich werde noch heute mit meinem Alten reden.«
   Gleich an diesem Tage setzte Minette ihrem Mann die Weltsödener Spickgans zum Abendessen vor. Nach beendeter Mahlzeit folgte sie ihm in sein Studierzimmer, um mit ihm zu reden, ehe er sich in den Inhalt der großen Aktenmappe vertiefte, die ihm ein Kanzleidiener allabendlich zu nächtlicher Erledigung in die Wohnung brachte. Aber sie fand ihn ihren Wünschen nicht sonderlich geneigt.
   »Deiner Freundin Gottliebe gegenüber empfinde ich zwar die Dankbarkeit des Magens,« sagte Herr von Höhenrath, »und das soll ja die stärkste sein – aber mir will‘s doch nicht recht in den Sinn, daß wir uns bei Versetzungen nach solchem Geklatsch und Gerede richten sollen, wir sind doch nicht als Hüter des Ehefriedens agrarischer Abgeordneter angestellt, und dieser lange Zehren sollte sich lieber selbst um seine Frau kümmern, anstatt, wie er es neulich getan hat, der Regierung dreinzureden. Das erwartet man doch nicht von Leuten seines Schlages.«
   Schließlich gelang es Minetten aber doch, ihren Mann der Idee geneigt zu machen, wenn auch nicht sofort, so doch bei guter Gelegenheit, auf Waldens Versetzung ins Ausland hinzuwirken.
   Herr von Höhenrath äußerte dabei: »Walden ist ja ein gescheiter, strebsamer Mensch, aber doch ein etwas unruhiger Geist und wird sicher bald selbst wünschen, wieder draußen verwandt zu werden.«
   Die gewünschte Gelegenheit fand sich früher als erwartet.
   Als Minettens Gatte am nächsten Morgen ins Ministerium kam, ward ihm sofort vom Kanzleidiener gemeldet, der Chef habe bereits zweimal nach ihm fragen lassen.
   Er fand diesen hohen Lenker deutscher Staatsgeschicke in offenbar übelster Stimmung.
   »Was ist denn da für eine Schlamperei passiert?« fragte dieser und wies auf ein Schriftstück, auf dessen breitem Rande der erschreckte Herr von Höhenrath einige Worte in einer wohlbekannten hohen Handschrift erblickte. »Da ist ja an die höchste Stelle ein Bericht über die Frage des Verlustes der Reichsangehörigkeit gesandt worden, der den von uns vertretenen Anschauungen diametral entgegenläuft. Wie konnte denn so etwas vorkommen?«
   Herr von Höhenrath warf einen Blick in die Blätter und sagte dann sichtlich erleichtert: »Aber Exzellenz, das ist ja bloß der zusammenfassende Bericht über die von all unseren Gesandten eingeforderten Gutachten, mit dem ich den Legationsrat von Walden beauftragt hatte.«
   »Ja, haben Sie denn diese bloße Zusammenfassung, wie Sie sie nennen, überhaupt gelesen, ehe sie höchsten Ortes vorgelegt wurde?«
   »Exzellenz,« stammelte Herr von Höhenrath, »die Last der Geschäfte … sehr genau hab ich es … nicht gelesen … es sollte ja nur ein Resümee sein …«
   »So? Ein Resümee? Na, sehen Sie sich mal den Schlußpassus an!«
   Herr von Höhenrath überflog die letzte Seite, auf der auch die hohe Randbemerkung stand. Er las da zu seinem Erstaunen die in schwungvollen Worten und mit einem gewissen jugendlichen Idealismus vorgetragene Befürwortung der Auffassung, daß ein Deutscher seiner Staatsangehörigkeit gegen seinen eigenen Willen nie und nimmer verlustig gehen dürfe. »Mutter Germania könne nie eines ihrer Kinder aufgeben, denn ihre Arme seien stark genug, um sie alle schützend zu umfangen.«
   Neben diesen Satz hatte eine hohe Hand geschrieben: »Famos! Hiernach soll verfahren werden.«
   Und der verstimmte Chef hatte allerdings recht, als er gesagt, daß diese Ansicht Herrn von Waldens, die der großzügigen Auffassung des Herrschers sympathisch erschienen war, dem genau widersprach, wonach man sich seit Jahren, aus Bequemlichkeit und aus Verkennung der eigenen neuen Stärke, gerichtet hatte.
   »Unerhört von diesem Walden!« rief Herr von Höhenrath, nachdem er den gefährlichen Passus gelesen. »Solch eine Eigenmächtigkeit! Seine eigenen grünen Ansichten so selbstbewußt vorzutragen!«
   »Ja, und was machen wir denn nun damit?« sagte fragend der Chef.
   Herr von Höhenrath sann nach, plötzlich fiel ihm ein, was er gestern von seiner Frau über diesen selben Walden gehört hatte. Das schien also doch wirklich ein junger Herr zu sein, der sich auf den verschiedensten Gebieten Übergriffe in die Rechte Anderer anmaßte, und der ihn selbst in eine höchst fatale Lage gebracht hatte! – Das sollte ihm denn doch nicht so hingehen! Und er antwortete sinnend: »Man müßte wohl vor allem trachten, Zeit zu gewinnen … die Angelegenheit dilatorisch behandeln … bis die Geschichte in Vergessenheit geraten ist … dazu wäre es nützlich, den Urheber des Berichts zunächst von Berlin zu entfernen.«
   »Wo wollen Sie ihn denn hinschicken?«
   »Ach, das findet sich. Aber wenn es Euer Exzellenz beliebt, könnten wir ja gleich den Personalrat rufen lassen.«
   »Gut,« sagte der Chef, »lassen Sie Geheimrat Duval bitten.«
   Der Personalrat war von Natur ein milder, ängstlich schüchterner Mann, dem jede Härte fernlag. Der Zwang, oftmals an seinen Mitbeamten Exekutionen vornehmen zu müssen, die andere beschlossen, hatte seinem bleichen, von dunklem Bart umrahmten Gesicht und seinem ganzen Wesen eine tiefe Schwermut aufgedrückt.
   Nachdem ihn die beiden Exzellenzen, soweit es ihnen geboten schien, orientiert hatten, sagte er verlegen: »Wir haben im Moment aber nichts frei, was wir Legationsrat von Walden anbieten könnten … er war doch gerade für bessere Posten in Aussicht genommen … so viel ich weiß.«
   »Lieber Herr Geheimrat,« fiel Herr von Höhenrath ein, »es kommt vor allem darauf an, Herrn von Walden möglichst rasch eine Versetzung zu geben.«
   Duval sann einen Augenblick nach und sagte dann ängstlich, als getraue er sich kaum, den Vorschlag zu machen: »Ja, dann bliebe nur übrig, ihn nach Zanzibar zu schicken, zur Vertretung von Kappes, der, wie Exzellenz vielleicht wissen, plötzlich schwer erkrankt ist?«
   »Warum nicht? Sehr passend!« riefen die beiden hohen Staatsmänner. Und der oberste setzte hinzu: »Dort kann sich dieser überschwengliche junge Herr ja mal aus der Nähe ansehen, wie diese weit verschlagenen Deutschen zum Teil beschaffen sind, die er sämtlich beschützen möchte!« Minettens Gatte aber dachte: »Dort wird er schwerlich viel Gelegenheit finden, den Frauen anderer nachzustellen.«
   Der Chef schloß die Unterredung, indem er sich zu dem wehmütig blickenden Duval wandte: »Also, Herr Geheimrat, ich bitte, Herrn von Walden die entsprechende Mitteilung zu machen – ich danke Ihnen, meine Herren.«
   Am Tage nach ihrem Besuch bei Minetten war Frau von Zehren nach Weltsöden zurückgereist. Sie hatte keine neue Auseinandersetzung mit der Schwiegertochter gesucht, sondern sich begnügt, sie aus tückischen Äuglein siegessicher anzublinzeln. Aber bei diesen Blicken und Theophils strafendem Schweigen hatte Ilse das Gefühl, von schleichendem Unheil umgeben zu sein. Ein Frieren der Seele war in ihr, eine Angst vor Unabwendbarem. Nicht Angst aber für sich, sondern für Wolf. Sie fühlte mit völliger Gewißheit, daß ihm etwas Schlimmes nahe, aber sie wußte nicht was, noch wie sie es von ihm abwenden solle. Nur das wußte sie, daß es nichts gab, was sie dafür nicht getan hätte. Immer mehr wuchs ihre ahnungsvolle Ruhelosigkeit.
   Und plötzlich ward ihr ein Brief gebracht. »Der Bote wartet auf Antwort,« sagte das Mädchen.
   Sie las die wenigen Zeilen.
   Das also hatte die ahnende Angst gekündet? Trennung? – Und bei dem plötzlichen Gedanken an all den Schmerz und die Einsamkeit, die dies eine Wort enthielt, wuchs das Frieren der Seele in ihr zu physischem Frostschauer.
   Noch einmal las sie den Brief.
   Sie hatte zuerst nur diesen einen Sinn erfaßt, Trennung, neben dem alles Übrige gleichgültig erschien. Aber nun prägten sich auch die anderen Worte ihrem Bewußtsein ein: Zur Vertretung eines in Zanzibar schwer erkrankten Beamten sollte Wolf umgehend abreisen? – Daß das nichts Gutes für ihn bedeuten konnte, im Vergleich zu den Aussichten, die ihm bisher gemacht worden waren, sagte sich Ilse trotz all ihrer Unerfahrenheit, und sie wurde von jener Entrüstung ergriffen, die junge impulsive Menschen empfinden, wenn sie zum erstenmal erkennen, daß die Vergeltung oft auf Gebieten geübt wird, wo die Vergehen nicht lagen. Und ihretwegen wurde ihm das angetan!
   Unmittelbar sollte er reisen – und bat, sie sehen zu dürfen. Sie schaute sich unwillkürlich im Zimmer um – nein, nicht hier – dies war ja Theophils Wohnung, draußen über der Türklingel stand sein Name, und alles hier sprach von ihm und nun auch von seiner Mutter – sie kam sich plötzlich so fremd und entrechtet vor, daß es sie dünkte, als könne sie in diesen Räumen nicht mal einen Besuch mehr empfangen. Und gleichzeitig war eine subtilere Empfindung in ihr: als müsse Wolf, wenn er hier einträte, das Echo jener Worte vernehmen, die ihr die Schwiegermutter da, an dieser Stelle, entgegengeschleudert hatte. – Brennendes Rot stieg ihr bei dieser Erinnerung bis zu den Schläfen. Sie trat an ihren Schreibtisch, schrieb ein paar eilige Worte und gab selbst den Brief dem wartenden Boten.
   Hastig zog sie dann Hut und Mantel an, ohne einen Blick noch um sich zu werfen, schlüpfte aus der Wohnung und lief die Treppe hinunter.
   In den schmalen stillen Anlagen längs des Kanals in der Königin Augustastraße trafen sie sich. Gerade dorthin hatte Ilse ihn zu kommen gebeten, weil sie beim Schreiben nur den einen Wunsch empfunden, möglichst viel Raum zwischen sich und ihre gewohnte Umgebung zu legen – und dann – sie liebte jenen Platz, dort waren sie ja schon einmal einen Nachmittag zusammen auf und ab gegangen.
   Sie wollte ihm so viel sagen, ihre Empörung, ihren Schmerz, das bittere Gefühl, ihm ahnungslos geschadet zu haben – als sie ihn dann aber wirklich vor sich gesehen, hatte sie ihm nur wortlos die Hände hingestreckt, denn sie fühlte, daß jedes Wort ein Schluchzen sein müßte. So hatten sie sich bloß angeschaut – und wußten nun doch alles.
   Endlich brach er das Schweigen. »Ich sollte schon morgen früh fort,« sagte er, »um das Schiff in Genua noch zu erreichen – aber nun – werde ich überhaupt nicht reisen.«
   »Können Sie denn das?« fragte sie.
   »Was sollte man nicht können, wenn man wirklich will,« antwortete er, »ich werde um den Abschied bitten.«
   Aber sie unterbrach ihn: »Das dürfen Sie nicht.« Denn mit einer Art Hellsicht kannte sie ihn in diesem Augenblick besser als er sich selbst, sah ihn, wie in einer Vision, ein Lebenlang dem nachtrauern, was er in einer Minute von sich geworfen. – Und sie wäre schuld daran. – »Nein, nein,« wiederholte sie, »das werde ich nie zugeben.«
   »Ilse,« sagte er sehr weich, »Sie müssen doch fühlen, daß ich jetzt nicht mehr von Ihnen kann.«
   Sie getraute sich nicht gleich zu antworten und machte nur eine leise abwehrende Bewegung. Beim Klange seiner Stimme waren ihr die Arme so seltsam schlaff geworden. Ihre Kniee zitterten, und es war in ihr ein Gefühl, als ob sie versänke und aufhörte, sie selbst zu sein.
   Unwillkürlich setzte sie sich auf die Bank neben dem Rondel, wo Taxusbüsche standen. Sie fühlte sich plötzlich sehr müde. Und vor ihr stehend, fuhr er fort: »Aber ich kann den Gedanken doch nicht ertragen, daß Sie bei …«
   »Daran sollen Sie auch nie zu denken brauchen,« unterbrach sie ihn mit einem schwachen Lächeln, »ich werde dort nicht mehr bleiben.«
   »Ilse,« sagte er, nun neben ihr sitzend, und ein verhaltener Jubel lag in seiner Stimme, »ist das wirklich wahr?«
   »Ich könnte ja gar nicht,« antwortete sie.
   »Und Sie werden sich für mich frei machen?«
   Sie nickte nur.
   »Und wenn ich dann wiederkomme?«
   »Ja, Wolf.«
   Dann schwiegen sie beide. Als gehörten ihnen noch viele Stunden. Aber die Minuten verrannen unaufhaltsam. Erst als sie fühlten, daß sie nun scheiden mußten, fiel ihnen ein, daß sie sich noch so sehr viel zu sagen hatten, und sie flüsterten sich all die lieben kleinen Worte zu, die solch großen Abschiedsschmerz lindern sollen. Aber das Weh in ihren Herzen wurde nur noch größer.
   »Mir ist so angst, dich allein zu lassen, inmitten von all dem, was nun kommen muß,« sagte er.
   »Was soll mir geschehen,« antwortete sie, »ich will ja doch nur offen und ehrlich sein.«
   »Und das lange, bange Warten,« hub er von neuem an.
   »Ach Wolf,« sagte sie, »jetzt muß ja alles schön sein … selbst das Warten.«
   Ein Hauch von blaßrosa und violettem Dunst färbte den westlichen Himmel. Nebel lag jetzt über dem Kanal, das jenseitige Ufer verwischend. Und in dem Nebel tauchte ein kleiner Dampfer auf, der schrill pfeifend einen schweren Lastkahn nach sich schleppte. – Dieser winzige Dampfer aber rief in Ilses Phantasie plötzlich das Bild eines der fauchenden stampfenden Ungeheuer hervor, die die Ozeane befahren. Und sie sah Wolf oben auf dem Verdeck stehen, durch unerbittliche Macht weiter, immer weiter von ihr fortgetragen. – Und in zwei Tagen schon würde dies Wirklichkeit sein – da würde er so von Genua abfahren.
   Wie in physischem Schmerz zog sich ihr das Herz bei dieser Vorstellung zusammen, sie glaubte den Augenblick nicht überleben zu können. Zu seinen letzten Abschiedsworten vermochte sie nur leise zu nicken – keine Silbe mehr entrang sich ihren Lippen – sie hätte ja nur das eine Wort schreien können: »Bleib, bleib!«
   Als er sich dann endlich losgerissen hatte und von ihr gegangen war, blieb sie wie zermalmt da sitzen. Sie starrte auf den Boden, der noch seine Fußtapfen wies, und ihre Hand strich mit einer ihr ganz neuen liebkosenden Bewegung über die Bank, wo er eben noch neben ihr gelehnt. Er aber war fort – verschlungen vom Nebel – als trennten sie schon die weiten Meere.
   Endlich erhob sie sich. Ganz zerschlagen, wankend, wie im Traume, ging sie durch die Straßen. Was sie nun zunächst tun solle, lag noch unklar verschwommen vor ihr. Unwillkürlich hatte sie die Richtung nach den Zelten eingeschlagen. Beim Gehen besann sie sich allmählich wieder auf des bisherigen Lebens Einzelheiten. Es fiel ihr ein, daß Theophil heute gleich vom Reichstag aus zu einem parlamentarischen Bierabend gehen wollte. Er würde also gar nicht zu Hause sein. Als sie aber vor dem Hause stand, ergriff es sie plötzlich mit fröstelndem Schauer, und sie fühlte, daß sie über diese Schwelle nie mehr treten könne. – Nein, sofort mußte sie zu Greinchen fahren. Dort würde sie Aufnahme finden. – Was sie brauchte, konnte ihr ja morgen hinausgeschickt werden. – Aber wenn Theophil bei seiner Rückkehr am Abend spät sie nun nicht zu Hause fand? – Warum sollte dieser ihr plötzlich so weltenfern Erscheinende vielleicht unnütze Sorge um sie hegen? Sie beschloß, ihm gleich zu schreiben.
   Im Wartesaal des Bahnhofs, von dem aus sie den Vorortzug zu Greinchen benutzen wollte, ließ sie sich Papier und Tinte geben. Und da auf dieser Wegstation, inmitten hastender fremder Menschen, schrieb sie den Brief, der ein Leben abschließen sollte.
   Und wußte nicht, daß, was einmal gelebt worden, stets weiter wirken muß.

 //-- * --// 
   Lieber Theophil!
   Es ist sehr schwer, diesen Brief zu schreiben, aber doch hoffe ich, daß, wenn ich ihn erst geschrieben haben werde und du ihn gelesen hast, uns beiden leichter sein wird.
   Wir sind in den paar Jahren unserer Ehe dem Glück so fremd geblieben. Ich habe zwar in dieser Zeit vor allem gefühlt, daß ich selbst unglücklich war, aber jetzt, wo ich Dir schreibe, sag ich mir, daß auch Du unmöglich glücklich gewesen sein kannst. – Und wir beide tun mir heute leid. – Warum das so war? Wir wollen heute nicht wägen und richten. – Es fehlte wohl von Anfang an zwischen uns beiden die Liebe. Du sagtest einst, die fände sich in der Ehe von selbst. Heut weiß ich es anders, Liebe, die sich erst einfinden soll, die kommt wohl nie.
   Ich möchte Dir gern so manches sagen und erklären, und zugleich möchte ich Dir doch nicht weh tun, lieber Theophil. Denn es ist etwas Neues, Großes und Schönes in mein Leben getreten, und das macht mich so weich und dankbar. Drum möcht ich niemand wehe tun.
   Siehst Du, ich habe bei Euch in Weltsöden gesessen, wie hinter Gittern und Stäben, und dabei war mein Herz voll von einer unendlichen Sehnsucht. Es war oft, als locke es mich wie mit Nachtigallensang. Und ich wußte doch nicht, was es war, das mich so rief und lockte. Ich hatte auch niemand, den ich fragen konnte. Vor Dir, Theophil, fürchtete ich mich viel zu sehr. Ich glaube, Männer können ja gar nicht ahnen, wie oft ihre Frauen sich vor ihnen fürchten.
   Heut nun aber weiß ich, was mich so rief und lockte. Es war das Glück. Aus weiter Ferne nur, wie eine Ahnung, tönte damals seine Stimme: komm mit, komm mit.
   Aber jetzt hab ich sie ganz nahe vernommen, hab dem Glück ins Antlitz geschaut.
   Und nun muß ich mit dem gehen, den ich liebe, und der für mich das Glück ist. Ich kann nicht anders. Keine Gitter, keine Ketten hielten mich von ihm zurück.
   Wirst Du mir sehr böse sein, Theophil? – Es ist eigentlich eine so kindische Frage, aber wenn ich an Dich denke, fühl ich mich eben immer als kleines Mädchen, das gescholten wird. – Und gerade das möchte ich nicht mehr sein, möchte einem Anderen etwas anderes werden.
   Sei mir nicht böse, lieber Theophil. War unsere Ehe für mich ein Irrtum, so war sie es doch ebenso für Dich. Und denk ich heut an Dich als an einen, den blinder Zufall eine Strecke Weges mit mir führte, so weiß ich, daß auch ich Dir niemals die Eine war, die Vorbestimmte. was Du für mich empfandest, das hätte wohl jede Frau in Dir zu erwecken vermocht.
   Es war erniedrigend für uns beide.
   Ich glaube, so etwas sollte man gar nicht Ehe nennen dürfen.
   Drum laß uns in Frieden voneinander scheiden.
   Ich gehe zu Greinchen. Die wird mich wohl aufnehmen, bis Du alles zwischen uns geregelt hast, wie Du es willst. Ich überlaß Dir das.
   Ich kann nicht wägen noch richten, weil in meinem Herzen nur noch demütige Seligkeit wohnt – doch ist es Dein Urteil, daß ich am schwersten fehlte, so sei meine letzte Bitte: vergib es mir.
   Ilse
   Greinchens gutmütiges Doggengesicht zeigte kein sonderliches Erstaunen bei Ilses plötzlichem Erscheinen und ihrer Bitte um Aufnahme.
   »Ich sagte Dir ja schon vor Monaten, daß es so kommen würde,« sagte sie. Doch darüber war sie schwer enttäuscht, daß Ilse nicht fortan ihr Lebensziel in dem Kampf für die Frauenrechte erblicken wollte. »Dich nachher wieder verheiraten willst du, liebes Kind? Welch Fehler! Wo du bei uns ein so voll befriedigendes Dasein finden könntest!«
   Aber in dem modern gesonnenen Greinchen steckte doch noch ein gut Stück ganz altmodischer Freude an Liebesgeschichten, etwas von jenen komplizierten Gefühlen, die gerade alternde Fräulein in die Theater treiben und zu eifrigsten Abonnentinnen der Leihbibliotheken machen. Ilse, die auf dem mit Roßhaargewebe bezogenen Sofa saß, gerade unter Papas durch eine Kreppdraperie gezierten Photographie, mußte bis tief in die Nacht hinein erzählen. Sie sprach so tapfer, meinte es so ehrlich! – Und die meisten würden es doch Betrug und Treulosigkeit nennen, das fühlte Greinchen wohl, obschon auch sie ja nicht zu den Weltweisen gehörte. – Arme kleine Ilse! dachte sie, wär sie doch damals schon gekommen, als ich es ihr riet, wo noch nicht der Schein gegen sie sprach! – Dann quartierte sie den unerwarteten Gast in ihrem Fremdenstübchen ein, und als Ilse mit ihrem schimmernden Haar und großen Augen, fein und zart und wie verloren in einem von Greinchens weiten, derben Nachthemden, schließlich zu Bette lag, beugte sie sich über sie und sagte: »Ich werde zu dir stehen, Kindchen, so viel ich kann.«
   Als Greinchen am nächsten Tage aus der Stadt zurückkehrte, wohin sie gefahren, um einige von Ilses Sachen zu holen, erzählte sie: »Herr von Zehren soll heute, gerade ehe ich in den Zelten ankam, plötzlich nach Weltsöden abgereist sein. Er wird sich also wohl vor allen weiteren Schritten mit seiner Mutter beraten wollen.«
   Ilse lebte nun völlig in der fortwährenden Erwartung der Post– und Telegraphenboten. Diese wackeren und ahnungslosen Überbringer von Leid und Freude waren fortan die wichtigsten Erscheinungen ihres Daseins. Sie brachten ihr Telegramme, Karten, Briefe, besonders einen lieben, ganz dicken Brief, den Wolf im Eisenbahnzuge geschrieben und in Genua aufgegeben hatte. Im ersten Augenblick schien es jedesmal so viel des Glücks – und dann war es doch immer zu wenig für die Sehnsucht, die nach so viel mehr verlangte.
   Zu seinen Briefen kam dann noch ein anderer. Auch Gräfin Helmstedt schrieb ihr aus Genua.
   Meine kleine Ilse!
   Wolf Walden hatte uns von Berlin aus die Nachricht seiner plötzlichen Entsendung nach Zanzibar telegraphiert. Da wir sofort fühlten, daß dieser unerwarteten Versetzung eine besondere Ursache zugrunde liegen müsse, und wir daher doppelt wünschten, Wolf vor seiner Einschiffung noch zu sehen, sind Ludwig und ich von meiner Besitzung aus sofort hierher gereist.
   Nun haben wir ihn eben auf seinen Dampfer gebracht. Vorher hatte er uns alles erzählt. Und seine letzten Worte an mich waren, ich möge Sie lieb haben.
   Das war nicht nötig. Sie wissen ja, wie lieb ich Sie habe, kleine Ilse. Aber etwas Neues ist dem hinzugekommen: Angstvoll vorausschauende Sorge um Sie und ein tief wehmütiges Mitgefühl.
   Dieses Wort von mir wird Sie wundern, liebe Ilse, denn Sie erkennen sicher die scheinbare Ähnlichkeit zwischen meinem Lebensgang und dem Weg, den Sie nun eingeschlagen haben – und Sie haben ja selbst gesehen, wie glücklich Ludwig und ich dabei geworden sind. Ich hoffe und wünsche ja nun von ganzem Herzen, daß Sie und Wolf das ebenso werden mögen – aber – es wird Ihnen beiden bitterlich schwer gemacht werden.
   Jedes Glück trachten ja die Menschen, sich einander zu verkümmern, als gäbe es dessen zu viel auf Erden, und jeder scheint immer vom anderen zu denken: dem geht‘s zu gut! Besonders aber gilt dies von all solchem Glück, das erst nach schwerem Irrweg schmerzlich erkämpft wurde, und dem in den Augen der Welt stets der Charakter widerrechtlich erworbenen Gutes anhaftet.
   Über Ludwig und mich dachte man so und auch gegen uns wurde Allmögliches versucht. Daß es weder gelang, uns innerlich zu verbittern und auseinander zu bringen, noch uns äußerlich dauernd zu schaden, ist aber unsere glückliche Ausnahme.
   Sie und Wolf werden viel härter noch kämpfen müssen als wir, um sich behaupten zu können.
   Denn ich ließ ja meinen ersten Mann, seine Familie und ihren ganzen Anhang in seinem Lande zurück und folgte Ludwig nach Deutschland, wo er seine angestammte Stellung, seinen Besitz und Freunde hatte, wo jene ihm also kaum viel anhaben konnten. Trotzdem sind auch mir Bitterkeiten nicht erspart geblieben.
   Wolf aber, liebe Ilse, ist in Deutschland ein Eingewanderter, ein Fremder!
   Das ganze in seinen Gefühlen verletzte Zehrentum – und es ist hier ein Gattungsbegriff – wird sich gegen Wolf erheben, und er wird dem gegenüberstehen in seiner Fremdlingseinsamkeit. Was bei einem Eingeborenen, für den sein persönlicher Verwandten– und Freundesanhang einträte, vielleicht allmählich überwunden und vergessen würde, wird ihm nie verziehen werden. Ihnen aber, liebe Ilse, werden all die Frauen, die aus irgendeinem Grunde die Leiden einer dem Herzen nach getrennten Ehe weitertragen, es neiden, daß Sie den Flug zu neuem Glücke wagten. Jede von ihnen wird Ihre Feindin sein, und auch all die Männer, die sich für berufene Vertreter der gewohnten Ordnung halten, können gar nicht anders als Ihre Gegner zu werden. – Wenn Sie beide alt geworden sind, und Ihnen selbst Ihr jetziges Tun nur wie ein blasser, wehmütig schöner Frühlingstraum erscheint, wird es noch gegen Sie angeführt und verwendet werden.
   Ich weiß, daß ich Ihnen Angst gemacht habe und grausam scheine. Aber, liebe kleine Ilse, Sie sind so unerfahren und gehen dahin in der doppelten Blindheit der Jugend und Liebe. Drum hielt ich es für freundschaftlicher, Ihnen zu sagen, welche Felsen und Abgründe meine schmerzlich geübten Augen auf Ihrem Wege voraussehen. Denn Gewarnte sind doch etwas geschützt.
   Sie werden jetzt zu viel mit Geschäften zu tun haben, mein armes Kind, als daß Sie von dort leicht fortkönnten – wenn Sie aber mal fühlen sollten, daß sie der Erholung bedürfen und die Härte der Menschen in der Schönheit der Natur vergessen möchten, so kommen Sie zu uns. Wir wollen dies Jahr recht lange in meiner Heimat bleiben. Eine baldige Rückkehr nach Frohhausen, in all das hinein, was jetzt dort über Sie gesagt werden mag, vertrüge meine Freundschaft für Sie und Wolf auch gar nicht.
   Und nun lassen Sie mich als Schluß und Ihnen zum Troste sagen: Kein Geschick war je so, daß es sich bedingungslos preisen ließe, denn auch das größte Glück enthält stets ein Stück Entsagung. So bleibt das Höchste, was sich von einem Leben sagen läßt: Es war schön … trotz allem.
   Möchten Sie und Wolf auch einst so sprechen können.
   In Liebe und Verständnis
   Ihre Gisi Helmstedt.

 //-- * --// 
   Dieser Brief traf Ilse in einem Augenblick, wo sie so schwer unter Wolfs Abwesenheit litt, daß ihr daneben die unbekannten Leiden, die es vielleicht gelten würde, mit ihm zusammen zu ertragen, gering erscheinen mußten. Da würde man eben vereint sein! Und neben dem Gedanken an dies Glück versank alles andere. Bei den Warnungen Gräfin Helmstedts, die aus einer Ilsen noch ganz fremden Welt– und Menschenkenntnis stammten, war sie freilich einen Moment erschauert, als höre sie von einer tückischen Krankheit, der man auch mal verfallen könnte; wirklichen Widerhall aber weckten in ihr nur die Worte, die sagten, daß das Leben schön sein würde, trotz allem. – Das erschien ihr von unzweifelhafter Wahrheit.
   Bald nachher trat die Hauswirtin ein, die das gespannteste Interesse für den von Greinchens übrigen Besuchern so verschiedenen Logiergast empfand, und flüsterte geheimnisvoll: »Zwei Damen möchten die gnädige Frau gern sprechen, aber sie wollten keinesfalls eintreten oder auch nur ihren Namen angeben – da draußen warten sie, die gnädige Frau kann sie von hier aus sehen.«
   Und Ilse, die ans Fenster getreten war, erkannte die beiden Tanten, Askania und Lidwine. Jenseits des umgitterten Vorgärtchens, in der erst abgesteckten Straße, wo weit auseinander besenartige Bäumchen gepflanzt waren, die eine schattenspendende Allee werden sollten, da standen, von Frühlingslicht umflossen, die beiden alten Stiftsdamen in ihrer ganzen schwarzen Kümmerlichkeit!
   Ilse lief hinaus. »Ihr kommt mich zu besuchen!« rief sie mit einer erstaunten Freude, denn vom ganzen Zehrentum waren ihr diese beiden stets die Liebsten gewesen.
   Zögernd legten die Tanten ihre in sorgfältig gestopften schwarzen Zwirnhandschuhen steckenden Finger in Ilses dargebotene Rechte, und Tante Askania begann: »Ja, mein armes Kind, wir wollten gerade nach dem Heiligen Dornenkranze zurückreisen, als der arme Theophil mit dieser schrecklichen Nachricht in Weltsöden eintraf. Da beschlossen wir beide, hierher zu fahren – denn wir können nicht glauben, daß dies deinerseits etwas Unabänderliches bedeutet.«
   »Nein, Ilschen,« fiel nun Lidwine ein, »wir können nicht glauben, daß du dein Leben in Auflehnung gegen Gottes und der Menschen Gesetz verbringen willst!«
   »Ach, liebe Tanten,« antwortete Ilse leise, »daß ich mein Lebenlang unglücklich bleibe, kann doch nicht Gottes Gesetz sein?«
   »Wer seine Pflicht getreulich zu tun trachtet, der bleibt nicht sein Lebenlang unglücklich,« entgegnete Askania, und Lidwine fuhr fort: »Der findet im Gegenteil den inneren Frieden, der höher ist als alle Wonnen der Erde.«
   Ilse schaute zu ihnen auf, wie sie da standen, so verschrumpft unter ihren rostig schwarzen Wollpelerinen, das silberne Kreuz mit dem Dornenkranze gleich einem Symbol der Entsagung auf den flachen Busen. – Was konnten sie von den Wonnen der Erde wissen? – Sie wollte ihnen nicht wehe tun, ihnen nicht die Armut vorhalten, in der ihr Leben verronnen. So sagte sie: »Ihr seht das alles von eurer Höhe – aber in meinen Jahren, da kann man nicht so denken – da kann man nicht aufgeben, was allein das Leben schön und wert macht.«
   »Wir sind auch einmal jung gewesen,« antworteten die Tanten leise.
   Wie lange mußte das her sein! Sie sahen so welk und verkümmert aus. Ein tiefes Mitleid regte sich in Ilse, und sie sagte weich: »Liebe Tanten, Ihr seid sicher recht müde, wollt ihr wirklich nicht eintreten und euch drinnen ausruhen?«
   Doch abwehrend zog Askania ihre Pelerine fester um sich und sagte mit einer Schärfe, die sie bisher vermieden: »Nein, Ilschen, in das Haus treten wir nicht – und neben allem anderen tut es mir besonders leid, dich da zu wissen, bei so einer neumodischen Person, die sicher auch für freie Liebe und uneheliche Kinder schwärmt, und das Frauenrecht nennt!«
   »Ja bei solchem Umgang,« seufzte Lidwine, »ist es freilich nicht verwunderlich, daß du deinem Mann davonläufst und« – sie flüsterte nun – »zum öffentlichen Ärgernis wirst.«
   »Aber das ist doch kein öffentliches Ärgernis,« entgegnete Ilse, »daß ich den großen Irrtum aufheben möchte, den Theophil und ich begangen haben, als wir uns heirateten. Er selbst hat ja auch darunter gelitten, wie ich, und es wird ihm eine Erlösung sein, wie mir.«
   »Wenn Theophil auch wirklich nicht ganz glücklich gewesen sein sollte,« sagte Lidwine, »so ist er doch in der Ehrfurcht vor der Heiligkeit der Ehe erzogen, und ich glaube dir versprechen zu können, daß wenn du heute mit uns zurückkehrst, er dir verzeihen und dich wieder aufnehmen würde.«
   »Und es brauchte nichts von alledem in die Öffentlichkeit zu dringen, der Skandal wäre vermieden,« flüsterte Askania und schaute sich ängstlich um in der leeren, sandigen Straße.
   »Zurückkehren!« rief Ilse. »Aber das ist ja ganz unmöglich! Theophil weiß doch, daß ich einen anderen liebe!«
   »Still, still, Kind,« sagte Askania, »das müßtet ihr beide eben zu vergessen trachten.«
   »Ich könnte das erst vergessen, wenn ich tot wäre,« entgegnete Ilse, »und auch dann nicht – ich glaube, noch im Grabe dächte ich an ihn.«
   »Wir würden zu Gott beten, daß er euch hilfe, liebe Ilse,« sagte Lidwine, »wie er es in mancher Ehe schon getan.«
   »Aber so sucht doch, mich etwas zu begreifen!« flehte Ilse. »Wie ein dummes, unwissendes Kind bin ich in diese Ehe geraten. – Ihr nennt sie heilig – aber ich versichere euch, alles andere war sie eher. Und jetzt handelt es sich um das wirkliche Glück meines Lebens – um meine Liebe, ohne die ich zugrunde gehen müßte! – Schaut, liebste Tanten, ihr betet doch den ganzen Sommer, daß die Saatenkörner gedeihen und reichlich tragen mögen, damit ihr beim Erntefest danken könnt – bin ich denn weniger als solch Körnchen? Soll ich allein verkümmern?«
   Doch Askania antwortete herbe: »Du sagtest richtig, daß wir für das Gedeihen der Saaten beten, aber in deinem Sinn wuchern Unkraut und Nesseln – und die können dir nie anderes wie schlimme Ernten tragen.«
   Ilse schwieg. Doch Tante Lidwine hub noch einmal an: »Ilse, dies ist die Entscheidungsstunde deines Lebens – schlag meinen Rat nicht in den Wind – komm mit uns.«
   Erschöpft und so leise, daß es nur wie ein Hauch war, aber doch mit einem Tone der Unabänderlichkeit, antwortete Ilse: »Das kann ich nicht.«
   »Du wirst es bereuen,« sagte Askania. »Bisher haben wir beide dich zu entschuldigen versucht – aber Gottliebe sagte gleich, wenn es zu einem Scheidungsprozeß käme, so würden deine Rendezvous mit diesem Herrn doch ein sehr übles Aussehen haben.«
   »So etwas könnt ihr doch nicht von mir glauben?« sagte Ilse, »ich habe doch nichts wirklich Schlechtes getan!«
   »Darüber wollen wir nicht streiten,« antwortete Askania und sagte dann scharf und abschließend: »Komm Lidwine, hier ist unser Platz nicht mehr.«
   Sie schickten sich zum Gehen an.
   »Wollt ihr mir nicht die Hand geben,« sagte Ilse, »wir waren doch stets gut Freund.«
   Lidwine machte schon eine schüchterne Gebärde, aber Askania schob entschlossen ihren Arm unter den der Schwester und antwortete: »Das können wir nicht mehr – wer einem der unseren etwas tut, ist auch unser Feind.«
   Also hatte das Zehrentum um Ilse zum letztenmal geworben. An dem Gitter des Vorgärtchens lehnend, starrte sie den beiden alten Stiftsdamen nach. Unscheinbar und kümmerlich schritten sie dahin, und doch war es Ilse plötzlich, als ginge von diesen beiden dürftigen schwarzen Gestalten ein großer Schatten aus, der des Frühlings ganzes Licht mit seiner Dunkelheit bedeckte.

 //-- * --// 
   In der darauf folgenden Nacht schreckte Ilse plötzlich auf und starrte entsetzt in die Dunkelheit. Wo war das Gebilde geblieben? Sie hatte es ja so greifbar deutlich gesehen – oder sollte es doch nur ein Traum gewesen sein?
   Eine glühend kahle Felsenwand. Ein schmaler Pfad wand sich hinan. Und auf diesem steilen Wege schritten zwei zusammen. Gebeugt unter schwerer Last und an den Knöcheln Sträflingsketten mit Kugeln dran, die sie keuchend nach sich schleiften. – Ein Mann und eine Frau. – Erschöpft, verlassen. In Steineseinsamkeit. Und doch, mit Trotz auf der Stirn und manchmal einem huschenden verzückten Aufleuchten in den brennenden Augen. – So klommen sie empor. Und mußten schon viele vor ihnen den steinig steilen Weg gegangen sein, denn er wies Blutspuren wunder Füße. – Ein Ziel war nicht zu schauen.
   Ja, da in Greinchens Fremdenstübchen, in dem Berliner Vorort, wo die todgeweihten Kiefern im Nachtwind klagten, da hatte Ilse zum erstenmal diese Traumesvision erblickt. Doch wieder und wieder sollte sie ihr noch erscheinen. Bei nächtlichen Meerfahrten tauchte das Bild vor ihr auf, in der Einsamkeit mondbeschienener Andenpässe, wo nur die Kondore hausen, und auch in fernen östlichen Riesenstädten, hinter deren hohen düsteren Umfassungsmauern Millionen fremdartiger Wesen schlummern.
   Ja, später da kannte Ilse jene beiden Bürdenträger gar wohl, wußte, wie müde die Schultern unter der Last wurden, wie schmerzhaft die Füße zuckten auf dem glühenden Felsenpfad.


