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|  Gabriel Ferry
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|  Der Waldläufer
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   Gabriel Ferry
   DER WALDLÄUFER


   Vorbemerkung

   Gabriel Ferry, mit seinem wirklichen Namen Ferry de Bellamare, wurde im November 1809 in Grenoble geboren. Leider fehlen uns Nachrichten über seine Jugend und seinen Bildungsgang, und wir wissen nur, daß er den größten Teil seines Lebens auf Reisen in Amerika verbrachte. So kam er denn auch beim Brand des Schiffes »Amazone«, das sich auf der Fahrt nach Kalifornien befand, ums Leben. Das Schiff verbrannte am 5. Januar 1852, und Ferry befand sich unter denen, die sich nicht retten konnten.
   Ferrys Schriften, die sich durch treffliche Naturmalerei und feine Charakteristik auszeichnen, erschienen in der »Revue des deux Mondes«; sie machen durchwegs den Eindruck des Selbstgesehenen, Selbsterlebten und legen nicht nur beredtes Zeugnis ab für seine dichterische Begabung, sondern auch für hochentwickelten malerischen Sinn. Wir verweisen hierbei nur auf seine Schilderung des »Val d‘Or« im vorliegenden »Waldläufer«. »Le coureur des bois – Der Waldläufer« ist eines seiner geschätztesten Werke – vielleicht sein bestes; die Übersetzung von Dr. G. Füllner, ist vor allen Dingen nicht nur nicht gekürzt, also eine vollständige Wiedergabe des Originals, sondern auch, was treue Anlehnung an letzteres betrifft und auch sprachlich eine der besten.


   1. Pepe der Schläfer

   Der Hafen von Elanchove an der Küste der Biskaya bietet ein malerisches und imposantes Landschaftsbild. Als ich bei meiner Rückkehr aus Amerika, von einem jener Zufälle geleitet, wie sie in einem abenteuerlichen Leben vorkommen, eines Tages in Elanchove landete, richtete ich jedoch meine Aufmerksamkeit nicht hauptsächlich auf das Landschaftsbild. Ich wandte sie vielmehr einem alten Schloß zu – dem einzigen der Art, das vielleicht in Spanien existiert —, das mit seinem Schieferdach und seinen gotischen Wetterfahnen auf dem Gipfel der höchsten Klippe emporragte. Ich hatte in diesem alten Schloß die Örtlichkeit wiedererkannt, wo eine dramatische Geschichte begonnen hatte, die mir wenige Jahre vor meiner Rückkehr aus Mexiko in den Wäldern des Staates Sonora erzählt worden war.
   Der Felsgürtel, auf dem sich dieser Herrensitz erhebt, schließt den kleinen Hafen von Elanchove ein, der von einem aus behauenen Steinen errichteten Damm geschützt wird.
   An der Stelle, wo sich dieser nicht sehr hohe Hafendamm mit dem Land verbindet, beginnt man die zu natürlichen Stufen angeordneten Klippen zu ersteigen, auf denen sich die Häuser des Hafenortes amphitheatralisch emporziehen. Eine Straße, die einer riesenhaften Treppe gleicht, macht das ganze Dorf Elanchove aus.
   Da die Einwohnerschaft einzig aus Fischern besteht, die am Tag abwesend sind, so erscheint Elanchove zuerst vollständig unbewohnt; aber von den Dächern der schornsteinlosen Häuser steigt der Rauch der Abendmahlzeit auf, die die Hausfrauen bereiten; von Zeit zu Zeit erscheint an der Tür der Hütten in ihren grellfarbigen Röcken und ihren doppelten, bis aufs Knie herabfallenden Haarflechten eine Gattin, die von einer Wolke am Horizont beunruhigt wird, oder eine Mutter, die ihr Kind stillt. Die eine überfliegt mit ängstlichem Blick das unendliche Meer, die andere gewöhnt ihren Sohn an den salzigen Geruch des Meerauswurfs und der Algen und an die Schärfe des Seewindes. Beide horchen sie traurig dem Pfeifen der Brise zu, die, während sie das schlummernde Wasser des Hafens kaum kräuselt, auf diesen kahlen Höhen laut brüllt, die Rauchflocken fortführt und zerstreut und die am Eingang der Hütten unordentlich zum Trocknen aufgehängten buntscheckigen Lumpen wild durcheinanderwirbelt.
   Einen solchen Anblick bietet heute das Dorf Elanchove, dessen Stille und Einsamkeit oben im Verein mit dem Getöse der Wellen am Fuß der Klippen, auf die es hingelagert ist, gleichzeitig eine Empfindung von Schreck und Melancholie einflößen.
   Im Monat November 1808 machte Elanchove einen noch viel traurigeren Eindruck. Die Nähe der französischen Armee hatte einen Teil der Einwohner in die Flucht gejagt; sie hatten in ihrer Furcht vergessen, daß ihre Armut sie gegen jeden Verlust schützte, und hatten sich in ihren Barken entfernt, um einem von ihnen gefürchteten Überfall zu entgehen.
   Die Geschichte des Schlosses von Elanchove ist, wie ich schon gesagt habe, innig verbunden mit der Geschichte des »Waldläufers«. Dieses Schloß gehörte der Familie Mediana und bildete den einen Anteil des großen Majorats, das in diesem alten Haus gegründet war. Seit langer Zeit jedoch hatten die Grafen von Mediana diesen wilden Aufenthaltsort nicht bewohnt, bis zu Anfang des Jahres 1808 das Haupt der Familie, der älteste Sohn des letzten Grafen von Mediana, den Entschluß faßte, seine junge Gemahlin und sein Kind hierherzuschicken. Als höherer Offizier der spanischen Armee hatte nämlich Don Juan de Mediana dieses Schloß zum sicheren Asyl für seine Gemahlin Donna Luisa, die er leidenschaftlich liebte, gewählt. Auch noch ein anderer Beweggrund hatte seine Wahl bestimmt: Der Alkalde von Elanchove nämlich war ein alter Diener des Hauses, und er rechnete auf seine Ergebenheit für eine Familie, die ihn zu dem Rang, den er einnahm, erhoben hatte. Don Ramon Cochecho war der Name dieser obrigkeitlichen Person Elanchoves.
   Dieser traurige Aufenthaltsort entsprach aber nicht allein einer bevorstehenden Trennung, die durch militärische Pflichten gefordert wurde; er paßte auch für die ersten Zeiten einer unter traurigen Vorbedeutungen geschlossenen Verbindung. Denn der jüngere Bruder Don Juans, Don Antonio von Mediana, liebte ebenfalls Donna Luisa. Seitdem diese aber geradezu erklärt hatte, wen sie am meisten liebe, hatte er das Land verlassen, und man hatte ihn nicht wiedergesehen. Das Gerücht von seinem Tod hatte sich sogar verbreitet, war aber durch nichts bestätigt worden.
   Doch wie dem auch sein mag – Don Juan blieb nur kurze Zeit in Elanchove; höhere Befehle zwangen ihn, seinen Aufenthalt im Schloß seiner Väter abzukürzen. Er reiste ab und überließ seine Gemahlin der besonderen Sorgfalt eines alten Dieners; aber er verließ sein Heim, um nicht wiederzukehren. Eine französische Kugel erreichte ihn in einem der Kämpfe, die der Schlacht bei Burgos vorangingen.
   Den getrübten Freuden der ersten Zeit ihrer Ehe folgte nun für Donna Luisa die Trauer eines frühzeitigen Witwenstandes. Um diese Zeit, als das Schloß von Elanchove der düstere Zeuge des Schmerzes der Gräfin von Mediana war, beginnt unsere Erzählung: im Monat November 1808.
   Man kann sich wohl denken, daß der Hafen von Elanchove, vereinzelt, wie er an der Küste der Biskaya lag, seine Besatzung von Küstenwächtern hatte. Ihre Lage war jedoch damals traurig. Die spanische Regierung stritt ihnen zwar keineswegs ihren Sold ab, vergaß aber anderseits ständig, ihnen diesen auszuzahlen. Dazu kam noch, daß die Schmuggelei, mit der sie sich durch Beschlagnahme der Güter zuweilen hätten entschädigen können, gänzlich darniederlag. Die Schmuggler hüteten sich wohl, Leuten zu trotzen, deren Not ihre Wachsamkeit verdoppelte. Vom Capitan der Grenzjäger, Don Lucas Despierto, an bis zum geringsten Soldaten entfalteten alle eine unermüdliche Wachsamkeit, woraus denn auch folgte, daß der spanische Fiskus, ohne nur den Beutel zu öffnen, Diener hatte, die ihn wenig kosteten und ihm doch treu waren.
   Ein einziger dieser Küstenwächter zeigte in bezug auf die Schmuggler einen gänzlichen Zweifel; er ging sogar so weit, zu leugnen, daß es jemals solche gegeben habe. Er war dadurch bekannt, daß er immer auf seinem Posten einschlief, und seine geheuchelte oder wirkliche Teilnahmslosigkeit hatte ihm den Beinamen »der Schläfer« zugezogen, den er denn auch nach besten Kräften rechtfertigte.
   Er genoß dank seines Rufes ein vollkommenes Glück. Das Leben schien für ihn nur ein langer Schlaf zu sein. Ständig in seiner Hängematte ausgestreckt, schlief er zwanzig Stunden des Tages, und zwar mit dem ganzen Bewußtsein seines Glücks; während seines Schlafes träumend, daß er schliefe, und nach seinem Erwachen beim Rauchen seiner Zigarre denkend, daß er bald wieder schlafen würde. Sehr selten stellte man ihn darum auch auf Posten an irgendeinen Ort.
   José – oder abgekürzt Pepe – war ein Bursche von fünfundzwanzig Jahren, hoher Figur, mager und nervig. Seine schwarzen, ganz von dicken Augenbrauen überschatteten Augen mußten einst funkelnd gewesen sein. Sein Gesicht trug die Züge derjenigen, die von der Natur Reizbarkeit geerbt haben; aber sei es nun Krankheit, sei es eine andere Ursache – seine Züge schienen aus Marmor zu sein, so sehr hatte die Schlafsucht, die gewöhnlich auf ihnen lag, das Mienenspiel erstarrt. Mit einem Wort: Pepe schien – bei allen äußeren Anzeichen eines tatkräftigen Körpers und einer glühenden Seele – der teilnahmsloseste aller Menschen zu sein.
   Seine offenbare Mißstimmung hatte den höchsten Grad erreicht, als an dem Abend, an dem unsere Erzählung beginnt, der Capitan Don Lucas Despierto nach ihm zum Posten schickte und ihn zu sich entbieten ließ. Bei diesem unvorhergesehenen Befehl erhob sich Pepe, streckte sich gewissenhaft, gähnte und ging mit den Worten hinaus: »Welch einen tollen Einfall hat wohl der Capitan, mich holen zu lassen?«
   Einmal allein jedoch, machte sich der Küstenwächter viel lebhafter, als dies sonst seine Gewohnheit war, nach der Wohnung seines Oberen auf den Weg. Der Capitan war, als er eintrat, sehr beschäftigt und hörte nicht, daß sich die Tür öffnete.
   Während der Soldat unbeweglich auf der Schwelle stand und wartete, bis sein Capitan den Verweis beginnen würde, auf den er rechnete, bemerkte er auf dem Boden ein gefaltetes Papier; Form und Farbe bewiesen, daß es lange in irgendeiner Tasche gewesen war. Pepe war trotz seiner Apathie ein Mann der Ordnung; er dachte, daß es schade wäre, ein Papier herumliegen zu lassen, das von Wert sein mußte, da man es so sorgsam bis jetzt verwahrt hatte, und er entschloß sich zu einer Bewegung, um sich desselben zu bemächtigen. Mit anscheinend doppelter Trägheit machte er wie ein Wankender zwei Schritte vorwärts. Der Capitan hörte ihn und wandte sich um; aber Pepe hatte schon auf das Papier, nach dem er lüstern war, den Fuß gesetzt.
   Der Soldat schien zu schlafen, während er eine Zigarre zwischen seinen Fingern hin und her drehte. »Da bin ich, mein Capitan«, sagte er, indem er Don Lucas ehrfurchtsvoll grüßte.
   »Gut, mein Junge«, begann der Capitan in gutmütigem Ton. »Die Zeiten sind sehr hart, nicht wahr?«
   »Ich habe davon sprechen hören.«
   »Ich begreife«, sagte Don Lucas lächelnd; »das Elend der Zeit erreicht dich nur halb; du schläfst immer.«
   »Wenn ich schlafe, hungert mich nicht«, erwiderte Pepe, ein Gähnen unterdrückend. »Und dann träume ich auch, daß die Regierung mich bezahlt.«
   »Bis dahin bist du nur ihr Gläubiger für vier Stunden des Tages. Aber, mein Junge, darum handelt es sich nicht. Ich will dir vielmehr diesen Abend eine Probe meines Vertrauens geben.«
   »Ah!« machte Pepe.
   »Und auch eine Probe meiner Zuneigung. Die Regierung hat ein offenes Auge für uns alle; der Ruf der Teilnahmslosigkeit, in dem du stehst, fängt an, sich zu verbreiten, und du könntest leicht als ein unnützes Subjekt entlassen werden. Es wäre gewiß sehr traurig für dich, ohne Anstellung zu sein.«
   »Schrecklich, mein Capitan«, erwiderte Pepe mit vollkommener Gutmütigkeit; »denn wenn ich schon bei meiner Anstellung vor Hunger sterbe, so weiß ich wahrlich nicht, was geschehen würde, wenn ich keine mehr hätte!«
   »Um dieses Unglück von dir abzuwenden, habe ich mich entschlossen, allen, die deinen Charakter verleumden könnten, einen Beweis meines Vertrauens auf dich zu geben, indem ich dir für diese Nacht den Posten an der Ensenada gebe.«
   Pepe öffnete wider seinen Willen die Augen beinahe ganz und gar.
   »Überrascht es dich?« fragte Don Lucas.
   »Nein«, erwiderte Pepe.
   Der Capitan konnte ein leichtes Auffahren nicht verbergen. »Wie? Nein?« sagte er.
   »Der Capitan Despierto«, antwortete Pepe mit einschmeichelnder Stimme, »ist durch seine Wachsamkeit und seinen unfehlbaren Blick bekannt genug, um auch seinem geringsten Beamten den wichtigsten Posten ohne Gefahr anvertrauen zu können. Darum bin ich auch gar nicht erstaunt, wenn Ihr mir diesen anvertrauen wollt. Ich erwarte nur die Befehle, die Eure Hoheit mir gefälligst erteilen werden.« Nach diesen Worten bückte sich Pepe, um die Zigarre, die ihm entfallen war, wieder aufzuheben; mit dieser Zigarre aber kam dank der Falten seines Mantels zugleich das Papier in die Hand des Soldaten.
   Don Lucas gab ihm seine Befehle in einer so weitschweifigen Art, daß es vielleicht schwierig war, sie alle zu behalten, und verabschiedete ihn mit den Worten: »Vor allen Dingen schlaf nicht ein auf deinem Posten!« Pepe blieb ehrfurchtsvoll stehen, ohne zu antworten.
   »Du kannst nun gehen; vergiß aber deine Laterne nicht!« sagte abermals Don Lucas, der das Schweigen seines Beamten für eine stumme Versicherung hielt, seinen Befehlen Folge zu leisten.
   Der Soldat jedoch rührte sich nicht.
   »Aber verstehst du mich denn nicht?« rief der Capitan, der, betroffen von diesem Schweigen, Pepes Arm tüchtig schüttelte.
   Pepe fuhr plötzlich aus seinem Traum auf. »Ja, mein Capitan«, sagte er.
   Dieser Bursche ist nicht zu bezahlen; ich hätte beim besten Willen keinen besseren finden können, dachte Don Lucas, als Pepe gegangen war. Und mit zufriedener Miene rieb er sich die Hände.
   Die kleine Bucht mit Namen Ensenada, die man eben der Wachsamkeit Pepes des Schläfers anvertraut hatte, war so geheimnisvoll mit Felsen besetzt, daß sie ganz besonders geschaffen schien, um den Schleichhandel zu begünstigen; freilich nicht den, der friedlich an den Schlagbäumen unserer Städte getrieben wird, sondern wie ihn die spanischen Schmuggler so tollkühn betrieben, den Dolch und die Büchse in der Faust. Eben wegen seiner abgesonderten Lage war dieser Posten nicht gefahrlos. Wenn nämlich in einer nebligen Novembernacht die Dünste des Ozeans sich erheben und wie ein Traghimmel die Atmosphäre überspannen, so verliert das Auge seinen Scharfblick, die hilfesuchende Stimme wird gedämpft. Niemand würde Pepe den Schläfer; Pepe, der sich gewöhnlich in tiefem Traum befand, den Mann mit der einfältigen Miene und dem trägen Gang, in dem Soldaten wiedererkannt haben, der mit erhobenem Kopf und elastischem Schritt seinen Posten bezog; seine gewöhnlich verschleierten Augen schienen in der Dunkelheit zu blitzen, als wollten sie auch deren geringstes Geheimnis durchforschen.
   Die Nacht war kalt, düster und still wie all die Nächte des Monats, der der Totenfeier geweiht ist. Es mochte etwa zehn Uhr sein. Kein Geräusch ließ sich im Dorf hören; das dumpfe Murren des Ozeans, der zürnend gegen die Felsendämme schlug, wie ein gefangener Tiger sich an den Eisenstäben seines Käfigs reibt, unterbrach allein das Schweigen der Natur. Kein Stern am Himmel; auf dem Land eine tiefe Finsternis; auf dem Meer ein Nebel, der sich zwar zuweilen öffnete, aber in dem argwöhnischen oder abergläubischen Gemüt tausend Erscheinungen hervorrief. Das war das Schauspiel, das sich den Blicken des Wächters darbot, als er auf dem Posten der Ensenada anlangte.
   Nachdem der Grenzjäger mit seiner düsteren Laterne sorgsam die Umgebung untersucht und die Beleuchtung ihm gezeigt hatte, daß er sich ganz allein befand, stellte er seine Laterne so auf, daß sie den Hohlweg, der zum Dorf führte, erhellte, und legte sich zehn Schritt weiter in seinen Mantel gehüllt nieder, so daß er zugleich den Weg und die Bucht überwachen konnte.
   »Aha, Capitan«, sagte der Soldat zu sich, »Ihr seid ein schlauer Mann; aber Ihr glaubt den Leuten zuviel, die immer schlafen, und Euer Papier, das ich gelesen habe, beweist, daß Ihr sehr besorgt darum seid, mich diesen Abend recht tief schlafen zu lassen. Wer weiß? Doch vielleicht«, fügte er hinzu, indem er sich, so gut er konnte, in seinem Mantel zurechtlegte, »ist es gut, zu … aber nein, es ist unmöglich!«
   Während ungefähr einer halben Stunde blieb Pepe allein, seinen Gedanken preisgegeben, und befragte mit seinem Auge bald die Bucht, bald den Hohlweg. Am Ende dieser Zeit hörte er den Sand des Fußpfades knirschen; dann erschien in dem von der Laterne verbreiteten Licht eine schwarze Figur, und bald ließ sich der Capitan der Grenzjäger bestimmt unterscheiden. Er schien einige Minuten zu suchen; endlich aber bemerkte er den Küstenwächter auf der Erde liegend.
   »Pepe!« rief er halblaut.
   Pepe nahm sich wohl in acht, zu antworten.
   »Pepe!« rief der Capitan noch einmal und mit lauterer Stimme.
   Der Grenzjäger schwieg immer noch hartnäckig; nun ließ sich Don Lucas‘ Stimme nicht mehr vernehmen, und bald verlor sich das Geräusch seiner Schritte in der Ferne.
   »Gut«, sagte Pepe zu sich. »Eben war ich einfältig genug, noch zu zweifeln, aber jetzt zweifle ich nicht mehr. Endlich hat doch ein Schmuggler eine Unternehmung gewagt. Ich müßte wahrhaftig sehr ungeschickt sein, wenn ich nicht einen guten Gewinn daraus zöge; wäre es auch auf Kosten dessen, was es meinem Chef einträgt.« Der Soldat war mit einem Sprung auf seinen Füßen. »Hier bin ich nicht mehr Pepe der Schläfer«, sagte er, seine hohe Gestalt gerade aufrichtend.
   Eine weitere halbe Stunde verging noch, in der der Küstenwächter nur die öde Unermeßlichkeit vor sich erblickte. Nichts unterbrach die lange weißliche Linie, die das Meer mit dem Himmel verbindet. Große schwarze Wolken bedeckten und enthüllten nacheinander den Mond, der eben aufgegangen war; und mochte auch der Horizont abwechselnd glänzend sein wie flüssiges Silber oder düster und bleifarbig wie ein Flor – kein Gegenstand auf dem Ozean zeigte das Dasein eines Menschen.
   Der Blick des Soldaten war so angestrengt aufs Meer gerichtet, daß Funken vor seinen Augen zu tanzen schienen. Von dieser beständigen Aufmerksamkeit ermüdet, schloß er die Augen und vereinigte alle Kraft seiner Sinne im Gehör. Plötzlich glitt ein schwaches Geräusch über die Oberfläche des Wassers und gelangte bis zu ihm; dann verwehte eine leichte Landbrise den Ton, und er hörte nichts mehr. Da der Soldat nicht wußte, ob er nicht ein Spielball seiner Einbildung gewesen sei, öffnete er von neuem die Augen; aber die tiefe Dunkelheit der Nacht ließ nichts erkennen.
   Er machte die Augen wieder zu, um abermals zu lauschen. Diesmal gelangte ein abgemessener Ton, wie ihn die Ruder, die vorsichtig die Oberfläche des Wassers spalten, und das leise Knirschen der Ruderbolzen hervorbringen, zu seinen Ohren. »Endlich sind wir da!« sagte Pepe mit einem Seufzer der Befriedigung.
   Ein schwarzer, beinahe unsichtbarer Punkt erschien am Horizont, wurde dann schnell größer, und bald zeigte sich ein Boot, eine leichte Schaumfurche hinter sich lassend.
   Pepe hatte sich eiligst der Länge nach auf die Erde geworfen, aus Furcht, daß sein Schatten vom Boot aus bemerkt werden könnte; aber von der hohen Stellung aus, die er einnahm, konnte er es nicht einen einzigen Augenblick aus dem Gesicht verlieren. Bald sah er es anhalten mit unbeweglichen Rudern wie der Seevogel, der in der Luft schwebt, um die Stelle zu wählen, wohin er stürzen will; dann nahm es plötzlich wieder seine Bewegung auf und fuhr zum Ufer der Bucht.
   »Macht keine Umstände«, sagte der Soldat; »tut, als ob ihr zu Hause wärt!«
   Wirklich schienen die Ruderer vor jeder Störung sicher zu sein, denn einige Sekunden später knirschten die Strandsteine des flachen Ufers unter dem Kiel des Bootes.
   »Oh, oh«, sagte der Soldat ganz leise; »nicht ein Warenballen! Sollten das etwa zufällig keine Schmuggler sein?«
   Drei Männer befanden sich in dem Boot und trafen dem Anschein nach nur die durchaus nötigen Vorsichtsmaßnahmen, um nicht allzu geräuschvoll das nächtliche Schweigen zu unterbrechen. Ihre Kleidung war nicht die, die die Schmuggler gewöhnlich zu tragen pflegen.
   »Wer, zum Henker, können diese Männer sein?« sagte der Soldat.
   Büschel gelblichen Krauts, die den Rücken des Abhangs, auf dem sich Pepe befand, bekränzten und über seinen Kopf hinausreichten, ließen ihn durch die Stengel hindurch beobachten, was die drei Unbekannten in ihrem Boot vornahmen. Auf Befehl dessen, der am Steuerruder saß – ein Befehl, dem man mit Achtung gehorchte —, sprangen die beiden anderen an Land, um die Örtlichkeit zu untersuchen, und ließen denjenigen, der ihr Chef zu sein schien, allein zurück.
   Pepe war einen Augenblick unentschieden, ob er sie in den Hohlweg hineingehen lassen sollte; aber ein Blick auf das Boot, das dem Schutz eines einzigen Mannes überlassen war, ließ ihn seinen Entschluß ändern. Er blieb demnach unbeweglicher als je und hielt sogar seinen Atem an sich, während die beiden Männer – jeder mit einem katalonischen Messer bewaffnet – einige Fuß unter ihm vorübergingen. Er konnte nun sehen, daß der Matrosenanzug, den sie beide trugen, der damaligen Korsarenkleidung glich und die Mitte hielt zwischen der Uniform der Königlichen und dem regellosen Anzug der Handelsmarine, aber er konnte ihre Züge unter der baskischen Kopfbedeckung nicht unterscheiden.
   Plötzlich standen die beiden Matrosen still. Ein Stückchen Erde am Abhang war unter Pepes Knie zerbröckelt und glitt nun mit einem leichten Geräusch längs des abschüssigen Randes hinab.
   »Hast du nichts gehört?« sagte der eine von ihnen.
   »Nein! Du vielleicht?«
   »Es schien mir, als ob irgend etwas von da herabfiele!« sagte der erste und zeigte auf den Ort, über dem der Grenzjäger platt auf der Erde lag.
   »Bah! Es wird eine Feldmaus gewesen sein, die in ihre Höhle gelaufen ist.«
   »Wenn dieser Abhang nicht so abschüssig wäre, würde ich hinaufsteigen«, erwiderte der erste.
   »Ich sage dir, daß nichts zu fürchten ist!« antwortete der zweite. »Die Nacht ist schwarz wie eine Teertonne, und dann hat uns ja auch ›der andere‹ versichert, daß er für den Küstenwächter bürge, der den ganzen Tag schliefe.«
   »Ein Grund mehr, daß er nachts kein Auge schließt. Bleib hier; ich will herumgehen und hinaufsteigen. Und wahrhaftig, wenn ich dort unseren Schläfer finden sollte«, fügte er hinzu, indem er sein breites Messer zeigte, dessen Klinge in der Dunkelheit blitzte, »um so schlimmer … oder um so besser für ihn; ich werde ihn ewig schlafen machen.«
   Teufel, das ist ein Philosoph, dachte Pepe; aber ich habe jetzt genug geschlafen! Und wie eine Schlange, die sich häutet, schlüpfte er aus seinem Mantel, den er liegen ließ, und kroch so vorsichtig weiter, daß er schon ziemlich weit davon entfernt war, ohne daß irgendein Geräusch seine Bewegung verraten und ohne daß die Erde selbst – wie die Spanier sagen – ihn gehört hätte. Er gelangte so, seine Büchse in der Hand, gerade an den Punkt, unter dem das Boot gelandet war. Hier schöpfte er Atem und suchte mit einem glühenden Blick den Mann, der allein zurückgeblieben war.
   Dieser schien in tiefe Träumereien versunken, denn er lag unbeweglich unter seinem weiten Mantel, der seine Gestalt umhüllte und ihn zugleich vor der Feuchtigkeit der Nacht schützte. Da seine Augen auf das offene Meer gerichtet waren, so konnte er auch natürlich nicht die schwarze Gestalt des Grenzjägers bemerken, der sich langsam bis auf die Höhe des steilen Randes erhob und mit dem Auge die Entfernung maß, die ihn vom flachen Ufer trennte.
   Der Fremde machte eine Bewegung, um sich nach der Landseite umzuwenden, und in demselben Augenblick ließ Pepe die zerknitterten Zweige eines Staudengewächses los, an das er sich angeklammert hatte, und sprang auf ihn wie der Tiger auf seinen Raub. »Ich bin es«, sagte er. »Rührt Euch nicht, oder Ihr seid ein Kind des Todes!« fügte er hinzu, indem er den Lauf seiner Büchse auf die Brust des verdutzten Fremden setzte.
   »Wer bist du?« versetzte dieser, dessen wutfunkelnde Augen sich vor der drohenden Haltung seines Gegners nicht senkten.
   »Ei, wahrhaftig, Pepe! Ihr wißt ja: Pepe, der immer schläft!«
   »Schlimm für ihn, wenn er mich verraten hat!« sagte der Fremde, als ob er mit sich selbst spräche.
   »Wenn Ihr Don Lucas meint«, unterbrach ihn der Grenzjäger, »so kann ich Euch versichern, daß er dessen nicht fähig ist; und daß ich hier bin, davon liegt der Grund darin, daß er zu vorsichtig gewesen ist, Schmuggler.«
   »Schmuggler?« sagte der Unbekannte mit einer Gebärde höchster Verachtung.
   »Wenn ich Schmuggler sagte«, erwiderte Pepe, zufrieden mit seiner Schlauheit, »so geschah es, um Euch nicht Schlimmeres zu sagen, denn Ihr habt hier nicht eine Unze Kaufmannswaren. Es müßte denn sein«, fuhr er fort, indem er mit dem Fuß auf eine am Boden des Bootes zusammengerollte Strickleiter wies, »daß dies eine Probe sein sollte.«
   Stirn gegen Stirn mit dem Unbekannten konnte Pepe diesen nach Gefallen betrachten. Es war ein junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren. Er hatte die sonnverbrannte Gesichtsfarbe des Seemanns. Dichte und dunkle Augenbrauen zeichneten sich kräftig auf einer knochigen und breiten Stirn ab. Große schwarze Augen, die mit düsterem Feuer tief in ihren Höhlen blitzten, verkündeten unversöhnliche Leidenschaften. Der Mund des Unbekannten war bogenförmig geschnitten und hatte einen geringschätzenden Ausdruck. Die Falten seiner Wangen waren trotz seiner Jugend stark markiert und gaben ihm bei der leichtesten Gemütsbewegung einen Ausdruck kalten Hohns, von Anmaßung und Verachtung. Aus seinen Augen, seinem Antlitz konnte man schließen, daß Ehrgeiz und Rachsucht die herrschenden Eigenschaften dieses Mannes sein mußten. Schwarze und lockige Haare mäßigten allein einigermaßen die Strenge seines Gesichts. Seine Kleidung war die eines Offiziers der spanischen Marine.
   Ein Blick, der jeden anderen als den Grenzjäger erschreckt haben würde, verriet die Ungeduld des Fremden, sich so von dem Küstenwächter betrachtet zu sehen.
   »Scherz beiseite, du Schelm – was willst du? Rede!« sagte der Fremde.
   »Plaudern wir von unseren Angelegenheiten«, sagte Pepe, »ich bin damit zufrieden. Zuerst also: Wenn Eure zwei Mann meinen Mantel und meine Laterne zurückbringen wollen, die zu nehmen sie gerade pfiffig genug sind, so werdet Ihr ihnen Befehl geben, nicht zu nahe zu kommen; auf diese Weise werden wir plaudern können, ohne unterbrochen zu werden; anderenfalls gebe ich mit einem Büchsenschuß, der Euch tot niederstreckt, das Lärmzeichen und stoße ab. Was sagt Ihr dazu? Nichts? Gut; diese Antwort ist so gut wie eine andere. Ich fahre also fort. Ihr habt meinem Capitan vierzig Unzen gegeben?« fragte der Soldat unverschämt genug und auf die Gefahr hin, die Summe tüchtig zu vergrößern.
   »Zwanzig!« sagte der Fremde ohne Zögern.
   »Ich hätte es lieber gesehen, wären es vierzig gewesen«, erwiderte Pepe; »doch man gibt eine solche Summe nicht für das Vergnügen, eine sentimentale Spazierfahrt auf der Ensenada zu machen. Mein Dazwischenkommen muß Euch belästigen; ich möchte mir wohl mein Fernbleiben bezahlen lassen.«
   »Wieviel?« fragte der Unbekannte, den es drängte, ein Ende zu machen.
   »Eine Kleinigkeit. Ihr habt vierzig Unzen dem Capitan gegeben …«
   »Zwanzig, sage ich dir!«
   »Ich hätte lieber gesehen, es wären vierzig gewesen«, wiederholte Pepe; »aber meinetwegen zwanzig. Laßt sehen, ich will nicht unbescheiden sein; ich bin nur Soldat, er ist Capitan; ich werde also nicht unvernünftig sein, wenn ich das Doppelte von dem verlange, was er bekommen hat.«
   Der so geprellte Fremde stieß einen Fluch aus, antwortete aber nichts.
   »Ich weiß sehr wohl«, fuhr Pepe fort, »warum das wenig ist; denn wenn er eine dreifache Löhnung erhält, so hat er doch dreimal weniger Bedürfnisse als ich, und folglich würde ich ein Recht haben auf das Dreifache; aber – wie er sagt – die Zeiten sind hart, und so will ich denn bei meiner Forderung stehenbleiben.«
   Ein heftiger Kampf schien im Herzen des Unbekannten zwischen der Besorgnis und dem Zorn stattzufinden; von seiner Stirn rollten trotz der rauhen Jahreszeit die Schweißtropfen herab. Eine sehr gebieterische Notwendigkeit mußte ihn mit solcher Heimlichkeit an diesen versteckten Ort geführt haben, denn die Notwendigkeit dämpfte seinen Zorn, der unbezähmbar schien. Die Miene spöttischer Unverzagtheit, die bei Pepe offen hervortrat, ließ ihn außerdem das Dringende einer Übereinkunft fühlen, und er zog, die Hand unter dem Mantel, von einem Finger einen kostbaren Ring und reichte ihn dem Soldaten. »Da, nimm, und mach, daß du fortkommst!« sagte er zu ihm.
   Pepe nahm, prüfte ihn und zögerte. »Bah, ich will es wagen und ihn für vierzig Unzen annehmen. Jetzt bin ich taub, stumm und blind.«
   »Ich rechne darauf!« sagte der Unbekannte kalt.
   »Beim Leben meiner Mutter«, antwortete Pepe; »da es sich nicht um Schmuggelei handelt, so will ich Euch gut unterstützen. Denn Ihr seht wohl ein, daß ich in meiner Eigenschaft als Grenzjäger nicht sehen darf, wie man schmuggelt, und selbst schmuggeln – niemals!«
   »Laß es gut sein; du kannst dein furchtsames Gewissen darüber ganz beruhigen«, erwiderte der Unbekannte mit einem bitteren Lächeln. »Bewache dieses Boot bis zu unserer Rückkehr; ich folge meinen Leuten. Nur – was sich auch ereignen möge, was du auch sehen magst, wie lange wir auch fortbleiben mögen – sei, wie du sagst, stumm, taub, blind und geduldig.« Während der Fremde diese Worte sprach, sprang er aus dem Boot ans Ufer und verschwand hinter der Biegung des Hohlwegs. Nachdem er sich nun allein befand, betrachtete Pepe im Mondlicht den Diamanten, der in den Ring eingelassen war, den er dem Unbekannten abgenötigt hatte. Wenn dieser Edelstein nicht falsch ist, dachte er, braucht mich die Regierung niemals zu bezahlen, es liegt mir nichts mehr daran; inzwischen aber will ich von morgen ab anfangen, teufelsmäßig nach meinem Gehaltsrückstand zu schreien. Das wird einen guten Effekt machen.


   2. Der Alkalde und sein Schreiber

   Niemand erfuhr, wie lange Pepe in Erwartung der Rückkehr des Fremden auf seinem Posten geblieben war. Jedenfalls, als der Hahnenschrei sich hören ließ und die Morgendämmerung den Horizont zu lichten begann, war die kleine Bucht der Ensenada vollständig vereinsamt.
   Jetzt schien das Leben im Dorf wieder zu erwachen. Undeutliche Schatten zeichneten sich auf den steilen Fußpfaden ab, die zur Mole hinunterführten. Die von den Wellen geschaukelten Schiffe wurden von ihren Seilen losgemacht, und das erste Tageslicht beleuchtete die Abfahrt der Fischer. Kaum waren einige Minuten vergangen, so war die kleine Flotte im Morgennebel verschwunden, und Frauen und Kinder erschienen auf den Türschwellen und verschwanden dann wieder. Das einzige von den armseligen Wohnhäusern des Dorfes, das seine Läden noch nicht dem Licht des Morgens geöffnet hatte, war das des Alkalden von Elanchove, von dem wir schon gesprochen haben.
   Es war heller Tag, als ein junger Mann mit einem abgenutzten, schmutzigen Hut, der an verschiedenen Stellen wie lackiertes Leder glänzte, auf dieses Haus zuschritt. Eine Hose, die so kurz war, daß man sie eine Kniehose hätte nennen können; so eng, daß sie wie ein Regenschirmfutteral aussah; und so abgenutzt, daß sie auch in den Hundstagen nicht zu warm gewesen wäre, schützte seine Beine nur mangelhaft vor der scharfen Kälte eines Novembermorgens.
   Dieser junge Mann klopfte an die Tür des Alkalden. Sein Gesicht war kaum zu sehen; er trug einen jener kleinen Mäntel von langwollenem, grobem Tuch, die man »Esclavina« nennt, und dieser reichte ihm bis an die Augen. Nach der parteiischen Art und Weise, mit der er bei der ungleichen Teilung, zu der ihn die Winzigkeit dieses Mantels nötigte, seine Beine auf Kosten seines Oberkörpers unbedeckt ließ und den höheren Teil seiner Person bedachte, schien er vollständig mit seiner Hose zufrieden zu sein.
   Aber der Schein ist sehr trügerisch. In Wirklichkeit ging der Traum dieses Burschen, dessen falsche Augen, elendes Ansehen und ein gewisser Geruch nach altem Papier den Escribano verrieten, auf den Besitz eines Pantalons, der ganz verschieden war von dem seinigen: nämlich auf eine lange, weite und kernhafte Kleidung. Ein Pantalon, der diese drei Eigenschaften in sich vereinigte, schien ihm gegen die Leiden des Lebens eine undurchdringliche Hülle, gegen das Unglück ein unverletzliches Asyl zu sein. Dieser junge Mensch war die rechte Hand des Alkalden; sein Name war Gregorio Cayatinta.
   Bei dem bescheidenen Schlag mit dem hörnernen Schreibzeug, das er kreuzweise übereinandergelegt trug, an die Tür des Alkalden von Elanchove kam eine alte Frau und öffnete.
   »Ach, Ihr seid es, Don Gregorio«, sagte die Alte mit jener spanischen Höflichkeit, mit der zwei sich begegnende Schuhputzer sich das »Don« der Granden erster Klasse erteilen.
   »Ja, ich bin es, Doña Nicolasa«, erwiderte Gregorio.
   »Jesus Maria! Euer Kommen erinnert mich, daß ich sehr saumselig gewesen bin … Und mein Herr wartet auf seine Beinkleider. Nehmt Platz, Don Gregorio, es wird nicht lange dauern.«
   Das Zimmer, in das der Escribano geführt wurde, würde unermeßlich erschienen sein, wenn nicht in jeder Ecke Netze von verschiedener Größe, Mastbäume, Segelstangen, Segel in allen Formen – von viereckigen bis zum lateinischen —, Steuer von Booten, Ruder und wollene Hemden in bunter Unordnung aufgehäuft gelegen hätten. Aber dank diesem Chaos blieb kaum Platz genug übrig, um einen oder zwei Stühle um einen großen eichenen Tisch zu stellen, auf dem ein Schreibzeug aus Kork seine drei fest in ihre Löcher geklebten Federn emporstarren ließ, mitten unter einigen schmutzigen Papieren, die nur zur Prahlerei ausgelegt schienen vielleicht auch, um die Beschauer in Schrecken zu setzen. Es war beim Anblick dieses Kapernaums schwer, sich nicht so ziemlich eine Vorstellung zu machen von dem Geschäft, dem sich der Alkalde – abgesehen von seiner öffentlichen Stellung – widmete. Wirklich lieh er auf kurze Zeit gegen hohe Zinsen – bis zu einem Real für den Piaster, was ganz einfach monatlich zwanzig fürs Hundert oder jährlich zweihundertvierzig fürs Hundert beträgt —, und da seine Klienten nur aus Fischern bestanden, so war dies die Quelle jener Sammlung von nautischen Werkzeugen, die den Audienzsaal des Alkalden versperrten.
   Cayatinta warf nur einen zerstreuten Blick auf all diesen Trödelkram, unter dem sich kein einziger Pantalon befand; er war darum auch keiner bösen Versuchung ausgesetzt; denn wir müssen es nun gestehen: seine zweifelhafte Rechtschaffenheit würde vielleicht einer so furchtbaren Prüfung nicht widerstanden haben. Der Escribano war nicht von dem Teig, aus dem der rechtschaffene Mann gemacht ist. Die Natur, die immer vom Einfachen zum Zusammengesetzten übergeht, hatte nicht Zeit gehabt, aus ihm noch einen ordentlichen Spitzbuben zu machen; es ist wahr: Er stand in der Blüte seiner Jugend.
   Don Ramon ließ nicht auf sich warten; seine lustige und offenherzige Persönlichkeit erschien bald auf der Schwelle seines Schlafzimmers. Er war ein starkgebauter und kräftiger Mann, und man begriff leicht, daß aus einem Paar seiner Beinkleider zwei Pantalons für den mageren und schwächlichen Escribano gemacht werden konnten.
   »Hilf Himmel, Herr Alkalde«, sagte dieser, nachdem er eine Menge von Morgenbegrüßungen gegeben und empfangen hatte, »welche prachtvollen Beinkleider habt Ihr da an!«
   »Mein Freund Gregorio«, antwortete der Alkalde mit einem Gesicht voll guter Laune, »Ihr werdet langweilig mit Euren Wiederholungen. Zum Henker! Gibt es denn weiter nichts an meiner Person als meine Beinkleider, um die Ihr mich beneidet?«
   Cayatinta stieß einen Seufzer aus und antwortete mit der Miene eines gierigen Hundes, der nach einem Knochen lüstern ist: »Es würde ein Wunder nötig sein, um mir Eure persönlichen Vorzüge zu geben; aber Eure Beinkleider – das ist etwas anderes. Zwei Ellen Tuch von Segovia würden alles beseitigen.«
   »Geduld, Geduld, Herr Escribano! Ihr wißt, daß ich Euch zur Vergeltung der Dienste, die Ihr mir leisten wollt – ich sage nicht, der Dienste, die Ihr mir geleistet habt —, meine rotfarbigen Beinkleider versprochen habe, wenn sie nur erst ein wenig abgetragen sind. Ich denke daran; denkt Ihr daran, sie zu verdienen!«
   »Was muß ich dazu tun?« sagte der Escribano mit einer verzweifelten Miene. »Der Einsatz ist nicht gleich. Ihr wagt so wenig im Vergleich zu mir!«
   »Ei, mein Gott, man weiß nicht«, entgegnete der Alkalde; »es können solche Umstände eintreten, die Euch plötzlich das Übergewicht über mich geben.«
   »Ja, aber es können auf der anderen Seite auch Umstände eintreten, die mit einem Schlag Euren Beinkleidern den Wert nehmen!«
   »Doch wir werden ja sehen. Auf zum Geschäft«, sagte der Alkalde, um die Beschwerden Gregorios kurz abzuschneiden, »wir wollen den Expropriationsakt hinsichtlich des Bootes eines schlechten Zahlers, dieses Vicomte Perez, vornehmen, der nur unter dem Vorwand, sechs Kinder ernähren zu müssen, zur bestimmten Frist die zwanzig Piaster, die ich ihm geliehen habe, nicht wieder bezahlt hat.« Mit diesen Worten nahm Don Ramon einen halbzerrissenen Strohstuhl, um sich an den Tisch zu setzen.
   »Nehmt diesen hier«, fiel der Escribano lebhaft ein, indem er ihm einen lederbedeckten Stuhl reichte, den der Gebrauch wie Mahagoni geglättet hatte; »Ihr werdet darauf viel weicher sitzen.«
   »Und meine Beinkleider auch«, antwortete der Alkalde mit schlauer Miene.
   Cayatinta holte aus seinem Schreibzeug ein aufgerolltes, gestempeltes Blatt Papier. Schon machte er sich ans Werk, als eilige Schläge an der Tür widerhallten, die die beiden Gerichtspersonen, um nicht unterbrochen zu werden, geschlossen hatten.
   »Wer, zum Henker, kann denn so anklopfen?« fragte der Alkalde.
   »Ave Maria purissima!!« sagte eine Stimme draußen. »Sin pecado concebida«, antworteten zugleich die beiden. Und bei dieser heiligen Formel öffnete Gregorio die Tür.
   »Was kann zu dieser Stunde wohl Don Juan de Dios herführen?« rief der Alkalde mit erstaunter Miene beim Anblick des tiefen Kummers, der der glühenden Stirn des Hausmeisters der Gräfin von Mediana aufgeprägt war.
   »Ach, Herr Alkalde«, erwiderte der Greis, »welch großes Unglück ist diese Nacht geschehen; ein großes Verbrechen ist begangen worden … Die Gräfin ist verschwunden und der junge Graf mit ihr.«
   »Aber seid Ihr dessen gewiß?« schrie der Alkalde.
   »Ach, wir brauchen nur auf den Balkon zu steigen, der nach dem Meer hinausgeht – wie wir das schon getan haben, als wir keine Antwort von der gnädigen Frau erhielten —, und zu sehen, in welchem Zustand die Mörder ihr Zimmer gelassen haben.«
   »Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Herr Alkalde, schickt alle Eure Alguazils aus!« rief, noch in einiger Entfernung, eine Frauenstimme. Es war die Kammerfrau der Gräfin, die es für das beste hielt, um so stärker zu schreien, je weniger sie ergriffen war von einem so unbegreiflichen Ereignis, als sie sich in den Audienzsaal des Alkalden stürzte.
   »Ta! Ta! Wie Ihr doch sogleich darauf losgeht!« sagte dieser. »Glaubt Ihr denn, daß ich so sehr viele Alguazils habe? Ihr wißt recht gut, daß ich nur zwei habe; und noch dazu sind diese, da sie in diesem tugendhaften Dorf, wenn sie nur ihrem Amt obliegen sollten, vor Hunger sterben würden, heute morgen zum Fischen gefahren.«
   »Ach, mein Gott«, schrie schluchzend die Kammerfrau, »meine arme Herrin! Wer soll ihr helfen?«
   »Geduld, Frau, Geduld!« sagte Don Ramon. »Zweifelt niemals an der Justiz; vielleicht kommt eine plötzliche Kundgebung von oben herab.«
   Die Kammerfrau hielt es nicht für gut, sich durch diese Hoffnung trösten zu lassen, und verdoppelte ihr Geschrei. Bei dem Lärm, den ihr geheuchelter Schmerz machte, während der alte Juan de Dios nur traurig den Kopf senkte und ganz leise einen furchtbaren Richter um Hilfe anrief, hatte sich eine zahlreiche Gruppe von Frauen, Greisen und Kindern auf der Schwelle des Hauses des Alkalden gesammelt und drang nach und nach in das Heiligtum der Justiz ein.
   Don Ramon Cochecho näherte sich Cayatinta, der sich unter seiner Esclavina die Hände rieb bei dem Gedanken an alles gestempelte Papier, das man beschreiben würde, und sagte zu ihm: »Aufgepaßt, Freund Gregorio, der Augenblick ist da; und wenn Ihr geschickt seid, so kann das rotfarbige Beinkleid …«
   Er sagte nichts weiter; aber Cayatinta begriff, denn er erbleichte vor Freude, und ohne das geringste Zeichen seines Patrons zu übersehen, hielt er sich bereit, die erste Gelegenheit, die sich zeigen würde, augenblicklich zu ergreifen.
   Der Alkalde ließ sich abermals auf seinen ledernen Sessel nieder und forderte mit einer Gebärde Schweigen; dann hielt er mit jenem Wortreichtum, der der spanischen Sprache, der hochtrabendsten und reichsten aller lebenden Sprachen, eigen ist, seinem Zuhörerkreis eine ziemlich lange Rede, deren Inhalt etwa folgender war: »Meine Kinder«, sagte er, »wie der ehrenwerte Don Juan de Dios Canelo hier eben versichert hat, ist ein großes Verbrechen diese Nacht begangen worden. Es konnte nicht fehlen, daß die Kenntnis von diesem Verbrechen zu den Ohren der Justiz gelangte – denn nichts entgeht dieser; aber ich danke nichtsdestoweniger dem Don Juan de Dios seine amtliche Mitteilung; ja, meine Kinder, seine amtliche Mitteilung. Dieser ehrenwerte Hausmeister hätte sie nur vollständiger machen müssen, indem er die Namen der Schuldigen aufdeckte …«
   »Aber Herr Alkalde«, unterbrach ihn Juan de Dios, »ich weiß sie ja nicht, obgleich meine Mitteilung, wie Ihr sagtet, eine amtliche sein mag; aber ich werde helfen, diese Schuldigen zu finden.«
   »Ihr versteht es, meine Kinder: Der würdige Canelo fleht in einer amtlichen Mitteilung die Hilfe der Justiz zur Bestrafung der Schuldigen an. Die Justiz wird nicht taub sein bei seinem Ruf. Es sei mir nun erlaubt, zu euch von meinen kleinen Geschäften zu reden und dann mich dem Schmerz zu überlassen, den mir das Verschwinden der Gräfin und des jungen Grafen von Mediana einflößt.«
   Hier machte der Alkalde Cayatinta ein Zeichen, dem alle seine angespannten Geisteskräfte noch nicht enthüllt hatten, durch welchen Dienst er den Gegenstand seines Ehrgeizes wohl gewinnen könnte; dann fuhr er fort: »Ihr kennt nicht, meine Kinder, die doppelten Bande, die mich an die Familie Mediana fesseln. Urteilt also über meinen Schmerz bei der Nachricht von dieser Gewalttat, die um so unbegreiflicher ist, als man weder weiß, warum, noch durch wen sie begangen ist. Ach, meine Kinder, ich verliere eine mächtige Beschützerin, und das Herz des treuen Dieners ist durchbohrt, während das des Geschäftsmanns nicht weniger grausam verwundet ist. Ja, meine Kinder, in der trügerischen Sicherheit, in der ich gestern noch versunken lag, war ich auf dem Schloß Mediana bezüglich meiner Pachtgelder.«
   »Um eine Frist zu erbitten!« wollte Cayatinta eben rufen, der in den Geschäften des Alkalden vollständig auf dem laufenden war. Aber dieser ließ ihm keine Zeit, die ungeheuerliche Tat zu begehen, die ihn auf immer der Hoffnung auf den versprochenen Lohn beraubt hätte. »Geduld, mein würdiger Cayatinta«, sagte der Alkalde, indem er sich gegen den Escribano wandte; »zähmt diesen Durst nach Gerechtigkeit, der Euch verzehrt … Ja, meine Kinder, und infolge jener Sicherheit, die ich jetzt beklage, übergab ich den Händen der unglücklichen Gräfin …«, hier schwankte die Stimme Don Ramons, »eine Summe, die dem auf zehn Jahre vorausbezahlten Pachtgeld gleichkommt.«
   Bei dieser unerwarteten Erklärung schnellte Cayatinta von seinem Stuhl empor, als ob er von einer Natter gestochen wäre, und sein Blut gerann in seinen Adern, als ein Lichtstrahl ihm die Ausdehnung des Fehlers zeigte, dessen er sich schuldig machen wollte.
   »Urteilt also über meinen Schmerz, meine Kinder; diesen Morgen sollte die Gräfin mir die Quittung darüber geben.«
   Diese Worte brachten eine tiefe Erregung unter seinen Zuhörern hervor, von denen keiner unter allen, die zugegen waren, an diesen traurigen Querstrich glaubte; niemand jedoch wagte es, seinen Unglauben zu zeigen. »Glücklicherweise«, fuhr der Alkalde fort, »kann der Eid glaubwürdiger Personen dieses Unglück wiedergutmachen.«
   Hier sprang Cayatinta wie lange Zeit zusammengepreßtes Wasser, wenn es endlich einen Ausweg findet, empor, streckte den Arm aus und rief, mit einem Mal herausplatzend: »Ich beschwöre es!«
   »Er beschwört es«, wiederholte der Alkalde.
   »Er beschwört es«, wiederholten die Umstehenden.
   »Ja, meine Freunde, ich beschwöre es noch einmal! Ich würde es immer beschwören! Obgleich ein Umstand mein Zartgefühl beunruhigt: Ich erinnere mich nämlich nicht mehr, ob der Alkalde der unglücklichen Gräfin Donna Luisa für zehn oder fünfzehn Jahre vorausbezahlt hat!«
   »Nein, mein teurer Freund«, unterbrach ihn Don Ramon mit einer Mäßigung, für die man ihm dankbar sein mußte, da er im besten Zug war, »es waren nur zehnjährige Pachtzinsen, die ich nun durch Euer kostbares Zeugnis nicht mehr verliere; Ihr könnt auch auf meine Dankbarkeit zählen.«
   Ich glaube es wohl, dachte der Escribano; zwei Jahre im Rückstand und zehn Jahre voraus macht rund genommen zwölf Jahre. Ganz entschieden habe ich auf die rotfarbigen Beinkleider unverjährbare Rechte! —
   Wir wollen den Leser nicht weiter mit der Erzählung dessen ermüden, was sich in dieser Sitzung zutrug, in der die Justiz geübt wurde, wie es noch sehr lange Zeit vor Gil Blas gebräuchlich war und wie es noch sehr lange in Spanien gebräuchlich sein wird; wir wollen ihn nur zu der Untersuchung mitnehmen, die der Alkalde und sein Gehilfe an Ort und Stelle selbst anstellten, in Begleitung der durch das Gesetz geforderten Zeugen. Man fing damit an, die Tür des Schlafzimmers, das von innen verriegelt geblieben war, aufzubrechen. Leere und halbleere Schubfächer lagen auf dem Boden. Nichts von allem aber zeugte bestimmte Spuren von Gewalt; eine freiwillige, aber übereilte Abreise konnte zu einer gleichen Unordnung in einem Zimmer Veranlassung geben.
   Das Bett der Gräfin, noch unberührt, bewies, daß sie sich nicht niedergelegt hatte, und enthüllte so den im voraus gefaßten Entschluß, den Augenblick der Abreise außerhalb des Bettes zu erwarten.
   Die Möbel waren an ihrem gewöhnlichen Platz, die Vorhänge der Fenster und des Alkovens waren nicht zerknittert; keine Spur eines Kampfes ließ sich auf dem Fußboden des Zimmers erblicken, der doch von zierlichen Steinchen verfertigt war, so daß die geringste ungewöhnliche Berührung ihn hätte verletzen oder Risse machen müssen.
   Der widerliche Geruch einer Lampe, die aus Mangel an Öl langsam erlischt, herrschte trotz der Luft, die hineindrang, noch in dem Zimmer; es war klar, daß man sie bis zum Morgen hatte brennen lassen – Verbrecher hätten sie ausgelöscht, um sich furchtlos ihrem traurigen Geschäft hingeben zu können —; tausend Kleinigkeiten endlich, die die Habgier hätten reizen können, waren in den Schubfächern geblieben. Zu all diesen trügerischen Anzeichen schüttelte der alte Juan de Dios mit einer Miene des Zweifels den Kopf. Er fand etwas in all diesen Dingen, was seinen Verstand verwirrte und seine Auffassungskraft – die übrigens niemals die beste gewesen war – überschritt; aber sein gesunder Verstand wehrte sich gegen den Gedanken, daß seine Herrin hätte fliehen können, und zwar auf eine außergewöhnliche Weise. In seinen Augen war offenbar ein Verbrechen begangen worden – aber wie sollte man es erklären? Der Mörder hatte keine Spuren zurückgelassen. Der alte, ehrenwerte Diener betrachtete mit trostlosem Auge dieses öde Zimmer, die auf dem Fußboden zerstreut liegenden Kleider seiner Gebieterin und die eingedrückte Wiege, die noch die Spur des jungen Grafen an sich trug und in der er den Tag vorher unter der Obhut seiner Mutter rosig und lächelnd schlief.
   Wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, ging Juan de Dios auf einen eisernen Balkon, der sich nur wenig über den Boden erhob. Seine Augen befragten das sandige Ufer, das sich unter dem Balkon ausdehnte; aber kein Abdruck war auf einer harten und kalkigen Fläche zurückgeblieben. Die Strandsteine rollten tosend auf das Ufer, ohne mehr von menschlichen Spuren zu verraten, als die Oberfläche eines Sees den Schatten der Vögel bewahrt, die darüber hinfliegen. Der Wind pfiff, der Ozean murrte wie immer, und unter diesen Stimmen der Natur erhob sich keine, um den Schuldigen zu entdecken. Nur am Horizont zeichneten sich noch die weißen Segel eines Schiffes, das das Weite suchte, auf dem fernen Azur des Meeres ab.
   Während der alte Diener schweigend betete und mit einem träumerischen Blick das Schiff, das enteilte, verfolgte, hörten alle Umstehenden – mit Ausnahme des Alkalden und des Escribano – traurig den düsteren Tönen des Windes zu, der sich in den Felsen verfing und auf diesen Höhen bei Tag und Nacht abwechselnd zu weinen, zu seufzen oder zu brüllen scheint.
   Der Alkalde und sein Schreiber teilten wohl stillschweigend die Ansicht Juans de Dios. Alle beide glaubten an ein Verbrechen; aber bei der Unmöglichkeit, das geringste sichtbare Zeichen zu finden, die Hand auf das geringste Individuum zu legen, das fähig war, die Kosten des Prozesses zu bestreiten, fanden sich der Escribano und der Alkalde, wie es die ruhmvolle Gewohnheit Spaniens ist, ganz befriedigt; der eine mit der so sehr ersehnten Belohnung, die er schon zu halten glaubte, der andere mit den zwölf Pachtjahren, die er sicher zu erhalten dachte.
   »Wahrhaftig, meine Herren«, sagte der Alkade, indem er sich gegen die Zeugen umwandte, »ich kann mir nicht erklären, welchen Einfall die Frau Gräfin von Mediana gehabt haben mag, um ihr Zimmer durch das Fenster zu verlassen, denn der Riegel der Ausgangstür, der von innen vorgeschoben ist, läßt keinen Zweifel an der Sache zu. Das ist Fraueneigensinn, und die Justiz hat nicht nötig, ihn zu erklären.«
   »Es ist vielleicht darum geschehen, um dem Herrn Alkalden keine Quittung zu geben«, sagte ganz leise einer der Zeugen zu seinem Nachbarn.
   »Doch noch eins!« sagte Cochecho, sich an Juan de Dios wendend. »Wie habt Ihr das Verschwinden der Gräfin bemerken können, da man doch nicht bei ihr eintreten konnte?«
   »Das ist sehr einfach«, antwortete der Greis. »Die Kammerfrau hat zu der Stunde, wo sie sich gewöhnlich bei der gnädigen Frau einfindet, geklopft, und niemand hat geantwortet; sie hat stärker geklopft, und da sie noch keine Antwort erhalten hat, ist sie unruhig geworden und hat mich benachrichtigt. Ich habe geklopft, ich habe auch gerufen; und da ich nichts hörte, bin ich nach der Leiter im Garten gelaufen und habe durch dieses offene Fenster das Zimmer, so wie Ihr es selbst erblickt, gesehen.«
   Als der Hausmeister seine Erklärung abgegeben hatte, sagte Cayatinta einige Worte zum Alkalden – leise genug, daß es niemand hörte. Aber dieser begnügte sich, die Schultern mit einer verächtlichen Miene zu zucken.
   »Wer weiß«, erwiderte der Escribano bei dieser stummen Gebärde.
   »Vielleicht«, antwortete der Alkalde; »wir wollen sehen!« Dann, nach einem Augenblick des Schweigens, sagte er: »Ich bestehe auf dem Glauben, meine Herren, daß, so sonderbar es auch scheinen mag, die Frau Gräfin die Freiheit hat, fortzugehen, wie es ihr gefällt; selbst durchs Fenster.«
   Die Zeugen lächelten beifällig zu diesem Witz der Justiz.
   »Aber Herr Alkalde«, rief der alte Juan de Dios, den der Witz des Alkalden Cochecho empörte, »diese zerbrochene Fensterscheibe, von der die Stücke hier auf der Erde liegen, beweist doch, daß ein gewaltsamer Einbruch der Schuldigen ins Zimmer stattgefunden hat.«
   »Dieser alte Canelo will mich nicht frühstücken lassen«, brummte der Alkalde, der gern ein Ende gemacht hätte, seitdem er keinen Vorteil mehr aus dieser geheimnisvollen Sache zu ziehen erhoffte; »gewiß wird meine Mahlzeit kalt und Nikolasa ungeduldig. – Was beweisen denn diese Glasstücke?« antwortete er ganz laut. »Denkt Ihr denn, daß bei der Seebrise, die diese Nacht so heftig geweht hat, nicht in einem offenen Fenster, das heftig wieder zugeworfen wird, zwei oder drei Scheiben zerbrochen werden könnten?«
   »Warum aber«, entgegnete Juan de Dios, »ist es gerade die Scheibe, die sich an der Seite des Drehriegels befindet? Man wird sie zerbrochen haben, um das Fenster zu öffnen!«
   »Ach was da! Herr Don Juan de Dios«, schrie der ungeduldige Alkalde, der vor Wut in sein Rohr mit goldenem Knopf – das Zeichen seiner Würde – hineinbiß, »seid Ihr es, oder bin ich es, der hier das Recht hat, Fragen zu stellen? Wahrhaftig – es scheint fast, als ob Ihr mich eine lächerliche Rolle spielen laßt.«
   Hier trat Cayatinta mit bescheidener Miene dazwischen. »Ich würde«, sagte er, »unserem Freund Canelo erwidern, daß, wenn diese Glasscheibe zu dem Zweck, den er andeutet, zerbrochen wäre, dies nur von außen hätte geschehen können; die Stücke würden also nach innen gefallen sein; und doch liegen sie hier auf dem Balkon! Es ist also der Wind, der es getan hat, wie der Herr Alkalde Grund gehabt hat, zu glauben. Es sei denn«, fügte er mit seinem falschen Lächeln hinzu, »daß es ein Bündel gewesen ist, das man unvorsichtig durch das Fenster geworfen hat, denn die Gräfin muß ihre Luftfahrt – nach der Zahl der Effekten zu urteilen, die sie mitgenommen hat – verlängern wollen, wie solches auch diese leeren Schubfächer beweisen.«
   Der alte Hausmeister hatte seinen Kopf vor dem Beweis, der seine Behauptung umstieß, gesenkt und hörte die letzte Bemerkung Cayatintas nicht. Was diesen letzteren anlangte, so fragte er sich heimlich, ob er nicht vom Alkalden ein wenig mehr als die versprochene Belohnung als Preis dieses neuen Dienstes verlangen sollte.
   Während der alte Diener der Mediana in schmerzliche Gedanken, die seine heiße Stirn verfinsterten, versunken war, näherte sich ihm leise der Alkalde. »Ich bin ein wenig aufgeregt gegen Euch gewesen«, sagte er zu ihm; »ich habe nicht genug auf den Schmerz, den ein redlicher Diener wie Ihr bei einem so unvorhergesehenen Schlag empfinden muß, Rücksicht genommen. Aber sagt mir: Ganz abgesehen von dem Kummer, den Ihr fühlen müßt – beunruhigt Euch nicht die Furcht vor der Zukunft? Ihr seid alt, folglich schwach und ohne Hilfsquellen.«
   »Eben deshalb, weil ich alt bin, Herr Alkalde, und weil meine Zukunft, was mich betrifft, eng begrenzt ist, beunruhigt sie mich wenig. Aber mein Schmerz«, fügte der Diener mit einer Art Stolz hinzu, »ist rein von jeder Beimischung; die edle Freigebigkeit der gnädigen Herren von Mediana hat mich sogar in den Stand gesetzt, die wenigen Tage, die mir noch zu leben übrigbleiben, ruhig zuzubringen. Aber ich würde glücklich sein, die Gemahlin meines alten Herrn rächen zu können.«
   »Ich billige Eure Gefühle«, erwiderte der Alkalde mit tiefgerührter Miene. »Ihr seid ein Mann, doppelt achtbar durch Euren Kummer … und durch Eure Sparsamkeit, Herr de Canelo.« Dann änderte er plötzlich den Ton und sagte: »Schreiber, bringt zu Protokoll, daß der hier gegenwärtige Don Juan de Dios de Canelo sich zum peinlichen Kläger aufwirft gegen die Räuber seiner Herrin; denn es läßt sich nicht mehr zweifeln, meine Herren, ein Verbrechen ist begangen worden, und wir schulden uns selbst – wir schulden diesem ehrenwerten Greis die Genugtuung, dessen Urheber zu finden und zu bestrafen.«
   »Aber Herr Alkalde«, rief der bestürzte Hausmeister, »es ist mir niemals eingefallen, mich als peinlichen Kläger zu stellen!«
   »Nehmt Euch in acht, alter Mann!« sprach Don Ramon mit feierlicher Stimme. »Wenn Ihr verleugnet, was Ihr mir soeben anvertraut habt, so würden erschwerende Beweise auf Euch lasten. Wie mir nämlich vor kurzem unser Freund Cayatinta bemerklich gemacht hat, würde diese Leiter, die Euch zur Ersteigung des Zimmers Eurer Herrin gedient hat, böswillige Absichten beweisen! Aber ich glaube, Ihr seid deren unfähig; bleibt also Ankläger, anstatt Angeklagter zu werden! Vorwärts, meine Herren, unsere Pflicht ruft uns hinaus; vielleicht finden wir unter diesen Fenstern Spuren, die zur Entdeckung leiten.«
   Der arme Juan de Dios, der sich so unversehens zwischen den beiden Spitzen dieses Dilemmas befand, dessen doppeltes Resultat dasselbe sein mußte – nämlich die Plünderung des kleinen Vermögens, das sein Greisenalter erleichtern sollte —, senkte sein Haupt und nahm mit erhabener Ergebung die Stimme des Unrechts für die Gottes, indem er sich mit dem Gedanken tröstete, daß dieses letzte Opfer vielleicht noch seinen Herrschaften nützlich sein würde.
   Keine Spur war am Fuß des Balkons – wie wir schon oben erwähnt haben – im Boden zurückgeblieben.
   Man glaubte einen Augenblick, einen wichtigen Fang zu tun in der Person eines Mannes, der unter einer Felsenkrümmung eingeschlafen war. Es war Pepe der Schläfer. Plötzlich aufgeweckt und befragt, ob er nichts gesehen habe, bediente sich Pepe, der zum erstenmal seit langer Zeit seine Tasche nicht leer wußte, um alle Gefahr abzuwenden, eines Mittels, das von Anfang an einem so gierigen Menschen wie dem Alkalden gegenüber ganz außerordentlich erscheinen wird; er bat ihn nämlich, ihm einen Real zu leihen, um Brot zu kaufen.
   Was war mit einem solchen Tollkopf zu tun? Der Alkalde richtete auch keine weiteren Fragen an ihn und ließ ihn sich nach Gefallen ermuntern. Man mußte also bis auf weiteren Befehl auf jede Nachforschung Verzicht leisten; man hatte ja auch genug getan, um die Kosten des Prozesses bis zur Summe der Ersparnisse des klagenden Teils zu erhöhen.
   Als jedoch nach diesem in den Annalen Elanchoves unerhörten Morgen die Dämmerung dem Tag gefolgt war, irrten zwei Männer noch traurig an der Küste umher, waren aber eifrig bemüht, einander nicht zu begegnen. Der eine war der arme Juan de Dios, der einen Seufzer seinen ersparten Geldern nachschickte, die nahe daran waren, sich in den verzehrenden Abgrund der Justiz zu stürzen, und hartnäckig die Spuren seiner Herrin suchte, für sie und seinen jungen Herrn betete und Gott anflehte, ihr Leben zu schützen.
   Der andere war der traurige Cayatinta. Der Alkalde nämlich hatte das Vertrauen des Escribano, der ihm seinen Eid, ehe noch die versprochene Belohnung erteilt war, geleistet hatte, so benutzt, daß er geradezu seine Hosen verweigerte und an ihrer Stelle einen ziemlich alten Hut anbot, den Gregorio mit Unwillen zurückgewiesen hatte. Cayatinta beweinte also seine verschwundenen Träume, sein blindes Vertrauen und die Unsittlichkeit der falschen Eide … wenn sie nicht bezahlt werden, und dachte über einen günstigen Augenblick nach, um den alten Hut statt seiner ach so wohl verdienten Beinkleider zu erhalten.