   Zweiter Band

   Bald nachdem der Reichstag aus den Osterferien nach Berlin zurückgekehrt war, schrieb Fräulein von St.Pierre:
   Liebste Mechtild!
   Ich brauche es Dir wohl nicht erst auszusprechen, wie tief mich alles erschüttert hat, was Du mir über diese schwere Zeit schreibst, und wie sehr ich für Euch fühle, jetzt, wo Ihr es erleben müßt, daß all Eure Güte und die neidenswerte Stellung in Eurer Mitte von einer Undankbaren und Leichtfertigen herzlos vergessen und mißachtet beiseite geworfen werden. Sagen möchte ich Euch aber doch, daß hier Entrüstung herrscht und ganz allgemein für Euch Partei genommen wird. Ich will es mir nicht zum Verdienst anrechnen, denn es entsprach meiner heiligsten Überzeugung: aber bei manchen in ihrem Urteil noch Schwankenden habe ich geholfen, daß sie klare Einsicht in das wahre Wesen Deiner Schwägerin gewönnen. – Solche Frauen sind Gefahren für die Gesellschaft, mit ihrer loreleihaften Art, die Männer ins Verderben zu locken! – Wie hatte Sie doch Deinen trefflichen Schwager umgarnt! Ohne auch nur wirklich hübsch zu sein. Heut ist sie seiner müde, weil ihr ja jedes Verständnis für seine wahrhaft vornehme Persönlichkeit abgeht, und sie hat nur noch Sinn für den neuen Fang in ihrem Netze. – Nun, mit diesem Fremden habe ich kein Mitleid, er wird wohl Art von ihrer Art sein. Aber um Deinen Schwager ist es mir leid, daß er gerade da so wenig gewürdigt wurde, wo er demütigste Hingabe erwarten durfte! Und daß sie die Schamlosigkeit so weit treibt, ihm diese sogenannte Liebe sogar offen zu bekennen! Es ist empörend! Er muß nun wirklich auch äußerlich jede Gemeinschaft mit dieser Verirrten zerreißen, die innerlich doch nie zu uns allen gehört hat. Ich habe vorsichtig zu ergründen getrachtet, wie in maßgebenden Kreisen heute der Fall beurteilt wird – und ich kann Dir sagen: bei allem prinzipiellen und religiösen Abscheu gegen Scheidungen findet man doch, daß Dein Schwager zwar wahrhaft großmütig und christlich gehandelt hat, der verblendeten Frau die reuige Rückkehr in sein Heim so lange offen zu lassen, daß er nun aber nicht nur berechtigt ist, sondern seine Würde, ja die Heiligkeit der Ehe selbst es heischen, daß er diese Bande lösen lasse. – Ich glaube Dich aufs bestimmteste versichern zu können, daß ihm dadurch keinerlei Sympathien verloren gehen werden, sondern daß er im Gegenteil auf besonders wohlwollende Gesinnung rechnen kann.
   Wenn ich ihn jetzt auch in Gesellschaft treffen sollte, so verbietet es doch die Natur der Sache, daß ich darüber mit ihm rede, darum teile ich Dir, liebste Mechtild, meine Eindrücke mit.
   Bitte, versichere Deine verehrte Schwiegermutter meiner warmen Anteilnahme und treuen Anhänglichkeit und sage ihr, daß meine bescheidenen Kräfte ganz in Euren Diensten stehen.
   Stets Deine treue Cousine
   Adelaide von St.Pierre.
   Dieser von Berlin nach Mechtilds Witwensitz gesandte und von dort mit vielen Ratschlägen nach Berlin in die Zelten an Theophil zurückexpedierte Brief befreite diesen von manch sorgenvoller Erwägung der letzten Wochen.
   Nach Ilses plötzlicher Flucht hatte er zuerst völlig ratlos dagestanden. Daß ihm, dem immer schon feierlich Würdevollen und unter der goldenen Kuppel des Reichstages noch zu besonderer Bedeutung Emporgeschossenen, solches widerfahren könne, erschien einfach unglaublich. – Ein Zehren! der mit erdrückender Mehrheit gewählte Abgeordnete des Kreises Sandhagen!
   Über Ilse selbst machte er sich dabei keine Gedanken. Etwa, wie sie zu solchem Tun gekommen, noch, ob ihn nicht selbst auch ein Teil der Schuld träfe, weil er, der so viel Ältere und Erfahrenere, sich ja nie, ehe er sie heiratete, die Frage vorgelegt hatte, ob sie beide denn eigentlich zusammen paßten, und ob es ihm möglich sein würde, diesem so anders als er gearteten jungen Wesen etwas Verständnis entgegen zu bringen. Auch empfand er kein wehmütiges Erinnern noch irgendwelch sehnsüchtiges Zurückverlangen. – Die Phantasie gehörte nicht zu seinen Gaben – so quälten ihn denn auch nicht all jene Vorstellungen, mit denen Eifersucht sonst foltert. Für die Frau, die aus solch unerwartetem Entschluß heraus plötzlich von ihm gegangen war, hatte er ja längst nur noch ein halb gleichgültiges, halb gereiztes Gefühl des Nichtverstehens, des Fremdseins gehegt. Bis zu welchem Maße aber sie ihm fremd gewesen, bewies gerade dieser unerklärliche Schritt! So etwas tat man doch nicht! Das kam ja gar nicht vor! Drum suchte er auch gar nicht zu begreifen. Er staunte nur.
   Aus dem Staunen erwuchs dann als erster klarer Gedanke der Wunsch, daß ihm durch das Gebaren dieser Närrin kein Schaden erwachse. Die Bauernschlauheit, die auch aus dem schlechtesten Handel noch Vorteil zu ziehen trachtet, mußte wohl seines Wesens stärkste Triebfeder sein – sie zuerst regte sich wieder nach dem ersten lähmenden Schrecken.
   Nun, Fräulein von St. Pierres Brief bewies, daß er bisher richtig gespielt! Ein Gewinner statt eines Geschädigten würde er sein – auf sozialem Gebiet. Aber noch ein anderes gab es, auf dem es galt, sich sicher zu stellen!
   Ilse hatte inzwischen mehrere Zusammenkünfte mit Justizrat Schilderer gehabt, der ja Papas Vermögen für sie verwaltete, und den er ihr damals bei dem letzten Gespräch in Weltsöden genannt hatte.
   Ein großer, breitgebauter Mann war er, hinter dessen mächtiger Stirn ein Geist wohnte, der nicht nur Feinstes verstand, sondern im Ergründen von Ursachen und Zusammenhängen etwas jener divinatorischen Gabe besaß, die auch ganz großen Ärzten eigen ist. Sein Beruf erschien ihm als die ideale Aufgabe, den Bedrängten und Bedrückten zu ihrem Rechte zu verhelfen. Drum war er auch sehr wählerisch in den Fällen, die er übernahm. Schutzlose waren seine Lieblinge, einsame Frauen, denen der Rechtsanwalt Freund und Vater wird. Die vertrat er dann nicht nur mit dem Verstand und Wissen, sondern auch mit seinem warmen Herzen, mit angesammelten Gefühlen, für deren Betätigung sein Leben sonst kaum Gelegenheiten bot. – In den langen Jahren seiner Praxis waren ihm wohl alle denkbaren Fälle von Bosheit und Niedertracht vorgekommen, und sie ruhten in seinem Gedächtnis wohlklassifiziert, wie in einem Lexikon menschlicher Tücke, so daß ihm bei jedem Namen gleich ganze Geschichten einfielen – aber trotz all dieser Erfahrungen hatte er sich doch einen schönen Glauben an das Vorhandensein eines großen Kapitals menschlicher Güte bewahrt. Jeder neue Fall von niedriger Gesinnung, von Übervorteilung Wehrloser war ihm ein persönlicher Schmerz, eine Enttäuschung! Ganz besonders aber, wenn es sich dabei um Mitglieder von Familien handelte, deren historische Vergangenheit die gegenwärtigen Träger solch stolzer Namen weit über gewöhnliche Versuchungen hinaus hätte erheben sollen. – Wenn der Justizrat durch die Straßen Berlins schritt und an all die Menschen dachte, die da so dicht beieinander wohnten, daß einer des anderen physische und geistige Bazillen einatmen mußte, so erblickte er hierin mit Wehmut die Erklärung für unvermeidliche Körper– und Seelenkrankheiten aller Art. Ganz anders aber schmerzte es ihn, wenn er von Leuten hörte, die, durch Tradition und Lebensumstände von der Allgemeinheit geschieden, hieraus nicht die ethische Forderung folgerten, ganz anders und unantastbarer dazustehen, als all die armen Zusammengepferchten. – Durch Geburt und Lebenslauf selbst ein Städter, hegte der Justizrat eine moralischem Optimismus entspringende Vorliebe für die Kreise ländlichen Adels, und trotz mancher gegenteiliger Erlebnisse hoffte er immer wieder in ihnen jene kernig gesunde und edle Einfachheit zu finden, die im Gesamtleben des Volkes das Gegengewicht bilden sollte zu all dem verlogenen, reklamehaften und nach Vorteil hastenden Wesen, von dem er sich stündlich umgeben sah.
   Bei ihrer letzten Zusammenkunft hatte Ilses Vater dem Justizrat viel von der Tochter erzählt und von den Sorgen, die ihn ob ihrer Zukunft erfüllten, nachdem er gewähnt, durch die Verheiratung mit Theophil so gut für sie gesorgt zu haben. Das Ergebnis dieser Unterredung war dann das im Zehrentum später so großen Zorn erregende Testament gewesen.
   In Erinnerung an jenes Gespräch zeigte der Justizrat sich denn auch nicht sonderlich erstaunt, als Ilse zum erstenmal, von Greinchen begleitet, bei ihm erschien und ihm ihr Anliegen wegen der Scheidung vortrug, was er von Ilses Vater vernommen, und ihr eigener Anblick ließen ihn bald die ganze traurige kleine Geschichte erraten, die Ilse als einen großen, nie gehörten Fall menschlicher Herzenserlebnisse ansah, weil sie just ihr passiert war, die dagegen dem alten Justizrat eine Wiederholung oft vernommener Mär erschien. – Sehr zart und schonend fragte er sie dann nach Einzelheiten aus ihrem Leben mit Theophil, und obschon sie deutlich sein Wohlwollen fühlte und den Wunsch, alle für sie günstigen Daten zu sammeln, war es ihr doch bitter peinlich, von all diesen Dingen zu erzählen, die sie am liebsten ganz aus ihrem Gedächtnis gestrichen hätte. Es erschien ihr jetzt ja so unfaßlich, daß es je einen Theophil in ihrem Leben gegeben hatte! Warum an all das schmerzlich Beschämende rühren.
   »Ich muß doch über den Fall orientiert sein, wenn ich Sie gegen Beschuldigungen verteidigen soll,« hatte Schilderer gesagt, und Ilse antwortete: »Wozu überhaupt Angriffe und Gegenwehr da hineintragen? Es muß doch sicher eine Art geben, durch ruhigen, friedlichen Entschluß auseinander zu gehen – wie wir ja auch einst, leider, zusammengekommen sind.«
   »Gewiß,« antwortete der Justizrat, »es ist solch ein Weg von der Gesetzgebung vorgesehen – gegenseitiges Übereinkommen, unüberwindliche Abneigung, und das ist auch der kürzeste und einfachste Weg – aber – ich habe so eine Ahnung, als ob die Gegenpartei den nicht würde einschlagen wollen.«
   »Aber nach meinem Brief und meinem Gespräch mit seinen Tanten kann doch Theophil, ganz wie ich, nur den einen Wunsch hegen, alles zu tun, damit unsere Ehe möglichst bald gelöst wird,« sagte Ilse.
   Schilderer zuckte die Achseln. »Vielleicht hat er doch noch andere Wünsche,« erwiderte er bedächtig. »Wie dem aber auch sei – wir müssen abwarten. Denn Sie, meine liebe, gnädige Frau, können überhaupt nicht auf Scheidung klagen, da ja nach Ihren eigenen Aussagen Herr von Zehren nichts vor dem Gesetz Strafbares begangen hat. Wir sind leider in der nachteiligen Lage, den Gegner zu einem Eingehen auf unsere Wünsche überreden zu wollen – daraus aber kann sich leicht der Zwang ergeben, seine Bedingungen annehmen zu müssen – und zwar um so leichter, je mehr wir Eile verraten.«
   So hatte denn Ilse gewartet, und die Osterzeit war vorbei geschlichen, ohne daß sie von Theophil gehört hätte. Auch ein Brief, den ihm der Justizrat doch noch auf ihr Drängen geschrieben hatte, um mitzuteilen, daß er ihr Bevollmächtigter sei, war unbeantwortet geblieben. Während dieses Wartens aber war, nach der alles Zagen überwindenden Erregung des ersten Entschlusses, eine Art Abspannung über Ilse gekommen; ohne daß sie es selbst wußte, war sie innerlich mürbe geworden. Sie hätte alles zugestanden, nur um dieser Ungewißheit zu entgehen und ihre heiß ersehnte Freiheit zurück zu gewinnen.
   In dem entstehenden Vorort, wo Greinchen wohnte, war jetzt im Frühjahr die Bautätigkeit wieder aufgenommen worden, und zwischen den Kiefern wuchsen neue Häuser empor, die künftiges Glück und Leid beherbergen würden. Ilse jedoch sah kaum die um sie liegende Welt, weit fort waren ihre Blicke gerichtet auf eine ferne Insel, von der sie viele Tagereisen trennten. Alle Bücher, die über das Land, in dem Wolf weilte, geschrieben worden, hatte sie sich zu verschaffen gesucht und in diesen fremden Regionen lebte sie in Gedanken mit ihm, fühlte sich dort schon ganz heimisch. An Greinchens Küchenherd glaubte sie Tropenhitze zu atmen, die Kiefern draußen wurden ihr zu Kokospalmen, und die Maurer, die hier in märkischem Sande Fundamente von Villen neuester Stile errichteten, dichtete sie um zu arabischen Lastenträgern, zu Suaheli-Ackersklaven. – So baute ihr Phantasie Brücken über die Meere!
   Am nahesten fühlte sie sich Wolf aber doch, wenn sie vor dem Klaviere saß. Immer wieder spielte sie da die Lieder, die er gesungen, und es war ihr dann, als höre sie seine Stimme dicht neben sich, wie an jenem Abend, da sie ihn zuerst begleitet hatte. Und leise flüsterte sie heute mit ihm die Worte des Griegschen Liedes: »Ich liebe dich in Zeit und Ewigkeit.« Doch nicht nur ein wehmütig Träumen war ihr die Musik, nein, sie übte sehr fleißig, sie wollte ja so viel für ihn können! Sie hätte gewünscht, etwas Vollendetes zu sein, nur um es ihm schenken zu können. Jedem Worte seiner Briefe fühlte sie es ja an, wie sehr er sich nach ihr sehnte. Ach, daß er sie bei seiner Rückkehr ganz so finden möchte, wie er sie im Herzen trug!
   In seinem letzten Briefe hatte er erzählt, daß er dort nun auch ein Klavier aufgetrieben habe. »Ich singe Wagners Lied von den Schmerzen,« schrieb er, »und ich glaube, daß ich das Lied jetzt zu verstehen beginne.« – Und der Brief schloß mit der Bitte, Ilse möge sich für ihn photographieren lassen, »obschon ich ja, wo ich auch bin, eigentlich nichts anderes mehr vor mir sehe wie Dich, immer und einzig nur Dich«.
   Sie hatte sich fertig gemacht, um sogleich dafür in die Stadt zu fahren, und auf dem Wege zum Photographen wollte sie sich das Wagnersche Lied besorgen, um es gleich heute abend hier spielen zu können, wie er dort auf der fernen Insel. – Da trat die Wirtin ein mit der geheimnisvollen Miene, die sie bei allem annahm, was Ilse betraf und flüsterte: »Ich bringe der gnädigen Frau ein Telegramm.«
   Ilse riß es angstvoll auf. Die Trennung, die weite Entfernung zerrten eben doch mehr an den Nerven, als sie es in ruhigen Stunden zugegeben hätte! – Aber gottlob, es war nur vom Justizrat, der sie für eine spätere Nachmittagsstunde in sein Bureau bestellte. Vielleicht schritt die Sache nun doch endlich vorwärts!
   Solch gelegentliche Fahrten in die Stadt waren ihr jetzt stets etwas Beklemmendes. Sie hatte zwar zufällig bisher noch keine Bekannte getroffen, aber sie malte es sich aus, wie peinlich es sein würde, wenn sie diesem oder jenem begegnete, und man sie vielleicht teilnehmend fragte, wie es denn nun eigentlich alles stände.– Aber heute fühlte sie sich merkwürdig froh und frei! Es freute sie, sich für ihn photographieren zu lassen – sie wollte in den Apparat blicken, als schaue sie ihn selbst an! Und ihm viel, viel mit diesem einen Blick senden!
   So hatte sie das Notenheft besorgt und trat nun beim Photographen ein. – Da aber herrschte jene erwartungsvolle Erregtheit, die den Deutschen aller Schichten so oft eigen ist, wenn sie höfische Luft einatmen. – »Die Frau Herzogin Wanda hat sich soeben mit ihrem Affenpintscher aufnehmen lassen,« flüsterte eine Verkäuferin mit geröteten Wangen. Ilse wollte nun eigentlich gehen, um nicht durch langes Warten die vom Justizrat anberaumte Stunde zu versäumen, aber einer der Angestellten versicherte sie, daß der Photograph sofort für sie frei sein würde. Und wirklich öffnete sich in diesem Augenblick auch schon die Tür, und die Herzogin trat, vom Atelier kommend, in das Wartezimmer, gefolgt von ihrer Obersthofmeisterin und einem Lakaien, der den Affenpintscher in den Armen hielt. Ilse stand dicht an der Tür und verbeugte sich vor der Hoheit. Diese hob ihre Lorgnette an die Augen, und als sie Ilse erkannt hatte, schaute sie verwirrt um sich, unschlüssig und Hilfe suchend, wie jemand, der nicht gewohnt ist, allein zu wissen, was in einer schwierigen Lage das Gebotene sein mag. Doch schon war die Obersthofmeisterin, eine Freundin Fräulein von St. Pierres, mit raschem Schritt zwischen die Herzogin und Ilse getreten, reichte ihrer Herrin scheinbar ganz unauffällig die Boa, die sie ihr nachtrug, und sagte dabei leise, doch so, daß Ilse jedes Wort hören mußte: »Eure Hoheit kennen ja diese Dame gar nicht.«
   Der Hofwagen war längst davon gerollt, und Ilse begriff kaum, was geschehen. – Vor wenigen Wochen noch hatten diese selben Menschen sie umringt und gefeiert, was hatte sie ihnen denn seitdem getan? Und war dies etwas Vereinzeltes oder würden fortan alle so zu ihr sein? In dem schwülen Atelier, auf dessen Glasdach die Sonne brannte, fröstelte sie bei dem Gedanken. Denn sie gehörte zu jenen, denen weh zu tun nicht schwer hält, weil in ihrem innersten Wesen ein so großes Bedürfnis nach freundlichem Einvernehmen mit der Welt lag; das Musikalisch-Künstlerische in Ilse mochte es sein, das sie bei jedem Mißklang wie verwundet zusammenzucken ließ, gerade weil es so besonders sehnsüchtig nach Harmonie verlangte.
   Umsonst sagte der Photograph: »Bitte nicht so ernst! Bitte recht freundlich!« Es blieb ein mühsam zu schmerzlichem Lächeln verzogenes Kindergesicht, das da mit großen, traurigen und nicht verstehenden Augen in den Apparat blickte. – Und dem, der nach Wochen das Bild in fernem Lande erhielt, schienen die zuckenden Lippen, wie schon einmal, zu sagen: »Warum geschieht so viel erlaubtes Unrecht auf der Welt?«
   Auf der Fahrt vom Photographen zum Justizrat drückte sich Ilse in eine Ecke der Droschke, zog den Schleier vor und hielt den Schirm dicht über sich – sie hatte die Furcht vor den Menschen kennen gelernt.
   Als Ilse bei dem Justizrat eintrat, begrüßte er sie mit den Worten: »Nun, ich habe einen Besuch gehabt,« und setzte dann auf die Frage ihrer Augen antwortend, hinzu: »Nein – ein anderer Zehren —« er suchte dabei nach einer Karte – »ich weiß nicht mehr, wie der Zuname war – aber ein ganz, ganz langer Mensch.«
   »Eiffel-Zehren,« fiel Ilse ein.
   »Das paßt allerdings. Der kam also, im Auftrag. Nun, es scheint ja, daß man jetzt prinzipiell zur Scheidung entschlossen ist – unter gewissen Bedingungen.«
   »Oh, ich nehme jede an!« rief Ilse. Und sie fühlte, wie das Alleinsein und die Sehnsucht, sich zu Wolf retten zu können, während dieser letzten bitteren Stunde überwältigend stark in ihr geworden war.
   Der Justizrat ließ die Brille auf die Nasenspitze gleiten und schaute mit den klugen Augen darüber hinweg, was er immer tat, wenn er schärfer sehen wollte. Ilses verstörten Ausdruck gewahrend, sagte er beschwichtigend: »Sachte, sachte, meine liebe, gnädige Frau, setzen sie sich da erst mal behaglich hin, und lassen Sie sich erzählen. Also Eiffel-Zehren, wie sie ihn nennen, war hier und erklärte, sein Vetter sei nunmehr entschlossen, die Scheidungsklage einzureichen. Ich sagte, es würde alles sicher rasch und glatt gehen, da wir uns doch natürlich auf gegenseitige unüberwindliche Abneigung einigen würden, was ja auch der wahre Grund sei. Aber hoho! lachte da Eiffel-Zehren, ne, mit so was dürfen sie mir nicht kommen, Herr Justizrat, wir wissen, was wir wissen – Theophil wird auf Scheidung wegen Ehebruchs klagen. – Dann wird er abgewiesen werden, antwortete ich, denn er kann nicht beweisen, was nie gewesen ist. – Seien sie man nicht zu forsch, Herr Justizrat, entgegnete darauf Eiffel-Zehren, in ihrem Brief an meinen armen Vetter brüstet sich seine Frau ja geradezu damit!«
   »Das ist nicht wahr,« schrie Ilse auf.
   »Hab ich ihm ja auch reichlich erwidert,« sagte der Justizrat gemächlich. »Er aber blieb dabei, jeder Richter würde das aus dem Brief herauslesen. Außerdem sei ein Brief Herrn von Waldens an sie gefunden worden, worin er sie nach seiner Versetzung um eine Unterredung bitte; die habe stattgefunden, trotz allem, was Ihnen vorher schon über solche Zusammenkünfte gesagt worden – und das alles zusammen mit den früheren Rendezvous würde ein Urteil gegen sie ermöglichen – und wenn wir das erreichen, schloß Eiffel-Zehren triumphierend, kann sie ihren Liebhaber nicht heiraten!«
   »Dann folge ich Wolf eben auch ohne dem durch die ganze Welt,« sagte Ilse ganz leise, aber mit einem seltsam festen und entschlossenen Klang. Der Justizrat sah sie einen Augenblick erstaunt an. Dann glitt ein halb belustigter, halb bewundernder Ausdruck über sein Gesicht, und er sagte: »Nun, das muß man Ihnen lassen – Sie scheint nichts zu schrecken – aber zu so extremen Dingen wird es nie kommen. Ich antwortete diesem Eiffel-Zehren: Sollte Ihrem Vetter wirklich gelingen, womit sie da drohen, so könnte er sich seinerseits nirgends mehr blicken lassen: Ehebruchsdramen werden in ihren Kreisen doch nicht vor dem Richter beendet.«
   Ilse zuckte entsetzt zusammen. Sie glaubte schon blutige Katastrophen vor sich zu sehen. Sie wurde ganz blaß.
   »Na, na,« beruhigte der Justizrat, »geschossen wird noch lange nicht. Ich wußte ja, daß dieser Eiffel-Zehren die ganze Zeit bluffen wollte. Sehr bald war er denn auch so weit: Klage wegen böswilliger Verlassung sei das Mindeste, was er und der ganze Familienrat Herrn von Zehren-Weltsöden empfehlen könne. Ich blieb bei gegenseitiger unüberwindlicher Abneigung, aber er entgegnete, eine derartig unwahre Angabe sei dem geraden, aufrichtigen Wesen seines Vetters unmöglich – der wolle kein Spiel mit dem Gesetz treiben.«
   »Ach, Herr Justizrat,« stöhnte Ilse, »lassen Sie‘s ihn doch machen, wie er will, nur daß ich frei werde und fort kann.«
   »Wenn die Ehescheidung wegen böswilliger Verlassung gegen Sie erfolgt, würde Herrn von Zehren rechtlich der vierte Teil Ihres Vermögens zustehen,« sagte der Justizrat und setzte dann langsam hinzu: »Ich habe aber den Eindruck gewonnen, daß Sie mit Geldzugeständnissen viel erreichen könnten, vielleicht sogar die Scheidung auf Grund gegenseitiger unüberwindlicher Abneigung – was doch immerhin vorzuziehen wäre. Ihr mütterliches Vermögen soll ja zum größten Teil zu Meliorierungszwecken in Weltsöden verwandt worden sein – na, mir scheint, das Ganze dreht sich darum, ob sie dies Geld drangeben wollen, oder auf Rückerstattung der drei Viertel, die Ihnen in jedem Falle zuständen, bestehen wollen.«
   »Ach, Herr Justizrat,« sagte Ilse mit einer müden Bewegung, »mich will heute dünken, daß man das Leben mit viel Wertvollerem wie Geld schmerzlich teuer bezahlen muß – geben Sie ihm doch so viel er verlangt, wenn ich mir damit Frieden und Freiheit erkaufen kann.«
   Wieder sah sie der Justizrat mit hochgezogenen Brauen über die Brille hinweg an: »Gestatten Sie eine Frage: Sie wollen sich wieder verheiraten – ist das Vermögen Herrn von Waldens denn derart, daß Sie auf das Ihre nicht zu rechnen brauchen?«
   »Ich weiß darüber nur sehr wenig,« antwortete Ilse, »er ist der Letzte seines Namens – was da an Geld und Land war, ist also vermutlich auf ihn gekommen – aber uns beiden ist das alles ja so gleichgültig! Wir wollen doch nur beieinander sein! – und – schließlich – mir blieben doch immer die Zinsen meines väterlichen Vermögens – ich war ja wohl, was man so eine gute Partie zu nennen pflegt.« Und dann setzte sie bitter hinzu: »Vielleicht würde mein Leben glücklicher geworden sein, wäre ich das nicht gewesen.«
   Sehr müde, wie zerschlagen, kehrte Ilse schließlich in Greinchens kleines Vororthaus zurück.
   Abends stellte sie das mitgebrachte Notenheft auf das Klavier und entzifferte Wagners Schmerzenslied, das Wolf jenseits der Meere sang. Dazu sprach sie leise die Worte des Textes vor sich hin: »Geben Schmerzen Wonnen nur: oh wie dank ich, daß gegeben solche Schmerzen mir Natur!« Bei den Tönen, bei den Worten erwachte ihre Tapferkeit von neuem. Ja, alles wollte sie lieben, was zu ihm führte, was durch ihn kam: auch die Schmerzen!
   Und wer seine Schmerzen erst liebt, der hat ihren knechtenden Druck überwunden, der ist schon ein Freier – ein Sieger.
   Das Scheidungsverfahren nahm nun wirklich seinen Fortgang, und es kam, wie Justizrat Schilderer vorausgesagt: Ilse erkaufte sich die Wiedererlangung ihrer Freiheit, erkaufte auch die Form, in der sie sie zurück erhielt. Ihr mütterliches Erbteil, das in den sandigen Boden von Wüste Teufelstrift gesenkt worden war, bildete den Preis. Es sollte drin ruhen bleiben und in langsamer Wandlung künftigem Geschlechte Früchte tragen: kümmerliche Bankskiefern, die nach zwanzig Jahren abgetrieben werden würden, um, im gebesserten Lande, neuer Aussaat Platz zu machen.
   Es tobte ein langer Kampf zwischen Schilderer, der gern einen Teil der Summe für Ilse zurückerobert hätte, und Eiffel-Zehren, der, Theophil vertretend, die Anschauung wie einen selbstverständlichen Glaubenssatz verteidigte, daß was einmal der Scholle einverleibt worden sei, ihr verbleiben müsse und nicht mehr herausgegeben werden könne.
   Auf Schilderers Widerspruch entgegnete er, daß ihm dieser Entgelt noch zu gering erscheine für der Familie Schweigen über die wahren Ursachen der Scheidung, »im übrigen glaube er kaum, daß diese Einwendungen von der bisherigen Frau Ilse von Zehren selbst erhoben würden, als vielmehr, daß der Herr dahinter stecke, der sie, wie es heiße, zu heiraten beabsichtige, und der daher ein begreifliches Interesse daran nehme, das Vermögen seiner künftigen Frau möglichst abzurunden. Bei Bekanntwerdung solchen Verhaltens an maßgebender Stelle dürfte die ohnedies erschütterte Stellung jenes Herrn vollends unhaltbar werden.«
   Man hatte Ilse richtig eingeschätzt. Diese gegen Wolf gerichtete Drohung genügte, um sie von jedem weiteren Schritt zur Wiedererlangung ihres mütterlichen Erbteils abzuschrecken. – Zu Schilderer sagte sie dann: »Wissen sie, Herr Justizrat, in der Dachkammer in Weltsöden habe ich mal ein altes Buch über das Hofrecht und die Hörigen gelesen – mir scheint fast, die Zehren sehen auch heute noch jeden, der zu ihrem Hof mal in Beziehung gestanden hat, als hörig und abgabepflichtig an.«
   Der Justizrat erwiderte: »Es bleibt immerhin ein sehr hoher Preis, den Sie zahlen müssen! – Aber freilich,« setzte er dann hinzu, »ein Irrtum in der schwierigsten aller menschlichen Entschließungen kommt, auf die eine oder andere Weise, eben immer teuer zu stehen. Bei einem Versehen in jeder anderen Wahl, handle es sich nun um Freunde, Angestellte, Einkäufe, Berufe, wird man bemitleidet und entschuldigt; nur in der Wahl des lebenslänglichen Gefährten, für die es kein Auskunftsbureau gibt, und die von so einem jungen, im Dunklen tappenden Wesen getroffen wird, da darf man nicht irren – sonst wird man dafür bestraft.«
   Schließlich, nach einer Zeit, die Ilse endlos geschienen, war die Scheidung ausgesprochen worden. Sie hatte es nicht über sich vermocht, selbst mit dem Justizrat zum Gericht zu fahren, sondern erwartete ihn in seinem Sprechzimmer. So sehr er sie auch schon vorher beruhigt und versichert hatte, daß gar kein Zweifel über das Endergebnis bestehen könne, verbrachte sie diese Stunde doch in atemraubender, qualvoller Aufregung, und Greinchen, die sie begleitet hatte, stand dabei wie eine dicke kleine Bulldogge, die sich bemüht, gefährlich bissig auszusehen und doch die angeborene Gutmütigkeit nicht verbergen kann. – Große Tränen des Mitgefühls standen ihr in den vorspringenden Augen, und dabei sagte sie, daß alle Männer verdienten, endgültig vernichtet zu werden.
   Endlich kehrte der Justizrat zurück, und Ilses Ausdruck gewahrend, rief er schon an der Türschwelle: »Alles gut!«
   Da flog sie auf ihn zu, warf ihm die Arme um den Hals und küßte ihn auf beide Wangen.
   »Wie eingebildet man doch werden könnte,« sagte der Justizrat, »aber leider gilt das ja nicht mir!«
   »Der ganzen Firma!« rief Ilse zwischen Weinen und Lachen.
   »Ach nein,« antwortete der Justizrat, »ich glaube eher einem Abwesenden!«
   Eine ganz elementare Freude war in Ilse, etwas von den Naturgefühlen irgendeines armen Tieres des Waldes, eines eingefangenen Rehchens, das, nachdem es lange kläglich an der Kette gelegen, plötzlich losgelassen wird und nun gar nicht weiß, was es anstellen soll, um sein Entzücken, seine Dankbarkeit zu beweisen.
   Und es waren ja Ketten gewesen, die nicht nur gedrückt, sondern erniedrigt hatten.
   Greinchen mußte gleich mit Ilse auf das nächste Telegraphenbureau; sie konnte es kaum erwarten, die Nachricht an Gräfin Helmstedt und vor allem an Wolf zu senden. Staunend sah Greinchen, zu welcher Länge das Telegramm nach Zanzibar sich ausdehnte. – »Das wird aber sehr teuer werden, liebes Kind!« mahnte sie.
   »Aber denke nur, wie glücklich er sein wird!« antwortete Ilse, »was ist da teuer!«
   Von Gisi kam noch am selben Tage eine Antwort, in der sie Ilse bat, da ihre Anwesenheit in Berlin nun nicht mehr nötig sei, doch möglichst bald und für längeren Aufenthalt zu ihr nach Italien zu kommen. – Dazu entschloß sich Ilse sofort.
   So fuhr Ilse denn hinab gen Süden und wähnte, als die Alpen hinter ihr lagen, für immer dem Nebelland der Sorge entronnen zu sein. Sie schaute eine Sonne, die sie bisher nicht kannte, und die ihr wie das unverhüllte Gestirn der Lebensfreude zu glänzen schien.
   Sie reiste nicht in einer gewöhnlichen Eisenbahn, sie schwebte auf den Flügeln ihrer großen Sehnsucht. Und ihre Augen erblickten Italien zum erstenmal, als ihr Herz übervoll war von ihrer großen Liebe. – Dadurch sah sie alle seine Schönheit anders als andere minder Begnadete, empfand sie in einem süßen, beinahe schmerzhaften Vibrieren der Nerven, verlor sich an sie in einem ungekannten seligen Gefühl des schmelzenden Vergehens.
   Denn Schönheit ist Liebe, und Liebe war Wolf.
   Sie fuhr an den Seen Oberitaliens entlang und dachte, wie beinahe unerträglich schön es sein müsse, mit ihm in einem Nachen auf diesen opalenen Fluten zu gleiten. Sie blickte in ländliche Trattorien längs des Weges und sah in ihrer Phantasie, wie sie beide unter rebenüberranktem Vordach sitzen würden; strohumsponnene Flaschen feurigen Weines sollten vor ihnen auf dem Tische stehen, und aus dem Dickicht müßten leise Lieder von der Liebe klingen. – Weiße Villen, ladend an Bergeshängen gelegen, in deren Fenster der Schein sinkender Sonne wie Feuersbrunst glühte, erzählten von verschwiegenen seligen Träumen, weckten in Ilse die Vorstellung ihres Wartens, seiner Heimkehr. Gefühle durchzitterten sie dabei, für die es keinen Namen gab.
   Häufig unterbrach sie die Fahrt und rastete unterwegs. Wenn sie dann durch stille Klosterhöfe ging, wo der Schritt auf Steinplatten mit unkenntlich gewordenen Inschriften widerhallt, und der Wind in einer einsamen Zypresse neben der Zisterne säuselt, glaubte sie oft, Wolf dicht neben sich flüstern zu hören. In grauen, geheimnisvollen Kirchen stand er bei ihr und blickte mit ihr hinauf zu den verblassenden Fresken der Wände, und wenn dann plötzlich die Orgel geheimnisvoll anhub, so war in ihren Tönen etwas vom Klang seiner Stimme. Auf den Plätzen der Städte nahmen die ehernen Reiterstandbilder seine Züge an, und in den Galerien schaute aus dem gebräunten Gold der alten geschnitzten Rahmen, statt all der Heiligen, immer und immer wieder sein Bild auf sie herab.
   Denn Schönheit ist Liebe, und Liebe war Wolf.
   Ja, ganz langsam war sie hinabgereist, haltend, wo es sie gerade besonders reizvoll dünkte. Zuerst nur kurz und zaghaft, naschend gleichsam an all den Orten, die, jeder einer neuen Lockung gleich, am Wege lagen. Ganz erstaunt noch, daß sie plötzlich tun durfte, was ihr gefiel, daß es keinen Willen mehr über ihr gab, der verbieten konnte. – Manchmal beinahe kindlich verdutzt, wenn der Kellner ihr die Speisekarte zum Wählen brachte, oder wenn sie zu bestimmen hatte, wohin der Kutscher der hochsitzigen Droschke sein Pferdchen mit dem metallisch klingelnden Geschirr lenken sollte. – Voller Wichtigtuerei mit diesem ungewohnten Gefühl der Freiheit spielend, und sich dabei doch selbst schon leise auslachend: Es würde ja gar nicht von langer Dauer sein! Sie war sich ja auch ganz bewußt, nicht zu den Frauen zu gehören, für die der Begriff Freiheit an sich einen Zauber besitzt. Freiheit war, wie so manches andere, nur schön zu haben, um sie dem Rechten schenken zu können.
   Viele Blicke folgten dieser schönen jungen Frau, die so ganz allein reiste. – Aber eine gewisse Unbewußtheit umgab sie, als schützende Wehr, und Italiener sind ja gewohnt, fremden Frauen manche Rechte der Unabhängigkeit zuzugestehen. Bekannte hatte sie zufällig nirgends getroffen. – Nur in einem Hotel, wo sie übernachten wollte, begegnete sie einer deutschen ländlichen Familie, die im vergangenen Winter, gleich ihr, in Berlin ausgegangen war. – Die Mutter saß mit zwei Töchtern im Lesezimmer, als Ilse dort eintrat, um, wie allabendlich, über des Tages Eindrücke an Wolf zu schreiben. – Ilse grüßte die ältere Frau, die, mit einem kaum merklichen frostigen Nicken antwortete und dann, wie eine vor einem Raubvogel erschrockene Henne ihre Küken schützend unter den Flügeln birgt, ihre Töchter bei den Händen nahm und also eilend das Zimmer verließ. – Ilse hatte den Vorgang aber gar nicht gemerkt, denn ihre Gedanken waren zu sehr bei allem, was sie des Tags gesehen und was sie nun Wolf in einem langen Brief erzählen wollte. – Auf dem häßlichen Florentiner Bahnhof wurde Ilse von Graf und Gräfin Helmstedt erwartet, und die Freunde nahmen sie von da gleich mit sich in ihre weit draußen gelegene Villa.
   Und dort war Märchenland. In diese Umgebung, wollte es Ilse scheinen, paßte die Freundin mit den zeitlosen Gewändern beinahe noch besser, als in das Schloß von Frohhausen. – Hier stand Gisi auf dem Boden, dem sie entstammte. Wenn sie durch die für nordische Begriffe etwas leeren Säle der Villa schritt, oder an der Balustrade der Terrasse lehnte und hinabschaute in das silbrige Tal, war es, als sei sie eine Wiedererstandene, eine Frau, die sich genau so bewegte und ganz so sprach, wie es vor Hunderten von Jahren irgendeine ihrer Vorfahrinnen an eben dieser Stelle schon getan. Helmstedts kannten das alte glorreiche Florenz, das die Welt mit dem Glanz seiner Kunst und dem Widerhall seiner Kämpfe erfüllt hat, ganz ebenso wie das moderne, in dem so manche Erinnerungen vor Neuem weichen müssen, und sie erklärten diese beiden Welten der jungen nordischen Freundin. Sie lehrten Ilse sehen. Sie lehrten sie die trutzig ragenden Paläste und die weltberühmten Werke der Bildhauer und Maler, die im Bädeker zwei Sternchen tragen, bewundern und auch wissen, warum sie sie bewunderte. Was seltener ist. Und daneben wies Gisi ihr auch die kleinen intimen Schönheiten, die man nicht bewundern, sondern liebhaben muß – die stillebenartigen Bildchen, die es in Italien in jeder Gasse, in jedem Hofe gibt, und die sich in die Erinnerung einnisten, wie kleine, fein differenzierte Charakterzüge eines geliebten Menschen. – Und tief in Ilses Gedächtnis prägten sich solche Ecken und Winkel ein: Ein Stück grauen Gemäuers, auf dem jene violetten Iris blühten, die den toskanischen Frauen zur Bereitung wohlriechenden Pulvers dienen; an der Wand eines unscheinbaren Hauses das verwitterte Relief einer blauweißen Majolikamadonna; schwarzäugige Kinder, die, auf den Altarstufen einer dürftigen Kapelle kauernd, gelbe Blumen zu einer goldigen Kette aneinanderreihen.
   Aber unter all den Plätzen, die Helmstedts im Laufe der Wochen Ilse zeigten, gab es einen, der sich gleich beim ersten Sehen in ihr Herz stahl, und zu dem es sie immer wieder mit geheimnisvoller Macht zurückzog. Eine unbewohnte Villa war es, die, nicht weit von der Helmstedtschen Besitzung gelegen, seit Jahren schon zum Verkaufe stand.
   Zwischen silbrigen Olivenbäumen schlängelte sich ein Fußpfad an bröckelndem Gemäuer zu ihr hinan, und auf dem Wegweiser, der mit gespenstisch grauem Arme zu dem verlassenen Hause wies, standen in verwischten Lettern die Worte: Rifugio di San Cristoforo – der Name des Heiligen, der sich der Wanderer und Schiffbrüchigen erbarmt, so ihn in ihrer Not anrufen, und der sie heimgeleitet. – Und wirklich war das alte verwitterte Gebäude ursprünglich ein Konvent gewesen. Die Mönche des heiligen Christoforo hatten von da aus ihres Amts gewaltet, den Wanderern auf der alten Gebirgsstraße über den Apennin beizustehen, sie aufzunehmen und zu verpflegen. Nach dem Verschwinden des Ordens war dann später das einstmalige Kloster von reichen Florentiner Patriziern zur Sommervilla umgebaut worden. Der Name des heiligen Patrons der Brüderschaft aber war ihr geblieben.
   Eine hohe Mauer, aus deren Fugen leichte Farren und zitternde Federnelkchen genügsam sprossen, umgab das Besitztum. Wildes Rankenwerk hing halb verhüllend daran hinab. Dahinter ragten Steineichen, Linien und Zypressen still empor. – Drinnen schien alles zu schlafen, und die schrille Stimme des Glöckchens an der Eingangspforte verhallte wie in weiten, leeren Fernen. – Dann tauchte die Gestalt einer alten grauen Beschließerin im Grünen auf und nahte dem Tor mit lautlos huschenden Bewegungen, wie eine aufgescheuchte Fledermaus – und auch ihre Augen hatten das erschreckte Blinzeln eines von ungewohnter Helle geblendeten Nachttieres.
   Die alte Francesca kannte Helmstedts seit vielen Jahren und ließ sie und Ilse ungestört in dem stillen Garten und den Sälen der Villa wandeln.
   Ein weitläufig ausgedehntes Gebäude war es und wies manche Spur beginnenden Verfalls. Aber von seinen gelben rissigen Mauern ging ein seltsames Leuchten aus, als hätten sie all den Sonnenglanz vergangener Jahrhunderte in sich aufgesogen und strahlten ihn nun zurück.
   Im Innern des Hauses dagegen war alles geheimnisvoll kühles Dämmern. Beinahe unheimlich still und dabei doch wie angefüllt mit einem Flüstern von Stimmen der Vergangenheit.
   In dem großen gewölbten Raume zu ebener Erde, der einst Refektorium der Mönche gewesen, blickte noch das verblaßte Freskobild des heiligen Christoforo, wie durch Nebel, von der Wand herab; riesengroß tauchte er auf aus dem Halbdunkel und schien ein Turm an Stärke, wie er so in den brandenden Fluten stand, das Kindlein sorgsam auf der Schulter tragend.
   Doch nicht von Glaubensstärke noch erbarmender Liebe erzählten die Räume des oberen Stockwerks. Nein, von Schönheitssinn und Daseinsfreude raunten sie. In ihnen ja hatte das den frommen Mönchen als Besitzer folgende vornehme Patriziergeschlecht gehaust. Und wie im Erdgeschoß der Geist einst gewesener Barmherzigkeit, so schwebte hier oben das Gespenst längst gestorbenen Genusses.
   Verblaßte Seidenbespannungen bedeckten noch die Wände der still gewordenen Säle; erblindende Spiegel in alten vergoldeten Rahmen hingen darauf, zwischen den geheimnisvoll lächelnden Bildnissen namenloser Toten. Leise knisterte es in dem Brokat der Möbel, und auf Estraden erhoben sich unter gespenstischen Baldachinen feierliche Prunklager, wie Triumphwagen aus dem einstmaligen Festzug eines längst vergessenen Gottes. – Es gab da Zimmerdecken, an denen mythologische Gemälde zwischen schweren vergoldeten Schnitzereien bis zur Unkenntlichkeit nachgedunkelt waren; und andere, wo auf hellem Grunde leichtes Rankenwerk spielte, wie kleine eilende Wellenlinien; Türen, über deren Architrave Blumenstilleben und Amoretten in die Wand eingelassen waren; Kamine mit fein gemeißeltem Marmorgesimse und der rußigen Schwärze längst erloschener Feuer in ihrer Tiefe; Architekturfresken, die, von Spiegelwänden aufgefangen, in zahlloser Wiederholung Säulenreihen erstehen ließen, an deren Ende immer wieder dieselbe Fontäne plätscherte. Über der Mitte des oberen Stockwerks aber erhob sich, wie die Krone des ganzen Gebäudes, ein kleiner Aussichtsturm, der eine nach vorn offene luftige Loggia bildete. Von da übersah man den Garten, dessen Lorbeerhecken keinen Schnitt mehr kannten; das laubenbildende Gewirr von Rosen– und Glyzinenranken, und die feierliche Allee uralter Zypressen, zwischen denen einst zum großen Eingangstore ein Weg geführt hatte, der aber jetzt, seit Jahren unbetreten, sich zu sanft abfallenden, mit Rasen und wilden Blumen bedeckten Terrassen gewandelt hatte. – Und weiter glitt der Blick hinab, an den silbrigen Olivenhainen der Abhänge, bis wo tief unten die Stadt unter bläulichen Schleiern lag. Nur die eine große Kuppel tauchte lichtbestrahlt daraus hervor, schien sich emporzurecken und darzubieten, gleich einer mystischen Glücksblume: pflücke mich, pflücke mich!
   Deutlich entsann sich Ilse noch nach Jahren, wie sie zum erstenmal dort oben mit den Freunden gesessen, wie sie alle drei ganz still geworden waren. Dann, nachdem sie lange in den weiten Ausblick versunken geblieben, hatten sie sich in der Loggia selbst umgeschaut. – Sie mußte wohl eines früheren Besitzers Lieblingsplatz gewesen sein, denn mit besonderer Sorgfalt war sie offenbar einst ausgemalt gewesen; Spuren davon waren noch vorhanden, aber Regen und Sonne hatten die Farben verwischt und ausgesogen. An der Rückwand erkannte man zwischen leichten Ornamenten die Umrisse eines Schildes; darauf schien ein Sinnspruch gestanden zu haben, aber unleserlich waren die Buchstaben geworden. Nur zwei durch einen Zwischenraum getrennte Worte entzifferte Ilse: » Ille mihi«. – »was heißt das?« wandte sie sich fragend an den Grafen.
   Und dieser antwortete: »So wie die Worte heute dastehen, bedeuten sie: Jener mir. Aber sie sind wohl Überbleibsel des Horazischen Spruchs, der wahrscheinlich einst hier gestanden hat: Ille terrarum mihi practer omnes angulus ridet – Unter allen Winkeln der Erde lacht dieser mir. Das mag auch wirklich ein treffender Ausdruck gewesen sein für die Gefühle der Florentiner patrizischen Besitzer der Villa, die, aus dem Kampf und Ränkespiel der Stadt kommend, hier an dieser Stelle beschauliche Ruhe fanden. In jenen Zeiten war das Latein ja allen Gebildeten geläufig, und sie liebten es, gerade solche, sie von der Menge differenzierende Empfindungen in diese Sprache der Vornehmen zu kleiden.«
   » So ist auch diese Villa stets eine Art Lebenshafen gewesen,« sagte Gisi, »jenen Reichen, ganz wie den armen Wanderern, die früher von den Mönchen hier aufgenommen wurden.«
   »Ja,« antwortete der Graf, »nach einem Rifugio, sei es nun in den schützenden Armen der Heiligen, oder in der Abgeklärtheit philosophischer Betrachtung, schaut wohl jeder einmal sehnsüchtig aus.«
   Ilse aber wiederholte innerlich die Worte:
   »Ille mihi– jener mir.« Und sie dachte: »Jener, den ich liebe, der wird mir Zufluchtsstätte sein.«
   Oftmals noch kehrte Ilse in den folgenden Wochen zurück zu der träumenden Villa, und immer mehr war es ihr, als griffen hier alle Dinge mit unsichtbaren Händen nach ihrem Herzen, als mühten sie sich, ihr mit stummer Sprache etwas ganz Besonderes zu sagen. Ein Umklammern, ein Festhaltenwollen empfand sie, sobald sie durch die Pforte der verlassenen Villa getreten war. Etwas, das ganz stark und zugleich ganz sanft war, wie jede Macht, die sich so groß weiß, daß sie nur ihrer Stunde zu harren braucht. – stark und sanft zugleich wie die Arme des riesengroßen symbolischen Heiligen, zu dem die Erdenreisenden um Hilfe kamen. – Ja, von etwas Unabwendbarem, Schicksalhaftem fühlte sich Ilse da umfangen – und zugleich von unergründlich Geheimnisvollem, so daß sie nicht wußte, war es ein dunkles Erinnern an schon Erlebtes, das in ihr aufstieg, oder ein dämmerndes Ahnen kommenden Geschicks? Hatte der heilige Schutzpatron der müden Wanderer sie in früherem Dasein schon einmal auf starkem Arm aus den Fluten des Verzagens gerettet? Oder sollte der Tag noch erstehen, da er sich erbarmend über sie, als einer Schiffbrüchigen, neigen würde?
   Und heißer noch wie alles andere, das sie sah, weckte diese schweigende Villa mit ihrem verwildert wuchernden Garten das Verlangen in ihr, all diese Schönheit Wolf zeigen zu können. Ja, hierher wollte sie mit ihm kommen, sobald er zurückkehrte. Brennend wurde in ihr die Sehnsucht nach diesem Tage. Und aus all den Dingen um sie her, aus dem Duft der Magnolienbäume, dem Rauschen der ragenden Zypressen und dem Schatten der breiten Linien, aus den umgarnenden Ranken, dem sonnendurchglühten Gemäuer, der dunstigen Tiefe und der lichtumflossenen Kuppel – aus all diesem schien die Antwort aufzusteigen: Ja, komm zu uns mit ihm – weile bei uns mit ihm!
   Von allem, was Ilse sah, führten ja unsichtbare Straßen zu Wolf, und tausendmal am Tage eilten ihre Gedanken auf diesen luftigen Wegen. Daß sie mit Helmstedts über Wolf reden konnte, war diejenige Eigentümlichkeit ihrer Freunde, die sie, in dieser Zeit, vielleicht am meisten an ihnen schätzte. Sie mußten ihr schildern, wie sie Wolf zuerst kennen gelernt, als er von Siebenbürgen, jung und voller Begeisterung, nach Deutschland gekommen war. Und wie er dann später gewesen, nachdem er in den Staatsdienst getreten und bei dem Grafen Attaché geworden, wollte Ilse wissen, denn alles von ihm erschien ihr wichtig. Bereitwillig berichteten die beiden Freunde. Und ebenso wie diese Erzählungen über seine Vergangenheit, so brachten ihr seine eigenen, sehnsüchtig erwarteten Briefe Nachricht von seinem gegenwärtigen Leben und Treiben. Er beschrieb ihr den dunklen Erdteil, den er jetzt kennen gelernt, und schien voller Bewunderung für die unternehmungslustigen Männer, die er dort vorgefunden. – Jahrelang waren ja gerade von den besten und tatendurstigsten Söhnen Deutschlands so manche dorthin gezogen, angelockt von dem Zauber geheimnisvoller Möglichkeiten, getrieben von dem Bewußtsein angesammelter, Betätigung suchender nationaler Kraft. – Gewaltmenschen waren sie zum Teil gewesen, Konquistadorennaturen, die zwar vor wenig Dingen zurückschrecken mochten, dafür aber auch sich selbst voll einsetzten, wo sie ein des Einsatzes wertes Ziel gewahrten. Und sie hatten das beseligende Glück einer hohen Aufgabe besessen! Jahrelang hatten sie daran gearbeitet mit gefahrvollen Entdeckungszügen, in dem rastlosen Streben, unter den verschiedenen dort vorwärts drängenden Nationalitäten die Erstangelangten zu sein an den fernsten, sagenumwobenen Stätten des unerforschten Innern! – Ein großes überseeisches Deutschland hatten sie schaffen wollen – hatten geglaubt, es schon geschaffen zu haben. Dann aber war ihnen Halt geboten worden, im Namen eines neuen, ihnen allen schwächlich dünkenden Vertrages – und sie, die bisher noch immer unerschrocken vorgedrungen waren, mußten das gerade ihnen so viel schwerer dünkende Zurückgehen lernen, mußten die Flagge niederholen, wo sie sie für ewig befestigt gewähnt hatten. – Bitterkeit und Enttäuschung herrschten seitdem auf der Insel, längs der Küste und an einsamen, weit vorgeschobenen Pionierposten im Innern. – Die Männer, die sich so um ihrer Mühe Preis betrogen sahen, hatte Wolf nun kennen gelernt und einem von ihnen, dem Forschungsreisenden Dr. Otto Taudien, schien er sich besonders angeschlossen zu haben.
   Etwas aber von der Stimmung, die seine neuen Freunde seit diesem politischen Rückzug erfüllte, begann nun auch sich in Wolfs Briefen an Ilse zu spiegeln. Er wiederholte ihr die Worte des Wehes um getäuschte Hoffnungen, die er von manchem vernommen, des Wunsches, der alle dortigen Deutschen beseelte, lieber an Wagnis als an Tatenscheu zugrunde zu gehen. – Das waren Auffassungen, die zu allen Zeiten in Wolf das Klingen verwandter Saiten geweckt hätten, für die er aber gerade jetzt ein vielleicht noch geschärftes Verständnis besaß, wo er selbst soeben kränkende Zurücksetzung erfahren, weil er, im schwärmerischen Glauben an Deutschlands Macht, befürwortet hatte, daß es die Verpflichtung zum Schutze seiner Kinder weiter als bisher ausdehnen solle. – Es wollte Ilse bisweilen scheinen, als habe Wolf etwas der schönen Zuversicht verloren, die sie zuerst an ihm gekannt, des unbedingten Glaubens an die Unfehlbarkeit jener Regierung, die ihm, dem Eingewanderten, wie ein unantastbares Ideal erschienen war. Die Unlust und die Zweifel, die Ilse ihm aus der Ferne jetzt anmerkte, machten sie um ihn besorgt. Mit ihren Ängsten wandte sie sich an Helmstedt.
   Der sagte: »Ja, sehen Sie, es hat für Walden Unerschrockenheit und Entschlußkraft dazu gehört, sich von angestammtem Boden loszureißen und selbstbestimmend ganz neue Wege zu wählen, wo doch stilles Daheimverbleiben so viel bequemer für ihn gewesen wäre. Wer aber wie er solches Selbstvertrauen besitzt, und den Platz, den er haben will, mit einem so bestimmten » Ille mihi« vom Schicksal zu fordern weiß, dem wird es immer schwer fallen, sich nachher in unsere Welt der vielen Abhängigkeiten hineinzufinden. Die Selbstherrlichkeit, die er einmal in entscheidender Lebensstunde bewiesen, zeigt er dann nur zu leicht auch den kleinen Anlässen gegenüber.«
   »Du meinst wohl den kleinen Vorgesetzten gegenüber,« warf Gisi ein, »und damit magst du freilich recht haben, denn einer eurer echten, wohldisziplinierten Bureaukraten ist Wolf, glaub ich, noch immer nicht geworden – dafür wird er aber auch nie scheu der Verantwortung aus dem Wege gehen, was doch die Hauptkunst so vieler unter ihnen ist.«
   Graf Helmstedt lächelte zu Gisis Worten; er wußte, daß es seine Frau ergötzte, hier auf ihrer eigenen Scholle, seines Landes Eigentümlichkeiten bisweilen wie eine scheinbare Gegnerin anzugreifen. Zu Ilse gewandt, fuhr er fort: »Wer, wie Wolf von Deutschen abstammt, die vor Jahrhunderten nach wilden Gegenden auswanderten, dem fließt naturgemäß tatenlustiges Blut in den Adern; und auch Selbstbewußtsein haben solche Abkömmlinge geerbt, denn als Überlegene, als geistige Meister, fühlte sich ja stets die lange Reihe ihrer Vorfahren in den Ländern, denen sie ihre Kultur brachten. Dem Herzen nach sind diese nicht zum Reich Gehörenden vielleicht die Deutschesten aller Deutschen geblieben, und es ist gerade dies stets warm gehegte Gefühl der Stammesgemeinschaft, das manche von ihnen in das durch Bismarck endlich geeinte und groß gemachte Deutschland zurückgetrieben hat. Aber ich weiß nicht, ob solche Rückkehr immer ein Glück für sie zu nennen ist. Ich habe schon einige gekannt, die vieles in der ursprünglichen Stammesheimat so anders fanden, als sie gewähnt, daß ihnen ihr Deutschland eigentlich in Deutschland verloren gegangen ist. Sie träumten von der Größe unserer kurzen heroischen Epoche – und waren freudig bereit, sich vor den Gewaltigen jener Tage zu beugen – aber statt dessen sehen sie nun ein ängstlich unsicheres und der großen Ziele ermangelndes Epigonentum, und da fällt es ihnen oft schwer, sich solchen sie enttäuschenden Eintagsgrößen, denen keine wirkliche Überlegenheit innewohnt, zu fügen. – Das kann auch Wolf noch in manche Konflikte führen.« – »Davor wird Ilschen ihn bewahren müssen,« sagte Gisi. Ilse aber empfand Bangen und Mitleiden für Wolf bei dem Gedanken, daß gerade aus den Eigenschaften, die sie so sehr an ihm liebte, ihm, nach der weltweisen Freunde Meinung, Gefahren erwachsen könnten. Und Gisi verlieh ihren dumpfen Befürchtungen Worte: »Wolf,« sagte sie, »ist für den Lebenskampf von der Natur mit Angriffswaffen besser als mit Schild und Panzer bedacht worden. Er hat mehr Mut wie Härte – solche Menschen aber sind leicht Verwundbare.«

 //-- * --// 
   An innere Kämpfe und äußere Schwierigkeiten, wie sie den durch ererbte Eigenart besonders beanlagten Menschen werden, hatten Helmstedts zumeist gedacht. – Statt dessen bereitete sich, vielleicht während sie noch also sorgend sprachen, schon eine andere Gefahr, die Wolf bedrohen sollte.
   In der ersten Zeit war seine Stimmung noch aufrecht erhalten gewesen durch die Erinnerung an das letzte Zusammensein mit Ilse und das Vorausschauen auf das Glück künftiger Vereinigung, so daß gegenwärtiger Trennungsschmerz davon übertönt blieb.
   Jetzt aber zitterten durch seine Briefe andere neue Töne. Eine wachsende Unrast, eine steigende Ungeduld und Sehnsucht nach Ilse schienen über ihn gekommen. Heiße, leidenschaftliche Worte waren es, die er ihr in tropischen Nächten schrieb. – Worte, wie Ilse sie nie vernommen, in denen ein grenzenloses Verlangen lag, und zugleich beinahe eine Angst vor einer Gefahr, die er nicht nannte, die er aber nahen fühlte, und die sie trennen konnte.
   »Sollte ich Dich nie wiedersehen, so würde mein letzter verzweifelnder Gedanke sein, daß ich Dich ja nie, nie in den Armen gehalten habe, daß ich Dich nicht ein einziges mal im Leben an mein Herz drücken durfte!«
   Und dann kam die Erklärung: Dr. Otto Taudien teilte Ilse mit, daß Wolf an tropischem Fieber schwer erkrankt sei, und der unbekannte Freund setzte hinzu, er selbst werde bei dem Kranken bleiben, und alles, was möglich, solle für ihn geschehen.
   Ilses erster Gedanke, ohne alles Besinnen, war, sofort zu Wolf zu reisen. Nur noch einmal, zuletzt wenigstens, sollte er wissen, daß sie bei ihm war! – Helmstedts aber widersetzten sich dem: Es war ja eine Krankheit, die oft so schnell hinraffte – und die Reise erforderte Wochen, sie vermochten nicht, es vor Ilse auszusprechen, aber diese fühlte, daß sie es dachten.
   »Wir wollen lieber suchen, ihm möglichst rasch Urlaub zu verschaffen,« sagte der Graf, »damit er, sobald er soweit ist, herkommen kann – der Gedanke wird ihm neue Lebenskraft geben.«
   Hin und her gingen nun unzählige Telegramme zwischen Gisis Villa und der fernen Insel, brachten Verzagen, brachten Hoffen. Aber auch, wenn sie beruhigender klangen, kehrte doch immer, gleich nach dem ersten erleichterten Aufatmen, die bange Frage wieder: Was mochte geschehen sein in all den Stunden, seit jene Worte geschrieben wurden?
   Und während des Tages, da fühlte sich Ilse doch noch von Gisis ermutigender Freundschaft umgeben – schlimmer, unerträglich waren die langsam schleichenden Nächte. Da kroch aus der Dunkelheit die Angst heran, gleich einem Ungeheuer, krallte sich in ihre Schultern, hockte bergesschwer auf ihr, ließ sie nicht schlafen, kaum atmen, erdrückte sie mit beklemmender Last. Schlossen sich aber endlich Ilses Augen zum Schlafe, so sah sie im Traume eine glühend kahle Felsenwand, dran sie selbst einsam und verlassen emporklomm. Und sie fuhr entsetzt auf und hatte nur noch das eine Flehen: Jede Bürde, jedes Schwere – aber zusammen mit ihm, zusammen!
   Endlich aber lauteten Taudiens Berichte besser. Und dann kam von Wolf selbst eine Depesche, daß er Urlaub erhalten habe und sofort nach Florenz reisen wolle; der neu gefundene und schon so treu erprobte Freund werde ihn begleiten.