   3 . Wie Pepe der Schläfer seine Pflichtverletzung wiedergutmacht

   Als Pepe der Schläfer dem Capitan Despierto sein Geheimnis abgelockt hatte – ein Geheimnis, von dem er seinen Vorteil gezogen hatte —, wußte er nicht, daß Don Lucas ihm noch ein anderes verbarg. Der Soldat jedoch, der infolge einiger Gewissensbisse eifrig wünschte, seine Pflicht vielleicht zum erstenmal in seinem Leben zu erfüllen, bat an dem Tag nach der Nacht, in der er auf Posten gestanden hatte, seinen Capitan um die Gunst, seinen Wachtdienst an demselben Abend wiederaufnehmen zu dürfen. Man errät, daß er ohne Mühe die Erlaubnis erhielt; aber während Don Lucas ihn seiner Gewohnheit nach eingeschlafen glaubte, wachte Pepe wie in der vorhergehenden Nacht.
   Wir wollen ihn unterdessen auf seinem Posten lassen, um zu erzählen, was sich an der Küste Elanchoves, nicht weit von der Bucht Ensenada, ereignete.
   Die Nacht war ebenso neblig wie die vorhergehende, als gegen zehn Uhr abends ein rascher und segeltüchtiger Kutter in die geheimen Zugänge eines Felsenlabyrinths einbog. Die Haltung des Kutters, sein Takelwerk, seine Segelstellung bezeichneten ihn als ein Kriegsschiff oder wenigstens als ein bewaffnetes Schiff auf der Fahrt. Die Kühnheit, mit der er mitten durch die Dunkelheit steuerte, bewies ebenfalls, daß sein Lotse seit langer Zeit diese gefährliche Küste befahren haben mußte und daß der Kommandant des Schiffes geheime Verbindungen auf dem Festland hatte. Das Meer brach sich wütend links und rechts von dem engen Labyrinth, an dessen Felsen das Fahrzeug unter gerefften Segeln hinglitt, nur wenig von ihnen entfernt. Als diese enge Durchfahrt erst hinter ihm lag, öffnete sich eine weite Bucht vor dem Kutter, in der das viel ruhigere Meer ein ebenes und sandreiches Ufer bespülte.
   Das Schiff drehte jetzt nach einer Wendung, die der wachhabende Offizier auf französisch befahl, mit einer Schnelligkeit bei, die eine zahlreiche Mannschaft voraussetzen ließ. Zwei kleine Fahrzeuge wurden nach und nach bewaffnet und ins Meer gelassen, und ihre Bemannung steuerte nach dem höchsten Punkt der Bucht, über der sich einige auf dem flachen Ufer verstreut liegende Häuser durch ihre weiße Farbe unterscheiden ließen.
   Wir wollen es gleich hier sagen, um nicht noch länger ein Geheimnis daraus zu machen, daß das kleine Fahrzeug ein französisches war – halb Korsar, halb Schmuggler —, das in der doppelten Absicht kam, eine Anzahl Kaufmannsgüter an ihren Bestimmungsort zu bringen und Mundvorräte, an denen es zu fehlen begann, wieder einzunehmen.
   Der Kapitän hatte es, geführt durch einen Fischer von Elanchove, den der Capitan Despierto gestellt hatte, für gut gehalten, in diesen Engpaß einzulaufen, um sich während des Augenblicks sicherzustellen, wo er, einer bestimmten Zahl seiner Matrosen beraubt, ein gefährliches Zusammentreffen auf offener See hätte haben können.
   Der wachhabende Offizier schritt schweigend auf dem Verdeck auf und ab, lauschte auf das Anschlagen des Meeres längs der Seiten des Schiffes, prüfte sorgfältig den Wind, dessen Hauch die nach der entgegengesetzten Seite gerichteten Segel anschwellte, und neigte sich von Zeit zu Zeit gegen das Licht des Kompaßhäuschens.
   Eine Stunde verging auf diese Weise, als plötzlich ein lebhaftes Gewehrfeuer von allen Punkten der Küste prasselte; andere Schüsse antworteten, und kurze Zeit nachher legten die beiden Boote am Kutter bei.
   Pepe war es, der zum großen Mißfallen seines Capitans die Küstenwächter alarmiert hatte; zu spät jedoch, denn die Barken kamen mit Hammelfleisch und Lebensmitteln jeder Art beladen zurück. Der letzte Mann, der auf das Verdeck stieg, ehe man die Fahrzeuge wieder hinaufhißte, war ein Matrose von gigantischer Gestalt. Er trug ein kleines Kind regungslos auf seinen Armen, das man für tot gehalten haben würde, wenn nicht einige leichte Schauer des Körpers einen Rest von Leben in ihm offenbart hätten.
   »Was, zum Henker, bringst du da, Bois-Rosé?« fragte ihn der Offizier.
   »Mit Eurer Erlaubnis, Herr Lieutenant, es ist ein kleines Kind, das ich halbtot vor Hunger und Kälte in einem mit dem Wind treibenden Boot gefunden habe. Eine tote, in ihrem Blut gebadete Frau hielt es noch in ihren Armen, und ich hatte die größte Mühe der Welt, es aus dem Fahrzeug zu nehmen, in dem es sich befand und das diese Hunde von Spaniern, da sie es für eines der unsrigen hielten, über die Maßen aufs Korn nahmen. Besonders war da ein großer Schlingel von Soldat (der Leser mag wissen, daß es Pepe der Schläfer war), der während des Überladens mit ebenso großer Hartnäckigkeit als Ungeschicklichkeit auf mich schoß. Übrigens hätte ich ihn für immer zum Schweigen bringen können, wäre ich nicht durch die Sorgfalt, die ich auf dieses schwache Geschöpf verwenden mußte, daran gehindert worden … Aber wenn ich ihn jemals wieder treffe … Genug davon!«
   »Und was denkst du mit dem Kind anzufangen?« fragte der von Mitleid bewegte Offizier.
   »Es bei mir behalten – wahrhaftig! —, bis zu dem Augenblick, wo mir der Friede erlauben wird, hierher zurückzukehren und die nötigen Erkundigungen darüber einzuziehen.«
   Unglücklicherweise waren die einzigen Auskünfte, die man von diesem Kind, das drei Jahre alt erschien, erhalten konnte, die, daß es Fabian heiße und daß die ermordete Frau seine Mutter wäre. —
   Zwei Jahre verflossen, ohne daß das französische Schiff in Spanien landen konnte. Die zärtliche Liebe des Matrosen, der den jungen Fabian von Mediana aufgenommen hatte, verleugnete sich keinen Augenblick und wuchs immer mehr. Dieser Mann von kolossaler Gestalt und herkulischer Kraft war ein Kanadier und hieß, wie wir schon gesehen haben, Bois-Rosé. Es war ein sonderbares und rührendes Schauspiel, welche fast mütterliche Sorgfalt der Riese auf dieses kleine Kind verwendete, welche List er anwendete, um sich täglich eine Zulage zu seiner Ration für seinen angenommenen Sohn zu verschaffen. Der Matrose war so weit gekommen, daß er nach seiner Art auf dieses hinfällige Leben tausend Träume des Glücks baute, die seine Prisenanteile ihm eines Tages verwirklichen sollten.
   Unglücklicherweise übersah der ehrliche Matrose bei seinen Rechnungen die gefährlichen Zufälle des Seelebens.
   Eines Morgens wurde der französische Kreuzer gezwungen, vor einer englischen Brigg, die doppelt so stark war als er, das Weite zu suchen. Ein so guter Segler er nun auch war, so konnte er doch die Verfolger nicht täuschen und dem Kampf nicht ausweichen.
   Die beiden Schiffe beschossen sich mit Erbitterung seit mehreren Stunden, als der Matrose, ganz schwarz von Pulver, in den untersten Schiffsraum hinabstieg, wohin er seinen Sohn in Sicherheit gebracht hatte. Nachdem er ihn zärtlich umarmt hatte, trug er ihn in seinen Armen auf das Verdeck. Hier, während des heftigsten Kampfes; inmitten des Lärms, des Blutes, das überall floß, des Geschreies der Kämpfenden; mitten unter stürzenden Masten wollte er für jeden Fall seinem Gedächtnis die Umstände einer Trennung eingraben, die er fürchtete.
   In einem solchen Augenblick, der selbst einem Kind eine Erinnerung zurücklassen muß, die niemals erlischt, sagte er zu ihm, indem er ihn mit seinem gewaltigen Leib deckte: »Knie nieder, mein Sohn!«
   Das Kind kniete zitternd nieder.
   »Du siehst, was vorgeht?« fuhr der Kanadier mit feierlicher Stimme fort.
   »Ich fürchte mich«, murmelte Fabian, »vor dem Blut, das ich sehe, vor dem Lärm, den ich höre.« Und er barg sich in den Armen des Riesen.
   »Gut«, begann der Matrose abermals. »Auf! Vergiß niemals, daß dich in diesem Augenblick ein Matrose – ein Mann, der dich liebte wie sein Leben – hat niederknien lassen, um dir zu sagen: ›Knie nieder, mein Kind, und bete für deine Mutter …‹«
   Er beendete den Satz nicht; eine Kugel hatte ihn getroffen, und sein Blut spritzte über Fabian hin, der ein herzzerreißendes Geschrei ausstieß. Der Kanadier hatte nur noch Zeit, ihn mit einer verzweifelten Umarmung an sein Herz zu pressen und den Satz zu beenden, aber so leise, daß der Knabe nur mit Mühe die Worte vernahm, die er angefangen hatte: »… die ich sterbend bei dir gefunden habe.« Dann verlor er das Bewußtsein.
   Als er wieder zu sich kam, war dies mitten in einem verpesteten Schiffsraum. Ein brennender Durst verzehrte ihn. Er rief den mit schwacher Stimme, der ihm jeden Morgen beim Erwachen zulächelte, aber niemand antwortete; Fabian war nicht mehr da. Der Matrose war ein Gefangener, und auf einem Ponton konnte er nun den Verlust seiner Freiheit und seines Adoptivsohnes, den ihm die Vorsehung gesandt hatte, beweinen. —
   Was war aus Fabian geworden? Darüber soll uns die Geschichte des Waldläufers Aufschluß geben. Jedenfalls aber müssen wir noch, ehe wir vom Prolog zum Drama und von Europa nach Amerika übergehen, die Geschichte der Ereignisse in Elanchove vervollständigen.
   Es war nur einige Tage nach dem Verschwinden der Gräfin, als Fischer am flachen Ufer ihren Körper fanden und das verlassene Boot, in dem er leblos lag.
   Der alte Juan de Dios umwand die Fahnen des Schlosses mit schwarzem Flor und errichtete mit eigenen Händen ein hölzernes Kreuz an der Stelle, wo seine Gebieterin wiedergefunden worden war. Aber wie alles sich abnützt in der Welt, und zwar bald sich abnutzt, so hatte auch der Seewind den schwarzen Flor noch nicht gebleicht, die Flut hatte noch nicht das hölzerne Kreuz grün gefärbt, als man schon – trotz der durch das tragische Ereignis im Dorf entstandenen Bewegung – seit langer Zeit nicht mehr davon sprach.


   4. Zwei ehrliche Leute

   Im Jahre 1830 konnte die Provinz Sonora, eine der reichsten des mexikanischen Staatenbundes, mit gutem Recht für eine der am wenigsten erforschten Gegenden dieses Teiles von Amerika angesehen werden. Und doch hat die Natur sie verschwenderisch ausgestattet. Der vom Pflug kaum gestreifte Boden bedeckt sich dort mit zwei Ernten jährlich, und an vielen Stellen kann man unter freiem Himmel das verschwenderisch hingestreute Gold auf diesem fruchtbaren Boden sammeln, der von diesem Gesichtspunkt aus mit dem heutigentags so gerühmten Kalifornien wetteifert.
   Freilich werden diese Vorzüge durch einige Nachteile fast aufgehoben. Ungeheure Steppen, die hier und da die bebauten Teile Sonoras durchschneiden, machen das Reisen darin schwierig und gefährlich. Kriegerische Indianerstämme sind dort noch im Besitz der ungeheuren Ebenen, wo, wie man sagt, das Gold sich ebenso reichlich findet als der Sand.
   Wir könnten viele Fälle anführen, wo beträchtliche Reichtümer durch die Auffindung von irgendeinem Stück reinen Goldes begründet sind, wie auch andere, wo dem Vermögen die auf diesem fruchtbaren Boden gesammelten reichen Ernten zugrunde liegen.
   Männer, deren ganze Wissenschaft nur auf eine praktische Kenntnis der Erzbildung hinausgeht, begeben sich von Zeit zu Zeit in die Steppen. Dort leben sie unter Entbehrungen, sind tausend Gefahren ausgesetzt und beuten in der Eile irgendeine bloßliegende Silbermine aus oder beschäftigen sich mit dem Waschen des goldführenden Sandes; dann werden sie umzingelt, gefangengenommen oder vertrieben von den Apachen, kehren endlich in die Städte zurück und erzählen tausend wunderbare Geschichten von halb gesehenen, aber unnahbaren Schätzen, von verschwenderisch ausgestatteten Minen oder von unerschöpflichen Goldlagern an der Oberfläche des Bodens.
   Diese Gambusinos, wie man sie nennt, sind für die Minenindustrie gerade das, was die amerikanischen Hinterwäldler für den Ackerbau oder den Handel sind – sie unterhalten nämlich durch ihre Erzählungen, an denen die Übertreibung immer größeren Anteil hat als die Wirklichkeit, das Verlangen nach Eroberungen und den Durst nach Gold. Was die Indianer betrifft, so läßt sie nur ihr Haß gegen die weiße Farbe – nicht das Verlangen, Schätze zu behalten, deren Wert sie nicht kennen – die fortschreitenden Einfälle wütend zurückweisen.
   Die durch die Erzählungen der Gambusinos oder auch oft durch den Anblick eines glücklichen und reichen in der Steppe gemachten Fundes angestachelte Leidenschaft entflammt sich auf den Ruf irgendeines tollkühnen Abenteurers, der zu einer Unternehmung auffordert. Andere Abenteurer – ruinierte Söhne von guter Familie, Männer, die sich mit der Justiz überworfen haben – schließen sich ihm an; es bildet sich eine Expedition. Aber sie scheitert, weil sie leichtsinnig unternommen oder unbesonnen geführt ist, und kaum kehren einige von denen, die sie bildeten, zurück, um die Unfälle zu erzählen, durch die die anderen zugrunde gingen. —
   Zu dem Zeitpunkt, wo die Erzählung, die ich übertrage, wieder beginnt – im Jahre 1830, das heißt zweiundzwanzig Jahre nach den in der Vorrede erwähnten Ereignissen —, war von einer ähnlichen Expedition in Arizpe, der Hauptstadt der Provinz Sonora, die Rede. Der sie unternahm war ein Fremder, ein Spanier, der vor kaum zwei Monaten angekommen war und den man nur unter dem Namen Don Estévan de Arechiza kannte.
   Dieser Mann schien früher in der Gegend gelebt zu haben, ohne daß sich jedoch jemand erinnerte, ihn gesehen zu haben. Er mußte von Europa mit einem schon im voraus gefaßten Plan angekommen sein; örtliche Kenntnisse von unbestreitbarer Richtigkeit, ganz bestimmte Urteile über Personen und Sachen bewiesen klar, daß Sonora ihm nicht fremd und sein Plan schon lange vorher überdacht war. Er verfügte ohne Zweifel auch über mächtige und geheimnisvolle Hilfsquellen, denn er hatte ein ungeheures Gefolge bei sich, hielt offene Tafel, spielte hoch, lieh Geld her, ohne jemals zu denken, es wiederzufordern, und niemand konnte sagen, an welcher verborgenen Quelle er schöpfte, um dieses Leben eines großen Herrn führen zu können.
   Doch wie dem auch sein mochte – die großartige Lebensweise des Spaniers, sein Edelmut und seine Freigebigkeit hatten ihm bald in Arizpe einen raschen und mächtigen Einfluß verschafft. Er benützte ihn, um eine ferne Expedition nach einem Ort hin zu bilden, wohin sozusagen noch kein Weißer bis jetzt gedrungen war.
   Da Don Estévan fast immer im Spiel verlor; da er ständig vergaß, wie wir schon gesagt haben, das Geld, das er ausgeliehen hatte, wieder einzufordern, und da man folglich nicht annehmen konnte, daß er vom Spiel oder vom Borgen lebte, so argwöhnte man, daß er nicht weit von Arizpe irgendein reiches Goldlager besäße und daß er noch reichere tief im Lande der Apachen wüßte.
   Die von Zeit zu Zeit eintretenden Reisen von Señor Arechiza bestätigten diese erstere Annahme. Was die zweite anlangt, so sollte der Zufall nicht lange ausbleiben, um daraus eine Wahrheit zu machen. Wir werden weiter unten sagen, auf welche Weise.
   Don Estévan hatte also weniger Mühe als jeder andere, dank dem Einfluß, den er ausübte, abenteuernde Gefährten zu finden. Schon begaben sich, sagte man, achtzig entschlossene Männer von verschiedenen Punkten Sonoras aus zum Presidio von Tubac an der indianischen Grenze, das Arechiza ihnen als Sammelplatz der Expedition bezeichnet hatte, und nach dem allgemeinen Gerücht war der Tag nahe, wo Don Estévan selbst von Arizpe abreisen sollte, um sich an ihre Spitze zu setzen. Dieses zuerst unbestimmte Gerücht wurde bald zur Gewißheit, als der Spanier bei einer der Mahlzeiten, die er gab, seinen Tischgenossen ankündigte, daß er sich innerhalb dreier Tage zum Presidio von Tubac auf den Weg machen würde. Während dieses Mahles wurde auch ein Bote in den Speisesaal geführt, und dieser übergab Don Estévan einen Brief, auf den er, wie er sagte, eine Antwort erwarte.
   Der Spanier bat seine Gäste um Entschuldigung und brach das Siegel des Briefes.
   Da alles im Verfahren des Fremden einen geheimnisvollen Charakter annahm, so schwiegen seine Gäste einen Augenblick, um seine Haltung und sein Mienenspiel zu prüfen. Aber die unempfindliche Gestalt Don Estévans, der sich allgemein beobachtet sah, verriet keinen seiner Gedanken; es ist wahr, er wußte vollkommen seine Empfindungen zu verbergen, und vielleicht hatte er an diesem Tag seine ganze Selbstbeherrschung nötig. »Es ist gut«, sagte er ruhig zum Boten. »Bringt dem, der Euch sendet, die Antwort, daß ich nach genau drei Tagen, von heute an gerechnet, am bestimmten Ort sein werde.«
   Er verabschiedete ihn, indem er sich abermals bei seinen Gästen wegen der Unhöflichkeit entschuldigte, zu der er genötigt gewesen war. Dann nahm die unterbrochene Mahlzeit wieder ihren Verlauf, doch schien der Spanier nachdenklicher als gewöhnlich, und als seine Gäste sich entfernten, zweifelten sie nicht, daß er irgendeine Nachricht von großem Interesse für ihn empfangen hätte.
   Wir wollen die Bewohner Arizpes ihren Vermutungen überlassen und Don Estévan zu jener geheimnisvollen Zusammenkunft begleiten, zu der er eben an einem Ort eingeladen war, der gerade auf dem Weg zum Presidio von Tubac lag.
   Wenn man Arizpe verlassen hat, trifft man auf dem Marsch nach dem erwähnten Presidio nur von Zeit zu Zeit verfallene, zuweilen zusammenliegende Wohnungen; öfter noch liegen sie ganz vereinzelt. Diese Wohnungen sind etwa durch eine Entfernung voneinander getrennt, die ein Pferd zwischen Sonnenaufgang und Untergang zurücklegen kann. Daraus folgt, daß sie ebenso viele Haltepunkte für die Reisenden sind, die sich zur Grenze begeben. Aber die Reisenden sind nicht zahlreich, und die Bewohner jener Hütten bringen einen Teil ihres Lebens in tiefer Einsamkeit zu. Ein Maisfeld, das sie bebauen; einige Stück Rindvieh, die sie auf jenen duftreichen Triften mästen, die dem Fleisch eine ausgesuchte Schmackhaftigkeit verleihen; ein immer heiterer Himmel und besonders eine wunderbare Mäßigkeit lassen diese Steppenwirte wenn nicht im Wohlstand, doch fern von aller Sorge leben. Welche Wünsche könnte auch wohl der Mensch haben, dessen Decke der blaue Himmel ist und der im Rauch einer Zigarre ein untrügliches Schutzmittel gegen die Angriffe des Hungers findet?
   An einem Morgen des Jahres 1830 saß – oder lag vielmehr – halb an der Tür einer Hütte, etwa drei Tagereisen von Arizpe, ein Mann auf einer der wollenen, sorgfältig gearbeiteten Decken, die man Zarapas nennt. Einige hier und da in einem vollkommenen Zustand der Verlassenheit verstreut liegende Hütten kündigten eines jener Dörfer an, die nur während der Regenzeit und während eines Teils der trockenen Monate von einer nomadischen Bevölkerung bewohnt sind. Sobald die Zisternen, die von den Wassern des Himmels gespeist werden, anfangen auszutrocknen, bleiben diese Dörfer öde und sehen ihre Bewohner erst wieder, wenn die Wasserbehälter sich von neuem füllen. Zwei kaum gebahnte Wege, die mitten durch den dichten Wald führten, der die ganze Umgegend bedeckte, kreuzten sich nahe bei der Stelle, wo der Reisende sich gelagert hatte, der keineswegs erschrocken schien über die tiefe Einsamkeit, in der er sich befand.
   Einige Raben, die krächzend von Baum zu Baum flatterten, und der Schrei der Chachalacas,dunkelfarbige Elsternart, die von ihrem Geschrei den Namen erhalten hat die den heraufziehenden Tag begrüßten, unterbrachen allein das tiefe Schweigen des Waldes. Sobald die Sonne erst einige Wärme ausstrahlte, begann der dicke Nebel, der sich unter diesem Himmelsstrich des Nachts wie ein Schleier ausbreitet, sich zu zerstreuen und ließ nur große, an den Gipfeln der Eisenholzbäume und der Mesquiten hängende Flocken zurück. Die Reste eines großen Feuers, das ohne Zweifel angezündet worden war, um die nächtliche Kälte abzuhalten, diente jetzt dazu, um die Mahlzeit des einzigen Bewohners dieses Dorfes zu bereiten.
   Kleine Fladen von Mehl, Käse und einige Stücke in der Sonne getrockneten Fleisches drehten sich eingeschrumpft über den Kohlen, ohne daß der Mann, dem dieses ärmliche Mahl bestimmt war, sich über die allzu raschen Fortschritte des Bratens sehr zu beunruhigen schien.
   Nicht weit davon weidete ein Pferd mit einer Genügsamkeit, die nur mit der seines Herrn verglichen werden konnte, das seltene und welke Gras, das am Saum des Waldes wuchs und das der Morgenwind schauern machte. Wider alle Gewohnheit war das Pferd durch keine Fessel festgebunden.
   Der Anzug des Reiters bestand in einer Weste ohne Knöpfe, die man wie ein Hemd über den Kopf streift, und in einem weiten Beinkleid; alles von gegerbtem, ziegelfarbigem Leder. Das Beinkleid, das vom Knie bis zu den Fersen offenstand, ließ die von gegerbtem und bemaltem Ziegenleder umgebenen Füße sehen. Diese unförmigen Stiefel waren mit scharlachfarbigem Knieriemen zugebunden, und in einem stak ein langes Messer in der Scheide, so daß, mochte man nun zu Pferd sitzen oder nicht, dessen Griff immer im Bereich der Hand war. Ein roter Gürtel aus chinesischem Flor, ein breiter Filzhut, der mit einer Schnur oder »Toquilla« von venezianischen Perlen umgeben war, vervollständigten einen malerischen Anzug, dessen Farben zu denen der Zarapa, auf der der Mann lag, recht wohl paßten.
   Der Anzug zeigte einen der Männer, die gewohnt sind, mitten durch die dornigen Gebüsche der amerikanischen Savannen zu galoppieren, und die auf ihren Expeditionen – mögen diese nun den Zweck einer Treibjagd oder irgendeine andere Ursache haben – gleichgültig unter einem Dach oder unter freiem Himmel schlafen, in der Ebene oder im Wald. Im ganzen straften seine Adlernase, seine dicken Augenbrauen, seine schwarzen Augen, die nicht selten in unheilbringendem Feuer glänzten, den zuweilen lächelnden Ausdruck seines Mundes zu sehr Lügen, um nicht beim ersten Anblick einen lebhaften, mit Schrecken verbundenen Widerwillen einzuflößen.
   Ungeachtet der anscheinend großen Kraft seiner hohen Gestalt und des schrecklichen Ausdrucks seiner Züge ließen doch seine beinahe zart gebauten Hände und Füße und sein etwas verschleierter Blick das immer unvollständige Wesen des amerikanischen Kreolen erkennen.
   Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß Gott nur dem Europäer, dem ewigen Eroberer der drei anderen Welten, das gegeben hat, was er dem Amerikaner des Südens, dem Afrikaner und dem Asiaten verweigerte, nämlich den Forschergeist, der sichtet und scheidet; die Einsicht, die begreift; das Genie, das schafft; die Kraft, die ausführt – mit einem Wort eine vollständige Organisation, eine Seele von Stahl in einem Körper von Eisen.
   Eine kurze Büchse, die neben dem Reiter lag, vollendete nebst dem langen Messer in seinem Stiefel seine Ausrüstung und machte ein Zusammentreffen mit ihm in diesen Einöden zu einem gefährlichen Ereignis.
   Es war bei seiner nachlässigen Stellung offenbar, daß er jemand erwartete; aber da in der Steppe alles größere Verhältnisse annimmt, so schien auch der Bandit (denn alles an ihm schien ihn als einen Menschen außerhalb des Gesetzes zu bezeichnen), nachdem er vielleicht drei Tagesmärsche gemacht hatte, um an den Ort zu gelangen, wo er sich befand, die fieberhafte Spannung nicht zu empfinden, die so oft inmitten einer volkreichen Stadt den zuerst am Bestimmungsort Angekommenen ergreift. In der Steppe kann derjenige, der hundert Meilen zurückgelegt hat, hundert Stunden warten, während dagegen in den großen Städten, wo das Leben wie ein Sturzbach zwischen zwei eingeengten Ufern dahinströmt, eine Stunde Wegs nur eine Viertelstunde ruhigen Wartens gestattet, denn der Weg wird hier eine Reise, die Viertelstunde ein Jahrhundert.
   Auch begnügte sich der Unbekannte, als das Geräusch der Schritte eines Pferdes mitten durch die hallenden Tiefen des Waldes an sein Ohr schlug, ruhig seine Stellung zu ändern, während sein Pferd freudig wieherte und den Kopf hob. Er lauschte. Die Schritte wurden langsamer, als ob der Reiter zweifelte: endlich an dem Punkt, wo die beiden Wege sich kreuzten, ein neuer Ankömmling. Es war ein Mann von hohem Wuchs, mit dickem, schwarzem Bart, in Leder gekleidet wie der erste; er saß auf einem Pferd, das ebenso dauerhaft als schnellfüßig schien. Diese beiden Männer machten, als sie einander erblickten, dieselbe durch ihre gleich verdächtige Miene gerechtfertigte Bemerkung.
   »Caramba!« murmelte der neue Ankömmling. »Wenn mir nicht im voraus gesagt worden wäre, daß dies der Reiter ist, an den ich gesandt bin, so würde ich glauben, ein schlechtes Zusammentreffen gefunden zu haben!«
   Der Mann auf der Erde sagte leise zu sich: »Wenn diese verdammte Sieben in Bastos mir noch einige Piaster in der Tasche gelassen hätte, so würde ich sie, bei Gott, in großer Gefahr glauben!«
   Indessen schien der Reiter nicht mehr ungewiß zu sein; er spornte sein Pferd an, das sich bei den Feuerbränden des Herdes aufbäumte, nahm höflich den Hut in die Hand und sagte: »Ohne Zweifel habe ich die Ehre, mit Don Pedro Cuchillo zu sprechen?«
   »Mit ihm selbst, mein Herr!« sagte der Mann, der mit Cuchillo angeredet war, und erhob sich mit nicht geringerer Höflichkeit.
   »Ich bin der Abgesandte von Don Arechiza, dem ich nur um einige Stunden voraus bin«, sagte der zuletzt Angekommene. »Mein Name ist Manuel Baraja, Euch zu dienen.«
   »Gut; Eure Herrlichkeit steige gefälligst ab«, sagte Cuchillo.
   Der neue Ankömmling ließ sich diese Einladung nicht zweimal sagen; darauf schnallte er von seinen Fersen ungeheuer große Sporen, sattelte hurtig sein Pferd ab, wand ihm einen langen Riemen um den Hals und ließ es mit einem kräftigen Schlag seiner flachen Hand auf die Hüfte ohne Umstände laufen, um die magere Kost seines Gefährten zu teilen.
   In diesem Augenblick begann das Fleisch, das über den Kohlen röstete, einen Geruch zu verbreiten, der mit dem einer verlöschenden Lampe verglichen werden konnte. Baraja warf einen lüsternen Blick darauf. »Es scheint mir, Señor Cuchillo«, sagte er, »daß Ihr Euch nichts versagt. Caramba! Tortillas aus Käse und trockenem Fleisch! Das ist ein fürstliches Mahl!«
   »O ja«, erwiderte Cuchillo mit einer gewissen Geziertheit, »ich pflege mich ziemlich gut. Übrigens«, setzte er hinzu, »freut es mich, daß dieses Gericht nach Eurem Geschmack ist, denn es steht Euch ganz zu Diensten.«
   »Ihr seid allzu gütig, und ich nehme ohne weitere Umstände an; die Morgenluft hat mir Appetit gemacht. – Darf ich Euch alles Gute sagen, Señor Cuchillo, was ich von Euch beim ersten Anblick gedacht habe?« sagte Baraja, indem er mit der Spitze seines langen Messers eines der trockenen Fleischstücke mitten aus den Kohlen herausholte.
   »Ihr würdet meine Bescheidenheit erschrecken!« erwiderte Cuchillo. »Ich möchte Euch lieber sagen, wie sehr mich der erste Blick zu Euren Gunsten eingenommen hat.«
   Die beiden neuen Freunde wechselten eine freundliche Verbeugung miteinander und machten sich wieder an ihre Mahlzeit.
   Cuchillo nahm das Wort: »Ist es gefällig, Señor Baraja, ein wenig über unsere Geschäfte zu reden!«
   »Sehr gern!«
   »Don Estévan Arechiza hat doch die Nachricht empfangen, die ich ihm habe zukommen lassen?«
   »Er hat sie empfangen«, erwiderte Baraja. »Aber was sagt diese Nachricht? Nur Ihr und er wißt es.«
   »Ich glaube es wohl«, murmelte Cuchillo.
   »Herr Arechiza«, fuhr der Abgesandte fort, »wollte nach Tubac aufbrechen, als er Euren Brief erhielt. Ich sollte ihn begleiten, aber er ließ mich mit den Worten vorausreiten: ›In dem kleinen Dorf Huerfano werdet Ihr einen Mann namens Cuchillo finden; Ihr werdet ihm sagen, daß das Geschäft, das er mir vorschlägt, eine ernste Besprechung verdient; und da der Ort, an dem er mich erwartet, auf dem Weg nach Tubac liegt, so werde ich ihn bei meiner Durchreise sehen.‹ Das ereignete sich«, fuhr der Bote fort, »am Tag vor der Abreise Don Estévans; ich bin schneller geritten als er, um seine Befehle auszuführen, und bin, wie ich Euch schon gesagt habe, ihm nur einige Stunden voraus.«
   »Gut!« antwortete Cuchillo. »Wohlan denn, Señor Baraja; wenn – wie ich nicht daran zweifle – mein Geschäft abgeschlossen wird, so werde ich ebenso wie Ihr einer der Teilnehmer dieser Unternehmung sein; das Gerücht davon, das mir zu Ohren kam, ist eben die Ursache des Vorschlags gewesen, den ich demjenigen gemacht habe, der deren Führer ist. Aber Ihr müßt«, fuhr der Bandit fort, »Euch ohne Zweifel wundern über den sonderbaren Ort, den ich dazu gewählt habe, um Don Arechiza zu erwarten.«
   »Keineswegs«, antwortete Baraja; »ich habe mir gedacht, daß Ihr Gründe hättet, die Einsamkeit zu lieben. Wer sehnt sich nicht zuweilen nach ihr?«
   Das verbindliche Lächeln in den Mienen Cuchillos bewies, daß sein Freund richtig geraten hatte. »Ganz recht … Das schlechte Betragen eines Freundes gegen mich und der lästige Haß des Alkalden von Arizpe haben mich in diese unruhige Zurückgezogenheit fliehen lassen. Das ist der Grund, warum ich mein Hauptquartier mitten in diesem verlassenen Dorf, wo niemand an mich denkt, aufgeschlagen habe.«
   »Ich habe eine zu gute Meinung von Eurer Herrlichkeit«, sagte Baraja, indem er ein Stück gebratenen Fleisches verschlang, »um nicht überzeugt zu sein, daß das Unrecht ganz und gar auf Seiten des Alkalden und besonders auf seiten Eures Freundes ist.«
   »Ich danke Euch für Eure gute Meinung«, antwortete Cuchillo, indem er seinerseits mit vollkommenem Gleichmut einen auf der einen Seite noch rohen, auf der anderen verkohlten Fladen zu sich nahm; »Ihr werdet darüber urteilen.«
   »Ich höre«, sagte Baraja, indem er sich in eine horizontale Stellung brachte; »nach einer guten Mahlzeit liebe ich nichts so sehr als eine gute Geschichte.« Und nun schien der Gefährte Cuchillos ganz glückselig, das Gesicht gegen den Himmel gekehrt, sich darin zu gefallen, den blendenden Azur zu bewundern.
   »Die Geschichte ist weder lang noch interessant, und was mir begegnet ist, kann jedermann begegnen. Ich hatte mit meinem Freund ein Spiel angefangen. Mein Freund behauptete, ich hätte ihn betrogen. Darüber gerieten wir in Wortwechsel.« Der Erzähler machte eine Pause, um einen Wasserschlauch an seinen Mund zu setzen; darauf fuhr er fort: »Mein Freund war so unzart, davon zu sterben!«
   »Was? Von Eurem Wortwechsel?«
   »Nein, von einem Messerstoß, der darauf folgte«, erwiderte Cuchillo mit vollem Mund.
   »Ich wußte wohl, daß das Unrecht auf seiten Eures Freundes war.«
   »Der Alkalde war nicht der Meinung; er quälte und hetzte mich auf lächerliche Weise; und doch hätte ich ihm die Bitterkeit in unserem Verkehr miteinander verziehen, wenn ich nicht selbst ärgerlich gewesen wäre über das schlechte Betragen eines Freundes, den ich bis jetzt geachtet hatte.«
   »Man hat sich immer über Freunde zu beklagen«, sagte Baraja poesievoll, indem er den Rauch seiner Zigarre aus Maisstroh gegen das Gewölbe des Himmels blies.
   »Wie dem auch sein mag«, antwortete Cuchillo; »ich habe das Gelübde getan, nicht mehr zu spielen, denn das Spiel ist, wie Ihr seht, die Ursache dieser letzten Geschichte gewesen.«
   »Das ist ein weiser Entschluß«, erwiderte Baraja, »ich habe mir auch das Versprechen abgenommen, die Karten nicht mehr anzurühren, seitdem mich das Spiel ganz und gar zugrunde gerichtet hat …«
   »Zugrunde gerichtet? Ihr seid also reich gewesen?«
   »Ach, ich hatte eine Hacienda und zahlreiche Herden; aber ich hatte auch einen Aufseher. Ich habe nur einmal mit ihm gerechnet«, seufzte Baraja, »und da war es zu spät; die Hälfte meines Gutes gehörte ihm schon.«
   »Und was tatet Ihr dann?«
   »Das einzige, was mir zu tun übrigblieb«, sagte Baraja mit herrischer Miene: »Ich schlug ihm vor, um seine Hälfte gegen die meinige zu spielen: er nahm es nach einigen Umständen an.«
   »Umstände?« unterbrach Cuchillo. »Sehe doch einer den Schelm!«
   »Ich bin sehr furchtsam, wenn ich vor Leuten spiele«, nahm Baraja wieder das Wort; »außerdem liebe ich die freie Luft. Ich hatte also meinem Aufseher den Vorschlag gemacht, unsere Partie an einem sehr einsamen Ort zu machen, wo mich meine gewöhnliche Schüchternheit mehr verlassen haben würde. Nicht wahr, Ihr begreift? Wenn ich diesen letzten Teil meines Gutes verloren hätte, welche Veränderung … ich wollte sagen, welcher Trost für meinen Schmerz die reine Luft des Waldes … das Schweigen … die gänzliche Einsamkeit gewesen wäre. Aber mein Aufseher teilte meine Vorliebe für die freie Luft und die Einsamkeit nicht und stellte zur Bedingung für die Partie, die er annehmen wolle, daß wir vor Zeugen spielten.«
   »Und Ihr wart gezwungen, einzuwilligen?«
   »Zu meinem großen Bedauern«, fuhr Baraja fort.
   »Und Ihr verlort, weil Ihr vor den Leuten so schüchtern wart?« begann Cuchillo wieder mit unerschütterlichem Ernst.
   »Ich verlor diese zweite Hälfte wie die erste. Von meinem ganzen früheren Vermögen ist mir nur dieses Pferd übriggeblieben, obgleich mein früherer Aufseher behauptete, daß das Pferd mit in die Partie einbegriffen gewesen sei. Heute habe ich nur noch Hoffnung, mein Glück bei der Expedition nach Tubac zu machen, an der ich mich beteiligt habe, und als letzte Hilfsquelle, mich in den Dienst meines Spitzbuben zu begeben und meinerseits meine Angelegenheiten wieder zu ordnen. Seit dieser Zeit habe ich geschworen, nicht mehr zu spielen, und – caramba! – ich habe meinen Eid gehalten.«
   »Wieviel Zeit ist es her, daß Euch solches begegnet ist?«
   »Fünf Tage«, antwortete Baraja.
   »Teufel! Eure Eidestreue ist nicht ohne Verdienst.«
   Nachdem die beiden Abenteurer sich diese vertraulichen Mitteilungen gemacht hatten, fingen sie an, sich von der Hoffnung zu unterhalten, die man auf die bevorstehende Expedition setzte; von den Wundern, die sie über das Land hatten erzählen hören, das sie erforschen sollten; von den Gefahren, die ihnen mitten in unbekannten Steppen drohten.
   »Aber gewiß ist es besser«, sagte Baraja, »zu sterben, als mit Löchern in den Ellbogen zu leben.«
   »Je nach den Umständen«, antwortete Cuchillo. »Ich bin einer von denen, die die Leute mit Löchern in den Ellbogen viel lieber haben als die mit Geld in der Tasche.«
   Unterdessen fing die Landschaft an, sich vom Feuer der Sonne zu erhitzen. Ein glühender Wind schüttelte die Wipfel der Bäume und streifte das vertrocknete Gras. Die Pferde der beiden Abenteurer wieherten kläglich, gequält von Durst, während ihre Herren den geringen Schatten der kärglich belaubten Gummibäume aufsuchten.
   Baraja nahm das Wort. »Ihr werdet wahrscheinlich über mich lachen, Señor Cuchillo«, sagte er, indem er sich mit seinem breiten Filzhut Kühlung zufächelte; »aber die Zeit erscheint mir sehr lang, seitdem ich nicht mehr spiele.«
   »Mir auch«, erwiderte Cuchillo gähnend.
   »Ihr würdet es dann vielleicht annehmen, ein wenig um das Gold zu spielen, das wir einsammeln wollen?«
   »Ich wagte es nicht, Euch den Vorschlag zu machen, Herr Baraja, und nehme es an.«
   Es traf sich, daß diese Männer, die alle beide auf das Spiel verzichtet hatten, jeder mit einem Spiel Karten versehen waren, und die Partie sollte eben beginnen, als sich das Wiehern von Pferden, der Klang einer Glocke, Schritte und Stimmen hören ließen und die wahrscheinliche Ankunft der einflußreichen Person verkündigten, die Cuchillo erwartete.


   5. Der Vertrag

   Die beiden Spieler verschoben einstweilen die Partie, die eben beginnen sollte, und wandten den Kopf nach der Stelle, wo der Lärm sich hören ließ. Am Vereinigungspunkt der beiden Wege zeigte eine sich plötzlich erhebende Staubwolke die Ankunft einer zahlreichen Schar von Pferden an, die einflußreiche oder sehr wohlhabende Personen der Provinz Sonora auf der Reise vor sich her zu schicken pflegen.
   Diese Pferde von einer an die Freiheit auf unermeßlichen Weiden gewöhnten Rasse sind gerade noch ebenso kräftig, wenn sie zwanzig Meilen, ohne geritten zu werden, zurückgelegt haben, als ob sie eben aus dem Stall kämen. Man sattelte sie abwechselnd der Reihe nach während der längsten Reisen, die man auf diese Weise mit einer Schnelligkeit zurücklegt, die der Geschwindigkeit europäischer Posten, wo jeder Haltepunkt frische Pferde liefert, gleichkommt. Wie es gewöhnlich der Fall ist, ging eine Stute, mit einem Glöckchen versehen, als Führerin dem Zug voraus, der aus ungefähr dreißig Pferden bestand.
   Ein Reiter aus dem Gefolge der Reisenden, die sich so pomphaft ankündigten, kam im Galopp heran. Er sprengte bei den Pferden vorbei und hielt die Stute an, wodurch die ganze Schar zum Stehen kam. Mitten im Staub, den der Wind überallhin zerstreute, begann sich ein berittener Zug zu zeigen. Er bestand aus fünf Reitern. Zwei von ihnen schienen die Herren der drei anderen zu sein, die ihnen ziemlich nahe folgten.
   Der erste der beiden, die an der Spitze ritten, war ein Mann von mehr als mittlerer Größe. Er schien die Vierzig überschritten zu haben. Ein grauer niedriger Filzhut mit breiten Rändern schützte ihn vor den glühenden Strahlen der Sonne. Er war mit einem Dolman aus dunkelblauem Tuch, der reich mit seidenen Schnüren besetzt war, bekleidet, den ein weiß besticktes Taschentuch von himmelblauer Seide, das man »Pano de Sol« nennt, fast ganz umhüllte. Unter einer glühenden Atmosphäre dient die weiße Farbe dieser Art Schärpe wie der Burnus der Araber dazu, die Sonnenstrahlen zurückzuwerfen. An seinen mit Korduanleder von gelblicher Farbe bekleideten Füßen waren stählerne Sporen an einem breiten, silber bestickten Riemen befestigt. Das Klirren ihrer Räder mit fünf Spitzen und ihrer Kettchen verband sich mit dem silberhellen Klingeln, nach dem die mexikanischen Reiter wie einst die Ritter des Mittelalters den Schritt ihrer Pferde abzumessen lieben. Sein Reitmantel war reich mit Gold besetzt und hing an beiden Seiten des Sattelbogens herunter; er bedeckte mit seinen Falten ein weites Beinkleid, das der ganzen Länge der Füße nach mit Knöpfen aus Silberdraht verziert war. Sein Sattel endlich, bestickt wie die Riemen seiner Sporen, vervollständigte einen Anzug, dessen Gesamteindruck bei einem Europäer Erinnerungen aus einem früheren Jahrhundert hervorrufen mußte.
   Einige weiße Haare begannen sich unter die schwarzen zu mischen, die sich kräftig an den Schläfen kräuselten. Seine Züge, sonnverbrannt wie bei den Männern, die lange Zeit in tropischem Klima gelebt haben, schienen von einer Beweglichkeit zu sein, die stürmische Leidenschaften ahnen ließ. Seine leicht gekrümmte Nase überragte einen Schnurrbart, der seinen Mund beschattete. Seine schwarzen und lebhaften Augen blitzten unter einer knochigen, breiten und von frühzeitigen Falten durchfurchten Stirn.
   Übrigens bedurfte der Reiter des reichen Anzugs nicht, den er trug, um seine stolze Haltung zu erhöhen, die die Gewohnheit zu befehlen und den Umgang mit der vornehmen Welt auf den ersten Blick erkennen ließ.
   Sein Begleiter war viel jünger als er und viel auffallender gekleidet; aber seine unbedeutende Figur und seine Haltung – obwohl nicht ohne eine gewisse Eleganz – kamen lange nicht dem aristokratischen Aussehen des Reiters mit dem gestickten Tuch gleich.
   Die drei folgenden Diener gaben mit ihren von der Sonne fast geschwärzten Zügen, ihrer fast verwilderten Figur, ihren langen Lanzen mit scharlachfarbigen Fähnchen und mit dem Lasso, das an ihrem Sattelknopf hing, dem sich nähernden Reitertrupp ein seltsames, den amerikanischen Gewohnheiten eigenes Ansehen. Zwei Maulesel, mit enormen Reisetaschen beladen, in denen sich die für die Haltepunkte nötigen Matratzen und andere Taschen mit tragbaren Flaschenfutteralen befanden, folgten den drei Dienern.
   Beim Anblick Cuchillos und Barajas machte der erste der beiden Reiter halt, und die ganze Truppe folgte seinem Beispiel.
   »Das ist Don Estévan«, sagte Baraja halblaut. »Hier ist der erwartete Mann«, nahm er das Wort, indem er den Banditen dem Reiter mit dem »Pano de Sol« vorstellte.
   Don Estévan – denn er war es – warf auf Cuchillo einen durchbohrenden Blick, der bis auf den Grund seiner Seele zu dringen schien, und ließ ein Zeichen der Überraschung entschlüpfen.
   »Ich habe die Ehre, Eurer Herrlichkeit die Hände zu küssen«, sagte Cuchillo; »ich bin es wirklich, der …« Aber trotz seiner gewöhnlichen Unverschämtheit hielt der Bandit schauernd ein in dem Maße, als unbestimmte Erinnerungen in seinem Gedächtnis bestimmter hervortraten; denn diese beiden Männer hatten seit langen Jahren nicht mehr Angesicht gegen Angesicht einander gegenübergestanden.
   »Ei, wenn ich mich nicht irre«, sagte der Spanier mit ironischer Miene, »so sind Herr Cuchillo und ich alte Bekannte; obgleich er damals nicht diesen Namen trug …«
   »Ebenso wie Eure Herrlichkeit, die sich damals nannte …«
   Arechiza zog die Augenbrauen zusammen, und sein schwarzer Schnurrbart sträubte sich auf seiner Oberlippe.
   Cuchillo beendete seinen Satz nicht; er hatte vielmehr begriffen, daß er das, was er wissen konnte, verschweigen mußte, und diese Art von Mitschuld gab ihm seine natürliche Sicherheit wieder. »Ein Name ist in meinen Augen wie ein Schlachtpferd«, sagte er unverschämt; »man wechselt, sobald es unter einem getötet ist.«
   Cuchillo gehörte wirklich zu jenen Leuten, die den unglückbringenden Vorzug haben, den Namen, die sie tragen, eine schnelle und traurige Berühmtheit zu geben; und Cuchillo wechselte oft damit.
   »Herr Senator«, sagte Arechiza, indem er sich an seinen Reisegefährten wandte, »scheint Euch diese Stelle nicht günstig, um hier haltzumachen und Siesta zu halten, bis die größte Hitze des Tages vorüber ist?«
   »Señor Tragaduros y Despilfarro wird Schatten in einer Hütte finden, die er nur zu wählen braucht, um dort Mittagsruhe zu halten«, sagte Cuchillo, der den Senator von Arizpe schon kannte. Er wußte, daß dieser sich dem Glück Don Estévans aus dem verzweifelten Grund angeschlossen hatte, um durch einen neuen Glückswurf sein Vermögen wiederherzustellen, das er schon längst durchgebracht hatte. Trotz des schlechten Zustands seiner Finanzen hatte doch der Senator nichtsdestoweniger im Kongreß der Provinz Sonora einen bedeutenden Einfluß, den Don Estévan schon genützt hatte.
   »Ich stimme von ganzem Herzen Euren Wünschen bei«, antwortete Tragaduros; »um so mehr, als wir schon den Ritt von fünf Stunden Wegs in den Beinen fühlen.«
   Zwei Diener stiegen ab, um die Zügel der Pferde ihrer Herren in Empfang zu nehmen; die beiden anderen luden die Maultiere ab. Darauf bereiteten sie in denjenigen Hütten des Dorfes, die die reinlichsten schienen, ein Lager für den Senator und eines für Don Estévan.
   Wir wollen den Senator, der sich ganz angekleidet auf seine Matratze geworfen hatte, dem tiefen Schlaf überlassen, den nur die Gerechten und Reisenden besitzen, um Arechiza in die Hütte zu begleiten, die er in einiger Entfernung von der Tragaduros gewählt hatte.
   Cuchillo trat auf eine Einladung Don Estévans gleich nach ihm ein und verschloß sorgfältig ein Flechtwerk von Bambus, das die Stelle der Tür vertrat, als ob er das geringste Geräusch, das nach draußen dringen könnte, gefürchtet hätte; dann wartete er, bis der Spanier das Wort an ihn richtete.
   Dieser setzte sich auf das eiserne Feldbett, das man eben aufgeschlagen hatte; Cuchillo nahm Platz auf einem Ochsenschädel, der sich dort statt eines Fußschemels fand, ganz nach der Sitte dieser Landstriche, wo der Luxus der Stühle – wenigstens für die armen Klassen – beinahe bei dieser Erfindung stehengeblieben ist.
   »Ich setze voraus«, sagte Arechiza, indem er das Schweigen unterbrach, »daß Ihr tausend Ursachen habt, um zu wünschen, ich möchte Euch nur unter Eurem jetzigen Namen Cuchillo kennen. Ich selbst – ohne Zweifel aus anderen Beweggründen als Ihr – will hier nur Don Estévan Arechiza sein und nichts weiter. Wohlan denn, Señor Cuchillo«, fuhr er mit einer gewissen spöttischen Geziertheit fort, »laßt Ihr uns nun dieses wichtige Geheimnis wissen, das Euer und mein Glück gründen soll?«
   »Einen Augenblick Geduld noch, und Ihr sollt es erfahren, Don Estévan de Arechiza«, antwortete Cuchillo fast in demselben Ton.
   »Ich höre Euch – aber vor allem keinen Rückfall, keine Treulosigkeiten; wir sind hier in einem Land, wo es nicht an Bäumen fehlt!« sagte der Spanier ernst. »Und Ihr wißt, wie ich die Verräter bestrafe.«
   Bei dieser Anspielung auf eine Vergangenheit, die sich ohne Zweifel wieder an irgendeine geheimnisvolle Erinnerung knüpfte, bedeckte sich das Antlitz des Banditen mit einer bleiernen Farbe. »Ja, ich erinnere mich«, sagte er, »daß es nicht Euer Fehler ist, wenn ich nicht an einen Baum gehängt bin. Vielleicht würde es viel klüger sein, mich nicht an eine alte Beleidigung denken zu lassen und Euch zu erinnern, daß Ihr nicht mehr in einem eroberten Land seid und daß, wie Ihr sagtet, wir von Wäldern, aber von düsteren … und besonders von stummen Wäldern umgeben sind.«
   In dieser Antwort Cuchillos, verbunden mit seinem Anblick und seiner unheilschwangeren Vergangenheit, lag ein so drohender Ton, daß es einer gewissen Festigkeit des Herzens bedurfte, um nicht zu bedauern, eine Erinnerung solcher Art hervorgerufen zu haben.
   Don Estévan hatte nur ein kaltes Lächeln für den Banditen. »Ich würde diesmal auch niemand mit der Hinrichtung eines Verräters beauftragen«, sagte er und schleuderte Cuchillo einen Blick zu, der dessen Auge sich zu Boden senken ließ. »Was Eure Drohungen betrifft, so spart sie für Leute Eurer Art, und vergeßt nicht, daß zwischen meiner Brust und Eurem Dolch immer ein unüberschreitbarer Raum bleiben wird!«
   »Wer weiß?« murmelte Cuchillo, indem er jedoch den Zorn, der sich in ihm regte, unterdrückte. Darauf nahm er wieder in besänftigtem Ton das Wort. »Aber ich bin kein Verräter, Don Estévan, und was ich Euch vorschlagen will, ist durchaus ehrlich.«
   »Sehen wir denn!«
   »Ihr wißt«, begann Cuchillo, »daß ich schon vor einigen Jahren das Gewerbe eines Gambusino betrieben habe; ich habe darum auch viele Landstriche zwischen den vier Hauptpunkten durchlaufen, und ich habe gesehen, gnädiger Herr, was vielleicht noch kein menschliches Auge von einem Goldlager gesehen hat.«
   »Ihr habt gesehen und nichts mitgenommen?« fragte der Spanier mit spöttischer Miene.
   »Spottet nicht, Don Estévan«, erwiderte feierlich Cuchillo; »ich habe eine Goldader gesehen, reich genug, um ihren Besitzer über alle Zufälle des Glücks zu heben, reich genug, um den unersättlichsten Ehrgeiz zu befriedigen, endlich reich genug, um ein ganzes Königreich zu kaufen.«
   Don Estévan konnte bei diesen Worten, die vielleicht irgendeinem Wunsch entsprachen, den er tief in seinem Herzen verbergen mußte, eine gewisse Bewegung nicht unterdrücken.
   »So reich«, fuhr der Bandit mit aufgeregter Miene fort, »daß ich keinen Anstand genommen hätte, meine Seele dafür dem Teufel zu verschreiben …«
   »Der Teufel wird nicht so dumm sein, eine Seele so hoch anzuschlagen, die er immer umsonst bekommen wird; aber wie habt Ihr diese Goldstelle entdeckt?«
   »Es gab einen in der ganzen Provinz Sonora berühmten Gambusino. Er nannte sich bei seinen Lebzeiten Marcos Arellanos. Er hatte diese Bonanza mit noch einem anderen Gambusino wie er zusammen entdeckt. Aber in dem Augenblick, wo sie diese ausbeuten wollten – einem Teil nach wenigstens —, griffen die Indianer sie an; der Gefährte Arellanos wurde getötet, Marcos entkam unter tausend Gefahren. Er kehrte gerade wieder von seiner Heimat zurück, als der Zufall uns Bekanntschaft in Tubac machen ließ. Dort schlug er mir eine zweite Unternehmung vor; ich nahm an, und wir brachen auf. Wir kamen zum Val d‘Or, wie er es nannte. Hilf Himmel!« schrie Cuchillo plötzlich. »Man mußte diese Goldblöcke in der Sonne funkeln sehen und sich tausend glänzende Gestalten vor das Auge zaubern lassen! Unglücklicherweise konnten wir nur unsere Augen sättigen; wir mußten ebenfalls fliehen; ich kam allein zurück … Armer Arellanos, ich habe ihn … sehr bedauert! Wohlan – dieses Geheimnis des Val d‘Or will ich Euch verkaufen.«
   »Mir wollt Ihr es verkaufen? Und wer bürgt mir für Eure Treue?«
   »Mein eigener Vorteil. Ich verkaufe Euch das Geheimnis, aber ich veräußere meine Rechte auf diese Goldgrube nicht. Ich habe vergeblich versucht, eine Expedition wie die Eure zustande zu bringen – es ist mir nicht gelungen; aber Eure achtzig Mann – und das ist der Grund, warum ich mich an Euch allein gewandt habe – sichern Euch den Erfolg. Wenn wir Euren Anteil, das Fünftel, das Euch von Rechts wegen als Chef zukommt, abziehen, so wird ein Teil des Schatzes dazu nötig sein; wenn wir aber den Anteil berechnen, den die Überlebenden von denen, die wir verlieren werden, erben, so wird für jeden von uns noch genug übrigbleiben, um den Rest seiner Tage im Überfluß zuzubringen. Ich verlange also außer dem Preis für mein Geheimnis zu meinem Anteil als Führer der Expedition den zehnten Teil der Beute, denn ich werde für Euch zugleich Führer und Bürge sein.«
   »So verstehe ich es auch. Und wie hoch stellt Ihr den Preis Eurer Entdeckung?«
   »Eine Kleinigkeit. Das Zehntel, das Ihr mir bewilligen wollt, soll mir genug sein, da ich mich einmal nicht allein dieser unnahbaren Schätze bemächtigen kann. Eure Herrlichkeit wird mich außerdem, sobald meine Tätigkeit beginnt, freihalten, was ich auf etwa fünfhundert Piaster anschlage.«
   »Ihr seid vernünftiger, als ich dachte, Cuchillo«, antwortete Arechiza. »Es gilt: fünfhundert Piaster und der zehnte Teil der Beute.«
   »So groß er auch sein mag?«
   »So groß er auch sei. Jetzt habt Ihr mein Wort, und nun bleibt mir nur noch übrig, einige Fragen an Euch zu richten. Befindet sich dieses Val d‘Or auf dem Weg, den – wie ich gerechnet habe – die Expedition einschlagen soll?«
   »Die Goldgrube ist jenseits des Presidio von Tubac, und da die Expedition von diesem letzteren Ort aus aufbricht, so werdet Ihr an Eurem Marschplan nichts zu ändern haben.«
   »Gut. Und Ihr habt das Val d‘Or mit eigenen Augen gesehen, sagt Ihr?«
   »Ich habe es gesehen, ohne es anrühren zu können; ich habe es gesehen und mit den Zähnen geknirscht wie der Verdammte, der mitten durch die Flammen der Hölle eine Landschaft des Paradieses erblickt«, sagte Cuchillo, dessen ganze Haltung unzweifelhaft den Schmerz der getäuschten Habgier verriet.
   Arechiza konnte zu gut auf dem menschlichen Antlitz die geheimen Gefühle des Herzens lesen, um länger an der Wahrhaftigkeit Cuchillos zu zweifeln; dann waren auch fünfhundert Piaster für ihn nur eine unbedeutende Summe. Und ist nicht überdies der Ehrgeizige gezwungen, etwas dem Zufall zu opfern? Er erhob sich, nahm aus einer elfenbeinernen Schatulle von geringem Umfang, die aber sehr schwer und am Kopfende seines Lagers niedergesetzt war, einen Beutel aus Damhirschfell, der sich darin befand, und holte eine Handvoll Quadrupel heraus. Er zählte zweiunddreißig davon Cuchillo hin, der sie selbst sorgsam wiederzählte, ehe er sie in seine Tasche steckte.
   Der Bandit hatte etwas mehr empfangen, als ihm zukam, aber er beklagte sich deshalb nicht, kreuzte nach spanischer Sitte den Daumen mit dem Zeigefinger der rechten Hand und sagte: »Ich schwöre aufs Kreuz, daß ich die Wahrheit sagen will – nichts als die Wahrheit. Nach zehn Tagesmärschen jenseits Tubac, nordwestlich, werden wir an den Fuß einer Bergkette gelangen. Sie ist leicht wiederzuerkennen, denn ein dicker Nebel umhüllt sie Tag und Nacht. Ein kleiner Bach fließt längs dieser aufeinanderfolgenden Hügel; man muß ihn aufwärts verfolgen bis zum Zusammenfluß mit einem anderen Bach. An dem Punkt, wo die beiden Flüsse sich vereinigen und eine Landzunge bilden, erhebt sich ein abschüssiger Hügel, auf dessen Gipfel sich das Grabmal eines Apachenhäuptlings erhebt. Wenn ich nicht mehr dabeisein sollte, so werdet Ihr ihn leicht an den sonderbaren Verzierungen erkennen, wodurch er sich von allen anderen unterscheidet. Am Fuß des Hügels breitet sich ein See aus, zur Seite ein enges Tal. Das ist das Val d‘Or; da ist es, wo das Regenwasser unermeßliche Schätze hingespült hat.«
   »Die Marschroute ist leicht zu begreifen«, sagte Arechiza.
   »Aber schwer zu verfolgen«, antwortete Cuchillo. »Dürre Steppen, durch die wir reiten müssen, sind nicht das kleinste Hindernis; Indianerhorden durchstreifen zu jeder Zeit diese Steppen. Das Grab eines ihrer Häuptlinge, das sie mit abergläubischer Verehrung bewachen, ist das ständige Ziel ihrer Streifzüge, und eben auf einer solchen Wallfahrt haben sie Arellanos und mich überrascht.«
   »Und hat dieser Arellanos«, nahm der Spanier das Wort, »sein Geheimnis niemand sonst als Euch allein entdeckt?«
   »Ihr wißt«, antwortete Cuchillo, »daß die Gambusinos, ehe sie eine Expedition unternehmen, sich durch einen Eid auf das Evangelium verbindlich machen, die Bonanzas, die sie etwa finden würden, nur mit Zustimmung ihres Gefährten zu entdecken. Arellanos hatte diesen Eid geleistet, und der Tod hat ihn verhindert, ihn zu brechen.«
   »Habt Ihr mir nicht gesagt, daß er nach seiner ersten Expedition nach Hause zurückgekehrt ist und daß Ihr in Tubac zufällig Bekanntschaft gemacht habt? Hatte er keine Frau, der er seine wunderbare Entdeckung hätte anvertrauen können? Das Gegenteil wäre nicht sehr wahrscheinlich!«
   »Gestern kam ein Vaquero hier durch, der mir gesagt hat, daß die Frau Arellanos‘ eben gestorben sei; und wäre sie auch im Besitz dieses Geheimnisses, hätte sie es selbst ihrem Sohn offenbart …«
   »Arellanos hat einen Sohn hinterlassen?«
   »Einen Adoptivsohn«, erwiderte Cuchillo, »denn der junge Mann kennt weder seinen Vater noch seine Mutter.«
   Don Estévan machte, ohne es zu wollen, eine sogleich unterdrückte Gebärde der Überraschung. »Der junge Mann wird ohne Zweifel der Sohn irgendeines armen Teufels in dieser Provinz sein«, sagte er nachlässig.
   »Keineswegs; er ist in Europa geboren und wahrscheinlich in Spanien«, murmelte Cuchillo; er schien in eine flüchtige Träumerei zu verfallen. Sein Haupt neigte sich auf seine Brust wie das eines Mannes, der in seinem Geist zerstreute Data miteinander in Verbindung zu bringen sucht. »So hat wenigstens«, fuhr der dann fort, »der Kommandant einer englischen Kriegsbrigg, die im Jahre 1811 nach Guaymas kam, gesagt. Dieses Kind, das französisch und spanisch zugleich sprach, war nach einem blutigen Kampf gegen einen französischen Kutter gefangengenommen worden. Ein Matrose – sein Vater ohne Zweifel —, den das Kind stets beweinte, war getötet oder gefangengenommen worden. Der Kommandant wußte nicht, was er mit dem Knaben anfangen sollte, als Arellanos ihn zu sich nahm, ihn Tiburcio nannte und daraus einen Mann machte, bei Gott! So jung er auch noch ist, so hat er doch schon den Ruf eines untrüglichen Rastreadors und eines unerschrockenen Pferdebändigers.«
   Der Spanier schien auf Cuchillo nicht mehr zu hören, und doch verlor er nicht ein Wort von dem, was er eben gesagt hatte; aber vielleicht hatte er genug davon gehört, oder der Gegenstand der Unterhaltung war ihm peinlich, denn er unterbrach plötzlich den Banditen. »Und Ihr glaubt, daß, wenn dieser untrügliche Rastreador, dieser unerschrockene Pferdebändiger das Geheimnis seines Adoptivvaters weiß, er für Euch nicht ein gefährlicher Mitbewerber werden könnte?«
   Cuchillo richtete sich stolz empor. »Ich kenne einen Mann«, sagte er, »der in keiner Beziehung Tiburcio Arellanos nachsteht, eine Spur zu verfolgen und ein wildes Pferd zu bändigen; und ist dessenungeachtet dieses Geheimnis in seinen Händen nicht fast unnütz, da er es Euch eben für ein Zehntel des Wertes verkauft hat?«
   Dieser letzte Beweis Cuchillos war genug, um Don Estévan von einer unbestreitbaren Wahrheit zu überzeugen, nämlich daß das Val d‘Or von indianischen Stämmen, wie es der mexikanische Bandit beschrieben hatte, umschwärmt werde und nur für eine ziemlich beträchtliche Streitkraft zugänglich sei und daß er allein nur über eine Anzahl von Männern verfügte, die zu dieser Besitznahme durchaus notwendig war.
   Der Spanier träumte und schwieg; die Entdeckungen Cuchillos in betreff des Sohnes Marcos Arellanos‘ hatten seinem Geist eine Gedankenreihe eröffnet, in die alle übrigen sich verloren. Wir wollen nur sogleich sagen, daß er aus Gründen, deren Erklärung noch nicht hierher gehört, zu erraten suchte, ob nicht etwa Tiburcio Arellanos der junge Fabian de Mediana sei.
   Cuchillo dachte seinerseits an gewisse Umstände in der Vergangenheit, die den Gambusino Arellanos und seinen Adoptivsohn betrafen und die er aus wichtigen Gründen nicht erwähnte. Damit wir aber diese Erzählung von Anfang an soviel wie möglich ungehindert verfolgen können, ohne auf die Vergangenheit zurückweisen zu müssen, so wollen wir diese früheren Ereignisse hier erwähnen.
   Wie wir schon gesagt haben, änderte Cuchillo oft seinen Namen. Unter einem dieser angenommenen Namen, die er so schnell verbrauchte, befand sich der Bandit gerade in Tubac, als er den unglücklichen Arellanos kennengelernt und sich mit ihm verbunden hatte. Als der erstere vor dem Beginn eines neuen und gefährlichen Streifzugs vom Presidio zurückgekehrt war, um seine Frau und den jungen Mann, den er wie einen Sohn liebte, wiederzusehen, vertraute er seiner Frau allein den Zweck seiner Unternehmung an und ließ ihr sogar eine genaue Beschreibung des Weges zurück, den man verfolgen mußte.
   Cuchillo wußte übrigens diesen besonderen Umstand nicht. Aber eine Tat, die er sorgfältig verschwieg, war, daß er selbst, nachdem er das Val d‘Or nur flüchtig gesehen, Arellanos ermordet hatte, um sich allein die Schätze anzueignen, die es enthielt. Wir haben gesehen, wie er seinerseits gezwungen war zu fliehen, ohne jedoch die Frucht seines Verbrechens zu verlieren, da er allein Vorteil aus dem Verkauf seines Geheimnisses zog. Wir wollen nun den Banditen selbst eine kleine Lücke ausfüllen lassen durch die Erklärung, wie er Bekanntschaft mit dem Sohn Arellanos‘ gemacht hatte.
   »Nichtsdestoweniger«, sagte Cuchillo, das Schweigen unterbrechend, »habe ich mein Herz von jeder Besorgnis befreien wollen. Als ich nach Arizpe zurückgekehrt war, erkundigte ich mich nach der Wohnung Arellanos‘ und fand seine Witwe, um sie vom Tod des armen Marcos zu benachrichtigen. Doch den Schmerz ausgenommen, mit dem meine Botschaft aufgenommen wurde, habe ich nichts gesehen und nichts geargwöhnt, was mich hätte glauben lassen, ich sei nicht der alleinige Besitzer des Geheimnisses, das ich Euch eben entdeckt habe.«
   »Man glaubt leicht, was man hofft«, sagte Arechiza.
   »Hört, Don Estévan«, erwiderte er, »es gibt zwei Dinge, worauf ich mir etwas einbilde: nämlich auf ein Gewissen, das leicht zu beunruhigen, und auf einen Scharfblick, der schwer zu täuschen ist.«
   Der Spanier machte keine Einwürfe mehr – er war überzeugt; ohne Zweifel nicht vom Gewissen, sondern vom Scharfblick des Banditen.
   Was Tiburcio Arellanos selbst betrifft, so halten wir es für überflüssig zu sagen, was der Leser schon begriffen hat: nämlich, daß dieser junge Mann kein anderer war als Fabian, der letzte Sprößling der Grafen von Mediana. Cuchillo hat eben erklärt, wie die englische Brigg, die den französischen Kutter genommen hatte, ihn nach der Gefangennahme des kanadischen Matrosen in ein fremdes Land brachte. Dort besaß er von nun an – ohne Führer, um seine Familie wiederzufinden, der Güter seines Hauses beraubt, verwaist zurückgelassen von denen, die seine Kindheit und seine Jugend beschützt hatten – nichts weiter, als was der Ärmste in diesem Land besitzt: ein Pferd und eine Bambushütte.