 //-- * --// 
   Nun waren die beiden Reisenden eingetroffen und wohnten schon seit Tagen in Gisis Villa. Denn Helmstedts hatten Wolf ja längst vorher zu sich eingeladen gehabt, aber auch Taudien baten sie dann, gleich mit zu ihnen hinauszukommen.
   Ein tief gebräunter Mann, dessen Knochen und Sehnen sich deutlich sichtbar unter der lederartigen Haut abhoben, war dieser Erforscher des dunklen Weltteils. Selbst unter seinen die Gefahr an sich liebenden Berufsgenossen zeichnete er sich noch durch besondere Waghalsigkeit aus, es war wohl noch mehr vom Eroberer wie Entdecker in ihm. Als rauflustiger Korpsstudent hatte er das Leben begonnen, dem inneren Triebe seiner Natur folgend, die stets um etwas fechten mußte. Schmisse aus jenen Jugendjahren, Narben aus späteren schlimmeren Kämpfen verunstalteten seine scharfen Züge, verliehen ihnen einen harten, zerhackten Ausdruck. Und zuerst schien es, als ob sein Wesen ganz diesem verwitterten Gestein ähnelnden Körper entspräche und auch nur Schroffheit kenne. Aber allmählich ahnte man dahinter weiche Züge, die er freilich beinahe trotzig zu verbergen suchte. – Nur Wolf gegenüber zeigten sie sich bisweilen, und man konnte sich vorstellen, daß wenn Taudien bei einem Zuge im Innern Afrikas irgendein junges verwundetes Tier der Wildnis gefunden hätte, er es mit ähnlicher, halb verlegenen Fürsorge gepflegt haben würde. Es war eine jener schützenden Freundschaften, wie sie gerade in ganz entlegenen wilden Weltstrichen bisweilen bei einem völlig einsamen, starken Menschen entstehen. Taudiens Freundschaft hatte außerdem, wie alles, was er tat, einen kämpfenden Charakter. Er hatte um Wolf mit dem Tode gerungen.
   »Ohne seine Pflege wäre ich sicher nicht durchgekommen,« erzählte Wolf. Aber Taudien erwiderte, beinahe barsch abwehrend, und indem er auf Ilse blickte: »Liebster Freund, Sie hatten so gute Gründe, leben bleiben zu wollen, daß Sie das auch ohne mein bißchen Nachhilfe wohl fertig gebracht hätten.«
   Er schaute in beinahe erstaunter Mitfreude auf dies Glück, das hier des Freundes gewartet hatte, und durch das dieser nun so rasch gesundete. – Die übergroße Sehnsucht danach war es wohl gewesen, an der er ebensosehr wie an dem Fieber gekrankt hatte! – Und wenn Wolf und Ilse, langsam wandelnd und zusammen flüsternd, zwischen den hohen Hecken von Gisis Garten verschwanden, dann pflegte Taudien ihnen ganz wehmütig nachzublicken, und einmal sagte er dabei zu seinen Wirten: »Ja, das vergißt unsereiner dort draußen ganz, daß es so etwas daheim geben kann – oder vielmehr – man sucht es zu vergessen.«
   In der ersten Bestürzung über Wolfs Erkrankung und während er noch in Zanzibar weilte, hatten Helmstedts bisweilen zusammen erwogen, ob es für ihren jungen Freund, nachdem er genesen, nicht vielleicht am ratsamsten sein würde, aus dem Auswärtigen Dienst zu scheiden und sich mit Ilse ein unabhängiges Dasein zu gründen. Sie, die so viel älteren, die wußten, wie rasch oftmals selbst die Spuren scheinbar erfolgreich tätigen Lebens verwehen, sahen heut in freiwilligem Verzichten nicht Schmerz, sondern abgeklärte Weisheit. Und ganz besondere Bedenken mußten sie für Wolf auch noch hegen, denn sie hatten ja gelegentlich aus Berlin und der Frohhausener Nachbarschaft gehört, daß daheim in Deutschland manche einflußreiche Persönlichkeit feindselig gegen ihn und Ilse am Werke sei. Schwer würde ihnen der Weg sicher gemacht werden! – Und, dachte Gisi, wie harmonisch zufrieden könnten die beiden doch gerade hier in meinem Lande leben, das so manchem schon zweite Heimat ward – San Christoforo, das wäre so ein Erdenwinkel, der ihnen unter allen lachen könnte!
   Aber Wolf hatte sich so rasch erholt, war so voller Hoffnung, doch noch des Schicksals Herr zu werden, daß es ein seltsam Unterfangen schien, solch wiedererstandener Zuversicht von sich bescheidender Entsagung zu reden. Er wies den Gedanken denn auch gleich, beinahe mit Entrüstung, von sich. Gerade durch das Leben in Afrika, umweht von dem unternehmungslustigen Geist, den Taudien verkörperte, war trotz aller Enttäuschungen, die er dort bei anderen gesehen, der Wille zur Betätigung noch stärker in Wolf geworden. Den unerschrockenen Männern, die er dort getroffen, wollte er es gleichtun, und wie sie, wenn auch auf andere Weise, trachten, dem Lande, dem er angehörte, etwas zu leisten, wenn möglich mitzuwirken, um ihm an irgendeiner Stelle Machtzuwachs zu erwerben – einerlei, was dann andere daraus machen mochten.
   Taudien, mit dem Wolf darüber sprach, stimmte seiner Entscheidung völlig bei, denn jegliches Zurückweichen aus Menschenfurcht wäre ihm bei einem Manne ganz unverständlich gewesen. Doch er fragte: »Wie steht denn Ihre Braut zu der Frage?« – »Oh,« antwortete Wolf stolz und glücklich, »Ilse ist womöglich noch entschlossener wie ich – sie sagt, ihren Teil wolle sie schon auf sich nehmen.«
   Es wird vielleicht der schwerere sein, dachte Taudien bei sich, und laut sagte er: »Das war nicht anders von ihr zu erwarten – ich glaube – sie – sie marschierte quer durch Afrika!«
   Vorläufig lag noch eine längere Urlaubszeit vor Wolf. Die wollten er und Ilse in Italien verbringen, nachdem ihre Hochzeit in der Helmstedtschen Villa stattgefunden haben würde. Taudien, der nirgends lange rastete, hatte versprochen, dazu wiederzukehren, und Greinchen schrieb, so sehr sie auch jede Ehe unter jetziger frauenknechtender Gesetzgebung für einen freiwilligen Eintritt in die Sklaverei ansehen müsse, so könne sie doch nicht anders, als zu diesem Tage nach Florenz zu kommen, um dem Kinde beizustehen.
   Und schnell verrannen die Tage, die die beiden von ihrem Hochzeitsmorgen noch trennten.
   Die Hochzeitsgäste waren gegangen. Graf und Gräfin Helmstedt und Greinchen hatten sich unbemerkt in ihre Zimmer zurückgezogen, um Wolf und Ilse den Nachmittag ungestört zu lassen, bis sie mit dem Abendzug abreisen sollten. Auch die Dienerschaft war verschwunden.
   Lautlos lag Gisis Villa. In dem zur Traukapelle verwandelten Saale hauchten die zahllosen sterbenden Blumen ihren Duft aus. Wolf und Ilse schritten leise durch die vor kurzem noch gefüllten und nun so stillen Räume, und sie fühlten, daß, was eben noch Gegenwart gewesen, jetzt schon Vergangenheit geworden. All die wohlvertrauten Plätze waren da, wo sie während ihrer kurzen Brauttage unter Gisis verständnisinnigem Schutze zusammen gesessen und geplaudert hatten; ein Hauch, ein Echo von all dem, was sie beide da gefühlt und gesagt, barg sich noch in jedem Winkel und war doch alles schon Erinnerung, wie waren diese Tage schön gewesen! Würde das Leben je so schöne Erfüllungen bescheren können, wie ihre Verheißungen gewesen? Jede Zukunft enthält ja eine Bangigkeit. Trotz festester Zuversicht und heißester Sehnsucht.
   Und vielleicht hätten die beiden Menschen, die zusammen nun auf ungekanntem Wege verschleiertem Ziele zustreben sollten, diese jüngst verflossenen Tage mit all ihrem Zauber schmelzender Süße in diesem Augenblick gern zurückgerufen, um sie noch einmal zu durchleben – aber sie fühlten ja zugleich, daß nicht nur diese Tage verronnen waren, sondern auch die Stimmung, die sie erfüllt hatte. – Anderes, Neues regte sich in ihnen beiden. – Eine Unrast, in der Erwartung gesteigerter Gefühle. – Sie fanden sich nicht mehr zurecht in diesen traulichen Winkeln, die Gisis lächelnde Fürsorge ihrem Brautgeflüster bereitet. Ein Ungenügen empfanden sie, eine Fremdheit mitten in dem wohlbekannten, und ohne daß sie es selbst recht verstanden, überkam sie beide eine Sehnsucht nach Verborgenheit, der Wunsch, irgendwo zu sein, wo niemand sie vermute.
   Sie brauchten es sich gar nicht erst zu sagen. Ganz von selbst waren sie zusammen in die Eingangshalle getreten, wo schon ihre Sachen für die abendliche Abreise bereit lagen. – Ilse hatte den Hut aufgesetzt, dessen langer Schleier sie wie ein silbriger Dunst umschwebte. So schritt sie hinaus, und Wolf folgte ihr. – wie im Traume schlugen sie den kleinen Pfad ein, der, an bröckelndem Gemäuer entlang, den mit alten Oliven bestandenen Hügel hinanführte.
   Wie die blauen Maschen eines umgarnenden Gewebes spielten die zitternden Schatten des Geästs über sie beide hin. – So gingen sie wie gefangen in einem Netzwerk flimmernder Striche und Tupfen. Gingen, als müßten sie gehen, als schöbe sie eine unwiderstehliche Gewalt. Fragten auch nicht wohin, als könne es für sie beide nur das eine mögliche Ziel geben: Das Rifugio di San Cristoforo, wohin mit gespenstisch grauem Arm der Wegweiser sie wies.
   Auf den schrillen Klang des Glöckchens an der Eingangspforte eilte die grauhaarige Alte mit den blinzelnden Augen auch so schnell herbei, als habe sie des Tones schon im tiefen Grün der Lorbeerhecken gewartet. – Und sie empfing die Gäste mit redseligen Beglückwünschungen – die ganze Nachbarschaft, so erzählte sie, wußte ja von der Hochzeit, und sie selbst hatte am Morgen Blumen zum Dekorieren des Saales hinübergetragen. – Nur schade blieb es, daß die Herrschaften wegreisen wollten, wo könnte man denn glücklicher sein als in Florenz? » Sarebbe meglio rimanere cui, comprar la villa e fare dei belli bambini« Aber nun wollte sie der Signora sposa schnell einen schönen Strauß binden, denn so viele Blumen auch am Morgen geschnitten worden, San Christoforos großer Garten barg deren immer noch! »Vielleicht,« fragte sie verschmitzt, »beliebte es den Herrschaften, indessen etwas in der Villa zu rasten?«
   Schon hatte sie die Haustür aufgeschlossen, und während sie fledermausartig davonhuschte, traten Wolf und Ilse in die verlassene Villa. Dämmernde Kühle umfing sie. Durch das einstmalige Refektorium im Erdgeschoß schritten sie, vorbei an dem, aus dem Halbdunkel riesengroß auftauchenden Bilde des Heiligen, der mitleidig auf diese beiden kleinen Wanderer herabzublicken schien, die da des Lebens lange Reise so zuversichtlich begannen.
   Zum oberen Stockwerk stiegen Wolf und Ilse hinauf, und ganz von selbst fanden ihre Hände im Zwielicht des Treppenhauses die Klinken der Türen und öffneten die unbewohnten Räume, als seien sie hier zu Hause. Spärlich nur sickerte das Licht von außen zwischen den herabgelassenen Jalousien in die stillen Stuben und legte helle Streifen auf den steinernen Boden. Und plötzlich war es Ilse wieder, als stände das Schicksal in diesem Hause dicht hinter ihr, unfaßbar und doch so nahe, daß sie die Berührung einer unsichtbaren Hand deutlich zu spüren glaubte. Wie beim ersten Male, als sie hier eingetreten, empfand sie die Gegenwart von etwas Geheimnisvollem, von etwas, das sich ihr verständlich machen wollte, und dessen Sinn sie doch nicht zu enträtseln vermochte. Sie wandte sich zu Wolf, und in dem Zimmer, von dessen Decke zwischen schweren Goldschnörkeln mythologische Gemälde blickten, wo an den Wänden alte Seidenbehänge verblaßten, fragte sie ihn leise: »Haben wir hier einst früher gelebt, oder werden wir hier noch einmal leben? Kannst du es mir sagen?« Er aber antwortete in dem dämmernden Raume dicht neben ihr flüsternd, mit einem neuen bebenden Klang in seiner Stimme: »Ach Ilse, was liegt an Vergangenheit und Zukunft! Daß ich jetzt in diesem Augenblick hier bei dir bin, ist alles, was ich noch vom Leben weiß.«
   Ganz bang und schwül war ihr beim Klang seiner Stimme geworden. Als säße sie in einem kleinen Nachen, vor dem sich plötzlich eine grüne durchsichtige Woge turmhoch aufbäumt, und es war eine Angst und zugleich auch eine Wonne in dem Warten: Wird sie mich tragen, wird sie mich verschlingen?
   Aber in unwillkürlicher Abwehr trat Ilse rasch ans Fenster und stieß den Laden auf. – Goldenes Nachmittagslicht flutete herein, Sonnenstäubchen tanzten plötzlich, wo bisher dunkle Leere gewesen, und in den Seiden der Wände begann es leise zu knistern. Ilse aber atmete auf: Ihr kleiner Nachen war noch einmal von der großen grünen Woge gehoben worden und glücklich über sie hinweggekommen!
   Sie öffnete nun die Fenster jedes neuen Zimmers, in das sie traten, denn sie fürchtete die Stimme der Dunkelheit! Doch auch die Helle barg ja Gefahren. – Bis hinauf zu der Loggia in dem Turm waren sie gekommen, saßen nun da traumverloren. Und vor ihnen lag die Schönheit der Welt gleich einer ungeheuren Versuchung. – Denn mit tausend Stimmen sang es ja hinauf zu ihnen: »Bleibt, bleibt und genießt!«
   Sie blickten hinein in das wuchernde Dickicht des verwilderten Gartens, auf die Lorbeerhecken, die keinen Schnitt mehr kannten, und die Gänge und Tauben wildrankender Rosen und Jasmine. Sie sahen die Allee uralter Zypressen, zwischen denen der einstmalige Weg sich längst zu rasenbedeckten Terrassen gewandelt hatte, auf denen nun Hunderte von wilden Blumen blühten. – Sie schauten hinaus auf andere Hügel, wo andere Villen in anderen Gärten verzaubert träumten; sie schauten hinab, wo in der Tiefe die Stadt sich in violettem Abenddunste barg. Einzig noch vom Licht umflossen, hob sich die eine Riesenkuppe! aus dem bleichen Nebel empor, reckte sich, bot sich dar gleich einer mystischen Glücksblume: Pflücket mich, pflücket mich!
   Nichts sprach da von Kampf und Streben, von Glückes Rechtfertigung durch die Tat. – Alles war verschwimmende weiche, hinschmelzende Süße, Leben und Lieben schien Zweckes genug. – Unter dem verwitterten Schilde sitzend, das die Worte » Ille mihi« trug, lehnte nun Ilse an Wolfs Schulter, wußte nicht mehr, was sie sah, dachte nur noch, daß sie die Ewigkeit lang so verweilen möchte, verstand jetzt, wie der Dichter des Zauberlandes da vor ihr, daß es Wogen gibt, in denen es süß ist, unterzugehen.
   Schön, schön wäre es, da zu bleiben! Leicht, kampflos würde dann das Leben dahingleiten! Keine Härte, keine Kränkung könnte in diese Geborgenheit dringen.
   Sie dachten es beide in schwindender Besinnung und steigender Sehnsucht und fühlten doch zugleich, daß sie nicht bleiben durften. Deutlicher wie der Mann fühlte es in dieser Schicksalsstunde vielleicht die Frau, denn er hatte sich mit voller Leidenschaft an das Glück des Augenblicks verloren, sie aber dachte an das Glück seines ganzen Lebens, fühlte sich als dessen Hüterin. – Und sie wußte, daß Tatenlosigkeit nie lange ihm ein Genügen bieten könne, wußte, daß, ob er sie jetzt gleich noch so heiß bitten mochte, hier verweilend ihm nur Glücksspenderin zu werden, er doch im innersten Herzen die Festigkeit von ihr erwartete, die er selbst in dieser Sekunde verloren. – Gefährtin, Führerin auf steilem Wege, das sollte sie ihm ja sein! Und die Ziele, die er, auf ihre Liebe gestützt, erreichte, die würden glänzende Rechtfertigung sein!
   »Laß uns alles aufgeben, laß uns für immer hier bleiben,« flüsterte er.
   Sie aber antwortete: »Das dürfen wir nicht, Wolf, es wäre ein Verrat an dir selbst!«
   Doch wie innere Bangigkeit vor dem Leben überkam es ihn plötzlich, und er drang in sie: »Was ist denn all das wert, um was wir draußen in der Welt kämpfen müssen, neben dem geborgenen Glück, das wir hier nur zu greifen brauchen?«
   »Aber es wäre dir eben nicht lange Glück,« erwiderte sie leise, »sondern es würde bald Reue und Bedauern heißen. – »Glaub mir,« fuhr sie fort, »du kannst nur glücklich sein, wenn du zu dem wirst, was du in dir fühlst.«
   »Aber es gibt gerade hier so viel Dinge, denen man leben und nachsinnen könnte,« warf er ein, »und ist eigenes Tun denn überhaupt nötig, wo so viel Schönes zu schauen?«
   Sie lächelte bei seinen Worten. Ein beinahe mütterlich nachsichtiges Lächeln war es, das seltsam wirkte auf ihrem jungen Gesicht, und sie sagte: »Ach Wolf, so reden hier in Italien alle Nichtstuer und Leute mit gescheiterten Existenzen; sie schläfern ihre einstmalige Willenskraft mit sogenannten Kunstinteressen ein. – Nein, nein, so darfst du nicht enden, wir beide wollen um deinen Platz in der Welt mit allen Kräften kämpfen.«
   Aber während Ilse scheinbar so tapfer redete, fühlte sie, wie in Wirklichkeit ihre Kräfte schwanden. Der Versuchung, hier willenlos hinzusinken, sich von den großen Wogen seiner Liebe ganz verschlingen zu lassen, würde sie nicht mehr lange widerstehen können. – Ille mihi! Er war ja jener, außer dem sie nichts verlangte! – »Komm! komm!« bat sie, und mit einer letzten Anstrengung griff sie nach seiner Hand und zog ihn mit sich.
   Und so eilten sie beide aus der Loggia des Turmes hinab durch die stillen Räume der verlassenen Villa, eilten durch Zimmer, an deren Decken leichte Ornamente wie kräuselnde Wellenlinien spielten, und andere, an deren Wänden aus alten vergoldeten Rahmen die Bildnisse namenloser Toten geheimnisvoll zu lächeln schienen. Eine Angst hatte sie plötzlich ergriffen. Als würden sie verfolgt, so eilten sie vorbei an Marmorkaminen, deren Tiefe der Ruß längst erloschener Feuer schwärzte, an hohen Kesseln, auf denen der Damast verschlissen hing und alten Truhen, die unbekannte Wappen zierten. – In ihrer Hast verfehlten sie den Weg, kehrten zurück durch dieselben Türen, über deren feingemeißelten Architraven Blumenstilleben und Amoretten als Sopraporta in die Mauer eingelassen waren, irrten noch einmal durch Zimmer, an deren Wänden verblaßte Seidenstoffe knisterten, wo auf Estraden Prunklager gespenstisch standen, gleich Triumphwagen im Festzuge eines vergessenen Gottes. Und während sie noch also den Ausgang wie in einem Irrgarten suchten, befanden sie sich auf einmal in der Halle, wo kunstvoll angebrachte Spiegelscheiben das Bild alter Architekturmalereien in steter Wiederholung zurückwarfen – Zahllose Säulenreihen hervorzaubernd, an deren Ende immer wieder dieselbe Fontäne plätscherte. Und zwischen diesen Säulen erblickten die beiden plötzlich sich selbst in beängstigender Wiederkehr – von allen Seiten starrte das eigene Bild sie aus den erblindenden Scheiben an – doch – seltsam verwandelt, verwittert und grau – verschwommen schienen ihre jungen Gesichter in den alten Spiegeln. Als seien sie hier durch unheimlichen Zauber eingefangen, nicht wie sie heute waren, sondern wie sie in ferner Zukunft sein würden. Sie prallten zurück vor der schauerlichen Vision eigenen Verfalles und flohen nun wirklich voller Entsetzen, flohen, und hatten doch das Gefühl, nie ganz entkommen zu können, sondern als würde für immer ein Etwas von ihnen, ein Abbild künftigen Seins in diesen trüben Spiegeln gefangen bleiben.
   Erst als sie durch das einstmalige Refektorium geeilt waren, von dessen Wand der riesengroße Heilige mitleidig ihrem Fliehenwollen nachzuschauen schien, und sie im Garten standen, gewannen sie etwas Besinnung wieder. – Wolf versuchte zu scherzen, aber in Ilse zitterte der Eindruck zu mächtig nach. Sie achtete nicht, wohin sie schritt. So streifte sie der herabhängende Zweig einer rankenden Rose, verfing sich in ihrem silbrigen Schleier und riß, aufschnellend, ein Stück davon mit sich in die Höhe. Da hing das leichte Gewebe in der Luft, gleich einer gespenstischen Fahne, grau und verschwommen wie vorhin die eigenen Bilder drin in den blinden Scheiben. Ob sie das alles nach Jahren da wiederfinden würde, wie ein verzaubertes Stück ihrer selbst?
   Beim Ausgangstor tauchte die alte Francesca, wie ein scheues Nachttier aus dem Grün der Lorbeerhecken auf und drückte Ilse einen großen Strauß betäubend duftender Blumen in die Hand: » Riccordatevi di San Cristoforo« sagte sie, » perchè anche l‘amore è un viaggio e delle volte si vuole un rifugio«.
   Nur kurze flüchtige Briefchen erhielt Gisi während der nächsten Wochen von Ilse, aber durch alle klang jene Stimmung, der Goethe einst Worte verliehen, als er aus Italien schrieb: »Denkt an mich als an einen Glücklichen.« – Mit zarter liebkosender Berührung faltete Gisi jeden neuen dieser kleinen Bogen wieder zusammen und legte ihn behutsam zu den früheren in ein Geheimfach ihres Schreibtisches, als könnten diese Blätter, die von dem Glücke sprachen, gar nicht sorglich genug gehütet werden. Ein wehmütig verständnisvolles Lächeln spielte dabei um ihre Lippen; ein seliges Erinnern eigenen Erlebens war es, und zugleich ein schmerzliches Wissen, wie schwer es auf dem langen Lebensweg oft hält, das Glück mit schützenden Händen zu halten.
   Aber während dieser ersten Wochen wußten Wolf und Ilse nichts von Härten und Schwierigkeiten des Weges. Rosenbestreut schien er, und Italien glitt an ihnen vorüber, wie die wechselnden Bilder eines Traumlandes – eines Traumlandes der Liebe. Denn ob sie nun im würzigen Duft von Ravennas Pineta, auf den stillen Wegen Dantes wandelten, oder im verödeten Schloß von Mantua durch Isabellas Zimmer schritten und auf die trägen Teiche niederschauten, ob sie in der einsamen Gebirgsburg von Thiene vor dem Freskobild von Colleonis Töchterlein standen, oder in Siena aufblickten zum festungsartigen Palazzo Tolomei, hinter dessen gotischen Fenstern einst die unglückliche Pia geschmachtet – was immer sie auch sehen mochten, beschwor stets nur Bilder der Liebe vor ihren Augen herauf. – Ferrara mit seinen öden Straßen und vereinsamten Palästen war ihnen die Stadt, wo Tasso Eleonore geliebt hatte und verzweifelnd umhergeirrt war; in Ravenna zog sie vor allem jene Kirche Santa Maria vor den Toren an, wo, auf einem verblichenen Freskobilde Francesca dargestellt ist, wie sie aus einem Fenster spähend, auszuschauen scheint nach dem ersten Anblick Paolos; nach Rocca, der finster abwehrenden Burg, wanderten sie, um auch den düsteren Ort zu kennen, wo jene beiden Unglücklichen ihr grausam Ende fanden; und im Dom zu Rimini standen sie vor dem von steinernen Elefanten getragenen Sarkophag Isottas, der Geliebten Sigismund Malatestas, und lasen wehmutsvoll die von ihr selbst für ihre letzte Ruhestätte gewählte und um stille Schonung flehende Inschrift: Tempus loquendi, tempus tac. ndi.
   Unwiderstehlich hingezogen gingen sie all diesen berühmten Paaren nach; aber auf dieser Pilgerschaft fühlten sie sich auch noch umgeben von der gespenstischen Gegenwart zahlloser anderer namenloser Liebenden. Es war ihnen oft, als sei die ganze Luft um sie her erfüllt von hier einstmals empfundener jetzt verflüchtigter Liebe! In goldig dämmernden Kirchenhallen und meerumspülten Palästen, zwischen den Kolonnaden des Markusplatzes und unter den schwarzen Feltre der Gondeln – überall raunte es davon. Endlose Sehnsucht stieg auf aus der ganzen Erde und antwortete, in ungeheurem Rhythmus herabflimmernd aus den Sternen. Achtlos gingen die anderen daran vorüber – aber sie beide verstanden die Millionen Geisterstimmen; denn jede junge Liebe, so groß wie die ihre, enthält ja ein Wiederaufklingen aller früheren, wie in jedem neuen Sonnenuntergang ein Erinnern glüht an jene ungezählten anderen Abende, da die Sonne auch leuchtend niedergesunken – und wie jedes entstehende Dasein die Auferstehung einer endlosen Reihe dahingeschwundener Leben bedeutet. Ein Ahnen von ungeheuren und zugleich zartesten Zusammenhängen zog durch ihre Seelen, ein Verstehen von endlosem vor ihnen Gewesenem. Ihre beiden winzigen Stimmen hatten sich eingefügt in die gewaltige Lebensmelodie, die seit Äonen durch das Weltall braust, und sie tönten nun mit, von dem großen Schicksalskapellmeister vorausbestimmt und vorgesehen. Und das Glück? – ja, das bestand wohl gerade darin, empfinden zu dürfen, daß der eigenste Klang wohllautend aufging in der Harmonie des Ganzen.
   Aber neben diesem dunklen Bewußtsein, Bestimmung erfüllend eins zu werden mit der Gemeinschaft alles Seienden, empfand Ilse doch gerade ihre Liebe als etwas Einziges, für sie beide neu Geschaffenes. Denn bleibt auch in den Gärten Persiens die Rose von heute dieselbe wie vor Hunderten von Jahren, so ist doch jede Rose zugleich etwas nie zuvor Gewesenes. Mochten Wolf und sie auch Wiederkehrende sein – nimmer zuvor doch hatten Milliarden von Atomen sich schon genau so zusammengeformt wie in ihnen beiden. Und ebenso war, was sie für einander empfanden, ein Besonderes. – Es schien ja auch ganz unmöglich, daß je früher zwei Menschen sich so geliebt haben konnten! – Sie stand manchmal vor der eigenen Liebe mit gefalteten Händen, wie vor einem Wunder, und sie gab sich ihr hin wie eine Gläubige den Mysterien ihres Kultes.
   Durch all die Briefe, die Wolf ihr während ihrer langen Trennung geschrieben, durch die Tage ihrer Brautschaft hatte Ilse geglaubt, ihn schon genau zu kennen. Jetzt aber gewahrte sie, wie wenig sie doch eigentlich von ihm wußte, und sie begann ihn zu studieren, mit ihrem ganzen wissenwollenden Herzen. – Da entdeckte sie manch Neues, Überraschendes. Eine Erregbarkeit der Phantasie, eine Weiche der Empfindung offenbarten sich ihr, bei denen ihr beinahe ängstlich wurde. – Es war alles so ganz anders wie die harten, selbstgerechten und unverwundbaren Menschen, zwischen denen sie früher gelebt. In den Augenblicken solcher Einsicht hatte sie dann das Bedürfnis, sich schützend über ihn zu beugen; unwillkürlich rundeten sich ihre Arme um ihn zu jener sanften Biegung, die mütterlich beanlagte Frauen nicht zu lernen brauchen, sondern mit der sie ganz von selbst ein Kinderköpfchen weich zu tragen wissen. Vorausschauend ahnte sie dabei, daß sie vielleicht berufen sein könne, oftmals die Hand zwischen ihn und des Lebens harte Kanten zu halten – und sie liebte ihn im voraus um jede Gelegenheit mehr, wo sie das würde tun dürfen.
   Er dachte viel weniger nach als sie in diesen ersten Zeiten, ganz der Freude hingegeben, sie errungen zu haben. Dies eine größte Glück schien ihm Bürge aller anderen Erfolge, und es dünkte ihn, als habe ihm Ilse mit ihrer Hand zugleich alle übrigen Güter der Welt gereicht. Und es lag bisweilen etwas beinahe Abergläubisches in diesem Gefühl. So war sie ihm nicht nur sie selbst, sondern ein Symbol von vielem anderen. Durch sie auch glaubte er dem Lande erst ganz anzugehören, zu dem er, rückwandernd, heimgekehrt war, denn Ilse war ja Deutschland, sie war Heimat.
   Eine große Bewunderung gesellte sich zu der Zärtlichkeit seiner Liebe, und Ilse ließ sich von dieser ungekannten Mischung wohlig umrieseln und wonnig durchschauern. Es war ihr etwas so Neues, Beglückendes, zu gewahren, wie stolz er auf sie war! An der Freude, die er darob empfand, bemerkte sie erst, wie viel Aufmerksamkeit sie überall erregte, wie ihr oft die Blicke ganz fremder Leute voll fragenden Interesses folgten.
   – Denn sie besaß ja etwas, das mehr ist als regelmäßige Schönheit, jenes geheimnisvoll Fesselnde, das manchen Frauen so sehr gegeben, daß es unmöglich ist, an ihnen vorbei zu gehen, ohne sich umzuwenden und ihnen nachzuschauen. Sinnend denkt dann wohl, wer einer solchen in ihrer Jugend begegnet: Wo mag sie hingehen?
   – Und wenn er sie in späteren Jahren wieder erblickt: Von wannen kehrt sie zurück? Fühlend, daß ihre Wege nie aller Welts Wege sein können.
   Ja, Bewunderung folgte ihr, und wenn sie mit Wolf träumerisch durch legendenreiche Paläste und geheimnisvoll verschwiegene Gärten, durch all die Stätten schritt, wo vor ihnen so manche andere Paare gegangen – so empfanden die Kinder des Landes den Anblick dieser beiden Glück ausstrahlenden jungen Menschen als eine Schönheit mehr in ihrer schönen Welt.
   Doch auch die Aufmerksamkeit anderer erregten sie, und Blicke folgten ihnen, die minder wohlwollend und verständnisinnig waren. Landsleute begegneten ihnen und grüßten förmlich; mehr als wirklich hörbar, war es zu fühlen, daß die Bekannten nachher über sie beide tuschelten, Fremden von ihnen erzählt hatten. – Wenn in den Zeitungen ihre Namen unter den Neuangekommenen eines Ortes standen, folgte bisweilen irgendeine kleine Notiz, wo Ilses frühere Ehe erwähnt wurde, und durch ein paar scheinbar freundliche Worte war sie fortan in eine wenig neidenswerte Sonderstellung gerückt.
   Aber in diesen Urlaubsmonden, die Hochzeitsreise waren, merkten sie nicht viel von alledem. Nur manchmal durchzog es sie wie ein Schauern, daß hinter all den Rosen der Gegenwart Feindliches lauern könne. – Aber solch Ahnen wurde dann alsobald zum Vorwand, sich nur enger aneinanderzuschließen, um nichts Schmerzliches zwischen sich aufkommen zu lassen. – Und sie dachten, daß die Welt vergessen würde – weil sie selbst so völlig zu vergessen wußten.

 //-- * --// 
   Doch rauhere Lüfte wehten ihnen jenseits der Alpen entgegen.
   Als Wolfs Urlaub seinem Ende nahte, hatten sie sich, wie an ihrem Hochzeitstage von San Christoforo, so jetzt noch einmal von Italien mit erneutem inneren Kampfe losgerissen. – Frierend schauten sie nun durch die Fenster des nordwärts eilenden Zuges, sahen, wie an Stelle rebenumkränzten Sonnenlandes finstere Felsen traten, hörten, wie weiche Laute harter Sprache wichen, erkannten endlich auf den Grenzpfählen vaterländische Farben, lasen auf den Wegweisern der Heimat wohlvertraute Namen.
   Und dabei fühlten sie, daß sie nicht nur einen Abschnitt Zeit, sondern ein Stück ihrer selbst hinter sich zurückgelassen hatten. Auch von ihrer Liebe raunte es nun dort unten in der goldflimmernden Dämmerung mosaikgeschmückter Kirchen, zwischen den hohen, grünen Hecken alter Gärten – und etwas von all dem Süßen, was sie da in goldenen Tagen und blauen Nächten empfunden, würde fortan anderen entgegenwehen, die nach ihnen dort hinabführen.
   Eine leise Wehmut lag über ihnen beiden, aber bei Wolf mischte sich in sie doch schon eine gewisse Befriedigung, eine erwartungsvolle Spannung. – Tatenlust weckende, würzige Luft war ihm ja entgegengeschlagen, droben an der Station auf der Paßhöhe, und die Zeitungen waren voll von Nachrichten, die eine für die auswärtige Politik bedeutungsvolle Zeit voraussehen ließen. – Es würde doch schön sein, wieder mitten drin im Getriebe zu stehen und mitwirken zu können! – Man hatte ihm ja versprochen, daß er nach Ablauf dieses Urlaubs einen neuen Posten erhalten solle. Und er begann nachzusinnen, wohin man ihn wohl senden werde? – Dabei glitt sein Blick zu Ilse, blieb auf ihr haften, und voll Vertrauens dachte er, wie sehr sie ihm, wo es auch sei, helfen werde. Denn inmitten aller Leidenschaft und Zärtlichkeit der vergangenen Monde war auch schon ein neues kameradschaftliches Empfinden in ihm erstanden, ein Bewußtsein, stets auf sie zählen zu können.
   Seltsam dünkte es Ilse, sich wieder in Berlin zu befinden! In Italien hatte sie die große Umwandlung ihres Lebens als natürlich und voll schöner Harmonie empfunden, als Erfüllung des eigentlichen Daseinszweckes – hier erst stieg ihr die Erkenntnis völlig auf, welch anders geartetes Urteil man in der Heimat darüber fällte. Zu der natürlichen Scheu, irgendeinem aus dem Zehrentum oder gar Theophil selbst zu treffen, gesellte sich die Beobachtung, welch kalten und abweisenden Ausdruck jetzt auch ganz andere, früher freundliche Gesichter annahmen, wenn sie ihnen zufällig begegnete. – Sie begann, solche Begegnungen zu fürchten und blieb scheu in ihrem Hotelzimmer sitzen. Nur mit Wolf zusammen mochte sie noch ausgehen, und am liebsten wäre sie bloß zu den Stätten gewallfahrtet, die ihr hier in Berlin vom Beginn ihrer Liebe erzählten.
   Aber zu alledem hatte Wolf keine Zeit. Ihn trieb es, wie so manchen, alltäglich in die Wilhelmstraße. Aber wenn ihm dann der Portier die seltsam schluchzende Tür mit dem Draht aufgezogen hatte, und er, an den beiden spöttisch lächelnden Sphinxen vorbei, zu dem oberen Stockwerk hinaufgegangen war, so mußte er häufig genug im Wartezimmer vergeblich darauf harren, von diesem oder jenem Machthaber vorgelassen zu werden. Und sprach er mal einen der zum inneren Zirkel Gehörenden, auch solche, denen er bis dahin geglaubt hatte, persönlich nahe zu stehen, so erhielt er nur halb verlegene, ausweichende Antworten. Anfangs war er geneigt, dies einem Zufall zuzuschreiben, einer augenblicklichen Überbürdung der hohen Vorgesetzten mit Geschäften. Allmählich aber begann er doch einzusehen, daß hier eine Absicht vorlag, und daß er zu denen gezählt wurde, die nicht recht zählen. Schließlich ließ ihm der Personalrat sagen, daß er ihn am nächsten Tage empfangen wolle.
   »Bring uns was Schönes von dort zurück,« sagte Ilse, als Wolf am folgenden Morgen von ihr Abschied nahm, denn er hatte ihr mitgeteilt, daß bei dieser Unterredung nun wohl endlich die Entscheidung fallen werde.
   Erwartungsvoll trat Wolf in das mit Akten überfüllte Zimmer Duvals.
   Der Geheimrat sah an diesem Tage noch schwermütiger und hoffnungsloser aus als sonst.
   »Nun Herr von Walden,« begann er überstürzt und mit nervösem Händereiben, »Sie warten ja schon so lange – da wird es Ihnen gewiß lieb sein, zu hören, daß Sie eine Bestimmung erhalten haben.« Und er nannte den Namen eines fernab liegenden Ortes, der bis dahin für Wolf nur ein vager geographischer Begriff gewesen.
   Es war ein so wenig begehrenswerter Posten, daß Wolf unwillkürlich zusammenfuhr. »Herr Geheimrat,« fragte er, »hat denn bei dieser Entschließung mein damaliger Bericht über den Verlust der Reichsangehörigkeit, der ja so sehr mißfallen haben soll, noch immer gegen mich gesprochen?«
   »Ihr Bericht,« antwortete Duval bedächtig, »hatte Ihnen ja an einer sehr hohen Stelle damals sogar Anerkennung eingetragen« – »aber,« fuhr der Personalrat zögernd fort, »gerade in dem Hof nahe stehenden Kreisen ist inzwischen die Stimmung sehr umgeschlagen. Gewisse Dameneinflüsse sind da am Werke gewesen seit Ihrer Verheiratung … verzeihen Sie, daß ich daran rühre … aber es wird Ihnen ja wohl selbst bekannt sein, welche Feinde Sie und Ihre Frau Gemahlin haben. Ja, lieber Herr von Walden,« sagte er mit wichtiger Miene flüsternd, »es ist sogar soweit gegangen, daß man auf Ihre Entfernung aus dem Dienst hingearbeitet hat. Aber,« rief er, plötzlich fast begeistert, »da haben sich unsere Exzellenzen denn doch ganz energisch gewehrt. Sie wollten keinesfalls zulassen, daß das Amt von solchen weiblichen Faktoren abhängig würde. Aber Sie werden verstehen, daß man Ihnen nach diesen Vorgängen nicht gerade einen Posten geben konnte, der zu sehr en vue gewesen wäre. Na, aber verlieren Sie nicht den Mut, solche Dinge überwindet man ja schließlich auch, und Sie sehen ja, daß ein gewisser guter Wille für sie vorhanden ist.«
   Der Geheimrat ging dann, ohne Wolf recht zu Worte kommen zu lassen, auf Einzelheiten des künftigen Postens über. Er bekundete dabei jene seltsam nebelhaften Ortskenntnisse, die damals noch bisweilen an denjenigen Mitgliedern dieser mit dem Studium des Auslands beauftragten Behörde erstaunte, die die traute Heimat kaum je verlassen hatten. Und die absichtliche Schönfärberei trat hinzu, mit der diese Herren denjenigen zu beschwichtigen trachten, dem ödes Los bestimmt ward. Bei dem sanften Duval aber, der ja auch Mitglied des Tierschutzvereins war, fühlte man stets ein aufrichtiges persönliches Bedauern, ein Ringen mit der eigenen, innersten Natur. Er tat so ungern weh! Hätte am liebsten jeden wenigstens chloroformiert, wenn er ihn doch schon, in trauriger Pflichterfüllung, abschlachten mußte!
   Höflich, wie er stets war, begleitete er Wolf bis zur Tür und sagte dann dort: »Besuchen Sie meine Frau doch noch vor Ihrer Abreise – sie würde sich sehr freuen, Ihre Frau Gemahlin kennen zu lernen.«
   Und Wolf, der früher oft Hochfahrende, empfand, daß er irgendwie in die Lage geraten war, diese Aufforderung nicht als eine bloße Höflichkeit, sondern als eine Art Wohltat betrachten zu müssen.
   Als Wolf wieder in das Hotelzimmer trat, wo Ilse auf ihn wartete, kam sie ihm mit ausgestreckten Händen entgegengelaufen. Nach dem ersten Blick in sein Antlitz aber ließ sie die freudig hingehaltenen Hände sinken, und der erlöste Ausdruck, den sie immer hatte, wenn sie ihn nach kurzer Trennung wieder sah, wich aus ihren Zügen. So standen sie sich einen Augenblick stumm gegenüber. Und dann hob Ilse plötzlich die Arme wieder in die Höhe, schlang sie um Wolfs Nacken und zog ihn an sich. Ganz still und sanft. Sie fragte auch nicht, wartete ruhig ab, was er allmählich erzählen mochte. Die Einzelheiten über den neuen Bestimmungsort waren ihr ja auch ganz gleichgültig, wenn er für Wolf doch kein guter war! – Und Wolf sprach leise, zögernd, suchte zu verbergen, daß ihre Liebe ihm anderer Feindschaft gebracht. Aber sie verstand es doch alles alsobald und trachtete nun ihrerseits, ihn ihren bitteren Schmerz nicht sehen zu lassen. So begannen sie an dem Leid, das sie einander unabsichtlich gebracht, zu lernen, sich wissentlich wohl zu tun.
   Und dann zog es sie aus dem bedrückenden Hotelzimmer hinaus ins Freie.
   Durch den frühlingsgrünen Tiergarten gingen sie, und allmählich wehte der frische Wind all das Häßliche von ihnen fort, das wie dichter Staub, Schönheit entstellend, auf ihre Welt gefallen. Ilse besonders bedurfte ja nur so wenig Ermunterung, um gleich wieder ihre Fühlfäden nach Licht und Hoffnung auszustrecken. Ein großer Vorrat an Spannkraft war in ihr, und die bloße Augenblicksfreude, mit Wolf endlich einmal wieder so im Freien zu wandeln, genügte, um sie die Zukunft zuversichtlicher anschauen zu lassen.
   Als sie von der Siegesallee und ihren vielen Denkmalen kommend, in die Tiergartenstraße eingebogen waren, blieben sie vor einem der vielen Villengärten stehen. Da glänzten und glühten aus dem Rasen farbenfrohe Blumenbeete hervor. In geraden Linien standen die vielen leuchtenden Blüten, wohl gerichtet wie Soldaten. – Dragoner, die blauen Hyazinthen, Husaren, die roten Tulpen, Artilleristen, die schwarzen! »Schau, Wolf,« sagte Ilse ganz entzückt, »des Frühlings Regimenter sind das, die sich alljährlich die Welt erobern – gegen Schnee und Frost. – Wir beide ziehen nun auch aus wie Soldaten und haben auch manch einen gegen uns – aber ich fühle mich ganz siegessicher für dich! – Und weißt du, was ich voraussehe? Du stehst auch noch mal in Marmor als Handlangerbüstchen hier im Tiergarten, auf irgendeinem Denkmal der Zukunft!«