   6. Der letzte Mediana

   Als Cuchillo nach dem Schluß der Unterredung, von der wir eben berichtet haben, die Hütte verließ, wo sie stattgefunden hatte, stand die Sonne schon nicht mehr senkrecht am Himmel und fing an, sich gegen den Horizont zu neigen. Die von der Hitze des Tages ausgedörrte Erde sandte aus ihrem Schoß die glühenden Ausdünstungen zurück. Diese durch den Wind, der schon viel frischer wehte, verdichteten Dünste gaben durch die Luftspiegelung den trockenen Ebenen, die den Wald begrenzten, das Aussehen eines klaren Sees, als ob die Natur, die nur die vollkommenste Harmonie liebt, dem Auge eine Entschädigung der traurigen Nacktheit dieser Landschaft hätte bieten wollen.
   Dumpfes Krachen ließ sich noch im Wald hören, ähnlich dem Krachen des Holzes, das sich bei der Berührung des Feuers krümmt und windet. Aber die Bäume richteten nach und nach ihr Laubdach unter dem Südwind wieder auf und schienen ungeduldig die Stunde zu erwarten, wo die Nebeldecke, die sie während der Nacht umhüllt hatte, ihre Wipfel wieder erfrischen würde.
   Cuchillo pfiff, und auf diesen wohlbekannten Ton lief ein Pferd im Galopp herbei. Das Auge des armen Tieres war erloschen vor Durst. Sein Herr goß mitleidig ein wenig Wasser aus seinem Schlauch in eine Schale, und obgleich dies für das Tier nur ein Tropfen war, so belebte sich sein trübes Auge doch. Cuchillo zäumte, sattelte sein Pferd und schnallte die Sporen an seine Füße. Darauf rief er einen der Diener Don Estévans und gab ihm den Befehl, die Maultiere und die Pferde anzuschirren und vorauszureiten, um das Nachtlager instand zu setzen, das einige Stunden weiter an einem Ort, den man la Poza nennt, aufgeschlagen werden sollte, wo die Reisenden die Nacht zubringen mußten.
   Der Diener warf ein, daß dies nicht der geradeste Weg nach Tubac sei, wohl aber der nach der Hacienda del Venado. Doch auf die entschiedene Antwort Cuchillos, daß es die Absicht seines Herrn sei, einige Tage auf der Hacienda zu verweilen, begann der Diener pflichtgemäß die Befehle auszuführen, die ihm übermittelt worden waren.
   Der Eigentümer dieses weitläufigen Landguts – des einzigen von dieser Größe und Bedeutung zwischen Arizpe und der Grenze – war in der ganzen Gegend, die zwischen diesen beiden Punkten liegt, berühmt durch seine Freigebigkeit zu seinen Gästen. Ohne Murren also hörten die Leute aus dem Gefolge der beiden Reisenden, daß sie durch Verlängerung ihres Marsches wenigstens einige Tage Ruhe in dieser gastlichen Wohnung finden würden.
   Der Diener, der mit den von Cuchillo überbrachten Befehlen beauftragt war, sattelte sein Pferd und nahm im Galopp die Richtung nach dem Saum des nahen Waldes, an dessen Eingang er die Caponera oder Capitanastute angebunden hatte. Um sie herum hatten sich die frischen Pferde gesammelt und diejenigen, die schon auf der Reise bis zu dem verlassenen Dorf Huerfano geritten worden waren.
   Beim Anblick des Reiters, der mit dem Lasso in der Hand herankam, verbreitete sich Schrecken unter dieser Truppe noch halbwilder Tiere. In dem Augenblick, als der Diener seine Schlinge um den Kopf schwirren ließ, sprang der wilde Haufe zurückprallend auf; aber es war schon zu spät, und die gleitende Schleife fiel zweien von ihnen über den Hals. Diese Tiere hatten schon zu oft die Gewalt des Lassos kennengelernt, um Widerstand zu leisten, und folgten mit gesenktem Haupt gelehrig dem Diener, während die übrigen Pferde zurückkehrten und sich um die Glocke der Capitana sammelten.
   Als die Pferde gesattelt und gezäumt waren, entfesselte der Diener die Stute und ritt voran, indem die hin und her prallende Herde folgte oder vorauslief und sich bald in einer Wolke von Staub verlor.
   Bis zur Poza, wo man haltmachen sollte, waren nur wenige Stunden Weges, und da nichts drängte, noch vor der Nacht dort anzukommen, so mußten zwei frische Pferde für Don Estévan und den Senator ausreichen. Letzterer ließ auch nicht auf sich warten; er erschien unter der Tür der Hütte, wo er gewissenhaft eine Mittagsruhe gehalten hatte, zu der diese glühenden Klimate mit gebieterischer Notwendigkeit zwingen. Don Estévan kam zu derselben Zeit aus der seinigen. Obgleich die Luft immer noch zum Ersticken war, so konnte man sie doch schon leichter atmen als am Morgen.
   »Caramba«, rief der Senator, »das ist Feuer, was man atmet, aber keine Luft; und wenn diese Hütten nicht ein Nest für Skorpione und Schlangen wären, so würde ich hier gern bis in die Nacht bleiben – viel lieber, als mich abermals in diesen Glutofen zu werfen!« Nach diesen klagenden Worten stieg der Senator mühsam aufs Pferd und ritt mit Don Estévan voraus. In einiger Entfernung von ihnen folgten Cuchillo und Baraja, und endlich schlossen die Diener und die Maultiere den Zug.
   Indessen ließ die Frische des Waldes, den der Zug durchschnitt, die erste Stunde des Marsches erträglich finden; aber bald gelangten sie beim Ausgang des Waldes mitten auf weite Ebenen hinaus, die unbegrenzt schienen.
   Es gibt nichts Traurigeres als diese nackten, weißen Landstriche, auf denen alles Wachstum aus Mangel an Saft dahinstirbt. Von Strecke zu Strecke erhoben sich lange Stangen, um eine Zisterne zu bezeichnen; aber die Ledereimer, die an ihnen hingen, waren zusammengeschrumpft und von der Sonne zerrissen und sagten zugleich, daß die Zisternen ausgetrocknet seien. Schrecklich geht es dem, den sein Unstern in diesen öden Ebenen irreführt. Wenn sein Schlauch nicht gut gefüllt ist; wenn er ungewiß ist über den Weg, den er einschlagen muß, so wird seine Geschichte bald die Legende von den Reisenden vergrößern, die in diesen Einöden zwischen einem Himmel und einer Erde, die gleich unerbittlich sind, vor Durst umgekommen sind.
   »Es ist also wahr, was man behauptet«, sagte der Senator zu Don Estévan, indem er sich den Schweiß abtrocknete, der von seinem Gesicht strömte, »daß Ihr schon einmal in diesem Land wart?«
   »Wahrhaftig«, antwortete lächelnd Arechiza; »eben weil ich schon hier gewesen bin, habe ich das Verlangen gefühlt, noch einmal zu kommen. Aber welcher Umstand mich zurückgeführt hat, was der Zweck meiner Rückkehr ist, das ist das Geheimnis, das ich Euch später enthüllen werde; aber dieses Geheimnis ist eines von denen, die schwindlig machen, wenn derjenige, der es hört, nicht ein kühner Mann mit starkem Herzen ist. Würdet Ihr ein solcher sein, Herr Senator?« fügte der Spanier hinzu, indem er auf die Augen seines Reisegefährten einen ruhigen Blick heftete, dem aber die Kraft und die Kühnheit, die er von anderen zu fordern schien, eingeprägt waren.
   Der Senator konnte einen leichten Schauder nicht unterdrücken. Die beiden Reiter ritten einige Minuten schweigend nebeneinander.
   Die Verwirrung des Senators war dem Spanier nicht entgangen, der also wieder begann: »Unterdessen – bis ich Euch alles sagen kann, seid Ihr denn entschlossen, meinen Ratschlägen zu folgen und Euer Vermögen durch irgendeine reiche Heirat, die ich für Euch zustande bringen werde – wie ich versprochen habe —, wiederherzustellen?«
   »Ohne Zweifel«, sagte der Mexikaner; »obgleich ich noch nicht das Interesse begreife, das Ihr dafür haben könnt.«
   »Das geht nur mich an und ist noch mein Geheimnis. Ich bin keiner von denen, die die Haut des Bären verkaufen, wenn er noch lebt. Sobald ich Euch werde sagen können: ›Don Vicente Tragaduros y Despilfarro, ich habe hunderttausend Piaster Mitgift auf ein Wort von Euch zu Eurer Verfügung!‹, dann erst werde ich Euch meine Bedingungen diktieren, und Ihr werdet sie unterschreiben.«
   »Ich sage nicht nein«, rief der Senator, »aber ich gestehe, daß ich vergebens in meinem Gedächtnis eine solche Erbin suche, wie Ihr sie zu finden hofft.«
   »Kennt Ihr die Tochter des reichen Eigentümers der Hacienda del Venado, Don Agustin Peña, bei dem wir morgen abend übernachten werden?«
   »Oh«, rief der Senator, »die muß wenigstens eine Mitgift von einer Million haben, wie man sagt; aber es wäre Torheit, darauf zu rechnen …«
   »Nun, nun«, erwiderte Don Estévan, »es ist eine Festung, die, gut belagert, ebenso wie eine andere kapitulieren würde.«
   »Das Gerücht nennt die Tochter Peñas hübsch.«
   »Ausgezeichnet!«
   »Ihr kennt sie?«
   »Vor kaum vierzehn Tagen erst habe ich die Ehre gehabt, ihre schöne weiße Hand zu küssen.«
   Der Senator sah den Spanier mit erstaunter Miene an. »Ist vielleicht die Hacienda del Venado das Ziel Eurer periodischen und geheimnisvollen Reisen gewesen, von denen man in Arizpe sprach?«
   »Ganz richtig.«
   »Ach, jetzt begreife ich«, erwiderte der Senator mit schlauer Miene; »die schönen Augen der Tochter zogen Euch zum Vater!«
   »Ihr seid auf falschem Weg; der Vater war ganz einfach nur der Bankier, aus dessen Kasse ich meine Vorräte an Quadrupeln wieder erneuerte, sobald sie erschöpft waren.«
   »Ist das heute auch der Grund des Umwegs, den wir machen, um uns nach Tubac zu begeben?«
   »Zum Teil!« erwiderte der Spanier. »Aber ich habe noch einen anderen Zweck, der sich auf den Gegenstand bezieht, von dem ich Euch später einmal unterhalten werde.«
   »Ihr seid ein Geheimnis für mich vom Kopf bis zu den Füßen«, antwortete der Senator; »aber ich vertraue blindlings Eurem Stern.«
   »Und Ihr tut gut daran; es wird vielleicht nur an Euch liegen, wenn nicht der Eure, einen Augenblick verdunkelt, seinen vollen Glanz wiedererhält.«
   Die Sonne war ihrem Untergang nahe; die Reisenden waren nur noch zwei Meilen von der Poza entfernt, als sie die öden Ebenen, die wir beschrieben haben, hinter sich ließen. Einige Gummibäume zeigten sich mitten im Sand, der jetzt dem kalkigen Boden folgte; die Gegenstände fingen an, in dem Schatten, den die Abenddämmerung nach und nach über die Landschaft ausbreitete, weniger sichtbar zu werden.
   Plötzlich hielt das Pferd Don Estévans an und spitzte die Ohren, wie es diese Tiere beim Anblick eines Gegenstands tun, der ihnen Schrecken einflößt. Das Pferd des Senators machte es ebenso, aber weder der Spanier noch der Senator sahen etwas.
   »Es ist der Leichnam irgendeines toten Maultieres«, sagte der Mexikaner.
   Die Reiter gaben ihren Tieren die Sporen und ließen sie trotz ihres Widerwillens vorgehen. Da bemerkten sie hinter einem Haufen Aloe den Körper eines Pferdes auf dem Sand liegen. Eine ähnliche Begegnung ist nicht ungewöhnlich in einem dürren Land, wo das Wasser sich während der trockenen Jahreszeit nur in weiten Entfernungen voneinander findet, und die Reisenden hätten dem keine Aufmerksamkeit geschenkt, wäre das Pferd nicht gesattelt und gezäumt gewesen. Dieser Umstand bewies sogleich irgendein außergewöhnliches Ereignis.
   Cuchillo hatte die beiden Reisenden, die vor dem toten Pferd hielten, wieder eingeholt. »Ei«, sagte er, indem er es aufmerksam betrachtete, »der arme Teufel, der es ritt, hat sich in einer doppelten Verlegenheit befinden müssen, da er zugleich sein Pferd und seinen Wasserschlauch verloren hat.«
   Wirklich hatte das Pferd so plötzlich fallen müssen – ohne Zweifel vom Durst wie vom Blitz getroffen —, daß sein Reiter nicht Zeit gehabt hatte, es aufzurichten. Dies war nach einem Schlauch zu urteilen, der noch am Sattelbug befestigt war und bei den Zuckungen des Pferdes zerrissen war. Das unter der Sonne schon zusammengeschrumpfte Leder ließ noch die Öffnung erkennen, durch die sich das Wasser, das darin war, bis auf den letzten Tropfen im Sand verloren hatte.
   »Es wird vielleicht nicht lange dauern, und wir begegnen dem Reiter, der ebenso krank wie sein Pferd sein wird«, sagte Cuchillo, nachdem er den Leichnam des Tieres untersucht hatte. »Dabei erinnere ich mich, daß ich einen wütenden Durst habe«, fuhr er fort. Und er verschluckte mit philosophischem Gleichmut einen Mundvoll Wasser, das er bei sich hatte.
   Die Spuren eines Mannes, auf dem Sand eingedrückt, bewiesen, daß der Reisende seinen Marsch zu Fuß fortgesetzt hatte; aber auch, daß die Kräfte ihm schon zu fehlen schienen, denn außer der ungleichen Entfernung zwischen jedem Schritt hatten auch die Eindrücke nicht die bestimmten, glatten Umrisse wie bei einem Reisenden, der gut zu Fuß ist.
   Diese Anzeichen entgingen Cuchillo nicht, der zu den Leuten gehörte, in deren Augen gewisse stumme Zeichen untrügliche Offenbarungen sind. »Der Reisende kann ganz entschieden nicht weit sein«, sagte er. Er verschluckte noch einen Mundvoll Wasser.
   Wirklich brachten einige Minuten Weges die Reisenden zu einem Mann, der unbeweglich am Rand der Straße lag. Ein breiter Strohhut bedeckte sein Antlitz ganz und gar, als ob er es den Augen der Vorübergehenden hätte verbergen wollen. Die Kleidung des unglücklichen Reisenden verriet seine Armut. Sein Anzug bestand außer dem Hut, der seine Züge verhüllte und vor Alter das Stroh sehen ließ, aus einer Indienneweste, deren Farben die Sonne ausgesogen hatte, und aus Calzoneras aus Nankin mit Drahtknöpfen, die in keinem besseren Zustand schienen als die Weste. Das war alles, was man in der Dunkelheit von ihm sehen konnte.
   »Benito«, sagte der Spanier zu einem seiner Diener, »entfernt mit der Spitze Eurer Lanze den Hut, der das Gesicht dieses Mannes bedeckt; vielleicht ist er nur eingeschlafen.«
   Der Diener vollbrachte den Befehl seines Herrn und nahm den Hut weg, ohne einen Fuß auf die Erde zu setzen; aber der Mann auf der Erde machte keine Bewegung. Was sein Gesicht betraf, so war es unmöglich, es zu unterscheiden – die Dunkelheit nahm schnell zu, wie gewöhnlich in tropischen Gegenden.
   Don Estévan wandte sich darauf an Cuchillo und sagte: »Es ist zwar nicht Eure Lieblingsneigung, aber wenn Ihr eine Handlung der Menschlichkeit tun und versuchen wollt, diesen armen Teufel ins Leben zurückzurufen, so wird für Euch eine halbe Unze Gold bereit sein in dem Fall, daß Ihr ihn rettet.«
   »Caspita! Don Estévan, Ihr täuscht Euch über meinen Charakter; ich bin der wohlwollendste Mensch, wenn – ich mein Interesse habe, es zu sein. Vorwärts! Ich müßte viel Unglück haben, wenn ich Euch nicht heute abend diesen Schelm da zu unserem Nachtlager an der Poza bringe.« Mit diesen Worten sprang Cuchillo vom Pferd, legte ihm die Hand auf den Hals und sagte: »Sachte, Tordillo; warte hier und rühre dich nicht!«
   Das Pferd scharrte mit dem Huf den Boden, nagte am Gebiß, gehorchte aber der Stimme seines Herrn.
   »Müssen wir einen unserer Leute bei Euch lassen?« fragte der Senator.
   Cuchillo hatte nicht Lust, einen Gehilfen anzunehmen, der einen Teil der versprochenen Belohnung hätte beanspruchen können, und der Trupp entfernte sich. Cuchillo blieb allein. Nun näherte er sich dem Mann auf der Erde und neigte sich über ihn, um seine Züge zu mustern und zu sehen, ob noch einige Hoffnung sei, ihn zu retten.
   Beim Anblick der Gesichtszüge des Sterbenden bebte der Bandit. »Ach«, rief er, »Tiburcio Arellanos!«
   Es war wirklich der Adoptivsohn des Gambusinos, der als Cuchillos Opfer gefallen war, oder – um es genauer zu sagen – es war Fabian de Mediana, den er vor sich hatte.
   »Ich irre nicht. Er ist es wahrhaftig! Wenn er nicht schon tot ist, so ist er wenigstens nicht viel besser dran«, sagte der Abenteurer leise, betroffen von der tödlichen Blässe, die das Antlitz des jungen Mannes bedeckte.
   Ein teuflischer Gedanke fuhr durch seine Seele. Derjenige, der vielleicht mit ihm ein Geheimnis teilte, das er durch ein Verbrechen erkauft hatte, befand sich in seinen Händen, tief in einer Einöde, wo niemand ihn sehen konnte. Cuchillo brauchte ihm nur den Rest zu geben, wenn er noch nicht tot war, und zu sagen, daß er ihn nicht habe retten können. Wer wollte das Gegenteil beweisen? Sollte er jetzt nicht sein Geheimnis auf alle möglichen Fälle sichern? Alle natürliche Wildheit des Elenden war erwacht; Cuchillo zog sein Messer und legte mechanisch die Hand auf das Herz Tiburcios. Eine schwache Bewegung zeugte noch von Leben. Der Bandit hob den Arm – aber hielt inne.
   Geradeso, dachte er, habe ich den getroffen, den dieser junge Mann Vater nannte. Ich habe ihn erwürgt in dem Augenblick, als er neben mir ohne Furcht, ohne Mißtrauen ruhte. Ich sehe ihn noch, wie er mir den Rest eines schon halb erloschen Lebens streitig machte. Ich fühle noch auf meinen Schultern das Gewicht seines Leichnams, als ich ihn in den Fluß warf. Und der Bandit blickte in der Dunkelheit und dem feierlichen Schweigen der Steppe fast furchtsam um sich.
   Die Erinnerung an Arellanos rettete das Leben Tiburcios. Cuchillo setzte sich schweigend neben dem jungen, noch immer unbeweglichen Mann nieder, und seine Hand steckte mechanisch den Dolch wieder in die Scheide. Dann erhob sich eine Stimme in seinem Inneren und sprach viel lauter als sein Gewissen – es war die Stimme des Eigennutzes.
   Da er die seltenen Eigenschaften Tiburcios – seine Geschicklichkeit als Rastreador und seinen zuweilen tollkühnen Mut – kannte, so glaubte Cuchillo, die finsteren Entschlüsse, die er gefaßt hatte, aufschieben zu müssen, und er beschloß – doch mit dem Vorsatz, ihn aufmerksam zu überwachen —, den jungen Mann unter die Befehle Don Estévans als einen Parteigänger zu stellen, dessen Wert man kennt. Wohlan, dachte er, wenn mein Vorteil mir später befiehlt, ihm dieses Leben wieder zu nehmen, das mir jetzt nützlich sein kann und das ich ihm schenke, dann wird er mir nichts mehr schuldig sein … Nein, wahrhaftig – wir sind dann quitt!
   Cuchillo rühmte, wie man sieht, nicht vergeblich die Empfindlichkeit seines Gewissens, und dank der Kraft dieses Beweises beschloß er, den nicht sterben zu lassen, den seine Vermittlung retten konnte und dessen Leben ihm außerdem bezahlt war.
   Wie gut habe ich doch daran getan, Wasser in meinem Schlauch zu behalten! dachte Cuchillo. Er machte den Mund des Sterbenden halb auf und goß vorsichtig einige Tropfen hinein.
   Diese Hilfe schien Tiburcio wiederzubeleben, der die Augen öffnete, aber sie fast sogleich wieder schloß.
   »Das heißt, er will noch ein wenig«, sagte der mitleidige Cuchillo. Er wiederholte noch zweimal dieselbe Operation und verdoppelte jedesmal die Dosis.
   Tiburcio stieß einen Seufzer aus.
   Cuchillo neigte sich über den jungen Mann, der nun das Leben wiederzuerlangen schien, und betrachtete ihn, scheinbar in tiefes Nachdenken versunken.
   Endlich hatte sich Tiburcio, nachdem kaum eine halbe Stunde verflossen war, wieder erholt und war imstande, die Fragen dessen zu beantworten, der sich mit Nachdruck seinen Retter nannte. Tiburcio war noch sehr jung, aber das einsame Leben, das er geführt hatte, reift und entwickelt das Urteil sehr schnell. Mit kluger Zurückhaltung nur erzählte er den Tod seiner Pflegemutter, von dem Cuchillo schon wußte. »Seit vierundzwanzig Stunden«, fügte er hinzu, »die ich an ihrem Totenbett zugebracht habe, hatte ich mein Pferd gänzlich vergessen. Ich verschloß die Hütte, in die ich nicht wieder zurückkehren wollte, und machte mich auf den Weg mit den ersten Anfällen des Fiebers und ohne das arme Tier zu tränken. Seine Kräfte verließen es also auch beim zweiten Tagesmarsch; es stürzte tot nieder, zog mich mit zur Erde und zerriß den Schlauch, der in meinem Sattel hing. Erschöpft durch mehrere schlaflose Nächte, fiel ich wie das Pferd und hatte nur noch Kraft, mich aus dem Weg zu schleppen, um im Frieden zu sterben, ohne das Leben zu bedauern.«
   Tiburcio hätte auch sagen können, daß seine Pflegemutter ihm ein königliches und schreckliches Vermächtnis hinterlassen hatte: die Rache an dem unbekannten Mörder Arellanos‘ und das Geheimnis des Val d‘Or; aber er hätte auch hinzufügen müssen, daß die Witwe des Gambusino ihm sterbend nur unter der Bedingung das Geheimnis hinterlassen hatte, diesen Mörder sein ganzes Leben hindurch zu suchen. Er half dem Nachdenken Cuchillos nicht auf die Spur. Man kann sich denken, wie sehr ihm seine Zurückhaltung bei dieser Gelegenheit zustatten kam.
   So wußte nun Tiburcio wie Cuchillo und wie Don Estévan das Dasein und die Örtlichkeit des Val d‘Or ganz genau; das Geheimnis war also, wie man später sehen wird, von Arellanos nicht bewahrt worden. Aber war denn ein Mann ohne Stütze, ohne Hilfsquellen, dem nicht einmal ein Pferd blieb, um ihn zu tragen, ein gefährlicher Mitbewerber?
   »So haben Euch denn«, sagte Cuchillo, der, die Knie bis zum Kinn heraufgezogen, auf dem Rand des Weges saß und mit dem Messer spielte, das im Knieband seines Stiefels steckte, »außer einer Bambushütte, die Ihr verlassen habt, einem Pferd, das zwischen Euren Schenkeln zusammengestürzt ist, und der Kleidung, die Ihr tragt, Arellanos und seine Witwe keine andere Erbschaft hinterlassen? … Nichts als das Andenken an ihre Wohltaten und die Verehrung für ihren Namen? – Armer Arellanos; ich habe ihn sehr bedauert«, äußerte unklugerweise Cuchillo, den seine Heuchelei zur unrechten Zeit nicht hatte achtgeben lassen.
   »Ihr habt ihn also gekannt?« rief Tiburcio. »Er hat niemals von Euch zu mir gesprochen.«
   Cuchillo fühlte, daß er eben auf einen Abweg geraten sei; er beeilte sich zu antworten: »Ich habe viel von ihm reden hören als von einem sehr würdigen Mann und einem berühmten Gambusino … und das ist wohl hinreichend, um ihn zu bedauern, denke ich. Bin ich es nicht außerdem, der Euch von seinem Tod unterrichtet hat, den ich zufällig erfahren hatte?«
   Trotz des natürlichen Tons, mit dem Cuchillo diese Antwort gab, hatte er doch ein so verdächtiges Gesicht, und so viel Argwohn lastete auf seinem Haupt, daß Tiburcio einen mißtrauischen Blick auf ihn warf. Aber nach und nach schienen die Gedanken des jungen Mannes eine andere Richtung zu nehmen. Er saß einige Augenblicke in tiefe Gedanken versunken, die nur aus seiner zufälligen Schwäche entstanden waren, deren Ursprung Cuchillo aber – dessen Geist stets dem Verdacht zugänglich war – ganz anders ableitete.
   »Ich weiß nicht, ob es nur eine Täuschung des Fiebers ist«, sagte Tiburcio, das Wort wieder ergreifend, »aber es schien mir in meiner Ohnmacht, während ich keine anderen Empfindungen hatte als die eines verzehrenden Feuers, in dem ich langsam verging, als ob ein süßes Antlitz sich über mich geneigt hätte; eine Stimme hat einige harmonische Worte in mein Ohr geflüstert; dann fühlte ich, daß eine wonnigliche Frische auf das Fieber folgte, das mich verbrannte, und seit diesem Augenblick empfand ich keine Schmerzen mehr. Ihr habt keine lebendige Kreatur in diesen Einöden bemerkt?« fragte zögernd der junge Mann, der noch fortzuträumen schien.
   »Bah! Ist es weiter nichts?« fragte Cuchillo kühl.
   »Ihr habt sie also gesehen?« rief Tiburcio lebhaft.
   »Wen? Eine Frau? Ei, mein Gott, nein! Ihr habt sie eben nur zu sehen geglaubt! Was Ihr empfunden habt, ist nichts als der letzte Paroxismus des Todes vor Durst. Den Menschen, der so stirbt, überkommt im Delirium ein Gefühl, als ob er mit vollen Zügen trinke.«
   Tiburcio schien nur mit Bedauern auf eine poetische Erklärung seiner Erscheinung zu verzichten, die sich fast immer in einem ähnlichen Fall wiederholt.
   In diesem Augenblick begann das Pferd Cuchillos offenbare Zeichen des Schreckens von sich zu geben. Sein Haar sträubte sich, und es näherte sich seinem Herrn, als ob es bei ihm Schutz suchen wollte. Die Stunde nahte, wo die düstere Steppe sich mit nächtlicher Majestät kleidet. Schon heulten die Schakale von fern, als plötzlich ein rauher, rucksender Ton ihnen Stillschweigen gebot: die Stimme des amerikanischen Löwen.
   »Horcht!« sagte Cuchillo.
   Ein durchdringenderes Geheul erscholl von der anderen Seite.
   »Es sind ein Puma und ein Jaguar, die sich den Leichnam Eures Pferdes streitig machen, Freund Tiburcio; und der Besiegte könnte wohl den Versuch machen, sich durch einen von uns zu entschädigen. Ich habe nur meine Büchse, und Ihr habt keine Waffen!«
   »Ich habe meinen Dolch!«
   »Das ist nicht genug. Steigt hinter mir auf mein Pferd, und machen wir, daß wir fortkommen.«
   Tiburcio folgte dem Rat und verschob seinen Verdacht vor der gemeinsamen Gefahr; trotz der doppelten Last lief das Pferd Cuchillos blitzschnell davon, während das Knurren der beiden falben Bewohner der Steppe immer lauter und länger wurde.


   7. Das Nachtlager im Wald

   Noch lange trug das Echo das furchtbare Gebrüll, gemischt mit dem klagenden Geheul der Schakale, zu den Ohren der beiden Reiter. Diese gefräßigen Tiere verließen nur mit Bedauern den Raub, den sich die beiden Könige der Wälder Amerikas streitig machten. Plötzlich aber bewies ein Lärm anderer Art das Dazwischenkommen des Menschen in dieser Steppenszene. Wirklich hörte das Geheul plötzlich auf.
   »Das war ein Büchsenschuß!« sagte Tiburcio. »Wer mag wohl Vergnügen daran finden, in diesen Einöden zu jagen?«
   »Ohne Zweifel irgendeiner dieser amerikanischen Jäger, die wir von Zeit zu Zeit nach Arizpe kommen sehen, um ihre Vorräte an Otter– und Biberfellen zu verkaufen, und denen ein Jaguar oder ein Puma ebenso wie ein Schakal willkommene Beute ist.«
   Nichts störte jetzt noch die feierliche Ruhe der Nacht. Die Sterne glänzten am Himmel, und kaum ließ ein frischerer Windhauch ein leichtes Murmeln im Eisenbaumgehölz vernehmen.
   »Wohin bringt Ihr mich denn?« fragte Tiburcio nach einem ziemlich langen Schweigen.
   »Nach der Poza, wo einige Freunde mich erwarten und wo wir die Nacht über bleiben werden; von da, wenn es Euch recht ist, weiter nach der Hacienda del Venado.«
   »Nach der Hacienda del Venado?« erwiderte Tiburcio. »Ich gehe auch dorthin.«
   Wäre es Tag gewesen, so hätte Cuchillo den jungen Mann bei diesen Worten erröten sehen können, denn eine Herzenssache zog ihn gegen seinen Willen zu der Tochter Don Agustins hin.
   »Kann ich wissen«, fragte Cuchillo seinen jungen Begleiter, »welcher Beweggrund Euch nach der Hacienda führt?«
   Tiburcio war verlegen bei dieser so einfachen Frage; aber man hat wohl schon bemerken können, daß Cuchillo nicht der Vertraute war, den er gewählt hätte. »Ich bin ohne Hilfsmittel«, antwortete er zögernd, »und will Don Agustin Peña bitten, mich unter die Zahl seiner Vaqueros aufzunehmen.«
   »Das ist ein trauriges Geschäft, das Ihr da ergreifen wollt, mein Lieber. Sein Leben täglich für ein mäßiges Gehalt aufs Spiel zu setzen, die Nacht zu wachen, des Tages im Dickicht oder in den Ebenen herumzustreifen in glühender Sonnenhitze, in der Kühle der Nacht: das ist das Los eines Vaqueros.«
   »Was soll ich anfangen?« fragte Tiburcio. »Ist es nicht das Leben, an das ich gewöhnt bin? Habe ich nicht immer in der Einsamkeit und unter Entbehrungen gelebt? Diese abgenutzten Calzoneras und diese zerrissene Weste – sind sie nicht meine einzige Habe? Ich habe nicht einmal mehr ein eigenes Pferd. Ist es nicht besser, Vaquero als Bettler zu sein?«
   Er weiß nichts, dachte Cuchillo; würde er sonst wohl eine Stelle dieser Art annehmen? Dann sagte er laut: »Wohlan, ich habe Euch etwas Besseres vorzuschlagen. Ihr seid wirklich ein verlorener Sohn; mich ausgenommen, würde Euch niemand beweinen, wenn Ihr sterben würdet. Ihr habt wahrscheinlich in Eurer tiefen Abgeschlossenheit nichts von einer Expedition gehört, die sich eben in Arizpe gebildet hat?«
   »Nein!«
   »Seid einer der Unseren. Für eine solche Expedition muß ein entschlossener Junge, wie Ihr einer seid, ein kostbarer Erwerb sein; und was Euch betrifft, so kann ein erfahrener Gambusino – und als solchen kenne ich Euch, da Ihr in einer guten Schule gewesen seid – sein Glück mit einem Schlag machen.« Wenn er den Hieb pariert, den ich ihm beigebracht habe, sagte der Bandit bei sich, so wird das ein offenbares Zeichen sein, daß er nichts weiß!
   Cuchillo verfolgte so einen doppelten Zweck – den der Ausforschung und den des persönlichen Vorteils —, indem er Tiburcio ausfragte und den Versuch machte, ihn durch die Hoffnung auf Gewinn an sich zu fesseln.
   Aber so schlau der Bandit auch war – er hatte einen tüchtigen Gegner. »Das ist also eine Expedition von Goldsuchern?« sagte der junge Mann kalt.
   »Ganz recht; ich gehe mit einigen Freunden nach der Hacienda del Venado, und von da aus vereinigen wir uns im Presidio von Tubac, um die Apacheria zu durchforschen, die, wie man sagt, sehr große Schätze enthalten soll. Wir werden beinahe hundert Mann stark sein!«
   Tiburcio schwieg.
   »Obgleich ich, unter uns gesagt«, fuhr Cuchillo fort, »niemals über Tubac hinausgekommen bin, so werde ich doch einer der Führer dieser Expedition sein. Nun, was sagt Ihr dazu?«
   »Ich habe viele Gründe, um mich nicht ohne reifliches Nachdenken zu verpflichten«, antwortete Tiburcio. »Ich fordere also vierundzwanzig Stunden zur Überlegung.« Diese Expedition, von der er so plötzlich hörte, konnte wirklich Tiburcios Pläne vernichten oder fördern, und daher kam seine Ungewißheit unter diesem klugen Vorbehalt.
   Er beunruhigt sich nicht! Dieser junge Mann ist dazu bestimmt, mein Schuldner zu bleiben. Das waren die Gedanken Cuchillos, der sich von nun an, frei von Besorgnis von dieser Seite her, damit beschäftigte, zu pfeifen und sein Pferd anzutreiben.
   Die beste Eintracht schien demnach zwischen zwei Männern zu herrschen, die beide füreinander – freilich noch unbewußt – Grund zu tödlichem Haß in sich trugen, als plötzlich das Pferd, das mit dem linken Vorderfuß strauchelte, beinahe gestürzt wäre.
   Tiburcio sprang mit flammendem Auge zu Boden und rief mit drohender Stimme: »Ihr seid niemals über Tubac hinausgekommen, sagt Ihr? Seit wann habt Ihr denn dieses Pferd, Cuchillo?«
   »Was liegt Euch daran?« fragte der Abenteurer, erstaunt über eine Frage, der sein Gewissen eine beunruhigende Bedeutung gab. »Und was kann mein Pferd mit der Frage zu tun haben, die Ihr so unhöflicherweise an mich richtet?«
   »Bei der Seele Arellanos, ich will es wissen; wenn nicht …«
   Cuchillo gab seinem Pferd die Sporen, das zur Seite sprang, und in dem Augenblick, wo er die Hand nach dem Riemen seiner Büchse ausstreckte, näherte sich ihm Tiburcio schleunigst, preßte kraftvoll seine Hand und wiederholte seine Frage: »Seit wann habt Ihr das Pferd?«
   »Haha! Welche Neugierde!« antwortete Cuchillo mit gezwungenem Lächeln. »Nun weil Ihr denn so sehr darauf haltet, es zu wissen – ich habe es gekauft … vor sechs Wochen. Habt Ihr es etwa schon zufällig gesehen?«
   Es war wirklich das erstemal, daß Tiburcio Cuchillo auf diesem Pferd sah, das trotz des Fehlers, zuweilen zu stolpern, voll ausgezeichneter Eigenschaften war und das sein Herr auch nur bei wichtigen Gelegenheiten bestieg.
   Die Lüge des Reiters zerstreute ohne Zweifel irgendwelchen Verdacht in der Seele Tiburcios in betreff des Pferdes, denn der junge Mann hörte auf, die Hand des Banditen zu pressen. »Verzeiht«, sagte er, »diese Heftigkeit; aber erlaubt mir noch eine Frage.«
   » Sprecht«, rief Cuchillo, »solange wir hier sind. Was tut unter Freunden eine Frage mehr oder weniger?«
   »Wer hat Euch das Pferd vor sechs Wochen verkauft?«
   »Sein Herr, wahrhaftig!« sagte der Abenteurer, um Zeit zu gewinnen. »Ein … Unbekannter … der von einer weiten Reise zurückkehrte.«
   »Ein Unbekannter?« wiederholte Tiburcio. »Verzeiht noch einmal.«
   »Hätte man es Euch etwa zufällig gestohlen?« nahm Cuchillo wieder mit ironischem Ton das Wort.
   »Nein! Aber denkt nicht mehr an meine Torheiten.«
   »Ich verzeihe sie Euch«, sagte Cuchillo mit großmütiger Miene. Ebenso wahr ist es aber auch, fügte er innerlich hinzu, daß du nicht mehr weit gehen wirst, du Hundesohn!
   Tiburcio war nicht mehr auf seiner Hut, und der Bandit benützte die Dunkelheit, um heimlich die Riemen seiner Büchse zu lösen.
   Er war ohne Zweifel im Begriff, seine Rache auszuführen, als ein Reiter, der ein gesatteltes und gezäumtes Pferd nach sich zog, im Galopp von der entgegengesetzten Seite des Weges ankam. »Seid Ihr es, Cuchillo?« schrie der Reiter.
   Geh zum Teufel …, dachte Cuchillo. »Ach, Ihr seid es, Benito?«
   »Ja! Nun, habt Ihr den Mann gerettet? Don Estévan schickt mich auf jeden Fall mit einer Kürbisflasche frischen Wassers und einem Pferd für ihn.«
   »Da ist er«, antwortete Cuchillo. »Dank meiner Bemühung ist er heil und gesund – so lange, bis ich ihm Auge in Auge gegenüberstehen werde«, fügte er ganz leise hinzu.
   »Auf denn, zum Nachtlager!« sagte der Diener.
   Tiburcio setzte sich auf, und alle drei sprengten schweigend nach dem Ort, wo der Zug haltgemacht hatte – der Diener, ohne an etwas anderes zu denken, als so schnell wie möglich anzukommen, wie ein Mann, den ein beschwerlicher Tag ermüdet hat; Cuchillo, indem er den Lästigen verwünschte, durch dessen Gegenwart seine Rache aufgeschoben wurde; Tiburcio, indem er vergebliche Anstrengungen machte, um den Verdacht, den ein sonderbares Zusammentreffen in seiner Seele gegen den Banditen weckte, wieder loszuwerden. In solcher Gemütsstimmung sahen die drei Reiter, als sie ungefähr eine Viertelstunde rasch geritten waren, die Feuer glänzen, die den Haltepunkt der Karawane bezeichneten, und gelangten endlich an die Poza.
   Die Stelle, die man so nannte – der einzige Ort zehn Meilen im Umkreis, wo zu jeder Jahreszeit Wasser zu finden war – war eine Zisterne, die ohne Zweifel von einer verborgenen Quelle gespeist wurde; ihre Öffnung war viel breiter als die der anderen Zisternen. Sie war im Grund eines kleinen, überall zehn Fuß breiten Tals gegraben, dessen abschüssige Wände das Regenwasser in diesen kostbaren Behälter führten. Dieses kleine Tal war überdeckt von Bäumen, deren dichtes Laubdach, vom feuchten Boden genährt, die Zisterne gegen die Strahlen der Sonne schützte. Der Rasen, mit dem die Ränder bedeckt waren, und die Frische, die die verschlungenen Wipfel der Bäume verbreiteten, machten aus der Poza mitten in dieser Einöde eine köstliche Oase.
   Ebenso wie die Reisenden, für die dieser Ort ein gewöhnlicher Haltepunkt war, kommen auch die Jäger hierher, um sich in seiner Nähe auf den Anstand zu stellen; entweder, um Damwild und Hirsche zu schießen, oder um hier dem Jaguar und dem Rotwild aufzulauern, die der Durst von allen Seiten hierher treibt.
   Eine jener Brunnenstangen, wie sie über das ganze Land verbreitet sind und die denen in Algier gleichen, diente dazu, das Wasser mit Hilfe eines ledernen Eimers, der an dem einen Ende befestigt war, aus dem Behälter zu schöpfen, um es in trogförmig ausgehöhlte Baumstämme zu gießen und dann die Pferde der Reisenden daraus zu tränken.
   Einige Schritte davon bildete ein dichter Wald, durch den sich der Weg nach der Hacienda del Vanedo hinschlängelte, grünen und frischen Schatten. In dem Raum zwischen den Zugängen zur Poza und dem Saum des Waldes hatte man ein großes Feuer angezündet; zunächst, um die eisige Kühle der Nacht nach glühendem Tag zu mildern und dann, um die Jaguare und die Pumas vom Wasser fernzuhalten, die in Versuchung kommen konnten, hier ihren Durst zu löschen.
   Nicht weit von diesem Feuer, das mit den abgestorbenen Bäumen des Waldes genährt wurde, hatten die Diener die Feldbetten des Senators und des Spaniers aufgeschlagen; die Hälfte eines Hammels drehte sich am Bratspieß vor dem Feuer, um für sie und ihr Gefolge ein Abendessen abzugeben, und ein Schlauch mit Wein wurde an seinen breiten Seiten in einem der Tränketröge abgekühlt.
   Nach einem mühevollen Tagesmarsch war diese Nachtruhe am Rand der Poza ein sehr anziehendes Schauspiel, als Tiburcio und seine beiden Begleiter dort anlangten.
   »Hier ist unser Nachtlager, mein teurer Tiburcio«, sagte Cuchillo in liebreichem Ton, mit dem er glaubte, seinen Groll und seine finsteren Pläne verhüllen zu müssen; »steigt ab, während ich den Chef von Eurer Ankunft in Kenntnis setze. Jener dort ist Don Estévan de Arechiza, unter dessen Befehl Ihr Euch stellen werdet, wenn Ihr Lust dazu habt – unter uns gesagt: Es ist das beste, was Ihr tun könnt!«
   Cuchillo wollte sich sein Opfer nicht entschlüpfen lassen und war mehr als je darauf aus, daß der junge Mann sich ihnen anschlösse. Er zeigte mit dem Finger auf den Senator und Don Estévan, die auf ihrem Feldbett saßen und von den Flammen hell beleuchtet wurden, während Tiburcio noch unsichtbar für sie war. »Ich wünschte wohl«, sagte er zu dem Spanier, »Euch mit Erlaubnis des Herrn Senators ein paar Worte allein zu sagen.«
   Don Estévan gab Cuchillo ein Zeichen, ihn in den düsteren Baumgang zu begleiten, der den Weg mitten durch den Wald bezeichnete.
   »Ihr möchtet wohl nicht raten, Don Estévan«, sagte der letztere, »wer der Mann ist, den Euer Edelmut gerettet hat; denn ich bringe ihn gesund und wohlauf zurück, wie Ihr seht.«
   Der Spanier steckte die Hand in die Tasche und gab ihm das versprochene Goldstück.
   »Es ist der junge Tiburcio Arellanos, den Eure Menschlichkeit eben gerettet hat. Was mich betrifft, so habe ich nur auf mein gutes Herz gehört; aber vielleicht haben wir beide einen dummen Streich gemacht.«
   »Warum das?« sagte Don Estévan. »Dieser junge Mann wird um so leichter zu überwachen sein, als er uns viel näher sein wird; denn ich denke, er hat sich entschieden, einer der Unseren zu sein.«
   »Er hat vierundzwanzig Stunden zum Überlegen gefordert.«
   »Glaubt Ihr, daß er etwas weiß?«
   »Ich fürchte es«, sagte Cuchillo mit kläglicher Miene, denn eine Lüge, um denjenigen dem Spanier zu verdächtigen, dem er den Tod geschworen hatte, kostete ihn nichts. »Jedenfalls wäre es nur eine Quittung für ein Darlehen.«
   »Was soll das heißen?«
   »Daß mein Gewissen mir versichert, es würde vollkommen ruhig sein, wenn … Ei, wahrhaftig«, fügte er rauh hinzu, »wenn ich nun diesen jungen Mann in die andere Welt schickte, um seine Verwandten aufzusuchen?«
   »Um Gottes willen nicht!« rief Don Estévan lebhaft aus. »Übrigens – angenommen, daß er etwas weiß, so befehlige ich immerhin hundert Mann, und er ist allein«, fügte er hinzu, um Cuchillo zu entwaffnen, dessen Habgier er allein das Verlangen zuschrieb, sich Tiburcios zu entledigen. »Seid seinethalben unbesorgt; ich halte mich für befriedigt, und Ihr müßt es machen wie ich.«
   »Befriedigt … befriedigt«, murrte Cuchillo wie eine Dogge, die die Stimme ihres Herrn zwingt, sich mit Knurren zu begnügen, anstatt zu zerreißen; »ich bin es nicht … aber später …«
   »Ich will diesen jungen Mann sehen«, unterbrach ihn der Spanier, der wieder den Weg nach dem Biwak einschlug, von dem er sich entfernt hatte.
   Cuchillo folgte ihm, indem er leise mit besorgtem Ton sagte: »Warum, zum Teufel, hat er mich gefragt, wie lange ich schon mein Pferd habe? … Laßt sehen – das Tier ist gestrauchelt, und gerade in diesem Augenblick hat er mich befragt und mir gedroht … Ich begreife nichts davon, aber ich mißtraue darum, weil ich nicht begreife.«
   Als Arechiza und Cuchillo das Lager wieder erreichten, herrschte dort eine gewisse Unruhe. Die hier und da verstreuten Pferde hatten sich nicht weit vom Lager rings um die Capitanastute gesammelt, und die Flamme des Feuers beschien mit fahlem Glanz ihre blitzenden Augen; den Hals gegen ihre Wärter ausgestreckt, schienen sie sich unter den Schutz des Menschen zu begeben. Zuweilen ließ sich ein Wiehern des Schreckens mitten aus dieser Gruppe erschreckter Tiere vernehmen. Es war klar, daß der Instinkt sie eine noch ferne Gefahr fürchten ließ.
   »Es ist irgendein Jaguar, der hier herumstreicht«, sagte einer der Diener, »und unsere Tiere haben Wind davon.« »Bah!« sagte ein anderer. »Der Jaguar greift nur Füllen an; er würde es nicht wagen, ein kräftiges Pferd anzugreifen.«
   »Glaubt Ihr das wirklich?« erwiderte der erste. »Wohlan, fragt doch hier Benito, wie es an irgendeinem Ort einem schönen und starken Pferd ging, das er sehr lieb hatte.«
   Benito ging auf die beiden Sprecher zu. »Eines Tages«, sagte er, »oder vielmehr in einer Nacht wie dieser hier, hatte ich mich sehr weit von der Hacienda del Venado, wo ich damals diente, entfernt und hatte beschlossen, die Nacht bei der Quelle Ojo de Agua zuzubringen. Ich hatte mein Pferd ziemlich weit von mir an einer Stelle angebunden, wo das Gras dichter stand, und schlief, wie man schläft, wenn man einen Marsch von zwanzig Meilen gemacht hat, als ich durch ein fürchterliches Brüllen und Wiehern aufgeweckt wurde. Der Mond schien so hell, daß man wie bei Tag sehen konnte. Erschreckt durch den höllischen Lärm, den ich hörte, wollte ich mein Feuer wieder anzünden; aber es war erloschen, und ich hatte gut blasen – ich konnte keinen einzigen Funken herausbringen. Plötzlich sah ich mein Pferd an mir vorbeigaloppieren, das auf die Gefahr hin, sich zu erdrosseln, die Reata zerrissen hatte, die ich um seinen Hals geschlungen hatte. ›Gut‹, sagte ich zu mir, ›anstatt eines Pferdes, das dir fehlte, wirst du nun deren zwei zu suchen haben.‹ Ich hatte kaum diese Bemerkung gemacht, als ich beim Mondlicht einen gewaltigen Jaguar erkannte, der meinem Pferd in voller Verfolgung nachsetzte. Er schien kaum die Erde zu berühren, denn jeder seiner Sprünge brachte ihn zwanzig Fuß vorwärts. Ich begriff, daß mein Pferd verloren war. Ängstlich lauschte ich, aber ich hörte nichts mehr. Erst nach Verlauf einer Viertelstunde, die mir sehr lang vorkam, trug mir der Wind ein furchtbares Brüllen zu …«
   Er unterbrach sich mit einem Ausruf des Schreckens: »Heilige Jungfrau«, rief er, »geradeso wie jetzt!«
   Ein fürchterliches Brüllen erscholl wirklich nicht weit von der Poza und schnitt Benito das Wort ab. Ein tiefes Schweigen folgte, währenddessen ein Hauch des Schreckens über den Häuptern der Menschen und Tiere die Luft zu beschweren schien.


   8. Benito läßt Parteilichkeit für die Jaguare durchblicken

   Der alte Hirt hätte seine Erzählung wiederaufnehmen können, ohne daß ihn jemand unterbrochen hätte, aber auch sicherlich, ohne gehört zu werden. Die drohende Nähe einer Gefahr, die eben noch so entfernt schien, sowie die Nachbarschaft des wilden Tieres erstarrten das Herz der Zuhörer des Vaqueros zu Eis und nahm diesem die Sprache. Er schwieg übrigens wie die anderen und schien darüber nachzudenken, was die schreckliche Lage fordere, als der Spanier das tiefe Schweigen, das im Biwak herrschte, unterbrach.
   »Zu den Waffen!« rief Don Estévan.
   »Das ist unnütz, Señor«, erwiderte der Erzähler, dem seine Bekanntschaft mit der Gefahr schon sein kaltes Blut wiedergegeben hatte. »Das beste, was wir tun können ist, das Feuer nicht erlöschen zu lassen.« Ein Bündel trockener Zweige, das er mit diesen Worten hineinwarf, verbreitete ringsherum eine glänzende Flamme, deren Strahl alle Anwesenden mit einem Lichtnetz umhüllte. »Sofern er nicht vor Durst verschmachtet, wird der Dämon der Finsternis diesen Feuerkreis nicht zu überschreiten wagen. Indes muß ich hinzufügen, daß er oft vor Durst verschmachtet, und dann …«
   »Und dann?« unterbrach ihn jemand mit ängstlichem Ton.
   »Dann«, fuhr der Vaquero fort, »kennt er weder Feuer noch Flamme. Auch ist es – sofern man nämlich entschieden sein sollte, ihm den Zugang zum Wasser zu verwehren – das klügste, ihm aus dem Weg zu gehen. Diese Tiere haben immer mehr Durst als Hunger.«
   »Und wenn sie getrunken haben?« fragte seinerseits Baraja, bei dem die Flamme eine wenig sichere Haltung sehen ließ.
   »Dann suchen sie ihren Hunger zu stillen. Diese Jaguare sind sehr sinnlich. Übrigens ist das ganz natürlich, wie mir scheint.«
   Ein zweites Brüllen, das aber offenbar entfernter zu sein schien, bewies den durch die Vorlesung über die Jaguare sehr erschreckten Zuhörern Benitos, daß dieser wenigstens noch nicht den äußersten Grad des Durstes empfand. Jedermann bewahrte ein Schweigen, das nur durch das Knistern der Zweige, die Baraja eifrig in die Glut warf, unterbrochen wurde.
   »Sachte, zum Henker! Wenn Ihr unseren Holzvorrat so verschwendet, wollt Ihr es etwa auf Euch nehmen, neuen im Wald zu sammeln?«
   »Dann seht zu, daß wir ausreichen, um uns nicht in der Dunkelheit dem Jaguar preiszugeben, dessen Durst nach zwei Stunden der Entsagung doppelt so groß sein wird.«
   Wenn Benito sich vorgenommen hätte, seinen Zuhörern Schrecken einzujagen, er hätte gewiß vollkommen seinen Zweck erreicht, denn alle warfen einen ängstlichen Blick auf das wenige trockene Holz, das im Bereich ihrer Hand aufgeschichtet war; aber trotz seiner spöttischen Antworten war doch in der Stimme des alten Vaqueros etwas Feierliches, das eine tiefe Beweiskraft in sich trug. Man hatte kaum Holz genug, um noch eine Stunde lang die schützende Flamme der Feuerstelle zu unterhalten.
   Man begreift, daß Don Estévan es auf eine günstigere Gelegenheit verschoben hatte, Fragen an Tiburcio zu richten. Dieser hätte indessen nicht länger gezögert, dem Spanier zu danken, aber er wußte nicht, daß dieser den Befehl an Cuchillo gegeben hatte. Nichtsdestoweniger warf Don Estévan mitten in diesen schrecklichen Augenblicken verstohlen mehr als einmal einen prüfenden Blick auf Tiburcio, aber durch Zufall blieb das Gesicht des jungen Mannes ständig im Schatten und unsichtbar für ihn. Tiburcio seinerseits fühlte ebenfalls, daß der Augenblick schlecht gewählt gewesen wäre, Höflichkeitsbezeugungen mit dem Chef des Biwaks zu wechseln.
   Tiefe Stille herrschte auch fernerhin. Don Estévan und der Senator hatten ihre Feldbetten wieder aufgesucht, auf denen sie mit dem Gewehr in der Hand saßen, und niemand blieb um Benito als seine Kameraden Baraja, Cuchillo und Tiburcio. Die Pferde hörten dessenungeachtet nicht auf, sich so nahe wie möglich um das Feuer zu gruppieren, und ihr Ausharren an der Seite der Menschen, der glühende Atem ihrer Nüstern – alles bewies, daß die Gefahr wohl entfernter, aber noch nicht vorüber sei.
   Einige Minuten verflossen so, ohne daß der Ton einer menschlichen Stimme die düstere Ruhe des Waldes störte.
   Inmitten der größten Gefahr liegt in der Stimme des Menschen immer ein ermutigender Wohlklang, der den Schrecken zu mindern scheint; drum bat auch einer der Diener den Vaquero, in seiner Erzählung fortzufahren.
   »Ich sagte euch also«, begann Benito wieder, »daß der Jaguar auf der Verfolgung hinter meinem Pferd hersetzte und daß ich nicht wie heute abend ein helles Feuer hatte, um ihn fernzuhalten. Plötzlich sah ich noch einmal beim Schein des Mondes das Pferd selbst zu mir hergaloppieren, aber nach dem schrecklichen Reiter zu urteilen, den es trug, war es der letzte Lauf, den es machen sollte. Der Jaguar hatte sich auf seinem Rücken eingekrallt; sein Kopf lag dicht auf dem Hals des armen Tieres, und so ließ er sich von ihm dahintragen. Kaum einige Schritte von mir ließ sich plötzlich ein schauerliches Krachen zerbrochener Knochen hören; das Pferd stürzte wie vom Blitz getroffen – der Jaguar hatte ihm den letzten Rückenwirbel dicht am Kopf zerbrochen. Jaguar und Pferd rollten, sich einer über den anderen wälzend, zu Boden, und am folgenden Morgen waren nur noch zerrissene Fetzen von dem Renner da, der mich so lange getragen hatte. Nun, glaubt ihr immer noch, daß der Jaguar nur Füllen angreift?« fragte der alte Hirt.
   Unter dem Eindruck der Erzählung des alten Hirten und der unzweifelhaften Gegenwart eines dieser schrecklichen nächtlichen Herumstreifer der amerikanischen Wälder dauerte das Schweigen der Reisenden noch lange Zeit fort.
   Tiburcio war der erste, der es unterbrach. Ebenso wie der Vaquero an ein Leben in der Einöde gewöhnt, war er weniger betroffen als seine Gefährten.
   »Indes«, bemerkte er, »wenn Ihr kein Pferd gehabt hättet, so würde Euch der Jaguar an dessen Stelle verspeist haben; Euer Pferd hat Euch also gerettet und ist für Euch gestorben; und hier haben wir zwanzig Pferde für einen Jaguar!«
   »Dieser junge Mann spricht nach meiner Meinung sehr gut«, rief Baraja, der durch diese Bemerkung wieder Haltung bekommen hatte.
   »Zwanzig Pferde, ja«, erwiderte Benito. »Sie werden in unserer Nähe bleiben, bis die Furcht ihren Sinn verwirrt hat, und bei der unmittelbaren Nähe der Gefahr werden sie in tollem Schrecken die Flucht ergreifen. Der Jaguar, der hier herumschweift, wird sie nicht verfolgen, weil der Instinkt die Pferde nach der dem Wasser, von dem er sich nicht entfernen will, entgegengesetzten Seite treiben wird, und … vielleicht …«
   »Vielleicht?« fragten mehrere Stimmen auf einmal.
   »Vielleicht«, fuhr Benito feierlich fort, »vielleicht hat er schon Menschenfleisch gekostet; und da diese Tiere, wie ich euch eben sagte, sehr sinnlich sein sollen, so wird er das Fleisch eines Pferdes verschmähen, wenn er denn eines von uns bekommen kann; und wenn man alles bedenkt, so hat man nicht allzuviel Recht, ihn darum zu tadeln.«
   »Das ist ermutigend!« unterbrach Cuchillo.
   »Gewiß, denn er wird sich mit einem begnügen, sofern nämlich …«
   Benito schien der Mann zu sein, etwas Schreckliches absichtlich zu verschweigen; auch wagte niemand mehr, ihn während einer Minute zu fragen. Dann aber rief Cuchillo, ungeduldig, ihn immer noch schweigen zu sehen: »Zum Teufel, so redet doch!«
   »Ich wollte nur sagen«, antwortete der alte Vaquero, »sofern er nicht sein Weibchen bei sich hat, in welchem Fall …«
   Ein dumpfes Knurren – freilich weniger nahe als das erste, das sie gehört hatten, aber weniger entfernt auch als das zweite – bestätigte die Versicherung des alten Vaqueros.
   »Da ist der Beweis«, sagte er, »daß der Durst lebhafter wird, denn die Nachtluft macht ihn nur zorniger, da sie ihm die frischen Ausdünstungen der Zisterne zuführt.«
   Unterdessen verbreitete die nach und nach aufgezehrte Glut weniger helles Licht umher, und der Holzvorrat näherte sich seinem Ende. Eine erschreckende Gleichmäßigkeit zeigte sich zwischen dem Fortschritt des Durstes beim Jaguar und der Verminderung des Holzes an der Feuerstelle. Der Glanz des Feuers war das unübersteigliche Hindernis, das der Verzweiflung des Raubtieres entgegengesetzt werden konnte.
   Ein Brüllen wie der Ton einer Trompete erscholl plötzlich von der der letzten entgegengesetzten Richtung und schnitt ihm das Wort vom Mund ab.
   »Ave Maria! Der Jaguar ist beweibt?« rief Baraja ängstlich.
   »Dieser Mann spricht die Wahrheit«, bestätigte Benito, »denn wir haben hier zwei, und noch niemals haben zwei männliche Jaguare gemeinschaftlich gejagt. Was Ihr auch dazu sagen mögt, Señor Cuchillo, wir haben nun schon zwei Chancen weniger. Der Durst nimmt zu, und der Jaguar hat sich verdoppelt. Also eins verhält sich zu vier wie zwei zu acht; das heißt …«
   Bei einem Brüllen, das aus der unbestimmten Grenze der nächtlichen Finsternis und des Lichtgürtels, der die Poza erhellte, hervorzudringen schien, lösten sich die Pferde, die sich bis jetzt dicht beim Feuer gruppiert hatten, von tollem Schrecken ergriffen, in wilde Flucht auf. Die Erde zitterte unter ihren Hufen, die Büsche krachten mit schrecklichem Lärm, und alle verloren sich bald unter den Schatten des Waldes, den die Strahlen des Mondes mit einem durch das Laubdach gebrochenen Licht erhellten. Das war ein Zeichen, daß die Gefahr sich vergrößerte und die Tiere, die Begleiter des Menschen, alles Vertrauen in seinen Schutz verloren und nur noch Rettung von der Flüchtigkeit ihrer Hufe, verzehnfacht durch einen grenzenlosen Schrecken, erwarteten.
   In dem Augenblick, als die letzte Hilfe, auf die die Reisenden hätten zählen können, verschwand, erhob sich Benito, durchschritt den Raum, der zwischen der Gruppe, zu der er gehörte, und Don Estévan und dem Senator lag, die abseits saßen, und näherte sich ihnen:
   »Die Klugheit fordert, daß ihr nicht mehr so fern von uns bleibt; man weiß nicht, was sich ereignen kann. Ihr habt es gehört, die Gefahr umgibt uns rechts und links; kommt in unsere Mitte, und wir werden für euch einen Wall mit unseren Leibern bilden.«
   Die erschrockene Haltung des Senators bot einen seltsamen Gegensatz zu der ruhigen und kalten Haltung des spanischen Granden.
   »Die Pflicht eines Führers ist, seine Leute zu beschützen, und nicht, sich von ihnen beschützen zu lassen«, erwiderte Arechiza stolz, »und das wollen wir tun. Wenn die Gefahr von dieser Seite kommt, da wir rechts und links dieses Gebrüll gehört haben, so bleibe ich hier mit dem Gewehr in der Hand, um den Feind zu erwarten und unseren Rücken zu decken. Mit einem sicheren Auge, einem festen Herzen und zwei Kugeln in jedem Lauf braucht man einen Jaguar nicht zu fürchten. Ihr, Herr Senator, tut beim Vortrupp, was ich beim Nachtrupp tue, und wenn Eure – Klugheit es erfordert, Euch auf unsere Leute zu stützen, so überlasse ich das ganze Eurer Entscheidung.«
   Diese Übereinkunft, die den Schein rettete, war zu sehr nach dem Geschmack des Senators, um nicht von ihm angenommen zu werden.
   Diese Vorkehrungen waren kaum getroffen, als sich ein fürchterliches Wechselgebrüll zwischen dem hungrigen und durstigen Jaguarpaar zu entwickeln schien. Ersticktes Knurren, tiefes Brüllen oder scharfe Töne wechselten die beiden Tiere miteinander von den verschiedenen Punkten aus. – Diese schreckliche Musik weckte im Wald dumpfen oder klingenden Widerhall, der die Steppe ringsum mit einem Dutzend dieser schrecklichen Gäste zu bevölkern schien. Jedes Gebrüll fand sein Echo in der Brust der Reisenden.
   Das Gewehr des Senators zitterte in seinen Händen wie das Rohr, das der Wind hin oder her weht; Baraja empfahl sich allen Heiligen der spanischen Legende; Cuchillo umschloß seine Büchse, als ob er sie zerbrechen wollte; Benito erwartete mit dem Fatalismus der Araber kalt die Entwicklung dieses Dramas, von dem die beiden falben Darsteller schon den Prolog brüllten.


   9. Die Jaguartöter

   Beim Licht des Feuers, das Benito sparsam unterhielt, konnte man bemerken, wie Don Estévan mit den Bewegungen seines Körpers der Richtung folgte, in der das Brüllen sich links hören ließ. Er hatte die ruhige Miene eines Jägers, der auf die Erscheinung eines Rehbocks lauert.
   Tiburcio fühlte beim Anblick des spanischen Führers jene Aufregung in sich, die die Gefahr in gewissen energischen Charakteren hervorbringt. Aber sein Dolch war die einzige Waffe, die er besaß. Er warf einen raschen Blick auf das Doppelgewehr des Senators, von dem dieser einen Gebrauch machen sollte, der verderblicher für seine Gefährten als für die Jaguare ausfallen konnte. Nach dem krampfhaften Zittern seiner Hand zu urteilen, mußte sein Auge verdunkelt genug sein, um das Ziel zu verfehlen.
   Der Senator wieder warf seinerseits einen neidischen Blick auf die Stellung, die Tiburcio nun mitten in der Gruppe einnahm, die von den beiden Gefährten Benitos, dem alten Vaquero selbst, Baraja und Cuchillo gebildet wurde.
   Tiburcio bemerkte einen solchen Blick. »Herr Senator«, sagte er zu ihm, »es schickt sich wohl nicht, daß Ihr ein so kostbares Leben wie das Eure so aufs Spiel setzt. Ihr habt Verwandte, eine edle Familie; ich habe niemand, der mich beweinen wird.«
   »Die Wahrheit ist«, erwiderte der Senator, »daß, wenn die anderen auf mein Leben nur halb soviel Wert legen, als ich es tue, mein Tod ihnen einen schrecklichen Kummer verursachen wird.«
   »Nun, dann wollen wir die Plätze wechseln; gebt mir dieses Gewehr, und ich werde mit meinem Leib ein Wall für Euch sein gegen die Tatze und den Zahn des Jaguars.«
   Dieser Versuch Tiburcios geschah in dem Augenblick, als die hohlen Stimmen des wilden Paares noch abwechselnd ertönten. Aber plötzlich vereinten sich beide zu einem Brüllduett, das den Widerhall zerriß und die Luft über den Gipfeln der Bäume durchzitterte. Unter dem Eindruck dieses furchtbaren Stückes wurde der von Tiburcio vorgeschlagene Tausch angenommen. Der Senator nahm seinen Platz ein, während jener mit funkelnden Augen und zusammengepreßten Lippen einige Schritte vor die Gruppe trat und, das Gewehr im Anschlag, den unvermeidlichen Angriff eines der beiden Jaguare erwartete.
   Don Estévan und er schienen unbeweglich und unerschütterlich wie zwei Statuen. Der ungleiche Widerschein erleuchtete diese so seltsam vom Zufall zusammengeführten Männer, von denen keiner dem anderen – weder an Stolz noch an Mut – nachstand.
   Der Augenblick wurde immer entscheidender. Die beiden Jaguare befanden sich nun ihren würdigen Gegnern gegenüber. Die Glut der Feuerstelle warf kaum noch einen bleichen Widerschein umher. Indes sollte ein neues Ereignis bald die Lage der Dinge verändern. Um dieses begreiflich zu machen, ist es nötig, genau die Stellung der Männer und die örtlichen Verhältnisse anzugeben.
   Wir haben schon erwähnt, daß das Lager in einem Raum aufgeschlagen war, der sich zwischen der Baumeinfassung des kleinen Tals, wo die Poza gegraben war, und dem Saum eines Waldes befand, der von dem Weg, der zur Hacienda del Venado führte, durchschnitten wurde. Gerade den Mittelpunkt dieses Raumes hatte man zum Lagerplatz gewählt, doch näher der Zisterne als dem Wald. Ziemlich hohe Eisenholzgebüsche umgaben diese Lichtung an den beiden anderen Seiten. In der Richtung diesseits der Poza einerseits und jenseits des Waldsaums andererseits ließ sich das Brüllen vernehmen. An der ersten Seite befand sich Tiburcio, an der anderen Don Estévan; die Männergruppe war mitten zwischen beiden.
   In einem der Augenblicke fürchterlichen Schweigens, das alle Schrecken des Unbekannten birgt, ließ sich das klagende Geheul eines Schakals in einiger Entfernung jenseits der Hecke von Eisenholz hören; aber so traurig auch diese Art von Geschrei war, so erschien es doch wie eine sanfte Melodie im Vergleich mit dem Brüllen der Jaguare.
   »Ein Schakal wagt es, so nahe bei einem Jaguar zu kläffen? Das scheint mir sonderbar«, sagte der alte Vaquero leise.
   »Aber ich habe sagen hören, daß, wenn der Jaguar jagt, der Schakal ihm heulend folgt«, antwortete Tiburcio in demselben Ton.
   »Es ist etwas Wahres dran«, antwortete Benito; »aber der Schakal wagt nur, dicht beim Jaguar zu kläffen, wenn der letztere seine Beute zerreißt; es ist eine demütige Bitte, ihm seinen Teil davon übrigzulassen. Aber wenn der Jaguar auf der Jagd ist, so hütet er sich wohl, sich hören zu lassen, aus Furcht, selbst seine Beute zu werden. Es ist wirklich seltsam«, sagte noch einmal der alte Hirt, als ob er laut dächte; »aber, bei Gott, da ist ein zweiter Schakal auf dieser Seite!«
   Wirklich stieg derselbe klagende Ton, genauso abgemessen als der erste, langsam inmitten des Schweigens empor, und zwar in der entgegengesetzten Richtung. »Ich wiederhole«, nahm Benito das Wort: »Schakale würden nicht so keck sein, sich so zu verraten; das müssen zwei Wesen anderer Art sein, die sich nicht vor den Jaguaren fürchten.«
   »Welche meint Ihr?« fragte Tiburcio erstaunt.
   »Zwei menschliche Wesen; zwei kühne amerikanische Jäger; ich wette darauf.«
   »Zwei Jäger aus dem Norden, meint Ihr?«
   »Ja, sie allein sind mutig genug, auf diese gefährlichen Tiere des Nachts Jagd zu machen. Sie haben sich ohne Zweifel getrennt und gebrauchen ein besonderes Zeichen, um sich wieder zu vereinigen.«
   Indes mußten die beiden Jäger – wenn es wirklich solche waren – mit großer Vorsicht herankommen, denn man hörte nicht den geringsten Zweig brechen, nicht das kleinste Blättchen rauschen.
   »He, da am Feuer!« schrie plötzlich eine Stimme, ähnlich der der Matrosen, die sich in der Nacht anrufen: »Nos acostons; fürchtet euch nicht, und gebt nicht Feuer.« Die Stimme hatte einen fremdartigen Akzent, der teilweise die Voraussetzung des alten Vaqueros bestätigte; aber das sonderbare Aussehen des Mannes, der sich nun zeigte, machte endlich eine Gewißheit daraus.
   Es ist hier nicht der rechte Ort, die herkulische Gestalt und den bizarren Anzug des Ankommenden zu beschreiben; er wird eine zu hervorragende Rolle in dieser Erzählung spielen, als daß wir nicht später Gelegenheit haben sollten, sein Porträt zu entwerfen. Es wird hinreichen zu sagen, daß es eine Art Riese war, bewaffnet mit einer langen, schweren Büchse mit einem dicken sechseckigen Lauf.
   Das lebhafte Auge des amerikanischen Jägers hatte bald die ganze Gruppe überflogen und ruhte mit einigem Wohlgefallen auf Tiburcio. »Der Teufel hole euer Feuer!« sagte er in rauhem Ton, der aber nicht ohne Gutmütigkeit war. »Ihr macht uns seit zwei Stunden die beiden schönsten gefleckten Panther scheu, die jemals in diesen weiten Einöden gebrüllt haben.«
   »Scheu machen?« unterbrach Baraja. »Caramba, sie vergelten es uns wahrhaftig!«
   »Ihr werdet doch das da auslöschen, hoffe ich«, erwiderte der Jäger.
   »Unsere Feuer? Unseren einzigen Schutz?« schrie der Senator. »Denkt Ihr das wirklich?«
   »Euren einzigen Schutz?« wiederholte erstaunt der Amerikaner. Und er zählte mit dem Finger den ganzen Kreis. »Was?« nahm er wieder das Wort. »Acht Menschen haben nur ein Feuer zum Schutz gegen zwei armselige Jaguare? Ihr wollt Euch wohl über mich lustig machen!«
   »Wer seid Ihr denn?« fragte Don Estévan gebieterisch.
   »Ein Jäger, wie Ihr seht.«
   »Ein Jäger von was?«
   »Mein Gefährte und ich, wir jagen Ottern, Biber, Wölfe, Jaguare und Indianer – wie es sich eben trifft.«
   »Der Himmel schickt euch zu unserer Befreiung!« rief Cuchillo.
   »Keineswegs«, antwortete der Jäger, dem das Aussehen Cuchillos ohne Zweifel mißfiel; »mein Kamerad und ich, wir haben ungefähr zwei Meilen von hier einen Puma und ein Paar Jaguare gefunden, die sich den Körper eines toten Pferdes streitig machten.«
   »Des meinigen«, unterbrach Tiburcio.
   »Des Eurigen? Armer junger Mann!« erwiderte der Jäger im Ton rauher Herzlichkeit. »Nun, ich freue mich, Euch hier zu sehen; ich glaubte nicht, daß der Herr des Pferdes noch unter den Lebenden sein würde. Also«, fuhr er fort, »wir haben den Puma getötet und bis hierher die Spur der beiden Jaguare verfolgt, die ihr gehindert habt, an der Poza ihren Durst zu löschen. Wenn ihr also wollt, daß wir euch davon befreien, so müßt ihr das Feuer auslöschen – und zwar sogleich – und uns unseren Willen lassen.«
   »Und wo ist Euer Begleiter?« fragte Don Estévan, bei dem sich der Wunsch regte, zwei Männer solchen Schlages für seine Expedition zu gewinnen.
   »Er wird sogleich kommen. Also ans Werk, sonst überlassen wir es euch selbst, euch so gut ihr könnt aus der Verlegenheit zu ziehen.«
   Es war so viel Autorität, so viel Überzeugung in dem Ton des Jägers und unerschütterliche Gewißheit in seinen Behauptungen, als er vortrat, um das Feuer auszulöschen, daß Don Estévan seinem Wunsch nachgeben mußte. Die Glut wurde auseinandergeworfen. Dann ließ der Amerikaner einen zweiten Schakalruf hören, und noch war keine Minute verflossen, als der Gefährte des Jägers seinerseits bei dem Amerikaner stand.
   Obgleich der zuletzt Gekommene von ziemlich hohem Wuchs war, so schien er doch nur ein Zwerg im Vergleich mit dem ersten. Er war nicht weniger sonderbar gekleidet als jener, allein die Dunkelheit ließ seine Züge und seine Kleidung nicht genug hervortreten. Es wird auch von ihm später noch die Rede sein. »Endlich ist euer höllisches Feuer aus«, sagte er; »aus Mangel an Holz ohne Zweifel, das keiner von euch noch hat sammeln wollen.«
   »Nein«, sagte der erste Amerikaner, »diese Herren sind dahin gekommen, sich gern auf uns zu verlassen, um sie von den beiden Tieren zu befreien, denen sie menschenfreundlich verwehren, ihren Durst zu löschen.«
   »Hm«, brummte der Senator, »ich weiß nicht, ob wir klug daran getan haben. Wenn ihr sie nun fehlt?«
   »Sie fehlen? Wie soll das zugehen?« fragte der zuletzt Gekommene. »Wahrhaftig, wenn ich nicht gefürchtet hätte, den anderen Jaguar zu verjagen, wenn ich den einen tötete … Ich habe ihn mehrere Male vor dem Lauf meiner Büchse gehabt und wollte eben der Versuchung nachgeben, als das mit meinem Gefährten verabredete Zeichen – das Kläffen eines Schakals – mich hierherführte.«
   »Ich hoffe, diese Reisenden endlich zu überzeugen, und habe Euch darum zu mir gerufen«, sagte der große Jäger.
   »Ihr wußtet also schon, daß wir da waren?« fragte Baraja.
   »Ganz gewiß; seit zwei Stunden belauschen wir euch, ohne es zu wollen. Ach, ich kenne Länder, wo Reisende, die nicht mehr Vorkehrungsmaßnahmen träfen als ihr, sehr bald skalpiert sein würden. Doch vorwärts, Dormilon; ans Werk!«
   »Und wenn die Jaguare über uns herstürzen?« sagte der Senator.
   »Sie werden sich wohl hüten. Ihre erste Sorge ist jetzt, ihren Durst zu löschen. Ihr werdet sie sogleich vor Freude darüber heulen hören, daß sie ihre Tränke nicht mehr von der Flamme gerötet sehen, die sie mehr erschreckt als die Gegenwart des Menschen. Sie werden zuerst nur ans Trinken denken.«
   »Diese Tiere sind sehr aufgeregt, fürchte ich«, sagte Baraja. »Aber was wollt ihr denn tun?«
   »Was wir tun wollen?« erwiderte der Jäger mit Namen Dormilon. »Etwas sehr Einfaches. Wir werden uns dicht bei der Zisterne aufstellen; die beiden Jaguare werden kommen; mein Gefährte hier wird den einen nehmen, ich den anderen, und ich bürge Euch dafür, daß sie keinen Hunger noch Durst mehr haben werden, sobald wir sie nur beim Schein des Mondes aufs Korn genommen haben.«
   »Ach, das scheint Euch einfach?« rief Cuchillo, wirklich verwundert über die Einfachheit dieses Planes.
   »Einfach wie ›guten Tag‹«, sagte der Schläfer. »Aber halt – was habe ich euch gesagt?«
   Ein zweifaches gleiches Brüllen, das diesmal von einem Punkt ausging, erscholl zugleich in kreischenden Tönen, die den volltönendsten Blasinstrumenten entlockt zu sein schienen. Das wilde Paar begrüßte die Rückkehr der Finsternis mit einem Freudenruf. Die Zuhörer dieses nächtlichen Konzerts konnten mit diesem schrecklichen Klang vermischt das Schnauben der Nüstern hören, die mit Wonne den frischen Duft der Quelle einatmeten.
   Die Reisenden warfen einen ängstlichen Blick um sich, aber während die Hohlwege des Waldes und der Ebene noch das Brüllen der Jaguare wiedergaben, hatten sich die beiden Jäger entfernt, und sie bemerkten nur noch zwei Gestalten, die längs der Bäume der Poza hinkrochen. Die Läufe der amerikanischen Büchsen blitzten noch unter den Strahlen des Mondes; dann verschwand alles in der Tiefe des engen Tals.
   Ein Stiergefecht ist ohne Zweifel ein schönes Schauspiel – namentlich wenn eines dieser Tiere unter dem Feuer der Bandilleras im Zirkus umherspringt oder wenn es mit dem Fuß die Erde aufwühlt und mit vorgestreckten Hörnern und funkelnden Augen in dem Moment brüllt, wo es sich auf den Matador stürzt —, aber wenn die Zuschauer von dem wütenden Tier nur durch eine einfache Schranke getrennt wären, so würde das Schauspiel für sie zweifellos allen Reiz verlieren.
   Ein Kampf zwischen Tigern und Menschen mußte für die römischen Zuschauer ein noch viel anziehenderes Schauspiel sein als ein Stiergefecht in unseren Tagen. Aber jedenfalls wäre der Zirkus weniger voll gewesen, hätten nicht eiserne Schranken und hohe Einfassungen die Umstehenden vor den Wechselfällen des tödlichen Kampfes zwischen Mensch und Tier gesichert.
   Nur ein enger Raum – kaum ein Drittel so groß wie der Sprung eines Jaguars – und die Baumeinfassung allein trennte hier die Reisenden vom Schauplatz des Kampfes, der zwischen den beiden Reisenden und dem wilden Paar bevorstand. Einer der menschlichen Darsteller brauchte nur aus der Rolle zu fallen, und die Zuschauer waren genötigt, seinen Platz einzunehmen. Das ist eine ausnahmsweise Lage, reich an Aufregungen, wovon wir aus Erfahrung sprechen könnten, hätten wir es nicht schon anderswo getan.
   In dem Augenblick, als die Jäger in dem kleinen Tal, in dessen Mitte sich die Tränke befand, verschwanden, hörte das freudige Gebrüll auf – ein Zeichen, daß die beiden durstigen Tiere die Lichtung umkreisten, um die Zisterne zu erreichen. Die Reisenden hielten den Atem an, und das tiefste Schweigen herrschte im Wald, den der Mond mit seinem ruhigen Licht beschien. Sie konnten sogar in der Ferne das geringste Rauschen der Zweige hören, die die beiden wilden Tiere auf ihrem Weg nach dem Tal zerknitterten; denn wenn auch das Feuer ausgelöscht war, so belehrte sie nichtsdestoweniger ihr Instinkt von der Gegenwart des Menschen. Der amerikanische Jäger hatte sich nicht getäuscht, wenn er sagte, daß für den Augenblick die Befriedigung eines verzehrenden Durstes die Sorge für beide sein würde, die sich zuerst geltend macht.
   Man weiß, bis zu welcher Höhe die kleinen Speicheldrüsen den Durst beim Katzengeschlecht steigern; aber eine vorsichtige Klugheit ist auch der unterscheidende Zug dieser Rasse, und die beiden Jaguare – wenn auch von der Gier zu trinken verzehrt – schienen doch einen Kampf vermeiden zu wollen, um ihn vorteilhafter dann aufzunehmen, wenn sie einmal das Feuer, das ihre Kehle verbrannte, gelöscht hätten. Daß sie nachher auch einen Versuch machen würden, ihren Hunger zu befriedigen, dieser Punkt ließ wirklich keinen Zweifel zu; und ungeachtet der unerschütterlichen Zuversicht, mit der einer der fremden Jäger versichert hatte, daß die beiden Tiere keinen Hunger und keinen Durst mehr haben würden, war es doch eine furchtbare Probe, auf die die Reisenden gestellt wurden.
   Trotz dieser für die Zuschauer kritischen Lage müssen wir doch einen Augenblick aufhören, uns mit ihnen zu beschäftigen, um unsere Aufmerksamkeit den beiden Jägern zuzuwenden, die viel mehr als sie der Gefahr ausgesetzt waren und folglich auch der Teilnahme würdiger sind.
   Der Mond stand noch nicht hoch genug am Himmel, um seine Strahlen bis auf den Grund des kleinen Tals zu werfen, in das sie hinabgestiegen waren, und im Vergleich mit dem lebhaften Licht, das ringsum glänzte, schien dieser dunkle Grund noch schwärzer zu sein. Kaum hätte das menschliche Auge die beiden Jäger unterscheiden können, die, die Büchse in der Hand, das Messer zwischen den Zähnen und ein Knie am Boden, die Rücken aneinandergelehnt hatten. Diese Stellung machte die Grundfläche des menschlichen Körpers breiter und gab ihnen mehr Halt, um nötigenfalls den ungestümen Angriff eines ihrer Gegner auffangen zu können, obgleich einer der Jäger – um die Wahrheit zu sagen – von einer Stärke schien, aufrecht, ohne zu wanken, den Anprall eines Löwen des Atlas zu ertragen. Dazu konnten sie auch Rücken an Rücken mit den Augen den ganzen Raum umspannen, den die Jaguare durchschreiten mußten, und somit eine beiderseitige Überraschung vermeiden.
   Nach einigen Minuten konnte die keuchende Gruppe der Zuschauer durch die Bäume zwei fahle Körper mit flammenden Augensternen bald springend, bald kriechend schlüpfen sehen; ihr Anblick – wenn man sich nicht schon daran gewöhnt hatte – war derart, daß das Herz des mutigsten Mannes zu Eis erstarrte. Geschmeidig wie Lianen, zeigten die beiden herankommenden Tiere vier strahlende Punkte; vier stets bewegte Feuerkugeln, ähnlich den Flocken, die die Waldluft auf die Blätter der Bäume Amerikas streut.
   Die im Tal verborgenen Jäger konnten noch nichts sehen; das einzige Zeichen der Annäherung ihrer Feinde war ein dumpfes, zorniges Knurren, das diesen Tieren beim Anblick und der Witterung der Menschen entschlüpft, und ein wonniger Schauer, den ihnen die Nähe der klaren Quelle der Poza erregte. Trotz der herankommenden Gefahr machte doch keiner der Jäger eine Bewegung, und eine bronzene Feldschlange auf ihrer Lafette konnte nicht fester liegen, als der Lauf ihrer Büchse in ihrer Hand erschien.
   Indessen hatten sie auch einen durchaus erprobten Mut oder ein blindes Vertrauen auf ihre Geschicklichkeit nötig, um so, ohne zu zittern, im Grund eines engen, von abschüssigen Rändern eingeschlossenen Tals, einen Kampf Leib gegen Leib – ohne Hoffnung auf Flucht – mit zwei Gegnern anzunehmen, die der Durst rasend machte und deren Wut durch eine Wunde, wenn sie nicht tödlich war, verzehnfacht werden mußte. Auf dem Grund dieses Tales mußten sie siegen oder sterben.


   10. Zwei Belastungszeugen

   Die Zuschauer des schrecklichen Kampfes, der beginnen sollte, sahen bald die Jaguare plötzlich anhalten wie Spürhunde, die stehen. Ein Brüllen getäuschter Hoffnung entwand sich ihrer Brust. Sie hatten eben zwei neue Feinde gewittert, die sie vorher noch nicht wahrgenommen hatten. Das wilde Paar war nur noch einige Schritte von der Zisterne entfernt. Einen Augenblick standen Männchen und Weibchen wie auf Verabredung still, streckten sich ihrer ganzen Länge nach aus, schlugen die Weichen mit dem Schweif und taten einen furchtbaren Satz, währenddessen sie förmlich über dem Erdboden zu schweben schienen.
   Ein Schuß, gefolgt von einem schrecklichen Brüllen, ließ sich im selben Augenblick hören. Einer der Jaguare, durch die Büchse eines der Jäger gleichsam im Flug getötet, überschlug sich in der Luft und fiel leblos auf den Grund des Tals. Der andere sprang hinein voll Wut und Kraft.
   Da gab es nun einen verwirrten Lärm von menschlichen Stimmen und von Gebrüll, als ob die beiden Jäger sich Leib gegen Leib mit ihren Gegnern auf dem Boden wälzten; dann folgte eine zweite Entladung, und ein letztes Brüllen – anfänglich hell und scharf, aber stufenweise abnehmend – beendete die kurze Szene, deren Zusammenhang die erschreckten Zuhörer nur erraten konnten.
   Dann erst, als der größere Jäger seine hohe Gestalt am Rand des Tals zeigte, liefen alle eifrig hinzu. »Seht«, sagte er zu ihnen, »was zwei Kentuckybüchsen und ein gutes Messer in den Händen vermögen, die an ihre Führung gewöhnt sind!«
   Aber die Dunkelheit hinderte sie anfangs, genau zu sehen, und erst nach einigen Minuten konnten sie die Leichname der beiden Jaguare auf der Erde ausgestreckt und den Jäger mit Namen Dormilon beschäftigt erblicken, einen langen Riß, der hinter dem Ohr begann, über die Schulter in einer breiten Furche weglief und oberhalb der Brust endete, mit kaltem Wasser zu baden.
   »Das tut nichts«, sagte Dormilon; »ein Messer ist besser als die schärfsten Krallen. Bitte – urteilt darüber, und schaut die tödliche Wunde!«
   Wirklich hatte die Schmarre, die er bekommen hatte, obgleich sie tief war, doch nur das Fleisch zerrissen, während einer der neben ihm liegenden Jaguare seine Eingeweide durch eine ungeheure, mehr als einen Fuß lange Wunde verlor. Das war der Gnadenstoß für das arme Tier gewesen, das durch eine Kugel nicht hatte getötet werden können. Was den anderen betrifft, so hatte das Blei des Jägers ihn so dicht am Gehirn getroffen, daß der Tod augenblicklich eingetreten war.
   »Gibt es nicht«, fragte Dormilon, »eine Hacienda nicht weit von hier, wo man zwei schöne Jaguarhäute und eine dritte von einem Puma verkaufen könnte?«
   »Gewiß«, antwortete Benito; »wir gehen selbst nach der Hacienda del Venado, die nur einige Meilen von hier liegt und wo ihr außer fünf Piastern, die man euch für jede Haut bezahlen wird, noch eine Belohnung von zehn anderen Piastern erhalten werdet.«
   »Was sagt ihr dazu, Kanadier? Wollen wir bis dahin?«
   »Ja, gewiß, fünfundvierzig Piaster lohnen die Mühe, und wenn wir einen Augenblick geschlafen haben, wollen wir uns auf den Weg nach der Hacienda machen. Aber ich meine, wir werden dort viel schneller ankommen als ihr, wenn ihr eure Pferde nicht wiederzubekommen sucht, von denen kein einziges zu eurer Verfügung steht.«
   »Seid unbesorgt um uns«, antwortete der alte Hirt; »es ist nicht das erstemal, daß ich Haufen von Pferden gesehen habe, wie sie, von einem tollen Schrecken ergriffen, sich so in die Wälder zerstreuten; aber ich habe mein erstes Handwerk nicht vergessen! Morgen, wenn die Sonne aufgeht, denke ich sie zurückgebracht zu haben, und mit Erlaubnis Don Estévans will ich meine zwei Gefährten nehmen und sogleich aufbrechen, sie wieder zu suchen.«
   Nichts hinderte jetzt mehr, daß man das Feuer für den Rest der Nacht wieder anzündete, denn die Sterne zeigten, daß es noch nicht einmal elf Uhr war. Man nahm also die letzten Vorbereitungen zum unterbrochenen Abendessen wieder auf. Die wieder angezündeten Kohlen verbreiteten aufs neue eine freundliche Helle; der Hammel entsandte einen appetitlichen Duft, als der Spanier und der Senator die beiden unerschrockenen Jäger, die ihnen einen Dienst erwiesen hatten, den man nicht wieder vergißt, zu sich einluden.
   »Kommt her«, sagte der Senator zu ihnen, »ihr braven Jäger, deren unverhoffte Hilfe und erprobte Unerschrockenheit wir so wohl zu würdigen wissen! Ein Stück Braten und ein Schluck katalonischer Wein werden nicht zuviel sein nach dem rauhen Werk, das ihr eben beendet habt.«
   »Oh«, sagte der älteste Jäger, indem er sich mit seiner athletischen Gestalt neben das Feuer stellte, »es ist keine große Sache, zwei armselige Tiere getötet zu haben. Wenn wir aus einem Kampf kämen mit einem Dutzend Indianern – Komantschen, Pawnees oder Sioux —, das möchte noch eher der Mühe wert sein, davon zu reden. In jedem Fall aber ist vor wie nach dem Kampf ein Stück Braten immer willkommen. Auf, Dormilon, komm auch herbei!« sagte er zuletzt zu seinem Kameraden.
   »Und Ihr auch, junger Mann!« sagte seinerseits der Spanier, indem er Tiburcio, der sich abseits hielt, ein Zeichen gab. »Wollt Ihr nicht die Gastfreundschaft teilen, die wir Euch wie diesen braven Jägern anbieten können?«
   Der junge Mann gehorchte der Einladung des Führers, und zum erstenmal erschien seine Gestalt in der strahlenden Helle des Feuers. Einen Augenblick schienen die Augen Don Estévans ihn mit ihrem Blick verschlingen zu wollen.
   Wirklich war auch das Gesicht Tiburcio Arellanos bemerkenswert. Obgleich es jetzt nur den Ausdruck einer ruhigen Melancholie zeigte, so waren doch die Adlernase mit den unruhigen Flügeln, schwarze, nicht sehr tief unter dicken Augenbrauen liegende Augen, ein olivenfarbiger Teint – den jedoch der schwarze Bart matt bleichte – und dazu die äußerst zusammengezogene Oberlippe Beweise von feurigen Leidenschaften.
   Ein Haar, mehr dunkel kastanienbraun als schwarz, beschattete seine Stirn. Er war groß und schlank, aber seine breiten Schultern, seine enge und geschweifte Taille, seine weißen kräftigen Hände zeugten von einer europäischen Kraft, die nötigenfalls die unter dem heißen Himmel des weichlichen spanischen Amerika entwickelten Leidenschaften unterstützen mußte. Die Traurigkeit, die seine edlen Züge ausdrückten, mäßigte in diesem Augenblick die fast wilde Energie seiner Augen. Das war gewiß der Sohn eines großen Geschlechts, in ein kaum halb zivilisiertes Land verpflanzt.
   »Das sind die Figur und die Haltung Juans de Mediana«, sagte Don Estévan de Arechiza leise zu sich. Aber da es für ihn ohne Zweifel von Wichtigkeit war, das Geheimnis, das er eben entdeckt hatte, nicht zu verraten, so verbarg er unter einem kalten Äußeren Gedanken, die niemand argwöhnen sollte.
   Es war noch ein anderer Mann da, der beim Anblick des lebhaft von der Flamme beleuchteten Tiburcio aufschrak und die Augen schloß, als ob ihn der Blitz geblendet hätte. Er wollte auf ihn zugehen, als ein zweiter Blick ihn ohne Zweifel enttäuschte, denn er setzte sich wieder mit einem Lächeln über seinen Irrtum. Dieser Mann war der älteste und stärkste der beiden Jäger. An den Blicken indes, die er kaum von ihm wandte, konnte man leicht sehen, daß das erste Gefühl von Zuneigung, das er für Tiburcio empfunden hatte, sich nicht verlor. – Dann gingen seine Augen von einem zum anderen der um die Feuerstelle gruppierten Tischgenossen; bald mit kalter, beobachtender Ruhe, bald mit einer Lebhaftigkeit, die einen Mann in ihm erkennen ließ, der durch seine Lebensart gewohnt war, Menschen und Gegenstände, von denen er umgeben war, sorgfältig zu studieren.
   »Aber so komm doch, Dormilon! Man sollte meinen, du scheutest dich, herzukommen«, sagte der Jäger zu seinem Gefährten. »Beweise doch, daß du Lebensart besitzt.«
   Der zweite Jäger kam herbei, indem er Worte ohne Zusammenhang vor sich hinmurmelte, von denen man nur folgende verstand: »Ganz gewiß … aber das ist… Teufel … die Gestalten …« Und während er sich näherte, zog er eine Mütze aus Pelzwerk, die er trug, so über seine Stirn, daß seine Augen nicht zu sehen waren; und aus einem karierten, beinahe zerfetzten Taschentuch, mit dem er die Wunde an seinem Hals verbunden hatte, machte er sich eine Maske, die von seinem Gesicht nur einen Mund voll solcher Zähne sehen ließ, daß er ein tüchtiger Tischgenosse zu sein versprach. Dann nahm er, als ob diese Vorsichtsmaßnahmen noch nicht hinreichten – ebenso wie Odysseus bei seiner Heimkehr zu Penelope —, einen solchen Platz an der Feuerstelle ein, daß er im Schatten verborgen blieb.
   »Gibt es in Eurem Land viele Männer von Eurer Kraft und von Eurem Wuchs?« fragte der Senator den kräftigen Jäger, der aß und trank wie zwei gewöhnliche Männer.
   »In Kanada«, antwortete dieser, »würde ich niemandem auffallen; fragt nur meinen Kameraden Dormilon.«
   »Ganz gewiß; es ist wahr!« murmelte sein Gefährte.
   »Aber ihr seid also nicht aus demselben Land?« nahm der Senator wieder das Wort.
   »Dormilon ist gebürtig aus Sp…«
   »Aus dem Staat New York!« unterbrach eilig der Jäger, während der Kanadier ihn mit erstaunter Miene anblickte, ohne ihn jedoch Lügen zu strafen.
   »Und welches Handwerk treibt ihr?«
   »Wir sind ›Coureurs des bois‹«, antwortete der Kanadier.
   »Was?« sagte der Senator, der diese drei französischen Worte nicht verstand.
   »›Rangers of the woods‹«, erwiderte der Kanadier englisch. Und da der Senator dies ebensowenig verstand, fügte er hinzu: »Das heißt, unser Leben geht damit hin, die Wälder zu durchstreifen, ohne einen anderen Zweck als den, dem beengten und abgeschlossenen Leben in den Städten zu entgehen. Aber das ist eine Beschäftigung, die immer seltener wird, und wenn wir beide nicht mehr sein werden, so wird das Geschlecht der Waldläufer in Amerika erlöschen. Weder Dormilon noch ich haben einen Sohn, der die Beschäftigung des Vaters fortsetzen könnte.«
   In den letzten Worten des Kanadiers lag ein Anflug von Melancholie, der mit seiner sonst rauhen Lebensweise in völligem Widerspruch stand.
   Don Estévan mischte sich hier in die Unterhaltung. »Das ist eine traurige Beschäftigung«, sagte er, »und wenn ihr die Unseren bei einer Expedition sein wollt, die wir zu unternehmen im Begriff stehen, so könnte ich euch wohl als euern Anteil die Mützen mit Goldstaub füllen. Sagt, willigt ihr ein?«
   »Nein«, antwortete geradezu der Gefährte des Kanadiers.
   »Ein jeder bleibe bei seinem Geschäft«, erwiderte der letztere; »wir sind keine Goldsucher. Und dann gehen wir auch gern, wohin es uns gefällt, ohne Führer, ohne Überwachung – mit einem Wort: Wir wollen frei sein wie die Sonne oder der Wind auf den Savannen.«
   Diese Antwort wurde in einem so entschiedenen Ton gegeben, daß der Spanier darauf verzichten mußte, einen Entschluß wankend zu machen, der unerschütterlich schien, und jedermann dachte nur noch daran, so bequem wie möglich die Nacht hinzubringen.
   Alle außer Tiburcio schliefen auch bald ein. Tiburcio aber war noch sehr jung, hatte vor kaum vierundzwanzig Stunden eine Frau verloren, die er wie seine Mutter liebte – und Tiburcio war verliebt! Drei Gründe, um nicht zu schlafen, sondern zu träumen. Anfangs bemächtigte sich eine tiefe Traurigkeit seiner Seele. Er befand sich in einer Lage, wo die Vergangenheit ebenso geheimnisvoll, seinen Augen ebenso undurchdringlich war wie die Zukunft.
   »Ach, meine Mutter«, sagte er bei sich, denn immer bestand in seinem Herzen dieser Muttername; »ach, meine Mutter! Wer wird mir nun sagen, wer ich bin?«
   Und er schien zu lauschen, als ob die Seufzer des Windes in den Blättern sich zur Stimme hätten gestalten können, um ihm Antwort zu geben. Tiburcio war weit entfernt, zu ahnen, daß es unter diesen Männern, die im Schein des Mondes oder dicht an der Feuerstelle lagerten, einen gab, der ihm den Namen sagen konnte, den er hätte tragen sollen.
   Aber sterbend hatte ihm die Witwe Arellanos wenigstens ein Geheimnis enthüllt, das vielleicht interessanter war als das seiner Geburt. Die Entdeckung eines verborgenen Schatzes öffnete plötzlich den Augen Tiburcios eine glänzende Aussicht in die Welt seiner Träume; ein Traum selbst, glänzend wie der Stern, der aus der Nebelhülle hervortritt, strahlte vor seinen Augen. Eine Erscheinung, die er in seiner ersten Lage nur als ein Trugbild zu liebkosen wagte, trat plötzlich in die Wirklichkeit ein. Eine unüberschreitbare Entfernung schien sich auszufüllen, als ob durch Feenhand eine Brücke über einen Abgrund geworfen worden wäre.
   Das Gold tut täglich diese Wunder. Hatte er nicht den Besitz einer reichen Goldmine in Aussicht? Er wagte es also, einen gestörten Traum wiederaufzunehmen, sich an das zu erinnern, was er von seiner Vergangenheit wußte, und sich die Zukunft auszumalen. Er begann, wieder vom Anfang an zu träumen. Zwei Jahre versetzte er sich zurück, und die Schranken des Zweifels und der Entmutigung fielen vor ihm wie ein düsterer Vorhang vor dem Zeichen des Maschinisten oder vor dem Stab eines Zauberers. Gerade wie diese Nacht hier, in der er jetzt träumte, öffnete ein weiter Wald vor seinen Augen seine durch die Dämmerung verdunkelten Bogengänge:
   Ein Mann, ein junges Mädchen und Diener zu Pferd stellten sich ihm dar, unruhig und verstrickt in ein unentwirrbares Labyrinth von Lianen und Gesträuchen, und begrüßten ihn als ihren Schutzengel, der sie ihrem vorgesteckten Ziel zuführen sollte. Der Mann und die Diener erschienen ihm nur noch undeutlich; aber die bleichen Wangen, die schwarzen Augen, die wie Ebenholz dunklen Haare des jungen Mädchens strahlten noch in all dem wunderbaren Glanz, der damals so großen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Wie zwei Jahre vorher beruhigte sie Tiburcio, brachte sie auf den verlorenen Weg und begleitete den Zug zwei Tage, die nur zu schnell verflossen.
   Der Wald nahm dann auf dieser kurzen Reise einen neuen Anblick für ihn an; die Pflanzen atmeten einen ganz anderen Duft aus; er dachte an die purpurfarbigen Glockenblümchen, die er pflückte und mit denen das junge Mädchen, das seine Fröhlichkeit wiedergewonnen hatte, sein schwarzes Haar schmückte und die sie ihm mit bezaubernder Nachlässigkeit zurückgab, wenn die Glut ihrer Stirn den Kelch geschlossen hatte. Er dachte an einen Haltepunkt im Wald während einer Nacht der Wonne und der Angst. Alle schliefen – die Männer auf dem Moos, das junge Mädchen auf einem Pantherfell —, er allein wachte. Ein verbrannter Eichenstamm verbreitete nur einen hinsterbenden Glanz. Die Natur war schweigsam, aber nicht stumm. Er atmete inmitten des Schweigens den Duft der Jungfräulichkeit ein, der sanft mit dem durch die Nacht wiederbelebten Wohlgeruch der Moose, Blätter und des Sassafras gen Himmel zu steigen schien. Er hörte das kaum vernehmliche Geräusch des jungfräulichen Atems, das sich mit der Harmonie der Wälder vereinigte – ein ewiges Konzert, das jede Nacht die Erde der wunderbaren Welt singt.
   Dann verschwand dies alles vor den Augen Tiburcios; das junge Mädchen kehrte nach Hause zurück. In ebendiesem Haus brachte er eine ganze Woche zu, trunken vor Liebe, aber ohne es zu wagen, seine Wünsche bis zu der, die er liebte, zu erheben. Bei den Festen der ihrer Wohnung nahe liegenden Dörfer hatte er sie hundertmal wiedergesehen, ohne mutiger zu sein, denn er war ja so arm! Aber jetzt … Tiburcio sah sich mächtig und reich und hoffte; dann fingen seine Augenlider an, schwer zu werden, und er schlief ein mitten in holden, schönen Träumen. – Ist es nötig, zu sagen, daß das junge Mädchen, das seine Erinnerung ihm wieder vorführte, die Tochter Don Agustin Peñas war und das fragliche Haus die Hacienda del Venado? —
   Bei Anbruch des Tages wurden alle Schläfer aufgeweckt durch den Ton eines Glöckchens und den Widerhall der Hufe einer Cavalcada. Es war Benito, der die erschreckte Schar der Pferde seinem Versprechen gemäß zurückbrachte. Alle Reisenden waren sogleich auf den Füßen; aber vergeblich suchten sie die beiden Jäger; sie waren nicht mehr da und hatten sich, ohne daß jemand sie gehört hätte, entfernt.
   Nachdem die Pferde gesattelt, die Maultiere beladen waren, setzte der Zug seinen Weg nach der Hacienda fort. Der Senator und Don Estévan ritten voran, während Tiburcio, der sich genötigt fand, hinter Cuchillo aufzusitzen, da diesmal kein Sattel für ihn leer war, ihnen mit Baraja folgte; dann kamen endlich die drei Diener. Die beiden Reiter waren also abermals zusammen auf demselben Weg. Der eine dachte daran, wie er die Entdeckung des Val d‘Or nur gegen das feierliche Versprechen, Arellanos zu rächen, erkauft hatte; der andere sann auf Mittel, sich Tiburcios bei erster Gelegenheit zu entledigen.
   Der Tag wich eben der Nacht, als sich nach einem langen Marsch die Gebäude der Hacienda del Venado in der Ferne abzeichneten, schon verdunkelt durch die Abenddämmerung. Einige Zeit hindurch folgte der Zug noch einem durch die Wälder sich hinziehenden Weg.
   In dem Augenblick, als der Zug den Wald verließ, um in die Ebene einzulenken, in deren Mitte sich die Hacienda erhob, traten zwei Männer aus dem Dickicht heraus, die Büchse in der Hand. Es waren die beiden Jäger, die am Morgen so plötzlich Abschied genommen hatten.
   »Du hast dich durch irgendeine Ähnlichkeit verführen lassen«, sagte der ältere der beiden Jäger – das heißt der Kanadier – zu Dormilon.
   »Ich bin meiner Sache gewiß, sage ich dir; er ist es! Fünfzehn Jahre haben nichts in seinem Aussehen und seiner Haltung geändert. Der Ton seiner Stimme ist der gleiche geblieben als zu der Zeit, da ich noch der Küstenwächter Pepe der Schläfer war. Aber seit fünfzehn Jahren haben ebensowenig meine Ohren noch meine Augen etwas vergessen. Also, Bois-Rosé, du kannst sicher glauben, was ich dir beteuere.«
   »Übrigens«, sagte Bois-Rosé, »hat man vielleicht diesen Namen nicht vergessen; man begegnet öfter dem Feind, dem man entflieht, als dem Freund, den man sucht.« Nach diesen Worten stützte der kanadische Jäger sich mit melancholischer und nachdenklicher Miene auf den langen Lauf seiner Büchse und verfolgte wieder mit dem Auge die Reisenden, die bald hinter den Mauern der Hacienda verschwanden.
   Die untergehende Sonne hüllte den Abend in purpurnen Nebel. Die einen Augenblick erleuchteten Hügel versanken in die gleichmäßige Farbe der Dämmerung, und die beiden Jäger, die ihre waldige Wohnung wieder betreten hatten, verschwanden ihrerseits in deren nächtlich dunklem Schatten.


   11. Die Hacienda del Venado

   Die Hacienda del Venado war – wie alle Wohnungen dieser Art an der indianischen Grenze, die den Einfällen umherschweifender Horden in diesen Steppen ausgesetzt sind – ebensowohl eine Art Festung als ein Landhaus. Aus Backsteinen und Werkstücken erbaut, von einer mit Schießscharten versehenen Terrasse umgeben, durch massive Tore verschlossen, konnte sie eine Belagerung durch Feinde aushalten, die erfahrener in der Kriegskunst waren als die benachbarten Stämme der Apachen.
   An einer Ecke erhob sich ein ebenfalls aus Werkstücken erbauter Turm, über drei Stockwerke hoch, der die an die Hacienda stoßende Kapelle überragte. Dieser Turm konnte noch, falls der Hauptteil der Wohnung erobert war, ein fast uneinnehmbarer Zufluchtsort sein.
   Endlich umgab noch starkes Pfahlwerk aus Palmenholz das Gebäude ganz und gar ebenso wie die Gesindewohnungen, die für die Leute und die Diener der Hacienda, für die Vaqueros und die gewöhnlichen Gäste bestimmt waren, die auf ihrer Vorbeireise von Zeit zu Zeit kamen und um gastliche Aufnahme baten. Außerhalb dieser bevorzugten Umwallung bildeten etwa dreißig Hütten eine Art kleines Dorf, bewohnt durch die Peones und ihre der Hacienda einverleibten Familien, die in Tagen der Gefahr Schutz und Zuflucht in der Festung suchen konnten und dann zugleich die gewöhnliche Besatzung verstärkten.
   Das war die Hacienda, in die wir vor den Reisenden, die wir auf dem Weg gelassen haben, eintreten wollen.
   Der Eigentümer, Don Agustin Peña, war ein reicher Mann. Außer einer reichen Goldmine, die er gar nicht weit von hier ausbeutete, besaß er noch zahllose Herden großen und kleinen Viehs, Pferde, Maultiere und Stiere, die frei umherliefen, sprangen und brüllten mitten in den ungeheuren Savannen oder den tiefen Wäldern, die die zwanzig Quadratmeilen Land, die zur Hacienda gehörten, bedeckten. Eine gleich ausgedehnte ländliche Besitzung ist nicht selten in einem Land, wo viele Besitzungen so groß sind wie ein Departement in Frankreich.
   Indes sprach man von Guaymas bis an diese Grenzen nur vom Reichtum Don Agustins und von der unermeßlichen Mitgift, die seine Tochter Doña Rosaria, die liebliche Rosarita, demjenigen zubringen würde, den sie zum Gatten wählte. Das junge Mädchen war auch das Ziel gar manchen Ehrgeizes. Übrigens hätte schon seine Schönheit – auch ohne das Vermögen, das es nach dem Tod des Vaters bekommen mußte – vollkommen genügt, um all diese Ansprüche zu rechtfertigen.
   In diesen entfernten Provinzen hat sich gewöhnlich der andalusische Typus schwächer ausgeprägt; aber er hatte bei Rosarita nichts von seiner Charakteristik verloren, und durch einen glücklichen Gegensatz vereinigte sich die Reinheit der Züge mit der Frische der Mädchen des Nordens. Die rosigen Wangen der Tochter Don Agustins gaben ihren schwarzen Augen und dem Kranz schwarzer Haare, der ihr Haupt schmückte, nur noch mehr Glanz; die glühende Sonne hatte ihren weißen Teint nicht berührt. Mit einem Wort, ihre Hände, ihre Füße, ihre Taille und jene Haltung, die, nach dem andalusischen Ausdruck »Derrama sal y perdona vidas«,Eine wörtlich nicht zu übersetzende Redeweise: »Streut Salz aus und spart das Leben.« Es kommt vom Wort »Salero«, das dazu dient, die stolze Haltung der Andalusierinnen beim Gehen auszudrücken. »Salz und Leben ausstreut«, verbanden sich bei ihr mit den Vorzügen des europäischen Blutes. Nach solcher Lobrede würde jede Beschreibung überflüssig sein. Sie war also inmitten dieser Einöden wie die Kaktusblume, die nach einer Sage aufblüht und stirbt von elf Uhr bis Mitternacht, unter den Augen Gottes allein, ohne daß es irgendeinem menschlichen Auge gegeben wäre, ihre Farbenpracht zu bewundern, ohne daß jemand an ihrem Duft sich hätte ergötzen können.
   Die unermeßliche Ebene, in deren Mitte die Hacienda del Venado lag, bot einen doppelten Anblick dar: Derjenige Teil, der an der Vorderseite des Gebäudes lag, zeigte allein Spuren einer hohen Kultur. Unübersehbare Maisfelder und weitläufige Olivenpflanzungen offenbarten die Gegenwart und die Arbeiten des Menschen. Hinter der Hacienda, aber nur einige hundert Schritt von der Ringmauer, hörte der urbar gemachte Boden auf, und noch jungfräuliche Wälder dehnten sich von da in ihrer düsteren und ursprünglichen Majestät aus. Der angebaute Teil war bewässert durch einen ziemlich breiten Bach. Während der trockenen Jahreszeit floß er langsam dahin und schäumte gegen die runden Steine, die sein Bett verstopften. Aber in der Regenzeit verwandelte sich dieser kleine Bach in einen ungestümen Waldstrom, der diese ungeheuren Steine vor sich herrollte, wie die Sturzsee die Strandsteine auf das flache Ufer rollt, auch zuweilen die Ebene überschwemmte und jedes Jahr die steilen Ufer erweiterte, die ihn einengten.
   In dem Augenblick, als der Zug, der sich auf dem Weg nach der Hacienda befand, noch eine ziemliche Strecke davon entfernt war – das heißt, eine Stunde vor Sonnenuntergang —, bot die Ebene in ihren Umgebungen ein prächtiges Schauspiel, besonders für das Auge des Reisenden, der es müde ist, dürre Einöden zu durchziehen.
   Ein Lichtglanz, goldig wie derjenige, der die Wellen des Ozeans liebkost, wenn die Sonne in seine Fluten taucht, spielte auf den wellenförmigen Bewegungen, in die der Abendwind die grünen, biegsamen Halme der Maisfelder versetzte. Die weißen Blüten der Olivenbäume, sanft von diesem erfrischenden Windhauch geschüttelt, fielen wie Schneeflocken auf den Rasen, der sich gleich einem Teppich unter ihnen ausbreitete. Die Arbeiter suchten nach einem mühevollen Tagewerk ihre Hütten; die einen mit den Werkzeugen des Ackerbaus beladen, andere mit einem langen, spitzen Stab bewaffnet, um damit die lässigen Ochsen anzutreiben.
   An den Rand des Baches, der sanft die langen Halme der Pflanzen umrieselte, die von seinem klaren Wasser Nahrung empfingen, kamen Tausende von Tieren, um nacheinander ihren Durst zu löschen. Bald waren es lange Reihen von Stieren und Färsen, die beim Anblick ihrer Tränke brüllten. Bald waren es lange Züge frei umherlaufender Pferde, die wiehernd in großen Sätzen nach dem Fluß liefen oder auf der Ebene einander verfolgten. Der Boden zitterte unter dem Galopp dieser edlen Tiere, die, wenn auch schon vertraut mit dem Anblick des Menschen, doch noch den scheuen Stolz und die prächtige Haltung der wilden Pferde bewahrten und eine Flut von Köpfen mit blitzenden Augen, weit geöffneten Nüstern und flatterndem Mähnenhaar zeigten. Je nachdem ihr Durst befriedigt war, eilten unzählbare Züge mit der Schnelligkeit des Blitzes hinweg, wie toll hinter sich ausschlagend, schüttelten stolz den stattlichen Busch ihres Schweifes und verloren sich bald inmitten des Staubes, der unter ihren Hufen emporwirbelte.
   Der mächtigste arabische Chef, der reichste Patriarch der alten Zeit zählte niemals herrlichere und zahlreichere Herden als Don Agustin Peña auf seinen unermeßlichen Weideplätzen.
   Zur Stunde, von der wir sprechen, durchzogen zwei Männer die Ebene nach der Hacienda hin; der eine auf einem Pferd, der andere auf einer Mauleselin. Pferd und Maulesel gehörten gewiß, jedes in seiner Art, zu den schönsten Exemplaren ihrer Rasse. Das erstere mit seiner stolzen Haltung, seiner breiten Brust und seinem Schwanenhals war kaum schöner als der Maulesel, der an seiner Seite mit den feingebauten Füßen, den runden Weichen und dem glänzenden Rücken dahinschritt.
   Der erste Reiter war der Herr der Hacienda; sein Anzug bestand in einem Guayaquilstrohhut, einem feinen und weißen Batisthemd ohne Weste und einem samtenen Beinkleid mit goldenen Knöpfen, das an den Hüften zusammengeschnürt war. Der andere auf der Mauleselin war der Kaplan der Hacienda, ein verehrungswürdiger Franziskanermönch in blauer Kutte, mit einem Gürtel von seidenen Schnüren; sein Oberkleid war kavaliersmäßig oberhalb der langen Reiterstiefel, die mit langen klirrenden Sporen bewaffnet waren, zurückgeschlagen. Ein breiter grüner Filzhut, der ziemlich keck auf einer Seite saß, gab dem Franziskaner ein mehr kriegerisches als mönchisches Aussehen.
   Der Hacendero, der Herr der Hacienda, schien einen stolzen Blick auf die unermeßlichen Reichtümer zu werfen, die ihn umgaben und die nach seiner eigenen Meinung – die wir übrigens vollständig teilen – viel höher anzuschlagen waren als in der Geldkiste angehäufte Goldbarren.
   Was den Mönch anlangt, so schien er durch einen zu mächtigen Gedankengang in Anspruch genommen, um auf das Schauspiel großartigen Reichtums zu achten, das sich in der Ebene vor ihm ausbreitete.
   »Beim heiligen Julian, dem Schutzpatron der Reisenden«, sagte Don Agustin, »in den vierundzwanzig Stunden, da Ihr abwesend wart, fürchtete ich, ehrwürdiger Vater, daß ein Jaguar Euch zerrissen oder irgendein Sumpf Euch samt Eurem Maultier verschlungen hätte.«
   »Der Mensch denkt und Gott lenkt«, antwortete der Mönch. »Es ist wahr – ich war auf einige Stunden abgereist, um dem armen Joaquin, dem ein Stier den Leib aufgerissen hatte, ein christliches Begräbnis zu geben, und hatte eben die Erde, wo er eingescharrt werden sollte, gesegnet, als ein junger Mann zu Pferd schnell wie der Blitz mit bestürzter Haltung und aufgeregtem Gesicht erschien, um mich zu bitten, nach seiner Wohnung zu kommen und die Beichte seiner sterbenden Mutter zu hören; ich mußte zehn Meilen wieder zurücklegen. Ich mochte dringende Geschäfte vorschützen, soviel ich wollte, um den jungen Mann loszuwerden – ich mußte doch endlich seinen inständigen Bitten weichen. Wißt Ihr, wer es war?«
   »Wie sollte ich?« antwortete der Hacendero.
   »Tiburcio, der Adoptivsohn des Gambusinos Marcos Arellanos, war es.«
   »Wie? Seine Mutter ist tot? Das tut mir sehr leid; er ist ein braver junger Mann. Ich habe nicht vergessen, daß wir ohne ihn vielleicht vor Durst gestorben wären, meine Tochter, meine Leute und ich. Habt Ihr ihm auch gesagt, daß, wenn er ohne Hilfsquellen wäre, er willkommen sei auf der Hacienda del Venado?«
   »Nein, denn dieser Bursche hegt eine unsinnige Leidenschaft für Eure Tochter, wenn man es Euch sagen darf!«
   »Und was liegt daran, wenn meine Tochter ihn nicht wieder liebt?« antwortete Agustin. »Hätte sie ihn aber geliebt, so hätte ich mich für reich genug gehalten, um bei dem Mann, den sie ausgezeichnet hätte, nur die moralischen und physischen Eigenschaften zu suchen, die Tiburcio besitzt. Ich hatte mir zum Schwiegersohn nur einen Mann geträumt, schön, einsichtig und brav genug, um diese Grenzen gegen die indianischen Horden zu verteidigen, und ich würde alles bei ihm gefunden haben. Aber jetzt habe ich für Rosarita höhere Aussichten.«
   »Und vielleicht würdet Ihr nicht unrecht gehabt haben«, erwiderte der Mönch ernst. »Was ich erraten … was ich erfahren … habe, könnte aus Tiburcio einen noch viel begehrenswerteren Schwiegersohn machen, als Ihr ahnt.«
   »Es ist zu spät!« sagte der Hacendero. »Mein Wort ist gegeben, und ich werde es nicht wieder zurücknehmen.«
   »Dennoch habe ich gerade von ihm mit Euch zu sprechen«, erwiderte der Mönch. »Und wie dem auch sein mag, vielleicht wird es Euch nicht leid tun, mich anzuhören.«
   Die beiden Reiter waren gerade, nachdem sie durch den Palisadengürtel geritten waren, an den Fuß einer Treppe gelangt, die auf eine weite Halle und von da in den Salon der Hacienda führte. Es war dies ein weiter Saal, der durch eine Luftströmung, wie es in den heißen Ländern gewöhnlich ist, ständig kühl erhalten wurde. Feine chinesische, ausgezeichnet gearbeitete Matten bedeckten den Fußboden, der aus großen Werksteinen bestand, und andere, noch reicher gezeichnete Matten dienten als Vorhänge an den Fenstern. Die mit Kalk geweißten Mauern hoben sich durch einige seltene ausgemalte Kupferstiche in goldenen Rahmen ab; lederne Putacas, kleine Gesimse in den Ecken – auf denen in silbernen Braseros für die Raucher Kohlen, mit weißer Asche bedeckt, bereitlagen —, Sessel und ein Pfühl aus Palmrinde von englisch-amerikanischem Gepräge bildeten das ganze Hausgerät.
   Auf einem Tisch aus geglättetem Balsaholz ließen poröse Krüge das frische Wasser durchschimmern, das sich in ihnen befand. Breite Melonenschnitten boten auf einer großen silbernen Platte ihr rötliches Fleisch dar, das ein schmackhafter Saft mit rosigen Tröpfchen überstreute; Pitallas zeigten den dunklen Purpur ihrer Kerne neben Melonen und halbgeöffneten Granatäpfeln. Endlich waren auch noch Orangen, Grenadillen und süße Limonen da, und alle Früchte der heißen Klimate, die den Durst reizen beziehungsweise löschen, zeugten von den gastfreundlichen Absichten Don Agustins.
   »Erwartet Ihr denn Gäste?« fragte der Mönch beim Anblick dieser Vorbereitungen.
   »Don Estévan de Arechiza hat mich von seiner Ankunft heute abend mit einem ziemlich zahlreichen Gefolge in Kenntnis gesetzt, und ich treffe meine Maßnahmen, um einen so ausgezeichneten Gast würdig zu empfangen. Doch laßt hören, Fray José-Maria, was Ihr mir zu sagen habt!«
   Jeder setzte sich in einen Schaukelstuhl, von denen wir oben gesprochen haben, und während der Hacendero sich nachlässig, die Zigarre im Mund, darin wiegte, begann der Mönch zu erzählen.
   »Ich fand die alte Frau auf einer Steinbank ruhend an der Tür ihrer Hütte; denn sie hatte sich bis dahin schleppen können, um meine Ankunft zu erwarten.
   ›Seid gesegnet, mein Vater!‹ sprach sie zu mir. ›Ihr kommt noch zur rechten Zeit, um meine letzte Beichte zu empfangen. Mit Eurer Erlaubnis aber sollt Ihr, während Ihr Euch ein wenig ausruht, das mit anhören, was ich jetzt demjenigen sagen will, den ich immer als meinen Sohn angesehen habe und dem ich eine Rache zu hinterlassen habe, wenn ich nicht mehr sein werde.‹«
   »Wie denn, mein Vater?« unterbrach Don Agustin. »Ihr habt diesen Bruch des göttlichen Gesetzes erlaubt, das sagt: Die Rache ist mein, spricht der Herr!«
   »Warum nicht?« fragte der Mönch. »Darf nicht in diesen Einöden, in denen wir keine Tribunale haben, ein jeder an deren Stelle treten?« Nach dieser kurzen Rechtfertigung fuhr der Mönch fort: »Ich setzte mich also und hörte.
   ›Dein Vater ist nicht als ein Opfer der Indianer gefallen, wie wir es geglaubt haben‹, sagte die Kranke, sich an Tiburcio wendend; ›sein Begleiter hat ihn vielmehr erwürgt, um sich eines Geheimnisses zu bemächtigen, das ich dir sogleich sagen werde – aber nur dir allein!‹
   ›Gott allein, meine Mutter‹, erwiderte Tiburcio, ›könnte uns auch nur diesen Mann wiederfinden lassen, der uns unbekannt ist.‹
   ›Gott allein?‹ rief die Witwe mit verächtlicher Miene. ›Ist das die Sprache eines Mannes? Wenn die Indianer kommen, das Vieh des Vaqueros zu stehlen, sagt er dann: ›Gott allein kann mir zeigen, was daraus geworden ist?‹ Nein, er sucht, und sein Auge weiß die Spur zu finden. Von heute an, wenn ich deiner nicht mehr bedarf, wirst du es machen wie der Vaquero, und du wirst den Mörder wiederfinden. Das ist der letzte Wunsch der Frau, die deine Kindheit behütete, und du wirst ihn erfüllen!‹
   ›Ich werde gehorchen, Mutter‹, erwiderte der junge Mann.
   ›Höre, was ich dir noch zu sagen habe!‹ fuhr sie fort. ›Die Ermordung Arellanos‘ ist keine Vermutung – sie ist eine Wirklichkeit! Folgendes hat mir ein Vaquero gesagt, der aus der Gegend jenseits von Lubac zurückkehrte. Einige Tage zuvor war er zwei Reisenden begegnet; der eine war dein Vater, der andere war ihm nicht bekannt. Der Vaquero, der denselben Weg als sie zu verfolgen hatte, war durch Untersuchung ihrer Spuren zu der Überzeugung gekommen, die er mir mitteilte: Dicht an der Stelle, wo die beiden Reisenden übernachtet hatten, bewies das niedergetretene und mit Blut überschwemmte Gras, daß hier der Schauplatz eines schrecklichen Kampfes gewesen war. Die blutigen Spuren führten bis zu einem Fluß, in den wahrscheinlich das Opfer hineingestürzt war. Dieses Opfer war Marcos; denn weiterhin hatte der Vaquero die Richtung, die der Mörder eingeschlagen hatte, an der in den Sand gedrückten Hufspur seines Pferdes wiedererkannt; das Pferd nämlich, das dieser Mann ritt, strauchelte zuweilen auf dem linken Vorderfuß. Außerdem mußte in dem Kampf der Mörder am Fuß verwundet worden sein, denn der Eindruck des einen Fußes war viel tiefer als der des anderen und bewies offenbar, daß er seit kurzer Zeit hinke.‹«
   Der Hacendero hörte aufmerksam auf diese Probe des Scharfsinns seiner Landsleute, von dem sich zu überzeugen er täglich so viele Gelegenheiten hatte.
   Der Mönch fuhr in seiner Erzählung fort. »›Höre mich!‹ nahm die Sterbende wieder das Wort. ›Schwöre, Arellanos zu rächen, und du sollst reich genug sein, daß deine Wünsche selbst von dem stolzesten und reichsten Mädchen – wäre es auch von der Tochter Don Agustin Peñas, für die deine Neigung mir nicht entgangen ist – günstig aufgenommen werden würden. Heute kannst du ohne Torheit daran denken, denn du kannst ebenso reich sein als ihr Vater. Sage mir, ob du schwörst, überall den Mörder Arellanos‘ zu verfolgen.‹
   ›Ich schwöre es!‹ antwortete Tiburcio.
   Hierauf«, schloß der Franziskaner, »händigte die alte Frau ihrem Sohn ein Papier ein, auf dem Arellanos bei seiner Abreise die Marschroute verzeichnet hatte, die er selbst zu verfolgen gedachte. ›Mit den Schätzen, die dieses Papier dich wird finden lassen‹, fuhr die Sterbende fort, ›kannst du, wenn du willst, die Tochter eines Vizekönigs bestechen. Jetzt, mein Kind, da ich deinen Eid habe, laß mich diesem heiligen Mann beichten; ein Sohn darf niemals die Beichte der Mutter hören!‹«
   Der Mönch erzählte nun mit wenigen Worten den Tod der Witwe Arellanos‘; darauf schloß er mit den Worten: »Seht, Don Agustin, das nahm mich ganz in Anspruch und bewog mich zu dem Wort, daß Tiburcio Arellanos, obwohl von unbekanntem Herkommen, nichtsdestoweniger ein sehr annehmbarer Vorschlag für die schöne Doña Rosarita sei.«
   »Ich stimme bei«, sagte Don Agustin; »aber ich habe Euch schon gesagt, mein Wort ist an Don Estévan de Arechiza verpfändet!«
   »Wie? Dieser Spanier«, fragte der Mönch, »sollte Euer Schwiegersohn werden?«
   Der Hacendero lächelte mit geheimnisvoller Miene. »Er? Nein«, sagte er, »aber ein anderer! Don Estévan würde diese Verbindung nicht eingehen.«
   »Pest!« rief der Mönch. »Er ist schwer zu befriedigen!«
   »Vielleicht hat er ein Recht dazu«, erwiderte Don Agustin, mit derselben Miene lächelnd.
   »Aber wer ist denn dieser Mann?« fragte der erstaunte Mönch abermals.
   In dem Augenblick, als Don Agustin antworten wollte, kam ein Diener in das Zimmer, in dem diese Unterredung stattfand. »Don Agustin«, sagte er, »es sind zwei Reisende an der Eingangspforte, die Eure Gastfreundschaft für diese Nacht in Anspruch nehmen. Der eine von ihnen behauptet, mit Euch bekannt zu sein.«
   »Sie sind willkommen«, sagte der Hacendero; »laßt sie eintreten! Zwei Gäste mehr – bekannt oder unbekannt – werden hier nicht zuviel sein.«
   Einige Sekunden später kamen zwei Reiter an die Treppe, an deren oberem Ende sie der Besitzer der Hacienda erwartete. Der eine war ein Mann von etwa dreißig Jahren, dessen offenes Gesicht und hohe Stirn von ebensoviel Kühnheit als Verstand zeugten. Er war gewandt, schön gewachsen und mit Eleganz, wenn auch einfach, gekleidet.
   »Ach, Ihr seid es, Pedro Diaz!« rief Don Agustin. »Gibt es etwa einige Indianer nicht weit von hier zu töten, daß Ihr Euch in unseren Einöden befindet?«
   Pedro Diaz war in der Tat bekannt durch seinen Haß gegen die Indianer, durch seine Kühnheit im Kampf mit ihnen und durch seine Geschicklichkeit, sich aus der schlimmsten Lage zu ziehen. »Bevor ich Euch antworte«, sagte er, »erlaubt mir, Euch den König der Gambusinos und den Prinz der Musiker vorzustellen: Don Diego Oroche, der das Gold wittert wie ein Hund das Wild und die Mandoline spielt wie nur er allein.«
   Die unter dem Namen Oroche vorgestellte Person grüßte den Hacendero ernst.
   Es war indes wahrscheinlich schon lange her, daß das feine Gefühl, von dem Pedro Diaz sprach, Gelegenheit gehabt hatte, sich zu üben, oder die Karten waren dem Señor Oroche sehr ungünstig gefallen, denn sein Äußeres war nichts weniger als einnehmend. Um mit der Hand an seinen Hut zu fassen, brauchte er nicht die Falten seines Mantels in Unordnung zu bringen, in den er sich kunstvoll gehüllt hatte. Es war hinreichend, unter den Löchern dieses Mantels eines zu wählen, um nach Belieben seine mit harten und spitzen Nägeln bewaffnete Hand auszustrecken, deren wunderbare Länge ihn als einen Mandolinenspieler ankündigte. Wirklich trug er eine solche quer über dem Rücken. Während er sich höflich vor dem reichen Besitzer verneigte, fielen lange Büsche ungekämmten Haares auf sein Gesicht, straff und starr wie das Schilf, mit dem die Mythologie den Kopf der Flußgötter bekränzt.
   Als sie im Saal Platz genommen hatten, begann Diaz: »Wir haben davon gehört, daß in Arizpe eine Expedition nach dem Innern der Apacheria ausgerüstet würde, und dieser Kavalier und ich, wir haben uns unmittelbar auf den Weg gemacht, um daran teilzunehmen. Unser Weg hat uns nach Eurer Hacienda geführt, Don Agustin, und wir bitten Euch nun um Gastfreundschaft bis morgen. Mit Tagesanbruch werden wir uns auf den Weg nach Arizpe begeben.«
   »Ihr braucht nicht so weit zu gehen«, antwortete der Hacendero; »die Expedition ist in der Nähe, und ich erwarte ihren Führer hier noch heute abend. Er wird Eure Dienste gern annehmen, dafür bürge ich, und Euch somit einige Tagereisen ersparen.«
   »Das ist prächtig«, erwiderte Diaz, »und ich danke Gott für dieses glückliche Zusammentreffen.«
   »Hat Euch denn der Durst nach Gold auch ergriffen?« fragte Don Agustin Pedro Diaz.
   »Nimmermehr, Gott sei Dank; ich überlasse die Sorge, Gold zu suchen, einem so erfahrenen Gambusino wie Señor Oroche. Ich für mein Teil habe, wie Ihr wißt, keine andere Sorge, als Vergeltungsrecht an den Indianern zu üben für alles Unheil, das sie mir zugefügt haben, und darum habe ich auch mit Freuden die Gelegenheit ergriffen, Feuer und Schwert, die sie so oft unter uns gehandhabt haben, einmal auch tief in ihr Land zu tragen.«
   »Das ist recht«, erwiderte der Hacendero, der, wie alle den Einfällen dieser unversöhnlichen Feinde der weißen Rasse ausgesetzten Grenzbewohner, in seinem Herzen einen gleichen Haß nährte wie Pedro Diaz. »Ich billige solche Gesinnung, und wenn Ihr erlaubt, so biete ich Euch als Pfand der meinigen eines meiner besten gesattelten Pferde an; der Indianer, den Ihr auf diesem edlen Tier verfolgt, muß auf den Flügeln des Windes reiten, um nicht von Euch erreicht zu werden, welchen Vorsprung er auch vor Euch haben mag.«
   »Das soll mein Schlachtpferd sein«, erwiderte Diaz mit vor Freude leuchtenden Augen, »und ich will seine Mähne mit indianischen Skalplocken zieren zum Andenken an den, der es mir gegeben hat.«
   Die Unterhaltung betraf nun Expeditionen von der Art derjenigen, die Don Estévan befehligte, sowie mehrere andere Gegenstände, die gewöhnlich die Unterhaltung der mexikanischen Pächter bilden; und da es schon finster wurde und der erwartete Gast noch nicht kam, gab Don Agustin zwei Dienern den Befehl, sich mit Fackeln zu versehen und ihm entgegenzureiten.
   »Ich weiß nicht, welches Ereignis den Marsch Don Estévans verzögert haben kann«, sagte der Hacendero, als seine Befehle ausgeführt waren. »Wenn er, wie es doch wahrscheinlich ist, an der Poza übernachtet hat, so müßte er schon seit fast zwei Stunden hier sein.«
   Man weiß, wie die beim Wiedereinfangen der flüchtigen Pferde verlorene Zeit den Aufbruch des Zugs verzögert hatte.
   Don Agustin hatte eben gesprochen, als plötzlich eine anmutige Erscheinung den Saal betrat: es war die Tochter des Hacenderos, die schöne Rosarita. Als ob der Reiterzug nur ihr Erscheinen abgewartet hätte, so kündigten sogleich ein Lärm von Pferden innerhalb der Ringmauer der Hacienda und der Glanz von Fackeln, die in der Dunkelheit leuchteten, die Ankunft der Gäste an, die Don Agustin Peña erwartete.