 //-- * --// 
   Wolf und Ilse folgten Duvals Aufforderung und besuchten seine Frau. Die Geheimrätin war offenbar von ihrem Manne genau instruiert worden, und sie empfing die beiden mit einem solchen Aufgebot an Wohlwollen und dem so offenkundigen Bestreben, nur ja jedes Thema zu vermeiden, das etwa ihre Gäste peinlich berühren könnte, daß kein Benehmen so deutlich zu zeigen vermocht hätte, welche gekennzeichnete Sonderstellung sie einnahmen. Die Geheimrätin behandelte sie wie gekittete Porzellanfiguren, die man nur sehr behutsam anfassen darf.
   Da sie bei Frau Duval gewesen, glaubten Wolf und Ilse nun auch, die Gattinnen der anderen Vorgesetzten besuchen zu sollen. Da lernten sie manche Nuance der Empfangsart kennen. Allen aber merkte Ilse eine kritische, mehr oder minder verborgene Neugier an. Sie fühlte sich dabei verlegen werden, mehr für die anderen als für sich, und eine scheue Verschlossenheit kam dann über sie, so daß die anderen wiederum im Glauben bestärkt wurden, sie habe wirklich Schlimmes zu verbergen. Ilse konnte in solchen Augenblicken so verkümmert aussehen, daß ihre Hübschheit wie weggewischt schien!
   Bei Frau von Höhenrath aber brachte der Diener, als Waldens sich melden ließen, den kurzen Bescheid: »Ihre Exzellenz könne sie nicht empfangen!« – Dem heimkehrenden Gatten erzählte dann Minette dies Vorkommnis und sagte mit Überzeugungstüchtigkeit: »Ich habe mir vorgenommen, meiner Jugendfreundin in dieser Sache die Treue zu halten – aber auch ohnedem würde ich für meine Person immer Front dagegen machen, so eine Dame im Dienst zu haben. Die Exzellenz Hertwich sagt, wie die verkörperte Sünde habe sie ausgeschaut!«
   »Na, na,« beschwichtigte Höhenrath, »ob die alte Hertwich da ein so maßgebendes Urteil hat? Einige unserer jüngeren Herren, die neulich mit Waldens im Hotel gegessen haben, erzählten im Gegenteil, die Frau sei ja ganz bezaubernd.« »Eben wie die Sünde,« warf Minette ein. Doch Höhenrath fuhr fort: »Sie schien ihnen ordentlich leid zu tun, weil sie jetzt auf einen so entlegenen, unangenehmen Posten mit ihrem Mann muß. Aber,« sagte er mit plötzlicher Schärfe, »für den Walden ist das recht gesund. Zitzedorn wird ihm schon die nötige Disziplin beibringen und den Glauben austreiben, alles besser zu wissen. Mir hat dieser junge Mann damals gerade genug Fatalität bereitet mit seiner Eigenmächtigkeit.«
   »Nun, mir tut er immer noch eher leid als sie,« entgegnete Minette, »denn sie war doch verheiratet! – Sie muß ihn eben ganz umgarnt haben. Die kleine Salten meinte neulich auch, sie begriffe nicht, wie man sich wegen der die Karriere verpfuschen könne.«
   »Na, sorg wenigstens dafür, daß sie bald unsere Karten erhalten,« sagte Herr von Höhenrath, »denn sie reisen demnächst ab.«
   Ja, baldmöglichst abreisen zu können, war, trotz des wenig lockenden Zieles, allmählich Wolfs und Ilsens sehnlicher Wunsch geworden. Gar zu viel Kränkendes hatten diese Berliner Wochen gebracht! Ilse fühlte sich bisweilen ganz herzenswund davon. – Was sie aber am traurigsten stimmte, war, zu sehen, daß ihre und Wolfs Liebe sich veränderte. Nicht geringer war sie geworden – ob nein! Aber während sie noch vor kurzem in Italien so froh und jauchzend gewesen, lag jetzt bisweilen in dieser Liebe etwas von schmerzlicher Schicksalserfüllung. Immer mehr wollten sie jetzt einer vom anderen haben, weil sie erkannt hatten, daß sie ja nichts auf Erden besaßen als einer den anderen.
   Vielleicht, dachte Ilse, finden wir, wenn wir nur erst aus Berlin fort sind, den wolkenlosen Himmel wieder, der bisher unserer Liebe blaute. Und sie beeilte sich mit ihren Reisevorbereitungen.
   Greinchen, die seit kurzem aus Italien Zurückgekehrte, half ihr dabei. Sie merkte gar bald, daß die Welt mit dem »Kind« nicht eben sanft verfuhr, und sie hätte gar zu gern für alles, was Ilse litt, Männer verantwortlich gemacht – aber zumeist waren es ja Frauen, die ihr all das Bittere, Verletzende antaten.
   Als Wolf und Ilse dann endlich eines Mittags vom Lehrter Bahnhof abfuhren, um in Hamburg den Dampfer zu besteigen, der sie weit, weit fortführen sollte, da war es Greinchen, die ihnen das Geleit gab.
   »Du mußt uns besuchen,« sagte Ilse, wie um eine Brücke über die große Entfernung zu schlagen.
   »Nein, Kind, nein,« antwortete die kleine dicke Frauenrechtlerin trotzig, »wo ihr jetzt hingeht, da würde ich mich krank ärgern, da lassen sich die Frauen ja noch mehr unterdrücken als hier bei uns – aber wenn ihr erst Botschafters in Washington seid, da komm ich zu euch, – das ist das Land der Frauen.«
   Vom Bahnsteig winkte sie ihnen dann noch mit flatterndem Taschentuch, während ihr faltiges Bulldoggengesicht ganz besonders grimmig blickte, um die aufsteigende Rührung zu bemeistern.
   Ja, so hatten jene Wanderjahre begonnen, die Wolf und Ilse an noch so viele ferne Orte der Erde führen sollten.
   Manches von damals war inzwischen in Ilses Gedächtnis verschwommen, aber es gab Szenen, die sie noch heut Wort für Wort in sich weiter tönen hörte, als hätten sie eben erst gespielt. Oft auch brachte ein Duft, eine Melodie ganze Stimmungen wieder, und ein Blättern in ihrem Tagebuche genügte, um alles Gewesene noch einmal zu erleben.
   Die erste große Seereise – welch ferne und doch noch so frische Eindrücke! Ihr jugendliches Entzücken über all das Neue fühlte sie wieder, und das Gruseln, wenn nachts die Wogen gegen das Schiff dröhnend prallten – aber dann hatte Wolf sie beruhigend in die Arme genommen, und das Gruseln war zu Wonne gewandelt. Vor Naturgewalten war sie immer instinktiv zu ihm geflüchtet, sicher, daß er ihr nichts geschehen lassen würde, – gegen subtilere Feindschaften und Gefahren war vielleicht eher sie die Schützende gewesen.
   Sie entsann sich, wie sie beide am letzten Morgen der langen Fahrt zu ihrem ersten Posten aufgestanden waren, als es beinahe noch finster war, um den ersten Anblick des Landes nicht zu versäumen. Ganz langsam fuhr jetzt das große Schiff, als taste es sich vorsichtig weiter in dem spiegelglatten seichten Wasser, auf dessen Grunde tückische Sandbänke lagen. Frühnebel barg noch die Küste, aber oben im Himmel, viel höher als Ilse je gedacht, daß Berge sein könnten, leuchtete, gleich einem Wolkengebilde, die ferne schneeige Kette, von den ersten Strahlen der noch unsichtbaren Sonne getroffen. – An die Reeling gelehnt, hatte Ilse hingestarrt zu dem unter solcher Märchenkrone dämmernden Lande. Geheimnisvoll, rätselreich, ahnte man seine Nähe mehr als man es wirklich sah, fühlte seinen warmen Hauch, der die frischere Seeluft verdrängte. Und unwillkürlich die Hände faltend, sagte Ilse leise: »Wolf, wie schön, dies mit dir sehen zu dürfen! Aber weißt du, wenn dies Glück, zusammen zu sein, wirklich durch Unrecht errungen wurde, so müssen wir dafür von nun ab Doppeltes leisten.«
   Ja, den zu Taten nötigen Schwung fühlte Ilschen immer in sich, und dann hätte sie die schönste Rechtfertigung gesehen. Aber das Leben hatte dann von ihr weit mehr an Ertragen und Ausharren, wie an Tun gefordert. Der Chef, den Wolf auf seinem neuen Posten antraf, der Gesandte von Zitzedorn, war ein in die Diplomatie eingeschwenkter früherer Offizier, und Herr von Höhenrath hatte recht, ihn als einen Mann zu bezeichnen, der von seinen Untergebenen Disziplin zu verlangen wisse. Es wurde Wolf nicht leicht, sich in die Eigenheiten eines Vorgesetzten zu fügen, der im Dienste hauptsächlich auf die Befolgung von Formalitäten Gewicht legte. Noch schwerer aber dünkte es Wolf, untätig mit anzusehen, wie durch einen jeder Initiative ermangelnden Betrieb der diplomatischen Geschäfte alle Gelegenheiten versäumt wurden, wo etwa in diesem, damals noch wenig beachteten Lande, Vorteile für deutsche Interessen auf wirtschaftlichem Gebiete sich hätten erringen lassen. Als aber Wolf einmal wagte, seinen Chef darauf aufmerksam zu machen, wurde er kurz abgewiesen, »es lägen keine diesbezüglichen Instruktionen aus Berlin vor.« – So nützten denn die Vertreter anderer Länder zu deren Besten die Möglichkeiten aus, die der deutsche vorübergehen ließ. Wolf wurde mißmutig und verstimmt, und Ilse mußte ihn trösten und ermuntern.
   Sie selbst hatte es freilich auch nicht leicht – durch Frau von Zitzedorn. Diese, in der ländlichen Tüchtigkeit norddeutschen Gutslebens aufgewachsene Dame, füllte die Muße ihres tropischen Diplomatenlebens, indem sie, was sie früher praktisch erprobt, jetzt in didaktischen Schriften niederlegte. Aus ihrer Feder stammten die Broschüren: »Wie ich Speisereste verwende,« »Wie ich meine schmutzigen Handschuhe behandele.« Diese Werke verteilte sie freigebig an ihre Kolleginnen, wie auch an die indolenten Töchter des Landes. Das Unglück wollte es, daß Frau von Zitzedorn in ihren Mädchentagen mit Mechtild von Zehren befreundet gewesen. Von dieser war sie offenbar im voraus gegen Ilse eingenommen worden, denn sie empfing sie mit eisiger Kälte und wußte es dann einzurichten, sie eigentlich nur bei offiziellen Anlässen, wo es sich nicht umgehen ließ, zu sehen. Diese Haltung erregte natürlich allgemeine Aufmerksamkeit an einem Ort, wo auch die Bedeutung aller gesellschaftlichen Vorkommnisse mit tropischem Wachstum zu Riesengröße anschwoll. So war Ilse auch hier alsbald zu einem Gegenstande der Neugier geworden. »Wie war doch die Geschichte ihrer ersten Ehe und Scheidung gewesen?« fragte man. »Es war nichts Näheres darüber bekannt, aber« – setzte man hinzu, »die eigene Gesandtin ist ja so kühl gegen sie – das besagt doch alles!«
   Manche Frauen zogen sich von Ilse zurück; und das waren vielleicht die, mit denen sie am liebsten verkehrt hätte; andere, die zu den leichtfertigeren Gruppen der Gesellschaft gehörten, versuchten im Gegenteil, sie an sich zu ziehen, als selbstverständlich annehmend, daß sie von Natur zu ihnen gehöre. Da aber war sie ihrerseits abwehrend, denn ihr beinahe puristischer Geschmack und sicheres Stilgefühl warnten sie sofort vor allem, was nicht zu ihrem Wesen paßte. Die Männer aber hatten bisweilen seltsame Blicke, bewundernd und beobachtend, als bäten sie um Vormerkung, falls es etwa mal einen Bevorzugten geben sollte.
   Ja, einstmalige, unangezweifelte Makellosigkeit war Ilsens Leben unwiederbringlich genommen! Und wie schmerzlich das ihrer weichen, Harmonie bedürftigen Natur werden mußte, hatte sie nicht vorausgeahnt.
   In jenen Tagen schrieb sie in ihr Tagebuch:
   »Es war einmal eine Königin, die stand auf hohem Söller und schaute hinaus ins weite Land, denn ihr Herz war voll von einer großen Sehnsucht. Da kam ein unbekannter Ritter des Wegs gezogen, und als er die Königin oben auf dem Söller erblickte, hielt er an und sprach: »Königin, Königin, komm herab zu mir.« Bei seinen Worten ward die Königin inne, daß er es war, nach dem sie ausgeschaut, ohne daß sie ihn doch je vorher gesehen. – Sie wollte zu ihm, aber die Tore waren all geschlossen, denn sie war eine streng gehütete Königin. Aber sie sehnte sich doch so sehr, und der Ritter hörte nicht auf zu flehen: »Komm zu mir!« Da sprach die Königin: »Öffne deine Arme und fang mich auf.« Der Ritter tat, wie sie ihm geheißen, und die Königin sprang zu ihm hinab. – wie er sie aber auffangen wollte, kam der Ritter ins Straucheln, und seine Arme waren vielleicht nicht so stark, wie er gewähnt, denn er ließ die Königin ausgleiten und fiel mit ihr auf den Boden. – Nach der ersten Bestürzung lachten die beiden, denn sie hatten sich ja nicht weh getan. Der Ritter schüttelte den Staub von seiner Rüstung, und dann gingen sie zusammen davon. – Erst nach und nach merkte die Königin, daß ihr schneeweißes Kleid bei dem Sprung am Gestrüpp zerrissen und bei dem Sturz vom Staub der Straße befleckt worden war.
   Und darüber weinte die Königin noch manches Mal – wenn der Ritter es nicht sehen konnte.«
   Ja, nur wenn Wolf es nicht sehen konnte, weinte Ilse, vor ihm suchte sie alle solche Traurigkeiten zu verbergen, denn er litt ja noch mehr wie sie darunter, in dem Bewußtsein, nicht alles Harte ihr so fern halten zu können, wie er gern gewollt! – So entstanden allmählich zwischen ihnen Gebiete, an die sie nie rührten, jeder aus Zartheit für den anderen. Schweigsamer waren sie beide als während der seligen italienischen Monate, wo die Zeit sie nie lang genug dünkte für alles, was sie sich zu sagen hatten, schweigend flüchteten sie jetzt vor der Welt zueinander, hielten sich schweigend umfangen. Und ihre Liebe mußte immer tiefer, reicher und erfinderischer werden. Viel wurde ja von ihr gefordert! Sie sollte nicht nur Glück spenden, sondern auch Ersatz und Vergessen gewähren für so manches.
   Mit der zunehmenden Erkenntnis der Härte des selbstgewählten Pfades überkam sie beide oft das immer brennendere Verlangen nach Abgründen, wo in der Erschöpfung aller Gefühlsfähigkeit auch jedes Erinnern und Besinnen scheitert. Eine Wonne erfüllte solche Stunden und auch ein Verzweifeln. Denn bisweilen fegten die schwarzen Fittige der Trauer so schwer über sie hin, daß die Freudenfeuer ihrer Liebe selbst zu erlöschen drohten – dann war ihnen, als ob sie beide an dem verhaltenen Schrei ersticken müßten: Warum, ach warum, durften wir uns nicht früher finden!
   Unterdessen wühlten daheim alter Grimm und Mißgunst gegen Wolf und Ilse weiter, erschütterten, was diese sich mühsam zu erarbeiten suchten. Frau von Zitzedorn berichtete über die beiden an Mechtild, die es der Schwiegermutter mitteilte; die wiederum schrieb an Minette, und durch die Damen drang es in die offizielle Herrenwelt, von der es heißt, daß sie dem Klatsch nicht zugänglich sei, und die an ihm als Würze trockner Arbeit doch auch zuweilen Geschmack findet.
   »Waldens,« so hieß es jetzt, »mochten allenfalls angehen als unbedeutendes Sekretärpaar, das neben dem hervorragenden Gesandten und seiner hochstehenden Gemahlin naturgemäß völlig verschwand – aber irgendeine selbständige Rolle würde ihnen doch kaum anvertraut werden können – es war ja der Frau nicht einmal geglückt, sich an diesem ersten Posten eine wirkliche Stellung zu machen.«
   Die Wirkung solcher hingeworfenen Worte zeigte sich bald.
   Der feuchte, lähmend heiße Sommer kam, und Herr und Frau von Zitzedorn wollten auf Urlaub nach Hause reisen. Naturgemäß mußte Wolf während ihrer Abwesenheit Geschäftsträger werden. Er freute sich darauf. Denn das bloße Fernsein Herrn von Zitzedorns bedeutete eine Erleichterung; außerdem aber schwebten gerade ein paar Fragen, die er sich zutraute, zu einem günstigeren Ende zu führen, als der schwerfällige Gesandte.
   Wolf und Ilse hatten lange vorher Pläne gemacht, wie sie diese goldene Zeit verbringen würden. Sie wollten Ausflüge im Lande unternehmen, um noch einiges außer der Hauptstadt kennen zu lernen. Das war in Herrn von Zitzedorns Anwesenheit nicht möglich, denn er liebte es, einerlei, ob Arbeit vorlag oder nicht, seine Beamten beständig in der Kanzlei zu halten. Das nannte er Gewissenhaftigkeit im Dienst.
   So war denn Wolf aufs Schmerzlichste überrascht, als Herr von Zitzedorn zugleich mit der telegraphischen Urlaubsbewilligung die Weisung erhielt, seinen Urlaub erst nach Ankunft des bereits nach dort abgereisten und zum Geschäftsträger designierten Grafen Borgwedde anzutreten. Es war ein so ungewöhnliches Verfahren, daß Wolf in der ersten Empörung alles aufgeben wollte. Ilse mußte beschwichtigen.
   »Es ist doch unmöglich, unter so völlig ungerechten Vorgesetzten weiter zu dienen!« rief er.
   »Aber Wolf,« entgegnete sie, »du dienst doch nicht den Vorgesetzten, du dienst dem Lande.«
   »Ach Ilse,« antwortete er, »man weiß ganz genau, welcher Vorgesetzten Instruktionen man ausführt – aber ob man damit auch immer seinem Lande dient, das ist viel Ungewisser – darüber entscheidet erst die Zukunft.«
   Graf Borgwedde war kaum älter im Dienst als Wolf, aber er galt für einen ausgesprochenen Günstling Herrn von Höhenraths.
   Das Zusammensein mit ihm gestaltete sich dann aber angenehmer, als zu erwarten gewesen. Er empfand bald eine ritterliche Teilnahme für Ilse und suchte nun ihr und Wolf die peinliche Situation möglichst zu erleichtern. Die schwebenden Geschäfte erledigte er unter Benutzung von Wolfs Landeskenntnis. – Obwohl der Geschäftsträger aber die Loyalität hatte, Wolfs Mitarbeit in seinem Bericht hervorzuheben, erfolgte nichts darauf. Borgwedde allein erhielt den Orden, der solchen Transaktionen vor der Menge die letzte Weihe verleiht.
   So war der Zweck erreicht, es war gelungen, Wolf von der Möglichkeit auszuschließen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und vielleicht anerkennend erwähnt zu werden.
   Bald nachher wurde Walden in ein anderes Land versetzt. Dieser neue Posten war gleichwertig mit seinem bisherigen, kein Avancement. Und Wolf erfuhr von Helmstedts, die sich gerade in Berlin befanden, daß Frau von Zitzedorn um seine, mehr wohl noch um Ilses Entfernung gebeten hatte. Das war eine schlechte Nummer mehr auf ihrem Konto! Den neuen Posten, hieß es, habe man für sie ausgesucht, weil da der Chef unverheiratet war.
   Gleichzeitig wurden andere Versetzungen bekannt gegeben, durch die jüngere Beamte als Wolf an bessere Stellen rückten.
   Und solche Erlebnisse wiederholten sich noch einige Male in den folgenden Jahren. – Die gesuchten Posten, die für die von der Gunst Beschienenen aufbewahrt bleiben, gingen an Wolf vorüber, und nur die an der weiteren Peripherie liegenden, wegen Ungesundheit des Klimas oder Unbedeutendheit des Wirkungskreises wenig beliebten Stellen fielen ihm zu. Bei jeder Bewerbung um eine lockende Vakanz bekam es Wolf zu fühlen, daß er im Wettrennen durch schwereres Gewicht als andere belastet war und sie daher an sich vorbei lassen mußte. – Ihm fehlte daheim der helfende Familienanhang der Eingeborenen; er blieb immer der eingewanderte Fremdling, dem man es im stillen zum Vorwurf machte, einem anderen einen Platz fort zu nehmen. Und was er sich etwa vor seiner Heirat an Freunden erworben hatte, das schwieg jetzt, halb verlegen, gegenüber den andauernden Anfeindungen und Verdächtigungen einer ihm übelwollenden Sippe, deren Gevatter und Muhmen in hohe Kreise reichten.

 //-- * --// 
   Doch auch viel, viel Glück hatten jene Zeiten enthalten! Dafür sorgte schon Ilses Gabe, das Schöne zu sehen, ihre Fähigkeit, sich zu begeistern. Ein Ausflug durch tropische Waldung, wo in grüner Dämmerung Farrenbäume winkend aus Urzeit grüßten; ein sonnedurchglühter Markt, in dem grell bunte Vögel und listig spähende Äfflein von braunen Menschen feilgeboten wurden, ein Blick auf eine am Fuße der Cordillera träumende Stadt, von deren zahllosen Kirchen und Kapellen der Abendgesang der Glocken hinauftönte zu den rotglühenden, schneebedeckten Gebirgsriesen, – das waren Eindrücke, die Ilses farbendurstiger Seele ganze Tage vergolden konnten.
   Die liebsten Stunden aber blieben ihr immer und überall jene, die sie allein mit Wolf in ihrem Häuschen verbrachte. Ihre erste Einrichtung, der so manche folgen sollten, sah Ilse deutlich vor sich. Ein bißchen zeltartig war sie geworden, wie es dem herumstreifenden Leben der diplomatischen Menschengattung nun einmal entspricht; geschmackvoll und zufälligen Charakters, mit dem Reiz der Dinge, an denen man sich rasch erfreuen muß, weil sie wahrscheinlich gar so bald wieder vergehen würden.
   Sie beide hatten alles selbst zurecht gemacht, denn Wolf war erfahren in solcher Arbeit. Auf einer Leiter stehend, verhängte er häßliche Tapeten mit schimmernden Geweben – weil es rascher geht, Schäden zu verstecken, wie zu beseitigen – benutzte geschickt die vielen Dinge, die er von früheren Posten mitgebracht: Japanische Holzschnitte, auf denen schmale blasse Frauengesichter weltfern blicken, orientalische Waffen, mit geheimnisvollen Inschriften auf dem grausam glänzenden Stahl. Ilse stand indessen prüfend unten. Bei besonders wichtig scheinenden Fragen aber, wo auch er den Effekt von unten beurteilen sollte, kletterte sie statt seiner auf die Leiter und, mit ausgebreiteten Armen, wie schwebend, hielt sie oben die glitzernden Draperien. – Das hatte die Arbeit aber nie sonderlich gefördert, denn er schaute dann immer nur auf sie – wollte gern gleich Feierabend machen.
   Und viele glückliche Stunden hatte überall ihr gemeinschaftliches Musizieren angefüllt. Einen Flügel hatte ihnen Gisi als Hochzeitsgeschenk versprochen. Der kam auf ihrem ersten Posten an und begleitete sie auf alle folgenden. Ein großer Zauberkasten dünkte er Ilse bisweilen, denn nicht nur all die Stücke, die sie gespielt, schlummerten leichten Schlafs in seinen Tiefen, stets bereit, sich wecken zu lassen, sondern auch die Lieder, die Wolf gesungen, die ganze Umgebung, die Stimmungen vergangener Zeiten quollen immer wieder mit den Tönen in rauschenden Erinnerungswellen aus ihm hervor.
   Die wehmütigsten Laute aber, die das Klavier enthielt, das war ein kleines Wiegenlied, wie man es Kindern singt: »Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein.« Selten nur und ganz leise wagte Ilse, diese Melodie zu wecken. Gar zu weh tat, noch nach Jahren, das Erinnern.
   Ja, einmal war solch Glück in ihrem Leben gewesen! Wie ein Wunder war es gekommen, da sie es doch kaum zu hoffen wagte, winzig klein und zart war es und doch so groß, daß es ihre Welt erfüllte, alles andere daraus verdrängend. Selbst Wolfs Platz schien plötzlich etwas bescheidener geworden. Aber das Schöne an diesem Glück war ja gerade, daß es ein Teil von Wolf wurde, daß er darin ein zweites Leben lebte. – Es hatte über gewölbter Stirn dieselben schon eigenwillig aufwärts strebenden goldenen Härchen; und unter seinen Brauen die gleichen blauen Augen; seine winzige Nase versuchte, sich zu schwingen, wie die des Vaters; und seine Händchen machten oft Bewegungen, denen Ilse bezaubert folgte, weil es so ganz unbewußte Nachbildungen von Wolfs Bewegungen waren. – Es war eine rührend possierliche kleine Auferstehung des großen Wolf.
   So war es ein Kind, das sie ganz und völlig lieben konnte, weil sie Vergangenheit und Zukunft, Erinnerungen und Verheißungen in ihm liebte.
   Und es sollte etwas ganz Besonderes werden! – Etwas Tüchtiges, zum Lebenskampf Geeignetes. Noch ehe es geboren war, hatte Ilse gesucht, das künftige Wesen ihres Kindes zu beeinflussen. Sie nannte das »ihm vorlesen,« wenn sie sich in Roosevelts Strennous Life, das Leben des Freiherrn von Stein, Bismarcks Briefe, Gedanken und Erinnerungen vertiefte! Ein großer Staatsmann sollte es ja werden, einer von denen, die ein eigenes riesiges Denkmal bekommen, das trotz allen allegorischen Beiwerks immer noch klein scheint neben ihrer Bedeutung. – Ja, was ihr und Wolf zu erlangen vielleicht immer versagt bleiben würde, das sollte dem Kinde gelingen! – So dachte Jung-Ilschen, wie schon manch ältere Mutter gedacht, und dabei summte sie an der Wiege des Zukunfts-Bismarcks leise das kleine Lied: »Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein.«
   Ob nun aber Klein-Wölfchen je zum heißersehnten Führer des kommenden Deutschlands oder zu sonst etwas sehr Herrlichem werden würde – seinen Eltern hatte er, gleich seit seinem Erscheinen, in voller Unbewußtheit viel Gutes getan. Eine Beruhigung, ein Genügen hatte er ihnen gebracht, eine Erweiterung ihrer Persönlichkeiten und ein Übergehen ihrer Leben in das seine. Dienstlicher Ärger mit schwierigen, ungerechten Vorgesetzten, stichelnde Reden übellauniger alternder Chefessen schienen jetzt kleine Dinge neben der einen großen Freude, die ihrer stets zu Hause harrte.
   Mehr noch wie andere Mütter empfand Ilse ihr Kind als einen Stolz, als einen Segen. Ganz andächtig fühlte sie sich bei seinem Anblick werden, und über ihren Sohn gebeugt, stieg tiefe Dankbarkeit aus ihrem Herzen auf: »Was kümmert mich, wie Menschen von mir denken – wem ein solcher Schatz gegeben, der ward vor höchstem Richterstuhl vertrauenswert befunden.«

 //-- * --// 
   Merkwürdig rasch war damals die Zeit verflogen. Plötzlich lief Klein-Wölfchen in kurzen weißen Kleidchen umher. Wenn der Vater sang und die Mutter spielte, hörte er mit großen Augen aus einer Sofaecke ganz ernsthaft zu. Bisweilen schlich er auch selbst an den Flügel, drückte behutsam mit den weichen Kinderhändchen ein paar Tasten nieder und lauschte dann strahlend, und doch auch ein bißchen erschrocken, wie es drinnen in dem großen Zauberkasten so seltsam tönte.
   »Vielleicht wird er ein großer Komponist werden!« sagte Ilse zu solch außergewöhnlichem Tun und hob den künftigen Wagner auf ihren Schoß, damit er die Klaviatur, sein dereinstiges Tätigkeitsfeld, besser überschauen könne.
   Es schien aber fast, als ob mit dem zunehmenden Wachstum und Gedeihen Klein-Wölfchens auch in den äußeren Lebensverhältnissen seiner Eltern eine günstige Wendung sich einstellen wolle.
   Durch die plötzliche Versetzung seines damaligen Chefs wurde Wolf unerwarteterweise Geschäftsträger an einem überseeischen Posten in dem Augenblick, wo gerade ein deutsches Geschwader dort anlief. Was manchem älteren und geübten Diplomaten mißglückt, das gelang Wolf: Er verstand es sofort, sich mit den Marinegästen gut zu stellen. Dazu hatte er das Glück, eine mit den dortigen Landesbehörden entstandene Schwierigkeit nach den Wünschen des Geschwaderchefs rasch und befriedigend zu erledigen. Die Marineoffiziere, die für die weiteren Bedürfnisse deutscher auswärtiger Interessen ja meist ein offenes Auge haben, fühlten in Wolf etwas Wesensverwandtes: Das war auch einer, der nie zaghaft zurückschrecken, sondern, wenn der Moment käme, mutig zugreifen würde. Und dieser aus einem Lande Stammende, wo zersprengtes Deutschtum sich mühsam gegen fremde Mehrheit behauptet, zeigte auch besonders lebhaftes Verständnis für die Bedeutung einer starken deutschen Seemacht; er vereinigte sich mit den Marineoffizieren in begeisterter Anerkennung jenes starken Willens, der gerade damals, trotz manch kleinlichen Widerspruchs, eine des Deutschen Reiches würdige Flotte zu schaffen begann.
   Man freundete sich während der kurzen Tage des Marinebesuchs mit jener Geschwindigkeit an, die nur im fernen Ausland möglich ist, wo ein deutsches Kriegsschiff wie ein Stück heranschwimmenden Heimatbodens erscheint – Sehnsucht, Stolz und viele Hoffnungen erweckend! – Als Wolf und Ilse dann kurz vor der Abfahrt des Geschwaders zum Abschied mit Klein-Wölfchen auf das Flaggschiff kamen, wurde dem Bübchen ein Band mit dem eingewirkten Schiffsnamen um den Hut gelegt und man stieß an auf den zukünftigen Kameraden. – Zum Vater aber äußerten die Herren: »Na, Ihnen kann es ja nicht fehlen – hoffentlich sehen wir Sie mal auf einem ganz großen Posten!« —
   Im folgenden Jahre reisten Wolf und Ilse dann einmal wieder auf Urlaub nach Berlin. Sich da alle paar Jahre ›zu zeigen,‹ als sei man ein Paket, das sonst Gefahr liefe, in irgendeinem Erdenwinkel vergessen zu werden, gehörte nun einmal zu den dienstlichen Traditionen, die zu befolgen weise, wenn auch nicht gerade immer erquicklich war.
   Auf Ilse wirkten diese periodisch wiederkehrenden Aufenthalte stets sehr niederschlagend. Sich draußen in der Ferne rasch einzuleben und Freunde zu erwerben, hatte sie inzwischen ja längst gelernt – in Berlin aber wurde sie die innere Unsicherheit nie ganz los, die empfindet wer sich von kalten Blicken beobachtet weiß. Sie hatte zwar auch hier in der Heimat diesen und jenen im Laufe der Zeit entwaffnet und gewonnen, aber manche behandelten sie doch noch immer als jemand, der vielleicht geheilt sein mochte, sicher aber einmal in schwerem Pestverdacht gestanden hatte. – Und nach wie vor behielt sie auch die ängstliche Scheu vor Begegnungsmöglichkeiten mit Mitgliedern des Zehrentums und seinen Affiliierten.
   Das alles war jetzt aber ganz anders, wo sie mit ihrem Kinde in Berlin weilte. Sorglos ging sie mit dem Bübchen spazieren, während Wolf, wie so mancher andere, in der Wilhelmstraße nach dienstlichem Sonnenschein spähte. Und das kleine Stückchen trippelnden Menschentums an ihrer Seite dünkte Ilse ein gewaltiger Schutz! – Es schien auch wirklich, als gäbe es wenig Raum für Ängstlichkeit in Klein-Wölfchens Gemüt. Tapfer, ganz Nerv und Rasse, schritt er durch das ungewohnte Gewühl der Straßen, würdig einstmaliger Vorfahren, die sich furchtlos eigene Wege gebahnt. Und als ein Wagen einmal Ilse gar zu nahe kam, drehte er sich herrisch um und rief: »Nicht weh tun der Mama!« – Es mochte sich in ihm ein Tröpfchen Blut regen, das von jenem Urgroßvater stammte, vor dem einst alles Front gemacht.—
   Es gab diesmal ein langes Harren im Vorhof der gnadenspendenden diplomatischen Schicksalsgötter.
   Mehrere Posten waren frei geworden, darunter der viel begehrte in Kairo, und Wolf galt allgemein als der Bewerber, der die berechtigtsten Ansprüche darauf hatte. Dies erzählten ihm auch seine Marinefreunde, von denen er einige in Berlin wiederfand. So konnten sich Wolf und Ilse während einiger Wochen denn in der Hoffnung wiegen, endlich an einen Europa so nahe gelegenen Ort versetzt zu werden, der mitten im politischen Getriebe stand, und von wo es ihnen auch möglich sein würde, Klein-Wölfchen allsommerlich in gesunde heimatliche Luft zu bringen. Es schien wirklich, als wollten die finsteren, niederdrückenden Gewalten aus ihrem Leben weichen!
   Aber plötzlich waren über Nacht allerlei Einwendungen aufgetaucht. »Der Posten in Kairo,« so hieß es, »sei doch gar zu sehr en vue, um gerade die Waldens dort verwenden zu können … die vielen fürstlichen Touristen …!«
   Ein Anderer wurde nach Kairo ernannt.
   Wolf dagegen sagte man, er sei für einen gleichwertigen Posten in Aussicht genommen, wo er ebenfalls selbständig sein würde. Dieser Posten war zwar viel besser als alle, die Wolf bisher bekleidet hatte, und während er seit seiner Verheiratung an lauter Orte gesandt worden war, die den Diplomaten zweiter Klasse vorbehalten zu bleiben pflegen, so näherte sich dieser Ort schon eher jenem Zauberzirkel, drin die Bevorzugten kreisen. – Aber – er lag auch wieder weit fort, in einem Lande mit ganz bekannt gefährlichem Klima, gefährlich besonders auch für Kinder!
   An eigene Gesundheit hatten Wolf und Ilse nie gedacht, nachdem sich Wolf von der einstmaligen Krankheit in Zanzibar ja scheinbar völlig erholt hatte. Was man in der Hinsicht etwa zusetzte, mußte eben ins große Verlustkonto eingetragen werden – ein Opfer, mit dem man nicht kargen durfte. Aber Klein-Wölfchens Gesundheit gefährden? Sein Leben vielleicht? Das konnte doch nicht gefordert werden!
   Zum erstenmal wagte Ilse zu kämpfen, tat für das Kind, was sie nie getan, bettelte bei Wolfs Vorgesetzten, suchte deren Frauen, die doch auch Mütter waren, für ihr Bübchen zu interessieren. Aber es wurde ihr geantwortet: »Es ist nichts anderes frei,« oder »man wird sie ja nicht lange dort lassen.« Und gerade Wohlmeinende, wie Geheimrat Duval, sagten: »Aber so freuen sie sich doch! Endlich kommen sie mal auf einen Posten, der hier interessiert: Die Berichte von dort werden stets seiner Majestät vorgelegt!«
   »Ja,« antwortete Ilse, »wären Wolf und ich noch allein, so würden wir uns ja auch sicher freuen.« Hinter ihrem Rücken aber zuckten manche die Achseln und meinten: »Diesen Waldens kann man es nie recht machen! Eigentlich sind sie ja doch Streber – aber jetzt, wo sie mal was Gutes kriegen sollen, sind sie auch wieder nicht zufrieden.«
   Die also urteilten, konnten ja nicht wissen, daß, was sie Strebertum nannten, bei Wolf der brennende Wunsch gewesen war, durch besondere Leistung den Beweis zu liefern, daß er sein neues Bürgerrecht in der deutschen Heimat auch wirklich verdiene. Bei Ilse hatte sich in diesen Wunsch der mystische Glaube gemischt, daß dadurch auch ihrer Liebe und Ehe eine Art Berechtigungsschein erworben werden würde. Sie meinte, ein Abweichen vom gesetzmäßigen, allgemein gültigen Pfade, könne nur durch Erfüllung außergewöhnlicher Aufgaben seine nachträgliche Rechtfertigung finden. Aber solch Denken und Empfinden war schwächer geworden seit Klein-Wölfchens Erscheinen – der war jetzt, in Ilses Augen, der lebende schönste Berechtigungsnachweis!
   Unschlüssig wie noch nie, innerlich ganz zerrissen, stand Ilse vor der Frage: Sollte sie etwa Wolf allein auf den neuen Posten gehen lassen? Aber das vermochte sie nicht – sie kannte ihn jetzt ja so genau, wußte, daß er daran innerlich zugrunde gegangen wäre – und sie selbst hätte solche Trennung ja auch nicht ertragen. – Sollte sie das Kind vielleicht allein zurücklassen? Dies Kostbarste, das ihr wie endliche Segnung ihres Lebens erschien, dessen blaue Augen und goldene, eigenwillig aufstrebende Härchen sie sehen, dessen Händchen sie in den ihren fühlen mußte? – Das war ebenso unmöglich.
   Während sie sich in solchen Zweifeln quälte, kamen Helmstedts nach Berlin. Vielleicht würde Gisi einen Ausweg finden! – Aber es war kein frohes Wiedersehen. Der Graf kränkelte, wollte Ärzte konsultieren; allerhand Kuren und Badereisen wurden ihm verordnet. »Wäre das nicht, so würde ich dir sogleich anbieten, dein Bübchen für dich zu hüten, bis ihr wiederkehrt,« sagte Gisi. – Aber es war ja so offensichtlich, daß ihrer selbst genug eigene schwere Sorgen harrten.
   Bei der Freundin Worte war in Ilses Erinnerung das Bild jener alten träumenden Florentiner Villa aufgestiegen, in deren Loggia die halbverwischten Worte » Ille mihi« standen – und der Gedanke zog ihr durch den Sinn: Dort vielleicht wäre Sicherheit, dort Ruhe und Frieden zu finden. – Aber solche Umkehr durfte sie Wolf nicht zumuten – nicht jetzt, wo sein Weg sich zum erstenmal zu ebnen begann, wo schöne Ziele ihm zu winken schienen!
   So reisten denn die drei zusammen, die drei, die zusammen gehörten – hin in das Land, dem, in langem Zuge, ganze Reihen von Völkern entstiegen sind, und in dessen stets neue Millionen gebärendem Brodeln, ein einzelnes gefährdetes kleines Menschenleben gar so geringfügig scheint.

 //-- * --// 
   Drückend heiß war diese Meerfahrt gewesen. Nachts konnten es die Reisenden nicht in der beklemmenden Luft ihrer Kajüten aushalten, sondern flüchteten vor der Schwüle auf das Verdeck, um etwas Kühlung zu suchen. Da sah man sie denn alle kampieren. Erst wenn an der Horizontlinie über dem bleiernen Meer das erste Tageslicht sich zeigte, stiegen sie wieder hinab in die dumpfige Tiefe des Schiffes – denn hier war die Sonne kein freundlich lichtspendendes Gestirn, sondern ein gefahrbringender Feind.
   Auch Ilse trug ihr Bübchen allabendlich auf das Verdeck und bettete es da. Oftmals in der Nacht beugte sie sich über das schlafende Kind und lauschte seinen Atemzügen, und dann wiederum wandte sie sich zur anderen Seite, wo Wolf lag, ob ihm nichts fehle. Und sie fühlte, daß ein unsichtbarer Passagier mit ihnen reiste, – das war die Angst in ihrem Herzen.
   Anfänglich schien es aber, als solle es ihnen in diesem neuen, seltsam fremdartigen Lande gut gehen. Wolf freute sich, zum erstenmal selbstständig zu sein und fühlte sich in seiner Arbeit wohl. Eifrig berichtete er über dies Völkergemenge, unter dessen scheinbar hoffnungsloser Ruhe ein dumpfes Grollen sich bereits zu regen begann, und dessen nur mit Widerwillen ertragenen weißen Beherrschern hier vielleicht einst eine Stunde der Not schlagen könnte, wo ihnen nicht Kraft und Muße für europäische Verwicklungen bleiben würde; die der Rüstung dieses gefährlichsten Rivalen Deutschlands innewohnende Schwäche vermochte Wolf gerade in diesem, einem Weltreiche gleichenden Kolonialbesitze zu erschauen, dessen gefährdetste Grenzstriche, die bereits in den ältesten Zeiten den Zug der Eroberer gesehen, nur spärlich besetzt und ungenügend verteidigt waren.
   Ilse aber freute sich, Wolf nach langer Zeit wieder so froh zu sehen, ihm das Interesse an allem, was ihn beschäftigte, in den Augen abzulesen.
   Und ganz wie der Vater, fand auch Klein-Wölfchen, daß es hier immer etwas zu schauen gab; ein riesiges Bilderbuch schien vor ihm aufgeschlagen, aber was er sonst nur gemalt gesehen, die Elefanten, Kamele und Affen, die waren ja hier alle wirklich lebendig. Und merkwürdige braune Menschen gab es, Männer mit hohem weißen Turban, Frauen, an deren Nasen silberne Ringe hingen – lauter Leute, die nur da zu sein schienen, um die vielen Wünsche kleiner weißer Menschenkinder widerspruchslos zu erfüllen. Ja, es war ein herrliches Land! Abends beim Einschlafen unter dem großen Moskitonetz dachte das Bübchen schon an all das Viele, was er am nächsten Tage tun wollte. Schade nur, daß man immer so heiß hatte, so müde war – man kam gar nicht recht dazu, all das Viele zu tun.
   Klein-Wölfchen wuchs so rasch wie die Farren, die nach der tropischen Regenzeit überall aus Mauerfugen und Baumstämmen hervorsprießen, als hätten sie es eilig, weil sie ja doch in der kommenden Dürre versengen werden. – Er war sehr dünn und sehr blaß geworden; an seinen Schläfen und Lidern schimmerte unter der weißen Haut ein Netzwerk bläulichen Geäders.
   Oft, wenn Ilse ihn anschaute, konnte sie kaum atmen; die Angst in ihrem Herzen war so groß geworden, daß sie nicht noch Platz darin zu haben schien. Es war, als müsse sie das Herz zersprengen.
   Und dann kam der Tag, wo der Arzt sagte: »Sie müssen das Kind nach Europa zurückbringen – sofort.«
   Aber ehe noch gepackt werden konnte, lag Klein-Wölfchen schon schwerkrank in dem Bettchen unter dem großen Moskitonetz. Nun war keine Zeit mehr mit ihm heimzukehren! Nein, eine andere Reise war es, die das Büblein wohl antreten würde, dorthin, wo vielleicht die eigentliche Heimat der weißen wie der braunen Menschenkinder liegt!
   Gleich von Anfang an hatten es die anderen Leute alle erkannt. Nur Ilse sah es nicht – oder vielleicht wollte sie es nicht sehen. Mit Wolf zusammen wachte sie all die langen Nächte an dem kleinen Bette, und weil die Krankheit sich länger hinzog, als sie es von anderen Kindern gehört, schöpften sie beide wieder Mut. Aber es war ja nur, daß ihr Kind ein so tapferes Bübchen war! Ganz Nerv und Rasse, wollte es sich nicht unterkriegen lassen, kämpfte lange mit dem furchtbaren unsichtbaren Etwas den ungleichen Kampf. Aber unerbittlich nahte die Stunde, wo die kleinen Kräfte zu Ende gingen. Kein Ringen war jetzt mehr. Ganz still lag Ilses Bübchen. Mager zeichneten sich die Kniee und Beinchen unter dem dünnen Laken ab. Ganz spitz geworden das herrisch gebogene Näschen, und um den Mund ein müder, weher Zug. Kein Kindergesicht mehr. Eine seltsame Ähnlichkeit mit Wolf, aber so viel älter und verzehrter, daß es das Herz zerriß, in dies kleine Antlitz zu schauen.
   Noch einmal hoben sich die bläulich geäderten Lider über den großen, tief eingesunkenen Augen, und Wölfchen sah seine Eltern an, die jeder eine seiner kleinen abgemagerten Hände hielten. Er sah sie mit demselben ernst aufmerkenden Ausdruck an, den er für alle besonders schwer verständlichen Erscheinungen seines kurzen Lebens gehabt, und den sie so gut an ihm kannten.
   Und doch wollte es ihnen nachher scheinen, als habe etwas ganz Neues, ein schmerzliches Anstrengen in diesem letzten Blick gelegen – als habe das Bübchen ihre Züge fest in sein schwindendes Bewußtsein prägen wollen, um sie mit sich zu nehmen – weit fort – in ein unbekanntes Land!
   In der Veranda hatten die braunen Männer mit weißem Turban und die Frauen, an deren Nasen silberne Ringe hingen, die ganze Nacht gekauert, lautlos erhoben sie sich nun, glitten davon wie Schatten. Draußen erbleichten die Sterne vor dem Licht kommenden Tages. Auf dem noch dämmernden Wege schritt ein Zug Kamele, mit wiegenden, wippenden Köpfen, gespenstisch vorüber – Wesen aus Klein-Wölfchens großem Bilderbuch – die würde er nun nie mehr sehen.
   Wie eigentlich die nächsten Zeiten verronnen waren, konnte sich Ilse später nie genau entsinnen. – Sie begriff wohl anfänglich kaum, was geschehen war, weil sie nicht begreifen konnte, daß so etwas geschehen dürfe. Aber mit jedem dahingleitenden Tage wuchs das Bewußtsein der Leere, die das Kind zurückgelassen hatte. Kleine, gleichgültige Dinge konnten oftmals die Erinnerung am stärksten heraufbeschwören, und wie durch graue Schleier sah sie dann alles; selbst Wolf schien in solchen Augenblicken im Nebel zu versinken. Eine große Müdigkeit überkam sie bisweilen, die Sehnsucht nach jenem geheimnisvollen Nichtmehrsein, das des Landes Priester in ihren Tempeln als letzte, höchste Erlösung vom Leid des Lebenmüssens priesen.
   In dieser Zeit ihres ersten Schmerzes traf plötzlich Taudien ein. Er hatte vor Monaten schon an Wolf geschrieben, daß er sie in diesem ihm noch unbekannten Lande besuchen wolle. »Da er seit dem Rückzug der deutschen Politik aus Zanzibar seine Lebenshoffnungen endgültig begraben und im schwarzen Erdteil nichts mehr zu suchen habe, wolle er resigniert sich nur noch darauf verlegen, in der Welt Umschau zu halten, was andere Nationen aus den Gebieten gemacht haben, die ihre Abenteurer und Pioniere einst, ohne viel nach Recht und Gesetz zu fragen, erobert und ihrem Lande zum Besitz aufgedrängt hatten.« – Aber Ilse war das alles ganz entfallen. Seit seiner Landung hatte Taudien bereits einen wochenlangen Ritt durch allerhand Gebirgsstaaten unternommen, von da kam er. Und wie Ilse ihn nun so wiedersah, auf dem buntscheckigen zottigen Pony, das ihm ein eingeborener Häuptling geschenkt, umgeben von einem Troß seltsam malerischer Gefolgschaft, die ihm allerhand Geräte, Zelt und Jagdbeute nachschleppte, da begrüßte sie ihn nur mit den Worten: »Ach, wenn er das hätte sehen können!«
   Taudien glitt sofort in das Leben der Freunde, als sei er immer da gewesen, und seine sonst etwas rauhe Art paßte sich merkwürdig gut dem Schmerz Ilses an – für echte, große Gefühle hatte er ja immer Verständnis. Als er aber einige Tage so still beobachtend verweilt, bat er Ilse an einem Nachmittag, wo Wolf zu arbeiten hatte, mit ihm spazieren zu gehen. Und nachdem sie lange unter den alten Deodaren dahingeschritten waren, auf deren Geäst graue Affen hockten, sagte Taudien plötzlich und beinahe barsch, als habe er mühsam einen Entschluß gefaßt: »Wolf macht mir Sorge – sein Wesen erinnert mich ganz an seine Art von damals in Afrika – da war er auch innerlich so zerwühlt, daß es die Krankheit dann leicht hatte, ihn niederzuwerfen.«
   Ilse schaute ihn an, erschrocken aus ihrer Leidversunkenheit erwachend. Und er fuhr fort: »Es mag grausam scheinen, daß ich Ihnen das so sage – aber – ich sehe ja, daß er solch beständiges Trauern nicht mehr lange ertragen kann – darum dürfen Sie sich Ihrem Kummer nicht so hingeben, gnädigste Frau – Sie müssen Wolf aufrecht erhalten – Sie sind ja im Grunde doch die Widerstandsfähigere.«
   Das war Taudiens Kur für Ilse gewesen. Und sie half ihr über diese steile Stelle des Weges. Ja, er hatte recht! Nicht hinzusinken galt es in erlösendem Erlöschen alles Willens, sondern trotzig weiter zu schreiten auf jenem glühend heißen Felsenpfade, wo jeder gerade die Last trägt, die ihn am schwersten dünkt.
   Mutig zwang Ilse ihr Denken und Sorgen ins Leben zurück, und sie gewahrte, daß Taudien recht gesehen, daß Wolf auf seine Art mehr vielleicht noch als sie gelitten hatte. Er war es jetzt, der ihrer bedurfte. Da wandte sie auf ihn all ihre gegenstandslos gewordene, wie verirrt suchende Mütterlichkeit. In seinem Antlitz erkannte sie ja auch bisweilen Klein-Wölfchens entschwundene Züge wieder – und wie sie einst in dem Kinde zuerst ihn geliebt hatte, so liebte sie nun in ihm zugleich auch die Erinnerung an das Kind.
   Aber durch die Strenge, die Ilse gegen sich selbst anwenden mußte, um ihren Schmerz niederzukämpfen und wieder lächeln zu können, damit Wolf sich daran freue und erstarke – durch diese äußerste Selbstüberwindung war etwas verschlossenes, oft beinahe Hartes in ihr Wesen gekommen. Und dabei regte sich ein Unwille in ihr gegen die Menschen, die sie einst hierher gesandt und ihr auf ihr Bitten so gleichgültig geantwortet hatten: »Es wird ja nicht lange dauern!« Für Klein-Wölfchen hatte es freilich nicht lange gedauert! – Unlogisch, aber begreiflich, machte sie jene für des Kindes Tod verantwortlich, und es kam ihr nun bisweilen vor, als habe sie ihnen eine gewaltige Gegenforderung zu stellen für das, was ihr genommen. Immer mehr und mit einer Art steigender Leidenschaftlichkeit richtete sie dabei all ihr Sinnen und Trachten auf Wolf, der ihr allein geblieben – auf seine Zukunft. Was sie aber früher sehnsüchtig und mit beinahe mystisch idealem Empfinden an Erfolg und Anerkennung für ihn erfleht, das, wollte sie dünken, könne sie nun als ihr gutes Recht verlangen. Er sollte, er mußte Ruhm und Ehren erwerben – das wenigstens war ihnen beiden das Schicksal schuldig.
   Und sie selbst tat alles, um dieses Ziel näher zu bringen. Sie, die übersprudelnde, leicht Begeisterte, ward klug und überlegt, suchte mit bewußter Voraussicht diejenigen zu gewinnen, die Wolf zu fördern vermochten; spornte ihn selbst an, jede Gelegenheit zu nützen, wo er sich bemerkbar machen konnte, und dabei doch jene unschädliche Farblosigkeit zu wahren, die dem Beamten in seinen Personalien jene neidenswertesten aller Epitheta einträgt: »leicht verwendbar« und »wird nirgends etwas verderben.«
   Bestrebt, ihr einstmaliges, sie belastendes Sonderschicksal aus der Erinnerung anderer zu löschen, waren Wolf und Ilse äußerlich allmählich beinahe banal-korrekt geworden. »Typische Diplomaten!« sagte, wer sie jetzt zufällig kennen lernte. – Innerlich aber waren sie zerwühlt von jener Unrast, die vom gegenwärtigen Posten immer schon auf den künftigen schielt, die in jedem Erreichten nur eine Übergangsstufe erblickt und fiebernd strebt nach möglichst hohem Ziele. – Auch dies vielleicht typisch.
   Ein Ziel wenigstens hatten sie dann wirklich bald erreicht. Wolf erhielt eine Gesandtschaft.
   Dieser neue Posten lag an der entgegengesetzten Ecke des großen Weltenschachbrettes, auf dem die Schicksal spielenden Großen der Wilhelmstraße die ihnen unterstellten Figuren hin und her schieben – scheinbar planlos – vielleicht aber geheimnisvollen Regeln und Erwägungen folgend.
   Manchmal aber, so hieß es, fuhr eine mächtigere Hand plötzlich mitten hinein ins Spiel, faßte diese oder jene Figur und rückte sie ganz unerwartet an besondere Stelle.
   Daß solches tatsächlich hier und da vorgekommen war, wurde in anderen Fällen verwertet, um manche Einwendungen und Klagen unangenehm Betroffener achselzuckend mit den geflüsterten Worten abzuschneiden: »nichts zu machen, mein Bester – Entschließung von oben!«
   Denn je höher einer steht, desto mehr läßt sich auf sein Konto schieben!
   In Wolfs Fall aber erschien es glaubwürdig, als ihn der Personalrat mit den Worten empfing: »Ihre letzten Berichte, lieber Herr von Walden, sollen Allerhöchsten Orts so gefallen haben, daß Sie, wie ich Ihnen wohl vertraulich mitteilen darf, Ihre jetzige Ernennung als Beweis dieser maßgebenden Zufriedenheit betrachten dürfen. – Gestatten Sie auch mir, Sie zu beglückwünschen, mein lieber Herr von Walden.«
   Nicht der wehmütige Duval mehr war es, der also sprach. Er, der mitleidsvollen Herzens so vielen ihre Versetzungen verkündet, war inzwischen selbst an jenen Ort »berufen« worden, für den alle Menschen, vom Anfang ihrer Lebenskarriere an, zu endgültiger Verwendung »in Aussicht genommen« sind.
   An seinem Platze in dem mit Personalakten überfüllten Zimmer waltete nunmehr der Geheime Legationsrat Dr. von Norbert. – Der hatte in einer langen Dienstlaufbahn mit so viel geheimen und ganz geheimen Dingen zu tun gehabt, daß es ihm zur Gewohnheit geworden war, nur im Flüsterton zu sprechen, und alle Angelegenheiten, auch solche, die abends bereits in den Zeitungen standen, als tiefe Geheimnisse zu behandeln; besonders wachsam aber achtete er darauf, daß völligste Verschwiegenheit über Revirements bewahrt wurde, bis sie offiziell »raus« waren, wie eine lebendig gewordene Akte mit der Aufschrift »streng vertraulich«, so wirkte Herr von Norbert.
   Seine erste Weisung an Wolf war: »Es wäre dem Chef erwünscht, daß Sie Ihren neuen Posten mit tunlicher Beschleunigung antreten.«
   Denn das war nun einmal behördliche Eigentümlichkeit, sogar Posten, die monatelang unbesetzt und wie vergessen gelassen worden, sobald ein Inhaber ernannt war, plötzlich für so wichtig zu erklären, daß der neu Ernannte gar nicht rasch genug hinkommen konnte.
   Mit der anbefohlenen Eile besorgte Ilse die für die neue Stellung erforderliche Ausrüstung, indessen Wolf trachtete, in den wenigen ihm gegönnten Tagen seine Kenntnisse über das Land, in dem er fortan wirken sollte, zu erweitern und auch zu erfahren, welche Ziele der deutschen Politik er dort eigentlich vertreten und fördern solle. »Informationen und Instruktionen holen« nennen das die Herren, die zu Aktenlektüre und kurzer Audienz bei den verschiedenen Chefs zur Wilhelmstraße wallen.
   Es ward aber Wolf nicht sonderlich viel gesagt – vielleicht gab es auch niemand, dem jene Ziele völlig klar waren. »Ein Posten von wachsender Bedeutung,« »ein Posten, aus dem sich was machen läßt,« und ähnliche verheißungsvolle Worte vernahm er von den Lippen eiliger Vorgesetzter, aber was zu machen sei und worin die Bedeutung lag, wurde nicht näher erörtert. Das würde sich ja alles an Ort und Stelle ergeben.
   Einer der Exzellenzen sagte ermahnend: »Auch mit der dortigen deutschen Kolonie müssen Sie und Ihre Frau Gemahlin sich zu stellen trachten – das ist nicht immer leicht und nicht jedes Diplomaten Sache – aber schon wegen all dem Getratsch der liberalen Presse über die allzu ausschließliche Verwendung von Adligen im diplomatischen Dienst muß es uns darauf ankommen, daß keinerlei Klagen über Exklusivität unserer Beamten laut werden.« – Dieser Herr wußte offenbar gar nichts von der bisherigen Laufbahn Wolfs und Ilses, die sich allerorten gerade unter ihren deutschen Landsleuten warme Freunde erworben hatten. Wolf aber war weise geworden; er zeigte nicht die schmeichelhaften Nachrufe aus seinem letzten Posten, die ihm gerade an dem Tage zugegangen waren. Er verbeugte sich nur und dankte ehrerbietig für den so kostbaren Wink, den er und seine Frau »zu beherzigen nicht verfehlen würden.«
   Am ergiebigsten, wenn auch nicht gerade ermutigend, erwies sich Wolfs Besuch bei den Herren, denen die Behandlung der Rechtsbeschwerden deutscher Interessenten im Auslande obliegt. Da war man auf den Staat, in den Wolf gesandt wurde, nicht gut zu sprechen. Stets, so wurde gereizt gesagt, gab es dort etwas zu reklamieren, und in dem, durch die Mißwirtschaft wechselnder Diktatoren, ausgesogenen Lande hielt es schwer, die Forderungen deutscher Gläubiger einzutreiben. Besonders viel Weitläufigkeiten verursachte eine Bahn, an der deutsches Kapital stark beteiligt war. Unermüdliche, eindringliche Ermahnungen des Gesandten würden da oftmals von nöten sein!
   Im ganzen bemerkten Wolf und Ilse bei diesem kurzen Berliner Aufenthalt einen neuen Ton in der Art, wie man ihnen begegnete, vielleicht war die Anerkennung, die Wolfs Berichte »oben« gefunden, bekannt geworden, oder es lag an dem Interesse, das ihr neuer Posten in manchen finanziellen Kreisen erregte – aber sie empfanden, daß die Aufmerksamkeit sich auf sie zu richten begann. In einigen Blättern erschienen Bilder von Wolf mit den üblichen Begleitworten, die ihn als »einen der begabtesten und zukunftsreichsten unter unseren jüngeren Diplomaten« priesen. Und auch die Verehrer, die sich Ilse nun doch mal erworben hatte, feierten Wolfs Ernennung etwas geräuschvoll als einen Triumph, und sprachen gelegentlich von ihm als »kommenden Mann«. – Dies alles erweckte in der Gesellschaft alte und neue Mißgunst, und auch dienstlich fand man, daß um diese Waldens ein bißchen viel Aufhebens gemacht werde; so folgte der Geheime Legationsrat Dr. von Norbert denn auch nur vertraulicher Weisung, als er, die Wimpern wie Geheimniswächter über die Augen senkend, mit gespitzten, schmalen Lippen den Rat flüsternd wiederholte: Der neue Gesandte möge nun doch wirklich möglichst rasch seinen Posten antreten.
   Kaum zu den nötigsten Vorbereitungen hatten Wolf und Ilse Zeit gehabt, noch war es ihnen möglich gewesen, Gisi zu besuchen, die ihren sterbenden Mann in einem Badeorte pflegte. Und Taudien, der mehr und mehr zum Weltvaganten geworden war und die Freunde eigentlich gleich begleiten wollte, mußte sich darauf beschränken, ihnen seinen Besuch für etwas später in Aussicht zu stellen.
   Am Tage, ehe die beiden nun abreisen mußten, begegnete ihnen zufällig in dem Restaurant, wo sie zwischen allerhand letzten Besorgungen zu Mittag essen wollten, ein Marineoffizier, Kapitänleutnant von Plenker, der auf einem der Kriegsschiffe gewesen war, die Wolfs vorletzten Posten besucht hatten, und der ihm seitdem eine freundliche Erinnerung bewahrte.
   Er beglückwünschte Walden zu der Ernennung auf seinen neuen wichtigen Posten, der so große Möglichkeiten enthalte, und den er persönlich wohl bald kennen lernen würde, da er zum Kommandanten des voraussichtlich in die dortigen Gewässer beorderten Schulschiffes ernannt worden sei. Dann fuhr er fort: »Na, jetzt wo Sie hinausgehen, da könnte vielleicht auch noch mal was aus unseren Hoffnungen dort werden.«
   Dann zog er seinen Stuhl an Waldens Tisch und begann leise und eifrig zu reden.
   Nachdem Herr von Plenker gegangen, sahen sich Wolf und Ilse erstaunt an, und Wolf sagte: »Davon hat man mir im Amt kein Wort gesagt.«
   Ilse aber, in deren Augen plötzlich wieder der einstmalige Glanz verzückter Begeisterung aufleuchtete, den sie hinter banaler Korrektheit zu verbergen gelernt, dachte mit innerem Jubel: »Aber das wäre ja herrlich! Endlich, endlich solch eine Aussicht für Wolf – und«, setzte sie hinzu, »für Deutschland!«
   Der Posten, zu dessen Antritt Waldens sich auf lange Seefahrt begeben hatten, wurde inzwischen von dem Legationssekretär, Baron Dedo von Lenval, verwaltet.
   Im Gegensatz zu anderen tatenlustigen und auszeichnungssüchtigen Geschäftsträgern war Baron Dedo, auf eine ihm eigene matte und müde Weise, hoch erfreut, als er erfuhr, daß sein neuer Chef demnächst eintreffen werde. Mochte der sich nun herumzanken mit den wechselnden, aber stets gleich unzuverlässigen Regierungen dieses eingebildeten und doch so kulturlosen Volkes! Mochte der auch sich auseinandersetzen mit der anspruchsvollen und nie befriedigten deutschen Kolonie! – Er selbst würde dann endlich wieder Muße finden, sich seinem eigentlichen Herzensberuf, dem Aquarellieren, zu widmen, wozu die vielen malerischen Winkel dieses gottvergessenen Tropennestes ja mancherlei Anregung boten. Jetzt wurde er ja immer wieder gestört, durch Anfragen der neugierigen Vorgesetzten in Berlin, Wünsche der unleidlichen Landsleute, oder auch durch Geschehnisse in diesem unruhigen Lande, bei denen selbst seinem beschaulichen Gemüt eine Berichterstattung nach Hause unvermeidlich erschien.
   Da aber, bei der ganzen Sinnesart der Eingeborenen, eine gewisse Schaustellung zur Aufrechterhaltung des Prestige nötig war, beschloß Dedo seufzend, den für den neuen Gesandten zu veranstaltenden Empfang mit dem deutschen Wahlkonsul zu bereden. – Zu diesem Zweck zog er einen frischen bastseidenen Anzug an, da ihn der am Morgen angelegte nicht mehr ganz makellos dünkte, setzte den weichen Panamahut auf und begab sich gähnend zu Herrn Großmann. Er hätte den Konsul auch zu sich bitten können, aber er zog es in solchen Fällen stets vor, Besuche selbst zu machen, da es dann in seinem Belieben lag, sie rasch abzubrechen.
   Dedo traf Herrn Großmann inmitten seines Ladens gerade damit beschäftigt, die Aufstellung der allerneuesten vom Zoll angekommenen Waren kritischen Blicks zu prüfen. Herr Großmann hatte, wie immer bei solchen Gelegenheiten, einen scharfen Zusammenstoß mit den Zollbeamten gehabt, die jede Zollabfertigung von Waren fremder Importeure als Gelegenheit ansahen, einen Raubzug zu Gunsten der gleich zerrütteten Landes– und persönlichen Finanzen zu unternehmen. Aber sein gerechter Zorn legte sich beim Anblick der vielen Dinge, die der Kommis geschickte Hände kunstvoll aufgebaut hatten, und die so recht angetan schienen, einen Pionier der Kultur mit Stolz und Zuversicht zu erfüllen. Da gab es dem heißen Klima entsprechende blaue und rosa Tüllkorsetts, Kämme aus Schildpattimitation, glitzernde Schmuckgegenstände, die auf schwarzes Glanzpapier geheftet waren; vor allem aber weiße Atlasfächer, bedruckt mit den bunten Bildnissen des deutschen Kaisers und des Landespräsidenten, und auch anderer, besser zueinander passenden Paare, wie Elsa und Lohengrin, Faust und Gretchen. Besonders anmutig und an die ferne Heimat mahnend erschienen aber Herrn Großmann die kleinen Blechschildhäuschen, die Streichhölzer bargen, und neben denen ein braver, ebenfalls blecherner Pudel stand, der mit dem Gewehr vor einem imaginären Vorgesetzten präsentierte. Um alle diese Gegenstände hatten die Kommis künstliche Blumenzweige zwanglos gruppiert, und in sinniger Nachahmung der Natur saßen zwischen diesen riesige grünwollene Laubfrösche, deren breite Rücken als Stecknadelkissen dienten. – Den Hintergrund des ganzen Aufbaues aber bildeten die deutsche und die Landesflagge, zu einer großen Rosette derart verschlungen, daß die deutsche möglichst klein erschien – denn Herr Großmann verkaufte nicht nur deutsche Produkte, sondern er trieb auch auf seine Art deutsche Politik, die, in der Absicht, es mit niemand zu verderben, sich ja mitunter in selbstauferlegter Bescheidung gefällt.
   »Guten Tag, Herr Großmann,« sagte der eintretende Geschäftsträger.
   »Mahlzeit, Herr von Lenval, Mahlzeit,« antwortete der Kaufmann, denn es war um die Mittagsstunde, und er hatte diese Begrüßungsformel von Norddeutschland her beibehalten. Dabei streckte er dem Geschäftsträger über den sie trennenden Ladentisch die Hand entgegen.
   Baron Dedo von Lenval war bei solchem Händeschütteln über Fettpuder, Lilienmilch und Tüllkorsetts hinweg immer noch ein bißchen zu Mute wie damals, wenn er als Attaché des Auswärtigen Amtes mit altmodisch sparsamen Tanten vom Lande deutschen Sekt trinken und zweiter Güte fahren mußte. Durch ein geschicktes Emporziehen der Stirnhaut, das unendlich blasiert wirkte, ließ er das Monokel aus dem Auge sinken, um all die da ausgebreiteten Gräßlichkeiten nicht gar so deutlich zu sehen, und legte dann seine wohlgepflegte Rechte, an der eine goldene Armkette sichtbar wurde, flüchtig in die breite Faust Herrn Großmanns.
   Nachdem Dedo den Zweck seines Kommens dargetan, antwortete Großmann: »Dem neuen Gesandten einen dem Ansehen des deutschen Reiches entsprechenden Empfang bereiten? Kann gemacht werden, versteht sich, soll geschehen! Die ganze Kolonie bring ich auf die Beine.« Und dann, sich plötzlich besinnend, setzte er vertraulich hinzu: »Aber nicht wahr, Herr von Lenval, Sie erwähnen dann auch gelegentlich mal dem Gesandten gegenüber meine bisherigen Verdienste ums Deutschtum hier draußen, von wegen …«
   »Ja, ja,« unterbrach ihn Dedo, »von wegen des Kronenordens IV.! – Ich kenne ja diesen an Größenwahn streifenden Ehrgeiz.«
   »Es ist ja nur der besonderen Umstände halber, Herr von Lenval,« plaidierte Großmann, »sehen sie – die Schwester meiner Frau hat doch den General Fernando Ramon geheiratet, und ich bin immer noch der simple Karl Großmann – da gäbe es mir doch ein gewisses Gegengewicht, wenn ich mich doch wenigstens Ritter eines Ordens nennen könnte – Sie müssen das doch begreifen.«
   »Aber wenn nun Ihr Schwager, der General Ramon, wie es ja allgemein heißt, wirklich nächstens Präsident der Republik wird – was werden sie da erst als Gegengewicht fordern?« fragte Dedo mit unterdrücktem Lachen.
   »Ach, Herr von Lenval,« antwortete Großmann, »von dem Glanz lebt dann eben die ganze Familie! – Und wissen Sie,« – er begann dabei ein Stück rosenroten Tarlatans zu entfalten und um eine Pyramide bunter Seifenstücke zu kunstvoller Draperie aufzubauschen – »als Schwager des Präsidenten könnte ich dann auch viel dazu beitragen, daß sich gewisse Wünsche hübsch in Frieden und Freundschaft mal erfüllen … Sie wissen doch? … wovon man hier so gelegentlich munkelt … und was damals den Herren Offizieren von der ›Unerschrocken‹ ja auch so sehr am Herzen lag? …«
   Und zwischen phantastisch anschwellenden rosigen Stoffwolken blinzelte er den Geschäftsträger bedeutsam an.
   Doch Dedo stand bereits an der Tür. »Stützpunkt? Kohlenstation?« rief er, »gräßlich! – Bester Herr Großmann, das ist ja alles bloß hiesiger Küstenklatsch! Daran denkt zu Hause niemand ernstlich – na, der neue Gesandte wird Ihnen das sicher auch ausreden.« – Und dabei enteilte Dedo dem Laden, so rasch es seine chronische Müdigkeit zuließ.
   Bald nahte der Tag, wo der neue Gesandte und seine Frau nach langer Seefahrt in dem fernen Lande eintreffen sollten.
   Am frühen Morgen, noch weit draußen auf offener See, hatte das Schiff, das sie trug, eine einsame Insel passiert. Oben auf der Brücke stehend, hatte Wolf die bläulich aus dem Wasser emporsteigenden Umrisse Ilsen gewiesen und dabei geflüstert: »Das ist die Santa Immaculata, von der Herr von Plenker sprach!«
   Da war der alte Kapitän an sie herangetreten und, ebenfalls auf die Insel starrend, hatte er gesagt: »Möchte nur noch so lange meinen alten Kasten führen, bis ich da mal unsere Flagge wehen sehe – an so manchen Küsten haben andere ihre Nester gebaut – nur wir nicht – gehen überall zu Gast – brauchen doch auch Docks, Kohlenstation, Stützpunkt. – Nicht wahr, Herr Minister?«
   Doch Wolf wehrte ab: »Dieser Weltteil dürfte für solche Pläne wohl der ungeeignetste sein.«
   »Ach, hier oder anderswo, die anderen gönnen uns ja nirgends etwas, so viel sie auch selbst haben,« brummte der Alte und schritt davon.
   Wenn es nun am Ende aber doch wahr werden könnte! sann Ilse nach, und in ihrer Phantasie waren alle politischen Hindernisse plötzlich wie durch ein Wunder hinweggewischt. Sehnsüchtig richteten sich ihre Blicke hinaus auf die Insel, die, einem blauen Phantom gleich, im Lichte verschwimmend, am Horizonte stand.
   Während der langen Seereise hatte Ilse Muße gehabt, den letzten eiligen Berliner Aufenthalt oftmals zu überdenken, und dabei war sie sich erst ganz bewußt geworden, wie manche Wegesschwierigkeit nunmehr überwunden war, und daß ein gewisses gesichertes Ansehen Wolf und ihr jetzt unbestritten gehörte. Ja, das hatten sie erreicht – durch viel Mühe und Opfer – und auch durch die bloße Macht der wie Stromeswellen vorübergleitenden Jahre, die, ganz sacht, aber unaufhaltsam, mehr und mehr von dem Felsen des Geschehenen abspülen und mit sich ins Meer des Vergessenen tragen. – Aber gerade in diesem Gefühl, daß sie solchen Erfolg eigentlich nur einem halben Vergessen und Verzeihen der Welt verdankten, lag für Ilses Wesensart ein Ungenügen, beinahe ein Stachel. – Wertverkündende Taten sollte ja das Leben enthalten! – Doch wie siegessicher sie dies auch zu Anfang des Weges gehofft, bisher hatte er keine Gelegenheit zu solcher Bewährung geboten. – Aber vielleicht würde hier auf diesem Posten die lang erflehte große Aufgabe endlich erstehen! Die Möglichkeit, eine dauernde Spur eigenen Erdenwallens zurückzulassen! – Ach, wünschte Ilse inbrünstig, wenn doch einst in dem großen Kontobuch, das jede Nation über ihre Kinder führt, stehen möchte: Diese Insel ward deutsch durch Wolf von Walden! – Und dabei spähete sie leuchtenden Auges hinaus in die blauende Weite – aber verschwunden schon war Santa Immaculata, eine kurze Fata morgana, wie so manches Eiland der Sehnsucht.
   Programmäßig verlief die Ankunft in der Hafenstadt, wo zum Empfang am Pier die Spitzen der deutschen Kolonie in glühender Sonne bereit standen. Mit völliger Unabhängigkeit des Geschmacks hatten sie die verschiedensten Kostüme gewählt, Gehrock mit schwarzen Handschuhen, graue Khakijacke, Smoking mit gelben Stiefeln, Frack sogar.
   Als erster begrüßte der bisherige Geschäftsträger die Ankömmlinge, lässig in weißen Flanell gekleidet, mit weichem seidenen Hemd und zerdrücktem Panama, sah Baron Dedo aus, als käme er eben von einem Tennisplatz – aber müde und sichtlich erleichtert, das Racket einem anderen übergeben zu können.
   Auch Großmann war zur Abholung in den Hafen hinabgekommen, und nachdem alle Vorstellungen erfolgt, ein Willkommenstrunk im deutschen Klub geleert und verschiedene Reden gehalten worden, ging es in des Konsuls und Dedos Begleitung per Extrazug durch die gebirgige Tropengegend zur Hauptstadt hinauf.
   Einige andere Deutsche hatten sich angeschlossen und, vom Frühschoppen zu lautem Patriotismus angeregt, redeten sie und Großmann auf Wolf ein: »Ja, diese steil aufsteigende Bahn, auf der sie die paar Stunden durch Urwalddickicht fuhren, die war ja nur eine Teilstrecke der großen Linie, die deutsches Kapital, deutsche Tüchtigkeit, deutscher Unternehmungsgeist zur Erschließung dieses großen zukunftsreichen Landes zustande gebracht hatten!«
   Zu Ilse gewandt, neben der er etwas abseits in einer Ecke des großen Salonwagens saß, bemerkte Dedo: »So können die nun stundenlang reden – als ob noch nie ein anderes Volk eine Bahn gebaut hätte! – Dies Protzen mit der eigenen Tüchtigkeit ist auch einer der Gründe, die uns allerorts so wenig beliebt machen.«
   »Aber,« sagte Ilse, »es ist doch auch wirklich schön, daß hier von Deutschen unter so schwierigen Verhältnissen eine so große Leistung vollbracht worden ist!«
   »Leistung? gnädige Frau!« wiederholte Dedo. »Ja, in technischer Hinsicht gewiß. Aber wenn man fragt: wozu? – da kann man wohl von dieser Leistung wie von so mancher anderen sagen, daß sie am besten unterblieben wäre. – Die Bahn ist für den Kulturstand des Landes zu früh gekommen und hat zu viel gekostet. Sie wird nur wenig benutzt und rentiert daher nicht – und wir haben fortwährende Beschwerden über das Ausbleiben der von der hiesigen Regierung garantierten Zinszahlungen. – Na, Herr von Walden wird bald genug mit den Folgen dieser Leistung deutschen Unternehmungsgeistes zu schaffen bekommen!«
   »Ach, Herr von Lenval,« entgegnete Ilse in unerschütterter Zuversichtlichkeit, »meinem Mann ist gerade die Schwierigkeit einer Aufgabe das Anziehende.«
   Programmäßig verlief dann auch der Empfang in der Hauptstadt. Da standen ebenfalls die Spitzen der deutschen Kolonie in der schmierigen Bahnhofshalle, wo stets Bananenschalen und zerkaute Stücken Zuckerrohr herumlagen, und es nach Vanille roch. Bewillkommende Worte wurden geredet, während eine Kapelle unentwegt auf Blechinstrumenten das »Heil Dir im Siegerkranz« dröhnend erschallen ließ. – Von Seiten der Landesregierung hingegen geschah nichts, um der Veranstaltung weiteren Glanz zu verleihen.
   Bei allem, was vorging, stand Dedo wie überwältigt von Müdigkeit und ganz zusammengesunken unter der Last der Langweile. Das Monokel hatte er schon längst durch ein blasiert wirkendes Emporziehen der Stirnhaut aus dem Auge fallen lassen, und er sah aus wie ein Pferd, das im Stehen schläft.
   Erst als eine gaffende und recht wild verwegene Menge zerlumpter Bevölkerung immer dichter heranzudrängen begann, schien er plötzlich aufzuwachen. Das Monokel saß auf einmal wieder am Auge, und Ilse den linken Arm bietend, und sich selbst vor sie schiebend, bahnte er ihr, scheinbar ganz lässig, mit dem Stöckchen, das er in der Rechten trug, einen Weg durch die Knoblauch ausdünstenden Knäuel heißer, brauner, stier starrender Menschheit. – Als er sich dann abends von Waldens empfahl, sagte er: »Der wilde Festesrausch wäre hiermit wohl erledigt – nun dürften voraussichtlich die üblichen Klagen und sonstigen Verdrießlichkeiten wieder einsetzen.«
   Diese Prophezeihung erfüllte sich, und als Taudien, seinem Versprechen gemäß, mit einem der nächsten Postdampfer eintraf, fand er Wolf schon mitten in unerquicklichen Verhandlungen.
   Einer der üblichen Bürgerkriege wütete gerade in einer entlegenen Provinz des Landes. Ein eigentliches Wüten war es zwar kaum zu nennen, da auf beiden Zeiten nie mehr als ein paar Kämpfer verletzt wurden, während sich die übrigen durch weise Flucht ihren Parteien erhielten – immerhin hatten diese Zusammenstöße genügt, um die Kaffeeplantagen dort angesiedelter Deutschen zu zerstören. Wolf mußte protestieren und für die betroffenen Landsleute Entschädigung verlangen; aber er erhielt die Antwort, für die Taten der Insurgenten könne die Regierung der Republik nicht verantwortlich gemacht werden.
   Die Regierung war ja auch tatsächlich nicht gut dran, und die Entrichtung irgendwelcher Entschädigungen wäre ihr schwer gefallen – denn die öffentlichen Kassen waren wiederum, wie so oft in diesem Lande, auf geheimnisvolle Weise geleert. Manchmal fehlte es sogar an Mitteln, um auch nur die monatlichen Gehälter und Besoldungen der Beamten und Soldaten zum richtigen Termine auszuzahlen. An solchen Tagen war es dann ein bekanntes Schauspiel, den Finanzminister in die Magazine der fremden Kaufleute wandern zu sehen, um mit ihnen, über den Ladentisch weg, eine kleine momentane Anleihe zu negoziieren. – »Buenos amigos« waren dann plötzlich diese ausländischen, sonst von indianisch-spanischem Hochmut gern übersehenen Geschäftsleute, und der simple Karl Großmann wurde bei diesen Gelegenheiten zwischen zwei abrazos »muy querido Don Carlito« genannt.
   Bei diesen kleinen Verlegenheiten halfen denn auch wirklich die fremden Kaufleute oftmals aus, in dem Wahne, sich so späteres Wohlwollen und künftige Lieferungsbestellungen zu sichern. – Aber eine ganz anders große und schwierige Frage war es mit den Zahlungen für die garantierten Zinsen der Bahn, die die Regierung halbjährlich aufbringen sollte. Da vermochten die gefälligen ausländischen Kaufleute nicht Hilfe zu leisten!
   Die Pünktlichkeit dieser Zahlungen endlich durchzusetzen war demnach der schwierigste Punkt, über den Wolf zu verhandeln hatte.
   Die große Finanzgruppe, die den Bau jener Bahn unternommen hatte, nahm in Berlin eine mächtige Stellung ein und setzte all ihren Einfluß daran, eine wirksame Pression gegen die säumigen Schuldner zu veranlassen. Dabei wiesen die Finanzherren darauf hin, daß das Land durch seinen natürlichen Reichtum sehr wohl imstande wäre, die versprochenen Zinsen aufzubringen, daß aber die durch Zölle und Steuern einlaufenden Staatseinnahmen in die Privattaschen der jeweilig an der Regierung beteiligten Parteiführer abflössen. – Durch die von so maßgebender Seite vorgebrachten Beschwerden und durch die Fruchtlosigkeit aller bisherigen Reklamationen waren die mit der Vertretung deutscher Rechtsansprüche im Auslande betrauten Herren des Ministeriums allmählich in eine nervöse Ungeduld versetzt worden. So wurde die Sprache in Berlin immer drängender, und Wolf erhielt den Auftrag, die renitente Regierung in schärferem Tone an ihre Verpflichtungen zu mahnen. – Als aber auch darauf all seine Schritte nichts nützten, mußte er in den ihm zugehenden Erlassen die Andeutung lesen, daß bei mehr Energie und größerer Geschicklichkeit des Gesandten wohl bessere Erfolge zu erwarten gewesen wären. – Die Gereiztheit über eine ziemlich aussichtslose Lage machte sich, wie so oft, Luft durch Ärger gegen den eigenen Beamten.
   So zogen sich mehrere Monate hin, und Wolf glaubte aus den auf seine Vorstellungen erfolgenden Antwortsnoten der Regierung der Republik sogar eine gewisse mißachtende Unbekümmertheit herauszulesen, als wage dieser halb zivilisierte Staat anzudeuten, daß von seinem großen Vaterlande ja doch nicht viel zu fürchten sei. – Die anfänglich rein materielle Frage war allmählich eine des Prestige geworden, besonders auch in den Augen der gespannt zuschauenden Vertreter der anderen Länder. Und Wolf sah wohl, daß eigentlich ein Exempel statuiert werden müsse, sagte sich aber doch gleichzeitig, daß die dazu erforderlichen Maßnahmen gerade hier schwerlich angewandt werden könnten, da dieser Weltteil für europäische Mächte bekanntlich als tabu gilt.
   Da plötzlich erhielt Wolf zu seiner Überraschung die telegraphische Mitteilung, daß in einigen Tagen S. M. Schulschiff »Schill« und kleiner Kreuzer »Zieten« in den dortigen Gewässern eintreffen würden. »Er solle den Eindruck, den diese Machtentfaltung dort an der Küste hervorrufen würde, dazu ausnutzen, um die schwebenden Forderungen durchzusetzen, wobei er andeuten könne, daß seine hohe Regierung es bedauern würde, wenn sie gezwungen werden sollte, zur Erreichung ihrer Rechtsansprüche über den Weg freundschaftlicher Vorstellungen hinauszugehen.«
   »Gräßlich!« sagte Dedo, nachdem er dies Telegramm mit Wolf dechiffriert hatte, »nun auch noch Marine!«
   Taudien aber, der kürzlich von einem längeren Ausflug im Lande in die Hauptstadt zurückgekehrt war, bemerkte: »Mir will die Lage hier gar nicht gefallen! An der ganzen Küste, bei Einheimischen und Fremden, wird gemunkelt, wir trieben diese ganze Zinszahlungsfrage überhaupt nur auf die Spitze, um einen Vorwand zu militärischem Einschreiten zu finden, und immer wieder werden dabei unsere angeblichen Absichten auf die Insel Santa Immaculata erwähnt. – Die Vertreter derjenigen Nation aber, die überall auf Erden Feindschaften gegen uns erwecken möchte, sind am eifrigsten dabei, solche Gerüchte zu verbreiten, weil sie wohl wissen, daß sie damit den Argwohn der großen nordischen Republik auf uns lenken werden. – Wenn jetzt nur nicht irgendeine Unüberlegtheit bei uns geschieht! – Zu wollen ist hier ja doch nichts für uns, – dafür gab es einst in anderen Weltteilen andere Chancen – aber die haben wir ja gründlich versäumt!«
   Und Taudien versank in bitteres Grübeln über verlorene schwarze Reiche, deren Erwerbung er einst seines Lebens beste Jahre geweiht.
   Wolf war durch die Worte des Freundes ganz besonders betroffen, weil sie die in ihm selbst schon aufgestiegenen Bedenken noch bestärkten.
   Er entsann sich dabei auch, daß der Vertreter jener so gern Zwietracht säenden Macht ihm selbst vor kurzem in insinuierendem Tone gesagt hatte: »Meine Regierung wird Ihnen gewiß keine Schwierigkeiten machen, wenn Sie hier etwa ein Faustpfand ergreifen wollen.«
   Es waren schwere Stunden der Sorge und Unruhe, die Wolf in der folgenden schwülen Nacht durchwachte. Sein ganzer Lebenswunsch war es ja gewesen, einmal an einer der großen Aktionen beteiligt zu sein, wo es sich erweist, ob Deutschlands eigenes Kraftbewußtsein und sein äußeres Ansehen hinreichend stark sind, um auf fernes, überseeisches Gebiet seine Macht zu erstrecken. Aber, wie auch Taudien, hatte Wolf dabei an ganz andere Länder gedacht! – Und nun, wo es schien, als ob ihm endlich solche Gelegenheit geboten werden solle, von der er früher geglaubt, daß sie ihn mit Begeisterung erfüllen werde, war es eine, vor der ihn die innere Stimme warnte.
   Als das erste Licht des neuen Tropentages aufging, hatte Wolf nach schwerem Kampfe es als seine Pflicht erkannt, nach Berlin zu drahten, um seine Befürchtungen auszudrücken, daß bei einem etwaigen bewaffneten Eingreifen neben der indianischen Republik noch eine ganz andere Macht als Gegner Deutschlands auftreten würde.
   Einige Tage darauf traf in der Hauptstadt der Republik die Nachricht ein, daß vor Santa Immaculata zwei deutsche Kriegsschiffe erschienen seien, die dort auffälligerweise Vermessungen vorgenommen hätten.
   Die Aufregung über diese Nachricht hatte sich noch nicht gelegt, als auch schon die beiden Schiffe in denselben Hafen dampften, wo Wolf und Ilse einst gelandet waren. Freilich nur ein Schulschiff und ein kleiner Kreuzer, der sich als recht alter Holzkasten erwies. Aber was schadete das, auch davor sollten die Halbwilden schon Achtung bekommen! Die Stimmung war hoch, die Begeisterung wogte wie eine erregte See. Von den beiden Kapitänen an bis zum jüngsten Kadetten hatte jeder die Empfindung, daß nachdem langen Küstenbummeln und dem Ausspähen nach schutzbedürftigen Landsleuten nun endlich der Moment der wahren Tätigkeit kommen solle, daß man jetzt praktisch würde anwenden können, was in endlosen Unterrichtsstunden theoretisch erlernt worden, daß die hohe Stunde des Gebens geschlagen habe. – Und Ilse ging es ganz so wie all den künftigen Seehelden; auch sie hatte diese Empfindung, voll bewußt des Lebens hohe Stunde erreicht zu haben, die Stunde, die Wolf endlich zur Geltung bringen würde.
   Von der hoch gelegenen Hauptstadt fuhr Wolf frühmorgens hinunter an den Hafen, holte Kapitän von Plenker vom Schulschiff »Schill« und Kapitän Boekerschlamm vom »Zieten,« sowie die Flaggleutnants und wer sonst an Offizieren auf den Schiffen zu entbehren war, ab, und brachte sie hinauf in die Residenz.
   Es war ein ganz stattlicher Zug!
   Ilse hatte es möglich gemacht, sämtliche Herren in der Gesandtschaft aufzunehmen.
   Es war ein verwittertes altspanisches Palais, dessen nach der Straße gekehrte Außenseite, wie so manche Bauten aus den kämpfereichen Konquistadorentagen, etwas finster Trotziges hatte durch seine eng vergitterten Fenster und die mit Zinnen gekrönten Dächer. Im Inneren dagegen mündeten die Gemächer auf eine breite schattengewährende Veranda. Diese lief rings um einen weiten sonnendurchfluteten Hof, in dessen Ecken vier riesige, leuchterartig steife Araukarien emporragten. In der Mitte des Hofes aber befand sich ein langes achteckiges Wasserbecken, auf dessen grauer steinerner Einfassung ein einsamer weißer Pfau saß. – Regungslos und selbst wie eine architektonische Verzierung wirkend, konnte er stundenlang in die stille Wasserflut blicken, auf deren Grunde blauweiße Kacheln schimmerten; nur manchmal hob er den Kopf und ließ einen unheimlich rauhen Schrei, gleich einem Mahnruf, ertönen. – Hinter dem Hause erstreckte sich ein weiter verwilderter tropischer Garten. – Als die militärischen Gäste eingezogen waren, kam es Ilse vor, als befände sie sich in einer Festung; die Belagerung von Götz von Berlichingens Burg und ähnliche klassische Reminiszenzen fielen ihr ein. Ganz seltsam schien es, daß das banale, diplomatische Leben so aufregende Stunden enthalten könne, aber ihre Seele wuchs mit diesen neuen Aufgaben, und sie fühlte, daß sie an der Weltgeschichte mitarbeitete – wenn sie auch nur den schwarzen Hausmädchen half, für die Gäste die Zimmer zu richten!
   Die jüngeren Leutnants wiederum und die Kadetten hofften von ganzem Herzen, daß die letzten diplomatischen Schritte, die der Gesandte nunmehr bei der störrischen Regierung tun wollte, trotz der ihnen Nachdruck verleihenden militärischen Gegenwart erfolglos bleiben würden – denn dann mußte doch die Losung heißen: Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Der Gesandte und seine Frau würden sich dann auf eines der Kriegsschiffe begeben müssen, und der Leutnants und Kadetten glorreiche Aufgabe würde es sein, ihre schöne Landsmännin zu verteidigen, unter ihren Augen zu siegen, und wenn nötig, zu sterben. – Und bei der bloßen Eintreibung der Geldforderungen einiger Finanzleute durfte es dann doch nicht bleiben, oh nein, zum mindesten mußte eine Flottenstation für Deutschland dabei herauskommen!
   Unmittelbar nach ihrer Ankunft machte Wolf mit den Offizieren Besuche bei seinen Kollegen, sowie bei den einheimischen Ministern und stellte sie auch dem Staatsoberhaupte vor. In mehreren mit Maultieren bespannten Wagen fuhren sie durch die holprigen Straßen. Mit großen schwarzen Augen und aufgerissenen Mäulern, in denen die weißen Zähne blitzten, starrte die braunhäutige zerlumpte Landesjugend dem ungewohnten Schauspiel nach. Die erwachsene Bevölkerung verhielt sich gleichgültig, die Aufregungen häufiger Revolutionen hatten offenbar abstumpfend auf sie gewirkt; nur gelegentlich fiel ein Fluch über die Fremden im allgemeinen.
   Die lebhaftesten Wirkungen hatte die Rundfahrt auf den Geschäftsbetrieb der anderen Gesandtschaften. In ihren Kanzleien, wo sonst hinter herabgelassenen Jalousien die glühend heißen Nachmittage in langen Rohrstühlen verträumt wurden, herrschte eine fieberhafte Tätigkeit; lange Telegramme wurden aufgesetzt und chiffriert, um in alle Länder die Kunde der großen Begebenheit gelangen zu lassen. Für einige Stunden hielt die entlegene Stadt, die kein eigenes Leben besaß, die ganze übrige Welt in Atem.
   Am Nachmittag desselben Tages begab sich Walden in Begleitung seines Legationssekretärs, des Baron Dedo von Lenval, noch einmal auf das Ministerium des Auswärtigen und gab dort eine Note ab, deren Inhalt dem ihm von zu Hause erteilten Auftrag entsprach.
   Walden hatte kein Wort mehr geschrieben, als ihm telegraphisch befohlen worden war; als er aber die Note dem Minister überreichte, hatte er dennoch ein gewisses beklommenes Gefühl – vielleicht wirkte diese Mahnung nun endlich, und es ging alles glatt, – aber wenn nicht? – dann blieben als ultima ratio ein alter Holzkasten und das kleine Schulschiff! – seltsam, seltsam, dachte Walden, man mußte zu Hause plötzlich sehr schneidig geworden sein! Er persönlich war ja gedeckt durch seine Instruktionen – aber – wenn man sich daheim nur nicht versah, und vor allem: wenn man sich nur vorher versichert hatte, daß keine fremde Einmischung zu befürchten war! – Am Morgen bei der Rundfahrt war es nämlich Wolf erschienen, als ob der Empfang auf einer der Gesandtschaften sehr kühl gewesen sei, jener Gesandtschaft, die den riesengroßen Staatenbund repräsentiert, der seit einigen Jahren in die Reihe derjenigen Mächte aufgerückt ist, vor denen man sich fürchtet.
   Wolfs Sorgen wären noch viel größer gewesen, hätte er sehen können, daß bald nachdem er dem Minister des Auswärtigen seine Note übergeben hatte, dieser sich auf eben diese Gesandtschaft begab, dort in langer Verhandlung verblieb, und daß der betreffende Gesandte hierauf eine rege telegraphische Tätigkeit entwickelte.
   Wolf und Ilse widmeten sich während des nächsten Tages ihren Marinegästen und geleiteten sie auf das Fest, das ihnen zu Ehren von ihren Landsleuten abends veranstaltet wurde. Die Landsmänner und Landsmänninnen waren ja erfreut, die Herren Offiziere begrüßen zu können, und die jugendlichen Gesichter der Kadetten appellierten an manches mütterliche Herz – nur der Zweck des Kommens dieser Gäste erregte ein gewisses Mißbehagen. Du lieber Gott, schließlich würde die Forderung der Finanzgruppe ja mal bezahlt werden! Warum die Leute so drängen, bei denen jetzt in der Revolutionszeit das Geld knapp war? Ein bißchen Schutz, gelegentliches Reden von der heimatlichen Flagge, die auch ihre fernsten Kinder noch deckt, war ja recht schön, so an großen nationalen Festtagen beim Glase Sekt – aber dies war doch etwas zu drastischer Schutz, das konnte verhaßt machen, den ohnedies schwachen Handel stören, jenem gefährlichsten Konkurrenten dagegen nur nützen, der bereits mit den ihm geläufigen Verdächtigungen den spanisch-indianischen Stolz gegen die Deutschen aufzuhetzen begann. – Herr Großmann, der, wenn erst sein Schwager Präsident geworden sein würde, eine Kohlenstation gern (hübsch friedlich und durch freundliche Verhandlungen über den Ladentisch weg) erworben hätte, vertrat gleichfalls diese Anschauung. Spät am Abend sagte er zu dem von den Vergnügungen dieses Festes ganz erschöpften Dedo: »Wenn unser vortrefflicher Herr Gesandter uns da nur nicht in eine Patsche hineingebracht hat!« Worauf Dedo aber mit einer an ihm ungewohnten Energie erwiderte: »Lieber Herr Großmann, in solchen Augenblicken spricht man überhaupt nicht von Patsche.«
   Und Taudien, der dabei stand, sagte achselzuckend: »Ob es klug war, diese ganze Aktion einzuleiten, erscheint auch mir sehr fraglich, aber das steht fest, einen Rückzug darf es jetzt nicht geben, denn deren haben wir ja leider allmählich schon zu viele aufzuweisen, und solche wiederholte Blamagen würden unser Ansehen in der Welt derart schädigen, daß Handel und Industrie darunter schließlich auch leiden müßten.«
   Ilse hatte während des ganzen Abends gefühlt, daß sie in nicht sympathisierender geistiger Atmosphäre atme. Auch auf ihr lastete es wie eine Beklemmung: Was würde nun wohl werden? – sie lag dann die ganze lange, heiße Nacht wach unter dem Moskitonetz. Die Türen der Veranda standen weit offen, und sie hörte, wie draußen im Garten die Palmenblätter im Frühwind zu knistern begannen, und der weiße Pfau seinen ersten heiseren Schrei, einem Mahnruf gleich, erhob. Der Morgen des Tages brach an, der nun wohl die Entscheidung bringen mußte. Und im blassen Zwielicht faltete Ilse die Hände: »Ach, daß es etwas Großes und Schönes werden möge, für Wolf – und fürs ferne Vaterland!«
   Niemand auf der Gesandtschaft vermochte während dieses Tages sich zu einer Beschäftigung wirklich zu sammeln. Man stand umher und wartete, jeden Augenblick konnte ja die Antwort der Regierung der Republik eintreffen. Frühstück und Lunch waren willkommene Unterbrechungen des nervenangreifenden Zustandes. Klingelte es an der Türe, so fuhr man zusammen. Kein Gespräch wollte in Gang kommen, immer wieder stockten die Unterhaltungen, und dann hörte man im allgemeinen Schweigen einen ausrufen, was auf aller Gemüter lastete: »Wenn doch endlich die Antwort da wäre!«
   Nachmittags unternahmen ein paar der jüngeren Offiziere einen kleinen Gang durch die Stadt. Als sie heimkehrten, berichteten sie, daß ihnen johlende Straßenjugend gefolgt sei. Wirklich sah man durch die vergitterten Fenster auch bald eine Rotte zerlumpter, jugendlicher Strolche, die sich der Gesandtschaft näherten. Doch plötzlich war Landespolizei in der Straße gewesen, niemand hatte gesehen, wo sie auf einmal hergekommen war. Vor ihr zogen sich die Demonstranten schleunigst zurück, und von da an patrouillierte die Polizei regelmäßig die Straße ab; – bei dem Klang ihrer langsam näher kommenden und dann wieder verhallenden Schritte war Ilse nicht mehr wie in einer Festung, sondern wie in einem Gefängnis zu Mute. – Langsam strichen die Viertelstunden.
   Zum Nachmittagstee hatte man sich im Garten vereinigt, und jeder begrüßte den anderen: »Nun noch immer nichts?« »Nein, noch keine Antwort.«
   Da sagte Kapitän Boekerschlamm im mecklenburgischen Dialekt, der in großen Momenten immer bei ihm zum Durchbruch kam: »Na, nach einer gewissen Zeit ist keine Antwort auch eine Antwort. Und dann kann ja morgen früh unsere Antwort sein: Klar zum Gefecht.« – Das war brav gefühlt und brav gesprochen, denn niemand wußte besser als Kapitän Boekerschlamm, daß der Feind, so elend er war, doch ein paar Schiffe besaß, die es mit dem alten Holzkasten allenfalls aufnehmen konnten.
   Wolf schaute von Zeit zu Zeit verstohlen auf die Uhr; nicht nur, daß von der Regierung der Republik keine Antwort auf seine Note erfolgt war, aber er hatte auch auf die telegraphische Anzeige, daß er sie abgegeben und sich weitere Instruktionen erbäte, aus Berlin nichts mehr gehört. Er war schon seit seiner warnenden Depesche ohne alle Nachricht.
   Zum Diner an diesem dritten Abend waren einige fremde Gesandte sowie Taudien zu Waldens geladen. Man war froh des Vorwandes, Toilette machen zu müssen, um sich zurückziehen zu können, denn immer bedrückender lastete es auf allen. – Ilse hatte den ganzen Tag in diesem Lande mangelhafter Dienstboten viel für den großen Haushalt zu bedenken gehabt, aber auch neben ihr hatten bei allem, was sie tat, greifbaren Wesen gleich, die Fragen gestanden: Was wird geschehen? werden sie gutwillig nachgeben? oder nicht? und was dann?
   Jetzt stand Ilse, nachdem die Marineherren in ihre Zimmer gegangen, noch einen Augenblick allein mit Wolf im Garten, wie oft sollte sie später an diesen Augenblick zurückdenken! – Die winzigen Kolibris schossen surrend an ihr vorüber und gruben die langen spitzen Schnäbel und die ganzen schillernden Köpfchen in die purpur– und orangefarbenen Canablüten. Das Surren der Kolibris, das Zirpen der Zikaden, waren die einzigen Geräusche, sonst war es so still um sie her, als ständen sie nicht in einem Stadtgarten, sondern in einer einsamen, dem Urwald abgerungenen Hacienda. Der Himmel war noch ganz von Licht durchflutet, doch aus der Erde wuchsen schon abendliche Schatten empor, und mit ihnen erhoben sich die süß betäubenden Düfte, die nachts in den Tropen aus dem feuchten, keimerfüllten Boden steigen, gleich zärtlichen Händen, die streicheln und wiegen und gefangen halten. In der zunehmenden Dunkelheit leuchtete noch, wie magisch, die eine Wand des Hauses, die ganz von violetten Bougainvilliers überwachsen war, und man ahnte, daß davor Jasmine, Heliotrop, Orangen, Geisblatt und die weißen Glocken der Florifundien in ungeahnter Fülle blühten, wie eine große Symphonie der Düfte wehte es durch die Luft.
   Wolf und Ilse atmeten auf in dieser ersten kleinen Ruhepause, die ihnen der Tag brachte. Doch ein Gärtner kam auf sie zu und fragte Ilse, wo er die hellgrünen Papierlaternen anbringen müsse, die nach dem Diner im Garten angezündet werden sollten. – Ilse ging mit dem Gärtner, ihm die Stellen an den federnden Bambuszweigen und den Lianen, die die Palmen verbanden, zu bezeichnen, und während dessen trat Wolf ins Haus zurück. – Als sie vom Garten zurückkehrte, fand sie ihn in seinem Arbeitszimmer vor dem geöffneten eisernen Schrank stehen.
   »Ich will den Chiffrekasten mit hinaufnehmen, sagte er, »vielleicht kommt doch noch vor dem Essen etwas von zu Hause. Ja, und jetzt ist es wohl Zeit, daß wir uns anziehen.«
   Sie gingen hinauf. – Und auch daran sollte sich Ilse später oft erinnern, wie sie, als sie fertig angekleidet gewesen, noch einen Augenblick vor dem Spiegel gestanden und sich einen Zweig goldbrauner Orchideen angesteckt hatte, die zur Farbe ihrer Haare und großen Augen harmonisch stimmten. – Ein bißchen blaß und durchsichtig war auch sie freilich geworden, während der Tropenjahre – weniger vielleicht als Wolf – und es war doch immer noch ein reizvolles Bild, das ihr da entgegen lächelte – etwas Heimatluft würde die frühere Frische rasch zurückzaubern, vor allem aber Wolfs Erfolg – und der stand ja nun sicher dicht bevor, zum Greifen nahe! – Ach schön, schön war das Leben mit all seiner spannenden Aufregung und seinen großen Zielen!
   So trat sie strahlend in ihres Mannes Ankleidezimmer, der schon auf sie wartete. – Da klopfte es an die Türe. Ein Diener überreichte dem Gesandten ein Telegramm. Er riß den Umschlag auf.
   »Ach, endlich! von zu Hause!« rief Wolf erleichtert aus, »gut, daß ich den Chiffre gleich mit rauf nahm! Hilf mir Ilse, dann können wir es noch rasch dechiffrieren, ehe die Gäste kommen! Es ist nicht sehr lang.«
   Sie kniete auch schon auf einem Taburett und schlug im Dechiffrierbuch, das sie gegen den Leuchter auf seinem Toilettentisch stützte, die Zahlen nach, die er ihr aus dem Telegramm vorlas, und deren Übersetzung er dann gleich mit einem Bleistift unter die Ziffern schrieb.
   »013« diktierte Wolf.
   » Non va‘eur« antwortete Ilse.
   »580.« »Im.« »6034.« »Interesse.« »1313.« »des Dienstes.« »607.« »und.« »157.« »auf höchsten Befehl.«
   Nun sah Wolf mit in das Buch hinein, es ging ihm nicht rasch genug, und es war ein so eigentümlicher Anfang! Mit zitternden Händen, immer hastiger die Seiten nachschlagend, lasen sie nun zusammen weiter: »werden Euer Hochwohlgeboren von Ihrem bisherigen Posten enthoben und wollen sich aus Gesundheitsrücksichten, nachdem Sie die Geschäfte dem Legationssekretär Baron von Lenval übergeben haben werden, sofort von dort auf längeren Urlaub begeben.«
   Sie waren beide ganz fahl geworden und sahen sich regungslos mit großen Augen an. Dann plötzlich, als müsse sie sich an etwas halten, griff Ilse mit beiden Händen nach des Mannes Schultern; mit völlig veränderter Stimme, wie ein Kind, das sich fürchtet, schluchzte sie einmal laut auf: »Wolf, Wolf, was bedeutet das denn?«
   Und er konnte ihr darauf nur mit einer anderen Frage antworten, die er immer wieder vor sich hinsprach: »Aber warum denn nur? warum denn?«
   Durch das offene Fenster wehte der Abendwind herein, und das Licht auf dem Toilettentisch erlosch. In dem dunklen Zimmer standen nun die beiden Menschen dicht aneinander gedrückt; sie sprachen jetzt kein Wort, aber sie hielten sich einer am anderen fest, in der gemeinsamen Angst vor allem, das nicht sie beide war, vor all dem Finsteren, Unheimlichen, Unverständlichen, das in dieser Stunde heimtückisch die Krallen in sie schlug.
   Da klopfte es, und sie fuhren auf und hatten die Empfindung, eine ganze Ewigkeit so gestanden zu haben. Derselbe Diener, der vor einigen Minuten das Telegramm gebracht hatte, stand wieder an der Tür und meldete: »Die Herren Offiziere sind im Saal versammelt, und die ersten Wagen biegen eben in den Garten.«
   »Wir kommen sofort,« antwortete Wolf. Mechanisch verschloß er den Chiffrierkasten in eine Schublade, faltete das Telegramm und steckte es in seine Tasche. – »Nun laß uns hinuntergehen« sagte er zu Ilse und an der Tür hielt er sie noch einmal fest: »und vor – den Fremden – natürlich – schweigen.«
   Sie nickte. Die lange Gewohnheit eines Lebens, das in ganz bestimmt vorgeschriebenen Formen verlief, kam beiden jetzt zu statten. Sie traten in den Saal und empfingen ihre Gäste, von denen keiner ahnte, was sich wenige Minuten vorher zugetragen hatte. – Sehr fahl und grau sah Walden freilich aus und einem Kollegen, der ihn bei dem Diner danach fragte, antwortete er: »Ja, ich fürchte, mein altes Leiden bedroht mich wieder.«
   Und Ilse, die ihm gegenüber sitzend, die Worte vernommen hatte, wiederholte sie ihrem Nachbarn: »Ach ja, mein Mann verträgt das hiesige Klima wirklich nicht gut.«
   Das war ja jetzt Instruktion, und Wolf und Ilse standen in diesem Augenblick noch ganz im Bann des Dienstes, an dessen Abschüttlung zu denken ihnen noch gar nicht beigekommen war. Ilse bemühte sich zu sprechen und zu scherzen, als sei es ein Diner, wie all die vielen anderen Diners, die sie im Laufe der Jahre gegeben, und doch, sobald sie nicht selbst sprach, glaubte sie, eine feine, leise Stimme zu hören, die ihr zuflüsterte: »Sieh es dir nur alles recht genau an, präg es dir ein, denn es ist das letztemal, ja, ja, wenn du es auch noch nicht glauben willst, es ist da, allerletztemal.«
   Und dann starrte sie eine Sekunde traumverloren über den Tisch mit den vielen Orchideen hinweg, und über den Gläsern, wie aus weiter Ferne, tauchten die Köpfe ihrer Gäste auf.
   Es wollte keine Stimmung in die Gesellschaft kommen. Die fremden Diplomaten und die Marineherren wußten gegenseitig nicht recht, was miteinander zu beginnen. Taudien und Dedo bemühten sich, jeder auf seine Weise, vermittelnde Konversation zu machen, aber die afrikanischen Jagderlebnisse des berühmten Reisenden hatten so wenig Erfolg wie die diplomatischen Anekdoten des Legationssekretärs. – Beim Kaffee auf der weiten Veranda, von der aus man in den schwarzgrünen Garten blickte, in dem die hellgrünen Lampions und Tausende kleiner umherschwirrender Leuchtkäfer glühten, bildeten sich ganz von selbst abgesonderte Gruppen, in denen leise getuschelt wurde.
   Der Gesandte, dessen Land als traditioneller Feind Deutschlands gilt, sagte zu einem Kollegen: »Es sieht mir ganz so aus, als hätten die sich mit ihrem Ultimatum und ihrer Flottendemonstration recht in die Nesseln gesetzt.«
   »Ist ihnen sehr gesund,« antwortete der andere.
   »Wenn es nur keine weiteren Komplikationen gibt,« seufzte ein Weiser, »bei dieser Hitze sehnt man sich doch nach Ruhe!«
   »Aber, Verehrtester, jetzt können die doch nicht mehr zurück!« entgegnete ihm beinahe gereizt der Vertreter des so gerne Zwietracht säenden Landes.
   Doch der Repräsentant der Macht, vor der man sich neuerdings auch fürchtet, sagte gar nichts und ging nur schmunzelnd von Gruppe zu Gruppe.
   Es war eine Erlösung, als die Fremden endlich alle gegangen waren!
   Nun blieben nur noch Taudien, Dedo und die Marineherren mit ihren Gastgebern zurück. Und da begann Wolf zu sprechen: »Ich weiß nicht, ob, was ich im Begriff stehe zu sagen, ganz korrekt ist, oder ob ich diese Mitteilung Baron von Lenval allein machen sollte, aber erfahren werden Sie es ja doch morgen, meine Herren – und dann … Kameraden, sind wir ja doch alle« ..
   »Bravo, bravo,« riefen die jüngeren Offiziere dazwischen, die nicht anders dachten, als daß nun die kommende Aktion verkündet werden sollte. – »Prost,« sagte der mecklenburgische Kapitän und trank Walden aus einem großen Glase Whisky-Soda zu.
   »Also, meine Herren,« fuhr Walden fort, »ich werde morgen früh die Geschäfte Baron von Lenval übergeben und mich nachmittags mit dem heimfahrenden Postdampfer gesundheitshalber auf langen Urlaub einschiffen.«
   »Was?«
   »Sie wollen fort?«
   »Jetzt, in diesem Augenblick?«
   »Aber das ist ja rein unmöglich!«
   So schwirrten die aufgeregten Ausrufe durcheinander. Der Mecklenburger aber schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Whisky-Sodaglas wackelte: »Da schlag doch gleich ein dreifaches Kreuzdonnerwetter drein.« Während Dedo, ganz erschöpft in einen Sessel sinkend, nur das eine Wort fand: »Gräßlich, gräßlich!« und Taudien bitter murmelte: »Hab‘s mir doch gedacht.«
   »Aber ums Himmelswillen, warum denn nur?« fragten sie dann beinahe einstimmig.
   »Auf höchsten Befehl,« antwortete Walden.
   Da verstummten sie alle. Und Wolf fühlte, wie da ganz langsam, aber unaufhaltbar etwas Ungreifbares, einer Schleierwand Gleichendes, vor ihm aufwuchs. Es trennte ihn von den übrigen. Auf der einen Seite standen all die anderen, und auf der zweiten Seite stand er ganz allein. Er wunderte sich, daß keiner durch die Schleierwand zu ihm herüberkam, er fühlte, wie die Mauer dichter und trennender wurde. – Dann aber sagte er sich: »Die dort drüben handeln ja ganz korrekt; wäre das einem von ihnen vor vierundzwanzig Stunden geschehen, was heute mir widerfährt, wer weiß, ob ich zu ihm durch die Wand gekommen wäre?« Und wie er das gerade dachte, kam eine zu ihm herüber. Das war Ilse, die hatte den Arm in den seinen gelegt, und nun sprach sie: »Ja, meine Herren, und da wir nun sehr viel zu packen haben, muß ich Sie bitten, uns zu entschuldigen, wenn wir Sie diesen letzten Abend allein lassen.«
   Vor ihrer Stimme war die graue Scheidewand etwas gewichen. Die Herren erwachten wie aus einer Art Erstarrung. Man umdrängte sie. Viel Bedauern ward laut. Und doch fühlten Wolf und Ilse beide, daß sie für die anderen nicht mehr ganz dieselben wie vor einer Viertelstunde waren. – Sie waren es auch wirklich nicht mehr, ohne es selbst schon zu wissen. – Denn es gibt Minuten, die ein für allemal die Menschen verändern, wenn sie selbst auch vielleicht erst später merken, was da in ihnen erstorben oder erstanden ist.
   Ehe Ilse hinauf ging, um für den nächsten Tag zu packen, blickte sie hinaus in den Garten. Der Gärtner hatte die hellgrünen Lampions ausgelöscht. Eine Schicht blauweißen Dunstes lag auf den Rasenflächen, darüber hoben sich die dunklen Umrisse der Palmenkronen, der Mangobäume und Bambuszweige von dem sternefunkelnden Himmel ab. In den Büschen schwirrten zahllose Leuchtkäfer, süßer betäubender Duft entströmte tausend Tropenblumen, und wieder vernahm Ilse die feine, leise Stimme, die ihr zuflüsterte: »Zum letztenmal, zum allerletztenmal.«
   Sie wollten abreisen, ohne von irgend jemand Abschied zu nehmen, Dedo alle weiteren Erklärungen überlassend. Aber die Kunde der plötzlichen Abberufung mußte sich doch irgendwie verbreitet haben, denn die Kollegen Wolfs hatten sich bei seiner Abreise am Bahnhof der Hauptstadt eingefunden, und jetzt, wo sie ihn nicht mehr als politischen Faktor betrachteten und gar vermuten mußten, daß er als Opfer einer ob ihrer mancherlei Schwankungen unbeliebten Politik gefallen war, gaben sie ihrer persönlichen Sympathie für »die armen netten Waldens« lebhaft Ausdruck.
   Weniger rasch wußten sich die Mitglieder der deutschen Kolonie in die neu geschaffene Lage zu finden. Sie waren zwar auch zum Abschied erschienen, aber man merkte ihnen eine gewisse Verlegenheit an, wie sie sich nun Waldens gegenüber zu benehmen hätten, und Großmann fragte Dedo, ob man Herrn von Walden noch wie bisher mit »Herr Minister« anreden solle.
   Nun lag das alles schon weit zurück.
   Der Postdampfer, mit dem Wolf und Ilse die plötzliche Heimkehr antraten, hatte den Hafen verlassen und war an den beiden deutschen Kriegsschiffen vorbei gefahren. »Glückliche Reise,« war Waldens von dort signalisiert worden. »Glückliche Reise« – es klang den beiden wie ein Hohn.
   Dann war auch das überstanden. Die Küste verschwand am Horizont im Dunste, und bald darauf passierte der Dampfer die Insel Santa Immaculata. Wie ein blaues Phantom stieg sie empor aus den Wellen, wie ein blaues Phantom versank sie auch schon in der Ferne.
   Ilse lehnte an der Reeling und schaute zurück. Sie entsann sich, wie sie hier zuerst vorbeigefahren und entsann sich auch, wie sie sich noch vor ein paar Tagen ihre dereinstige Heimfahrt ausgemalt hatte. – Wie war es doch alles so ganz anders gekommen! und warum? warum?
   Während der ersten Tage der langen Reise bewegte sich Ilse wie in einem traumhaften Zustand; sie dachte immer, daß sie erwachen müsse, und daß es dann alles nicht wahr sein würde. – Sie hatte ja zuweilen von unerwarteten Ungnaden gehört, von dem plötzlichen Versinken von Leuten, die aufwärts zu steigen schienen, und die rätselhaft gescheitert waren, durch unerklärliche, dem alten Fatum gleichende Macht getroffen. Aber unglaublich schien es, daß nun sie selbst es sein sollten, die solch unberechenbarer Gewalt zum Opfer gefallen! – Als welch häßlicher Traum erschien doch mit einemmal das Leben! – Und Ilse, in ihrer Ratlosigkeit vor dem Unverständlichen, glaubte schon die Neige des Kelches zu kennen.
   Aber wer kennt die je! – Stets neue bittere Überraschung enthält des Lebens Becher.
   Nach wenigen Tagen Seefahrt ward Wolf von seinem alten Tropenleiden wieder befallen. – Es war, als wolle wenigstens sein Körper noch der lang geübten Gewohnheit treu bleiben, Instruktionen zu befolgen: Wolf hatte nicht nur, wie es das hohe Telegramm befohlen, aus Gesundheitsrücksichten einen Urlaub angetreten, nein, er hatte den Geist dieser Instruktion so sehr erfaßt, daß er wirklich krank geworden war.
   Nun saß Ilse neben ihm in der kleinen Kajüte. Und draußen schlugen die dunklen Wellen gegen die Schiffswand und schienen ein Lied zu singen von all den Besiegten, die auf dem Grunde des Ozeans schlummern.
   Es war keine glatte Überfahrt gewesen. Die Luken mußten oft des schweren Seegangs halber geschlossen werden. Wenn dann weißer Gischt gegen die kleine, runde Scheibe schlug, glaubte Ilse ein höhnisches Gelächter zu vernehmen, und sie wähnte, den kalten, nassen Griff unsichtbarer Hände zu fühlen, die sich nach ihr und Wolf ausstreckten, um sie hinab zu ziehen in die toderfüllte Tiefe.
   Nur langsam erholte sich Wolf, beinahe widerstrebend. Und als nach Wochen die flache deutsche Küste wie ein finsterer Strich im Grau des Horizontes aufstieg, da stand er zwar inmitten der anderen Reisenden neben Ilse auf dem Verdeck – aber er fühlte wohl, daß er heimkehrte als ein im tiefsten Innern Veränderter.