   12. Doña Rosarita

   Während des ganzen Rittes von der Poza bis zur Hacienda del Venado war das Schweigen nur selten von den beiden Reitern unterbrochen worden, die zusammen auf einem Pferd saßen. Obwohl Cuchillo keineswegs auf seine Rachepläne gegen Tiburcio verzichtet hatte, so waren doch seine Absichten unter einer anscheinenden Gutmütigkeit, die er nach Bedürfnis anzunehmen wußte, verborgen. Er hatte mehrmals versucht, auf dem Grund der Seele seines Begleiters zu lesen; allein dieser verhielt sich ganz defensiv und suchte seinerseits Cuchillo auszuforschen, denn er vergaß nicht, daß der Mörder Arellanos, seines Adoptivvaters, in seinem letzten Kampf am Fuße verwundet worden war. Cuchillo hatte sich aber jedenfalls mit mehr Gewandtheit verteidigt, als er beim Angriff gezeigt hatte, und so war zuletzt ihre mit Unterbrechungen geführte Unterhaltung nur ein geschicktes Lanzenbrechen gewesen, in dem keiner der beiden Kämpfer gesiegt hatte oder besiegt wurde.
   Die Folge davon war jedoch, daß ein instinktmäßiges Mißtrauen der beiden Reisegefährten gegeneinander Wurzeln gefaßt und jeder eine Ahnung davon hatte, daß der andere sein Todfeind sei. Cuchillo war mehr als je entschlossen, sich seiner, auch ohne seiner Sache gewiß zu sein, zu entledigen; der besser gesinnte Tiburcio erinnerte sich des Eides, den er seiner Adoptivmutter geschworen hatte, verschob aber dessen Erfüllung, bis er eine vollkommene Kenntnis des Falls erlangt haben würde. Wir brauchen nicht hinzuzufügen, daß in diesem letzteren Fall der Rächer Marcos Arellanos‘ die Erfüllung seines Gelübdes nur in einem Kampf auf Leben und Tod sah, aber mit offenem Visier.
   Andere Ideen nahmen auch noch die Gedanken Tiburcios in Anspruch: Jeder Schritt brachte ihn derjenigen näher, in der sich seine zärtlichsten Neigungen vereinigten, und wie es dem Herzen des Mannes eigentümlich ist, das zu hoffen, was er nur halb wünscht, so muß er auch immer unübersteigbare Hindernisse sich gegen ihn und gegen den Besitz der Gegenstände auftürmen sehen, nach denen er am eifrigsten begehrt. Darin liegt das Geheimnis der heroischen Entschlüsse.
   Während des Rittes war die Aufregung Tiburcios nach und nach gefallen, und er sah nun Unmöglichkeiten, die seine Träume im Nachtlager an der Poza ihn nicht hatten bemerken lassen. Er faßte also den verzweifelten Entschluß, noch diesen Abend zu erfahren, woran er sich zu halten habe.
   Als Tiburcio durch die Gunst des Zufalls Doña Rosarita tief im Wald getroffen hatte, verirrt samt ihrem Vater und den Dienern, die sie begleiteten; als er, überglücklich, sie zwei Tage begleiten zu können, der Schönheit des jungen Mädchens jene Huldigung dargebracht hatte, die bei einem jungen Mann eine rasche und tiefe Liebe ist, hatte er sich mit sehr süßen Träumen eingewiegt bis zu dem Augenblick, in dem er erfuhr, daß sie die Tochter des reichen Don Agustin Peña sei, und die ganze Torheit seiner Hoffnungen einsah, indem er die Entfernung maß, die ihn von ihr trennte.
   Wenn er also mit so großem Eifer die Hoffnung festhielt, die die Offenbarung des Geheimnisses, das er besaß, in ihm erregt hatte; wenn die ängstliche Gier nach Reichtum ihn quälte, so geschah dies nicht um des Reichtums willen. Er hatte dabei einen noch edleren Zweck, der seinem mehr poetischen als der Wirklichkeit sich hingebenden Charakter viel angemessener war, nämlich den, sich eine goldene Brücke zu bauen, um bis zur Tochter Don Agustin Peñas zu gelangen. Unglücklicherweise konnte er es sich nicht mehr verhehlen, daß er nicht allein das Dasein und die Lage der geheimnisvollen Goldmine wußte. Mit einem Mal leuchtete ihm ein, daß die Expedition, mit der er sich unfreiwillig vereinigt sah, keinen anderen Zweck haben könne als die Eroberung dieses Schatzes, und der Mann, der das Geheimnis mit ihm teilte, mußte sich unter denen befinden, die unter den Befehlen desjenigen standen, den er hatte Don Estévan nennen hören. Die zweideutigen Fragen Cuchillos, sein Aussehen, dieses Pferd, das wie das des Begleiters und Mörders seines Adoptivvaters strauchelte, hatten plötzlich ein aufhellendes Licht in die Dunkelheit seiner Gedanken geworfen – aber das war nicht genug! Wie sollte er sich vollständige Gewißheit verschaffen?
   Eine andere, noch viel schmerzlichere Ungewißheit ließ sein Herz höher schlagen: Welche Aufnahme bereitete ihm Doña Rosarita – ihm, dem armen Landmann ohne Hilfsmittel, ohne Familie, ohne Namen, der sich an einer wechselvollen Expedition beteiligt und sich unter den Schwarm der heimatlosen Abenteurer geworfen hatte, die die Habgier mitten in diese Einöden trieb? Traurige Vorgefühle jeder Art stiegen in seiner Seele auf, als der Zug, an dem er so bescheiden teilnahm, die Palisaden der Hacienda erreichte.
   Die Schranken waren offen, um sie zu empfangen, und Don Agustin selbst kam seinen Gästen, die er erwartete, entgegen. Er war noch in kräftigem Alter, und sein sonnverbranntes Gesicht trug ganz die ländliche Ungezwungenheit und jenes entschlossene Aussehen, das einem Mann eigentümlich ist, der mitten in Gefahren lebt. Er hatte eine Weste von ungebleichtem chinesischen Batist angezogen, und sein gesticktes Hemd, das sich über einer breiten Brust faltete, ließ in seiner Durchsichtigkeit auf eine rauhe Haut von fast ebenso gebräunter Farbe als sein Gesicht schließen. Mit der seinen Landsleuten eigentümlichen gefälligen Haltung empfing er ehrerbietig Don Estevan und den Senator, und der herzliche Empfang, der Tiburcio zuteil wurde, schien diesem von glücklicher Vorbedeutung.
   Die Reisenden waren alle vom Pferd gestiegen; Cuchillo, der aus Ehrerbietung für seinen Chef und um sein Pferd zu besorgen, draußen geblieben war, ließ sich das Zimmer der beiden Abenteurer zeigen, die vorausgeritten waren, und suchte dann die Ställe auf.
   Was Tiburcio anlangt, der nicht dieselben Gründe hatte, ähnlich zu handeln, so ging er mit dem Senator Tragaduros und Don Estévan in den gemeinschaftlichen Saal, obwohl mit bleicher Stirn und klopfendem Herzen. Der Saal, in den er durch seinen Gastfreund geführt wurde, war der große Salon, mit dem der Leser schon bekannt ist.
   Aber alles verschwamm vor den Augen Tiburcios. Es befand sich dort ein Wesen, dessen Lippen das Rot der Granatäpfel erbleichen ließ, die verschwenderisch auf dem Tisch lagen, und dessen Wangen die rosige Farbe der »Sandias« widerstrahlten: das war Doña Rosarita selbst. Ihr über den Kopf geworfener seidener Schleier ließ dazwischen hindurch die glänzenden Flechten ihres Haares sehen und umgab mit seinen Falten das bezaubernde Oval ihres Gesichts. Der schmale Schleier verhüllte ihre Schultern, fiel aber nicht bis zur Taille hinab, deren Umrisse durch einen scharlachenen Gürtel gehoben wurden, und unter den schillernden Falten des Schleiers verliehen strahlendweiße Arme dem himmelblauen Rebozo einen neuen Glanz.
   So anmutig auch das Lächeln war, das sie Tiburcio entgegensandte, so war doch etwas Hochfahrendes in dem Willkommensgruß, mit dem sie den glücklichen Zufall erwähnte, der ihn zu ihrem Vater führte, der für seine guten Dienste ebenso dankbar wie sie sei.
   Tiburcio seufzte bei dem Gedanken, daß dieser Zufall durch den Tod seiner Adoptivmutter eingetreten sei und daß diese kalte Höflichkeit weit entfernt sei von der Hingebung, die sie bei ihrem ersten Zusammentreffen gezeigt hatte. Dann richtete er seine Blicke auf seine zerrissenen Kleider, die in seinen Augen einen peinlichen Kontrast zu dem eleganten Anzug der beiden anderen Reisenden bildeten. Während Don Estévan seinen Gastgeber mit jenem feinen Anstand unterhielt, der ihn auszeichnete, verschlang der Senator mit den Augen die Tochter Don Agustins und verfehlte nicht, seine hochtrabenden Komplimente mit den geschmackvollen Artigkeiten zu verbinden, die Señor Arechiza wie ein Mann an sie richtete, der die Welt besser kennt.
   Wohl war das Lächeln, mit dem die junge Doña diesen Wetteifer an Artigkeiten aufnahm, sehr verschieden von demjenigen, das sie Tiburcio gewährt hatte. Auch beobachtete dieser ängstlich die gefällige und überlegene Haltung derjenigen, die er schon als Gegner ansah, und vorzüglich die lebhaften Farben der Wangen Rosaritas, das Blitzen ihrer Augen und die unregelmäßigen Bewegungen ihres Busens, der ihren Rebozo sich heben ließ. Sie schien alle naive Freude einer ländlichen Kokette bei den Artigkeiten eines großen Herrn zu empfinden, sobald eine innere Stimme ihr sagt, daß sie verdient sind.
   Seinerseits las Don Estévan in den ausdrucksvollen Zügen Tiburcios die Gefühle seines Herzens, und mehr als einmal verglich er wider Willen dessen männliche Schönheit mit der gewöhnlichen Gestalt des Senators; und als ob er gefürchtet hätte, seine geheimen Pläne durchkreuzt zu sehen, runzelte er mehrmals zornig die Augenbrauen, und seine Augen blitzten in düsterem Feuer. Nach und nach hörte er auf, sich an der Unterhaltung zu beteiligen, und schien in tiefe Gedanken versunken. Unmerklich zeigte sich auch ein Zug von Melancholie auf dem Antlitz Rosaritas.
   Was den Senator und Don Agustin betraf, so schienen sie beide eine unstörbare Zufriedenheit zu genießen.
   In diesem Augenblick kam Cuchillo, von Baraja begleitet, herein, um ebenfalls dem Herrn der Hacienda seine Aufwartung zu machen. Sein Eintreten brachte eine etwas verwirrte Bewegung hervor.
   Tiburcio schien jetzt einen verzweifelten Entschluß zu fassen, und den Augenblick der Verwirrung nützend, näherte er sich Rosarita: »Ich würde mein Leben dafür geben«, sagte er zu ihr mit leiser, bittender Stimme, »mit Euch – und wäre es auch nur einen Augenblick – über Dinge von der höchsten Wichtigkeit sprechen zu können.«
   Rosarita sah ihn mit erstaunter Miene an, obgleich vielleicht alte Bekanntschaft und die Ungezwungenheit mexikanischer Sitten eine solche Forderung hätten entschuldigen können. Sie machte eine verächtliche Bewegung mit den Lippen und schien zu überlegen; Tiburcio warf einen bittenden Blick auf sie. Da alles bei ihr Sache der augenblicklichen Eingebung zu sein schien, so dauerte die Überlegung nicht lange; sie antwortete kurz: »Heute abend um zehn Uhr werde ich hinter dem Gitter meines Fensters sein.«
   Während noch der herrliche Klang ihrer Stimme wonnig in den Ohren Tiburcios widertönte, kündigte man an, daß das Abendessen bereit sei. Man ging in einen anderen Saal.
   Eine glänzend servierte Tafel nahm dessen Mitte ein, und das Licht zahlreicher Kerzen, die die kühle Nachtluft in ihren kristallenen Leuchtern erzittern ließ, beleuchtete das alte und massive Silberzeug, das überall funkelte. Obgleich, der Sitte gemäß, der ganze Speisenreichtum, mit dem der Tisch beladen war, für einen europäischen Palast nur eine närrische Parodie aller Regeln der Kochkunst gewesen wäre, so schien er doch allen Gästen, mit Ausnahme Don Estévans, als das Nonplusultra von Luxus und Wohlgeschmack.
   Das obere Ende der Tafel war von Don Agustin, seiner Tochter, Don Estévan, dem Senator und dem Kaplan der Hacienda eingenommen. Tiburcio, Cuchillo, Pedro Diaz und Oroche waren an das andere Ende verwiesen worden.
   Der Beichtvater sprach das Benedicite. Obgleich er nicht mehr so ganz ohne Umstände stotterte wie damals, als er die Totengebete in der Hütte Tiburcios hersagte, sondern in salbungsvollem Ton ein der Feierlichkeit angemessenes Gebet sprach, erweckte doch seine Stimme im Herzen des verwaisten jungen Mannes die traurigen Erinnerungen, die neuere Eindrücke auf Augenblicke verwischt hatten.
   Fröhlichkeit begann bald unter den Tischgenossen zu herrschen. Man sprach von der Expedition, man tat Gelübde auf ihr Gelingen; dann brachte man ungeheure Wasserkrüge wie in alter Zeit, und diese gingen nach und nach aus den Händen eines jeden Tischgenossen zu seinem Mund.
   »Ehe ihr euch zurückzieht, meine Herren«, rief der Wirt, »habe ich die Ehre, euch morgen zu einer Jagd auf wilde Pferde einzuladen, die beim Anbruch des Tages stattfinden wird.«
   Alle Gäste nahmen die Einladung mit der Nachlässigkeit von Leuten auf, die gut gespeist haben und folglich glauben, daß der folgende Tag ihnen gehört.
   »Caramba!« rief Cuchillo. »Ich würde auf die Expedition verzichten, könnte ich täglich eine solche Mahlzeit halten.«
   »Das wäre der Teufel«, sagte Tragaduros, der Senator, Don Estévan ins Ohr, »wenn ein Mann, der seine Gäste so aufnimmt, sich weigern sollte, mir tausend Piaster zu leihen.«
   Tiburcio sagte nichts; die Eifersucht quälte ihn. Er hatte die Speisen kaum berührt, die man ihm vorgelegt hatte. Er warf nach der Seite Don Estévans, der selbst nicht aufgehört hatte, ihn während des Abendessens mit einem gewissen Mißtrauen zu beobachten, einen Blick des Hasses um aller Aufmerksamkeiten willen, mit denen er Rosarita überhäuft hatte, und tat nur in einem Punkt wie die übrige Tischgesellschaft: er suchte nämlich sein Zimmer auf, das man ihm bezeichnet hatte.
   Bald erstarb nach und nach das letzte Geräusch – auch die Diener gingen auf die Gesindezimmer —, und dieses weitläufige Gebäude, noch eben so voll von Lärm, wurde still, als ob alle, die es bewohnten, tief im Schlaf begraben lägen.
   Dennoch schlief nicht alles.


   13. Wie Tragaduros, obgleich er seine Rechnung mit dem Wirt macht, doch in Gefahr ist, zweimal zu rechnen

   Tiburcio erwartete auf seinem Zimmer ungeduldig die Stunde der Zusammenkunft, die ihm Rosarita gewährt hatte. Er warf einen Blick von seinem Fenster auf die schlafende Landschaft. Der Mond schien hell und erleuchtete wie ein langer Faden den Weg, den er verfolgt hatte und der sich durch die Ebene hinschlängelte und sich mitten im umliegenden Wald verlor. Der Wald selbst war in tiefes Schweigen eingehüllt, und der Windhauch bewegte die silberglänzenden Wipfel. Die Quellen in seinem Schutz waren den Bewohnern der Wälder preisgegeben, und von Zeit zu Zeit zeugte ein dumpfes Brüllen von der Angst eines Stiers, der den scharfen Geruch von nächtlichen Raubtieren witterte. Diese Töne, vereint mit den Akkorden einer Mandoline, die im Innern der Hacienda erschollen, störten allein das melancholische Schweigen der Nacht.
   Die Stunde war ebenso günstig verliebten wie ernsten Gedanken, und die einen und die anderen überwogten den Geist Tiburcios. Wie alle, die in der Einsamkeit gelebt haben, besaß sein Herz einen Schatz träumerischer Poesie, die sich bei ihm mit der tatkräftigen Energie des Mannes verband, für den diese Einöde mit Gefahren angefüllt ist. Seine gegenwärtige Lage stand somit in Wechselwirkung mit dieser zwiefachen Fähigkeit. Seine Liebe war bedroht – die Kälte Dona Rosaritas sagte es ihm klar genug —, und ein Vorgefühl ließ ihn auch erkennen, daß er von Feinden umgeben sei. Mitten in der Traurigkeit seiner Seele zog ein wirkliches Ereignis seine Aufmerksamkeit auf sich. Ein Lichtglanz blitzte fern unter dem Laubdach des Waldes. Dieser Lichtglanz, ein wenig durch die Klarheit des Mondes verdunkelt, zitterte geheimnisvoll durch die schwankenden Zweige, blieb aber wirklich auf einem Punkt. Er bewies also, daß Reisende dort übernachteten. »So nahe bei der Hacienda?« sagte er sich, indem er bei diesem Anblick seinem Nachdenken ein Ende machte. »Was soll das heißen? Warum kommt man nicht hierher und bittet um gastliche Aufnahme? Die Reisenden haben also einen Grund, sich fernzuhalten? Sind es Feinde, die ich zu den meinigen hinzuzählen muß? Gehören sie vielleicht zu jenen unbekannten Freunden, die der Himmel zuweilen denen schickt, die ihrer bedürfen? Cuchillo, Don Estévan, dieser anmaßende Senator sind ebenso viele Feinde für mich! Alle haben Schutz gefunden unter diesem Dach; warum sollten diese Menschen nicht Freunde sein?«
   Unterdes verging die Zeit; Tiburcio nahm seinen Zarapa und hüllte sich hinein, steckte sein Messer in den Gürtel – es war die einzige Waffe, die er besaß – und machte sich bereit, ohne Geräusch hinauszugehen, mit pochendem Herzen wie ein Mann, über dessen Glück wenige Minuten entscheiden sollen. Ehe er sein Zimmer verließ, warf er noch einen Blick auf den hellen Punkt, der immer an derselben Stelle glänzte. Während Tiburcio mit lauerndem Auge, vorsichtigem Fuß und wachsamem Ohr leise den schweigenden Hof durchschritt und am Hauptgebäude, hinter dem sich das Zimmer Dona Rosaritas befand, entlangging, fanden auch noch andere Ereignisse statt, die notwendig hier erwähnt werden müssen.
   Seit seiner Ankunft in der Hacienda del Venado hatte Don Estevan in Gegenwart aller Gäste kaum Zeit gehabt, in einer kurzen Unterhaltung mit dem Hacendero diesem oberflächlich den Erfolg seiner Verhandlung mit Cuchillo mitzuteilen. Bei dem Wort »Goldmine« hatte Don Agustin eine Gebärde enttäuschter Erwartung gemacht; aber bei der Unmöglichkeit, mehr darüber zu sagen, hatte er den Spanier gebeten, noch am selben Abend die Fortsetzung ihrer vertraulichen Eröffnung wiederaufzunehmen.
   Arechiza hatte also gewartet, bis jeder nach Beendigung des Abendessens auf das für ihn bestimmte Zimmer gegangen war, dann führte er den Senator in die Vertiefung eines Fensters, und indem er ihm das von Sternen blitzende Gewölbe des Himmels zeigte, sprach er: »Ihr seht dort den ›Wagen‹, der schon im Morgen steht. An der Seite dieses strahlenden Sternenbildes bemerkt Ihr jenen Stern, der, in nebliger Ferne, kaum einen Schein herwirft. Das ist das Bild Eures Sterns, der, jetzt noch bleich, morgen vielleicht strahlender aufgehen wird als irgendeiner von denen, die das glänzende Gefolge des Wagens bilden.«
   »Was muß ich also tun, Señor Arechiza?«
   »Ich will es Euch heute abend sagen, und vielleicht ist der Augenblick weniger fern, als Ihr glaubt, in dem Ihr durch die Heirat mit dem prächtigen Mädchen, das deren Erbin ist, der zukünftige Herr dieser Hacienda sein werdet. Erwartet mich in meinem Zimmer; meine bevorstehende Unterhaltung mit Don Agustin wird entscheidend sein, und ich werde Euch so bald wie möglich von deren Ergebnis in Kenntnis setzen.« Mit diesen Worten verabschiedete der Spanier den Senator, dessen Herz zugleich vor Hoffnung und Furcht heftig schlug. Dann ging er zu dem Hacendero, der ihn erwartete.
   Der Eigentümer der Hacienda del Venado hatte, wie wir schon gesagt haben, dem Spanier die ausgezeichnetste Aufnahme zuteil werden lassen, doch war in seinem Empfang vor Zeugen immer noch weniger Ehrfurcht zu bemerken, als die Haltung des Hacenderos zeigte, wenn er sich dem Spanier allein gegenübersah. Don Estévan schien seinerseits die Huldigungen Don Agustins zu empfangen wie etwas, das ihm zukam. Es lag in der artigen Herablassung Señor Arechizas gegen den reichen Eigentümer und in dessen vollständiger, ehrerbietiger Unterwürfigkeit eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verhältnis eines hochgestellten, mächtigen Oberherrn zu einem edlen Vasallen.
   Nur auf die wiederholten Bitten – wir müßten fast sagen, auf den dringenden Wunsch – des Spaniers willigte Don Agustin ein, sich zu setzen, während der erstere sich in einen mit Leder ausgeschlagenen Lehnsessel mit einer Nachlässigkeit geworfen hatte, die mit der vornehmen Haltung seiner Persönlichkeit ganz übereinstimmte.
   Der Hacendero wartete schweigend, bis Don Estévan das Wort nehmen würde.
   »Nun, wie gefällt Euch Euer zukünftiger Schwiegersohn?« fragte der Spanier. »Ihr habt ihn, denke ich, noch niemals gesehen?«
   »Niemals!« antwortete Don Agustin. »Aber wäre er auch von der Natur weniger begünstigt, als er es ist, so wißt Ihr, daß dies unter uns kein Hindernis für unsere Pläne gewesen wäre.«
   »Ich weiß es; denn man muß es anerkennen, es liegt in jedem rohen Klotz der Stoff zu einem Edelmann; um wieviel mehr erst in der Person eines Senators des ruhmvollen Kongresses von Arizpe!« fügte der Spanier mit einem leichten Anflug von Verachtung hinzu. »Aber das Hindernis liegt nicht darin; entscheidend ist, daß Eure Tochter ihren Bewerber nach ihrem Geschmack findet.«
   »Meine Tochter wird nur nach meinem Willen handeln«, sagte der Hacendero.
   »Selbst in dem Fall, daß ihr Herz nicht mehr frei sein sollte?«
   »Das Herz Rosaritas ist frei, Don Estévan!« erwiderte Don Agustin. »Wie sollte es auch anders sein? Ihre Kindheit und ihre Jugend sind in unseren Einöden verflossen.«
   »Und dieser junge zerlumpte Mann, dieser Tiburcio Arellanos, den Ihr schon zu kennen scheint?« fragte Don Estévan. »Er liebt Eure Tochter!«
   »Ich weiß es seit heute morgen.«
   »Wenn Ihr erst seit einigen Stunden das Geheimnis seiner Liebe wißt, könnte Euch das Geheimnis Doña Rosaritas nicht entgangen sein?«
   »Freilich«, antwortete Don Agustin lächelnd, »verstehe ich mich besser darauf, der Spur eines Indianers zu folgen und auf seinem schlauen Gesicht seine geheimsten Gedanken zu lesen, als den Grund des Herzens eines jungen Mädchens zu erforschen; aber ich wiederhole: Ich habe Grund, zu glauben, daß das Herz Rosaritas frei ist von jeder früheren Liebe. Es obwaltet aber ein ernstlicheres Hindernis, Don Estévan – ich meine nicht gegen die zwischen uns verabredete Verbindung, sondern gegen die Expedition, die Ihr tief in die Steppen hinein unternehmen wollt.«
   Der Hacendero teilte nun Don Estévan die Einzelheiten mit, die ihm von dem Franziskanermönch in betreff des Tiburcio hinterlassenen Geheimnisses von einer unermeßlichen Goldmine anvertraut waren.
   Wir schweigen jedoch vorerst über den Eindruck, den diese vertrauliche Mitteilung auf den Spanier machte. Die Unterhaltung zwischen dem Hacendero und ihm dauerte noch lange. Was hatten sie sich zu sagen? Wir werden es später erfahren. Unterdessen ist es nötig, den Senator wieder aufzusuchen, der voll Angst die Minuten zählte bis zur Rückkehr Don Estévans in das für ihn bereitete Gemach.
   Das Don Estévan de Arechiza angewiesene Zimmer war ohne Widerspruch das reichste der Hacienda, und doch hat der Luxus im Hausgerät noch so geringe Fortschritte in der Provinz Sonora gemacht, daß dieser Reichtum an Nacktheit grenzte. Kein Vorhang verhüllte die Eisenstäbe, die das im ersten Stockwerk gelegene Fenster schützten. Die Mauern waren einfach mit Kalk geweißt, einige Sessel, wie Pfühle mit Schilf geflochten, Koffer aus dem Holz des Kampferbaumes, die als Schränke dienten – das war das Gerät, das das Zimmer schmückte. Das einzige Stück von einiger Auszeichnung darin war eine mit Ölfarbe angestrichene Bettstelle, lackiert und mit goldenen Arabesken geschmückt. Über die breite Steppdecke von Indianerzeug, die das Oberbett vertrat, breiteten sich lange Besätze von Musselin und Spitzen in wallenden Falten. Das Kopfende des Bettes war mit drei flachen, viereckigen Kopfkissen versehen, die an beiden Enden und durch den luftigen Batist ihres Überzugs die purpurrote Seide hindurchschimmern ließen, mit der sie darunter wieder überzogen waren. Sie waren mit ähnlichen Behängen von Spitzen und Musselin verschwenderisch ausgeschmückt.
   Hier finden wir den Spanier und Tragaduros wieder. Auf dem schilfgeflochtenen Sofa sitzend, folgte Don Estévan mit den Augen dem Senator, der in lebhaftester Erregung in der Stube auf und ab ging.
   »Nun was haltet Ihr von der Tochter unseres Wirtes, Don Vicente?« fragte Arechiza, der mit der Unruhe Don Vicentes sein Spiel zu treiben schien. »Habe ich Rosaritas Schönheit übertrieben geschildert?«
   »Oh, mein Gönner«, rief der Senator mit den lebhaftesten Gebärden des Südens, »die Wirklichkeit hat die Erwartungen übertroffen – sie ist ein Engel! In unserem durch die Schönheit seiner Frauen so berühmten Land ist Doña Rosarita gewiß die schönste.«
   »Und die reichste«, meinte der Spanier lächelnd.
   »Wer hätte vermuten können, daß sich mitten in dieser Einöde eine so vollkommene Schönheit verberge? So viel Frische, Reiz und Jugend sind dazu geschaffen, auf dem edelsten Schauplatz zu glänzen.«
   »Am Hof eines Königs zum Beispiel«, sagte Arechiza nachlässig.
   »Oh, Don Estévan«, rief der Senator, »laßt mich nicht so lange in Ungewißheit; soll die göttliche, die reiche Doña Rosarita mein Weib werden?«
   »Ein Wort von mir, ein Versprechen von Euch, und sie wird es! Ich habe das Wort des Vaters. Nach vierzehn Tagen werdet Ihr der Gatte seiner Tochter sein.«
   »Das ist ebenso süß als leicht.«
   »Später werdet Ihr reich sein.«
   »Das verdirbt nichts.«
   »Dann werdet Ihr ein großer Herr werden!«
   »Oh, das ist prächtig; wahrhaftig, Señor de Arechiza! Das ist eine Kaskade von glücklichen Ereignissen; man könnte nicht lieblicher anfangen, um besser zu enden. Es ist ein Traum, es ist ein Traum!« rief der Senator, indem er abermals die Stube mit großen Schritten durchmaß.
   »Beeilt Euch doch, eine Wirklichkeit daraus zu machen!« erwiderte Don Estévan.
   »Ist es denn so eilig?« fragte der Senator, indem er plötzlich still stand.
   »Warum diese Frage? Kann man sich etwa zu sehr beeilen, glücklich zu sein?«
   Der Senator war nachdenklich geworden. Ein Anfall von Mißtrauen schien plötzlich die Quelle seiner Trunkenheit zu vertrocknen, und mit besorgter und bestürzter Miene erwiderte er: »Ich hatte mich darein ergeben – ich gestehe es —, eine Erbin zu heiraten, deren Häßlichkeit, wie es gewöhnlich so ist, ihren Reichtum aufhöbe, und nun seht Ihr mich verwirrt von deren Schönheit.«
   »Wäre Euch das zufällig unangenehm?«
   »Nein, aber dieses Glück erschreckt mich. Es scheint mir, daß irgendein Grund, den ich nicht erraten kann – wie soll ich sagen? —, irgendeine traurige Enttäuschung sich unter dieser verführerischen Aussicht verbirgt.«
   »So ist das Herz der Menschen«, sprach Don Estévan. »Ich würde auf diesen Einwurf von Seiten eines jeden anderen gefaßt gewesen sein, aber ich hätte nicht gedacht, daß Ihr über die Vergangenheit unruhig sein könntet, wenn man Euch die Gegenwart und die Zukunft so schön zubereitet hat. Ach, ach, über den armen Despilfarro«, fuhr der Spanier lachend fort; »ich hätte ihn, bei meiner Ehre, für stärker gehalten!«
   »In der Tat«, erwiderte der Senator, indem er einen hohen Beweis diplomatischer Fassungskraft zu geben meinte. »Warum – unter uns gesagt – an andere diesen Schatz von Schönheiten zu verschwenden, ohne von den Reichtümern zu reden, über die dieses verführerische Wesen zu verfügen hat, wenn Ihr selbst …«
   »Wenn ich sie selbst heiraten könnte, nicht wahr? Was wollt Ihr? Ich habe keinen Geschmack am Heiraten. Ich habe den Trieb dazu gehabt – früher – wie jedermann. Meine Geschichte ist die vieler Männer gewesen: Meine Herrin hat einen anderen geheiratet. Freilich habe ich mich darüber sehr … freilich habe ich mich darüber sehr bald getröstet«, sagte Arechiza, sich verbessernd. »Aber was glaubt Ihr denn, wer ich bin?«
   »Wer Ihr seid? Nun, wahrhaftig, Ihr seid Don Estévan de Arechiza.«
   »Nun, das macht Eurem Scharfsinn Ehre! Wohlan – da ich einmal die Hand Doña Rosaritas für den edlen Senator Tragaduros y Despilfarro gefordert habe, so kann ich jetzt seine Stelle nicht mehr einnehmen.«
   »Aber warum habt Ihr denn«, erwiderte der Senator, »diese Forderung nicht für Euch getan?«
   »Warum? Weil Doña Rosarita – wäre sie auch noch dreimal schöner und dreimal reicher – doch weder schön noch reich genug für mich wäre.«
   Despilfarro fuhr erstaunt zurück. »Aber wer seid Ihr denn, so frage ich Euch nun meinerseits«, rief er, »um eine solche Verbindung verächtlich auszuschlagen?«
   »Nun, wie Ihr sagtet: Don Estévan de Arechiza«, antwortete der Spanier einfach.
   Der Senator ging dreimal in der Stube auf und ab, ehe er seine Gedanken sammeln konnte; aber treu dem System des Mißtrauens, das plötzlich in ihm wach geworden war, erwiderte er: »Es ist in alledem etwas, was ich mir nicht erklären kann; und wenn ich mir die Dinge nicht erklären kann, so begreife ich sie nicht!«
   »Das ist sehr folgerichtig«, antwortete Don Estévan mit spöttischem Ton. »Aber sollte ich mich in Euch getäuscht haben, mein lieber Senator? Ich tat Euch die Ehre an, Euch über gewisse Vorurteile erhaben zu glauben; und wenn in der Vergangenheit der schönen Rosarita – wie soll ich sagen? – irgendein … Vorurteil unter die Füße zu treten wäre, heißt das, daß eine Million als Mitgift und drei Millionen in Zukunft in Euren Augen von keinem Gewicht sein würden?« fuhr er fort, als ob er die moralische Kraft eines Mannes ergründen wollte oder vielmehr die Stärke und die Tragweite eines Werkzeugs, dessen er sich bedienen mußte.
   Despilfarro antwortete nichts.
   »Laßt hören! Ich erwarte eine Antwort!« sagte Don Estévan, der an der Verwirrung des Senators Vergnügen zu finden schien.
   »Ihr seid wirklich grausam, Don Estévan«, nahm Despilfarro das Wort, »die Leute so in Verlegenheit zu setzen; ich … ich … Caramba – das ist sehr ärgerlich …«
   Don Estévan unterbrach ihn. Dieser Zweifel sagte ihm, was er wissen wollte; ein ironisches Lächeln umschwebte seinen Mund, dann ließ er ab vom spöttischen Ton und sagte ernsthaft: »Hört, Tragaduros, es wäre eines Edelmanns unwürdig, noch längere Zeit einen Scherz fortzusetzen, wenn es auf Kosten der Ehre einer Frau geschieht. Die Vergangenheit Doña Rosaritas ist rein wie ihre Stirn.«
   Der Senator atmete wieder auf.
   »Übrigens«, fuhr Don Estévan fort, »ist es nötig, daß Ihr ein unbegrenztes Vertrauen zu mir habt. Ich werde Euch also zuerst das Beispiel einer rückhaltlosen Offenherzigkeit geben; der Erfolg der edlen Sache, die ich unternommen habe, hängt davon ab. Wisset also zuerst, wer ich bin. Arechiza«, fuhr er lächelnd fort, »ist nur mein angenommener Name; was den Namen betrifft, den ich wirklich trage und den ich Euch sogleich sagen will, so habe ich seit meiner Jugend einen Eid geleistet, daß keine Frau – wäre sie auch schöner und reicher als Doña Rosarita – ihn jemals mit mir teilen soll. Soll ich jetzt, da meine Schläfen anfangen, weiß zu werden, einen Eid brechen, den alles mir zu halten befiehlt? Denn wenn auch zuweilen eine Frau wie diejenige, die ich Euch vorschlage, ein Fußschemel zum Ehrgeiz sein kann, so ist sie doch noch viel öfter ein Hindernis.« So sprechend, schritt Don Estévan seinerseits mit aufgeregter Miene auf und ab, während sich noch ein Rest von Mißtrauen auf dem Gesicht seines Begleiters lesen ließ. Dann nahm er wieder das Wort: »Ihr wolltet genauere Erklärungen – Ihr sollt sie haben!«
   Don Estévan schloß das Fenster, damit nichts von dem, was er zu sagen im Begriff stand, in der Stille der Nacht gehört werden könnte. Er lud den Senator ein, sich zu setzen, und blieb aufrecht vor ihm stehen. Tragaduros sah ihn mit lebhafter Neugierde an; aber er senkte bald die Augen vor den Feuerblicken des Spaniers. Es schien, als ob die Gestalt Don Estévans eine andere wurde und sich plötzlich vergrößerte. »Ich habe zu Euch von Geheimnissen gesprochen, deren Kenntnis denjenigen schwindlig macht, der sie anhört«, sagte er. Der Senator erbebte.
   »Als der Versucher den Menschensohn auf den Gipfel eines Berges führte und ihn alle Reiche der Welt sehen ließ und sie ihm versprach, wenn er ihn anbeten wolle«, fuhr der Spanier fort, »da bot er dem Herrn der Welt kaum mehr an, als ich dem Senator von Arizpe anbieten will. Wie der Versucher will ich zu Euren Füßen die Ehre, die Macht und den Reichtum legen, wenn Ihr Euch vor meinen Bedingungen beugen wollt. Hört mich also an, ohne daß Euer Herz erzittert, ohne daß der Schwindel Eure Augen blendet!«


   14. Tragaduros gerät wirklich außer sich

   Dieser feierliche Eingang, die ehrfurchtgebietende Haltung Don Estévans, die plötzlich auf den spöttischen Ton folgte, den der Spanier bis jetzt beibehalten hatte, machten auf den Senator einen peinlichen Eindruck. Einen Augenblick bedauerte er sogar, sich so weit eingelassen zu haben, und selbst die Million als Mitgift, die rosigen Lippen und die schwarzen Augen Doña Rosaritas verloren etwas von dem blendenden Glanz, mit dem sie ihn bezaubert hatten.
   »Vor etwa zwanzig Jahren«, fuhr der Spanier fort, »hatte ich mich einen Augenblick über meinen Beruf in dieser Welt getäuscht; ich glaubte mich geschaffen für ein häusliches Leben, für diese lächerlichen Schäferspiele, von denen gewisse junge Herzen träumen. Eine Enttäuschung … ein … Ereignis ließ mich einsehen, daß ich über mich selbst ganz im Irrtum gewesen war; ich war nur ehrgeizig, weiter nichts. Ich habe darum in einer ehrenvollen Laufbahn die Befriedigung meiner Wünsche gesucht, und die Auszeichnungen sind mir zugeflossen. Ich habe das Recht erworben, vor dem König von Spanien das Haupt zu bedecken. Als Ritter des Ordens des heiligen Jakob vom Schwert, habe ich bei den Feierlichkeiten am Hof den weißen Mantel und den roten Ordensdegen getragen, und für mich war das Gelübde der Keuschheit kein betrüglicher Eid. Als Ritter Karls III. teile ich mit den Prinzen der königlichen Familie den Titel des Großkreuzes, dann nach und nach die Ordensbänder des heiligen Ferdinand, der heiligen Hermenegilde, des Goldenen Vlieses und von Calatrava – beneidete Auszeichnungen, die indes für mich nur ein trauriger Trost waren.«
   Diese prunklose Aufzählung blendete den Senator, der auf den Redner einen Blick ehrfurchtsvollen Staunens warf.
   Don Estévan fuhr fort: »Die Reichtümer folgten bald den Ehrenbezeigungen. Die reichen Jahresgehälter, verbunden mit dem Vermögen meiner Vorfahren, ließen die Zeit weit hinter mir, wo ich, noch ein einfacher jüngerer Sohn der Familie, nur alles wünschen durfte, und – soll ich es Euch gestehen? – ich war nicht zufrieden. Und doch hatten mich, obgleich nur einfacher Edelmann durch den Zufall meiner Geburt, meine Anstrengungen zum Grafen von Villamares, Marquis von Casareal und Herzog von Armada gemacht.«
   »Oh, Señor Herzog«, sagte Despiléarro demütig, »erlaubt … aber … ich …«
   »Ich bin noch nicht zu Ende!« sagte der spanische Senator ruhig. »Sobald ich alles gesagt haben werde, habt Ihr hoffentlich keine Zweifel mehr. – Ohne das beleidigende Mißtrauen, das Ihr mir bewiesen habt, würde ich immer für Euch nur der heimliche Agent eines Fürsten geblieben sein, der seinen ganzen Ruhm aus dem Vertrauen geschöpft hätte, mit dem er geehrt ist; ich wäre auch ferner nur für Euch ein einfacher Edelmann Don Estévan de Arechiza geblieben und nichts weiter. Es ist aber dringend notwendig, daß die Rückkehr dieses Mißtrauens sich niemals wieder zeige; darum sollt Ihr auch den Zweck, den ich verfolge, kennenlernen; Ihr sollt meine geheimsten Gedanken lesen.«
   Der spanische Señor machte eine Pause, und der Senator bereitete sich vor, ihn mit dem ehrfurchtsvollsten Schweigen anzuhören.
   »Ich habe Euch eben gesagt, daß ich seit zwanzig Jahren die Freuden des Ehrgeizes statt des Ehrgeizes selbst gesucht habe; ich habe da die Unwahrheit gesagt. Ich habe zwanzig Jahre meines Lebens verbraucht, um eine Erinnerung zu töten und zu gleicher Zeit meinen Ehrgeiz zu befriedigen«, fuhr der Herzog von Armada fort, den wir auch ferner Don Estévan nennen wollen.
   »Einen Augenblick habe ich gehofft, daß diese Erinnerung mitten in den Erschütterungen eines stürmischen Lebens geschwächt würde. Fast gegen meinen Willen also haben während dieser unaufhörlichen Versuche die Reichtümer und Ehrenstellen mich aufgesucht. Ich verfolgte demnach einen doppelten Zweck: den Ehrgeiz zu sättigen und einen Tag meines Lebens zu vergessen.
   Als der Liebling eines Fürsten, den ein altersschwacher König und ein schwächliches Kind allein von einem der ersten Throne der Christenheit trennen; überhäuft mit Ehren und Reichtümern; hoch genug gestellt, um tausend Feinde zu haben; zu mächtig, um auch nur einen unter ihnen zu fürchten, habe ich einen Augenblick zu triumphieren gemeint; ich habe geglaubt, zwischen meine Erinnerungen und mich eine unermeßliche Entfernung gelegt zu haben – vergebliche Hoffnung! Wie bei jenen südlichen Horizonten die Durchsichtigkeit der Luft uns die abgebrochenen Umrisse eines Gegenstands trotz der Entfernung erraten läßt, so tauchten die kleinsten Ereignisse einer verabscheuten Vergangenheit ebenso klar vor meinen Augen empor wie vor der Zeit meiner Größe.
   Nichts tötet das Gewissen«, fügte der spanische Grande mit düsterer Stimme hinzu, »denn ach, das blutige Schwert des heiligen Jakob war kein leeres Symbol in meiner Hand gewesen. Wenn das Gewissen nicht tötet, so gibt es doch dem Ehrgeiz eine erschreckende Regsamkeit; es ist die Stimme, die ruft: ›Vorwärts, immer vorwärts!‹«
   Don Estévan schwieg, während ihn der Senator mit fast furchtsamen Blicken betrachtete, soviel finstere und ehrfurchtgebietende Würde lag in dem Gesichtsausdruck des Spaniers.
   »Aber wohin vorwärts?« fuhr der edle Spanier fort. »Welches Ziel noch verfolgen? Durch welche Mündung diesen Strom von Tatkraft wälzen, der in mir brauste?
   Endlich bot ein Ereignis mir noch einmal das Ringen und den Kampf; ich schüttelte die Erstarrung ab, die mich entnervte, und hoffte; denn für mich sind Kämpfen und Ringen soviel als Vergessen.
   Unsere politischen Erschütterungen gelangten nicht bis zu euch, Don Vicente. Europa kann auf seinen Grundpfeilern wanken, ohne daß ihr in diesem entfernten Winkel Amerikas etwas von unseren Erdstößen merktet. Ihr habt also auch nichts davon erfahren, was ich Euch jetzt erzählen will.
   Vor beinahe zwei Jahren entriß der König von Spanien – der Bruder des Fürsten, dem ich ergeben war, Don Carlos von Bourbon – durch eine Verletzung des im Königreich seiner Vorfahren gültigen salischen Gesetzes ihm diese Krone, auf die er wartete, und schuf so den Herd eines Bürgerkrieges, den Ihr später werdet ausbrechen sehen. Die Infantin Isabella wurde zur voraussichtlichen Erbin des Thrones Ferdinands VII. erklärt, mit Ausschließung seines Bruders. Ich versuchte den tödlichen Schmerz meines hohen Beschützers zu stillen – aber vergeblich. Unter den Tröstungen, die ich an ihm versuchte, unter den Plänen, die ich ihm vorlegte, stellte sich plötzlich eine gigantische Unternehmung meiner Einbildungskraft dar; diese Unternehmung öffnete mir eine weite Aussicht, Gefahren Trotz zu bieten, fast unübersteigliche Schwierigkeiten zu überwinden – das gerade machte sie mir annehmbar.
   Ich träumte davon, für meinen Herrn ein ebenso schönes, ein ebenso großes Königreich zu erobern als dasjenige, das er verlor; ich träumte, ihm eine der schönsten Blumen der überseeischen Krone wiederzugeben, die seine Vorfahren so ruhmvoll getragen hatten. Ich wollte einen Thron erobern, und diesen Thron, einmal erobert, wollte ich – vor zwanzig Jahren noch ein unbekannter Edelmann, jetzt aber gesättigt von Ehren und Reichtümern – zu einem Almosen machen für den der spanischen Monarchie verlustig gegangenen Erben! Werdet Ihr nun glauben«, fügte er mit einem von ruhigem Stolz strahlenden Lächeln hinzu, »daß Estévan de Arechiza an andere die Schätze der Schönheit und die beneideten Reichtümer der Tochter eines mexikanischen Hacenderos ohne Bedauern verschwenden kann?«
   Der mexikanische Senator mit dem engen Horizont, den egoistischen Plänen blieb vernichtet, zerschmettert sowohl vor dieser kühnen Sprache des unbeugsamen Europäers als vor diesem gigantischen Plan und konnte nur rufen, indem er mit Ehrfurcht die Hand drückte, die ihm der edle Spanier entgegenstreckte: »O Don Estévan – mit Eurer Erlaubnis werde ich auch ferner Euch diesen bescheidenen Titel geben —, ich erröte über meinen Argwohn, und für das Glück, das Ihr mir bietet, für die Aussicht, die Ihr mir zu eröffnen geruht, gehört Euch mein Leben und mein Herz; aber …«
   »Noch ein Argwohn?« fragte Don Estévan lächelnd.
   »Nein, aber eine Besorgnis. Habt Ihr den jungen Mann beobachtet, dem der Zufall uns hat begegnen lassen? Ein heimliches Vorgefühl sagt mir, daß Doña Rosarita vielleicht in ihn verliebt ist; er ist jung, schön, und sie scheinen sich seit langer Zeit zu kennen.«
   »Was?« unterbrach ihn Don Estévan. »Dieser junge, zerlumpte Bauer erregt Euren Verdacht?«
   »Ich gestehe«, sagte der Senator, »daß ich mich nicht habe überwinden können, die Augen Doña Rosaritas zu überraschen, die zuweilen mit sonderbarem Ausdruck auf ihn gerichtet waren.«
   »Faßt wieder Mut; ich weiß durch Don Agustin ganz bestimmt, daß das Herz seiner Tochter von jeder Liebe frei ist und daß ihre Eitelkeit sich in dem Gedanken gefällt, eines der einflußreichsten Mitglieder des Senats von Arizpe zum Gemahl zu nehmen. Was diesen jungen Taugenichts anlangt, der ganz den Stolz eines spanischen Bettlers zu haben scheint, so soll er überwacht werden, und es wäre nur ein geringes Hindernis aus dem Weg zu räumen, wenn er etwa die Anmaßung gehabt haben sollte, sich sein Ziel so hoch zu stecken.«
   Bei diesen Worten schien das Gesicht Don Estévans einen Augenblick sorgenvoll, und er konnte sich nicht enthalten, hinzuzufügen: »Ich habe ihn ebenfalls beobachtet. Eine merkwürdige Ähnlichkeit hat bei mir abermals die Quelle vieler Schmerzen geöffnet … Aber denken wir nicht mehr an eingebildete Besorgnisse, und laßt mich Euch genauer, als ich es bis jetzt getan habe, das Ziel bezeichnen, nach dem ich strebte; unsere Mittel zum Handeln; was ich von Euch erwarte auf der Bahn, die Ihr nun einschlagt, und die Gunstbezeigungen, die eine erhabene und mächtige Hand, indem sie sich öffnet, über Euch ausstreuen will. Nicht wahr, Señor Tragaduros, Ihr seht bis jetzt weder die Hilfsmittel, auf die ich rechnen kann, noch das Königreich, das ich erobern will?«
   »Ich gestehe es«, antwortete Tragaduros.
   »Die Provinz, die ich zu einem Königreich für meinen Gebieter und Euren künftigen Souverän umbilden will, ist Sonora.«
   »Was? Unseren republikanischen Staat wollt Ihr in eine Monarchie umwandeln?« rief der Senator. »Aber einen solchen Schritt versuchen, das heißt sein Leben aufs Spiel setzen!«
   »Ich weiß es; doch habt Ihr mir nicht eben gesagt: ›Mein Leben, mein Herz gehört Euch?‹ Und gerade den Preis dieses Einsatzes will ich Euch durch die Heirat mit der Tochter Don Agustins und mit dem Vermögen, das Euch zuteil werden wird, bezahlen. Als ich Euch eben sagte, daß es nur an Euch liegen würde, Eurem erblaßten Stern mehr Glanz zu geben, als er jemals gehabt hat, wähntet Ihr da etwa, daß die einzige Anstrengung, die Ihr zu machen hättet, die wäre, eine junge und schöne Frau mit einer ungeheuren Mitgift zu nehmen und unberechenbare Hoffnungen zu nähren?«
   »Nein, ohne Zweifel«, erwiderte Tragaduros schwankend; »indes …«
   »Ich habe Euch gesagt, ich suche einen tatkräftigen Mann, der einen schnellen und vielleicht ruhmvollen Tod mit der Aussicht auf Ehren und Reichtümer dem langsamen Todeskampf in einem Leben ohne Reichtum und Ehre vorzieht. Also nur unter der Bedingung, daß ich auf Euren Mut und Eure Anstrengungen, unser Ziel zu erreichen, zählen kann, will ich aus Euch den reichsten Eigentümer des neuen Königreichs machen. Wenn ich mich getäuscht habe; wenn Ihr nicht der Mann seid, den ich suche; wenn die Gefahr Euch schreckt, so finde ich vielleicht jemand an Eurer Stelle, der über eine Gefahr lacht, die ihm ein ungeheures Vermögen einbringen soll.«
   »So laßt uns denn sehen«, erwiderte der Senator, nachdem er einige Schritte im Zimmer getan hatte, um seine Aufregung zu beschwichtigen, »was Ihr von mir erwartet und auf welche Hilfsquellen Ihr rechnen könnt.«
   »Vor etwa zehn Jahren habe ich gegen die Unabhängigkeit Eures Landes in diesen Provinzen gekämpft. Ich kenne ihre Hilfsquellen, ihren unberechenbaren Reichtum, und als ich sie verließ, sagte mir ein geheimes Vorgefühl, daß ich noch einmal hierher zurückkehren würde.
   Zufällig habe ich Don Agustin kennengelernt, der damals noch im Begriff war, sich den großartigen Reichtum zu erwerben, den er jetzt genießt. Ich hatte Gelegenheit, ihm einen ausgezeichneten Dienst dadurch zu erweisen, daß ich sein Haus vor Plünderung bewahrte, ihm sogar das Leben rettete, denn er hatte seine geheime Hinneigung zur spanischen Sache nicht genug verborgen gehalten. Ich unterhielt mit ihm geheime Verbindungen. Ich wußte, daß das unzufriedene Sonora ebenfalls das Joch der Bundesrepublik abzuschütteln suchte. Ich brachte es dahin, daß der enterbte Fürst an meinem kühnen Plan Geschmack fand, und kam hierher. Don Agustin war einer der ersten, gegen die ich mich offen erklärte. Sein Ehrgeiz war geschmeichelt von den Versprechungen, die ich ihm im Namen meines Gebieters reichlich machen konnte, und er stellte sich ganz und gar zu meiner Verfügung.
   Trotz der großen Geldmittel, über die ich verfügen kann, suchte ich diese doch noch zu vermehren. Der Zufall begünstigte mich. Ich hatte zur Zeit, da ich in diesem Staat Krieg führte, einen jungen Taugenichts kennengelernt, der die Spanier und die Insurgenten einen nach dem anderen verriet; dieser junge Mann nennt sich jetzt Cuchillo.
   Mein Verhältnis zu ihm war anderer Art. – Ich bemerkte nämlich, daß er das Regiment, das ich befehligte, in einen Hinterhalt der Insurgenten führte; ich befahl daher, ihn an den ersten Baum zu hängen, bei dem wir vorbeikämen. Es traf sich glücklich für ihn, daß man meine Befehle zu buchstäblich genommen hatte; wir befanden uns mitten in ungeheuren Savannen, ohne Bäume irgendeiner Art, und der Befehl war nicht leicht auszuführen. Bei den Märschen und Gegenmärschen, die ich zu machen genötigt war, konnte also der Befehl zu seiner Hinrichtung nicht sogleich vollzogen werden; Cuchillo entkam und hat jetzt keinen Groll mehr gegen mich im Herzen. Ihr habt im Dorf Huerfano gesehen, daß ich wieder Bekanntschaft mit ihm angeknüpft habe, um ihm mit gutem, klingendem Gold das Geheimnis einer unermeßlichen Goldmine abzukaufen, nach der ich jetzt die Expedition, die sich unter meinen Befehlen gebildet hat, richten will.
   Cuchillo allein, ich und Ihr, Don Vicente« – der Spanier verschwieg den Namen Tiburcios —, »kennen bis jetzt den geheimen Beweggrund zu dieser Unternehmung, deren scheinbarer Zweck nur eine Expedition mehr ist, wie solche schon öfter unternommen worden sind. Ihr, Herr Senator, werdet hier mit der sehr süßen Aufgabe zurückbleiben, bei der schönen Rosarita Erhörung zu finden; ich dagegen nehme die zahllosen Gefahren der unbekannten Länder, in die ich eindringen will, für mich in Anspruch. Was Cuchillo anlangt, so verspreche ich ihm, wenn er mich verrät, diesmal von meiner eigenen Hand eine ebensosehr wie das erstemal verdiente, aber schnellere Strafe; denn ich weiß nicht, was mir sagt, daß der Verräter seinen Charakter nicht geändert hat!
   Der Gewinn aus dieser Expedition, deren reichster Anteil mir als dem Chef gebührt, wird noch den Hilfsquellen, über die ich verfügen kann, hinzugefügt werden. Die Leute unter meinen Befehlen könnten sich selbst nötigenfalls – und das ist nicht der geringste Beweggrund in meinen Augen – in ergebene Parteigänger verwandeln in dem wahrscheinlichen Fall, daß es zum Handgemenge kommen sollte. Außerdem sind mir noch Hilfstruppen aus Spanien versprochen, denn Europa leidet an einer Übervölkerung, und die überzählige Masse sucht alle Ausgänge auf, um sich anderswohin zu ergießen. Die Abenteurer werden haufenweise kommen, um sich unter unsere Fahne zu reihen und das neue Königreich zu erobern, dessen Krone Europa noch einmal auf das Haupt eines seiner Söhne setzen wird.«
   Der Spanier ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, von einer so feurigen Begeisterung ergriffen, als ob er schon das Szepter und den königlichen Mantel, die sein Stolz für seinen Gebieter zu erringen träumte, in seiner Hand gehabt hätte. Ein kriegerisches Feuer blitzte in seinen Augen; er schien die Gegenwart des Senators vergessen zu haben. Erst nach einiger Zeit erinnerte er sich, daß bei einem Plan, wie der seinige war, die Intrige der Vorläufer und die Unterstützung der Gewalt und Kühnheit sein müsse, und mit einem leichten Anflug von Geringschätzung wandte er sich an denjenigen, der in diesen verborgenen Wirkungskreisen, wo die Männer von seinem Schlag jede persönliche Beteiligung zurückweisen, tätig sein sollte.
   »Nun«, sagte er, »Eure Aufgabe muß eine friedlichere sein. Für uns der offene Kampf – für Euch die geheimen Wege der Dunkelheit. Durch die reiche Heirat, die Ihr durch meine Vermittlung machen werdet, wird Euer Vermögen sich wieder heben; Ihr werdet den Einfluß, den Ihr verloren habt, wiedergewinnen. Von den zweihunderttausend Piastern, die die Mitgift Eurer Frau bilden, werdet Ihr hunderttausend dazu gebrauchen, Euch Anhänger im Senat und bei denen zu verschaffen, die Ihr Eure Armee nennt. Diese Summe wird Euch mit Zinsen wiederbezahlt werden; und solltet Ihr sie auch verlieren, so werdet Ihr doch immer noch ein ausgezeichnetes Geschäft machen! Aber davon kann hier gar keine Rede sein. Der offenbare Zweck, den Ihr vor Augen haben sollt, wird der sein, den Staat Sonora von der Föderalrepublik loszureißen – an Gründen dazu ist kein Mangel: Sonora hat kaum mehr Gerechtsame als ein gewöhnlicher Landstrich. Eure Interessen sind nicht dieselben wie die der Zentrumsstaaten. Täglich werden Gesetze, die einen lokalen Nutzen für diese Staaten haben, für euch tyrannische Gesetze. Ein Präsident, der in einer Entfernung von siebenhundert Meilen eure Finanzen, eure Zollverhältnisse leiten soll, ist eine Lächerlichkeit. Die Fahne der Unabhängigkeit wird von den untätigen Soldaten, die die Regierung nicht besolden kann, erhoben werden, wenn zur rechten Zeit Geld unter sie verteilt wird. Ehe nur die Nachricht vom ›Grito‹ bis zum Sitz der Exekutivgewalt gelangt ist; ehe nur diese Regierung über eine hinreichende Anzahl Soldaten verfügt, um gegen uns zu marschieren; ehe diese Truppen, die die Desertion wie immer bis zur Hälfte vermindern wird, noch bis auf einige hundert Meilen Entfernung gekommen sind, wird die Empörung schon Wurzeln gefaßt haben.
   Der Senat, den Ihr lenken werdet, muß Gesetze erlassen; Gesetze, die euren Sitten, euren Bräuchen angepaßt sind, und diese werden dann schon diejenigen in Vergessenheit gebracht haben, die euch jetzt regieren. Ferner werden die Offiziere und die Soldaten, die kommen, euch zu unterwerfen, schon durch das Gold erkauft sein, über das ich verfügen kann. Die Insurrektion ist vollendet, Sonora ein freier Staat. Der erste, der entscheidende Schritt ist getan, und die Bestechung wird die zweite Umbildung bewirken. Der Senat, die Armee werden zur Regierung einen europäischen Fürsten berufen, der dieselbe Sprache mit ihnen spricht, der sich zu derselben Religion bekennt.
   Hört mich jetzt, Don Vicente. Es gab vor meiner Rückkehr in diese Provinz einen Senator, der aus einem reichen Mann, der er war, ein armer Mann geworden ist und der keine andere Aussicht hatte als die, in der Dürftigkeit zu leben, gequält von dem vergeblichen Schmerz über seinen dahingeschwundenen Reichtum. Ich gebe dem Senator diesen Reichtum zurück; ich gebe ihm eine Frau, deren Schönheit der Stolz eines Fürsten sein würde. Der Senator Despilfarro wird zum Grafen, zum Granden von Spanien erhoben werden, ein einträgliches Amt wird an die Person des neuen Königs seinen erprobten Senator fesseln, und er wird steigen, steigen bis zu dem Augenblick, wo seine ehrgeizigsten Wünsche erfüllt sein werden. Hatte ich unrecht, als ich sagte, daß der Versucher dem Herrn der Welt, dem alles gehört, nicht mehr anbot als das, was Euer zukünftiger Souverän, König Karl I., durch meinen Mund Euch, der Ihr nichts mehr besitzt, verspricht?«
   Nach diesen Worten schwieg der Spanier, und der Senator, geblendet durch die verführerischen Ehren und Reichtümer, drückte die Hand des kühnen Parteigängers und rief mit Begeisterung: »Es lebe König Karl I.!«
   Der Spanier unterrichtete ihn noch von den Maßnahmen, die man unterdes zu nehmen habe, zeigte ihm die Leichtigkeit der Ausführung seines Plans und die Aussichten auf dessen Gelingen und schloß: »Ihr seht, König Don Carlos zählt schon einen Anhänger in diesem Land. Aber es ist spät, Don Vicente, und ich muß noch, ehe der Abend vorüber ist, zu wichtige Sachen überdenken, als daß ich sie auf morgen aufschieben könnte; Ihr werdet also entschuldigen, daß ich hiermit von Euch Abschied nehme.«
   Der Senator ging aus dem Zimmer auf das seinige, den Kopf voll goldener Träume von seinem künftigen Reichtum und seiner Größe.