 //-- * --// 
   Die ganze lange Fahrt bis zu dem Heimatshafen hatte der mächtige Dampfer sie alle sicher getragen. Doch noch weiter erstreckte sich die Fürsorge der großen Schiffahrtslinie. Ein Extrazug stand bereit für die Passagiere, um sie und ihr Gepäck bis zur etwas weiter landeinwärts gelegenen berühmten Handelsstadt zu führen. Es war ein beinahe elterliches Bestreben, jedwede Verantwortung möglichst lange auf sich zu nehmen, und den Reisenden mußte es im Gedächtnis bleiben: Unter dieser Flagge war man wohl geborgen.
   Als dann am Abend der Zug im Bahnhof der großen Handelsstadt hielt, von wo ab jeder für sich selbst zu sorgen hatte, mochte wohl über manchen das Gefühl kommen, aus sicherem Verbande nunmehr entlassen zu sein. Aber frohe Wiedersehen gab es da freilich auch, Menschen, die so weltentrückt und glücklich waren, daß sie nicht den schneidenden Wind, nicht den schräg fallenden Regen spürten.
   Wolf und Ilse aber standen fröstelnd da und fühlten hier auf der Heimat Boden, daß sie Gestrandete waren.
   Langsam ging es dann mit der Droschke zu dem Hotel am Innern Bassin. Klatsch, klatsch, fiel der Regen gegen die Scheiben: klatsch, klatsch, schlug er unter den Pferdehufen auf. Die Lichter der Schaufenster und die Straßenlaternen spiegelten sich in langen hellen Streifen auf dem nassen Pflaster. Zwischen den Kais und dem Wasserspiegel verschwammen die trennenden Grenzlinien, und die Welt schien sich aufzulösen in graue kalte Feuchtigkeit. Die Umrisse der Gebäude zerflossen in der Mischung von Nebel und Regen; hoch oben über ihren Dächern aber flammten die glühenden Riesenbuchstaben wechselnder Geschäftsanzeigen auf; in dem gleichmäßigen Grau begriff man nicht, wo sie eigentlich befestigt waren, sie schienen irgendwo in den Wolken zu hängen. Am jenseitigen Ufer des Bassins, gerade dem Hotel gegenüber, wo Waldens abgestiegen waren, drehte sich in den Lüften ein riesiges rotglühendes Rad – es diente dem harmlosen Zweck, irgendeinen besonderen Handelsartikel anzupreisen, aber Wolf, der nun am Fenster des Hotelzimmers lehnte, und hinausstarrte in die frostig unwirtliche Heimatswelt, konnte gar nicht mehr davon wegschauen – ein aus der Hölle entsprungenes Marterwerkzeug dünkte ihn dies flammende, kreisende Rad!
   Sie gingen noch einen Augenblick hinunter in das Restaurant. Es war leer da. Gähnende Kellner standen unbeschäftigt herum; ein halb verschlafener Piccolo tippte, um sich wach zu halten, mechanisch mit dem Fuß gegen die seltsamen metallenen Gehänge, die die Heizungskörper verdeckten und den Schmuckstücken irgendeines fernen barbarischen Volkes glichen. Paneele aus glänzend gelbem, exotischem Holz liefen an dem in einzelne offene Kabinen abgeteilten Raum entlang; an den pfaublau getünchten Wänden darüber hingen Gemälde modernster Richtung, violette Kühe gegen blaßgrüne Himmel, Wäscherinnen, auf deren blauen Armen die Sonnenlichter wie Ausschlag saßen.
   Nur ein Tisch war von einigen Herren besetzt. Ilse erkannte unter ihnen einen Mitpassagier und die Freunde, die ihn vorhin am Bahnhof abgeholt hatten. Sie mußten auch eben angekommen sein, denn der Oberkellner nahm noch ihre Bestellung entgegen.
   »Nun, und was wollen wir trinken?« fragte derjenige, der Gastgeber zu sein schien.
   »En büschen 1892er Pommery Greno?« schlug ein anderer vor.
   »Ja, en büschen 1892er Pommery Greno,« stimmte der Ankömmling eifrig bei, »aber nich ssu kalt.« Und dann setzte er gerührt hinzu: »Als wir zuletzt vor nem Jahr, ehe ich abreiste, hier zusammen saßen, da haben wir nämlich auch 1892er Pommery Greno getrunken, aber der war en büschen ssu kalt.« Er schwieg, in Gedanken verloren, während der Oberkellner notierte, und dann sagte er grübelnd, mit dem Ausdruck eines Mannes, der sich der Züge einer einst geliebten Frau zu entsinnen sucht: »Aber was mögen wir nur damals gegessen haben?«
   Wolf klagte über die dumpfe Luft und stand bald wieder auf; man sah ihm die Abspannung an, und doch konnte er keine Ruhe finden. Oben ging er noch lange auf und ab, als Ilse schon zu Bett lag; sie hätte gern etwas mit ihm gesprochen, nur um den Klang seiner Stimme zu hören, denn ihr war so bang ums Herz; aber sie wagte nicht ihn anzureden, denn er hatte einen so seltsam starren Ausdruck, der jede Annäherung abzuwehren schien. So schlief sie denn schließlich ein an diesem ersten Abend daheim, ein paar zerdrückte Tränen an den Wimpern.
   Wolf aber stand lange noch am Fenster und starrte hinaus, und auch nachdem er endlich zu Bett gegangen, ließ es ihm keine Ruhe; er erhob sich doch wieder und schlich ans Fenster – er mußte es noch einmal anschauen, es zog ihn gar zu sehr an, dies rotglühende Rad, das da draußen flammend kreiste und kreiste und ihn ein aus der Hölle entsprungenes Marterwerkzeug dünkte. Und irgendwo war da etwas, in das sich dies feurige Rad immer tiefer einbrannte – es war bohrend schmerzhaft – aber Wolf konnte nicht herausbekommen, wo das war – müde … zu müde … war er … morgen … ja vielleicht morgen würde er … entdecken … wo das so brannte … brannte …
   Am nächsten Tage verlangte er gleich nach allen Morgenzeitungen, und es fiel Ilse auf, wie fieberhaft er sie durchblätterte, wie unstet sein Blick über die Seiten irrte. Eine merkwürdige Angst, sie wußte selbst nicht wovor, schnürte ihr die Kehle zu. Was war es denn, wovor sie sich fürchtete?
   In all den Zeitungen stand die Nachricht von Wolfs Ankunft. Einige Blätter nannten dabei die früheren Posten, die er inne gehabt, die meisten enthielten sich aller Kommentare. Nur eine Zeitung, die die treue Anhängerin des entlassenen größten deutschen Staatsmannes war, und die kein Hehl aus ihrer geringen Bewunderung für die seit dessen Rücktritt wechselreich verfolgten Wege machte, nahm Veranlassung, unter Beleuchtung der Ereignisse, in deren Mittelpunkt Wolf gestanden, die Regierung zu kritisieren, »deren Politik mangelnder Voraussicht auch hier wieder vor eine Wahl geführt habe zwischen bewaffneter Vertretung einer Frage, die dies eigentlich nicht wert war, oder würdelosem Zurückweichen.«
   »Die Geologie,« so schrieb das Blatt, »lehrt uns, daß die großen Erdumwälzungen sich ganz allmählich und langsam vollzogen und den Arten die nötige Zeit zur Anpassung an die veränderten Verhältnisse gelassen haben; so wird auch uns Deutschen Zeit gegönnt, uns von einstmaliger kurzer Größe zu minimaler Kleine herabzustimmen und uns dadurch den Verhältnissen neuester Ära anzupassen. Nur manchmal geht das Tempo dieses Hinabgleitens etwas gar zu rasch, dann fragt wohl dieser oder jener mit Erinnerung an Früheres besonders belastete Kopf, »ob denn nicht jetzt etwa der Moment des Gegenstemmens gekommen sei?« Aber immer wird alsobald geantwortet, solche Wichtigkeit habe diese einzelne Frage doch nicht, daß man darüber vom Leder ziehen könne, und so gewöhnen wir uns daran, wie einst die Wesen, gegen die die Gletscher vordrangen, vor den großen sich gegen uns schiebenden Massen uns in immer erneuter Friedfertigkeit auf immer bescheidenere Stellung zurückzuziehen.«
   Dann fuhr das Blatt fort: »Den bei den Vorgängen in X viel genannten, so plötzlich abberufenen und noch plötzlicher ersetzten Herrn von Walden kennen wir zwar nicht persönlich, es will uns indessen kaum glaublich erscheinen, daß ein an solchen Posten gestellter Beamte seine Instruktionen derart überschritten haben sollte, wie es andeutungsweise geflüstert wird – eher neigen wir zur Ansicht, daß er ein Opfer der Unbedachtsamkeit und Ziellosigkeit sein dürfte, die er selbst zu vertreten hatte. – Sie werden wohl noch manches Opfer fordern!«
   Wolf las es alles rasch und gierig, und im ersten Augenblick lohte in ihm nur eine ungeheure Genugtuung auf, daß ihm endlich Recht wurde. Das ganz natürliche Gefühl des Getretenen war es, dem sich eine hebende, helfende Hand entgegen streckt. – Aber dann las er den Artikel noch einmal langsam durch. Andere Gefühle wurden nun in ihm wach, nicht so starke, wie die vorhin ausgelösten Naturinstinkte, aber immerhin Anschauungen, die durch viele Jahre der Arbeit, des Lebens in einem bestimmten Beruf und Milieu in ihm wurzelten. – Er war doch Beamter, er gehörte zu der Regierung, die da angegriffen wurde? – Freilich hatte er früher, wie übrigens die meisten Herren in den Ministerien, derartige Kritiken immer mit einem gewissen Schmunzeln gelesen (von vielen Kollegen wurde überhaupt nichts lieber gelesen); vielleicht hatte er auch wohl mal gedacht: »Du liebe Zeitung, die du dich so weise dünkst! was könnten wir dir erst für Material liefern, wenn wir nur wollten.« – Das war indessen immer nur eine gewisse kühl belustigte Zuschauerstimmung geblieben – aber hier geschah ja etwas ganz anderes – hier wurde er, der »Fall Walden«, das Unrecht, das ihm widerfahren, benutzt, um die Regierung anzugreifen, zu der er doch selbst gehörte. – Wie konnte das sein? Wie vor allem konnte es geschehen, daß er darüber diese wilde, elementare Freude empfand? – War denn das möglich?
   Sein von dem Tropenklima sonst so gebleichtes Gesicht war plötzlich brennend rot geworden. Ein Schwanken war auf einmal um ihn her, als sei er wieder auf dem Schiff. Er griff unwillkürlich mit beiden Händen nach der Stirn. – So saß er einige Augenblicke regungslos, und Ilse starrte ihn an, Entsetzen in den Augen. Was war das nur für ein zerschmetterndes Unglück, dessen Nahen sie schon dicht über sich fühlte? wie der Schwingenschlag unsichtbarer Vögel in finsterer Nacht.
   Bald aber ließ er die Hände sinken, seine Augen öffneten sich, das Blut ebbte langsam zurück vom Gehirn, er sah jetzt ganz fahl aus und sagte tonlos: »Morgen wollen wir nach Berlin – ich muß ins Amt – hören, was das alles eigentlich ist.«
   »Möchtest du nicht vielleicht lieber schon heute reisen,« fragte sie leise und streichelte seine Hände, die wie leblos hingen.
   Aber wie von plötzlicher Angst erfaßt zuckte er zusammen und rief hastig: »Nein, nein! nicht heute! Ach, noch einen Tag Ruhe!«
   Es war alles so ganz anders, als Wolf sonst war! – Ilse suchte zu verstehen, sich zurecht zu finden. – Nach einer Weile fragte sie vorsichtig: »Würdest du nicht gern etwas spazieren fahren?«
   Er hob den Kopf. Draußen hatte es sich etwas aufgeklärt. »Ja, ja,« sagte er, »heut nachmittag wollen wir ausfahren – weit weit fort.«

 //-- * --// 
   Nun saßen sie in einem der die Wiener Fiaker nachahmenden Mietswagen, die es in der berühmten Handelsstadt gibt. Die leicht bespannten, munteren Pferde zogen an. Die gestrige nasse Kälte war verschwunden, durch leichtes Gewölk drang ein feines, silbriges Licht. Es hätte eine schöne Fahrt sein können, dachte Ilse, wenn des Lebens Schönheit in seinen Äußerlichkeiten läge.
   Um die beiden großen Bassins herum wollte Wolf fahren. Zur einen Seite dehnte sich vor ihnen die blaßgraue Wasserfläche, auf der die Ruder– und Segelboote eines Unwetter gewohnten Menschenschlags, der dankbar jede sturmfreie Stunde ausnutzt, immer zahlreicher wurden. Die langen flachen Boote, in denen Wettruderer unter englischem Kommando übten, schossen vorbei; in kleinen Kanoes paddelten einzelne Schulknaben; Segelboote beschrieben anmutig geschwungene Kurven. Dazwischen glitten Schwäne, still und träge. Es war da nirgends eine grelle Farbe – alles hell und durchsichtig, wie ein für überempfindliche Augen bis zu äußerster Zartheit verwaschenes Aquarell.
   Auf der anderen Seite des Weges dagegen standen einzelne Villen in großen Gärten. Hinter ihren hohen Gittern hatten sie etwas Zurückhaltendes, Abwehrendes, und es lagerte auf ihnen die selbstgeschaffene Einsamkeit derer, denen die übrige Welt zum Umgang nicht gut genug dünkt. Aber hier bei diesen Gärten erst merkte man, daß es trotz des gestrigen Regens und Sturms eigentlich Frühling war. Viele Bäume waren schon grün, und in den Rasenflächen standen allerhand Blumen in Beeten, wenn sie auch freilich zerzaust und wie entfärbt von langem Unwetter schienen. – In Ilses Erinnerung aber stieg ein ferner, Jahre zurück liegender Tag wieder auf, mit all seinem damaligen Sonnenglanz, seiner verheißungsvollen Farbenpracht. Der Tag, an dem sie einst – wie lang war‘s doch her – mit Wolf vereint den gemeinsamen Lebensweg begonnen hatte. Sie sah es alles vor sich – die Sonne und die vielen, vielen Blumen in der Siegesallee und in den Beeten vor den Villen der Tiergartenstraße – sie entsann sich auch, wie sie damals die gerade und stramm stehenden Blumenreihen mit Soldaten verglichen hatte: Dragoner, die blauen Hyazinthen, Husaren, die roten Tulpen, Artilleristen, die ganz dunklen – lauter siegreiche Regimenter des Frühlings waren es damals gewesen! – Die Blumen aber, die sie heute erblickte, schienen ganz anders; bleich, geknickt, entblättert durch unzeitigen Sturm, so standen sie beschämt– gleich einem geschlagenen Heer!
   Ob Wolf wohl auch daran zurück dachte? Sie schaute zu ihm auf – ach, da wußte sie es alles wieder, was sie einen Augenblick vergessen, er und sie waren es ja selbst, die einst siegessicher ausgezogen und nun geschlagen heimkehrten.
   Sie fröstelte in dem bleichen Frühling. »Kehren wir nicht ins Hotel zurück?« fragte sie.
   Doch Wolf wollte weiter, hinaus an den großen Fluß; eine Unrast war in ihm, der das Vorwärtsrollen des Wagens wohl tat.
   Durch die benachbarte Stadt mit all ihrem Gewühl ärmlicher Menschen mußten sie fahren, um hinaus an den Fluß zu gelangen. – Einmal wurden sie in einer der elenden Straßen angehalten, denn quer über den Weg war ein Pferd vor einem Lastwagen niedergestürzt. – Der Rollkutscher, ein großer stämmiger Kerl, suchte das liegende Tier fluchend aufzurichten; bleiche Fabrikarbeiter, rußige Lastenträger vom nahen Hafen, kümmerliche Kinder folgten stumpf und gedankenlos dem Schauspiel. Ilse blickte beinahe erschrocken in all dies eintönige graue Menschentum; sie hatte ja stets ein mildes wohltätiges Herz gehabt, weil viel unbewußte Güte in ihrem Wesen lag – aber heute ging ihr das alles so seltsam nahe – die Niedergebrochenen, die Enterbten, sie bildeten ja die Mehrzahl auf der Welt, sie waren die »Menschheit« – nicht jene wenigen, die, wie seltene Papageien in den Käfigen eines zoologischen Gartens, hinter den abwehrenden Gittern ihrer Villen wohnten. – Es war Ilse, als verstände sie zum erstenmal, was Elend wirklich bedeutet. Nicht irgendein statistisch unpersönliches Elend, – sondern Elend, an dem man selbst mit trägt.
   Während sie so dachte, merkte sie, wie die Augen der Menge einen feindlichen Ausdruck annahmen, als sie, des alltäglichen Anblicks eines gestürzten Pferdes müde, sich auf den Wagen zu richten begannen, in dem Wolf und Ilse saßen. Und all diese Augen schienen zu sagen: Was wißt ihr von denen, so am Wegesrande niedersinken, weil ihnen zuviel aufgebürdet wurde? Nur ein Verkehrshindernis eurer raschen Vergnügungsfahrt sind sie euch – weiter nichts!
   Dann rollte der Wagen weiter auf hochgelegener Chaussee vorbei an Gärten und Parks, behäbigen Landhäusern aus Biedermeiers Zeiten, schloßartigen Gebäuden aller Stile aus jüngeren Jahrgängen, großen Sommerhotels. – Links tief unten der gelbgraue mächtige Strom und an seinem jenseitigen Ufer flaches, im Dunst verschwimmendes Land.
   Sie waren weit hinausgefahren. Doch immer weiter noch wollte Wolf. Als gäbe es irgendwo da draußen einen bestimmten Punkt, an den er gelangen müsse, um Verlorenes wiederzufinden. Aber schließlich hatte eines der Pferde ein Hufeisen verloren, und nun verlangte der Kutscher umzukehren. Während er dann bei einem nahen Schmied das Eisen ersetzen ließ, warteten Wolf und Ilse in einem Gasthaus. Es war ein noch aus älterer, einfacherer Zeit stammendes Lokal. Auf der Höhe des hier sehr steilen Ufers war es erbaut, und von seiner Terrasse, auf der flach gestutzte Platanen standen, hatte man einen weiten Blick auf den Fluß tief unten. In breiter gelber Trägheit floß er dahin, von Schiffen aller Art befahren: überfüllte Vergnügungsdampfer, von denen Lieder herauftönten; schwarze schnaubende Kohlenschiffe; eilige Dampferbarkassen; dazwischen schob sich ein Koloß vor, ein großmächtiger Überseer, oder es zog eine lange Reihe tiefgehender Lastboote vorbei, die von einem kleinen geschäftigen Dampferchen stromaufwärts geschleppt wurden – großen schwerfälligen Volkskräften gleichend, die jeder etwas überlegenen Intelligenz hilflos folgen müssen. – Weich und zitternd standen all die Dinge in der feuchten Luft; von den Wiesengründen am flachen jenseitigen Ufer stiegen Nebelstreifen auf, und in der Ferne, wo der Fluß sich in grauem Dunst und blassem Abendrot verlor, ahnte man die Gegenwart des Meeres. Es war, als wehe sein salziger Hauch bis hierher.
   Unwirklich schien Ilse das ganze Bild, unwirklich vor allem, daß sie beide hier stehen sollten, es zu sehen, seit jener plötzlichen Abreise aus dem fernen Lande hatte sie immer wieder die Empfindung eines Traumes, den sie nicht abzuschütteln vermochte. Sie schloß manchmal die Augen ganz fest, um sich zu besinnen. Wie hatte das denn nur so kommen können? irgendwo mußte ein Mißverständnis walten. Nun, morgen würden sie weiterreisen, morgen würden sie endlich hören, wo und wann sie gefehlt.
   Es war ganz spät, als der Wagen endlich wieder vor dem Hotel in der Stadt hielt.
   Der Portier kam Wolf mit einer Visitenkarte im Flur entgegen. »Der Herr war zweimal hier,« sagte er, »und er bat, ihn von der Rücklehr der Herrschaften telephonisch zu benachrichtigen, wenn es nicht gar zu spät würde, wollte er noch einmal kommen.«
   Auf der Karte las Wolf den Namen eines Redakteurs des Blattes, das am Morgen den Artikel über ihn gebracht hatte.
   »Aber es ist viel zu spät jetzt,« sagte er hastig, »ich kann niemand mehr sehen.«
   Die Fahrt hatte ihm gut getan, aber da war doch schon wieder der Ausdruck, den Ilse früher nicht an ihm gekannt, und in den Augen die seltsame Starrheit, die sie jetzt schon ein paarmal da gesehen.
   Und in all ihr unbestimmt traumhaftes Empfinden, das wie ein Tasten im Nebel war, mischte sich nun auch wieder die unerklärliche Angst vor etwas Unbekanntem, das sie dräuend nahen fühlte.
   Oben in ihrem Zimmer sagte sie: »Vielleicht wollte dieser Herr deine Tätigkeit rechtfertigen.« Da lachte Wolf bitter auf: »Ja, rechtfertigen! – Aber so erinnere dich doch, Ilse, wie ich es alles aufgefaßt habe – es war doch kein Broterwerb – es war eine Vokation – und dafür: rechtfertigen?«
   »Ich weiß,« antwortete sie, »aber gerade darum meine ich: wir müssen für dich kämpfen.«
   Er zuckte müde mit den Achseln: »Wir fahren ja morgen – da werde ich ja alles in Berlin hören.«
   Sie schliefen beide nur wenig in dieser Nacht. Und draußen, über der grauen im Nebel verschwommenen Stadt, kreiste und kreiste unablässig das rotglühende Rad, wie ein der Hölle entsprungenes Marterwerkzeug.