   15. Der Hinterhalt

   Im entlegensten Teil der Gesindewohnungen befand sich das Zimmer, das Don Agustin den vier Abenteurern Pedro Diaz, Oroche, Cuchillo und Baraja gegeben hatte. Die Bekanntschaft zwischen ihnen war schnell bei Tisch gemacht und wurde in dem Augenblick, wo wir sie wiederfinden, fortgesetzt. Beim zweifelhaften Schein eines langen, dünnen Lichtes, das düster auf seinem eisernen Leuchter brannte, saßen Cuchillo und Baraja auf einer eichenen Bank an einem breiten Tisch und waren, ohne an ihren Schwur zu denken, damit beschäftigt, die am Morgen des vorigen Tages angefangene Partie wiederaufzunehmen.
   Pedro Diaz schien auf das Spiel nur mechanisch achtzugeben, während Oroche, der an der Ecke des massiven Tisches saß, den rechten Fuß über den linken geschlagen, den Ellbogen auf sein Knie gestützt hatte und in dieser Lieblingsstellung der Vihuela-Spieler sich auf seinem Instrument mit dem Gesang der Boleros und Fandangos begleitete, die gerade unter der Küstenbevölkerung die beliebtesten waren. Das waren die Gitarrenklänge, die Tiburcio gehört hatte. Oroche schien – wie immer sorgfältig in seinen durchlöcherten Mantel gehüllt – als ein wahrer Künstler sich auf den Flügeln der Musik über die gewöhnlichen Rücksichten auf Kleidung und Bequemlichkeit zu erheben.
   Eine halbleere Flasche Mescal vervollständigte für die beiden Spieler die Annehmlichkeit des Abendessens, dem sie reichliche Ehre angetan hatten. Trotz der vollen Gläser, die er getrunken hatte, schien Cuchillo doch ein Raub der heftigsten Leidenschaften zu sein, und seine zusammengezogenen Augenbrauen gaben seinem Gesicht ein noch drohenderes Aussehen als gewöhnlich. Er hob in diesem Augenblick die Karten mit ganz besonderer Sorgfalt ab. Er spielte nicht glücklich gegen seinen Freund Baraja, denn ein Teil des Goldes, das er von Don Estévan empfangen hatte, war schon zu seinem Gegner hinübergewandert, und der Bandit hoffte, daß eine aufmerksame Behandlung der Karten seinem unglücklichen Spiel Einhalt tun sollte.
   Plötzlich warf Cuchillo beim Umwenden der Karte, die die von ihm gesetzte Summe dahinraffte, das ganze Spiel heftig auf den Tisch. »Der Teufel hole Eure Musik«, rief er in wütendem Ton; »und mich dazu, weil ich mich wie ein Dummkopf dazu verstanden habe, auf Kredit zu gewinnen und bares Geld zu verlieren!«
   »Ihr beleidigt mich!« erwiderte Baraja mit Würde. »Mein Wort hat immer für bares Geld gegolten.«
   »Vorzüglich, wenn Ihr nicht verloren habt …«
   »Was Ihr da sagt, ist nicht artig«, fiel Baraja ein, indem er die Karten zusammenraffte. »Pfui! Señor Cuchillo, Ihr ärgert Euch über eine so geringfügige Sache! Ich habe die eine Hälfte einer Hacienda verloren, nachdem ich gesehen habe, daß man mir die andere gestohlen hatte, und habe nichts gesagt.«
   »Nun gut! Ich aber sage, was mir beliebt, Señor Baraja; und ich sage es laut!« erwiderte Cuchillo, indem er die Hand ans Messer legte.
   »Ja, Ihr sagt Worte, die Eure Freunde töten. Aber diese Worte tun nichts in der Entfernung«, antwortete Baraja ernst, »und ich habe eine ebenso scharfe Zunge wie Ihr.« Und er zog ein Messer aus seinem Gürtel; Cuchillo machte es ebenso.
   Oroche nahm ruhig sein Instrument wieder auf, das er bei der Unterbrechung Cuchillos einen Augenblick weggelegt hatte, und wie ein Barde der Vorzeit machte er sich bereit, den Kampf zu besingen, von dem er Zeuge war, als Diaz sich plötzlich zwischen die beiden Kämpfer warf. »Schämt euch, ihr Herren Kavaliere!« sagte er. »Leute, die geschaffen sind, sich gegenseitig zu achten!«
   Cuchillo und Baraja behielten ihre drohende Haltung und waren bereit, sich um einiger Quadrupel willen am Vorabend des Tages zu ermorden, an dem sie aufbrechen wollten, um zehnmal mehr zu erobern.
   »Habe ich nicht sagen hören, Señor Cuchillo, daß Ihr der Führer unserer Expedition sein sollt? Ihr gehört Euch also nicht mehr selbst und habt nicht das Recht, Euer Leben in einem persönlichen Streit aufs Spiel zu setzen. Und Ihr, Señor Baraja, habt ebensowenig ein Recht, das Leben unseres Führers zu bedrohen. Also steckt eure Messer in die Scheide und laßt die Sache ruhen.«
   Cuchillo, zum Bewußtsein gebracht, bedachte, daß er mehr als irgend jemand am Erfolg dieser Expedition beteiligt sei und daß er bei einem Kampf auf Leben und Tod – denn das sind meistenteils die Kämpfe mit dem Messer – zuviel aufs Spiel setze.
   Seinerseits dachte auch Baraja, daß die Quadrupel in seiner Tasche besser angewandt werden könnten als im unglücklichen Fall zu den Kosten seines Begräbnisses.
   »Es sei«, sagte Cuchillo; »ich opfere meinen Groll dem allgemeinen Wohl.«
   »Was mich betrifft«, sagte Baraja, »ich bin aufrichtig genug, ein so edles Beispiel nachzuahmen, und lege die Waffen nieder … Aber ich spiele auch nicht mehr.«
   Die langen Messer kehrten in die Scheide zurück, und die beiden Gegner reichten einander die Hand. Darauf fragte Diaz, um jede Anspielung auf den beigelegten Streit zu vermeiden: »Wer ist der junge Mann, den Ihr mit auf Euer Pferd genommen habt, Señor Cuchillo? Wenn ich nicht irre, so habe ich trotz der scheinbaren Freundschaft feindselige und mißtrauische Blicke bemerkt, die ihr miteinander gewechselt habt.«
   Cuchillo erzählte, wie sie Tiburcio halbtot auf der Straße gefunden hätten, und nannte seinen Namen und alles, was der Leser schon von ihm weiß. Aber diese Frage hatte abermals das Gesicht des Banditen verfinstert, da er sich erinnerte, daß seine Schlauheit an der Vorsichtigkeit des jungen Mannes, den er – anmaßend genug – hatte ausforschen wollen, gescheitert war und daß dieser nämliche junge Mann ihn unter seinem Blick hatte erzittern lassen. Er kehrte also zu seinen tödlichen Plänen gegen den Urheber dieser Widerwärtigkeiten zurück – zu den finsteren Plänen, die einen Augenblick in den Hintergrund getreten waren – und beschloß, Teilnehmer an seiner Rache zu werben. »Ist es euch wohl zuweilen begegnet«, fragte er Diaz und Oroche, »eure Leidenschaften, wie ich es eben getan habe, dem allgemeinen Wohl zu opfern?«
   »Ohne Zweifel!« erwiderte Diaz. »Was mich betrifft«, rief der langhaarige Gambusino mit einer für seinen Charakter ehrenvollen Freimütigkeit, »so hat mein Unstern es immer nötig gemacht, das Gegenteil zu tun.« »Man ist entweder ein rechtschaffener Mann, oder man ist es nicht«, fuhr der Redner fort; »und wenn man sich mit Leib und Seele irgendeiner Sache hingegeben hat, so muß man auch seinen Leidenschaften, seinen Interessen, selbst allen Gewissenszweifeln, die sich in einem empfindsamen Gemüt erheben könnten, Schweigen gebieten.«
   »Das weiß jedermann«, sagte Baraja.
   »Nun, ihr Herren, dieses zarte Gewissen beunruhigt sich leicht bei mir, und ich bedarf eurer Meinung darüber, um es wieder zu beruhigen.«
   Die beiden Taugenichtse, an die er sich wandte, bewahrten auch diesmal eine unerschütterliche Ernsthaftigkeit.
   »Nehmen wir an«, fuhr der Bandit fort, »daß es in der Welt einen Mann gäbe, den ihr zärtlich liebtet, dessen Leben jedoch den Erfolg unserer Expedition zweifelhaft machen könnte; wie hat man da gegen ihn zu verfahren?«
   »Bei Gott«, rief Oroche, »ich würde glücklich sein, endlich eine passende Gelegenheit zu finden, um das Privatinteresse dem glücklichen Erfolg für alle zu opfern!«
   »Aber wer ist dieser Mensch?« fragte Diaz. »Das ist eine Geschichte«, erwiderte Cuchillo, »deren Einzelheiten nur mich allein angehen; aber das Faktum ist da und der Mann auch.«
   »Caramba! Das Faktum ist schon zuviel!« sagte Oroche. »Und folglich auch der Mann!«
   »Ist das euer aller Ansicht?« fragte Cuchillo.
   »Ganz gewiß!« sagten zugleich Oroche und Baraja.
   Diaz schwieg und verhielt sich sozusagen unparteiisch; bald darauf ging er unter dem Vorwand, freie Luft zu schöpfen, hinaus.
   »Wohlan, ihr Herren«, nahm Cuchillo, der mit seinen beiden Kameraden allein geblieben war, wieder das Wort, »da ihr eure Meinung ausgesprochen habt, so will ich euch denn sagen, daß dieser Mann mein Freund Tiburcio ist.«
   »Tiburcio?« riefen die beiden künftigen Mitschuldigen Cuchillos.
   »Er selbst! Und obwohl mir das Herz darüber schrecklich blutet, so erkläre ich doch, daß sein Leben alle unsere Pläne scheitern lassen kann.«
   »Aber morgen«, sagte Baraja, »bei dieser Jagd auf wilde Pferde, gibt es tausend Gelegenheiten für eine, sich seiner anständig zu entledigen.«
   »Das ist wahr!« sagte Cuchillo mit finsterer Miene. »Er darf niemals davon zurückkehren. Kann ich auf euch rechnen?«
   »Blindlings!« erwiderten die beiden Abenteurer.
   Das Ungewitter grollte, wie man sieht, über dem Haupt Tiburcios; aber es sollte noch größer werden. Ein Klopfen an der Tür unterbrach die finstere Beratung.
   Cuchillo öffnete und führte einen Mann ins Zimmer, in dem sie einen Diener Don Estévans erkannten. Er wollte Cuchillo benachrichtigen, daß sein Herr ihn im Garten erwarte. Durch diesen Zwischenfall wurde die Beratung über die Mittel zur Vollziehung, die alle drei gegen einen einzigen Mann zu ergreifen gedachten, bis zur Rückkehr Cuchillos aufgeschoben. Cuchillo erhob sich und begleitete den Diener Don Estévans.
   Dieser führte ihn in eine Allee von Granatbäumen, in der ein Mann, in seinen Mantel gehüllt, auf und ab ging. Beim Schein des Mondes, der durch die Blätter drang, schien das Antlitz des Spaniers die Maske stolzer Unempfindlichkeit, die gewöhnlich seine feurigen Gedanken verbarg, wieder angenommen zu haben. Bei dem Geräusch der Schritte, das Cuchillo verursachte, der sich mit wildem Ausdruck in seinen Mienen und mit einem Auge, das rachsüchtig blitzte, näherte, unterbrach Don Estévan sein Nachdenken.
   Wenn Cuchillo nicht so sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt gewesen wäre, so würde er bei seiner Ankunft einen spöttischen Ausdruck im Gesicht des Spaniers bemerkt haben. »Ihr habt mich rufen lassen?« sagte er zu Don Estévan.
   »Ich glaube«, begann dieser, »Ihr könnt Euch bis jetzt nur zu meinem Schweigen Glück wünschen. Ich habe Euch nämlich hinreichend Zeit gelassen, diesen jungen Mann … den Sohn Marcos … auszuforschen; Ihr wißt, was ich sagen will. Nun, Ihr habt ihn ohne Zweifel vom Kopf bis zu den Füßen ausgekundschaftet? Ihr habt ihn bis zur kleinsten Falte seines Herzens durchsucht, Ihr, dessen Scharfsinn so schwer zu täuschen, dessen Gewissen nicht leicht zu beunruhigen ist? …«
   Cuchillo fühlte bei den herben Worten des Spaniers, die seine verwundete Eigenliebe nur noch mehr erbitterten, daß er übler Laune wurde. Wir haben schon gesehen, daß er den Argwohn de Arechizas gegen Tiburcio dadurch zu wecken versucht hatte, daß er ihn fürchten ließ, er könne irgendwelche Entdeckungen am Totenbett seiner Adoptivmutter gemacht haben; damals konnte er nur auf sich selbst rechnen, um sich seiner zu entledigen, und seine Schlauheit ließ ihn einen Verbündeten suchen; jetzt aber, da er auf die Teilnahme zweier Banditen seines Schlages – oder doch nur wenig anders – zählen konnte, hielt er es seiner Würde angemessen, die entgegengesetzte Sache zu vertreten und den Spanier glauben zu lassen, daß er sich vor dem jungen Mann nicht in acht zu nehmen brauche.
   »Nun, was habt Ihr denn erfahren?« fuhr Don Estévan fort.
   »Nichts«, erwiderte Cuchillo.
   »Nichts?« wiederholte der Spanier.
   »Das heißt, der junge Mann konnte mir nichts sagen, da er selbst nichts wußte. Sein Herz hat für mich keine Geheimnisse mehr.«
   »Was? Er ahnt nicht das Dasein des Val d‘Or?«
   »Nicht mehr als die Stelle, wo das irdische Paradies liegt«, antwortete Cuchillo unverschämt.
   »Und was will er auf der Hacienda machen? Er befand sich auf dem Weg hierher und hatte doch ohne Zweifel irgendeinen Zweck im Auge, als er sich hierher wandte.«
   »Er will Don Agustin um einen Dienst bitten; um den allerkleinsten: eine Stelle als Hirt.«
   »Man sieht wirklich, daß Ihr sehr mit ihm vertraut geworden seid.«
   »Ich schmeichle mir. Mein Scharfsinn …«
   »… steht mit Eurem Gewissen auf derselben Stufe«, sagte der Spanier ernsthaft.
   Cuchillo verbeugte sich auf jeden Fall.
   »Auf einem so langen Weg«, fuhr Arechiza fort, »wie der ist, den ihr zusammen zurückgelegt habt, plaudert man von tausend gleichgültigen oder ernsten Dingen, wenn man nämlich soviel Vertrauen einflößt, wie dieser junge Mann so ganz … unaufgefordert Euch bewiesen hat; von Herzensangelegenheiten zum Beispiel … Nun, hat er Euch denn nicht andere Absichten mitgeteilt? Vielleicht irgendeine Jugendliebe?«
   »Und in wen, zum Teufel, sollte er sich in diesen Steppen verliebt haben? Dieser arme Tiburcio setzt ein mittelmäßiges Pferd weit über das schönste Weib!«
   »Ach so!« sagte der Spanier, der nicht länger ein spöttisches Lächeln, das Cuchillo schaudern ließ, zurückhalten konnte. »Nun, Eure Jugend versprach mehr, Freund Cuchillo.«
   »Sollte ich etwa zufällig weniger leisten?« fragte der von diesem Vorwurf verwirrt gemachte Bandit.
   »Ich fürchte ja; und wenn – wovor Gott Euch behüten möge – Euer Gewissen ebenso dickhäutig als Euer Scharfsinn handfest ist, so wird Euch eine kleine Sünde nicht im Schlaf stören.«
   »Wie meint Ihr das?« fragte Cuchillo, obgleich er fühlte, daß er offenbar die Rolle eines Dummkopfs spielte.
   »Ich meine, daß bei der einzigen guten Handlung, die Ihr getan habt, Eure Hand sehr unglücklich war.«
   »Eine gute Handlung?« wiederholte Cuchillo, der sich ganz verlegen zu erinnern suchte, bis zu welchem Abschnitt seines Lebens er zurückgehen müßte, um eine zu finden.
   »Ja, durch die Rettung des jungen Mannes!«
   »Aber Ihr habt ja diese gute Handlung begangen; denn für mich war sie ja nur gewinnbringend.«
   »Sei es! Ich wollte sie Euch leihen trotz des Sprichwortes, das sagt, daß man nur dem Reichen leihen soll. Doch hört, was ich erfahren habe; ich, der ich mir weder soviel Gewissenhaftigkeit noch soviel Scharfsinn anmaße als Ihr! Dieser junge Mann hat in seiner Tasche die Marschroute zu dem fraglichen Val d‘Or und alle prachtvollen Pferde des Vaters seiner Geliebten zu seiner Verfügung; er kommt zu dieser Hacienda, um sich zu ihrem künftigen Eigentümer zu machen!«
   »Tod und Blut!« rief Cuchillo zurückprallend. Dann, ruhiger geworden durch den spöttischen Blick des Spaniers, sagte er: »Das kann nicht möglich sein! Ich hätte mich von einem Kind nicht so bei der Nase herumführen lassen …«
   »Dieses Kind ist ein Riese gegen Euch, Cuchillo«, sagte der Spanier kalt.
   »Es ist unmöglich!« erwiderte Cuchillo aufgeregt.
   »Wollt Ihr Beweise?«
   »Gewiß! Ich muß sie haben!« antwortete der Bandit, seine Wut verbeißend.
   »Ihr wollt sie haben, Cuchillo?« fuhr der Spanier sehr ernsthaft fort. »Bedenkt, daß sie von der Art sind, Euch von der Fußsohle bis zum Scheitel mit Schauder zu bedecken!«
   »Ich will sie haben, wie sie auch sein mögen!« sagte Cuchillo mit erstickter Stimme.
   »Merkt wohl – ich rede nicht von Eurem Gewissen; das bekommt niemals Schauder. Ich will nur von dem Schauder körperlicher Angst reden, wie ihn etwa der Anblick des Jaguars beim Menschen hervorruft; Ihr wißt …« Don Estévan hielt inne; es war in seinem eigenen Interesse sehr leicht, durch seine Überlegenheit einen Mann zu erdrücken, dessen Treue ihm aus tausend Gründen verdächtig war. Er fuhr fort: »Tiburcio stammt aus einem Geschlecht – scheint von einem Geschlecht zu stammen, wollt‘ ich sagen —, dessen Feinde nicht lange leben; von einem Geschlecht, das Verstand und Kraft als Erbteil empfangen hat – und Ihr seid sein Todfeind! Fangt Ihr an, zu begreifen?«
   »Nein«, sagte Cuchillo.
   »Wohlan! Ihr werdet es jetzt durch einige sehr einfache Fragen begreifen lernen. Hier ist die erste: Habt Ihr auf Eurer Expedition mit Arellanos nicht ein Pferd geritten, das mit dem linken Fuß strauchelte?«
   »Ach!« machte Cuchillo erbleichend.
   »Sind es wohl die Indianer, die Euren Gefährten erwürgt haben?«
   »Ich soll es vielleicht sein?« wiederholte der Bandit mit häßlichem Lächeln.
   »Habt Ihr nicht in einem tödlichen Kampf eine Wunde am Fuß erhalten? Habt Ihr nicht auf Euren Schultern den Leichnam Arellanos‘ getragen?«
   »Ja, um ihn den Beschimpfungen der Indianer zu entziehen!«
   »Und aus diesem Grund stürztet Ihr in einen nahen Fluß einen Leichnam, der – vielleicht noch gar kein Leichnam war?«
   Der helle Mondschein warf durch das Blätterdach der Granatbäume ein bleiches Licht auf die Gestalt des Banditen, der mit verstörten Blicken diese Beweise eines Mordes anhörte, ohne begreifen zu können, woher sie kamen; eines Mordes, den er für immer in der Steppe begraben wähnte.
   Man kann sich leicht denken, daß Cuchillo beim Verkauf seines wertvollen Geheimnisses an Don Estévan sich nicht mit großer Selbstliebe wegen der Art und Weise gerühmt hatte, wie er in dessen Besitz gekommen war. Er war leicht über seine erste Expedition nach dem Val d‘Or – wenigstens was seine Gefährten betraf – hinweggegangen, um einzig und allein die Einzelheiten hervorzuheben, die am meisten geeignet waren, den Señor aus Spanien von der Wichtigkeit der Entdeckung zu überzeugen. Man kann sich nun einen Begriff von seinem Entsetzen machen, als er sah, daß die Steppe geredet hatte.
   »Weiß Tiburcio das?« fragte Cuchillo mit schlecht verhehlter Ängstlichkeit.
   »Nein; aber er weiß, daß der Mörder seines Vaters ein Pferd hatte wie das Eure; daß er am Fuß verwundet war; daß er den Leichnam seines Vaters ins Wasser geworfen hat; er weiß nur den Namen des Mörders nicht. Doch damit ich auf Eure Ehrlichkeit bauen kann … Ich meinesteils werde bei dem geringsten Argwohn dieses Geheimnis jenem jungen Mann übergeben, der Euch wie einen Skorpion zertreten wird … Echtes Blut kann sich nicht verleugnen. Also, ich wiederhole es Euch: Kein Verrat, Cuchillo, keine Treulosigkeit, oder Euer Leben wird mir dafür bürgen.«
   Solange ich es noch habe, sollst du dieses Geheimnis bezahlen, dachte Cuchillo bei sich. Was Tiburcio anlangt, so kann man es morgen um diese Zeit seinen Ohren anvertrauen – sie werden es nicht mehr hören. »Wie dem auch sein mag«, sagte er unverschämt; »Eure Herrlichkeit hat mir nicht bewiesen, daß dieser junge Mann Doña Rosarita liebt, und bis auf weiteres muß ich daran zweifeln, daß mein Scharfsinn …«
   »Still!« sagte der Spanier. »Ich glaube hier ganz nahe Stimmen zu hören, die einander antworten.«
   Sie verhielten sich ruhig. Durch den Garten gehend waren sie nicht weit von einem Pavillon angekommen, den die Tochter des Hacenderos bewohnte; und so groß war die Stille der Nacht, daß in ziemlich großer Entfernung die Stimmen – sogar die einzelnen Worte vernehmbar waren.


   16. Die Liebe hinter dem Gitter

   In dem Augenblick, wo alles Geräusch des Tages nahe und fern verstummt war; wo die Nachtluft, kühl und duftend, kaum in dem weiten Garten der Hacienda leise rauschte, war keine Täuschung möglich über die Stimmen, die man hörte. So groß war die Ruhe in der Luft, daß weit von da im Wald hinter der Wohnung Don Agustins der widerhallende Ruf des wilden »Cuitlacoche«, der sich nachts auf den Schlingpflanzen über den Wasserfällen hin und her schaukelt, bis zu den Ohren der nächtlichen Spaziergänger gelangte.
   »Das ist die Stimme Tiburcios und Doña Rosaritas!« sagte der Bandit.
   »Halt, Cuchillo, da haben wir schon, wie mir scheint, einen Anfang des Beweises.« Ein Gedanke kam dem Spanier plötzlich wie ein Blitzstrahl. Wenn dieses junge Mädchen ihn zufällig liebte, sagte er bei sich, so müßte man also auf eine Heirat verzichten, die ich zum Eckstein eines großen politischen Gebäudes gemacht habe! Obgleich der Spanier der einzige war, der den wirklichen Stand und den Namen Tiburcios wohl wußte, und in seinen Augen der letzte Mediana der Tochter des Hacendero keineswegs unwürdig war, so hatte er doch keinen einzigen Augenblick voraussetzen können, daß Doña Rosarita die Liebe eines jungen Mannes erwidern würde, der in seinen eigenen Augen – wie in den Augen anderer – nur ein Kind ohne Namen und ohne Familie war. Der Gedanke, daß nichtsdestoweniger die Tochter Don Agustins die Kühnheit dieses jungen, zerlumpten Bauern, wie er ihn nannte, nicht mit allzu ungünstigem Auge betrachten könnte, war ihm plötzlich in den Sinn gekommen, als er in der Nacht, ohne einen anderen Zeugen als die Sterne des Himmels, Tiburcio und Rosarita im Gespräch miteinander hörte. Ein solches Zusammentreffen unter dem Auge Gottes allein – war das nicht schon eine besondere Vergünstigung? Das Herz des Spaniers schwoll vor Zorn bei diesem Gedanken, und sein Ehrgeiz erhob sich für die Pläne, die dieser ihm eingeflüstert hatte. Hier war ein Hindernis, an das er keinen Augenblick gedacht hatte.
   Die Stirn des Herzogs von Armada wurde sorgenvoll. Er fand sich unvermutet einer jener dringenden Forderungen gegenüber, vor denen die Politik nicht zurückweichen darf und die, wie man sagt, von den Staatsgründen gerechtfertigt werden. Der Spanier hatte hinter sich einen Arm, bereit, das Opfer zu treffen, das er ihm bezeichnen würde; aber schon lasteten zwanzig Jahre der Buße auf seinem Haupt, ohne ihn von einem Mord, dessen er sich angeklagt hatte, reinzuwaschen. Sollte er sich nun in dem Augenblick, wo er schon die Hälfte seines Lebens überschritten hatte, der Gefahr aussetzen, die Zeit, die ihm noch zu leben übrigblieb, abermals zu vergiften?
   Don Estévan ging mit sorgenvoller Miene auf und ab; er stand unter dem Einfluß eines heftigen Kampfes, in den sein Gewissen mit seinem Ehrgeiz geraten war. Sollte er, so nahe dem Ziel, das er verfolgt hatte, zurückweichen müssen oder sich entscheiden, weiterzugehen? So wälzen die Ehrgeizigen unaufhörlich den schweren Felsblock des Sisyphus.
   Die Vorsehung, sagte der Spanier zu sich – und bei dem Wort Vorsehung flog ein bitteres Lächeln über seine Lippen —, bot mir die Gelegenheit dar, dem jungen Mann den Namen, die Ehre und die Güter, die er verloren hat, wiederzugeben. Diese gute Handlung meines reifen Alters hätte vielleicht das Verbrechen meiner Jugend gesühnt. Ich habe es verschmäht; ich verschmähe jetzt noch diese Gelegenheit; ist es nicht schon genug der Opfer für die Sache, der ich diene?
   Der Spanier kehrte zu Cuchillo zurück, der ihn aufmerksam beobachtete; aber der Schatten der Granatbäume hatte Don Estévans Gesicht dem lauernden Blick des Banditen entzogen. »Die Stunde ist da«, nahm er halblaut das Wort, indem er sich an Cuchillo wandte, »wo sich unsere Zweifel vielleicht lösen werden; aber erinnert Euch, daß, wenn ich mich herablasse, einen Mann in dem Augenblick zu belauern, wo sein Herz keine Geheimnisse haben darf, es nur geschieht, weil höhere Interessen mich zwingen, es zu tun; es geschieht aber keineswegs, um Euch von einer Tatsache zu überzeugen, deren Wirklichkeit Ihr nicht leugnen könnt. Erinnert Euch aber auch daran, daß Eure rachsüchtigen Pläne meinem Willen untergeordnet bleiben müssen!«
   Nach diesen letzten Worten, die nicht mehr mit jenem Spott gesprochen waren, der Cuchillo so sehr außer Fassung brachte, ging Don Estévan voran, und jener folgte ihm, indem er vor sich hinmurmelte: »Mein Freund Baraja soll niemals gehängt werden, wenn hier nicht genügend Grund vorliegt, daß jemand den Geschmack an guten Handlungen verliert, der zu solchen Albernheiten einen viel entschiedeneren Beruf hat als ich!«
   Man wird sich gewiß erinnern, daß Don Agustin in seiner Unterhaltung mit Don Estévan diesem letzteren alle vertraulichen Nachrichten Fray José Marias, Tiburcio Arellanos betreffend, mitgeteilt hatte. Der Spanier brauchte nur die auf Marcos‘ Mörder bezüglichen Punkte mit der Entdeckung, die Cuchillo sich hatte bezahlen lassen, in Verbindung zu bringen, um den Mörder im früheren Gefährten des Gambusinos zu entdecken. Das war einerseits ein glücklicher Umstand, da er den Banditen noch mehr in seine Gewalt brachte; andererseits aber war es kein Hindernis, daß nicht die Liebe Tiburcios zu Doña Rosarita den Plänen des edlen Spaniers ernstlich hemmend in den Weg trat.
   Der Sturm, der Tiburcio bedrohte, wurde also immer furchtbarer. Allem Anschein nach war er kurz vor dem Ausbruch, denn zu der gedemütigten Eigenliebe und der aufgeschreckten Rachsucht Cuchillos, deren Stimmen in seiner Brust grollten, kam auch noch – je nach dem Resultat seines Zusammentreffens mit Rosarita – der getäuschte Ehrgeiz des Herzogs von Armada.
   Tiburcio hatte sein Zimmer mit so viel Vorsicht verlassen, daß er sich schmeicheln konnte, jeder Beobachtung entgangen zu sein – besonders in dem Augenblick, wo alle Gäste der Hacienda sich auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten —, aber der Zufall hatte ihn, wie wir eben gesehen haben, verraten.
   Obwohl die Nacht nicht so dunkel war, als Cuchillo und Don Estévan gewünscht hätten, um sich ungesehen zu nähern, so konnten sie doch ohne Geräusch an der Ringmauer entlangschlüpfen. Ein kleines, ziemlich dichtes Orangen– und Zitronenwäldchen, das einen süßen Duft ausströmte, den die Nachtluft in sich aufnahm, war der Ort, den man erreichen mußte. Glücklicherweise warf der Mond seine Schatten nach der Seite der Mauer hin, und jene konnten somit das Gebüsch unbemerkt gewinnen. Hier angelangt, hörten sie schon das bald unbestimmte, bald deutliche Murmeln der Fragen und Antworten. Als sie mit noch mehr Vorsicht mitten in das dichtbelaubte Holz geschlüpft waren, wurde es ihnen leicht, dank der Ruhe in der Luft, die von keinem Lärm unterbrochen wurde, auch die leisesten Worte zu verstehen.
   »Was Ihr auch hören mögt«, sagte Don Estévan Cuchillo leise ins Ohr; »bleibt ruhig wie ich.«
   Gut, dachte Cuchillo, ich allein bin jetzt beteiligt; eine Beleidigung gegen mich und nicht gegen dich habe ich zu rächen, und bei allen Teufeln, ich bin neugierig, zu erfahren, ob ich denn wirklich nichts weiter mehr bin als ein Dummkopf.
   Alle beide machten Anstalten zu hören und zu sehen. Ein Raum, den ein gewandter Mann mit zwei Sprüngen durchmessen konnte, ein schwacher Zaun von kleinen Zweigen und Blättern trennte sie allein von demjenigen, den sie belauschen wollten und der weit davon entfernt war, die Gefahr, in der er schwebte, zu ahnen.
   Wenn die spanischen Sitten heutzutage in Spanien nicht mehr ganz so sind wie vor zwei Jahrhunderten, so hat doch Mexiko sie in ihrer ganzen traditionellen Reinheit bewahrt. Der Fremde, der in die großen Mittelpunkte mexikanischer Bevölkerung kommt, kann sich leicht einbilden, plötzlich mitten in eine Stadt des Mittelalters versetzt zu sein. Es ist fast, als ob er plötzlich eine aus der Erde wiedererstandene Gesellschaft vor sich sähe mit den fremdartigen Sitten, dem malerischen Anzug und den barbarischen Bräuchen der Zeit vor dreihundert Jahren. Der Reisende in Mexiko wird ohne Zweifel an der Oberfläche einen schwachen Abglanz europäischer Gesittung finden; im Grunde aber hat das seltsame, fremdartige Wesen sich noch gar nicht verloren. In den fernen Gegenden, wo die Ereignisse dieser Geschichte sich zutragen, in jenen abgelegenen Provinzen, an deren Grenzen indianische Wildheit tobt, findet man nicht einmal mehr diese oberflächliche Ähnlichkeit mit Europa, und der Schriftsteller, der hier die Sitten schildern will, muß sich darauf gefaßt machen, wider seinen Willen zu jenen Episoden zurückgehen zu müssen, die aus den Zeiten Guzmáns von Alfarache, Don Juans de Maraña und aller jener Helden mit Mantel und Schwert aus der spanischen Überlieferung entlehnt zu sein scheinen.
   Anfänglich, eine Zeit hindurch – und die Zeit schien den beiden Lauschern sehr lang —, hörten sie nur jene gewöhnlichen Redensarten eines Liebenden, der sich in zärtlichen Klagen und Vorwürfen ergießt, die er für wohlverdient hält; der sich in Beweisen erschöpft, die ihm unumstößlich scheinen, während die Frau sie spielend mit jener freien, bestimmten und fest geschlossenen Logik widerlegt, die sie mit so großem Erfolg gegen den Mann anwendet, den sie nicht liebt. War Tiburcio wirklich ganz in dem Fall, wo das Ohr der Frau taub ist, weil ihr Herz stumm bleibt? Das Folgende wird es uns lehren; fassen wir zunächst den Anblick der Szene auf, wie sie sich unter den Augen Don Estévans de Arechiza und Cuchillos gestaltete.
   Ein schwacher Lichtglanz, der sich aus dem offenen Fenster Doña Rosaritas hervorstahl, verlor sich auf dem Sand des Gartens. Hinter starken Eisenstäben stand aufrecht das junge Mädchen, weiß gekleidet, in einer Stellung voll Anmut und Ungezwungenheit, und trat aus der erleuchteten Fensternische wie eine geheimnisvolle, strahlende Erscheinung hervor. In einer solch milden, balsamischen Nacht war sie womöglich noch verführerischer als im Salon der Hacienda; denn gerade durch das Gitter ihres Balkons hindurch scheinen die Frauen spanischen Ursprungs den mächtigsten Zauber auszuüben. Der seidene Schleier umhüllte ihr Haupt, und dessen zarte Falten wogten bei jeder unwillkürlichen Bewegung wie die Federn der Taube über Hals und Schultern. Man konnte am Fenster, das zur ebenen Erde war, durch das Gitter hindurch ihre elegante Taille bemerken und bis zum kleinen Schuh hinblickten, den sie trug.
   Tiburcio hatte die Stirn gegen die Stäbe gestützt und schien sich zu beugen unter einem harten, unwiderruflichen Ausspruch oder einer verzweifelten Überzeugung. »Ach«, sagte er, »ich habe nicht wie Ihr, Rosarita, den Tag vergessen, an dem ich Euch das erstemal im Wald sah. Bei der düsteren Abenddämmerung konnte ich von Eurer Gestalt nur einen Schatten unterscheiden; aber einen Schatten, verführerisch wie der des Geistes dieser Wälder. Schon in Eurer Stimme schien mir eine solche Anmut zu liegen, wie sie die Stimmen, die ich bis dahin gehört hatte, nicht besaßen.«
   »Ich habe den Dienst, den Ihr uns geleistet habt, nicht vergessen, Tiburcio«, sagte das junge Mädchen; »aber wozu nützt es, eine Zeit zurückzurufen, die nicht mehr ist?«
   »Eine Zeit, die nicht mehr ist? Nennt ihr so den Zeitpunkt, wo mir mein Leben erst anzufangen scheint? Aber diese Zeit ist nicht vergangen für mich; mir ist, als ob es gestern gewesen wäre. Denn«, fuhr Tiburcio fort, der melancholisch alle Blätter seiner Erinnerung zerpflückte, wie man einen Strauß, den eine treulos gewordene Hand uns gereicht hat, nach und nach entblättert und dabei doch jede Blume bedauert, »so strahlend auch die Schönheit war, die mir erschien, als die Flamme der Feuerstätte nach und nach Eure Gestalt beleuchtete – ich hatte sie doch schon am Klang Eurer Stimme erraten, an dem Empfinden, in das sie mich versetzte.«
   Wenn Tiburcio, anstatt seine Augen beim Sprechen niederzuschlagen, sie auf Doña Rosarita gerichtet hätte, so hätte er in ihrem Blick, auf ihrer Stirn jene Aufregung bemerkt, von der das Herz vielleicht nicht erreicht wird, die aber bei einer Frau durch eine aufgeregte, leidenschaftliche Stimme, die einen Hymnus auf ihre Schönheit singt, hervorgebracht wird.
   Tiburcio war ganz in süßen und bitteren Erinnerungen versunken, die er nur allein zurückzurufen schien, ganz wie ein Mensch, der in dem getrübten Spiegel eines Baches die anmutigen Bilder, die einst sein klares Wasser widerstrahlte, noch einmal zusammenzusetzen sucht. Er fuhr mit sanfterer und bewegterer Stimme fort. »Ich habe ebensowenig die Lianenblüten vergessen, die ich für Euch pflückte und die mir frischer und wohlriechender vorkamen, wenn sie vom Duft Eures Haares erfüllt waren! Dieser süße Duft war also nur ein feines Gift, das eine unheilbare Liebe in meine Adern ergoß? Narr, der ich war! Diese Glockenblümchen sagten mir: ›Berausche dich, aber hoffe!‹ Und ich? Ich berauschte mich mit Hoffnung! Ist es möglich, Rosarita, daß Ihr die Erinnerungen vergessen hättet, die mir bis jetzt das Leben erhalten haben?«
   Es gibt gewisse rücksichtslose Data, an die die Frauen nicht immer sich zu erinnern geruhen, so genau man sie auch erwähnen mag. Doña Rosarita schwieg einen Augenblick, als ob ihr rebellisches Gedächtnis die Einzelheiten, die Tiburcio anführte, vergessen hätte. »Nein«, sagte sie endlich mit leiser Stimme, um nicht etwa ein leichtes Zittern zu verraten; »aber wir waren damals noch zwei Kinder! Jetzt …«
   »Jetzt ist das alles vergessen, weil ein artiger Herr aus Arizpe gekommen ist und die Gnade gehabt hat, Euch in seine ehrgeizigen Pläne mit einzuschließen!«
   »Mich in seine ehrgeizigen Pläne mit einzuschließen? Und wer sagt Euch, daß nicht vielmehr im Gegenteil ich es bin, die es für angemessen hält, ihn in die meinigen mit einzuschließen?«
   »Das ist sonderbar«, antwortete Tiburcio; »dieser Don Estévan, den ich noch mehr als jenen Senator verabscheue, hat Euch – sagt Ihr – von den Vergnügungen in Madrid und von jenen märchenhaften Ländern, die es jenseits des Meeres geben soll, erzählt, und Ihr wünscht, es mit eigenen Augen zu sehen?«
   So weit war Tiburcio in seinen Vorwürfen gekommen, die jeder Mann mit Recht glaubt an die Frau richten zu dürfen, deren Liebe er nicht hat erwerben können, als hinter dem dichten Orangengebüsch, das Don Estévan und Cuchillo verbarg, sich ein fast unhörbares Rauschen der Blätter hören ließ.
   »Still!« rief das junge Mädchen. »Habe ich nicht ein Geräusch gehört?«
   Tiburcio wandte sich rasch um und hätte gern den dumpfen Zorn, der in ihm grollte, an irgend jemand ausgelassen; aber die Strahlen des Mondes beleuchteten nur die Blätter der Orangenbäume; alles war ruhig. Er nahm darum bald wieder seine finstere, tiefsinnige Haltung an. Der Schmerz hatte sogleich wieder von seiner Seele Besitz genommen, die der Zorn nur wie ein einziger Blitz einen dunklen Himmel durchzuckt hatte. »Es ist vielleicht der Geist irgendeines armen Liebenden, der vor Verzweiflung gestorben ist und in diesen Bäumen seufzt«, sagte er melancholisch.
   »Jesus, Ihr erschreckt mich!« rief das junge Mädchen und zog unter seinem Schleier den bloßen Arm hervor, um sich hastig zu bekreuzigen. »Glaubt Ihr denn, daß man davon sterben kann?« fragte es naiv.
   Ein trauriges Lächeln spielte auf den Lippen Tiburcios. »Hört, Rosarita, Ihr seid ehrgeizig, sagt Ihr. Wohlan, wenn ich nun alles, was Euch versprochen ist, Euch ebenfalls geben könnte? Hört«, sagte er, »ich habe bis jetzt nur die Sache des armen und verwaisten Tiburcio geführt; ich will jetzt für den Tiburcio Arellanos sprechen, der reich und mächtig zu werden im Begriff steht; ich werde angesehen werden, denn ich will Euch einen berühmten Namen anbieten.«
   Bei diesen Worten hob Tiburcio eine vertrauensvolle Stirn gen Himmel, auf der der Stolz eines alten Geschlechts wieder aufzuleben schien. Zum erstenmal seit dem Anfang dieser Unterredung hatte er aufgehört, unverständig zu sprechen; Rosarita lieh ihm auch aufmerksam ihr Ohr.


   17. Mangel an Verständnis

   Die beiden Lauscher hatten nicht ein Wort von der ganzen Unterhaltung und kaum eine Gebärde aus dem Schauspiel verloren, das sich unter ihren Augen zutrug. Bei den letzten Tiburcio entschlüpften Worten und während er sich einen Augenblick sammelte, wechselten Don Estévan und Cuchillo einen raschen Blick. Wut und Verwirrung kämpften auf dem Gesicht des Banditen, der grimmig seine eigene Bestürzung sah und fühlte, wie er von Tiburcio getäuscht war – und das nach der unverschämten Art, mit der er sich gegen Don Estévan gerühmt hatte, er habe ihn ganz ergründet und auch seine geheimsten Gedanken gelesen.
   Was den edlen Spanier betrifft, so hatten sich seine Augen mit einem Ausdruck schonungslosen Spottes auf ihn gerichtet. Vielleicht ließ er auch absichtlich Cuchillo den Stachel dieses Hohns fühlen. »Wirklich«, sagte er kalt, »dieser junge Mann setzt ein mittelmäßiges Pferd weit über das schönste Mädchen dieser Gegend.«
   Der Bandit verbiß schweigend seine Wut.
   »Wir werden nun erfahren«, fügte der Spanier hinzu, »ob er die Stelle, wo das Val d‘Or liegt, ebensowenig ahnt als die, wo sich das irdische Paradies befindet.«
   Bei diesen Worten, die den Banditen an seine lügenhaften Behauptungen erinnerten, zuckte dieser zusammen wie der Stier, wenn er fühlt, daß die scharfen Spitzen der Bandilleras in sein Fleisch dringen.
   Unterdessen hielt es Arechiza, der zufrieden war, die bösen Leidenschaften des Banditen geschürt zu haben, für klug, sie bis zu dem Augenblick im Zaum zu halten, wo es im Interesse seiner Politik läge, ihren Ausbruch nicht mehr zu hemmen. Ein unter seinen Augen begangenes Verbrechen, ohne daß sein Mund es befohlen oder nur dazu geraten hätte, mußte sein Gewissen sichern und ließ ihm gegenüber Cuchillo das ganze Ansehen, die ganze Gewalt, die ihm durch eine Mitschuld geraubt worden wäre. Er faßte also kräftig den Arm Cuchillos und sagte zu ihm: »Bei Eurer Seele Seligkeit – erinnert Euch daran, daß das Leben dieses jungen Mannes geheiligt ist!«
   Ein Lächeln von böser Vorbedeutung verfinsterte noch das Gesicht des Banditen, der eben antworten wollte.
   »Still!« sagte Arechiza. »Hören wir!« Und seine Hand blieb auf dem Arm Cuchillos liegen, während seine Blicke sich von ihm abwandten. —
   Dies alles war das Werk einer Minute gewesen; die Stimme Tiburcios ließ sich nach kurzem Schweigen abermals vernehmen. »Wohlan, warum soll ich es Euch noch länger verbergen?« rief Tiburcio, von der aufmerksamen Miene Rosaritas angefeuert. »Ehren, Reichtümer, Macht – alles kann ich zu Euren Füßen legen, und nur Ihr, Ihr allein hättet dieses Wunder getan!«
   So ungläubig die Frauen auch in mancherlei Punkten sind, so gern glauben sie doch wieder an die Wunder, die sie verrichten. Rosarita heftete ihre Augen fragend auf Tiburcio.
   »Ich hätte es Euch vielleicht schon früher mitteilen müssen«, sagte er und schlug die Augen unter einem Vorwurf seines Gewissens nieder, »daß meine Adoptivmutter zu dem gegangen ist, der die Stelle meines Vaters vertreten hat; aber bei meiner Ankunft hier habe ich nur an eine gedacht …«
   »Ich weiß es«, unterbrach ihn das junge Mädchen; »Ihr seid jetzt allein in der Welt; ich habe es heute abend aus dem Mund meines Vaters erfahren.«
   Die Stimme Rosaritas war bei diesen Worten sanft wie ein Lufthauch, der in den Orangenbäumen seufzte, und Tiburcio fühlte einen sanften Druck. Bei diesem Anblick hörte die Hand Don Estévans nach und nach auf, den Arm Cuchillos zu halten.
   »Meine Mutter ist arm gestorben«, fuhr Tiburcio fort; »und doch hat sie mir eine unschätzbare Erbschaft nebst einem Rachevermächtnis hinterlassen. Ich meinesteils habe in ihren letzten Worten freilich nur ein gefährliches Geheimnis gesehen, denn es tötet diejenigen, die in seinem Besitz sind; aber dieses Geheimnis soll mir wenigstens das Mittel liefern, mich bis zu Eurem Reichtum zu erheben. Die Rache soll später kommen; später will ich den Mörder Arellanos‘ suchen.«
   Bei diesen Worten erbleichte Cuchillo und knirschte mit den Zähnen. Sein Arm war frei geworden; Don Estévan hielt ihn nicht mehr fest. Rosaritas Hand war in der Tiburcios geblieben.
   »Hört mich also«, fuhr dieser fort. »Sechzig Meilen von hier, an einem Ort, den Marcos Arellanos gesehen hat – aber mitten unter den indianischen Stämmen —, gibt es eine Goldmine von unberechenbarem Reichtum. Ich weiß, wo sie ist; sie kann mein sein, wenn Ihr mich liebt, Rosarita; denn was soll mir ohne Eure Liebe soviel Reichtum nützen? Sprecht ein Wort, und ich kann mit einigen mutigen Männern, die ich werde zu finden wissen, diesen Schatz erobern und als meinen Anteil noch so viel behalten, daß ich die Tochter eines Vizekönigs damit blenden könnte. Dieses Gold will ich zu Euren Füßen legen, oder ich werde, wenn ich nicht wieder von dort zurückkomme, zu den Toten zu zählen sein.«
   Tiburcio wartete auf die Antwort Rosaritas; diese Antwort erschütterte seine Sinne wie ein Totengeläut. »Ich will gern glauben, daß dies Eurerseits eine List ist, um mich auf die Probe zu stellen«, sagte das junge Mädchen mit einem Lächeln, dem das nächtliche Halbdunkel noch einen Reiz mehr verlieh, das aber das Herz des armen Tiburcio zerriß; »denn es würde zu gehässig sein, zu denken, daß Verrat Euch zum Herrn des Geheimnisses eines anderen gemacht hat.«
   »Des Geheimnisses eines anderen?« rief der junge Mann mit rauher Stimme, indem er vor Erstaunen zurückwich.
   »Eines Geheimnisses, das nur Don Estévan gehört!« erwiderte Rosarita. »Ich habe es gekannt!«
   »Aber von diesem Geheimnis«, rief Tiburcio, »soll ich nur allein wissen, hat man mir gesagt. Ach, Don Estévan besitzt es auch? … So wird Don Estévan mir auch sagen können, wer der Mörder meines Vater ist! Ich haßte ihn schon so sehr … O mein Gott«, rief er, mit dem Fuß stampfend, »laß ihn es selbst sein!«
   »Bitte vielmehr Gott, daß er dich begnadige!« rief eine Stimme, deren Klang Rosarita einen Schreckensruf auspreßte, während eine dunkle Gestalt wie ein Pfeil den Raum durchflog, der Tiburcio von den beiden Lauschern trennte.
   Ehe er sich in den Verteidigungszustand setzen konnte, erhielt Tiburcio einen heftigen Stoß, verlor das Gleichgewicht und fiel; sein Gegner warf sich auf ihn. Einige Minuten hindurch wälzten sich die beiden Gegner auf dem Sand, ohne daß einer von ihnen ein Wort ausgestoßen hätte. Man hörte nur das dumpfe Geräusch schwerer Atemzüge. Das der Hand Cuchillos entschlüpfte Messer blitzte am Boden mit unheilbringendem Glanz, ohne daß einer sich dessen hätte bemächtigen können.
   »Cuchillo, wir sind quitt!« rief Tiburcio, der sich mit einer äußersten Anstrengung erhob und seine Knie auf die Brust des Banditen setzte, während er seinen Dolch aus dem Gürtel zu ziehen suchte.
   Eine Bewegung der Unentschiedenheit – obgleich schnell wie der Gedanke – ließ Don Estévan zögern, ob er für oder gegen Tiburcio Partei ergreifen solle.
   »Halt!« rief Rosarita, indem sie ein herzzerreißendes Geschrei ausstieß. »Halt! Bei der Liebe der Heiligen Jungfrau und aller Heiligen, dieser junge Mann ist der Gast meines Vaters; sein Leben ist geheiligt unter unserem Dach!«
   Don Estévan hielt den Arm fest, der Cuchillo treffen sollte, und während Tiburcio sich umwandte, um zu sehen, wer sich zwischen seine Rache und ihn stellte, erhob sich Cuchillo wieder. Seinerseits sprang Tiburcio rückwärts, wickelte seinen Mantel um den Arm, erhob ihn wie einen Schild, und mit vorgebeugtem Körper, ausgestrecktem Fuß, den Arm in gleicher Höhe mit dem Auge, schien er in der Stellung des antiken Fechters sich einen Gegner zum Angriff auszuwählen.
   »Du nennst das quitt sein?« rief Cuchillo, noch keuchend unter dem Druck des Knies, das so schwer auf ihm gelastet hatte. »Dein Leben gehört mir; ich habe es dir nur geliehen und werde es dir wieder nehmen!«
   »Heran doch, du Hund!« schrie Tiburcio zu ihm, dessen Aufregung durch den Anblick seiner beiden Gegner noch eine Stufe höher gestiegen war. »Kommt auch Ihr heran, Don Estévan! Feiger Mörder! Ihr bezahlt für den Mord an verteidigungslosen Leuten.«
   Eine tiefe Blässe verbreitete sich bei dieser blutigen Beschimpfung, bei dieser unerwarteten Anklage über das Gesicht des Spaniers; er zog seinerseits seinen Dolch. »Drauf, Cuchillo, drauf!« schrie er in wütendem Ton. Und er selbst warf sich auf den jungen Mann. Vielleicht wäre Tiburcio dem Angriff seiner beiden Feinde erlegen, wenn nicht plötzlich ein helleres Licht durch das Gitter am Fenster Rosaritas gefallen wäre und den Schauplatz mit rötlichem Schein erleuchtet hätte.
   Wir haben gesehen, daß Tiburcio bei dem jungen Mädchen alles ohne Erfolg versucht hatte: Klagen, Vorwürfe, Versprechungen waren nutzlos gewesen. Aber diese unvorhergesehene Entwicklung mußte viel beredter zu seinen Gunsten sprechen. Es gibt romantische Zustände, von denen auch die Frau mit dem ruhigsten Urteil getäuscht wird und sich immer fangen läßt. Eine Fackel in der Hand, hatte sich Doña Rosarita auf den Schauplatz dieser so rasch aufeinander gefolgten Ereignisse gestürzt. Beim Anblick Tiburcios, der furchtlos seine verteidigende Stellung beibehielt, während das Blut von seinem mit dem Messer bewaffneten Arm auf die Erde tropfte, bebte ihr Herz voll Mitgefühl und Bewunderung. Ihr erster Antrieb war, sich in die Arme dieses unerschrockenen und schönen jungen Mannes zu werfen, dessen Leben bedroht war, dessen Blut floß. Aber sie gehörte zu den Frauen, die den Schrei des Herzens unter einer keuschen Zurückhaltung zu ersticken wissen; sollten sie auch darüber sterben! Tiburcio war der einzige, mit dem sie sich nicht zu beschäftigen schien.
   »O mein Gott«, rief sie, »Don Estévan, seid Ihr verwundet? Señor Cuchillo, Señor Arechiza – um der Liebe der Heiligen Jungfrau willen, zieht euch zurück! Niemand möge erfahren, daß ein Verbrechen in unserem Haus begangen worden ist!«
   Diese Vermittlung des jungen Mädchens, dessen Busen sich unter dem feinen Hemd hob und senkte; das mit aufgelösten Flechten und auf den Nacken zurückgeworfenem Schleier in seiner stolzen und wilden Schönheit ehrfurchtgebietend dastand, war allmächtig. Die Messer kehrten in ihre Scheiden zurück. Cuchillo murrte wie eine Dogge, der man einen Maulkorb angelegt hat, Don Estévan beharrte in düsterem Schweigen; beide entzogen sich dem Lichtkreis, kehrten in den Schatten zurück und verschwanden.
   Nur Tiburcio blieb mit trotziger Stirn, funkelndem Auge und einem lebhaft durch den Glanz der Fackel erleuchteten Antlitz allein auf dem Kampfplatz zurück. Allmählich jedoch nahm diese stolze Haltung des Mannes, der sich größer fühlt mitten in der Gefahr, beim Anblick Rosaritas einen melancholischen Ausdruck an.
   Auch Rosarita erbleichte unter der Rückwirkung ihrer Gemütsbewegungen und verhüllte züchtig und ganz verwirrt durch das neue Gefühl, das in ihr erwacht war, ihren entblößten Busen und ihre Schultern mit den Falten ihres Rebozos.
   »Rosarita«, sagte Tiburcio sanft, »ich hätte vielleicht – so ausdauernd ist die Hoffnung! – an Euren Worten gezweifelt, aber Eure Handlungen haben deutlicher gesprochen. Gerade zu meinen Feinden seid Ihr zuerst geeilt, und doch floß mein Blut! Seht, es fließt immer noch!«
   »Gott weiß, ob ich diesen Vorwurf verdient habe!« sagte das junge Mädchen mit einer Gebärde des Schreckens beim Anblick der Blutflecken im Sand; es näherte sich, um sich selbst von der Gefährlichkeit der Wunde zu überzeugen.
   Tiburcio wich zurück. »Es ist zu spät!« sagte er mit einem das Herz zerreißenden Lächeln. »Das Unglück ist geschehen! Lebt wohl! Ich bin zu lange Euer Gast gewesen; die Gastlichkeit Eures Daches war unheilbringend für mich. Mein Leben ist hier bedroht, meine teuersten Hoffnungen sind hier vernichtet.«
   Mit diesen Worten näherte er sich einer Öffnung in der Ringmauer. Hundert Schritt davon erhoben sich düster und schwarz die ersten Bäume des Waldes; das geheimnisvolle Licht, das Tiburcio schon im Laufe des Abends aufgefallen war, warf schwache Strahlen wie die eines Sterns durch die Zwischenräume der Baumstämme.
   »Was wollt Ihr tun, Tiburcio?« sagte Rosarita, die Hände faltend, während infolge der verschiedenen Gefühle, die auf sie einstürmten, ihre Augen gegen ihren Willen von Tränen naß wurden. »Das Dach meines Vaters wird Euch schützen!«
   Tiburcio schüttelte verneinend das Haupt.
   Rosarita fuhr fort, indem sie die Hand gegen den Wald ausstreckte: »Aber dort, allein und ohne Verteidigung, erwartet Euch der Tod!« Dann gab sie ihrer Stimme jene überzeugende Sanftheit, die den Entschluß eines Mannes in Unschlüssigkeit verwandelt. »An welchem Ort würdet Ihr Euch auch besser befinden als in meiner Nähe?« sagte sie traurig.
   Die Energie Tiburcios wankte bei diesem Klang der geliebten Stimme. Er stand still. »Wohlan! Rosarita, sagt ein Wort; sagt, daß Ihr meinen Gegner haßt, wie ich ihn hasse, und ich bleibe!«
   Ein heftiger Kampf schien in der Seele Rosaritas vor sich zu gehen; ihr Busen wogte rasch auf und nieder, sie umhüllte Tiburcio mit einem langen, zärtlichen, vorwurfsvollen Blick – aber sie blieb stumm.
   »So lebt denn wohl!« rief Tiburcio. »Ich habe aufgehört, Euer Gast zu sein.« Und er sprang über die Mauer, ehe nur das junge Mädchen sich dieser Tat hätte widersetzen können.
   Betäubt von diesem nicht vorhergesehenen Ausgang stieg sie auf den Schutt, der am Fuß der Mauer aufgehäuft lag, beugte sich über die Ringmauer hinaus und rief: »Tiburcio! Tiburcio!« Aber ihre Stimme verlor sich in der Nacht, ohne daß der sie einer Antwort würdigte, an den sie sich gewandt hatte – er entfernte sich raschen Schrittes.
   Sie hörte noch einige Augenblicke den Klang seiner Schritte; aber dieses Geräusch erreichte bald nicht mehr das Ohr des jungen Mädchens, das niederkniete und betete: »O mein Gott, laß nicht durch diesen jungen Unbesonnenen, der fortgeht, ohne mich zu hören, deinen Fluch auf unser Haus kommen! O mein Gott, beschütze ihn vor den Gefahren, die ihn bedrohen! Wache über ihm, denn ach, er nimmt mein Herz mit sich fort!«
   Dann vergaß Rosarita in ihrem Schmerz ihre Pläne künftiger Größe, den Willen ihres Vaters, die gegebenen Versprechungen und alle jene trügerischen Täuschungen, die den lauten Schrei einer Liebe zum Schweigen gebracht hatten, von der sie bis jetzt noch keine Ahnung gehabt hatte; sie erhob sich rasch, stieg abermals auf die Trümmer und rief mit herzzerreißender Stimme: »Tiburcio! Komm zurück! Ich liebe nur dich allein!«
   Aber ihre Stimme weckte kein Echo. Sie hüllte sich in ihren Rebozo und weinte. Ehe sie wieder in ihr Zimmer zurückkehrte, warf sie noch einen letzten Blick nach der Richtung hin, die Tiburcio eingeschlagen hatte, um den vielleicht noch einmal zu sehen, auf dessen Rückkehr sie immer noch hoffte – aber alles blieb still und finster.
   Am äußersten Ende der Ebene, auf der der helle Glanz der Sterne die phantastische Form einiger Gesträuche erkennen ließ, erhob sich der Wald wie ein schwarzer Gürtel; Nebel umkränzten seine Wipfel und begruben ihn in dichte Finsternis. Das ferne Licht blitzte noch immer wie ein Leuchtfeuer mitten aus dem Laubvorhang heraus. Plötzlich kam es den Augen des jungen Mädchens vor, als ob die Flamme höher emporschlage und einen lebhafteren Schein verbreite; gleichsam, um eine gute Aufnahme dem zu gewähren, der keine Zufluchtsstätte mehr hatte.


   18. Der Aufbruch in der Nacht

   Als Don Estévan und Cuchillo sich von dem Pavillon, den Doña Rosarita bewohnte, entfernt hatten und sie allein mit Tiburcio ließen, blieb der erstere schweigsam, ohne – wie es schien – die Gegenwart seines Gefährten zu bemerken, der ihn jedoch nicht verlassen hatte. Sie befanden sich wieder in der Allee von Granatbäumen, und der Spanier hatte es noch nicht für angemessen gehalten, ihm auch nur einen Vorwurf zu machen, obgleich es nicht in seiner ungestümen Natur lag, sich lange zu mäßigen; aber er war in tiefes Nachdenken versunken.
   Besser mit den Geheimnissen des weiblichen Herzens bekannt als Tiburcio, hatte er am Schluß des verliebten Zwiegesprächs, das er gehört hatte, erraten, daß ein zärtliches Gefühl für diesen jungen Mann im Herzen Doña Rosaritas keimte, wenn sie sich auch dessen noch nicht bewußt war. Der veränderte Ton in der Stimme des Mädchens, seine Gebärden – alles hatte seinen Augen, die hellsehender waren als die von Tiburcio, da die Leidenschaft sie nicht blind machte und die Geheimnisse des weiblichen Herzens für ihn kein verschlossener Brief waren, die Beweise für eine Liebe verraten, die von sich selbst noch nichts wußte.
   Er hatte bis jetzt die Tiburcio gemachte Entdeckung hinsichtlich des Val d‘Or als eine Sache von untergeordneter Wichtigkeit mit Verachtung behandelt; aber der von Doña Rosarita geliebte Tiburcio war für seinen Ehrgeiz ein unüberwindliches Hindernis. Die Heirat des Senators; die halbe Million, die dieser von der Mitgift seiner Frau für das Gelingen seiner Pläne opfern sollte; die Vorteile, die ihm Tragaduros‘ Einfluß im Senat von Arizpe – der durch seine Freigebigkeit noch vergrößert wurde – in Aussicht stellte – alles verschwand vor diesem neuen Hindernis. Man mußte es also durchbrechen, es um jeden Preis aus dem Weg räumen und sich Tiburcios lebend oder tot bemächtigen. Der Ehrgeiz stellt solch schreckliche Forderungen, denen der Ehrsüchtige alles opfern muß.
   Es blieb nur noch die Ausführung dieses Plans übrig. Als der Spanier ihn einmal in seinem Geist beschlossen hatte, brach er zum erstenmal das Stillschweigen. »Ungeschickter Dummkopf!« murmelte er laut genug, daß Cuchillo es hören konnte.
   »Beliebt Eure Herrlichkeit, von mir zu sprechen?« fragte der Bandit in einem Ton, in dem die augenblickliche Demütigung mit seiner gewöhnlichen Unverschämtheit stritt.
   »Und von wem sollte ich wohl sonst sprechen – wenn Ihr nichts dagegen habt – als von dem Mann, der seinen Gegner weder durch List auszuforschen noch sich seiner durch Gewalt zu entledigen versteht? Ein Weib hätte getan, was Ihr nicht habt tun können. Ich hatte es Euch ja gesagt, dieses Kind ist ein Riese gegen Euch, und ohne mich …«
   »Ich leugne nicht, daß Eure Vermittlung mir von Nutzen gewesen ist«, unterbrach Cuchillo; »aber ohne Eure Dazwischenkunft auf dem Weg nach der Poza wäre auch Tiburcio für uns kein Gegner mehr, den wir zu fürchten hätten.«
   »Wieso?« fragte Don Estévan.
   »Gestern abend, als ich ihn hinter mir auf dem Rücken meines Pferdes nach Eurem Nachtlager hinbrachte, hatte der junge Mann mir gedroht, mich in meiner Ehre beleidigt, und ich wollte eben unseren Streit durch einen guten Büchsenschuß beenden, als ein Abgesandter von Euch – Benito, der Jaguarbewunderer – uns entgegenkam und ein Pferd und Wasser überbrachte; ich mußte auf meinen Plan verzichten. Hier war das Rechte, wie Ihr seht, Don Estévan; die Tugend bringt uns Unglück! Das kommt von unserer Wohltätigkeit.«
   »Sprecht von Euch, Schelm!« sagte der Spanier, dessen Stolz sich bei dem Vergleich empörte, den der Bandit zwischen ihnen aufzustellen suchte. »Und wenn man die Abwesenden angreifen darf – was hat denn dieser junge Mann Eurer Ehre zuleide getan ?«
   »Was? Weiß ich es? Es war wegen meines Pferdes, das …« Cuchillo hielt inne wie ein Mann, dessen Zunge ein unbesonnenes Wort gesprochen hat.
   »Das mit dem linken Fuß stolpert«, fügte Don Estévan hinzu. »Die alte Geschichte vom Pferd Arellanos‘.«
   »Ich habe ihn nicht getötet!« rief der Bandit. »Ich habe ihm vielleicht einiges Unrecht vorzuwerfen gehabt, aber … ich habe es ihm von Herzen vergeben.«
   »Ihr seid so großmütig! Aber Scherz beiseite; Ihr seht, dieser junge Mann darf uns nicht mehr im Weg stehen. Ich weiß nicht, welch ein Interesse ich an ihm nahm … gegen meinen Willen. In Wahrheit: Was kümmert es mich, ob er – allein, wie er dasteht – ein Geheimnis mit uns teilt? Heute bin ich anderer Meinung. Ich habe Euch eine halbe Unze gegeben, um ihn vom Tod zu retten; freilich ohne zu wissen, wer er war; jetzt will ich Euch zwanzig geben, auf daß er nicht mehr ist.«
   »Das lass‘ ich mir gefallen – wir werden wieder Freunde! Seid nicht böse darüber, Don Estévan; morgen aber müßten wir viel Pech haben, wenn bei dieser Jagd auf wilde Pferde das seinige ihn nicht in eine Schlucht stürzte oder ihm nicht den Kopf an einem Felsen oder Baumstamm zerschmetterte oder ihn nicht wenigstens an einen Ort brächte, von dem er nicht wieder zurückkehren wird. Freilich werde ich ein wenig mit Oroche und Baraja teilen müssen; aber ich werde schon dahin sehen, daß es so wenig wie möglich ist.«
   »Morgen!« wiederholte ungeduldig Don Estévan.
   »Und wer sagt Euch, daß das ›Morgen‹ Euch gehört? Ach was! Ist die Nacht nicht lang, sind diese Gärten nicht weit genug? Seid Ihr nicht drei gegen einen? Wer gibt Euch die Gewißheit, daß ich morgen nicht anderer Ansicht geworden bin?«
   Diese Drohung erschreckte Cuchillo. »Caramba!« sagte er. »Eure Herrlichkeit verschiebt nicht gern auf den folgenden Tag, was heute geschehen kann! Wohlan – ich werde mein Möglichstes tun. In der Tat – alles ist so ruhig hier, als ob nichts vorgefallen wäre, obgleich ich, um die Wahrheit zu sagen, erstaunt bin, daß das Geschrei des Mädchens nicht gehört worden ist.«
   Wirklich hatte der Kampf zwischen Tiburcio und seinen Angreifern dank der späten nächtlichen Stunde keinen anderen Zeugen gehabt als die Tochter des Eigentümers dieser weitläufigen Hacienda, in der, wie wir schon sagten, alles schlief, mit Ausnahme der Gäste, in deren Interesse es lag, die Freveltat, die eben begangen worden war, zu verbergen.
   Während sich Cuchillo nach dem Teil der Gesindewohnungen wandte, wo sich seine Gefährten befanden, schlug Don Estévan den Weg nach seinem Zimmer ein. Der Mond strahlte am Himmel, die Sterne funkelten, und die Luft war erfüllt vom Wohlgeruch der Orangenbäume, ganz als ob das Verbrechen nicht wach gewesen wäre mitten in dieser strahlenden Nacht. Don Estévan ging lange in seinem Zimmer auf und ab.
   Der Senator schlief in dem seinigen mit der Ruhe eines Mannes, der sich in schwierigen Verhältnissen auf andere verläßt; süße Träume umschwebten sein Lager.
   Don Agustin seinerseits ahnte in seinem Schlummer ebensowenig als der glückliche Tragaduros, daß ein zärtlicher Blick Doña Rosaritas, eine Träne in ihrem schönen Auge, ein Wort von ihren roten Lippen alle Pläne hätten scheitern lassen können.
   Don Estévan allein ging in seinem Zimmer mit großen Schritten auf und ab wie der Ehrgeizige, der gewohnt ist, zu wachen, wenn die anderen schlafen, als Cuchillo zweimal an seine Tür klopfte. Beim Anblick seiner bestürzten Züge bebte der Spanier; er fürchtete und wünschte zugleich die Vollziehung seiner Befehle.
   »Meine zwanzig Unzen sind futsch!« sagte Cuchillo. »Der junge Mann ist nicht mehr in der Hacienda.« »Er ist fort!« rief Don Estévan. »Und Ihr habt ihn entkommen lassen!«
   »Wie war es zu verhindern? Dieses Tier Baraja war ebenso wie Oroche trunken vom Mescal; Diaz hat sich geradezu geweigert, mit mir gemeinsame Sache zu machen; und ehe ich den beiden Trunkenbolden begreiflich machen konnte, worum es sich handelte, hatte der junge Mann das Weite gesucht und die Mauer überstiegen. So wenigstens haben wir vermutet.«
   »Weshalb?« fragte der Spanier.
   »Als wir anlangten, hatte sich Doña Rosarita, mit dem Gesicht nach dem Wald, der sich hinter der Hacienda erhebt, über die Mauer gelehnt, und wenn der junge Mann, der offenbar diese Richtung eingeschlagen hat, nicht schon sehr weit entfernt gewesen wäre, so ist es mehr als gewiß, daß die Liebesworte, die ihr Mund ihm nachsandte, ihn hätten umkehren lassen.«
   »Also liebt sie ihn doch!« rief Don Estévan.
   »Leidenschaftlich! Dafür bürge ich – oder ihre Worte und ihre Stimme waren sehr trügerisch.« Und Cuchillo wiederholte Don Estévan den leidenschaftlichen, aber erfolglosen Ruf, den das junge Mädchen Tiburcio nachgeschickt hatte.
   »Man muß zu Pferd steigen und ihm nachsetzen; der Erfolg unserer Expedition hängt vom Leben dieses jungen Mannes ab. Sattelt schnell unsere Pferde, Ihr und Eure Freunde; weckt Benito, die Diener, so daß wir spätestens in einer Stunde alle im Sattel sitzen. Während dieser Zeit will ich noch zuvor Don Agustin und den Senator benachrichtigen.«
   Geradeso habe ich ihn vor zwanzig Jahren gekannt: immer feurig und voller Verachtung aller Schwierigkeiten, sagte Cuchillo für sich, als Arechiza weggegangen war. Wenn er mit solchem Charakter kein Glück in seinem Vaterland gemacht hat, so weiß ich nicht mehr, wozu Ausdauer und Energie gut wären. Unter diesen Betrachtungen beeilte sich Cuchillo, die Befehle seines Chefs auszuführen.
   Dieser zog sogleich seine Reisekleider wieder an und ging nach dem Zimmer des Senators. Die Tür stand offen wie meist in diesen Ländern, wo man fast das ganze Leben außer Haus zubringt. Der Mond schien in vollen Strahlen durch die Fenster des Senators und erleuchtete hinreichend das Zimmer, in dem er schlief.
   »Was gibt es denn, Señor Estévan? Señor? Herzog wollt‘ ich sagen« (vielleicht träumte Tragaduros vom Hof des Königs von Spanien), rief der Senator, indem er, erwacht, sich aufrichtete.
   »Ich will Abschied von Euch nehmen, Don Vicente, und Euch meine letzten Verhaltensbefehle geben.«
   »Wie denn?« sagte der Senator. »Wieviel Uhr ist es denn? Oder habe ich etwa drei Tage geschlafen?«
   »Nein«, erwiderte der Spanier, »aber eine große Gefahr bedroht Eure und meine Pläne: Dieser junge zerlumpte Bauer kennt ebenso wie ich das Dasein des Val d‘Or; und – was noch schlimmer ist – er liebt Doña Rosarita, und diese liebt ihn!«
   Tragaduros aber, anstatt wie Don Estévan zurückzuprallen, drückte sich nach dieser Nachricht in sein Kopfkissen und rief: »Dann adieu Mitgift von einer Million, mit der ich schon liebäugelte; adieu schöne Felder mit springenden Herden, die ich schon als die meinigen betrachtete; adieu Ehre und Auszeichnungen am Hof König Karls I.!«
   »Noch ist nicht alles verloren!« erwiderte Don Estévan. »Das Unglück kann wiedergutgemacht werden, aber wir müssen uns beeilen. Dieser junge Mann hat heute abend die Hacienda verlassen – wir müssen ihm zuvorkommen; wir müssen wissen, nach welcher Seite er seine Schritte gewandt hat, und ihm den Weg abschneiden. Um so schlimmer für ihn, daß ihn sein böses Geschick in unseren Weg geworfen hat.«
   Der Spanier sagte weiter nichts über Tiburcio. Was den Senator betrifft, dem ohne Zweifel wenig daran lag, auf welche Weise man einen so furchtbaren Mitbewerber um den Geldkasten Don Agustins fernhielt, so bekam er den Mut wieder, den er kurz verloren hatte.
   »Wie es auch ablaufen mag«, fügte Don Estévan hinzu; »dieser junge Mann wird nicht wieder in der Hacienda aufgenommen werden. Ich benachrichtige jetzt noch Señor Peña davon; Ihr seid also Herr der Festung, und an Euch ist es, so zu handeln, daß niemand in diese eindringt. Macht Euch liebenswürdig; es ist eine Kleinigkeit für Euch, da Ihr es nur mit einem Abwesenden und vielleicht mit einem – Toten zu tun habt. Diese Steppen sind so gefährlich, und Ihr kennt das Sprichwort über diejenigen, die nicht da sind.«
   »Ich werde unwiderstehlich sein!« rief Tragaduros. »Denn seit gestern stehe ich in Flammen für das göttliche Mädchen, das vom Himmel herabgestiegen zu sein scheint. Es ist so weit gekommen, daß, wenn man mir die Mitgift ohne das Mädchen geben wollte, ich glaube, ich würde sie annehmen … das heißt, ich meine das Gegenteil!« verbesserte sich der Senator.
   »Niemals hat ein Mann ein wünschenswerteres Ziel im Auge gehabt als diese unermeßliche Mitgift und diese schöne Blume der Steppe; laßt also kein Mittel unversucht, um Euren Zweck zu erreichen!«
   »Ich will spinnen für sie, wenn es nötig ist, wie Herkules zu den Füßen der Omphale.«
   »Wenn Herkules als Spinner in Omphales Augen einigen Verdienst hatte, so geschah es, weil er Herkules war, was Ihr, soviel ich weiß, nicht seid. Macht es besser: Morgen, bei jener Jagd auf wilde Pferde, zeichnet Euch durch irgendeine kühne Tat aus; besteigt zu Ehren der schönen Augen Doña Rosaritas ein ungebändigtes Pferd und bringt es keuchend und gezähmt zu ihren Füßen zurück!«
   »Ich sage nicht nein … ich sage nicht nein«, erwiderte der Senator, etwas weniger von diesem zweiten Mittel, sich liebenswürdig zu machen, begeistert als von demjenigen, das die Erinnerung an eine klassische Zeit in ihm zurückgerufen hatte; »aber mir fehlen die nötigen Mittel, um den Platz eng einzuschließen; mir fehlt dieser goldene Schlüssel zum Geldkasten, der nach dem Wort eines Philosophen auch der zum Herzen ist.«
   »Ich werde Sorge dafür tragen«, antwortete der Spanier. »Ich werde Euch einen bedeutenden Kredit bei Peña eröffnen; dieses verführerische Mittel darf Euch nicht fehlen. Aber Ihr denkt doch auch an unser Übereinkommen im Fall des Gelingens?«
   »Fünfhunderttausend Franken durch Freigebigkeit aller Art für politische Zwecke verbraucht! Ach, wenn es mir doch ebenso leicht würde, die Mitgift zu gewinnen, als es mir sein wird, sie zu verzehren!«
   Der Senator stieß einen Seufzer aus; dann gab Don Estévan ihm noch Ratschläge und Verhaltensbefehle, erinnerte ihn noch einmal an das Ziel, das sie verfolgten, indem er alle Saiten des Ehrgeizes, der Liebe und der Habsucht bei ihm erklingen ließ, drückte ihm die Hand und begab sich zum Hacendero.
   Das Klirren der Sporen Don Estévans weckte Don Agustin, der beim Anblick der Reitkleider seines nächtlichen Besuches ausrief: »Ist es denn schon Zeit, zur Jagd aufzubrechen?«
   »Nein, aber für mich hat die Stunde zu einer ernsteren Jagd als die auf wilde Pferde geschlagen!« antwortete der Spanier. »Es geht darum, dem Feind der Größe Eures Hauses den Vorsprung abzugewinnen – dem Mann, der die Gastfreundschaft, die Ihr ihm bewiesen habt, mißbrauchte, um eine Verschwörung um uns anzuzetteln, in der alles vernichtet werden konnte: Eure Pläne, die meinigen und die Tragaduros!«
   Man sieht, daß Don Estévan Tiburcios Sache dem Hacendero in einem viel düsteren Licht darstellte als dem Senator. Wirklich mußte der letztere ganz natürlich seinen Gegner überall und immer hassen, während – alles in allem betrachtet – der reiche Eigentümer wegen seiner zärtlichen Liebe für seine Tochter die Dinge in einem viel günstigeren oder doch weniger traurigen Licht betrachten konnte.
   »Die Größe meines Hauses, die Gastfreundschaft, die man mißbraucht?« rief der Hacendero ganz erstaunt, indem er mit einer Hand nach einer langen, breiten Toledoklinge griff, die am Kopfende des Bettes hing – ganz wie ein Mann, der immer bereit ist, sein gutes Recht beim Schwert zu suchen. »Wer bedroht die Größe meines Hauses? Wer mißbraucht meine Gastfreundschaft?«
   »Beruhigt Euch!« erwiderte Don Estévan, innerlich lächelnd über den Gegensatz zwischen dem jugendlichen Feuer dieses schon gereiften, aber an ein gefahrvolles Leben gewöhnten Mannes und der Zaghaftigkeit des Senators. »Der Feind ist nicht mehr hier; er ist entflohen und hat damit selbst sein Urteil gesprochen.«
   »Aber wer ist denn dieser Feind?« fragte Peña.
   »Tiburcio Arellanos!«
   »Er ein Feind?« erwiderte der Hacendero. »Das ist unmöglich! Rechtlichkeit und Mut sind auf sein Gesicht gezeichnet; die Schilderung, die Ihr da von ihm entwerft, ist die eines Verräters und Feiglings!«
   »Er weiß, wo das Val d‘Or liegt! Er liebt Eure Tochter!«
   »Ist es weiter nichts als das? Ich habe es Euch ja selbst gesagt!«
   »Ja; aber Eure Tochter liebt ihn wieder, und das wißt Ihr nicht.« Und er erzählte dem Hacendero die Ereignisse dieses Abends, ohne ihm etwas zu verschweigen.
   »Um so schlimmer für den Senator«, meinte Peña.
   »Denkt an Euer Wort, das Ihr nicht nur mir oder Tragaduros allein gegeben habt, sondern einem Prinzen aus dem königlichen Blut Spaniens, dessen teuerste Interessen ich vertrete und dem dieses Ereignis – so einfach es auch ist —, dieser Eigensinn eines kleinen Mädchens die Krone vom Haupt reißen kann! Denkt an Euer Land, das seine Wiedererhebung, seinen Ruhm, seine künftige Macht von dem Bündnis erwartet, wozu Ihr Euer Wort verpfändet …«
   »Was hat denn mein Wort mit solchen Betrachtungen zu tun? Habt Ihr nicht mein Wort? Ich nehme es niemals zurück; aber nur dem Herzog von Armada habe ich es gegeben, nur Ihr allein könnt mich davon entbinden. Seid Ihr zufrieden mit dieser Versicherung?«
   »Warum sollte ich es nicht sein?« rief der edle Spanier und reichte dem Hacendero die Hand. »Sei es so: Ich habe Euer Wort und nehme alles übrige auf mich. Aber dieser junge Mann kann Helfershelfer finden und früher als wir zur Eroberung des Val d‘Or aufbrechen; ich muß also nach Tubac und ihm zuvorkommen – das ist der Grund, warum ich Euch so plötzlich verlasse.«
   »Wie sich auch alles gestalten mag – Rosarita wird die Frau des Senators. Lebt denn wohl, und möchtet Ihr bald zurückkehren!«
   Der Spanier hatte, wie man sieht, viel sorgfältiger vor dem ehrlichen Don Agustin als vor dem Senator gegen seine geheimen Absichten gegen Tiburcio verborgen gehalten. Da er nun sicher auf das bestimmte Wort Don Agustins bauen konnte, so nahm er Abschied von ihm, vergaß jedoch nicht sein Versprechen, dem Senator einen bedeutenden Kredit zu eröffnen. Peña wollte aufstehen und ihn bis zum Tor der Hacienda begleiten, aber der Spanier nahm es nicht an.
   Alles war fertig zum Aufbruch, als Don Estévan, nachdem er alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, in den Hof hinabstieg. Cuchillo, Baraja, Oroche und Diaz waren im Sattel; der letztere auf einem prachtvollen, feurigen Rappen, den der Hacendero seinem Versprechen getreu dem Abenteurer im Laufe des Abends geschenkt hatte.
   Die Maultiere waren gesattelt und beladen; zwei Diener, von denen Benito einer war, standen in Erwartung Don Estévans in ehrerbietiger Haltung. Nur gab es keine frischen Pferde für den Zug, wie wir sie im Dorf Huerfano gesehen haben. Ungeachtet seiner scheinbaren Ungeduld wußte der Spanier sehr wohl, daß er immer noch vor Tiburcio in Tubac ankommen würde, sollte dieser auch wirklich durch ein Wunder das Presidio von Tubac erreichen.


   19. Baraja zählt einen Helfershelfer zuviel

   Mit Ausnahme der Diener wußten alle Reiter, die der edle Spanier vor sich sah, ganz sicher, was dieser plötzliche Aufbruch zu bedeuten habe. Zwei von ihnen hatten indes von den Gegenständen, die sie umgaben, und von dem Ziel, das sie verfolgten, keinen sehr klaren Begriff. Das waren Oroche und Baraja. Noch betäubt vom Duft des Mescal, von dem sie gar manches volle Glas getrunken hatten, machten sie gewaltige Anstrengungen, um nicht im Sattel zu schwanken.
   Als Don Estévan seine Blicke auf den marschbereiten Zug lenkte, sah er dank ihrer Anstrengungen nichts Ungewöhnliches in der Haltung der beiden Schelme. Cuchillo allein sah unruhig zu ihnen hin. Indes flößte ihm ihre ernste Haltung wieder Mut ein.
   Als Don Estévan seinen Fuß in den Steigbügel setzte, ritt Cuchillo dicht an seine Seite, zeigte mit einer Miene geheimen Einverständnisses auf Oroche und Baraja und sagte: »Wenn Eure Herrlichkeit mir in meiner Eigenschaft als Führer erlaubt, die Marschordnung zu bestimmen, so bin ich bereit, mein Amt sogleich anzutreten.«
   »Tut es!« antwortete der Spanier mit lauter Stimme, indem er sich ebenfalls in den Sattel schwang.
   »Wohlan!« sagte Cuchillo. »Die beiden Diener reiten voraus und erwarten uns an der Brücke des Salto de Agua, an der anderen Seite des Waldstromes.«
   Die beiden Diener gehorchten schweigend und waren schon fern, als der Zug aus der Umpfählung der Hacienda ritt.
   Cuchillo blieb an der Seite Don Estévans. »Wir haben die Spur des jungen Mannes gefunden«, sagte er; »er hat sich nach dem Wald dort unten gewandt.« Als sie darauf hinter der Ringmauer, durch deren Öffnung Tiburcio die Hacienda verlassen hatte, um diese herumgeritten waren, sagte abermals der Bandit: »Ihr seht doch dieses Feuer, dessen Schein durch die Bäume zu uns dringt; ohne Zweifel hat er dort in der Nähe eine Zuflucht gesucht.«
   Das geheimnisvolle Licht glänzte wirklich immer noch ebenso wie damals, als es Tiburcio im Laufe der Nacht bemerkt hatte.
   »Wir werden Jagd auf ein wildes Füllen machen«, fuhr Cuchillo mit einem gehässigen Lächeln fort; »das wird gewiß ebensoviel wert sein wie die Jagd, die uns Don Agustin versprochen hatte; und wir sind hier drei Jäger!« Cuchillo deutete mit seiner Reitpeitsche zuerst auf sich, dann auf Oroche und Baraja. »Sie haben unsere Sache zur ihrigen gemacht«, sagte er weiter.
   »Ohne etwas zu wissen?« fragte Don Estévan.
   »Wie Spürhunde – ihrem Instinkt folgend – die Partei des Jägers gegen den Hirsch nehmen; und diese haben furchtbare Zähne!«
   Der Mond schien auf die Büchse, die am Sattel eines jeden der beiden besagten Reiter hing.
   »Aber diese Kerle sind betrunken!« rief Don Estévan, der diesmal die Reiter im Sattel schwanken gesehen hatte. »Sind das die Hilfstruppen, über die Ihr verfügt?« Und er warf einen zornigen Blick auf Cuchillo.
   »Nur unser Eifer reißt uns fort«, stammelte Baraja.
   Der klügere Oroche richtete sich stolz empor und sagte kein Wort.
   »Diese Leute sind nicht gerade nüchtern«, erwiderte Cuchillo; »aber ich kenne ein wirksames Mittel gegen die Trunkenheit. Wenn ich mich nicht irre, so hat der Wald, in den uns die Spur führt, der wir folgen, einen Überfluß an ›Jocuistle‹, und Ihr sollt sogleich sehen, daß Baraja und Oroche ebensogut zu Pferd sitzen wie Ihr und ich.«
   Don Estévan verbiß schweigend seinen Zorn. Dies war nicht der Augenblick zu vergeblichen Vorwürfen. Vor allen Dingen mußte man genau wissen, welche Richtung Tiburcio eingeschlagen hatte.
   Einige Minuten reichten hin für den Reiterzug, um längs der Ringmauer zur Öffnung zu kommen. Cuchillo stieg vom Pferd und zeigte Feuer anschlagend beim Schein der Funken auf die frisch unter den Füßen Tiburcios herabgestürzten Steine und auf einige Tropfen Blut, die sie rot färbten.
   »Ihr seht, daß der junge Mann verwundet und hier herausgekommen ist. Ach, wenn ich ihn doch zwei Zoll tiefer getroffen hätte!« sagte Cuchillo seufzend. Übrigens, dachte er, werde ich wenigstens zwanzig Unzen bekommen, und die will ich heute abend noch verdienen! Er hatte sich wohl gehütet, seinen Mitschuldigen von dem versprochenen Blutlohn etwas zu sagen. »Nun«, nahm er wieder das Wort, »wohin sollte er gegangen sein, wenn nicht in die Nähe jenes Feuers, das ein Nachtlager von Reisenden anzeigt?«
   Etwas weiter waren – wie um Cuchillos Ansicht zu bestätigen – noch andere Blutflecken auf dem kalkigen Boden, der die Mauer der Hacienda vom Waldsaum trennte, ebenfalls beim Schein des Mondes oder bei den Funken des Feuerstahls sichtbar.
   »Eure Herrlichkeit wird in Diaz‘ Begleitung dem Fluß folgen, den Ihr linker Hand wiederfinden werdet«, sagte der Bandit zu Don Estévan. » Sein Lauf wird Euch nach vielen Krümmungen zu der Brücke aus Baumstämmen bringen, die zum anderen Ufer führt. Doch ehe Ihr zu dieser Brücke kommt, haltet unter der Baumgruppe still, um mit uns wieder zusammenzutreffen, sobald wir unsererseits unser Vorhaben ausgeführt haben, um dann alle mit den Dienern uns zu vereinigen, die dort schon vor uns eingetroffen sein werden. Diese Menschen dürfen nichts von unseren Handlungen oder Plänen ahnen; das ist auch der Grund, warum ich sie entfernt habe.«
   Cuchillo hatte kaum als geschickter Kapitän – oder, um es besser auszudrücken, als vollendeter Bösewicht – die Auseinandersetzung seines Plans beendigt, als er auch mit seinen beiden Freunden den Weg in der Richtung nach dem Feuer, das man immer in der Ferne vor Augen hatte, weiter verfolgte. Don Estévan und Pedro Diaz wandten sich links, um den Lauf des Flusses, dem sie folgen sollten, wiederzufinden.
   »Dieses Feuer bezeichnet ohne Zweifel einen Ort, wo Reisende haltgemacht haben«, sagte Pedro Diaz, als Cuchillo sich entfernt hatte. »Aber wer können diese Reisenden sein? Ich kann es nicht erraten.«
   »Reisende, wie es deren so viele gibt«, sagte Don Estévan mit zerstreuter Miene.
   »Nein, das ist nicht möglich! Don Agustin Peña ist zehn Meilen in der Runde durch seine edle Gastfreundschaft bekannt, die er so gern übt. Es ist nicht vorauszusetzen, daß diese Leute so nahe bei der Hacienda nichts von ihrem Dasein wissen sollten. Es können also nur Fremde sein; oder wenn es Leute aus dieser Gegend sind, so kann dieses vorsichtige Alleinsein nur schlechte Absichten verhüllen.«
   Pedro Diaz kam beinahe zu demselben Schluß wie Tiburcio beim Anblick des entfernten Lichtes, das ihm aufgefallen war.
   Cuchillo näherte sich mit seinen beiden Gefährten Oroche und Baraja immer mehr dem Saum des Waldes; er hatte es für nutzlos gehalten, sie wegen ihrer Unmäßigkeit zu schelten. »Erwartet mich hier«, sagte er zu ihnen; »ich will etwas in diesem Wald pflücken, wovon eure Betäubung vergehen wird.«
   Cuchillo stieg ab und kam bald mit einer länglichen Frucht in der Hand zurück, gelb wie eine reife Banane: es war die Frucht des Jocuistle, von der er gesprochen hatte. Er gab sie den beiden Reitern, die nach seiner Anweisung den scharfen, aber schmackhaften Saft davon tranken – ein untrügliches Mittel gegen die Trunkenheit. Wirklich verschwanden nach einigen Minuten die Dünste aus dem Gehirn der beiden Trunkenen wie durch Zauberei.
   »Jetzt an unser Werk!« sagte Cuchillo, ohne Zeit damit zu verlieren, die Entschuldigungen seiner beiden Gefährten anzuhören.
   Als sie die ersten Bäume des Waldes erreicht hatten, begann der Bandit abermals: »Ihr werdet hier absteigen und eure Pferde am Zügel führen, bis ihr im Schein der Feuerstelle unterscheiden könnt, welche Menschen sich dort gelagert haben; sobald ich meinen Büchsenschuß abgegeben habe, werde ich mich zu euch zurückziehen.«
   »Das versteht sich«, antwortete Oroche; »Baraja und ich sind bereit, wie wir es versprochen haben, das persönliche Interesse dem allgemeinen zu opfern.«
   Cuchillo tat geradeso, wie er es seinen Genossen eingeschärft hatte. Er band sein Pferd an einen Sumachstamm und näherte sich kriechend wie ein Jaguar der Feuerstelle. Er lauschte – das ruckweise Brüllen der wilden Tiere, die in der nahen Steppe umherschweiften, der schrille Ruf des Hahns, das traurige Geschrei einer nicht weit davon sitzenden Eule und das klagende Geheul des Schakals mischten sich in das ferne Murmeln des Salto de Agua. Der Mond erleuchtete die Gipfel der Bäume, der Lichtkreis unter dem Laubdach wurde immer größer vor seinen Augen. Cuchillo näherte sich, immer kriechend; unter den verwirrten, bogenförmig gestalteten Wurzeln eines Baumes machte er halt, schaute sich um, lauschte abermals; dann flog ein wildes Lächeln über seine Lippen beim Anblick dreier Männer, von denen zwei saßen und der dritte am Feuer lag.


   20. Der Waldläufer

   Derjenige Teil der Ebene, der sich hinter der Hacienda ausdehnte, war noch ebenso, wie die ersten Ankömmlinge ihn gefunden hatten – das heißt unbebaut und wild. Einen Büchsenschuß etwa von der hinteren Ringmauer erhoben sich, wie wir schon erwähnt haben, die ersten Bäume; sie bildeten den Saum eines ungeheuren Waldes. Er dehnte sich nördlich bis zur Grenze der Steppen aus, an die sich wiederum das Presidio von Tubac anschließt.
   Der kaum gebahnte Weg, der sich in dieser Richtung durch diesen windet – und er ist die einzige gangbare Straße zum Presidio —, war von einem wilden Fluß durchschnitten, zwischen dessen abschüssigen, hohen Ufern das Wasser rauschend dahinströmte. Es war dies jener Bach, der an der Hacienda vorbeifloß und in seinem weiteren Lauf noch durch andere Nebenflüßchen größer wurde. Eine Art kunstlos gebauter Brücke, aus zwei Baumstämmen bestehend, die nebeneinander lagen, verband die beiden steilen Ufer, so daß der Reisende dadurch einen langen Umweg vermied, den er hätte machen müssen, um mittels einer Furt über den Waldstrom zu setzen.
   Dicht an diesem Weg nun, ungefähr gleich weit entfernt von der über den Gießbach führenden Brücke und der Hacienda, finden wir an einem in einer kleinen Lichtung angezündeten Feuer zwei Personen wieder, die nur einen Augenblick aufgetreten sind – nämlich die beiden unerschrockenen Jäger, die wir seit dem Kampf mit den Jaguaren nur wiedersahen, als Don Estévan und sein Gefolge eben die Hacienda del Venado erreichten.
   Zu der Stunde, wo Tiburcio die Hacienda verließ, war der Wald in tiefes Schweigen gehüllt, kaum unterbrochen von dem dumpfen Rauschen des Waldstromes, der in seinem steinigen Bett dahinflutete. Der Mond warf ein bleiches Licht auf den Wald. Seine Strahlen breiteten über das düstere, grüne Laubdach, das sich endlos ausdehnte, eine leuchtende Decke, auf und nieder wogend wie die Wellen des Meeres, und fielen hier und dort durch die leeren Räume zwischen den Stämmen. Sie färbten die graue Rinde der Wurzelträger und der Sumachs mit bläulichem Schein, beleuchteten den rauhen Stamm der Korkbäume und das bleiche Laub des Eisenholzes. Tausendmal durch das Netz der Zweige gebrochen, fiel das Licht geheimnisvoll in die dichtesten Gebüsche. Die grünen und gelben Moose funkelten in Samtglanz unter den breiten Blättern des Arum, dessen Blüten sich wie silberne Schalen darstellten. In einem Feuer von rötlichem Glanz sahen im Gegensatz zu dem bleichen Licht des Mondes die herabhängenden Lianen wie Eisendraht aus, der eben aus der Glut herausgezogen wird. Diesen durch die Flammen erleuchteten Stellen gegenüber war der Anblick der entfernten Waldgründe noch finsterer und drohender.
   Dicht bei dieser Feuerstelle, die sich wie gewöhnlich an dem Ort befand, wo die Bäume spärlicher standen, lagerten die beiden Männer, die wir hier wiederfinden, wie Leute, die nach einem ermüdenden Marsch der Ruhe pflegen.
   In einer Gegend, in der es einige Meilen in der Runde keine Wohnungen gibt, würde ein so gewöhnliches Ereignis wie ein Nachtlager mitten im Wald bedeutungslos gewesen sein; so nahe jedoch bei einer reichen Hacienda, deren Besitzer durch seine große Gastlichkeit bekannt war, wurde diese Tatsache, wie Pedro Diaz gesagt hatte, viel bedeutungsvoller. Wirklich konnten die beiden Jäger, wenn sie die Hacienda kannten, nur aus besonderen Gründen so allein bleiben.
   Ein bedeutender Haufe trockener Zweige erhob sich einige Schritte vor ihnen und bewies, daß es ihre Absicht war, an dieser Stelle den Rest der Nacht zuzubringen. Der Schein der Glut fiel auf zwei Gesichter, die vielleicht am Tag nichts Bemerkenswertes gehabt hätten, denen aber der Glanz des Feuers einen ganz besonderen, phantastischen Ausdruck gab. Es ist hier der Ort, ein Bild der beiden Jäger zu entwerfen, dessen Zeichnung wir bisher aufschieben mußten.
   Der erste von beiden trug einen Anzug, der zugleich an den Indianer und an den Weißen erinnerte. Sein Kopf war mit einer Mütze aus Fuchspelz in Form eines abgestumpften Kegels bedeckt. Ein baumwollenes, blaugestreiftes Hemd bedeckte seine Schultern; neben ihm auf der Erde lag eine Art Überrock, aus einer wollenen Decke verfertigt. Seine Beine waren nach Indianerweise durch lederne Gamaschen geschützt. Statt der Mokassins jedoch trug er eisenbeschlagene Schuhe von einer Stärke, daß sie zwei Jahre hindurch aushalten konnten.
   Ein sorgfältig glattgeschabtes Büffelhorn hing quer über seinen Schultern und enthielt sein Pulver, während in einem ledernen Beutel, der an der anderen Seite hing, ein reichlicher Vorrat bleierner Kugeln war. Endlich wurde sein Jagdgerät noch durch eine neben ihm liegende Büchse mit langem Lauf und durch ein Jagdmesser, das in einem Wehrgehänge oder vielmehr in einem wollenen, vielfarbigen Gürtel stak, vervollständigt.
   An dem sonderbaren Anzug wie auch an dem gigantischen Wuchs konnte man in ihm einen von den kühnen Jägern, den Abkömmlingen der ersten Normannen in Kanada, erkennen, denen man von Tag zu Tag seltener an den Grenzen begegnet und die am Anfang dieser Erzählung erwähnt wurden. Seine Haare fingen an, sehr grau zu werden, und würden kaum gegen seine Mütze abgestochen haben, wenn nicht eine breite, kreisförmige Narbe, die von einer Schläfe zur anderen ging, die Grenze zwischen beiden bezeichnet hätte. Diese Narbe bewies, daß, wenn er auch sein Haupthaar noch besaß, er doch große Gefahr gelaufen hatte, es gewaltsam zu verlieren.
   Seine sonnverbrannten Züge schienen aus Bronze gegossen zu sein, soviel helles Licht und scharf dagegen abstechende Schatten verliehen ihnen der Glanz des Feuers und die Dunkelheit der Nacht. Übrigens lag in seinem Gesicht ein Ausdruck von Gutmütigkeit, der ganz zu der herkulischen Kraft seiner Glieder paßte, denn die Natur hat vorsorglich solchen Kolossen ebensoviel Sanftmut als Kraft verliehen.
   Obgleich sein Gefährte von ziemlich hohem Wuchs war, so erschien er doch ihm gegenüber wie ein Pygmäe; dem Anschein nach war er fünfundvierzig Jahre alt – das heißt fünf oder sechs Jahre jünger als der Kanadier —, aber sein Gesicht ließ bei weitem nicht auf eine solche Seelenruhe schließen, wie diejenige ist, deren Ursache in einer unwiderstehlichen Kraft liegt. Seine schwarzen Augen hatten einen kühnen, fast trotzig unverschämten Ausdruck; seine stets beweglichen Züge zeugten von heftigen Leidenschaften, die, einmal aufgeregt, sich bis zur Grausamkeit steigern konnten. Alles an ihm ließ einen Mann von einer anderen Rasse in ihm erkennen; einen Mann, in dessen Adern südliches Blut floß.
   Obwohl er einen Anzug trug, der dem seines Gefährten beinahe gleichkam, und auch ebenso bewaffnet war, so ließ seine ganze Kleidung doch eher einen Reiter als einen Fußgänger in ihm vermuten. Indes bezeugten seine zerrissenen Schuhe, daß er mit ihnen mehr als einen langen Marsch hatte zurücklegen müssen.
   Der Kanadier hatte sich seiner ganzen Länge nach auf das Moos gestreckt und schien mit besonderer Aufmerksamkeit eine Hammelkeule zu überwachen, die an ein Eisenholzstäbchen, das auf zwei kleinen Gabeln von demselben Holz ruhte, gespießt war und über glühenden Kohlen röstete, während deren schmackhafter Saft niedertropfte und zischend ins Feuer fiel. Er entwickelte bei diesem Geschäft so viel gastronomischen Eifer, daß er nur unvollkommen hörte, was ihm sein Kamerad sagte.
   »Ich versichere dir«, sagte dieser, der auf einen Einwurf zu antworten schien, »daß, wenn man einem Feind auf der Spur ist – sei er Apache oder Christ – man sich auf gutem Weg befindet.«
   »Aber«, antwortete der Kanadier, »du vergißt, daß wir nur gerade Zeit haben, nach Arizpe zu gehen, um den Preis zweijähriger Anstrengungen zu holen, und daß du mich schon zwingst, unsere beiden Jaguarhäute und die des Pumas zu opfern.«
   »Ich vergesse niemals meinen eigenen Vorteil; ebensowenig aber vergesse ich auch die Gelübde, die ich getan habe; zum Beweis dafür dient, daß ich schon vor fünfzehn Jahren das getan habe, was ich nun nächstens zu erfüllen hoffe. Ich rechne darauf, noch lange genug zu leben, um jedes Ding zu seiner Zeit zu tun – nur fange ich immer beim Notwendigsten an. Ich werde immer noch die Summen vorfinden, die man uns in Arizpe schuldet; wir werden überall diese drei Häute verkaufen können, die dir am Herzen liegen – aber der Zufall, der mich mitten in diesen Einöden dem Mann begegnen läßt, dem ich soviel Haß angelobt habe, wird mir keine solche Gelegenheit wieder bieten, wenn ich sie entschlüpfen lasse.«
   »Bah!« sagte der Kanadier. »Die Rache ist eine Frucht wie viele andere: sie ist süß, ehe man sie gepflückt, sie ist bitter, wenn man sie gekostet hat.«
   Einen Augenblick schwiegen beide Jäger, dann begann Pepe wieder: »Es will mir indes vorkommen, Señor Bois-Rosé, daß du in bezug auf die Apachen, die Sioux, die Crow und andere innige – Feinde von dir nicht dieser Ansicht bist, denn deine Büchse hat ihnen ich weiß nicht wie viele Schädel zerschmettert, ohne die Krieger zu rechnen, denen dein Messer den Leib aufgeschlitzt hat.«
   »Oh, das ist was ganz anderes, Pepe; die einen haben mir meine Häute gestohlen, die anderen haben mich halb skalpiert, alle haben mich schreckliche Augenblicke erleben lassen; und dann ist es auch eine gerechte Strafe, die Wälder und die Ebenen von solcher Brut zu befreien! Aber obgleich ich mich fast ebensosehr über die Engländer zu beklagen habe, so wird doch niemals meine Büchse einen von ihnen töten, den der Zufall vor die Mündung ihres Laufes führen könnte – ich müßte denn dazu gezwungen sein —, und das um so mehr, wenn es statt eines Engländers ein Landsmann wäre.«
   »Ein Landsmann, sagst du, Bois-Rosé? Das ist ein Grund mehr! Man haßt immer nur diejenigen recht von Herzen, die man aus Pflichtgefühl oder seiner Stellung halber lieben sollte, wenn man dennoch besondere Gründe hat, sie zu hassen. Diejenigen, die dieser Mann mir gegeben hat, sind der Art, daß sie nicht so bald vergessen werden könnten, denn vor fünfzehn Jahren habe ich geschworen, ihrethalben Rache zu nehmen. Um dir die Wahrheit zu sagen, so trennte uns ein solcher Abstand, daß ich nicht wußte, wann ich meinen Eid würde erfüllen können, und ich kann es mir noch immer nicht erklären, wie zwei Menschen, die sich in Spanien gekannt haben, in diesen Wäldern einander wieder treffen. Aber dieser Tag ist gekommen, und ich wiederhole es dir: Ich will mir diese Gelegenheit nicht entschlüpfen lassen!«
   Pepe schien so hartnäckig seinen Entschluß gefaßt zu haben, daß sein Gefährte wohl einsah, wie es verlorene Mühe sein würde, ihm eine andere Ansicht beizubringen, und da er einen nachgiebigen Charakter hatte und die Tat mehr liebte als den Wortstreit, so begann er nach einigem Nachdenken: »Alles in allem habe ich zu lange unter den Indianern gelebt, um deine Anschauungsweise zu mißbilligen, und wenn ich die Gründe kennte, die dich leiten, so würde ich dir vielleicht ganz beistimmen.«
   »Das kann ich dir mit zwei Worten sagen«, antwortete der Jäger, den der Kanadier Pepe nannte. »Vor zwanzig Jahren war ich, wie ich dir schon gesagt habe, Grenzsoldat im Dienste Seiner katholischen Majestät. Ich wäre mit meinem Schicksal ziemlich zufrieden gewesen, denn unser Sold war gut; unglücklicherweise zahlte man ihn uns aber niemals aus. Wir hätten wohl, da wir zugleich Küstenwächter waren, auf einen guten Fang der Konterbande, der uns früher oder später entschädigt hätte, hoffen können; aber die Schmuggelei war dabei ebenso selten als die Auszahlung unseres Soldes.
   Welche Hoffnung blieb auch wohl den Schmugglern übrig, zweihundert kühnen Burschen gegenüber, die immer auf der Lauer lagen? Wenn ein hungriger Magen, wie man zu sagen pflegt, keine Ohren hat, so hatte in diesem Fall der unsrige Luchsaugen, und vom Capitan bis zum letzten Soldaten fand sich ein erschreckender Eifer in Wachsamkeit und Dienstpflicht.
   Unter solchen Umständen betrachtete ich die Sache aus folgendem Gesichtspunkt: Es ist klar, sagte ich zu mir, daß ein Schmuggler, wenn er sich trotz dieser Lage der Dinge an unsere Küste wagt, dies nur unternehmen wird, nachdem er sich mit dem Capitan verständigt hat. Der Capitan würde, wie du wohl denken kannst, eine solche Verständigung nicht zurückweisen und müßte in solchem Fall den Beistand desjenigen unter seinen Grenzjägern in Anspruch nehmen, der ihm das meiste Vertrauen einflößte.
   Um zu diesem Ziel zu gelangen, machte ich einen Umweg: Ich tat, als ob ich immer schliefe. Ich hatte dabei einen doppelten Vorteil, denn wer schläft, ißt nicht, und von einem Tag zum anderen hoffte ich den Gewinn mit dem Capitan zu teilen, der mich vor allen wählen würde, in der festen Überzeugung, daß ich auf meinem Posten schliefe.«
   In diesem Augenblick holte der Kanadier die Hammelkeule aus dem Feuer, die einen köstlichen Duft durch die kühle Nachtluft verbreitete. »Heran«, sagte er, Pepe unterbrechend, »wenn du Appetit hast; du kannst deine Geschichte beim Essen vollenden.«
   »Ob ich Appetit habe?« antwortete Pepe. »Caramba! Die Erinnerung an meine Enthaltsamkeit im Dienst des Königs von Spanien macht mir immer fürchterliche Magenschmerzen.«
   Die beiden Männer setzten sich einander gegenüber und bildeten mit ihren Füßen einen länglichen Kreis, dessen Mittelpunkt der Braten bildete; ein gewaltiges Geräusch der Kinnbacken unterbrach während einiger Augenblicke allein die Stille der Wälder.
   »Ich sagte dir also«, nahm Pepe wieder das Wort, »daß ich immer schlief; ich tat gar nichts anderes und war wirklich nicht allzu unglücklich dabei. Eines Abends ließ der Capitan mich rufen.
   Gut, sagte ich zu mir, da steckt etwas dahinter, denn der Capitan wird mir einen Posten anvertrauen. Wirklich schickte er mich zum Schlafen – so hoffte er wenigstens – an das Ufer des Meeres, und zwar sehr weit entfernt. Aber ich schlief nicht, wie du dir wohl denken kannst.
   Ich fasse mich nun kürzer, denn ich spreche nicht gern beim Essen; man verliert zuviel Zeit. Kurz und gut – ein Nachen landete; der Mann, der sich darin befand, mußte Lösegeld bezahlen, dann ließ ich ihn seinen Geschäften nachgehen. – Später erfuhr ich, daß diese Geschäfte durchaus nichts mit dem Handel zu tun hatten. Es wurde Blut vergossen, das mir seit dieser Zeit einige Gewissensbisse macht … Aber warum bezahlte mich auch der König von Spanien nicht? Ich bekam Geld dafür, daß ich schwieg – ich wollte mehr haben; wir entzweiten uns, jener Mann und ich; darauf zeigte ich ihn, um auch meine Schuld zu sühnen, bei den Gerichten an; der Prozeß begann, und da die Justiz in Spanien die Überraschungen liebt, so war das Resultat dieses Prozesses, in dem ich alleiniger Belastungszeuge war, daß ich schuldig befunden und nach der Präsidentschaft Ceuta geschickt wurde, unter dem Vorwand, der Staat bedürfe meiner dort, um Thunfische zu angeln.
   Heilige Jungfrau!« fuhr Pepe fort. »Ein solches Ende setzte mich in Erstaunen und war mir durchaus nicht lieb, denn ich verlor eine prächtige Stelle und hatte gar keine Lust zur Fischerei. Deshalb machte ich mich davon und kam nach tausend Abenteuern, deren Erzählung zu lang ausfallen würde, nach Amerika – und da bin ich nun.«
   »Es war also ein reicher und mächtiger Mann, den ihr angegriffen habt?« fragte Bois-Rosé.
   »Ei freilich! Es war ein großer Herr; ich war der irdene Topf, der am eisernen zerbricht. Doch in der Steppe gilt kein Rangunterschied mehr, und ich hoffe es ihm morgen früh oder später zu beweisen. Ach, wenn ich doch hier ebenso sicher einen gewissen Alkalden Don Ramon Cochecho und den ihm mit Leib und Seele ergebenen Señor Cayatinta hätte, ich würde sie alle drei eine schlimme Viertelstunde erleben lassen!«
   »Wohlan – ich gebe dir recht«, sagte Bois-Rosé, indem er ein Stück Hammelbraten zu sich nahm, das zwei Männer hätte sättigen können; »wir wollen demnach unsere Reise nach Arizpe aufschieben.«
   »Es ist, wie du siehst, eine alte Geschichte«, sagte Pepe zum Schluß, »und wenn ich seit zehn Jahren mein Schicksal mit dem deinigen verbunden habe und nach deiner Anleitung Waldläufer geworden bin, nachdem ich Grenzjäger Seiner katholischen Majestät gewesen bin, so verdanke ich es jenem Mann, den wir den Reitertrupp haben befehligen sehen, der die Richtung nach dieser Hacienda einschlug.« Und Pepe zeigte mit dem Finger in der Richtung der Hacienda del Venado.
   »Ja, ja«, sagte der Kanadier lachend, »ich erinnere mich noch der Zeit, wo du einen ›Cibolo‹ auf fünfzehn Schritt gefehlt haben würdest, und ich glaube jetzt aus dir einen ziemlich guten Schützen gemacht zu haben, obgleich du noch zuweilen das Auge einer Fischotter mit ihrem Ohr verwechselst, was den Preis ihres Felles immer geringer macht. Aber du brauchst dich nicht darüber zu beklagen, das Garnisonsleben mit dem Waldleben vertauscht zu haben. Ich bin auch nicht immer Otternjäger gewesen. Ich war Matrose, wie du weißt; nun gut, ich finde, daß die Steppe dem Meer gleicht – diejenigen, die darin gelebt haben, können sie nicht wieder verlassen.« Dann nahm er nach einem Augenblick wieder das Wort: »Ich würde indes auf das Meer nicht ohne ein trauriges Ereignis verzichtet haben … Doch warum von dem sprechen, das nicht mehr ist? Vergangen ist vergangen!«
   »Das Leben in den Wäldern hat seinen Reiz, ich gebe es zu«, sagte Pepe; »aber ich habe es nicht gern, daß ein Beruf mir aufgenötigt wird! Nicht darum jedoch zürne ich ihm, sondern der Umstände halber, die dem abenteuerlichen Leben, das ich nun seit fünfzehn Jahren führe, vorangingen und mich dazu bestimmt haben.«
   »Still!« unterbrach ihn der Kanadier, indem er seinen Finger an die Lippen legte. »Ich glaube das dürre Gestrüpp brechen zu hören; andere Ohren als die meinigen könnten deine vertrauliche Mitteilungen mit anhören. Das ist übrigens kein Mann, der unbemerkt zu bleiben sucht«, fügte er hinzu, indem er seine Büchse nachlässig zur Hand nahm; »der Mond läßt ja im Dickicht den geringsten trockenen Halm erkennen, und er hätte die Zweige sehen können, die er auf seinem Weg zertrat.«
   Pepe warf einen raschen Blick nach der Richtung, aus der der Lärm kam. Das Auge des spanischen Jägers hatte bald einen Schatten bemerkt, der sich auf dem grünen Teppich einer Lichtung, ungefähr dreißig Schritt von ihm, immer mehr verlängerte. Unter allen anderen Umständen würde er über diese Erscheinung nicht unruhig geworden sein – besonders nach den Erklärungen, die der Kanadier abgegeben hatte —, aber der Herankommende näherte sich von der Seite der Hacienda her, und allein aus diesem Grund war er ihm verdächtig.
   »Wer geht da?« rief er mit einer Stimme, deren Klang durch die schweigende Nacht erscholl.
   »Ein Mann, der einen Zufluchtsort bei Eurem Feuer sucht«, antwortete eine andere Stimme, nicht in dem hellen Ton, den diejenige Pepes hatte.
   »Soll ich ihn herankommen lassen oder soll ich ihn ersuchen, seinen Weg fortzusetzen?« fragte dieser den Kanadier.
   »Wolle Gott nicht, daß wir ihn zurückwiesen«, antwortete der. »Vielleicht hat man ihm dort unten die Gastfreundschaft verweigert; er ist allein, und seine Stimme, die ich, wie mir scheint, nicht zum erstenmal höre, beweist, daß er ermüdet oder vielleicht krank ist.«
   »Wohlan, Ihr seid willkommen am Feuer und beim Essen.«
   Gleichzeitig erschien Tiburcios Gesicht, noch bleich von der Aufregung der letzten Ereignisse und auch vom Blutverlust, den er erlitten hatte.
   Obgleich seine Züge schon beiden Jägern bekannt waren, so schien doch Pepe davon betroffen zu sein, so daß er eine kaum bemerkbare Gebärde des Erstaunens machte, während das Gesicht des Kanadiers nur jenes natürliche Wohlwollen des Alters für die Jugend ausdrückte.
   »Seid Ihr weit von den Reitern verirrt, bei denen Ihr Euch befandet?« fragte Pepe Tiburcio, der sich mehr auf den Rasen fallen ließ, als daß er sich setzte. »Und wißt Ihr nicht, daß Ihr eine Viertelstunde von hier eine bessere Gastfreundschaft als die unsere hättet finden können? Ich kenne den Besitzer des Hauses da unten nicht, aber ich denke nicht, daß er sie Euch verweigert hat. Oder kommt Ihr vielmehr nicht von der Hacienda selbst her?«
   »Ich komme von ihr«, antwortete Tiburcio. »Ich kann Don Agustin nicht den Vorwurf machen, mir die Gastfreundschaft verweigert zu haben; aber sein Dach beherbergt Gäste, mit denen ich meiner Sicherheit halber nicht weiter zusammenwohnen kann.«
   »Wie denn?« erwiderte Pepe mit mißtrauischer Miene, denn diese Ähnlichkeit mit seinen eigenen Gedanken schien ihm zu offenbar, um nicht einen Hinterhalt zu verdecken. »Ist etwa da unten etwas Außerordentliches vorgefallen?«
   Tiburcio schlug seinen Zarapa auseinander und zeigte seinen rechten Arm, dessen Ärmel von Cuchillos Messer zerrissen und mit Blut befleckt war. Dieser Anblick zerstreute Pepes Argwohn vollständig.
   »Hier ist meine Hand«, sagte er mit mehr Hingabe, als er zu zeigen glaubte; »wenn mein Verdacht betreffend die Behandlung, die Ihr in der Hacienda erduldet habt, begründet ist, so könnten wir uns, glaube ich, noch verständigen.« Bei diesen Worten warf er einen Blick des Einverständnisses auf Bois-Rosé und streckte Tiburcio die Hand hin, der ihm seine linke Hand reichte.
   Der Kanadier setzte seine gastronomischen Verrichtungen aus, um die Wunde seines neuen Gastes zu untersuchen, und tat dies mit einer seltenen Geschicklichkeit und ungeachtet seiner rauhen Gesichtszüge mit einer fast zärtlichen Teilnahme. Teufel«, sagte er, »Ihr habt es mit einem Schelm zu tun gehabt, der eine feste Hand hatte! Einige Zoll seitwärts hätten Eure Abenteuer beendet. Doch es wird nichts zu bedeuten haben, mein Junge, beruhigt Euch!« fügte er hinzu, indem er die auf die Wunde geklebten Kleidungsstücke abnahm, nachdem er sie mit Wasser angefeuchtet hatte. »Ein Verband von gequetschten Kräutern darauf, und man wird keine Spur davon sehen. Pepe, sieh doch zu, ob du dir nicht eine Handvoll Oregano verschaffen kannst; quetsche es zwischen zwei Steinen, und bring es mir her.«
   Pepe kam bald mit einem Bündel jenes Krauts zurück, dessen Heilkräfte im ganzen Land so bekannt sind, und befolgte sorgsam die Befehle Bois-Rosés. Dieser legte diese Art von Pflaster auf die Wunde und verband sie mit Tiburcios Gürtel aus chinesischem Flor. »Ihr müßt Euch schon leichter fühlen«, sagte er. »Es gibt nichts Besseres als den Oregano, um Wunden vor Entzündung zu bewahren, und Ihr werdet auch nicht den kleinsten Fieberanfall spüren. Nun, mein Junge, wenn Ihr Appetit habt, so stehen Euch ein Stück Hammelbraten und ein Schluck Branntwein zu Diensten; danach werdet Ihr guttun, Euch beim Feuer niederzulegen und zu schlafen, denn die Müdigkeit scheint Euch zu überwältigen.«
   »Ich habe wirklich seit achtundvierzig Stunden so viele Ereignisse Schlag auf Schlag erlebt«, antwortete Tiburcio, »daß es mir vorkommt, als ob ich ein Jahrhundert gelebt hätte; und in diesem Augenblick scheint sich alles im Kreis um mich herum zu drehen. Was das Essen anbetrifft, so danke ich Euch; der Schlaf wird mir die Kräfte wiedergeben, die ich in der kritischen Lage, in der ich mich befinde, nötig habe. Ich bitte Euch nur noch um einen Dienst – nämlich den, mich nicht zu lange schlafen zu lassen.«
   »Gut, gut!« sagte Pepe seinerseits. »Ich frage Euch nicht, warum; aber wenn Ihr vorhabt, die Hacienda in Belagerungszustand zu erklären, so bin ich da, und ich habe gute Augen, die Euch zu Diensten stehen! Also schlaft ruhig ein!«
   Tiburcio streckte sich lang auf dem Gras nieder, und nachdem er abermals seine beiden Gastfreunde gebeten hatte, ihn kurz vor Tagesanbruch zu wecken, versenkten ihn die Müdigkeit und die aufregenden Gefühle, die er empfunden hatte, sehr bald in einen fast lethargischen Schlaf.
   Der Kanadier betrachtete ihn schweigend einige Augenblicke, wandte sich dann an Pepe und sagte: »Wenn die Gesichtszüge nicht trügerisch sind, so glaube ich nicht, daß wir es bereuen werden, diesen armen Burschen aufgenommen zu haben.«
   »Ich hatte schon Mißtrauen in ihn gesetzt«, antwortete Pepe; »aber das Zeugnis an seinem Arm beweist mir, daß er keine Freunde unter dem Dach, das er verläßt, gefunden hat, und es wird nur an ihm liegen, ob ich der Seinige werden soll.«
   »Wie alt mag er wohl sein?« fragte Bois-Rosé, dessen Gesicht die ganze Teilnahme verriet, die er bei seiner Frage empfand.
   »Er ist nicht älter als 24 Jahre, dafür stehe ich!« antwortete der gewesene Grenzsoldat. »Das meinte ich auch«, sagte der Kanadier, der mehr mit sich als mit seinem Freund zu reden schien, während ein wehmütiger Ausdruck seine rauhen Gesichtszüge sanfter erscheinen ließ; »das ist das Alter, das er haben muß, wenn er noch lebt.« Und ein Seufzer entwand sich gegen seinen Willen seiner breiten Brust.
   »Wer denn? Wen meinst du?« unterbrach ihn rasch der Spanier, in dessen Seele diese Worte zufällig ein Echo zu finden schienen. »Solltest du jemand kennen …?«
   »Das Vergangene ist vergangen, sage ich dir«, erwiderte Bois-Rosé; »und wenn etwas nicht mehr da ist, dessen Dasein man gern wünschte, so ist es das beste, es zu vergessen. Doch still – lassen wir diese traurigen Erinnerungen! Es würde mir den Appetit rauben, wollte ich mich noch länger dem überlassen, was nicht mehr ist, oder noch länger auf das hoffen, was nicht sein kann. Ich habe einsam in den Wäldern gelebt und muß einsam sterben, wie ich gelebt habe.«
   Der ehemalige Soldat, dem die Vergangenheit – obgleich aus einem ganz anderen Grund – ebensowenig freudvoll zu sein schien, sagte nichts mehr über diesen Gegenstand. Beide wechselten plötzlich die Unterhaltung und machten sich, so gut es anging, daran, die Gegenwart zu feiern, deren Symbol für sie die Hammelkeule war – oder vielmehr der Rücken, der allein noch übrigblieb. Daraus folgte denn, daß trotz des guten Willens der beiden Tischgenossen, die Mahlzeit zu verlängern, diese doch endlich ein Ende nehmen mußte.
   »Wenn ich das Vergnügen hätte, diesen Don Agustin, der der Besitzer der benachbarten Hacienda zu sein scheint, persönlich zu kennen, so würde ich ihm ein Kompliment über seine ganz besonders wohlschmeckenden Hammel machen«, sagte Pepe, einen tiefen Seufzer leiblichen Wohlbehagens ausstoßend; »besonders wenn man sie in eine dicke Lage Oregano einwickelt, um ihr Fleisch duftig zu machen. Und wenn nur seine Pferde von gleicher Güte zum Reiten sind, so werde ich sehr glücklich sein, eins von ihnen entleihen zu können.«
   »Was?« fragte Bois-Rosé. »Bist du nicht mehr mit dem deinen zufrieden?«
   »Nein, gewiß nicht! Du weißt wohl, da wir unsere Verfolgung in eine Belagerung verwandelt haben, so muß ich wenigstens mit einem guten Pferd auf jeden Fall versehen sein; ich habe hier meinen Sattel, und somit werden wir wie jede wohl organisierte Streitkraft Infanterie und Kavallerie haben. Ein Pferd weniger wird keine größere Lücke in den Scharen, die diese Wälder durchfliegen, zurücklassen als ein Hammel in den Herden – und mir wird es von großem Nutzen sein.«
   »Gut«, sagte der Kanadier. »Ich denke nicht, daß du dem Eigentümer ein großes Unrecht tust, und wünsche dir guten Erfolg. Was mich betrifft, so will ich diesem braven Jungen Gesellschaft leisten; er schläft, als ob er es seit vierzehn Nächten nicht getan hätte!«
   »Niemand wird sich wahrscheinlich diese Nacht in der Hacienda rühren; aber trotzdem schlafe nur mit einem Auge, während ich nicht da bin; und sollte es etwas Neues geben, so wird ein dreimaliges Bellen in gleichen Abständen mich benachrichtigen, auf meiner Hut zu sein.«
   Mit diesen Worten nahm Pepe den Lasso, der an seinem Sattel befestigt war, und wandte sich nach der Gegend, wo er glaubte ein Pferd anzutreffen. Bois-Rosé blieb allein. Er betrachtete abermals den jungen, neben der Feuerstelle schlafenden Mann, warf trockene Zweige ins Feuer, die einen lebhaften Glanz verbreiteten; dann legte er sich an seiner Seite nieder und war bald ebenfalls eingeschlafen.
   Der Abendwind bewegte rauschend die Wipfel, unter denen diese Männer, die einander auf so wunderbare Weise wieder begegnet waren, ruhten und nicht ahnten, daß sie zwanzig Jahre früher lange Zeit Seite an Seite geschlafen hatten – damals eingewiegt vom Brausen des Ozeans wie diesen Abend vom Rauschen der Bäume des Waldes.