 //-- * --// 
   Am nächsten Morgen ließ der Redakteur sich wieder melden. Nach den ersten Begrüßungen fragte er: »Ich weiß nicht, Herr Minister, ob Sie heute bereits die Zeitungen gelesen haben?«
   »Nur die hiesigen,« antwortete Wolf, »ich habe nichts besonderes darin gefunden.«
   »Die meinte ich auch nicht, sondern diese hauptstädtische,« sagte der fremde Herr, zog ein Blatt aus der Tasche und reichte es Wolf. »Es steht darin eine anscheinend offiziös inspirierte Erwiderung auf unseren Artikel von gestern. Nun, das war vorauszusehen, und wir werden darauf entgegnen. Aber,« er wies dabei auf eine rot angestrichene Stelle, »hier ist ein Satz, der sich auf die Persönlichkeit des Herrn Ministers bezieht.«
   Wolf beugte sich vor. Er fühlte dabei wieder das Schwanken um sich her, das rote Flimmern vor den Augen. Aber er wollte sich nichts anmerken lassen, was da auch stehen mochte. Es waren nur wenige Worte – Worte aber, die einen Menschen preisgeben, durch die er, wenn man sie glaubt, erledigt ist. Oh, nichts Schlimmes! nichts Ehrenrühriges! und alles kaum greifbar, nur angedeutet. »Ein wiederkehrendes schweres Tropenleiden, das nervösen Übereifer völlig erkläre und entschuldige« – und dann – im Interesse der »durch eine andere neue Kraft nun so glücklich wieder hergestellten normalen Beziehungen zwischen den verschiedenen in Betracht kommenden Ländern« – der Wunsch, daß »aus patriotischen Rücksichten nicht mehr an diese erledigte Angelegenheit gerührt werden möge.«
   Wolf saß regungslos da, und er fühlte, wie ihm nun das Blut vom Gehirn ebbte und er fahl wurde. Er hatte die Armlehnen fest umklammert, er wollte sich nichts anmerken lassen. Wie aus der Ferne hörte er die Stimme des Redakteurs: »Wir hatten schon gestern erfahren, daß so etwas bevorstände, darum war ich zweimal hier – denn, falls Sie uns etwas mitteilen wollten, das wir in unserer Entgegnung verwerten sollen, stehen wir selbstverständlich gern zur Verfügung.«
   Nun mußte Wolf sprechen. Er schluckte ein paarmal. Es wollte nicht gehen. Kein Laut drang aus seiner zugepreßten Kehle. Er gewahrte, daß es in seinem Gesicht zu zucken begann, ohne daß er es hindern konnte, und daß der Fremde ihn plötzlich so merkwürdig aufmerksam betrachtete. Aber all das sah und fühlte er wie durch dichte Nebel. Große Tropfen standen auf seiner Stirn, und endlich hörte er die eigene Stimme, aber schwach und wie durch Watte: »Ich – danke Ihnen – aber – ich bin noch im Dienst.«
   Nun standen sie an der Tür. Wolf wußte selbst nicht, wie es ihm gelungen war, bis dahin zu kommen. Der Redakteur verabschiedete sich, und wie er dabei noch einmal forschend in Wolfs Augen sah, sagte er sich, »der Mann ist ja schwer krank«, und dann schoß ihm plötzlich der Gedanke durch den Sinn: »Ob die in Berlin mit ihrer Insinuation ausnahmsweise hier mal recht haben sollten?«
   Ilse hatte dem ganzen Vorgang schweigend beigewohnt. Nun stand sie neben Wolf und las die rot angestrichene Zeitungsnotiz.
   »Aber das braucht doch nicht inspiriert zu sein!« rief sie, »das kann es ja gar nicht sein!« Sie ereiferte sich, indem sie sprach, sie hatte so sehr den Wunsch, ihm zu helfen. »Mit dem nächsten Zuge fahren wir ja – nun erst recht – dann muß sich alles klären– so …so können die Menschen doch gar nicht sein.«
   Während sie noch sprach, öffnete sich die Tür, und ein Kellner trat ein mit einer Karte. »Dieser Herr ist vorhin angekommen und wünscht den Herrn Minister zu sprechen,« sagte er.
   Gleichzeitig schauten Wolf und Ilse auf die Karte und lasen beide: »Dr. von Norbert, Wirklicher Geheimer Legationsrat.«
   Sie schauten sich verwundert an. Der Personalrat? Wie kam der plötzlich hierher?
   »Ich lasse bitten,« sagte Wolf zum Kellner.
   »Oh Wolf,« rief Ilse, »nun wird sich alles klären, ich fühl es, der bringt etwas Gutes!«
   Einen Augenblick leuchtete es wie Hoffnungsschimmer in seinen Augen, dann griff er sich plötzlich an den Kopf und sagte vor sich hin, als habe er ihre Gegenwart ganz vergessen: »Etwas Gutes … ja vielleicht wär‘s noch Zeit – vielleicht könnte mich das retten.«
   Ilse aber wiederholte innerlich: retten? was meinte er? Und mit kalten, tastenden Händen kroch wieder die lähmende Angst an ihr empor.
   Als auf dem Korridor nahende Schritte schallten, machte Wolf ihr ein Zeichen, ihn mit dem unerwarteten Besuch allein zu lassen. Pochenden Herzens stand sie im Nebenzimmer.
   »Ach, mein lieber Herr von Walden! Also glücklich zurückgekehrt! Aber in ein so abscheuliches Wetter hinein! Und das nennt sich nun Frühling! Habe wirklich lange nicht so was erlebt! Alle Welt hat ja auch Influenza!« Der Geheimrat sprach hastig, als suche er einer gewissen Verlegenheit Herr zu werden. »Nun, und die verehrte Gemahlin? wie geht es ihr denn?«
   »Danke,« antwortete Wolf, »es geht ihr recht gut.«
   »So, so,« sagte der Geheimrat in einem beinahe etwas enttäuschten Tone. »So, so? Na, nach den Tropenjahren wird ihr europäische Luft doch wohl auch recht nottun. Aber Sie selbst?« er sah ihn flüchtig an, »Sie schauen nicht recht gut aus, lieber Walden. Haben Sie schon einen Arzt konsultiert? Welches Bad rät man Ihnen denn? für Karlsbad oder Marienbad wär jetzt die beste Zeit.«
   »An all das habe ich noch gar nicht gedacht, ich beabsichtige vor allem möglichst rasch von hier weiter zu reisen, um mich im Amt zu melden.«
   »Aber das ist ja gar nicht nötig, wird ja gar nicht erwartet – nicht mal gewünscht,« entgegnete abwehrend der Geheimrat. »Nein, nein, brauchen Sie nur ruhig zuerst Ihre Kur – und,« setzte er hinzu, »bleiben Sie auch hier nicht zu lange sitzen.«
   »Verzeihen Sie, Herr Geheimrat,« sagte Walden, »Sie sagten soeben: nicht gewünscht. Wie soll ich das verstehen?«
   »Nun ja, nicht gewünscht … nicht gewünscht. Gewiß. Es ist eben halt eine … eine peinliche Situation. Wenn Sie jetzt in Berlin ankommen, da werden Sie von vielen Leuten gesehen, und dann gehen die ganzen Erörterungen wieder von neuem los – auch in der Presse – wie schon gestern früh in dem hiesigen Blatt.«
   »Sie werden mir wohl glauben, daß ich diesen Äußerungen ganz fern stehe.«
   »Gewiß, gewiß – obschon – als ich vorhin zuerst nach Ihnen fragte, wurde mir gesagt – der Redakteur der Zeitung sei gerade bei Ihnen?«
   »Das war er auch – er brachte mir diesen Artikel,« Wolf wies dabei auf die rot angestrichene Notiz des Berliner Blattes.
   Der Geheimrat schaute flüchtig hinein: »Kenn ich, kenn ich,« sagte er und murmelte dann: »Immer die gleiche Ungeschicklichkeit.«
   Wolf aber fuhr fort: »Gleichzeitig fragte mich der Redakteur, was ich etwa auf diesen Artikel entgegnen wolle?«
   »Unerhört!«
   »Nun, ich antwortete ihm ja auch, daß ich vorläufig noch im Dienste bin.«
   »Sehr richtig! sind Sie ja auch.«
   »Ich werde es wohl nicht mehr lange sein.«
   »Wieso denn?«
   »Ich beabsichtige doch natürlich meinen Abschied einzureichen.«
   »Aber warum denn das?«
   »Herr Geheimrat, das können sie doch nicht im Ernste fragen? Es bleibt mir hiernach,« er wies dabei auf den Zeitungsartikel, »ja gar nichts anderes übrig.«
   »Aber das sehe ich doch gar nicht ein. Das wird keineswegs erwartet und vor allem vom Chef auch gar nicht gewünscht. Nein, nein, lieber Walden, schlagen Sie sich all solche Gedanken aus dem Sinn. Gehen Sie jetzt an einen stillen, gesunden Ort und beginnen Sie ruhig Ihre Kur, sie haben ja sechs Monate Urlaub vor sich – na, und der kann ja auch noch verlängert werden.«
   »Und dann?«
   »Nun … dann wird sich wohl irgendetwas finden.«
   »Ich hoffe, Herr Geheimrat, Sie werden es in diesem Fall nicht unbescheiden finden, wenn ich doch ungefähr wissen möchte, was das sein würde.«
   »Mein Gott, Sie wissen ja auch, daß es immer mißlich ist, auf lange hinaus Zusagen zu machen, aber … ich glaube zu wissen, daß ungefähr um die Zeit ein Wechsel auf dem Gesandtschaftsposten in Bogotà, eintreten wird, – es würde wohl keine allzu großen Schwierigkeiten machen, Ihnen den dann zu verschaffen – natürlich immer vorausgesetzt, daß man an höchster Stelle nicht einen anderen Kandidaten hat.«
   Wolf lachte laut auf. »Also Bogotà!«
   »Ja warum nicht? Es soll ja großartige Gebirgsszenerie haben und herrliche Höhenluft – gerade was für etwas angegriffene Nerven empfohlen wird. Man schickt doch auch so viele Leute zur Erholung in die Schweiz!«
   »Und darf ich noch eines fragen: Sie sind beauftragt, mir dies zu sagen?«
   Der Geheimrat zog sofort ängstlich zurück: »Über Bogotà? Nein.«
   »Ich meinte nicht Bogotà,« sagte Wolf müde, »ich meinte, was sie mir sonst angedeutet haben.«
   »Das, ja. Der Chef hat mir gesagt, ich möchte suchen, hier mit Ihnen zu sprechen und …«
   Wolf unterbrach ihn heftig: »Und mir verbieten, nach Berlin zu kommen?«
   »Aber lieber Herr von Walden,« beschwichtigte der Geheimrat, »wer denkt denn an verbieten. Nein, nein, man meinte nur, es wäre wünschenswerter, wenn Sie sich jetzt eine Weile nicht zeigten – damit die ganze Angelegenheit vergessen wird – heutzutage wächst Gras ja schnell!«
   »Aber was muß denn vergessen werden? was werfen Sie mir denn eigentlich vor?«
   »Ich? Ihnen? Aber gar nichts, Verehrtester, gar nichts. Nur – man – ist eben nicht zufrieden mit dem Verlauf der Angelegenheit und möchte nicht irgendwie dran erinnert werden. Da liegt es doch in Ihrem Interesse, sich möglichst still zu verhalten.«
   »Man?« wiederholte Wolf fragend.
   »Nun Sie verstehen mich ja wohl. Die Sache ist eben unglücklich für Sie verlaufen, und solch eine Gelegenheit benützen natürlich Übelwollende zu allerhand Einflüsterungen und Beeinflussungen. – Sie werden ja selbst wissen, lieber Walden, daß Sie und Ihre Frau Gemahlin Feinde haben, Leute, die Ihnen manches nicht verzeihen können und … alte Geschichten immer gern wieder ans Tageslicht zerren … im Moment, wo sie glauben können, williges Gehör dafür zu finden.«
   »Aber,« fragte Wolf mit bebender Stimme, »was haben diese alten Geschichten mit der Beurteilung meiner Haltung bei unserer Flottendemonstration zu tun?«
   »Gar nichts natürlich. Aber«, fuhr der Geheimrat bedächtig fort, »es wird eine Sache doch nie an sich und losgelöst von allem übrigen beurteilt. Das Urteil über einen Menschen ist eigentlich nur die Stimmung, die sich in Jahren über ihn angesammelt hat. Sie tritt dann beim einzelnen Fall zutage. Nun, und die Stimmung ist eben leider für Sie beide an gewissen Stellen nicht günstig.«
   Und der Geheimrat sprach weiter: »Was die unglückselige Frage an sich betrifft, so steht man bei uns nach wie vor auf dem Standpunkt, daß wir mit unserer Pression vollkommen im Recht waren. Dazu kam unglücklicherweise der Wunsch, diese Gelegenheit zu benutzen, um durch die Entsendung der Schiffe für die neue Flottenvorlage Stimmung zu machen. Man nahm natürlich an, das bloße Erscheinen unserer Flagge dort werde genügen, um unsere Forderungen durchzusetzen – denn an militärisches Eingreifen oder gar an diese unsinnige Inselbesetzung ist hier ernstlich ja nie gedacht worden. Aber, wie Sie ja wissen, sahen wir uns da plötzlich vor eine unerwartete Koalition gestellt – und da …« der Geheimrat zuckte mit den Achseln.
   »Ja« sagte Wolf, »den unglücklichen Verlauf verstehe ich, aber bei alledem sehe ich nicht, welcher Vorwurf mir denn gemacht werden kann. Ich habe doch nur meine Instruktionen ausgeführt – ich habe sogar einmal dringend gewarnt.«
   »Nun ja, ja,« sagte der Geheimrat langsam, »man hat sich aber jetzt die Ansicht gebildet, daß … bei … persönlich größerem Einfluß des Gesandten auf die dortige Regierung … es überhaupt nicht zu einer solchen Zuspitzung der Lage hätte kommen dürfen.«
   Wolf wollte aufspringen, aber der Geheimrat legte die Hand beschwichtigend auf seinen Arm und fuhr sinnend fort: »Dem Interesse des Dienstes Opfer zu bringen muß jeder von uns bereit sein – das ist die Philosophie unseres und wohl jedes staatlichen Berufes. Das ganze System sogenannter menschlicher Gerechtigkeit baut sich ja darauf auf, daß mitunter der Eine die Schuld des Anderen zu tragen hat. – Na, und nun, lieber Walden, reisen Sie möglichst bald in ein Bad und warten Sie ab.« Der Geheimrat schaute auf, und als er in Wolfs Gesicht blickte, setzte er rasch hinzu: »Aber vor allem nehmen Sie die Sache ruhig. Du lieber Himmel! von wie viel Leuten hat es doch schon geheißen: dort an dem Ast sollen sie aufgeknüpft werden! Na, und heute sind sie Minister oder Botschafter – nur weil sie zu schweigen und zu warten wußten.«
   »Ich werde das nicht abwarten,« antwortete Wolf kurz. »Ich danke Ihnen zwar, daß Sie mir dies alles gesagt – aber mein Entschluß, um den Abschied zu bitten, ist dadurch keineswegs wankend geworden.«
   Der Geheimrat stand auf und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Das wäre sehr bedauerlich, wirklich sehr bedauerlich,« sagte er. »Na, Sie überlegen es sich wohl noch. Und wissen Sie, besprechen Sie es mal in aller Ruhe mit Ihrer Frau Gemahlin – so eine kluge Dame, für die wir alle im Amt sehr viel Sympathie haben, auch der Chef, ganz besonders der Chef – es wäre doch auch gerade für sie sehr schade, wenn …«
   »Wenn Sie nicht nach Bogotà käme,« fiel ihm Wolf bitter ins Wort.
   »Lieber Walden,« sagte der Geheimrat bedächtig, »sie reden so geringschätzig über Bogotà», – ich kann Sie versichern, daß wir ein Dutzend Leute haben, die mit Kußhand hingingen, und die mir sehr böse sein würden, wenn sie hören könnten, wie ich mich hier um Sie bemühe, statt Ihnen anzudeuten, daß Sie auf dem toten Punkt angelangt sind, und so die erste Pflicht eines Personalrats zu erfüllen: für die Wartenden eine Vakanz zu schaffen.«
   »An Ihrem persönlichen Wohlwollen zweifle ich ja nicht,« sagte Wolf, »aber …«
   »Nun also,« unterbrach ihn der Geheimrat, »so hören Sie denn auf mich: Sollten Sie wirklich mit der Zeit nach Bogotà, ernannt werden – was, wie gesagt, nur eine ganz unverbindliche Äußerung meinerseits ist – so glaube ich nicht, daß Sie lange dort gelassen werden – zwei, drei Jahre gehen rasch herum – und so lange Sie überhaupt in der Karriere drin sind, nehmen Sie auch an allen ihren Chancemöglichkeiten teil – wenn Sie aber erst mal raus sind, – da ist es eben wie in der Lotterie: wer nicht weiter zahlt, gibt damit auch alle seine früheren Einsätze verloren. – Na, besprechen Sie es mit der Frau Gemahlin.«
   Die ins Nebenzimmer führende Tür hatte sich ein paarmal leise bewegt, als ruhe eine bebende Hand auf der Klinke. Jetzt wurde sie plötzlich weit geöffnet, und Ilse stand im Zimmer.
   »Herr Geheimrat,« sagte sie, »Sie sprachen vorhin von Opfern, die jeder bereit sein muß, dem Dienste zu bringen – und Sie mögen damit recht haben. Aber sehen Sie, es gibt auch Opfer, die einen Menschen derart brechen, daß er nachher zum Dienst nicht mehr taugt. Eines gewissen Stolzes bedarf doch, wer das eigene Land in der Fremde vertreten soll. Ich glaube, mein Mann hat recht mit seinem Entschlusse.«
   Als der Geheimrat gegangen war, saßen Wolf und Ilse sich eine Weile stumm gegenüber. Etwas Totes lag zwischen ihnen. Das waren die zwecklos gelebten Jahre. Sie hatten ja nur hierzu geführt.
   Über Ilse kam dann plötzlich die Ermüdung und Ernüchterung, die dem zu folgen pflegen, wozu man sich in der Aufwallung emporgeschwungen und die eine natürliche und gesunde Erholung bilden. Sie sagte sich: Nun ist also das Schlimmste geschehen, dessen unsichtbares Nahen ich all die Tage fühlte – und es ist wirklich sehr schlimm und wirklich sehr schmerzhaft und wird uns mit der Zeit noch schmerzhafter und schlimmer erscheinen – aber irgendwie wird es sich trotzdem innerlich überwinden lassen, so daß wir weiter leben können – aber jetzt – jetzt möcht ich vor allem mal gründlich schlafen.
   Ihre Empfindungen waren die einer gesunden Natur nach einer glücklich verlaufenen Operation. Das amputierte Glied wird noch sehr fehlen, immer fehlen, und doch weiß man schon, daß man nicht dran sterben wird – und – vor allem ist da der Wunsch, tief, tief schlafen zu dürfen. – Sie hätte sich gleich hinlegen mögen und fühlte, daß sie nach einer Minute von all dem nichts mehr gewußt hätte.
   Bei Wolf aber war das anders. Die Unruhe der letzten Zeit hatte sich in ihm verzehnfacht; er zitterte und zuckte, und in seinen Augen war seit dem Gespräch mit Herrn von Norbert ein unheimliches Flackern. Ilse versuchte ihn zum Ruhen zu überreden, da ihre Abreise nun doch überflüssig schien. Aber gleich, sofort, wollte er das Abschiedsgesuch schreiben. »Hätte es nicht Zeit bis morgen?« fragte sie, »du mußt ja so müde sein.« – Aber er fuhr heftig gegen sie auf, wie sie es nie von ihm erlebt.
   Dann setzte er sich hin und begann zu schreiben, zehn, zwanzig Entwürfe, die er ebenso rasch zerriß, wie er sie aufgesetzt. Dazwischen lachte er laut auf. Alle Müdigkeit war nun auch von Ilse gewichen; sie folgte jeder seiner Bewegungen mit wachsendem Entsetzen. »Welchen Grund soll ich denn angeben?« fragte er. »Doch wohl deine Gesundheit,« sagte sie schüchtern, und wie sie ihn anblickte, fühlte sie zum erstenmal, einer Ahnung gleich, welch furchtbare Wahrheit dieser Grund besaß. »Das wäre ja Lüge,« rief er. »Nein, nein, die volle Wahrheit, endlich!«
   Und wieder begann er zu schreiben, fieberhaft schnell, steckte den Brief in einen Umschlag, klingelte und befahl dem eintretenden Kellner, das Schreiben sogleich in den Kasten zu stecken. Und Ilse saß dabei wie gelähmt, ließ alles geschehen, weil ihr jetzt alles gleichgültig schien, vor der wachsenden Erkenntnis, die in ihr aufstieg: Er war ja krank, krank!
   Den ganzen Nachmittag beobachtete sie ihn angstvoll. Der Unruhe war ein erschrecktes Zusammenfahren, eine Scheu vor fremden Gesichtern gefolgt. Er wollte oben auf dem Zimmer essen, nicht spazieren fahren, niemanden sehen. »Aber Wolf,« sagte sie, »wir brauchen uns doch nicht zu verstecken? wir haben doch keine Schande – nur Unglück.«
   »Das glaubt niemand,« sagte er, »ich sehe es in jedem Gesicht, was die Leute von mir denken.«
   So schlich der Tag dahin. Der Wind hatte sich wieder erhoben, schüttelte und rüttelte an den Schornsteinen und Läden und wuchs abends immer stärker an. Er heulte und stöhnte, als wolle er hier in der Stadt erzählen, was er draußen auf der See zerstört, vernichtet, gemordet hatte. Es war dunkel geworden. Die Häuser am jenseitigen Ufer des Bassins bildeten nur noch eine einförmig graue Masse. Und hoch darüber kreiste und kreiste das rotglühende Rad.
   Endlich war es Ilse gelungen, Wolf zu bewegen, schlafen zu gehen. Sie selbst lag lange noch wach. Zuerst suchte sie sich Mut zu machen: Wolf war nur im Augenblick durch die Bitterkeit, die Empörung über all das Unrecht überwältigt worden, morgen würde er sicher wieder ganz wohl sein! – Und dann begann sie dem allen nachzusinnen – sie vergegenwärtigte es sich doch jetzt erst ganz, was dieser Abbruch eigentlich bedeutete. – Eine große Trauer stieg in ihr auf, um alles, was sie beide erstrebt und nun nie erreichen würden. – Ein Gefühl der Verlorenheit und Zwecklosigkeit bemächtigte sich ihrer. Das Leben war so ganz auf das eine Ziel eingestellt gewesen: Was würde nun geschehen, wo das fehlte? Würden sie von Ort zu Ort ziehen, und immer so herumsitzen, ohne recht zu wissen, wozu? Dafür waren sie beide doch noch viel zu jung! Es war ja Wolfs erster Gesandtenposten gewesen – von da ab hätte es eigentlich erst recht aufwärts gehen sollen. – Warum, warum mußte alles, was nun hätte werden können, so grausam zerstört werden? so grausam, so willkürlich! Und hätte man ihr gesagt, daß schon zahllose Menschen Ähnliches erduldet haben, so wäre es ihr unglaublich erschienen, denn sie wähnte noch, wenn es nur bekannt wäre, was Wolf angetan worden, so müßte eine entrüstete Welt ihm zu Hilfe eilen. Aber wie auch die anderen handeln mochten, für sie selbst bestand die unabweisliche Forderung, als Erste und vor allen anderen für Wolf zu kämpfen. Ja, sie mußte für ihn eintreten, sie war doch sein bester Freund, sie würde es alles erzählen, schreiben, hinausschreien in die Welt! Und da mußte es ihr auch gelingen, ihm weiter zu helfen, ihm Verteidiger und Freunde zu werben, ihm selbst neuen Mut zu schaffen. Denn so durfte es nicht für ihn enden! – Und sie sann weiter nach, was er nun wohl beginnen könne. Es gab ja nicht bloß die eine Möglichkeit, die eine Laufbahn? – Da erstand plötzlich vor ihr das Bild jener fernen Reichstagssitzung, bei der sie Wolf damals gesehen. Wie wenig wußten die Leute doch eigentlich von Auswärtigen Dingen, die dort unter der goldenen Kuppel sich als Kritiker der Regierung gebärdeten. Wieviel mehr hätte Wolf, an ihrer Stelle stehend, vorbringen können! – Wolf sollte nicht ein schweigender Zähneknirscher werden wie so viele! – Sie glaubte ihn schon dort in dem großen Reichstagssaal zu sehen – nicht mehr wie einst droben bei den Regierungsvertretern, nein, drunten bei denen, die Rechenschaft fordern. Und es würde ein langes Konto sein! – Ja, dort lag die Zukunft, dort Wolfs Bestimmung!
   Nach dem ersten Gefühl völliger Vernichtung atmete Ilse jetzt schon erleichterter auf. Es mußte für Wolf alles doch noch gut werden! Und alle ans bisherige Leben verwandten Kräfte brauchten dann nicht vergeudete zu sein – nein, die Erfahrungen, die er dort gesammelt, würden jetzt erst rechte Verwendung finden. Er würde seinem Lande doch noch dienen können – anders als er einst gedacht – besser vielleicht.
   Immer wieder sah sie den großen Reichstagssaal vor sich und erinnerte sich, wie ihr damals erklärt worden war, wo die einzelnen Fraktionen sitzen. Wolfs Platz würde wohl weit nach links sein! Sie entsann sich, wie sie einst in Weltsöden im Kreis Sandhagen gegen den Genossen Priebatsch erfolgreich agitiert hatte. Der hatte damals vorgegeben, sich für die Getretenen des Schicksals und Entrechteten einzusetzen – aber die, so wollte es Ilse heute scheinen, waren doch manchmal in ganz anderen Kreisen als in denen der Genossen zu finden! Und dann sagte sie sich, müde lächelnd, daß, wie bisher auf alle Posten, sie Wolf jetzt zu jeder Partei folgen würde; denn für sie gab es ja nur eine Partei, zu der sie gehörte: und das war er.
   Ach, es war schön, daß sie das gefunden! dachte sie, müder und müder werdend; gleich morgen früh wollte sie es Wolf alles erzählen! Dann würde das neue Leben beginnen!
   Während sie so allmählich hinüberglitt in das Reich, das nur mit geschlossenen Augen zu sehen ist, wo zwischen Unvereinbarem sich kühne Brücken spannen, Verlorenes wieder greifbar wird, und alle Wunder möglich scheinen, schreckte sie durch ein schwaches Geräusch noch einmal auf. Da sah sie, wie Wolf leise und behutsam aufstand, ans Fenster schlich, den Vorhang beiseite schob und hinausstarrte. Regungslos, kaum atmend, wartete sie. Aber endlich konnte sie es nicht länger ertragen; auch sie stand auf und trat zu ihm.
   »Wonach schaust du da?« fragte sie ihn leise.
   Er deutete hinaus, wo jetzt, über der schlafenden Stadt, die Lichter der Anzeigen längst erloschen waren. »Siehst du denn nicht?« sagte er mit einer ganz fremden Stimme. »Das Höllenrad ist nicht mehr draußen! Ich hab es endlich eingefangen – aber jetzt – jetzt dreht es sich hier – hier drin in meinem Kopfe!«
   Einen Augenblick noch starrte er sie an, als sei bei dem Klang der eigenen Worte ein letztes verstehendes Entsetzen in ihm erwacht. Um Erbarmen flehten die weit aufgerissenen Augen. Dann griffen seine beiden Hände tappend in die Luft. Mit einem gellenden nicht enden wollenden Lachen brach er vor ihr nieder.
   In ein Sanatorium hatte sie ihn bringen müssen. Nicht in der alten Handelsstadt, wo sie gelandet waren, sondern in einem benachbarten Kriegshafen, wo sich zugleich eine Universität befand. Dort sollte ein berühmter Arzt sein. Zu dem war ihr dringend geraten worden.
   Automatenhaft hatte sie es alles getan. Wie jemand eine Rolle hersagt, die nie für ihn bestimmt war, und die er nur durch einen Zufall, eine augenblickliche Notlage hat übernehmen müssen. Während der ganzen Fahrt nach dem Krankenhause hatte sie die Empfindung: Da ist irgendeine schreckliche Verwechslung vorgekommen – das ist nicht Wolf, das bin nicht ich – es muß sich gleich alles aufklären. – Und wenn er minutenweise so wie früher sprach und aussah, wallte es mit triumphierendem Frohlocken in ihr auf: Da seht ihr ja, es war alles Irrtum.
   Aber diese Minuten wurden immer seltener. Verschwanden bald gänzlich.
   In der Anstalt, da begriff sie, daß diese unmöglich scheinende Nachtmahr Wirklichkeit hieß.
   Sein Los, ihr Los!
   Warum?
   Aber – nicht denken. Dachte man erst, so blieb keine Kraft, es zu ertragen.
   Und sie brauchte ihre Kräfte.
   Nach dem ersten lähmenden Entsetzen, das sie anfänglich gar nicht begreifen ließ, was da vor ihren Augen geschehen war, kam langsam das Verstehen. Und mit ihm der herzbrechende Jammer, die bittere Empörung, daß so etwas sein durfte, der brennende Wunsch, ihm zu helfen, das Bewußtsein der Ohnmacht, es nicht zu können.
   Schlimmer wurde es und schlimmer. – Stunden beängstigendster Erregung des Kranken wichen Stunden erdrückendsten Verzweifelns. Immer und immer wieder schienen seine gepeitschten Gedanken die Erlebnisse der letzten Wochen zu durcheilen, und eine fieberhafte Unruhe war in ihm, eine Erwartung, daß noch irgendein Ergebnis, eine glänzende Rechtfertigung kommen müsse, daß es nicht so enden könne.
   Und es war doch alles längst zu Ende, vergessen schon.
   Unendlich verschärft und verfeinert hatten sich seine Sinne. Das fernste Geräusch nahm er wahr, fuhr auf im Bette und blickte nach der Tür, mit einem Ausdruck, der Ilse durchs Herz schnitt. So müssen Verurteilte ausspähen, die noch in letzter Stunde auf Begnadigung hoffen.
   »Steht denn gar nichts in den Zeitungen?« fragte er sie flüsternd.
   Da nahm sie eine Zeitung, ging damit ans Fenster, als wolle sie das Licht der sinkenden Abendsonne noch erhaschen, überflog suchend die Blätter und sagte dann: »Ja, hier ist wirklich etwas.« – Und mit fester Stimme las sie ihm vor, daß die Kunde vom Rücktritt des Gesandten von Walden in den weitesten Kreisen allgemeines Bedauern hervorrufe, da sich die Ansicht mehr und mehr ausbreite, daß sein Verhalten auf seinem letzten Posten während der dortigen bekannten Ereignisse ein durchaus richtiges gewesen sei, und man auch noch ferner viel gute Dienste fürs Vaterland von ihm erwartet habe.
   Er sank in die Kissen zurück und schloß die Augen. Die neugeprägten schmerzlichen Linien um seine Lippen schienen einen Augenblick verwischt. Ilse aber glitt leise aus dem großen Krankenzimmer in die kleine anstoßende Stube, die sie bewohnte. Da durfte sie weinen.
   Später sagte ihr die Krankenschwester: »Unser armer Herr wollte so gern noch einmal hören, was sie ihm vorhin aus der Zeitung vorgelesen haben – aber ich konnte die Stelle nicht wiederfinden.«
   »Es steht ja gar nicht drin,« antwortete Ilse.
   Die Pflegerin sah sie verwundert an. Da sagte Ilse: »Ach Schwester, Sie geben ihm das Morphium und ich die Lüge – und wir beide üben Barmherzigkeit.«
   Aber sie konnten ihm doch nicht helfen. Auch die Ärzte konnten es nicht. Die fiebernde Erregbarkeit, die folternde Schlaflosigkeit, all die schlimmen Symptome nahmen zu. – Es war ein plötzlicher, völliger Verfall, nicht nur der geistigen Herrschaft über die irrenden Gedanken, sondern auch aller physischen Kräfte, ein geheimnisvolles Versagen des Lebenswillens selbst.
   Die Ärzte der Anstalt kamen täglich mehrmals und beschauten Wolf, wie man ein armes, havariertes Schiff betrachtet, das nach vielen Fahrten untauglich geworden ist. Sie schüttelten die Köpfe und sprachen von Nervenschock und tiefer seelischer Depression, die in einem durch lange Tropenjahre unterwühlten Organismus besonders verheerend gewirkt hätten. – Ach, wie es alles gekommen, wußte Ilse ja ganz genau – das brauchte ihr niemand zu erklären. Nur sagen sollten sie ihr, wie er zu heilen wäre, was geschehen müsse, damit er wieder werde, der er einst gewesen. – Aber gerade das konnten sie ihr nicht sagen. Das ganze Leben hätte eben anders gelebt werden müssen, dann wäre auch das Ergebnis ein anderes gewesen. Darauf lief die ganze Weisheit hinaus. Es war, als ob man einem, der eine Tragödie verfaßt hat, sagte: Warum hast du nicht lieber eine Komödie geschrieben, dann wäre das Stück heiter ausgegangen.
   Aber haben wir denn je dem noch kommenden Unbekannten frei gegenüber gestanden? Läßt sich überhaupt das Leben leben, wie wir wollen, so daß es möglich gewesen wäre, anderes zu ergreifen, als was wir, scheinbar selbst bestimmend, wählten? Ilse fragte es sich jetzt bisweilen.
   Und dabei erhob sich vor ihr, aus den Nebeln der Vergangenheit tauchend, das Bild jener Florentiner Villa, in der sie beide vor Jahren einen kurzen, seligen Tag verbracht und von einem langen, verschwiegenen Glück geträumt hatten. – Sie sah die zwei ansteigenden Reihen alter Zypressen, die zu dem Hause führten, und zwischen denen sich der längst nicht mehr benutzte Weg zu sanft abgestuften Rasenterrassen gewandelt hatte. Im kurzen Grase blühten Anemonen und Hyazinthen. Und den ganzen verwilderten Garten oben am Hause sah sie wieder, die Lorbeerhecken, die keinen Schnitt mehr kannten, die alte Marmorbank mit den Löwenköpfen, auf der sie beide einst gesessen. Zu ihren Füßen senkte sich, silbrig vom Laub der Olivenbäume, der Abhang hinab. Drunten auf der Stadt lag blauer Dunst gebreitet, nur die eine große Kuppel ragte ganz klar daraus hervor, gleich einer mystischen Glücksblume, die sich ihnen darbot.
   War es ein Symbol gewesen? Hatte da das Glück zu ihren Füßen gelegen, bereit sich pflücken zu lassen? Und sie waren dran vorbeigeschritten, weil sie nicht verstanden, wohin der Wegweiser einer sich bescheidenden Weisheit wies?
   Wie wäre es wohl alles geworden, wenn sie an jenem Abend nicht mehr hinabgestiegen wären in das Getriebe der Welt, sondern sich für immer dort oben verborgen hätten, in den wehmütig schönen Sälen der stillen Villa, in den verschwiegenen Lauben, die Rosen und Glyzinen umspannen? Wären sie dann geschützt, verschont geblieben? War es vielleicht zu viel, was sie vom Leben verlangt – Liebe und Taten?
   Ach, müßig Fragen. – Wer entdeckte denn je das Land, da ihn das Schicksal nicht fände!
   Dunkler und dunkler ward es um die beiden, die vor wenig Wochen noch wähnten, Prägung von ihrem Geist und Wollen den Ereignissen aufdrücken zu können, und die nun weilten unter den alles Rechtes auf Willen Beraubten, unter den schlimmer als Toten, den lebendig Begrabenen.
   Es kamen Stunden, wo Ilse wie einst bei Anne Dore und dann im Sterbezimmer ihres eigenen Kindes die Nähe des unsichtbaren Etwas ganz deutlich fühlte, jenes Unheimlichen, das stets da ist und doch stets wieder vergessen wird. Und inmitten seiner fiebernden Phantasien mußte Wolf selbst plötzlich den kalten Hauch empfunden haben, der ihn schon so dicht streifte. Da stürzten all jene unsichtbaren Mauern ein, die sich auch zwischen den scheinbar vertrautesten Menschen trennend erheben. Und sie beide sprachen Worte zueinander, die nur auf die Lippen derer kommen, die vom Leben Abschied genommen haben. – Es gab keinen Schein mehr aufrecht zu erhalten, es lohnte nicht, noch irgend etwas zu verbergen. – Unverhüllt lag alles da. Einer blickte in des anderen geheimste Herzenstiefen, mit all ihrem Weh und Leid erschloß sich eine Seele vor der anderen. – Er sprach und sprach in der völligen Schwäche und Haltlosigkeit schwerer, zur Auflösung führenden Krankheit. Sie redete, um doch noch einmal im Leben dem alles gesagt zu haben, dem allein sie es sagen konnte, und den bald vielleicht kein Wort mehr erreichen würde.
   Manches, worüber sie mit den Jahren gelernt hatten, schweigend und scheu hinwegzugehen, ward nunmehr klar. Schleier fielen, Rätsel lösten sich. Wie viel stummes Weh jeder vor dem anderen verborgen, erfuhren sie erst jetzt. Und wie müde die Schultern, wie wund die Füße ihnen oft geworden auf dem steinigen Weg an der brennenden Felsenwand, den sie nun schon so lange zusammen geschritten waren. Und wie immer, wo Menschen völlig aufrichtig zueinander sind, blieb nichts wie ein grenzenloses, gegenseitiges Erbarmen übrig, als letztes, geklärtestes Lebensergebnis.
   Sie kniete an seinem Bett, und er umschlang sie mit letzten, schwindenden Kräften. Das Beste des ganzen Lebens, die Heimat, waren sie sich einer dem anderen gewesen. Mit erstickender Stimme sagten sie sich‘s – und sollten nun doch für immer voneinander lassen.
   Die Pflegerin wandte sich ab – sie konnte den Jammer nicht mit ansehen. Hatte die beiden schon lieb gewonnen, gleich nach den ersten Stunden.
   Dann kamen die Ärzte, mühten sich um Wolf die lange, langsam schleichende Nacht. Wollten des Daseins Lichtchen nicht erlöschen lassen, wenngleich es fortan noch so kläglich nur brennen sollte. Gestatteten dem müden Herzen nicht stille zu stehen, kämpften um das fliehende Leben, wie sie es ja auch getan hätten, wenn ihr Kranker ein zu lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilter gewesen wäre. Wie man einen Ertrinkenden rettet, einerlei, welchem Elend er zurückgegeben werden mag.
   Und Ilse stand daneben und hätte ihn halten und ihm zurufen mögen: bleib, bleib – und wenn nicht für dich, so für mich, weil ich gar zu einsam wäre und ohne dich das Leben nicht ertragen könnte. – Er aber weilte schon fern, konnte ihre Stimme nicht hören. – Da wandte sie sich an einen noch Ferneren. »Laß ihn mir! laß ihn mir!« betete sie. Und immer wieder: »Laß ihn mir! laß ihn mir!« Wie ein Pochen und Rütteln an einer geschlossenen Tür war dies Beten, ein verzweifeltes Pochen und Rütteln, das nicht nachlassen würde, bis die Tür sich öffnete.
   Und er blieb am Leben. Auch das heißt ja Leben.
   Ihr Rütteln und Pochen war gehört worden. Er war ihr gelassen. Sie konnte ihn sehen, all die langen Stunden der Tage und Nächte, in denen sie ihn nie verließ. – Ja, er war ihr gelassen. Und doch…
   War das wirklich ihr Wolf? Der, den sie all die Jahre gekannt und geliebt, mit dem sie alles in all den Ländern geteilt hatte? Es konnte ja nur er sein. Und doch war es ein anderer, jemand, den sie nicht kannte. Wie ein Spuk schien es ihr manchmal, durch den ein Fremder sie mit den wohl vertrauten Zügen narre.
   Aber sogar die äußeren Züge änderten sich, die Krankheit grub neue scharfe Linien in sie ein und bleichte die Haare; wenige Wochen bewirkten, was sonst nur die unmerkliche Arbeit vieler Jahre vollbringt. Vor der plötzlichen Wandlung stand sie gramerfüllt; jede Stunde, die verrann, nahm ihm etwas von dem, was er gewesen, machte ihn zu einem anderen. Und da gab es kein Halten, weiter, immer weiter glitt er fort von ihr. Und sein Geist weilte in fremden Welten, zu denen es für sie keinen Zutritt gab. – Ach, wo war der, der all sein Denken und Wissen einst mit ihr geteilt? War es möglich, daß er und dieser ein und derselbe sein konnten?
   Szenen ihres früheren Lebens tauchten plötzlich vor ihr auf; Worte, die er an verschiedenen Orten zu ihr gesprochen, glaubte sie noch einmal zu vernehmen – und dabei überkam sie ein grenzenloses Verlangen, nach diesen Orten eilen zu können, im Wahne, daß sie ihn dort wiederfinden würde, so wie er damals war. Nach jener scheinbar noch so nahen Vergangenheit verlangte ihr ganzes Herz, in sie wollte sie hinabtauchen. So begann sie mit ihren Gedanken rückwärts zu leben, und ihre Vorstellungen verwirrten sich allmählich so, daß sie bisweilen wähnte, wenn sie eine Uhr nähme und die Zeiger immer weiter und weiter zurückdrehe, so würde sie die Zeit zwingen, um Tage, Wochen, Jahre rückwärts zu gehen – und dann mußte sie doch endlich einmal bei dem Augenblick anlangen, wo sie ihn wiederfinden würde, so wie er einst wirklich gewesen und jetzt nur noch in ihrer Erinnerung war. Ja, in die Vergangenheit wollte sie zurück, so weit, bis sie bei Dem anlangte, nach dem ihr Herz vor Heimweh brach.
   Wachen und Träumen, Gegenwart und Vergangenheit gingen ineinander über, wenn sie so Nacht um Nacht neben ihm saß. Manchmal schlossen sich ihre Augen, ohne daß sie es selbst wußte. Wie durch einen Nebel sah sie Bilder, und Töne klangen zu ihr aus weiter Ferne. – Das Zirpen zahlloser Zikaden, das sie beide so oft in tropischen Nächten vernommen, glaubte sie wieder zu hören, all die tausend Stimmchen, die in den Ländern jenseits der Meere während der finsteren, schwülen Stunden tönen. Palmenblätter knisterten metallisch, gleich den Schwertern unsichtbarer Heere, Farren auf hohen Stämmen winkten und nickten wie grüßend aus fernen Urzeiten der Erdengeschichte. In die Mysterien der Tropenwälder, die sie so oft zusammen geschaut, blickte sie noch einmal im Halbschlummer zurück, fühlte sich noch einmal umgeben von all jenem brodelnden Leben, das achtlos über den Tod hinwegeilt, dem ein einzelnes zerstörtes Dasein so belanglos scheint! Oft war sie so erschöpft, daß sie nicht mehr genau unterschied, was sie sah und hörte. Die alltäglichen Laute, die von der Straße zum Krankenzimmer nur gedämpft drangen, wandelten sich in ihrem halb dämmernden Bewußtsein zu anderen einst vernommenen Tönen und beschworen Bilder, ganze Zeiten vor ihr auf. Das Tuten der Automobile wandelte sich zum beklemmenden Klang von Nebelhörnern, wie sie durch dichtes wogendes Grau auf schauerlicher Meerfahrt tönen. – Die Klingel eines vorbeieilenden Radfahrers wurde zur Glocke einer Kamelkarawane; sie sah die lange Linie der aneinander gebundenen Tiere; mit den wippenden, wiegenden Köpfen, sich an steilem dürren Abhang herabwinden und tief unten in die breite, baumbeschattete Straße biegen, die zu der fernen heiligen Stadt des Ostens führt. Seltsam geformte Karren knarrten durch den Staub, gezogen von weißen Rindern, die Ketten goldgelber Blumen trugen. – Einen großen Hof sah sie, umschlossen von ragenden Palästen. In langer Reihe umstanden Elefanten den weiten Platz, regungslos, wie aus Stein gehauen, so daß sie Teile zu sein schienen des reichgeschnitzten Gemäuers. – Tänzerinnen in goldgestickten Gewändern drehten sich langsam in dem Hofe, von flackernden Fackeln beschienen, und die silbernen Reifen an ihren schmalen braunen Knöcheln schlugen zu ihrem Reigen rhythmisch aneinander. Und weiße, mondbeschienene Kuppeln, die sich in einem breiten Strome spiegelten, tauchten vor ihr auf; goldene Pagoden an violetten Seen, verlassene Städte, in deren ausgestorbenen Straßen graue Affen wie die Gespenster einstmaliger Menschen hausten.
   Ja, all die vielen Punkte der Erde, die sie mit Wolf geschaut, erblickte sie wieder. Das ganze Leben zog in Bildern an ihr vorüber – das Leben, von dem er so viel noch erhofft hatte, dessen lichte Stunden ihm immer als die Vorboten noch strahlenderer Tage erschienen waren – das Leben, das oftmals ein so schwerer Kampf gewesen und das zu dieser Niederlage geführt hatte.
   Anfänglich ertrug es Ilse alles mit einer Widerstandskraft, über die sie selbst und alle, die ihr nahten, staunen mußten. Es war, als besäße sie Vorräte an Mut und Ausdauer und Nervenstärke, die unergründlich blieben, mochte sie daraus auch noch so verschwenderisch schöpfen.
   Allmählich aber begann, neben dem eigenen bohrenden Jammer, auch der Einfluß der ganzen Umgebung an ihrer Gesundheit und Selbstbeherrschung zu nagen. Zuerst hatte sie diese Umwelt ja gar nicht beachtet. Als wäre sie plötzlich in einen Raum tiefster Finsternis gestoßen worden, so war es gewesen. Doch nun hatten ihre Augen gelernt, in dieser Dunkelheit zu sehen, – und sie erblickte eine Welt, von der sie bisher nichts geahnt hatte, wo alles Schrecken und Grauen war. – Hinter jeder Tür in diesem Hause barg sich ja eine andere Tragödie, ein anderes Stück menschlichen Elends. Und solcher Häuser gab es viele! Über die ganze Erde waren sie verstreut! – All dies Dunkle, Furchtbare bestand, hatte immer bestanden, von jeher mußten zahllose Wesen so leiden – und doch war es möglich, daß währenddessen und dicht daneben das andere Leben, wo man tat, als wisse man nichts von all diesem Jammer, seinen gewohnten Lauf weiter ging. Wie nichtig, wie trughaft erschien doch alles, um das man sich dort sorgte, neben den furchtbaren Tatsachen, die Ilse hier kennen lernte!
   Wie früher von Karrierenaussichten, von Ernennungen und Verabschiedungen, so hörte sie jetzt von Krankheitsverläufen reden, von schlimmen Symptomen, von unheilbaren Fällen. Und unter dem Ansturm all der so gänzlich neuen, so qualvollen Eindrücke sank die Welt, in der Ilse bis dahin gelebt, immer weiter ins Schattenhafte zurück. Abgeschieden von allem, was sich außerhalb der Mauern des Krankenhauses zutrug, dünkten sie Gesundheit und Leben jetzt oft nur noch ein Traum. Leiden und Sterben, das waren die großen Wirklichkeiten!
   Wie nun die Wochen schwanden, ohne Wandlung zu bringen, kam doch schließlich eine große Erschöpfung über Ilse. Aber nicht die Müdigkeit ihres hinwelkenden Körpers war das Schlimmste, nein, mit Entsetzen nahm sie wahr, daß ihr bisweilen die Herrschaft über ihren Geist entglitt, daß auch ihre Begriffe sich zu verwirren begannen. Sie beobachtete sich nun selbst, ganz so, wie sie allmählich gelernt, daß Ärzte und Pflegerinnen die Patienten beobachteten. Und sie hatte Angst vor den eigenen unsteten Gedanken, vor all dem Huschenden, Sprunghaften und Verschobenen, das sie in sich fühlte. – War auch sie vielleicht schon eine Kranke, eine der vielen, von denen die anderen Menschen es nur noch nicht wissen?
   Aber das durfte nicht sein – sie mußte klar und wach bleiben. Und sie trachtete, gegen sich anzukämpfen, suchte inmitten all des flatternden, sich verwischenden einen Halt zu finden. Aber was steht denn fest, wo alles schwankt? – Zahlen, dachte sie da, Zahlen, die verändern sich nicht – und aus den Wogen schwindender Begriffe klammerte sie sich in einer verzweifelten Anstrengung an das, was ihr wie Felsen erschien! – Zwei und zwei macht vier; vier und vier macht acht; acht und acht macht sechzehn – soweit kam sie – aber ihre Hände zitterten, und ihre Stirn war feucht – weiter, weiter, es mußte gehen – acht und acht macht sechzehn, keuchte sie, – sechzehn und sechzehn – sechzehn und sechzehn? – Sie suchte, suchte: sechzehn und sechzehn? – Wenn sie die Antwort fand, war sie gerettet. Aber sie konnte nicht – so sehr sie ihre Gedanken auch spannte. – Eine Angst, eine entsetzliche, alles verwirrende Angst hatte sie gepackt. – Alles um sie her verschwand, sie sah in einen schwarzvioletten Abgrund, in dem sich feurige Kreise drehten: sechzehn und sechzehn? fragte der Verstand noch einmal – aber immer wieder wirbelten die glühenden Kreise vor ihren Augen. – Die Kreise zählen! die Kreise zählen! kreischte es in ihr. Aber die hatten sie selbst schon in ihren wilden Reigen gezogen, sie war zu einem Etwas geworden, mit dem eine unerbittlich grausame Macht spielte, wie der Sturm mit einer Feder – hin und her wurde sie geschleudert – es war ihr, als pralle sie gegen feststehende Tatsachen, an denen sie zerschellen mußte, aber das Verwirrendste war, daß nicht sie zerschellte, sondern die Tatsachen umsanken – alles ließ sich umstoßen, alles verschwamm – auch die Zahlen standen nicht mehr fest – zwei und zwei macht vier – war das wirklich so? Es konnte ja auch alles anders sein!
   Solche Stunden, nach denen sie wie gepeitscht zusammensank, durchlebte sie manche Nacht. Und das Erschöpfendste war, daß sie nie ganz nachgab, daß immer noch ein Fünkchen Wille in ihr blieb. Sie durfte ja nicht die Zügel fallen lassen, – so sehr sie sich auch sehnte, in jenen dunklen Strudel hinabzugleiten, wo alle menschliche Verantwortung endet.
   Und wenn dann der Morgen kam, brachte er eine andere Angst: daß die Ärzte entdecken könnten, wie hoch schon die Wellen des Meeres der Unzurechnungsfähigkeit an ihr emporleckten. Sie zwang sich mit gesenkten Lidern zu ihnen zu sprechen, aus Furcht, daß sie es alles in ihren Augen lesen möchten. Denn ihre Augen, das fühlte sie, mußten auch schon den seltsam stieren, wie unter ungeheurer Last erstarrten Blick haben, den sie mit Grauen an so manchem Kranken gesehen, und der nur wich, um einem noch unheimlicheren Flackern Platz zu machen, das hüpfte und sprang, wie gierig sengende Flammen.
   Es war ein seltsamer Doppelzustand, in dem sie sich befand. Sie hörte ganz genau, was die Ärzte sagten, sie verstand jedes ihrer Worte, gab die richtige Antwort auf alle Fragen und führte Anordnungen peinlichst aus – aber dicht neben diesem Gebiet, wo sich alles mit automatenhafter Pünktlichkeit abspielte, lag das andere große Reich, wo Chaos und Entsetzen herrschten, das Reich, in das niemand blicken durfte, das mit eisernen Türen verschlossen werden mußte. – Und diese Türen waren ihre gesenkten, bläulich geäderten Lider, ihre zusammengepreßten zuckenden Lippen.
   Und dann kam der dunkelste Tag.
   Eine besondere ärztliche Berühmtheit war Ilse zur Konsultation vorgeschlagen worden. Wie in jedem solchen Fall erwachte alsobald eine beinahe abergläubische Hoffnung in ihr: Der, gerade der, mußte Heilung bringen! Und sie konnte sein Kommen kaum erwarten.
   Endlich war der berühmte Professor da. Er untersuchte sehr genau und stellte allerhand verwickelte Versuche an. Wolf ließ alles über sich ergehen, mit stumpfer Teilnahmlosigkeit, in die sich doch, wie ein Schimmer früheren Wesens, eine gewisse müde Höflichkeit mischte. Dann versuchte der große Arzt, sich von ihm erzählen zu lassen. Anfänglich erhielt er nur widerwillige, abgerissene Antworten von dem Kranken, als fürchte der, seine geheimsten Gedanken einem feindlichen Späher zu offenbaren. Aber allmählich gewann die hypnotisierende, vertrauenerzwingende Persönlichkeit Macht über ihn. Weit vorgebeugt, mit kaum hörbarer Stimme und von Zeit zu Zeit scheu um sich blickend, begann Wolf in kurzen Sätzen stoßweise zu reden. – Ilse vermochte den Anblick, den sie nun doch schon so gut kannte, kaum zu ertragen; die hagere, ganz zusammengekauerte Gestalt, das abwechselnde Starren und Flackern der Augen, das Zittern der mager und gelb gewordenen Hände, der ganze Ausdruck gequälter, gehetzter Angst. Was hatte das erbarmungslose Leben doch aus ihm gemacht! – Und was er sagte, war ebenso schmerzvoll, wie die Art, es zu sagen. – Da kamen Erinnerungen ihres früheren Lebens – die waren so klar und deutlich, daß Ilse sich ganz in die entschwundenen Zeiten zurückversetzt wähnte, aber während er noch erzählte, von dem letzten Posten, der Ankunft der Schiffe und seiner plötzlichen Abberufung, verwandelte sich sein ganzes Wesen und Reden, leiser, scheuer flüsterte er, von der Verschwörung gegen ihn, die damals begonnen und die weiter bestände, die ihn auch hier umgäbe, hinter jeder Tür lauere, aus dem Benehmen aller hervorgehe. Die tödlichste Angst stand dabei auf seinen Zügen, während er keuchend und zitternd die gewähnten Verfolgungen enthüllte. – Und Ilse sah, wie das Gesicht des Arztes, der den ersten Ausführungen mit sichtlichem Interesse gefolgt war, allmählich den halb mitleidigen, halb gleichgültigen Ausdruck annahm, den Ärzte für Fälle haben, über die sie glauben, keine Illusionen mehr hegen zu können. Er widersprach nicht, sondern ließ Wolf ruhig reden. Schließlich zuckte der berühmte Mann unmerklich die Achseln. Dann zog er sich zur Besprechung mit den behandelnden Ärzten zurück.
   Bald darauf ward Ilse zu ihnen gerufen. Wie einer Beschuldigten vor den Richtern war ihr zu Mute: »Angeklagte, Sie haben einen schwerkranken Mann.« – Ja, ja, das wußte sie! Aber, nicht wahr, es war ihm doch zu helfen? Er konnte gerettet werden? es war doch keine … Verurteilung, die die Richter aussprechen wollten? – Die Antwort kam zögernd: »Diese Verfolgungsideen sind ein schlimmes Symptom.« – Nun fühlte sie sich als seinen Anwalt, sie hatte ja immer die Empfindung, ihn verteidigen zu müssen. »Aber er ist doch wirklich verfolgt worden,« brach es aus ihr hervor, »alles was er ihnen erzählt hat von seiner Abberufung, das ist wörtlich wahr, ich habe es ja alles mit erlebt!«
   »Das will ich Ihnen gern glauben,« antwortete der berühmte Mann, »obschon die Darstellungen in manchen Blättern damals anders lauteten – das Bedenkliche sind die weiteren Folgerungen, die der Patient daraus zieht – er hat sich ein ganzes System ausgedacht.«
   »Und… wie kann man das heilen?« fragte sie.
   »Die Wissenschaft steht da noch vor Rätseln – wahrscheinlich handelt es sich bei solchen Erkrankungen um chemische Veränderungen des Gehirns, die weder nachzuweisen noch zu beeinflussen sind.«
   »Aber er wird doch wieder gesund werden? Er muß doch? Er kann doch nicht so bleiben?«
   »Ich möchte Ihnen nicht … allzuviel … Hoffnung machen.«
   Sie starrte ihn wortlos an, und er fröstelte unter der Verzweiflung dieses Blickes.
   Ihre Lippen waren weiß geworden, und sie preßte unwillkürlich die Hände an ihre linke Seite, wo sie plötzlich einen unerträglichen Schmerz empfand. Der Arzt drückte sie in einen Sessel nieder und beugte sich beobachtend über sie.
   »Es … ist … nichts,« keuchte sie, »nur … das grenzenlose Mitleid … das … tut so weh.«
   »Ja, das Mitleid!« sagte der Arzt sinnend. »Das Mitleid ist eine sehr kostbare Sache – wir dürfen damit nicht zu verschwenderisch umgehen – denn wir nehmen uns viel damit und können schließlich doch immer nur wenig dadurch geben.«
   »Wer vermöchte denn je bei Mitleid zu rechnen?« flüsterte sie.
   »Es ist eben nötig, auch das zu lernen,« sagte er.
   »Sie meinen, die Kräfte würden dadurch zu sehr verringert?« fragte sie leise.
   »Ich fürchte es – in Ihrem Fall.«
   »Ich werde die nötigen Kräfte schon bewahren, Herr Professor.« – Sie stand jetzt hoch aufgerichtet vor ihm, und es klang beinahe drohend, aber er verstand, wie sie es meinte, sie bedrohte ja sich selbst.
   Als sie wieder bei Wolf eintrat, saß er noch immer, wie sie ihn verlassen, angstvoll zusammengekauert, wie ein Gefangener, und sie hatte eben vernommen, daß er schon ein Verurteilter war.
   »Bleib doch bei mir, laß mich nicht so lang allein,« sagte er klagend.
   Da kniete sie auch schon neben ihm, hatte ihn umschlungen und ihr Gesicht an seine Schulter vergraben, daß er nicht den grenzenlosen Jammer in ihren Zügen sähe. Der furchtbare physische Schmerz von vorhin preßte ihr wieder das Herz zusammen – ja, das Mitleid tat weh, weh. Aber sie achtete nicht mehr darauf. Sie allein blieb ihm, was immer sie geben konnte, das sollte er haben.
   »Ich werde dich nie allein lassen – ich werde immer bei dir bleiben.«
   Von da an kam eine gewisse Ruhe über Ilse, denn sie fühlte, daß sie an die Grenze ihrer Leidensfähigkeit gelangt war, diese Grenze, bis zu der jeder einmal muß, und die, durch ihre verschiedene Weite, vielleicht den Ausgleich der ungleich scheinenden Geschicke bildet.
   So fühlte sie auch nicht mehr das Schuldbewußtsein, das den nachdenkenden Reichen beim Anblick der Armen überkommt. Zu den bleichen Fabrikarbeitern, den rußigen Lastenträgern, den verkümmerten Bettlerkindern hätte sie jetzt sprechen können: Ich gehöre nicht mehr zu denen, die ihr feindselig und neidisch anzuschauen braucht, denn mein Elend mag anders aussehen wie das eure, aber es ist ebenso schwer.
   In der Größe ihres Schmerzes lag eine Art Vollendung.
   Lange, bange Monde folgten.
   Die Segelregatten, die alljährlich in den Buchten und Förden vor dem Kriegshafen gehalten wurden, waren vorüber, die Gewinne von glücklichen Siegern heimgetragen. Andere Preise noch wie Gold– und Silberpokale! Denn neben den Fremden, die aus Sportliebe oder Neugier um diese Zeit stets in Scharen zu der sonst stillen Stadt strömten, gab es auch manche, die mit weiter tragenderen Absichten kamen und, in dem harmlosen Yachting-Kostüm, bei den ungezwungenen und wie zufälligen Zusammenkünften mit machtvollsten Persönlichkeiten, die Förderung eigenster Interessen eifrig betrieben. Zu einem Ort, wo über dienstliches Leben und Sterben oftmals gewichtige und einschneidende Entschlüsse gefaßt wurden, war die von Buchenwäldern umgürtete Ostseebucht geworden.
   Doch Heischer und Spender von Gnaden waren wieder abgereist. Die Kriegsschiffe, die für die Dauer der Festwoche in stattlicher Zahl auf den blauen Fluten gelegen hatten, waren verstreut auf der Fahrt zu anderen Häfen, und über das Wasser tönte nicht mehr das Dröhnen ihres Salutschießens zu Ehren hoher Gäste.
   Von all dem Treiben hatte man in der Anstalt nichts gemerkt. Das alles gehörte ja in die Welt derer, die noch etwas wollen und Ziele haben, zu deren Erreichung günstiger Wind die Segel schwellen muß. Hinter diesen Mauern aber lebten ja nur arme Niedergebrochene, die im Schicksalssturm gescheitert waren, oder auch solche, die überhaupt nie recht gestartet waren, weil eine unverständliche Macht sie von Anfang an untauglich zur Fahrt erschaffen hatte.
   Nach der Regattenzeit zog an der nun wie ausgestorbenen Stadt der kurze nordische Sommer vorüber; bald kamen auch schon die ersten kalten Nächte und färbten die Buchenwälder mit kupfrigem Rot und goldenem Gelb.
   Von der See her kamen jetzt die Herbstböen gezogen. Am seinen grauen Horizont stiegen die fahlen Wolken auf, ballten sich rasch empor zu seltsamen Gebilden und jagten dann dahin, wie wilde, weißbeschwingte Rosse. Ganz dicht über dem Meere strichen sie, die schweren Fittiche durch die eisigen Fluten schleifend, schwangen sich triefend ans Land und schüttelten die wehenden Mähnen, daß die ersten Schneeflocken daraus herniederfielen. Und weiter rasten sie durch die engen Straßen der Stadt, füllten sie so ganz mit ihrem Wirbeln und Wiehern, daß die wenigen Fußgänger sich ängstlich vor ihnen duckten und an die Häuser drückten. Doch kaum war die Stadt durchflogen, wo der Wind sich unwillig durch die Gassen hatte drängen müssen, so schwoll seine Stimme draußen erst recht zu brausendem Toben an; heulend rief er zur Jagd, und die eng aneinander gekeilten Wolkenrosse folgten ihm in wilder wütender Hast. Aller Hemmnisse frei stoben sie nun schnaubend auseinander und, zu weiter Linie entfaltet, fegten sie über das flache nordische Land.
   An solchen Tagen konnten manche Kranke stundenlang am Fenster stehen und hinausstarren, als erkennten sie draußen etwas von dem staunend wieder, was in ihrem eigenen Innern stürmte. – Andere dagegen kauerten verzagt in den Zimmerecken und zuckten zitternd zusammen, wenn ein besonders starker Windstoß durch die Schornsteine fuhr und an losen Ziegeln und knarrendem Holzwerk zerrte. Ängstlich lauschten sie auf das Ächzen und Stöhnen in den Lüften, das sich den Lippen anderer unsichtbarer Kranken zu entringen schien.
   Wochenlang drang kein Sonnenstrahl durch das dichte graue Gewölk. In den langen Korridoren des Krankenhauses war es so dunkel, daß auch während des Tages Licht brennen mußte. Durch den von überall her eindringenden Nebel glühten die elektrischen Birnen, wie es Ilse früher in den tiefgelegenen Gängen von Schiffen gesehen. Es war ihr ja so oft, als befände sie sich wieder auf einem Schiff in voller Fahrt! Alles mahnte sie daran. Das Heulen des Seewindes hier wie dort; die Dünste der ihrem Zimmer nahen Kaffeeküche; das Läuten zu den gemeinsamen Mahlzeiten der nur leicht Erkrankten; das zeitweilige Klagen und Seufzen hinter den Zellentüren zu beiden Seiten der Gänge; das gleichgültige Verrichten regelmäßig wiederkehrender Arbeiten durch die Bediensteten und Pflegerinnen, das dem sturmgewohnten, unbekümmerten Hantieren von Seeleuten glich. Und wenn Ilse die Ärzte, nach den Besuchen in den Krankenzimmern, noch einen Augenblick in den Korridoren zusammen reden sah, so erschienen sie ihr wie des Schiffes Kapitän und Ingenieure, die die geheimen Schäden und Gefahren kennen und den sichersten Kurs beratschlagen. Aber Ilse wußte nun auch schon, daß sie auf dem schlimmsten und unerforschtesten aller Meere steuerten und selbst auch nicht vorauszusagen vermochten, ob sie je einen ihrer Leidenspassagiere in sicherem Hafen landen würden.
   Sie gewöhnte sich das Fragen ab, das ihr anfänglich, wie allen Neulingen in der Pflege geliebter Kranken, gegenüber jedem Arzt ganz unwillkürlich auf die Lippen gekommen war, weil sie noch in jedem einen allwissenden Heiland vermutet hatte. – Sie sah es ja auch selbst, und ohne daß ein Arzt es ihr zu sagen brauchte, daß die dunklen Tage vorbeischlichen, ohne Wechsel und Wandel zu bringen.
   Nach der anfänglichen Erregung war Wolf jetzt meist in stumpfes Brüten versunken. Ganz fern schien er zu weilen, und es war Ilse, als läge ein Meer zwischen ihnen beiden, das sie durchschwimmen müsse, um zu ihm zu gelangen. Ein schier unmögliches Unternehmen! Aber sie wollte es doch nicht aufgeben; sie wollte zu ihm, in das Reich geistiger Fata morgana am jenseitigen Ufer, wollte ihn von dort mit sich zurückführen in die Welt der Wirklichkeiten. Sie allein vermochte es, das fühlte sie wohl.
   Ilse kannte allmählich die Geschichte mancher Patienten der Anstalt, und es wollte ihr scheinen, als ob doch bei vielen irgendein schmerzliches seelisches Erlebnis den letzten Anstoß zur Erkrankung gegeben, war nicht das vor allem der Punkt, wo Behandlung und Beeinflussung einsetzen sollten? Doch solche Herzensarbeit war von keinem Arzt und keiner Pflegerin zu leisten, da mußten eben, neben deren Arzneien und Vorschriften, Liebe und Kenntnis der nächsten Angehörigen eingreifen. Aber die meisten Kranken waren ja ganz allein. Gichtbrüchige, Blinde, Schwindsüchtige werden von ihren Nächsten meist liebevoll gepflegt, nur diese Allerärmsten, deren Seelen ohnedies Martern litten, die ließ man auch noch so völlig vereinsamen. Es gab da welche, die vor Jahren eingeliefert worden waren: jene, die sie einst gebracht, waren bald mit sichtlicher Erleichterung abgereist; seitdem wurde die Pension zwar pünktlich für sie bezahlt, aber niemand fragte nach ihnen in all der langen Zeit. Sollten diese Patienten je gesunden, fragte sich Ilse bisweilen, wie würden sie wohl von den Angehörigen aufgenommen werden, die sich so gar nicht um sie gekümmert hatten?
   Ach, daß doch nie ein Hauch solcher Kälte bis an Wolf zu dringen vermöchte! daß es ihr gelänge, ihn immer davor zu schützen und schirmen!
   Und Ilse, die doch so müde war, die so gern an dieser steilsten Stelle des brennenden Felsenpfades die Bürde niedergelegt hätte, betete nur noch um die eine Gnade, daß ihre Kräfte nicht vor denen Wolfs versagen möchten, daß der Weg ihr nicht abgekürzt werde, sondern daß sie mit ihm gehen könne bis zum Ende.

 //-- * --// 
   Weihnachten nahte.
   Bis in das Krankenhaus brandeten die Wogen fieberhafter Tätigkeit, die die deutsche Welt um diese Zeit alljährlich erfüllen. Handarbeiten tauchten plötzlich bei den nur leicht Erkrankten auf, und solche, die ausgehen durften, wanderten mit den Pflegerinnen in die Läden der Stadt, zu langen, schwankenden Auswahlen. Die Ärzte sahen all das gern, denn es lag etwas Heilendes in dieser zu alten Gewohnheiten zurückführenden Geschäftigkeit. Bei ihren täglichen Besuchen fragten sie nach Einkäufen und Vorbereitungen, froh auch ein neues Thema für ihre monoton wiederkehrenden Gespräche mit den Patienten gefunden zu haben. In der Anstalt selbst wurde gebacken, Nüsse versilbert und Ketten geklebt, als sei es ein Haus wie jedes andere deutsche Haus, und die Oberin hatte dieselben Sorgen wie andere Hausfrauen, ob das rosageblümte Kattunkleid wohl den Wünschen der etwas leichtsinnigen Grete entsprechen würde, und ob der soliden Rieke Wunsch nach Bettwäsche etwa auf Heiratsabsichten deute. Grete und Rieke wiederum waren in dieser Zeit leise, schnell und gefällig in all ihren Dienstleistungen, wußten nichts mehr von zugeworfenen Türen, ungebürsteten Kleidern, noch vergessenen Aufträgen. Der Koch kochte schmackhafter, der Hausdiener putzte die Stiefel blanker. Alle eingedenk des kommenden Tages trinkgeldlicher Vergeltung. Für die Pflegeschwestern und auch bei manchen Kranken langten schon vor dem Feste Pakete aus der Heimat an, und man tauschte untereinander aus, badische Springerle gegen pommersche Spickgans, Königsberger Marzipan gegen Braunschweiger Würste. Ein Strom des Wohlwollens, des Wunsches, Freude zu bereiten, ging auch durch diese kleine Welt. – Aber daneben gab es auch Stuben, die kein Christkindchen mit Erlösungsbotschaft betrat, sondern wo die Tragödie geistigen Sterbens unaufhaltsam weiter schritt.
   Ilse hatte im geheimen ein Bäumchen für Wolf geschmückt, denn es sollte doch nicht alles anders sein als sonst. Aber was konnte sie ihm schenken, den ja nichts mehr erfreute? Schließlich hatte sie sich doch ein paar Kleinigkeiten ausgedacht. Und dann hatte sie auch noch einige Sachen für sich selbst besorgt, die sollte er ihr schenken. Denn wenn er die Bedeutung des Abends überhaupt wahrnahm, würde er ihr sicher etwas bescheren wollen, und er sollte nicht die Empfindung bekommen, einer geworden zu sein, der nichts mehr zu geben hat. Aber wie sie so die Dinge bestellte, von denen sie doch nicht wußte, ob er sie je bemerken würde, überkam sie mit überwältigender Gewalt das volle Bewußtsein eigener Verarmung, das bisher vor dem einen großen Gefühl des Mitleids mit ihm noch gar nicht recht erstanden war. – Sie entsann sich, wie er sie früher wochenlang vor Weihnachten nach Wünschen ausgeforscht hatte; wie er in allerhand geheimen Schubladen und Gefächern die künftigen Geschenke für sie aufspeicherte und sich dann am heiligen Abend mit dem Aufbau für sie so wichtig und glücklich abmühte. – All die Liebe, all die Sorge, mit der er sie umgeben, die würde sie nun missen müssen? Aber wo war denn nur all diese Zärtlichkeit hin entschwunden, die sie begleitet hatte seit vielen Jahren? Vermochte Krankheit sogar sie zu töten?
   Erinnerungen an all die früheren Winter stiegen vor ihr auf, so daß das kleine trübselige Krankenhauszimmer zu versinken schien, und sie sich von lauter Bildern entschwundener Tage umringt wähnte. – Da war ein Weihnachten in Südamerika: Eine Araukarie im Garten hatten sie zusammen als Weihnachtsbaum geschmückt, mit silbernem Lahn und duftenden Florifundien, und die Wachslichter waren ganz weich von der Hitze gewesen. Die indianischen Gartenarbeiter starrten mit großen staunenden Augen auf dies nie geschaute Fest und hatten dann, mit der Sprachgewandtheit ihrer Rasse, volltönende spanische Dankesreden auf diese neue fremde Herrschaft gehalten, die auch sie beschenkt. – Nachdem die Lichter erloschen, waren sie beide in der schmalen Schlucht, die an den Garten stieß, noch etwas gewandelt; dort dufteten verwilderte Orangenbäume, unsichtbare Nachttierchen surrten und zirpten, der Palmen Blätter knisterten metallisch im Nachtwind, und über ihnen, in unendlichen Höhen, leuchtete das südliche Kreuz. – Einmal auch waren sie zu Weihnachten an Bord eines großen Dampfers gewesen, auf der Fahrt nach einem ihrer fernen Posten. Als nun der heilige Abend kam, hatten sie beide lachend entdeckt, daß sie denselben Gedanken gehabt und jeder für den anderen heimlich ein winziges Bäumchen mitgebracht; da nahmen sie das eine, stiegen damit herunter ins Zwischendeck und bescherten dort den Auswandererkindern. Blaßäugige Nordländerinnen, Slawinnen mit vortretenden Backenknochen und heimatliche deutsche Mütter hatten ihnen dankend die Hände gedrückt. Lauter arme, entwurzelte Existenzen, die für einige Tage auf denselben schwankenden Brettern zusammengedrängt über das finstere Weltmeer fuhren und zukunftsbang dem Wogenprall, dem Sturmesheulen lauschten.
   Wo mochten all jene jetzt sein, die ihr damals so bejammernswert erschienen? Sicher leuchteten ihnen heute nicht trüber die Kerzen als ihr selbst. – Wo mochten auch die vielen anderen sein, mit denen sie an so mancher Stätte der Erde Weihnachtsfeste gefeiert? Englischer Christmasdinners in heißen Kolonien entsann sie sich, der äußeren Lust und inneren Wehmut, mit denen die an ferne Gestade Verschlagenen heimatliche Bräuche gerade an solchen Tagen befolgen. – An wie vielen Orten hatte doch der Weihnachtsbaum Wolf und ihr geschienen! Und wie viel vereinsamten Landsleuten hatten sie an den Abenden beschert, aus dem eigenen inneren Reichtum. – Ach damals war ihr stets so gewesen, als erstände jeder neue Tag gleich einer mit Blumen geschmückten Jugendgestalt; jetzt aber glichen die Tage grauen Zerlumpten, die, von schwerer Last gebeugt, müde vorüberschleichen. Und sie war arm geworden, weil sie ihn verloren, der ihr zwischen allen gleitenden Lebenserscheinungen das eine Bleibende gewesen war. Verloren, wenngleich er noch lebend neben ihr weilte.
   Als endlich der heilige Abend gekommen war, öffnete Ilse ihre Zimmertür, die hinaus führte in den schiffgangartigen Korridor, denn von dort drangen gedämpft die Weihnachtslieder zu ihnen, die im unteren Stockwerk bei der Bescherung für die minder Kranken gesungen wurden.
   Ganz leise klangen die alten Worte: »Es ist eine Ros‘ entsprungen« – als schwebten sie ans weiten Fernen heran, aus den entschwundenen Jahren, da sie beide froh und gesund gewesen!
   Und die alten Worte mußten schlummernde Erinnerungen in Wolfs Gemüt erweckt haben. Er schaute auf, lauschte der Melodie, nickte Ilse zu und sagte leise: »Auch wir haben einmal gesungen – gesungen.«
   Da nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zu ihrem kleinen Aufbau, den sie bisher hinter einem Wandschirm verborgen gehalten – und sie standen beide schweigend davor – zwei arme Schiffbrüchige, die auf dem großen Meere des Leidens für einen kurzen Augenblick Ruhe gefunden hatten.
   Seit diesem Weihnachtsabend aber war in Ilse der Glaube an Heilung wieder eingekehrt, sie sprach mit niemand davon, aus Angst, vielleicht ein kaltes Wort vernehmen zu müssen, das die zarte Blüte dieser neu erwachten Zuversicht vernichtet hätte, aber den ganzen eigenen Willen setzte sie ein im Kampf um Wolfs willenlos treibendes Bewußtsein. Vermochte die völlige Hingabe eines Menschen für den anderen etwas auf Erden, so sollte er doch noch gerettet werden! Sie wollte ihn zwingen, ihr nachzudenken, und, so wie er die einzelnen Gedanken aufgenommen, sie auch wieder fallen zu lassen. Geistige Selbstbestimmung wieder zu erlangen, das mußte das Ziel sein. – Gelang es ihr so, die dunklen Mächte, deren Schwingen sie über ihm rauschen hörte, für ein paar Stunden zu bannen, so glaubte sie, die Wonne zu kosten, die der Erlöser vom Übel seliger Anteil ist. Aber oft half all ihr Mühen nichts – nicht ihr sanft beschwichtigendes Erzählen, nicht der tröstende Druck ihrer Hand – als ob sie an eine starre Mauer poche, so war es, kein Ton von ihr drang hindurch, keine Antwort schallte zurück. – In solchen Stunden empfand sie die Verzweiflung derer, die umsonst gekreuzigt wurden.
   Der Weihnachtsabend hatte sie aber auch auf den Gedanken gebracht, sich ein Klavier kommen zu lassen. Musik war es ja, die ihm die erste Freude wieder gebracht hatte. Da saß sie denn nun oft, spielte ihm leise vor, und summte dazu mit ihrer schwachen Stimme all die Lieder ihres Lebens. Melodien kennzeichneten ja die verschiedenen Stationen ihres Weges, und so waren diese halb geflüsterten Gesänge in ihrer Reihenfolge wie ein Erzählen von langer Wanderung; die verschiedensten Orte tauchten dabei auf, die wechselndsten Stimmungen erstanden wieder – aber wie ein stets wiederkehrendes Leitmotiv zogen sich durch alle anderen Klänge schmerzlich süß die Worte des Griegschen Liedes: »Ich liebe dich in Zeit und Ewigkeit.« – Sie hatten ja dem ganzen Leben zugrunde gelegen.
   Und weiter glitten die Tage und sanken hinab in den endlosen Raum, wo die vergangenen Zeiten schlummern.
   Nicht ganz allein war Ilse in diesen Zeiten. Greinchen kam ein paarmal zu ihr, aus dem Berliner Vorort, der kein Vorort mehr war, sondern den die große Stadt längst mit ihren langen Straßenarmen umspannt und dann aufgesogen hatte. – Recht alt und grau war Greinchen geworden und nicht mehr so kampfbereit wie einst. Manch neue Falte wies ihr Gesicht, und immer mehr glich sie einer kleinen dicken Bulldogge, die bissig böse aussehen möchte und doch nicht ihre Gutmütigkeit verbergen kann. Eigentlich war Ilse jedesmal froh, wenn diese Besuche vorüber waren, denn Greinchens Teilnahme tat ihr beinahe weh, und zu sehr mahnte sie ihr Anblick an die Zeit, da sie bei ihr im Vororthäuschen gewohnt hatte, und wo, trotz aller augenblicklichen Bitterkeit und Kämpfe, die Zukunft vor ihr zu liegen schien wie ein gelobtes Land.
   Noch einen anderen Freund aus jenen fernen Tagen sah sie wieder. Justizrat Schilderer kam, sie zu besuchen, erzählte verlegen von Geschäften, die ihn in diese Stadt geführt hätten, wollte es verbergen, daß er die Reise von Berlin nur gemacht, um zu sehen, ob er ihr in etwas helfen könne. – Aber der Kampf, den sie da mit Krankheit und finsteren Geistesmächten aufgenommen hatte, wurde in Gebieten geführt, die jenseits aller Freundschaftshilfe lagen. Auch der Justizrat konnte ihr nur Mitgefühl und Bewunderung darbringen. – Beim Abschied sagte er ihr: »Sie haben mich damals bisweilen geneckt, daß ich immer noch so vieles von den Familien erwarte, denen Traditionen lehren, wie man mit Anstand auch zum Schafotte schreitet – und nun geben Sie mir selbst recht – denn wie Sie hier alles anfassen und ertragen, das ist eben schließlich doch auch Rasse.«
   »Ach nein, Herr Justizrat,« antwortete sie wehmütig, »das ist Liebe.«
   Zwischen zwei Reisen tauchte auch Taudien einmal auf. Aber er, der Kampf und Gefahr an sich liebte, und kein Ausweichen kannte, blieb hier nur kurz. »Meine Kräfte langen nicht aus, das mit anzusehen,« sagte er ganz offen.
   Doch auch sehr viel Fremdere kümmerten sich um Ilse, als es in ihrer einstmaligen Welt erst bekannt geworden, wie das Schicksal hieß, das Wolf und sie mit ihm getroffen hatte. Denn es gibt Grade des Unglücks, in denen eine große werbende Kraft liegt. Aus amerikanischen Riesenstädten und einsamen Hacienden am Fuße der Anden, von Dahabien auf dem Nil und Dampfern auf dem Hangtse schrieben ihr ferne Freunde. Und auch von den Leuten des eigenen Landes, die ihr früher vielleicht weniger gewogen wie die Fremden gewesen waren, erhielt sie viele teilnehmende Briefe. Manch einem mochte jetzt vielleicht ein Zweifel kommen, ob man gegen diese beiden am Ende doch einstmals gar zu streng und unversöhnlich gewesen sei. »Was hatten sie denn eigentlich getan?« fragte man heute. Die meisten wußten es kaum noch. Es war nur ein verschwommener, allgemeiner Eindruck übrig von irgend etwas, das man mal vor Jahren über sie gehört. Und doch hatte das genügt, sie ihr Lebenlang zu belasten, ihnen überall Schwierigkeiten zu schaffen, Voreingenommenheiten, die an jedem neuen Ort, an den sie kamen, erst überwunden werden mußten. – Jetzt wollte man freundlich zu ihnen sein, jetzt, wo ihnen die Jahre, da sie dessen so sehr bedurft hätten, unwiderruflich genommen waren. Jetzt, wo Wolf menschliche Absichten kaum mehr zu bemerken vermochte, und wo keine Macht Ilsen ihre einstmalige Freudigkeit, ihr vertrauendes Hoffen wiedergeben konnte, da boten ihnen die Menschen freigebig ihre besten Gaben: Güte, Milde und Hilfe. Aber es war zu spät! – Das Schicksal hatte Wolf und Ilse dem allen entrückt – er fühlte weder Härte noch Weiche, ihr waren sie über anderem, allzu großen Jammer innerlich gleichgültig geworden.
   Gisi Helmstedts Briefe waren es, die Ilse in diesen Zeiten noch am meisten wohl taten. Der Graf war gestorben, und Gisi lebte seit seinem Tode ganz auf ihrer eigenen Besitzung bei Florenz; denn Frohhausen gehörte jetzt einem fernen Lehnsvetter, der, auf das sichere Erbe wartend, bis dahin in einem Kavallerieregiment der Provinz gedient hatte, von Mechtild und anderen töchterreichen Müttern als gute Partie umgarnt wurde und wohl besser in das ihn umgebende Zehrentum passen mochte, wie sein weitgereister Vorgänger.
   Gräfin Helmstedt schrieb:
   »Mein liebes Kind!
   Was soll ich Dir sagen – kann niemand doch Deinen Jammer besser verstehen wie ich, auch wenn ich ihn nicht in den kurzen Worten Deiner Briefe so deutlich läse. – Grausam ist es, sinnlos scheint es. Doch bedenke, wenn Dich die Last unerträglich dünkt, daß ich trotz allem eine Glückliche in Dir sehe, denn Dir bleibt noch die Hoffnung, und ich habe nur das Erinnern. Leben, das schließt ja alles in sich! Das scheint mir heute das einzig kniefällig zu erbittende Gut. Und Wolf lebt noch! Drum hoffe!
   Und, so schwer es scheint – hadre nicht zu sehr mit dem Geschick, daß es vorausbestimmend auf Eure Stirnen das Zeichen so bitteren Leides prägte, denn wie einer sein Leiden im stillen trägt, was er daraus zu machen weiß, kann für die Welt viel bedeutsamer werden, als manche laut verkündete Heldentat. Leid und auch Unrecht sind wechselnde Begriffe und an sich ganz belanglos – erst durch das, was wir aus ihnen heraus gestalten, erhalten sie ihre wirkliche Bedeutung. Und das wollen sie von uns, dazu werden sie uns gesandt. Wir sollen etwas aus ihnen machen, sie zu Höherem wandeln. – Auf diese Art kann auch der Schmerz zum Vater der schönsten Kinder werden. Wie viele Wohltaten, wie manches Kunstwerk entstammen ihm! – Und auch Sünde läßt sich umwerten; sie rief Märtyrer und Heilige und Freiheitskämpfer hervor. – Nichts ist endgültig abgeschlossen, alles noch wandelbar, so lange nur ein Fünkchen Leben bleibt. Denk stündlich hieran, arme kleine Ilse, die Du jetzt glaubst, vor Unabänderlichem zu stehen. Sag dies vor allem auch Wolf, wenn er wieder gesund ist – und ich fühle, daß er es werden muß. Der alten Ziele beraubt, wird er dann da stehen, nicht wissend mehr, was er tun soll. – Da sag ihm leise, daß nur das Streben Ewigkeitswert hat – nicht das Erreichen, denn alles Erreichte wird alsobald ein Überholtes.
   Doch sollte ich mich in meinem Hoffen für Euch dennoch täuschen, so laß mich Dir sagen, was mir selbst zum einzigen Trost geworden. Das ist das Bewußtsein, daß ich nicht als betrogene Bettlerin vom Leben scheiden werde, sondern daß ich besessen habe, was mir das höchste Glück war, eine große Liebe. Der Erde wahrhaft Bedauernswerte sind die Frauen, die das nicht hatten. Dir Ilse, wie mir, kann dies Erinnern nie geraubt werden.
   Deine Gisi.

 //-- * --// 
   Von den Eiszapfen an den Dachrinnen tropfte es jetzt herab, daß sich in der Schneedecke unten am Boden regelmäßige runde Löcher bildeten, auf deren Grund man die nasse braune Erde schimmern sah. Und eines Morgens waren Eis und Schnee verschwunden, nur draußen an den Nordabhängen der Feldwege lagen noch weiße Streifen, gleich Pelzen, die südwärts wandernde Riesen achtlos abgeworfen hätten. Hatte nicht eben hier schon ein Vogel gezirpt? Drängten nicht dort daseinsdurstige Keime zum Lichte?
   Und wie in den Gärten unter der schützenden vorjährigen Laubdecke geheimnisvolles Werden sich regte, so begannen an Wolf erneuernde Kräfte zu schaffen. So schwach und zart waren die ersten Pulsschläge wieder erwachenden Lebens, daß Ilse sie anfangs kaum bemerkte, und als sie dann die beginnende Wandlung gewahrte, verschloß sie sich zuerst noch ängstlich dagegen. Denn zu viel hatte sie während dieser Monate von scheinbaren Besserungen und schweren Rückfällen anderer Kranken gehört. Nur das nicht erleben müssen! Nicht zu früh jubeln und nachher in noch tieferes, lähmendes Elend sinken! – Aber ihre Kräfte, ihr ganzes Wollen spannte sie doppelt an seit diesem ersten Hoffnungsschimmer, denn ihr war ja, als sei ihr Wolfs Seele bei finsterer Nacht in die Arme gelegt worden, und als erblicke sie nun endlich auf der fernen Höhe, zu der sie die Seele tragen sollte, einen lichten, wegweisenden Schein. Sie wich nicht von ihm und hütete ihn mit ihrer ganzen Liebe. Er lebte von ihrem Leben und erstarkte an ihren Kräften. – An ihr kleines Kind dachte sie bisweilen; ähnlich war das damals gewesen, ehe es geboren wurde, sie fühlte es ja oft ganz deutlich, wie etwas von ihr ebbte und in ihn überflutete. – Größeres Wunder aber wie neu entstehendes Leben dünkte sie dies beinahe schon entflohene, das, aus unbekannten Fernen wiederkehrend, vor ihr auferstand. Osterstimmung erfüllte ihre Welt, und sie konnte nicht anders, als andächtig die Hände falten, wenn sie Wolf jetzt bisweilen in ruhigem, natürlichem Schlafe liegen sah; die welke Haut glättete sich, das arme gequälte Gesicht nahm wieder etwas von seinem früheren Ausdruck an. Langsam begann die hoffnungslose Apathie von ihm zu weichen, und die Dinge, die er sah, glitten nicht mehr spurlos an ihm vorüber, sondern drangen bis zu seinem Bewußtsein. Jeder mußte es nun bemerken, daß er auf dem Wege zur Heilung war! Die ganze Anstalt sprach davon, mit Stolz wiesen die Ärzte auf ihn, und die anderen Patienten blickten ihm in Sehnsucht nach.
   Bisher war Ilse mit Wolf nur an sonnigen Stunden im Garten des Krankenhauses auf und ab gegangen, wo Schneeglöckchen und Leberblümchen, in uralter vertrauensvoller Gewöhnung, als Früheste aus der Erde hervorschlüpften. Aber nun erlaubten die Ärzte die erste Ausfahrt. – Mit welcher Sorge ward alles vorbereitet! wie bang beobachtend saß sie dann neben ihm im Wagen! – Es war ja das erstemal seit vielen, vielen Monaten, daß er wieder hinauskam und fremde Gesichter und das Meer sah, das Meer, das ihn an so vieles mahnen mußte, wie würde er das alles ertragen? – Ihr war, als müsse sie die Hände stützend um ihn halten, denn niemand vermochte ja voraus zu sagen, ob sein bißchen Kraft ein standhaft neu Gebäude war oder nur ein leicht verwehbar Kartenhaus.
   Er sagte nichts über den Eindruck, den die so lange nicht mehr geschaute Welt auf ihn machte, und Ilse wagte auch gar nicht zu fragen – das mußten Empfindungen sein, an die niemand rühren durfte.
   An einem hohen Vorsprung, wo alte Buchen standen, ließ er dann den Wagen halten, stieg aus und setzte sich mit Ilse auf eine Bank. Leise rauschte es über ihnen in dem traumhaft zarten, ersten Grün der Buchenzweige. – Tief unten breitete sich die Bucht, in der die Kriegsschiffe lagen, und die Linie der Küste dehnte sich weit hinaus, im Dunste verschwimmend und die Gedanken mit sich ziehend in weite Fernen.
   Da saßen die beiden lange schweigend.
   So war es wieder Spätsommer geworden, und der Tag kam, wo die Ärzte sagten, daß Ilse an die Gestaltung ihrer Zukunft denken solle, da ein weiteres Verbleiben in der Anstalt nicht fördernd, sondern nur noch hemmend wirken würde.
   Kaum glaubhaft klang es. Beinahe verwirrend. – Und nach der Geborgenheit hinter diesen traurigen Mauern hatte der Gedanke an die Welt draußen zuerst etwas Beklemmendes. – So groß die Sehnsucht hinaus auch oft gewesen sein mochte.
   Doch wohin nun? – In der bloßen Frage war die völlige Veränderung ihrer ganzen Lebenslage enthalten. So viele Jahre hindurch war ihr jeweiliger Aufenthaltsort ja gerade derjenige Umstand gewesen, der ihnen von fremdem Willen unerbittlich vorgeschrieben wurde. Immer hatte am Lebenspfade ein Wegweiser gestanden, drauf zu lesen war, was der Reise nächstes Ziel. Jetzt deutete kein sichtbarer Arm mehr für sie in die Zukunft. Die ganze Welt lag plötzlich vor ihnen offen, und gerade diese Ungebundenheit löste ein Gefühl des Verlorenseins, der Belanglosigkeit aus. – So gleichgültig schien es, wohin diese zwei kleinen Menschenstäubchen sich nunmehr wenden würden. – »Völlige Unabhängigkeit« mochten das manche neidend nennen, doch Ilse dachte: Ist nicht alle Freiheit nur scheinbar, und jede Wahl und Tat doch bloß Geschickerfüllung? – Es konnten jetzt noch gute Jahre für Wolf kommen, hatten die Ärzte gesagt, aber viel Ruhe, viel Schonung, viel Pflege würde er dazu bedürfen.
   Wo ihm die am besten schaffen? Ilse sann und suchte.
   An Wolfs Heimat hatten sie einen Augenblick gedacht. Aber allzu hart ist der Weg, der den Geschlagenen zurückführt zu der Stätte, von der er in der Jugend einst hoffnungsfroh und siegessicher auszog. – Auch der Name Berlin wurde in ihren Gesprächen einmal hingeworfen. Aber ein Frösteln überlief sie beide. – Ach nein! Nicht das Hasten und Ringen noch wollender Menschen durften sie sehen, das an eigenes früheres Leben mahnen würde. Weiche, Milde, Frieden, Vergessen brauchten sie beide. Ilse mehr vielleicht noch als Wolf, der das Wunder der Genesung in sich erlebt hatte.
   Denn sie war ja durch eine Leidenszeit gegangen, die den Menschen nicht läßt, wie sie ihn fand. – Ihrer Seele waren Nerven gewachsen, überall, unsagbar sein und weit ausstrahlend, Fühlfäden gleich, die, im Schmerz entstanden, ihn immer wieder suchen müssen, ob sie ihn gleich fürchten. – Sie ahnte schon, wie unendlich oft diese Empfindungstaster in den kommenden Jahren zucken würden, verletzt von Rauheiten, die für andere unfühlbar blieben. – Denn nicht abgestumpft, ach nein, leidensfähiger, mitleidsfähiger wird, wer einmal so gelitten. Sie wußte es schon heute. Wußte, daß sie wehrlos und verwundbar geworden, wo andere Panzer tragen. – Ja, dachte Ilse, wer so wie ich gelitten, der geht fortan auf wunden Füßen und bebt erschauernd vor kaltem Hauch, den andere nicht spüren. Ich ahne in fremden Herzen trübe Farben, die jene dicht verschleiert wähnten, und vernehme klagende Tonschwingung, wo alles Stille schien. Mit meinen verweinten Augen bin ich zu einer Hellseherin geworden. – Ach, niemand weiß es, wie das ist, der es nicht alles selbst erlebte!
   Sie war so müde, wurde es täglich mehr, jetzt wo die Spannung der Nerven endlich nachgelassen hatte. Die Fähigkeit zu ringen und zu wollen war in ihr aufgebraucht, wie ein ausgebranntes Licht. Und sie, bei der scheinbar jede Entscheidung lag, sehnte sich selbst nur noch danach, daß starke und doch sanfte Hände sich ihr entgegen strecken möchten, in die sie Wolfs und ihr eigenes Schicksal legen könne.
   Und da mitten in all ihrem Suchen und Zweifeln war aus Florenz ein Brief von Gisi gekommen, der einstmalige Gedanken neu erweckte. Hinaus zum Sitz unter den rauschenden Buchen, von wo man hinabblickte auf die Bucht mit den vielen Kriegsschiffen, hatte Ilse den Brief mitgenommen, dort wollten sie und Wolf ihn noch einmal zusammen lesen.
   Gisi schrieb: »Kommt vor allem beide gleich hierher zu mir und schenkt mir das Glück, noch einmal Menschen zu besitzen, für die ich sorgen darf. Hier wollen wir dann das weitere beraten. – Und wißt Ihr, daß San Christoforo, dicht neben mir, noch immer eines Käufers harrt? – Ich war heute dort und stieg hinauf bis zu der offenen Loggia, wo die verblaßte Inschrift steht, die wir einst zusammen lasen – und dort dachte ich: Ach, wenn doch Ihr beide, wie einst die des Kampfs und Wirrsals müden Florentiner, zu diesem schönen Erdenwinkel sprechen wolltet: » Ille mihi«! – Auf daß er auch Euch Zufluchtsstätte werde. – Lachen würde Euch vielleicht auch hier nichts, denn ich glaube das Lachen, von dem Horaz sprach, kennen die nicht mehr, die von so weit zurückkehren wie Ihr. Aber ein wehmütig Lächeln könnte es werden, das, wie Abendsonnenschein nach stürmischem Wandertag, verklärend auf der letzten Strecke des Weges ruht.«
   Wie ein plötzlich gefundener Wegweiser, aus Irrgarten befreiend, war Gisis Brief für Ilse. Und sie dachte: San Christoforo, der Schutzheilige der Wanderer und Schiffbrüchigen, ja, der müßte wohl die starken und doch sanften Arme haben, drin sich von allzu rauhem Pfade ruhen ließe.
   Fragend sah sie auf zu Wolf und las in seinen Augen, daß er dasselbe dachte wie sie. Da nickten sie sich schweigend zu. – Ja, dorthin wollten sie die müden Schritte lenken! Jener Erdenwinkel, der sollte der ihre werden.
   Und aus der Ferne winkend, tauchte vor ihnen beiden, hier am nordischen Gestade, die träumende Villa des Südens empor, und sie glaubten wieder, die ausstrahlende Wärme des alten Gemäuers zu fühlen, drin die Sonnenstrahlen vieler Sommer gefangen schienen. Die stillen Säle sahen sie, durch die sie beide einst geirrt waren, die erblindenden Spiegelscheiben, in deren Tiefen sie das eigene Bild wie verzaubert erblickt – und aus den Nebeln der Vergangenheit stieg auch der verwilderte Garten, wo alles zu ihnen gesprochen: bleibt! ach bleibt!
   Doch Taube waren sie damals gewesen, hatten den Ruf nicht vernommen – oder vernehmend, ihn doch nicht verstehen wollen.
   Jetzt, in dieser Stunde, glitten die seitdem verflossenen Jahre noch einmal an ihnen vorüber.
   Wie hatten doch die Freudenfeuer junger Liebe so hoch aufgeloht – damals, als sie beide zuerst zusammen ausgezogen waren! – Schwer war dann oftmals der Weg geworden, an der brennenden Felsenwand; aber sie hatten gekämpft und gerungen, immer ja weiter getrieben von dem einen Gedanken, daß gerade sie, die sich in Auflehnung gegen Menschensatzung zueinander gefunden, berufen sein müßten, neue Werte für ihr Land schaffend, den eigenen Wert zu beweisen. Die Rechtfertigung für selbstherrliches Ergreifen des Glücks wollten sie durch Taten erbringen, unbewußt hierin vielleicht dem uralten Glauben folgend, daß einst die Arbeit den Menschen zur Sühne der Sünde gegeben ward. – Heut aber wußten sie, daß die Welt denen, die sie so eigenes Liebeslos wählen sah, selten auch noch äußeres Gelingen gestattet; wußten auch, daß es niemand gegeben, die Art seiner Sühne zu bestimmen, sondern daß jedem gerade die ihn am schwersten drückende Last auferlegt wird. – Zu ganz anderem Ziele, als sie gewähnt, hatten sie wandeln müssen! Nicht im Glanz des Erfolges, jenes größten aller Rechtfertiger, waren sie heimgekehrt – nein, zwei arme Geschlagene, Besiegte des Lebens, so standen sie heut. – Die große Lehre, daß Entsagung einmal von jedem gefordert wird, gegen die sie sich einst aufgelehnt, hatten sie nun doch, auf mühsamem Umweg, erlernen müssen. – Und in ihr lag Ruhe und Erlösung.
   Tief unten in der Bucht löste sich ein mächtiges Kriegsschiff aus der Reihe der übrigen gepanzerten Kolosse. Ein Sonnenstrahl streifte es und ließ für einen Augenblick seine Flagge ganz deutlich erkennen, lautlos, wie ein weißes Traumbild, glitt es dann durch die silbrige Flut und steuerte hinaus, fernem Gestade zu. – Schweigend schauten ihm von der buchenbestandenen Höhe die beiden Menschen nach.
   Und der Mann sprach: »Einst fuhren auch wir so aus und wollten jener Flagge dienen, träumten davon, ihre Herrschaft weiter auszubreiten. – Das werden wir nun nimmer vermögen.«
   Sie aber antwortete: »Was liegt an uns – wenn nur andere erstehen, die das erreichen, was wir erstrebten.«
   Rascher und rascher wurde der Lauf des Schiffes; geisterhaft bleich schon entschwand es in der Ferne.
   »Wir wollen gehen,« sagte der Mann, »Der Weg wird dunkel werden.«
   Zärtlich tröstend legte sie ihre Hand in die seine, und während sie unter den dämmernden Buchen dahinschritten, antwortete sie: »Und wenn der Weg auch dunkel wird, so können wir uns doch erinnern, daß wir einmal die Welt zusammen im Sonnenglanz geschaut – und es war schön – trotz allem.«

 //-- * --// 
   Grauer Dunst kam von der See gezogen und breitete sich weich und still über die Erde, lautlos verschwanden im steigenden Abendnebel die beiden Gestalten.