   21. Fabian und Bois-Rosé

   Wenn es der göttlichen Gerechtigkeit gefällt, endlich ihre feierlichen Sitzungen zu eröffnen, nachdem sie den Zeitraum, den ihr Wille festgesetzt hat, verfließen ließ, so sieht man nicht bloß von einem Ende eines Landes zum anderen die Schuldigen und die Zeugen nach dem von den Richtern bezeichneten Ort eilen – nein, von entgegengesetzten Punkten der Erdkugel, aus den entlegensten Gegenden kommen Richter, Zeugen, Ankläger und Schuldige, gehorsam der unsichtbaren Hand, die sie vorwärts treibt, und begegnen einander auf gemeinschaftlichem Boden.
   Die Gerechtigkeit Gottes kennt für das Verbrechen keine Verjährung. Zwanzig Jahre, die seit der Ermordung der Gräfin von Mediana verflossen waren, hatten sie nicht entwaffnet – die Zeit war nur noch nicht gekommen, wo ihr Urteilsspruch in Kraft treten sollte; jetzt nahte sie heran. Schon längst zerrissene Fäden begannen sich wieder anzuknüpfen, längst getrennte Persönlichkeiten begegneten einander endlich.
   Fabian von Mediana und der kanadische Matrose, die vor zwanzig Jahren dreitausend Meilen von diesem Ort plötzlich auseinandergerissen worden waren, schliefen wieder neben derselben Feuerstelle. Ein zufällig entschlüpftes Wort konnte den Jäger das Kind, um das er täglich trauerte, konnte Fabian von Mediana den Mann wiederfinden lassen, der den Leichnam seiner Mutter gefunden und seine eigene Kindheit zwei Jahre hindurch beschützt hatte; denjenigen, dessen Name seinem Gedächtnis entfallen war, an dessen Dasein aber die Frau Arellanos‘ ihn bei ihren letzten Enthüllungen dunkel erinnert hatte.
   Wir dürfen es nicht in Vergessenheit kommen lassen, daß dies beinahe zu derselben Zeit stattfand, in der Don Estévan den Senator und den Hacendero weckte, um so plötzlich Abschied von ihnen zu nehmen.
   Unterdessen rückte die Nacht vor; die Sternbilder, die für die Reisenden in diesen Einöden die Stunden angeben, hatten den Teil des Himmels verlassen, der sich über die Lichtung ausspannte, und neigten sich augenscheinlich nach Westen. Der Kanadier, der nach der Warnung Pepes »nur mit einem Auge« schlief, hatte öfter seinen Schlaf unterbrochen, um einen Blick ringsumher zu werfen; aber das Licht der Flamme beschien nur den immer noch schlafenden Tiburcio. Pepe war noch nicht wieder erschienen.
   Unruhe und Argwohn sind nicht mit einem athletischen Körperbau wie dem Bois-Rosés vereinbar; er hatte also auch ebensooft seinen unterbrochenen Schlaf von neuem begonnen.
   Zwei Stunden vergingen noch, als ein leichtes Krachen der Zweige, ein Geräusch von Schritten, die durch den Moosteppich gedämpft waren, und besonders das Schnauben der Nüstern eines Pferdes ihn abermals aufweckten. Bald darauf zeigte sich auch Pepe. Er zog am Halfter ein Pferd nach sich, das beim Anblick des Feuers und der beiden auf dem Boden liegenden Männer vor Schrecken ängstlich schnob. »Ich bin fertig«, sagte der Spanier mit leiser Stimme, »und bringe den schönsten Renner mit, der jemals diese Wälder durchflogen hat. Ich fürchte nur, daß er sich noch ein wenig unbändig gegen den Reiter benehmen wird; aber die Hauptsache ist, daß ich ihn habe, obgleich es nicht ohne Mühe so weit gekommen ist.«
   Pepe trocknete seine von Schweiß triefende Stirn mit den Überresten eines Taschentuchs und zog gewaltsam ein prächtiges Tier ans Feuer, dem der Schrecken ein noch herrlicheres Aussehen verlieh, denn mit Ausnahme des Menschen, der von Natur König der Schöpfung ist und den die Furcht erniedrigt und herabwürdigt, verleiht sie fast allen Tieren noch eine Schönheit mehr. Dieses hier stemmte sich auf seine feinen Füße, die wie gespannte Saiten zu zittern schienen; der Hals war weit vorgestreckt, die Ohren gespitzt und nach vorn gerichtet; zwischen ihnen fiel ein Bündel Haare auf ein wildes Auge herab; der ganze Leib zitterte, die Nüstern dehnten sich und zogen sich wieder zusammen – kurz, es war der vollkommenste Typ jener mexikanischen Rasse, die mit der arabischen wetteifert – ein Tier, um einem Pascha Lust zu machen.
   »Ich habe eine glückliche Hand gehabt, nicht wahr?« sagte Pepe mit zufriedener Miene, während er den Renner fest an den Stamm einer Eiche band.
   »Sofern dein Vorhaben dir ebensogut gelingt, wird alles ausgezeichnet gehen«, antwortete Bois-Rosé, der trotz seiner Geringschätzung des Pferdes im allgemeinen doch nicht umhin konnte, dieses hier zu bewundern; »aber ich zweifle daran. Bis dahin leg dich schlafen; ich meinesteils habe es schon genug getan und will für dich wachen.«
   »Ich habe es wohl verdient«, erwiderte Pepe, »und werde deinen Rat befolgen.« Mit diesen Worten streckte er sich aufs Gras, und bald hatte sich seiner ebenfalls der Schlaf bemächtigt; dieser ist ein Gast, der in den Wäldern nicht auf sich warten läßt, in welcher Lage man sich auch dort befinden mag.
   Obgleich unter den gegenwärtigen Verhältnissen nichts diese Vorsichtsmaßnahmen rechtfertigte, so war die Macht der Gewohnheit in einem Leben voll Gefahren doch so groß, daß auch im Freundesland der eine wachte, während der andere schlief. Der Kanadier erhob sich also von seinem Mooslager, streckte seine gewaltigen Glieder, ging einige Minuten auf und ab, um den letzten Rest von Schlaf abzuschütteln, und setzte sich dann dicht bei der Feuerstelle, mit dem Rücken an den Stamm eines Korkbaums gelehnt, nieder. Der Glanz des Feuers beleuchtete vollständig sein Gesicht, auf dem tiefe Furchen mehr von den Anstrengungen als vom Alter eingegraben waren; seine beiden schlafenden Gefährten lagen tief im Schatten. Mitten in dem tiefen Schweigen der Natur, in einem jener feierlichen Augenblicke des Nachdenkens, wo das ganze Leben in der Erinnerung noch einmal durchlebt wird, hätte man leichter in seinen ruhigen Zügen eine Vergangenheit ohne Vorwurf und ohne Gewissensbisse lesen können. Unbeweglich wie eine Statue schien er das schönste Ebenbild der wachsamen Kraft.
   Wenn es aber auch in der Kraft des Menschen liegt, sein Leben so zu gestalten, daß er ohne Bedauern zu jeder Stunde und an allen Orten in den Schacht seines Herzens hinabsteigen kann, so verfügt doch eine höhere Macht als sein Wille frei über Ereignisse, die noch nach vielen Jahren traurige Erinnerungen im Herzen erwecken können. Beim Anblick des schlafenden Tiburcio flog dann und wann ein wehmütiger Zug wie eine Wolke über die Stirn des Kanadiers; sein Anblick schien eine schlecht geschlossene Wunde wieder zu öffnen.
   Bois-Rosé erhob sich vorsichtig, näherte sich dem jungen Mann und neigte sich über ihn, um ihn aufmerksamer zu betrachten. Nachdem er ihn lange Zeit genau angesehen hatte, ging er schweigend zurück.
   »So alt müßte er wohl sein, wenn er noch lebt«, sagte er mit leiser Stimme vor sich hin; »aber wie in dieser Haltung, in diesen Zügen eines jungen Mannes, in seiner ganzen Kraft diejenigen eines Kindes wiedererkennen, das kaum vier Jahre alt war, als es mir entrissen wurde?« Ein Lächeln des Zweifels flog um seinen Mund, als ob er gezwungen wäre, die Torheit seiner Gedanken selbst anzuerkennen. »Und doch«, fuhr er fort; »ich bin der Spielball von zu vielen Ereignissen gewesen; ich habe zu lange mitten in der Natur gelebt, um an der Allmacht der Vorsehung zu zweifeln. Warum sollte sie kein Wunder tun? War es nicht ein solches, das mich auf dem Ozean ein Kind hat finden lassen, das auf dem Schoß seiner ermordeten Mutter dem Hungertod nahe war? Warum sollte ich es nicht wiederfinden in der ganzen Kraft der Jugend? Warum sollte es nicht abermals zu mir gewiesen sein, um von mir Hilfe und Schutz zu verlangen? Wer weiß? Sind die Wege Gottes nicht unerforschlich?«
   Als ob diese Gedanken eine gewisse Überzeugung in seiner Seele hervorgerufen hätten, erhob sich Bois-Rosé abermals, um aus den Zügen Tiburcios das Bild des jungen Knaben wieder herauszufinden, den ihm seine Erinnerung stets mit rosigen Wangen und blonden Haaren vor die Seele führte; aber der Schein des Feuers zeigte seinen Augen ein schwarzes Haar, das eine bleiche Stirn lockig umgab und abgemagerte Wangen beschattete.
   »Wie oft«, sagte er zu sich selbst, als er seinen Irrtum einsah, »habe ich nicht so meinen kleinen schlafenden Fabian betrachtet! Aber wer du auch sein magst, junger Unbekannter, du hast in mir die Hoffnung wachgerufen! Schlafe ruhig; du hast dich nicht an meinem Feuer niedergelegt, ohne hier einen Freund zu finden! Möge Gott meinem armen Fabian vergelten, was ich für dich zu tun bereit bin!«
   Der Kanadier kehrte noch einmal auf seinen Platz, einige Schritte von Fabian entfernt, zurück, und hier, in dem erhabenen Schweigen des amerikanischen Waldes, erwachten seine Erinnerungen durch die Gegenwart eines jungen Mannes von gleichem Alter, als der Sohn der Gräfin von Mediana sein mußte, und gefielen sich darin, die Ereignisse im Golf von Biskaya noch einmal seinen Augen vorzuführen.
   Diese Nacht erinnerte ihn an jene, in der er unter dem Feuer desselben Pepe des Schläfers, der heute sein Waffenbruder war, das ihm später entrissene Kind in einem Nachen aufgerafft hatte, wo der Leichnam seiner Mutter lag. In seinem Gedächtnis konnte er fast Tag für Tag die Spur aller Ereignisse verfolgen, durch die die glücklichsten zwei Jahre seines Lebens sich ausgezeichnet hatten, und zwar viel treuer, als es bis dahin der Fall gewesen war.
   Der Kanadier wußte noch nicht, daß Pepe der Schläfer derselbe Soldat war, an dessen Ungeschicklichkeit in bezug auf seine Person er immer noch dachte. Man sieht, daß der Spanier bei seinen vertraulichen Mitteilungen Elanchove in keiner Weise erwähnt hatte, denn Pepe hätte gern aus seinem Leben die Nacht gestrichen, wo er auf Posten an der Ensenada gestanden hatte. Wenn Bois-Rosé in Pepe jenen Soldaten wiedererkannt hätte, der ihn in jener Nacht ebenso hartnäckig als ungeschickt, wie er sich ausdrückte, bombardierte, so hätte er gewiß nach diesem merkwürdigen Zusammentreffen noch viel lebhafter auf einen zweiten, nicht weniger wunderbaren Zufall gehofft. Aber Bois-Rosé wußte es nicht und blieb dabei, ohne es zu wollen, über einen Gedanken zu lächeln, der den jungen, unter seinen Augen schlafenden Mexikaner in jenen Fabian verwandelte, den er so innig betrauerte.
   Schon begann die Kühle der Nacht, die man bereits einige Stunden vor dem Aufgang der Sonne fühlt, wie ein eiskalter Mantel niederzufallen. Der Nebel um die Wipfel der Bäume wurde immer dichter und senkte sich als kalter Tau herab; doch war trotz der vorgerückten Stunde noch alles still um ihn her.
   Plötzlich schnaubte das angebundene Pferd heftig und suchte das Halfter zu zerreißen, indem es im Galopp einen weiten Halbkreis beschrieb; die vom Halfter zerbrochenen Zweige krachten laut. Offenbar hatte irgendein – wenn auch unsichtbarer – Gegenstand es erschreckt.
   Bois-Rosé, so plötzlich aus seinen Träumereien gerissen, ging leise vor mit lauschendem Ohr und spähendem Auge; da er aber nichts bemerkte als den Mond, der immer noch mit schräg herabfallenden Strahlen die Baumstämme mit einem Silberglanz umgab und seinen Lichtschimmer verstohlen ins Dickicht sandte, so setzte er sich wieder auf den Platz, den er vorher eingenommen hatte. Er fand Tiburcio eben vom Schlaf erwacht. Obgleich seine Augen offenstanden, war es doch klar, daß sein Gast noch im Land der Träume weilte, denn er schien diese Feuerstelle, neben der er lag, den schlafenden Mann an seiner Seite und den Riesen, der schweigend auf seinen Posten zurückkehrte, mit erstaunter Miene zu betrachten. Doch dauerte diese Ungewißheit über seine außerordentliche Lage nur einige Sekunden, denn das wohlwollende Lächeln des Kanadiers erwiderte er mit der Frage, was der Lärm bedeutete, der ihn aufgeweckt habe.
   »Es ist nichts«, antwortete Bois-Rosé, obgleich der leise Ton, mit dem er sprach, bis auf einen gewissen Punkt seine Worte Lügen strafte. »Das Pferd wird in Schrecken geraten sein durch die Witterung irgendeines Jaguars, der gewiß nicht weit von der Stelle herumstreift, wo wir die Felle seiner Gefährten und das eines Hammels gelassen haben, von dem wir ein Stück verzehrt haben. Dabei erinnere ich mich, daß Ihr vielleicht gern noch ein wenig von dem annehmt, was ich Euch aufbewahrt habe.«
   Der Kanadier bot hierauf Tiburcio zwei kalte Bratenschnitten an, die er zurückgelegt und in Oregano gewickelt hatte. Diesmal tat Tiburcio dem Mahl Ehre an, und als er nach dem Rat seines Wirtes einen Schluck Wasser zu sich genommen hatte, das, wie er sagte, das beste Mittel zur Erwärmung des Magens sei, fühlte er, daß er ein ganz anderer Mensch geworden sei. Das leibliche Wohlsein, das er dank dieser Mahlzeit empfand, und die Wärme, die ihm nach dem kühlen Trunk durchströmte, gaben der Zukunft eine hellere Färbung und milderten den Schmerz der Vergangenheit. Beim Anblick des kanadischen Jägers, der seine Wunden mit so großer Sorgfalt verbunden hatte – dessen Sorge sich sogar bis auf sein Mahl erstreckte —, fühlte er sich nicht mehr so allein, so verlassen; ein geheimes Gefühl sagte ihm, daß er einen mächtigen und durch seine herkulische Stärke, seine Unerschrockenheit und seine Geschicklichkeit furchtbaren Freund gefunden habe; Bois-Rosé seinerseits sah vergnügt lächelnd zu, wie er aß, und wurde sich immer klarer bewußt, daß sein Herz dem jungen Mann entgegenschlug.
   »Nun, mein Junge«, sagte der Jäger, »die Indianer haben die Sitte, ihre Gäste, die sie bei sich empfangen, erst dann nach Namen und Stand zu fragen, wenn sie unter ihrem Dach gegessen haben. Ihr befindet Euch hier bei mir, Ihr habt von meinem Mahl gegessen – darf ich Euch jetzt wohl fragen, wer Ihr seid und was auf der Hacienda vorgefallen ist, daß man Euch dort einen solchen Empfang bereitet hat?«
   »Recht gern«, antwortete Tiburcio. »Aus Gründen, deren Kenntnis Euch nicht interessieren dürfte, hatte ich meine Hütte verlassen, um mich nach der Hacienda del Venado zu begeben. Mein Pferd stürzte mitten auf der Straße vor Durst und Mattigkeit unter mir zusammen, und der Leichnam des armen Tieres war es, der den Puma und die beiden Jaguare herbeigezogen hatte, die Ihr und Euer Gefährte so kühn und geschickt getötet habt.«
   »Hm«, sagte lächelnd der Kanadier, »das ist ein ziemlich erbärmliches Geschäft; doch fahrt fort. Welche Beweggründe kann man haben, einen jungen Mann zu hassen, der kaum aus dem Jünglingsalter herausgetreten ist? Denn ich wette, Ihr seid noch nicht älter als zwanzig Jahre.«
   »Vierundzwanzig«, antwortete Tiburcio; »doch ich fahre in meiner Erzählung fort. Ich selbst hätte beinahe das Schicksal meines Pferdes geteilt, und als ihr beide während des Nachtlagers an der Poza zu uns kamt, hatte der Reiterzug, bei dem ich damals war, kaum einige Stunden früher mich sterbend vor Fieber und Durst auf offener Straße gefunden, und ich kann nicht recht klar darüber werden, warum diese Leute mich damals nur gerettet haben, um später einen Mordversuch an mir zu begehen.«
   »Aus Eifersucht vielleicht«, sagte lächelnd der Kanadier; »das ist immer die Geschichte der ersten Jugend.« »Ich gestehe es ein«, antwortete Tiburcio etwas verwirrt; »aber es gibt noch einen anderen Grund: das ist nämlich ein Geheimnis von außerordentlicher Wichtigkeit, das ich mit ihnen teile und dessen ausschließlichen Besitz sie sich allein sichern wollen. Es ist Tatsache, daß es drei Menschen gibt, denen mein Leben im Wege steht; aber unter ihnen gibt es auch einen, an dem Rache zu nehmen ich habe schwören müssen; und obgleich einer gegen drei, muß ich doch den Eid erfüllen, den ich auf dem Totenbett einer Person geschworen habe, die mir sehr teuer war!« (Tiburcio schrieb immer Don Estévan den Mord Arellanos‘ zu.)
   Das Auge des Kanadiers folgte mit Teilnahme dem bewegten Antlitz Tiburcios und gab heimlich diesem jugendlichen Feuer seinen Beifall, das ihn die Gefahr gar nicht ermessen ließ. »Aber Ihr habt mir Euren Namen nicht genannt«, sagte Bois-Rosé zögernd.
   »Mein Name ist Tiburcio Arellanos.«
   Der Kanadier konnte einen Seufzer nicht unterdrücken, als er diesen Namen hörte, der ihn aus seinen Träumereien in die Wirklichkeit zurückführte.
   »Ruft dieser Name Euch irgendeine Erinnerung zurück?« rief Tiburcio. »Mein Ad…« – Tiburcio wollte sagen: Mein Adoptivvater, aber er hielt inne und fuhr fort: »Arellanos ist oft durch Steppen gereist, wo Ihr ihm hättet begegnen können; er war der berühmteste Gambusino in einer Gegend, die eine große Anzahl berühmter aufzuweisen hat.«
   »Ich höre diesen Namen zum erstenmal«, antwortete Bois-Rosé; »Euer Aussehen allein … ruft mir … Ereignisse zurück, die schon längst vergangen sind …« Der Jäger beendete seine Rede nicht und schwieg. Tiburcio seinerseits, der sich noch lebhafter an alles erinnerte, was sich in der Hacienda zugetragen hatte, schwieg ebenfalls und hielt es für eine Gunst des Himmels, mit den beiden Jägern zusammengetroffen zu sein; das Geheimnis des Val d‘Or, das einem einzelnen Mann wie ihm unnütz war, wurde mit diesen beiden mächtigen Bundesgenossen eine kostbare Hilfsquelle und ein Pfand für den Erfolg seiner Liebe in den Augen Don Agustins; er beschloß also dem Kanadier unmittelbar Eröffnungen darüber zu machen.
   Dennoch zögerte er noch einen Augenblick. Um den Preis des Goldes das Herz Rosaritas sozusagen erkaufen, das er einem zärtlicheren Gefühl für unzugänglich hielt, widerstrebte der uneigennützigen Liebe, die er selbst ihr gelobt hatte; aber trotz des Eides, den er sich schwor, sie nicht wiederzusehen, siegte doch ein Rest von Hoffnung, die niemals ganz in einem recht verliebten Herzen stirbt, über seinen Widerstand. Wird es nicht immer so mit den Schwüren Verliebter sein?
   »Ihr seid Eurem Gewerbe nach ein Jäger, habt Ihr gesagt, wenn ich mich nicht täusche«, begann Tiburcio, das Schweigen unterbrechend; »das ist kein gewinnbringendes und ein sehr gefährliches Handwerk.«
   »Es ist kein Handwerk«, antwortete der Kanadier; »es ist für alle ein edler Stand – für Pepe zum Beispiel. Für mich ist es der Beruf meines Lebens. Meine Vorfahren haben gejagt, und ich habe – nach einer kurzen Unterbrechung – den Stand, den meine Vorfahren auf mich vererbt haben, wieder ergriffen … Unglücklicherweise habe ich keinen Sohn, der mein Nachfolger sein könnte; ein edles und starkes Geschlecht – ich kann es ohne Hochmut sagen – wird mit mir zugrunde gehen.«
   »Und ich bin wie mein Vater Goldsucher«, erwiderte Tiburcio.
   »Ja, Ihr seid von einem Geschlecht, das Gott ebenso hat entstehen lassen, damit das Gold, das er geschaffen hat, nicht für die Welt verloren wäre.«
   »Mein Vater hat mir die Kenntnis eines nicht weit von hier entfernten und so goldreichen Ortes hinterlassen, daß ich, wenn zwei Jäger wie Ihr und Euer Gefährte sich mir anschließen wollten, sie reicher machen würde, als sie jemals haben träumen können.« Tiburcio wartete auf die Antwort des Kanadiers und glaubte fast seiner Beistimmung gewiß zu sein, trotz der Weigerung, die er in seiner Gegenwart schon gegen Don Estévan ausgesprochen hatte.
   Der ehrliche Kanadier hatte Tiburcio das Vergnügen nicht zu verbergen gesucht, mit dem er ihm zuhörte. Dieser hatte das Feuer in den Augen des Jägers und das Lächeln, das sich über seine offenherzigen Gesichtszüge verbreitete, der Habgier zugeschrieben und täuschte sich. Bois-Rosé hörte im Gegenteil von den so verführerischen Vorschlägen Tiburcios nur den Ton einer Stimme, die auf dem Grund seines Herzens widerhallte wie eine längst vergessene Melodie oder wie einer jener Gesänge des Vaterlands, die plötzlich das Ohr eines Verbannten mit Freude erfüllen.
   Das Erstaunen des jungen Mannes war darum nicht gering, als der Kanadier verneinend den Kopf schüttelte und antwortete: »Der Vorschlag, den Ihr mir da macht, würde ohne Zweifel einen Mann verführen, der sein Herz in irgendeiner Stadt zurückgelassen hat. Was mich anlangt, so habe ich kein Vaterland mehr. Die Wälder und die Steppen sind jetzt meine Heimat geworden, und ich will keine andere mehr; wozu sollte mir also das Gold, von dem Ihr sprecht, nützen? Es gab eine Zeit, wo ich es zu besitzen gewünscht hätte, um es einst zu vererben oder es selbst noch bei meinem Lebzeiten wegzugeben – heute habe ich niemand mehr, dem dieses Gold Nutzen schaffen könnte. Nein, nein, mein Junge, ich danke Euch, aber ich will nichts damit zu tun haben«, fügte er hinzu, indem er mit seinen breiten Händen sein Gesicht bedeckte, als wollte er seinen Augen das verführerische Gemälde entziehen, das Tiburcio vor ihm aufgerollt hatte.
   »Das ist gewiß nicht Euer letztes Wort«, erwiderte Tiburcio, nachdem er sein Erstaunen überwunden hatte; »ein Mann weist nicht auf solche Art Schätze zurück, wenn er sich nur zu bücken braucht, um sie aufzuraffen!«
   »Dennoch ist es ein unwiderruflicher Entschluß. Ich gehöre mit Leib und Seele einem Unternehmen an, bei dem ich meinem Gefährten, der es zehn Jahre lang gewesen ist, beistehen muß.«
   Bois-Rosé dachte nicht daran, daß sein strenges Festhalten an dem einmal gegebenen Wort an jene edlen Ritter der alten Zeit erinnerte, wo keiner von ihnen seine Lanze zur Eroberung der Schätze Indiens erhoben hätte, wenn Lanze und Ehre in einer anderen Sache verpfändet gewesen wären.
   »Ich fühle wohl, mein Junge, daß ich Euch durch diese Weigerung schmerzlich berühre«, fügte der Kanadier hinzu, als er die Traurigkeit sah, die plötzlich wie eine Wolke die Stirn Tiburcios umschleierte.
   »Hört mich an, mein braver Jäger«, erwiderte der junge Mann. »Ich kann es Euch nicht verheimlichen, daß Eure Weigerung alle meine Hoffnungen zu Boden wirft; aber glaubt mir, nicht meinetwegen bedaure ich die Schätze, die wir anderen überlassen wollen …«
   »Ich glaube es Euch«, antwortete Bois-Rosé; »die Habgier hat gewöhnlich ihren Sitz nicht auf einer Stirn wie der Eurigen. Aber ich verweigere es auch nicht geradezu, Euch nützlich zu werden. Ich habe einige Gründe, zu glauben, daß Pepe hier sich auch über einen von jenen drei Männern zu beklagen hat und daß wir gemeinschaftliche Sache mit Euch – sei es in Eurer Liebe oder in Eurem Haß – werden machen können.« Während dieser Unterredung schienen die oft ausgesprochenen Worte »Schätze« und »Reichtümer« ihren zauberischen Einfluß auf Pepe statt auf Bois-Rosé auszuüben, denn er drehte sich oft herum, als ob er gegen die Entscheidung seines Freundes protestieren wollte. »Dieser Don Estévan, von dem ich habe reden hören«, nahm der Kanadier wieder das Wort, »ist ein Mann von ziemlich hohem Wuchs, nicht wahr? Es ist der Chef des Reitertrupps, bei dem Ihr gestern noch wart?«
   »Er selbst«, antwortete Tiburcio.
   »Das ist also der Name, den er hier angenommen hat?« unterbrach sie plötzlich die Stimme Pepes, der sich in die Höhe richtete, um an der Unterhaltung teilzunehmen.
   »Solltet Ihr ihn etwa zufällig kennen?« fragte der junge Mann.
   »Jawohl«, erwiderte Pepe; »er ist ein alter Bekannter von mir, mit dem ich noch eine rückständige Rechnung ins reine zu bringen habe, und gerade deshalb habt Ihr mich auch unter diesem Himmelsstrich gefunden. Wenn Ihr mehr von ihm zu wissen wünscht und er etwa zufällig dem Messerstoß, den Ihr empfangen habt, nicht fremd geblieben wäre, so will ich es Euch später erzählen und werde Euch auch gut zur Hand gehen können. Doch jedes Ding hat seine Zeit, und das wichtigste ist jetzt, zu schlafen, um auf jedes Ereignis vorbereitet zu sein.«
   »Noch einen Augenblick, Pepe, noch einen Augenblick!« sagte der Kanadier in guter Laune. »Es sieht fast aus, als ob du im Sinn hast, deinen Beinamen ›der Schläfer‹ zu rechtfertigen. Höre mich einen Augenblick! Dieser junge Mann hat uns vorgeschlagen, ihn nach einer so reichen Goldmine zu begleiten, daß man sich nur zu bücken braucht, um das Gold aufzunehmen.«
   »Demonio!« rief Pepe. »Du hast es doch angenommen, denke ich?«
   »Im Gegenteil – ich habe es ausgeschlagen.«
   »Und du hast unrecht daran getan, Bois-Rosé; die Sache verdient Überlegung! Aber wir wollen später davon sprechen; für den Augenblick nehme ich wie gewöhnlich das Nötigste zuerst vor.«
   Nach diesen Worten legte sich Pepe alsbald nieder, und das Geräusch seines Atemholens bewies bald, daß er wieder eingeschlafen war.


   22. Das Wiedererkennen

   Tiburcio wünschte sich Glück, daß er sich in der Hoffnung, die das zufällige Zusammentreffen mit den beiden Jägern ihm eingeflößt hatte, nicht gänzlich getäuscht sah.
   Bois-Rosé nahm das Wort. »Wie Ihr seht«, sagte er, »werdet Ihr in meinem Freund Pepe einen Mann finden, der bereit ist, sich mit Euch gegen diesen Don Estévan zu verbinden; was so viel bedeuten will, daß ich Euch auch nicht mehr fehlen werde, denn seine Feinde sind auch die meinigen. Ich habe also das Glück, da die Dinge so stehen, Euch die Hilfe einer guten Büchse, die ihr Ziel nicht verfehlt, anbieten zu können; aus ganz besonderen Gründen habe ich niemals einen jungen Mann Eures Alters von Gefahren bedroht zu sehen vermocht, wie es bei Euch der Fall gewesen ist und noch ferner sein wird, ohne ein lebhaftes Bedauern zu empfinden, mich nicht auf seine Seite schlagen zu können. Ihr könnt also doppelt auf mich rechnen und werdet sehen, daß der Himmel Euch einen Freund gesandt hat, der wohl ebensogut ist als ein anderer.«
   Während er so sprach, schien der kanadische Jäger aufmerksam den Kolben seiner langen Büchse zu betrachten, und zum erstenmal bemerkte Tiburcio, daß er mit einer Menge rätselhafter Zeichen, die mit der Spitze eines Messers eingraviert waren, bedeckt war.
   »Ach«, sagte Bois-Rosé, der den Blick des jungen Mannes, den dieser auf die verschiedenförmigen Kerben richtete, bemerkte, »Ihr zählt ohne Zweifel meine Skalpe?«
   »Eure Skalpe?« wiederholte mit erstaunter Miene Tiburcio, der die Sitten der sonderbaren Klasse von Menschen, zu der der Jäger gehörte, nicht kannte.
   »Sehr richtig!« erwiderte der Kanadier. »Die Indianer, die Heiden sind, zählen die Menge ihrer Schlachtopfer nach der Anzahl der Skalpe, die sie genommen haben; aber wir anderen Waldläufer, wir zählen unsere Siegestrophäen, wie es sich für Christen geziemt. Diese Kreuze bedeuten die Feinde, die ich im ehrlichen Kampf auf dem Kriegspfad, wie die Indianer sagen, getötet habe.«
   »Aber ich sehe wenigstens zwanzig solcher Kreuze!« rief Tiburcio.
   »Nähmt Ihr das Doppelte, so würdet Ihr Euch doch noch um einige verrechnen«, erwiderte lächelnd der Jäger. »Seht, diese Kreuze mit einem Querstrich bezeichnen die Apachen, und Ihr werdet ihrer etwa zehn zählen. Diese doppelten Kreuze – und es sind ihrer sieben – wollen sagen, daß ebenso viele Sioux-Indianer ihren Todesschrei ausgestoßen haben. Diese Kreuze mit doppeltem Querstrich sind Pawnees, die ich in das Land der Geister gesandt habe; laßt sehen – es sind acht. Diese Sterne – vier an der Zahl – sind Crows, die jetzt in der Ewigkeit jagen. Ach«, fuhr der Kanadier fort, indem er neun parallele Striche zählte, »hier sind gerade so viele Flachköpfe, die dank meiner Bemühung niemand mehr bestehlen werden; endlich diese kreisförmigen Zeichen, die ich nicht zähle, sind Schwarzfüße, die für immer den Jagdgründen der Prärien lebewohl gesagt haben. Nun frage ich Euch, was ich wohl mit all diesen Skalpen hätte machen sollen? Ich überlasse solche Trophäen der indianischen Eitelkeit«, schloß der Waldläufer sehr naiv.
   Tiburcio hörte diesen Triumphgesang des ehrlichen Kanadiers mit ebenso großem Erstaunen an, als einst der Schreiber dieser Zeilen empfand, als einer dieser schrecklichen Indianertöter ihn auf dem Schaft seiner Büchse zweiundfünfzig Gedenkstriche zählen ließ, die er während seiner Reisen und Kämpfe an den Grenzen Nordamerikas und Mexikos eingeschnitten hatte.
   »Wohlan«, nahm der Kanadier wieder das Wort, »hatte ich unrecht, Euch zu sagen, daß Ihr auf einen Freund zählen könnt, der wohl soviel wert ist als ein anderer?« Und die Tat mit dem Wort verbindend, reichte der Kanadier Tiburcio seine breite Hand mit einem Ausdruck von Freimütigkeit und Ehrlichkeit, die beredter für ihn sprach als sein Mund; und dieser letztere dankte ihm in der verzweifelten Lage, in der er sich befand, mit überströmenden Gefühlen.
   »Eine geheime Stimme«, fügte er hinzu, »sagte mir, daß dieses Licht, das ich oben von der Hacienda her im Wald blitzen sah, ein freundliches für mich sein mußte.«
   »Ihr habt Euch nicht getäuscht«, erwiderte Bois-Rosé. »Aber verzeiht bitte einem alten Mann Fragen, die Euch vielleicht indiskret erscheinen: Habt Ihr, so jung, schon keinen Vater mehr, bei dem Ihr Zuflucht suchen könntet?«
   Eine lebhafte Röte bedeckte bei dieser Frage die Wangen Tiburcios, der einen Augenblick schwieg und kurz darauf erwiderte: »Warum sollte ich Euch nicht – überall von Feinden umgeben, von einem Mädchen verschmäht, das ich noch liebe – gestehen, daß ich allein auf der Welt stehe, daß ich weder Vater noch Mutter habe?«
   »Sie sind tot?« sagte Bois-Rosé mit teilnehmender Miene.
   »Ich habe sie niemals gekannt!« antwortete der junge Mann mit leiser Stimme.
   »Ihr habt sie niemals gekannt, sagt Ihr?« rief der Kanadier, sprang plötzlich auf, ergriff einen noch flammenden Feuerbrand und beleuchtete damit das Antlitz Tiburcios.
   Dieser Feuerbrand, so leicht er auch war, schien doch zentnerschwer in der Hand des Riesen zu wiegen, so sehr schwankte seine Hand von krampfhaftem Zittern, als er nach und nach mit der Flamme alle Teile seines Gesichts beleuchtet und ihn mit einer Stimme, die die Aufregung ebenfalls zittern ließ, fragte: »Aber Ihr wißt wenigstens, in welchem Land Ihr geboren seid?«
   »Ich weiß es nicht«, antwortete Tiburcio. »Aber warum all diese Fragen? Welches Interesse könnt Ihr an Ereignissen nehmen, denen Ihr doch fremd sein müßt, da Ihr ein Fremder in diesem Land seid?«
   »Fabian! Fabian!« sagte Bois-Rosé, der, ohne es zu wollen, den Ausdruck seiner rauhen Stimme milderte, als ob er zu einem kleinen Kind spräche. »Was ist aus dir geworden?«
   »Fabian? Ich kenne diesen Namen nicht… Fabian!« wiederholte Tiburcio, dessen Erstaunen sich bei dieser Anrede verdoppelte, während der Kanadier forschende Blicke auf ihn warf und mit der Hand den Nebel entfernen zu wollen schien, der seine Augen verdunkelte.
   »O mein Gott!« sagte traurig Bois-Rosé für sich. »Da dieser Name ihn an nichts erinnert, so ist er es nicht. Warum habe ich diese törichte Hoffnung gefaßt? Und doch sind diese Züge so, wie das Alter sie hätte ändern müssen. Doch verzeiht, mein junger Freund – ich bin ein Narr, ein Wahnsinniger!« Und der Kanadier warf den Brand ins Feuer zurück, setzte sich wieder an den Fuß des Baumes, den er verlassen hatte, mit dem Rücken gegen das Licht, so daß er ganz und gar in dem dichten Schatten verborgen war, den der buschige Wipfel des Korkbaumes verbreitete, gegen den er sich lehnte.
   Ein bläuliches Licht erhellte schon die höchsten Wipfel des Waldes; der Tag mußte bald erscheinen; doch unter dem Laubdach war alles noch dunkel, obgleich der Hahn schon auf der benachbarten Hacienda krähte.
   Wie jene Samenkörner, die der Wind der Erde anvertraut und die trotz der Winterstürme gedeihen, so hatte auch – trotz der stürmischen Ereignisse, von denen Tiburcio fortgerissen war – die Erzählung seiner Adoptivmutter vor ihrem Tod über seine Ankunft in Amerika in seinem Gedächtnis gekeimt; er strengte sich an, in die Vergangenheit zurückzublicken, und schwieg, um in seinem Innern zu lesen, um die Kette seiner Erinnerungen, die durch einen Zeitraum von achtzehn Jahren zerrissen war, wieder zusammenzufügen. Ohne sich dessen deutlich bewußt zu sein, erinnerte ihn doch dieser Jäger, der vor ihm saß, unbestimmt an den Riesen, den die Frau Arellanos‘ erwähnt hatte. Doch wie sollte er auf den Gedanken kommen, daß der Matrose sich in einen Otternjäger verwandelt hatte? Deshalb sah er in den Fragen des Kanadiers nur eine wohlwollende, aber teilnahmslose Neugier; wirklich hatte auch der Waldläufer ihm noch nicht gesagt, daß er einen Sohn suche. Dieses einzige Wort hätte alles aufgeklärt – aber Bois-Rosé hatte es nicht ausgesprochen.
   »Vielleicht«, sagte Tiburcio, das Schweigen unterbrechend, »gibt es unter meinen Erinnerungen aus meiner früheren Zeit manche, die man wieder ins Leben rufen könnte; aber ach, Gott allein nur könnte es tun! Welcher Mensch wird diesen unbestimmten Erinnerungen eine bestimmte Gestalt geben? Denn ich weiß nichts mehr genau.«
   »Nichts!« wiederholte der Kanadier mit leiser Stimme, indem er traurig den Kopf auf die Brust herabsinken ließ.
   »Und doch«, fuhr Tiburcio fort; »in dem Schweigen einer Nacht wie dieser, während ich beim Leichnam derjenigen wachte, die ich für meine Mutter gehalten hatte, ist ein zweifelhaftes Licht in diese Dunkelheit gefallen, und ich glaube mich an sehr traurige Szenen erinnern zu können! Aber das sind ohne Zweifel Träume – wenn auch schreckliche Träume!«
   Während Tiburcio sprach, schöpfte der Kanadier wieder Hoffnung und hob langsam das Haupt wie eine Eiche, die ein Windstoß niedergebeugt hat.
   Tiburcio fuhr fort, indem er mit der Hand ein Zeichen machte, den noch schlecht wieder zusammengeknüpften Faden seiner Erinnerungen nicht zu zerreißen, und langsam sprach wie jemand, der mühsam eine durch die Jahrhunderte verwischte Inschrift wieder entziffert: »Es ist mir, als ob ich mich in einem weiten Zimmer befände, das ein Windzug – kälter, als ich ihn jemals gefühlt habe – noch kühler machte; es ist mir, als ob ich das Schluchzen einer Frau hörte, eine rauhe, drohende Stimme – und weiter nichts!«
   Diese Worte täuschten immer noch die Erwartung des Kanadiers, denn man erinnert sich, daß er nur die Entwicklung des Dramas von Elanchove gesehen hatte. »Das sind wahrscheinlich Träume«, sagte er traurig; »aber weiter, weiter! Erinnert Ihr Euch an weiter nichts mehr? Erinnert Ihr Euch nicht an das Brausen des Meeres? Das ist ein Schauspiel, das man nicht vergißt, so jung man es auch gesehen haben mag!«
   »Ich habe das Meer zum erstenmal vor vier Jahren in Guaymas gesehen«, erwiderte Tiburcio; »und doch, wenn ich gewissen Zeichen glaube, die man mir gegeben hat, so muß ich es zum erstenmal in meiner zartesten Kindheit gesehen haben.«
   »Nun«, fuhr der Kanadier fort, noch einmal in seiner Hoffnung getäuscht, den wiederzufinden, den er seit langen Jahren beweint hatte, »ruft Euch diese Erinnerung nichts weiter zurück?«
   »Nichts!«
   »Nichts?«
   »Nichts Bestimmtes wenigstens; aber wie Ihr sagtet, und wie ich glaube: Es sind Träume, die ich vielleicht für Wirklichkeit nehme.«
   »Ganz ohne Zweifel ist es so«, erwiderte Bois-Rosé etwas verstimmt. »Welches Kind erinnert sich noch genau?«
   »Und unter diesen Träumereien«, sagte Tiburcio, »sehe ich jetzt eine sonnverbrannte, rauhe Gestalt, aber gutmütig bei aller Rauheit.«
   »Welche Gestalt?« fragte Bois-Rosé, indem er abermals sein Antlitz dem Licht zukehrte, auf dem das Feuer die angespannten Muskeln beleuchtete, während seine Brust sich wie ein Berg hob und senkte.
   »Diese Gestalt«, fuhr Tiburcio fort, »ist die eines Mannes, der mich sehr liebte, denn«, fügte er lebhaft hinzu, »ich erinnere mich jetzt an diesen Mann!«
   »Aber Ihr«, erwiderte Bois-Rosé, während Angst sich auf seinen Zügen malte; »liebtet Ihr ihn auch sehr?«
   »Er war ja so gut zu mir!«
   Eine Träne floß langsam auf die bronzene Wange Bois-Rosés, der aus Scham über seine Schwäche sich wegwandte, um sie zu verbergen; er kehrte wieder in den Schatten zurück und murmelte: »Ach! Er hat mich auch zärtlich geliebt!«
   Dann, in dem Augenblick, wo er eine trostlose Überzeugung gewinnen oder das Kind, das er beweinte, wiederfinden mußte, bebte dieser rauhe Jäger unfreiwillig vor einer letzten Frage zurück, die die Hoffnung, von der seine Seele bewegt wurde, bestätigen oder sie für immer vernichten mußte. Endlich wagte er mit stockender Stimme diese entscheidende Frage, nicht ohne daß sein Herz sich in seiner Brust krampfhaft zusammenzog: »Erinnert Ihr Euch nicht vor allem eines Umstands, in dessen Folge dieser Mann von Euch getrennt wurde mitten in …« Der Mut, weiterzusprechen, verließ ihn, und das Haupt auf seine Knie gestützt, erwartete der Koloß zitternd die Antwort auf seine Frage.
   Sei es, daß Tiburcio sich dieses Umstands nicht erinnerte, oder war es im Gegenteil der Lichtstrahl, der in tiefe Nacht hineinfällt und Zweifel und Ungewißheit zerstreut – ein feierliches Schweigen folgte dieser Frage; ein Schweigen, während dessen der knisternde Laut brechender Zweige im Wald vor den keuchenden Atemzügen des Kanadiers nicht gehört wurde.
   »Hört!« rief Tiburcio. »Ihr, der Ihr der Leuchtturm zu sein scheint, der mich führt, hört, woran ich mich jetzt erinnere.
   Eines Tages war Blut überall, der Boden zitterte unter meinen Füßen; der Donner – oder vielleicht waren es Kanonen – grollte mit schrecklicher Gewalt; ich fürchtete mich in meinem dunklen Zimmer, wo ich eingeschlossen war. Jener Mann – der, der mich liebte – kam zu mir …«
   Tiburcio hielt einen Augenblick inne, als ob er die formlosen Gestalten, die sich vor ihm aufrichteten, wieder zu ordnen suchte; als ob er der unbestimmten Klänge, die nach so vielen Jahren noch an sein Ohr schlugen, sich erinnern wollte.
   »Wartet!« fuhr er fort. »Dieser Mann sagte zu mir: ›Knie nieder, mein Kind, und bete für deine Mutter …‹ Aber weiter weiß ich nichts …«
   Während dieser Zeit schien der Kanadier, der ganz im Schatten saß, das Haupt auf seine Knie gebeugt, von krampfhaften Zuckungen ergriffen zu werden; ein Schluchzen ließ sich vernehmen, und Tiburcio bebte beim Klang der gebrochenen Stimme Bois-Rosés, der rief: »Und bete für deine Mutter, die ich sterbend bei dir gefunden habe!«
   »Ja, ja!« rief Tiburcio, der sich mit einem Sprung erhob. »Geradeso heißt es! Aber Ihr – wer seid Ihr, daß Ihr wissen könnt, was sich in diesem schrecklichen Augenblick ereignet hat?«
   Der Kanadier erhob sich, ohne zu antworten, und niederkniend zeigte er noch einmal sein männliches, rauhes Gesicht, von Tränen überströmt, und rief trunken vor Gemütsaufregung: »O mein Gott! Ich wußte wohl, daß, wenn er noch eines Vaters bedurfte, du ihn zu mir gesandt haben würdest! Fabian! Fabian! Ich bin es … ich bin dieser Mann …«
   Ein Blitz erhellte das Gesträuch; ein Schuß folgte und schnitt ihm das Wort vom Mund ab; eine Kugel schlug pfeifend dicht bei Tiburcio in die Erde. Pepe erwachte und sprang rasch auf die Füße.


   23. Noch immer gilt der Satz: Wo die Macht ist, ist auch das Recht

   Es ist nötig, daß wir hier auf die Vergangenheit zurückkommen, um eine Lücke in den vertraulichen Mitteilungen, die der gewesene Soldat und Küstenwächter wegen seiner früheren Verbindungen mit Don Estévan dem Kanadier gemacht hatte, zu vervollständigen. Pepe hätte sagen können, daß der Unbekannte, den er in jener Nacht an der Küste Elanchoves hatte landen lassen, niemand anderer gewesen war als Don Antonio de Mediana, der jüngere Bruder von Fabians Vater.
   Er war von einem langen Kreuzzug auf den südlichen Meeren zurückgekehrt, hatte, wie er es dem Senator gesagt hatte, gegen die Unabhängigkeit Mexikos gekämpft und erfuhr nun von der Heirat Dona Luisas mit seinem älteren Bruder. Diese Heirat war doppelt verderblich für ihn. Erstens hatte er Dona Luisa mit der ganzen Leidenschaft der Jugend geliebt; dann hatte infolge einer fast väterlichen Zärtlichkeit sein ältester Bruder, der Graf von Mediana, seiner Mutter versprochen, sich niemals zu verheiraten und Don Antonio die Würden und das Vermögen der Familie zu hinterlassen. Aber das Gerücht seines Todes hatte durch seine lange Abwesenheit Glauben gefunden, und sein ältester Bruder hatte, von seinem Gelübde entbunden, ein altes Geschlecht mit seiner Person nicht aussterben lassen wollen. Er hatte geglaubt, dem Andenken seines Bruders eine feierliche Huldigung darzubringen, wenn er diejenige zu seiner Gemahlin machte, die jener selbst hatte heiraten sollen. Ein Sohn war aus dieser Heirat entsprossen.
   Don Antonio erfuhr auf einmal die Vernichtung seiner ehrgeizigen Pläne und den Verlust all seiner Hoffnungen. Im Herzen der Ehrgeizigen ist für die Liebe nur wenig Platz; er hatte darum auch nur das Majorat von Mediana, das er verlor, bedauert; der Wunsch, das Kind verschwinden zu lassen, das ihn sein ganzes Leben hindurch dazu verdammte, nichts als der jüngere Sohn der Familie zu sein, verzehrte jedes andere Rachegefühl.
   Da ihm das Kommando einer im südlichen Meer gemachten Prise übertragen war, so hatte er von dem eroberten Schiff nur mit einer geringen Mannschaft Besitz genommen, die ihm vom Befehlshaber der Korvette, auf der er diente, übergeben war. Er hatte keinen Anstand genommen, diese Mannschaft an verschiedenen Landungsorten durch etwa dreißig spanische Abenteurer – verbrecherische Menschen, die er überall angeworben hatte – zu vermehren, und an der Spitze dieser wenig gewissenhaften Menschen war er nach Spanien zurückgekehrt.
   Es würde zu weit führen, hier zu erzählen, wie er sich Verbindungen in Elanchove verschafft hatte. Wir nehmen die Erzählung der früheren Ereignisse in dem Augenblick auf, wo er, ganz sicher über das Schweigen Pepes des Schläfers, sich von der Küste entfernte und die Sorge für seinen Nachen den Grenzjägern überließ.
   Seitdem sie Witwe war, führte die Gräfin ein noch zurückgezogeneres Leben als früher. Immer mit ihrem Kind eingeschlossen, rief sie ihre dienenden Frauen so selten wie möglich; etwa zur Zeit der Mahlzeiten, die sie auf ihrem Zimmer einnahm.
   Zu derselben Stunde, als sich die Szene zwischen Pepe dem Schläfer und dem Unbekannten zutrug – das heißt gegen elf Uhr abends —, war die Gräfin von Mediana wie gewöhnlich in ihrem Schlafzimmer. Dies war ein großes Gemach, in dem die Möbel wie überall im Schloß seit fast einem Jahrhundert nicht erneuert waren und das jenen ernsten Anblick gewährte, der den damaligen Sitten und dem ernsten Charakter der Spanier eigentümlich ist. Eine Lampe, die auf einem Tisch in einer Mauernische brannte, beleuchtete hell nur einen Teil des Zimmers. Das übrige lag im Schatten, und in diesem Halbdunkel konnte man kaum die großen Familienporträts unterscheiden, die von den glühenden Kohlen eines »Brasero« einen tiefen rötlichen Glanz erhielten.
   Zwei bis auf den Boden herabreichende Fenster führten auf einen großen Balkon hinaus, der sich nur etwa zwanzig Fuß über der Erde befand. Durch die Fensterscheiben sah man einen dunklen Himmel und die weiße Linie, die Meer und Himmel bei ihrer Vereinigung bildeten.
   Die Augen der Gräfin flogen über diese traurige Aussicht mit einem Ausdruck des Nachdenkens und des Gebets, dann richteten sie sich wieder auf die Wiege, in der ihr schlafendes Kind ruhte.
   Die Gräfin von Mediana schien kaum dreiundzwanzig Jahre alt zu sein. Von Natur bleich, wie es die Andalusierinnen gewöhnlich sind – sie war in Granada geboren —, erschien sie noch bleicher in dem strengen Trauerkleid der Witwe, das sie trug. Eine leichte senkrechte Falte, die sich zwischen ihren Augenbrauen zu bilden begann, zeugte von einem bedachtsamen Charakter, während ihr anmutsvoll gekräuselter Mund das süßeste Lächeln versprach. Ihre schwarzen, samtfarbigen Augen bestätigten, was der Mund verhieß; nichtsdestoweniger war es leicht, auf ihrer stark gewölbten Stirn und in den Linien ihrer leicht gekrümmten Adlernase die Unbeugsamkeit des Willens und die Gewalt der Leidenschaft zu lesen.
   Das war ein unterscheidender Zug, den Tiburcio – oder vielmehr Fabian – von seiner Mutter hatte.
   Die wie Ebenholz schwarzen Haare Doña Luisas rahmten in zwei glänzenden Flechten ein Gesicht ein, das verführerisch während der Ruhe war, das bezaubernd in der Aufregung und von einer schrecklichen Schönheit im Zorn sein mußte. Ihre Hände endlich waren von blendender Weiße und der Form nach vollkommen; ihre Füße klein und zart, ihre Taille elegant; alles an der Gräfin rechtfertigte die Leidenschaft, die zwei Brüder für sie hatten ergreifen können, denn wir müssen es gestehen, daß der Wunsch, seine Familie nicht aussterben zu lassen, nicht der einzige Grund zur Heirat Don Juans de Mediana mit Doña Luisa gewesen war.
   Nach einigen Minuten tiefen Nachsinnens nahm die Gräfin eine Lampe, die sie auf einen Leuchterstuhl setzte, daß ihr Schein die Züge ihres in der Wiege schlafenden Sohnes beleuchtete. Dieser schlief jenen tiefen Schlaf der Kindheit, der zu sehr dem Tod gleichen würde, wenn man nicht sozusagen Leben und Blut unter dem leichten Gewebe, das sie umgibt, ihren Kreislauf vollenden sähe. Sie betrachtete lange Zeit dieses kindliche Gesicht, das halb unter einer Flut von Haaren von jenem hellen Kastanienbraun verborgen war, das später ein schönes schwarzes Haar zu werden verspricht; aber ihre Blicke schienen auf seinen rosigen Wangen und seinen roten Lippen mit ebensoviel Neugier wie Zärtlichkeit zu ruhen. Man hätte sagen können, daß sie in den Zügen ihres Kindes die Zukunft zu lesen versuchte.
   Die Gräfin machte es nun wie alle Mütter im gleichen Fall: Sie drückte einen leidenschaftlichen Kuß auf seine Wangen, gleichsam, um ihren Sohn mit einem schützenden Zauber zu umgeben oder ihn zu versichern, daß wenigstens die Mutterliebe ihm nie im Leben fehlen solle.
   Über der Wiege hing eines der großen Gemälde, die sich an den Wänden des Zimmers befanden. Die Strahlen der Lampe beleuchteten es jetzt vollständig. Die Personen, die es darstellte, waren ein Knabe von fünfzehn oder sechzehn Jahren mit stolzem Blick und ausgezeichneter Haltung, der den Ellbogen auf die Lehne eines großen Sessels gestützt hatte, in dem ein kleines Kind schlief; sein stolzes, auf seinen Bruder gerichtetes Auge – denn die Familienähnlichkeit war auffallend – war nicht ohne Ausdruck einer lebhaften Zärtlichkeit. Diese Gruppe schien das Sinnbild, die lebendige Erklärung des Wappens zu sein, das man an einer oberen Ecke des Gemäldes bemerkte, mit der Unterschrift: »Ich werde wachen.«
   Durch ein sonderbares Zusammentreffen hatte das schlafende Kind in der Wiege eine auffallende Ähnlichkeit mit demjenigen, das seit dreißig Jahren in seinem gotischen Lehnsessel schlief.
   Als die Gräfin – nachdem sie ihren Sohn auf den sie sich niederbeugte, geküßt hatte – ihre Augen erhob, schien sie diese Ähnlichkeit zum erstenmal zu bemerken, denn sie bebte zurück, und eine düstere Wolke überflog ihr Antlitz. »Armes Kind«, sagte sie halblaut, »möge Gott dich vor einem ähnlichen Schicksal wie dem seinigen bewahren!« Sie nahm die Lampe weg, deren Schein die brüderliche Gruppe beleuchtete, und das Gemälde trat wieder in den Schatten zurück wie eine verschwindende Erscheinung.
   In der Stille der Nacht gibt es Augenblicke, wo alles eine doppelte Stärke und Wichtigkeit erhält. Das leichteste Geräusch draußen wird vernehmbar; das Krachen eines Möbels wird erschreckend. Ebenso ist es mit den Stimmen im Innern: Diejenigen, die am Tag schweigen, lassen sich des Nachts hören; diejenigen, die am Tag nur leise murmeln, schallen des Nachts wie eine Trompete – man ist gezwungen, sie zu hören. Hatte die Einsamkeit, die Stille oder etwa der Anblick jenes Gemäldes bei der Gräfin eine dieser schlafenden Stimmen geweckt? War es das Gewissen? War es eine Ahnung? Immerhin ist es gewiß, daß sie in diesem Augenblick noch viel bleicher war als sonst.
   Indessen nahm ihr Gesicht, als ob das Nachdenken leere Schreckbilder aus ihrer Phantasie verjagt hätte, bald wieder den stolzen Ausdruck an, den es gewöhnlich zeigte. Sie setzte sich wieder auf ihren Platz an einem Fenster des Zimmers, dessen Ruhe nur gestört wurde durch die Stöße des Seewinds, der unaufhörlich auf dem Gipfel der hohen Felsenabhänge Elanchoves braust.
   Plötzlich mischten sich schrillere Töne in die Seufzer der Brise, und der Klang einer Trompete schlug an das Ohr Doña Luisas. Dies ist ein zwischen Schiffen gewechseltes Signal, die nachts an gefährlichen Küsten hinsegeln; aber die Gräfin wußte es nicht. Für sie lag etwas so Ungewöhnliches, so Außerordentliches in dem Ton, der von der Seeseite her erklang, daß er ihr wie ein Echo aus einer unsichtbaren Welt vorkam.
   Die Gräfin erhob sich halb aus ihrem Sessel mit einer solchen Ängstlichkeit, als ob sie irgendeine schreckliche Erscheinung erwartete. Ihre erste Bewegung war, nach einer Glocke zu laufen, die sich auf einem Tisch in ihrer Nähe befand; aber bald bekam ihr Stolz die Oberhand; sie errötete darüber, vor einem ihrer Diener eine Schwäche blicken zu lassen, und kniete bei der Wiege ihres Sohnes nieder. Das Kind schlief immer noch seinen tiefen, ruhigen Schlaf und träumte ohne Zweifel von den Liebkosungen seiner Mutter.
   »O mein Gott«, rief sie abermals, »wie schwer zu tragen kommt mir der Name Mediana vor, nach dem ich so ehrgeizig gestrebt habe! Weil denn doch von dem einen oder dem anderen der beiden Brüder dieses Kind abstammen mußte, um diesen Namen fortzupflanzen. So laß wenigstens, o Gott, deinen Zorn nur mich allein treffen!«
   Ihre Stimme verlor sich nun in ein stummes Gebet; dann ließ sie sich noch einmal mit jener Langsamkeit vernehmen, die von einer träumerischen Zerstreutheit und dem Vergessen der äußeren Gegenstände Zeugnis ablegt, während die Seele sich im Reich der Ahnungen und Erinnerungen verloren hat.
   Die Gräfin hatte sich so in ihre Träumereien vertieft, daß sie ein dumpfes Geräusch außerhalb nicht hörte, das dann und wann die klagenden Töne des Nachtwinds unterbrach, der an den Fensterscheiben rauschte. Dann schien dieses anfänglich gedämpfte Geräusch sich bis auf den Balkon zu erheben; das Fenster wurde heftig aufgerissen, ein Windstoß fuhr durch das Zimmer, machte das Licht der Lampe in einer langen Flamme emporflackern, und in dieser unsicheren Beleuchtung ging ein Mann auf die Gräfin zu, die vor Schreck wie versteinert war. —
   Ehe ich weitergehe, glaube ich hier daran erinnern zu müssen, daß ich nur erzähle und nicht erfinde. Man hat Gott sei Dank solche Entwicklungen wie diese hier ziemlich abgenutzt, so daß ich mir ein Gewissen daraus gemacht hätte, noch einmal öfter einen jener nächtlichen Helden einzuführen, die vorgeben, sich lieber auf einer Strickleiter als auf einer gewöhnlichen Treppe da einzuführen, wo man sie am wenigsten erwartet hat.
   Gewiß, wenn ich diese Erzählung aus dem Mund irgendeines anderen Mannes als dem des Waldläufers, der sie mir geliefert hat, vernommen hätte, so hätte ich ihn im Verdacht gehabt, die Traditionen der Phantasiestücke seiner Jugend mit seinen wirklichen Erinnerungen zu vermischen; aber der brave Kanadier war in der Steppe geboren und hatte nur in ihr gelebt. Er war nur selten Zuschauer und viel öfter Darsteller in jenen Dramen gewesen, die in den Wäldern oder in den Steppen aufgeführt werden und deren Entwicklung schnell ist wie der Pfeil oder der Tomahawk des Indianers oder die auch – wie deutsche Dramen – ganze Tage währen und von denen die Überlebenden allein die Einzelheiten erzählen können. —
   Wenn der Blitz vor den Füßen der Gräfin eingeschlagen hätte, so hätte ihre Betäubung nicht größer sein können als diejenige, die in ihrer Seele auf die erste Bewegung des Schreckens folgte. Als ob ihre Erinnerungen die Kraft eines Zaubers gehabt hätten, ein Gespenst herbeizurufen, so sah sie vor sich Don Antonio de Mediana selbst in aufrechter, drohender Haltung. Beim Anblick eines Mannes, der nächtlich ihren Balkon erstieg, hatte die Gräfin – wie gesagt – einen lebhaften Schrecken empfunden; dann wurde ihr Erstaunen noch lebhafter, als sie mit einem zweiten Blick den Mann dieses sonderbaren Besuchs erkannt hatte; ihre Furcht jedoch verschwand.
   Mit Recht oder Unrecht schreiben die Frauen der Liebe, die sie einflößen, einen außerordentlichen Einfluß zu. Wenn wirklich – nach einer poetischen Darstellung – eine unschuldige Jungfrau einen Löwen zahm machen kann, so sieht eine erfahrene Frau es immer für eine leichte Aufgabe an, den Mann zu besänftigen, der sie geliebt hat.
   Es ist wahr: bei den meisten Männern ist dieser Einfluß ansteckend; aber dieser hier gehörte unglücklicherweise für Dona Luisa zu denen, die auf die Liebe einer Frau, wenn sie nicht mehr von gewissen Verhältnissen getragen wird, nur geringes Gewicht legen. Ich meine, daß Don Antonio de Mediana ausnahmsweise eine solche Gesinnung hatte. Obgleich das bleiche Antlitz Don Antonios zwei entgegengesetzte Gefühle – einen dumpfen Zorn und eine offenbare Verachtung – ausdrückte, so wurde doch die Gräfin nicht dadurch enttäuscht. Sie erblickte in ihm immer noch den Mann, der sie geliebt hatte und noch liebte.
   »Keine Bewegung«, sagte Don Antonio; »kein Laut, um Hilfe zu rufen, wenn Ihr dies Kind liebt!« Er zeigte mit dem Finger auf Fabians Wiege.
   Diese Gebärde trug so sehr den Ausdruck von Macht und Autorität, daß die bestürzte Gräfin mit verstörtem Blick und vorgebeugtem Körper stumm und unbeweglich blieb und zitternd ihren sonderbaren Besuch betrachtete. Sie hatte begriffen, daß die Vergangenheit in den Augen dieses Mannes nichts mehr war. Dona Luisa fühlte, daß sie selbst verloren, aber auch, daß ihr Kind in Gefahr sei. Sie rief also all ihre mütterliche Zärtlichkeit, die Energie ihres Willens und ihres Stolzes zu Hilfe, um dem Finger zu folgen, der auf die Wiege ihres Sohnes zeigte, als ob das Leben dieses Kindes nicht hundertmal kostbarer gewesen wäre als ihr eigenes.
   Gewiß bedurfte es einer unerhörten, mutvollen Anstrengung, um so weit zu kommen; denn das Gesicht Don Antonios hatte plötzlich den Ausdruck gewechselt. Seine Lippen, die ein nervöses Zucken, das sein Wille nicht zu unterdrücken vermochte, in ein krampfhaftes Zittern versetzte, ließen zuweilen seine fest zusammengebissenen Zähne bloß; seine funkelnden, auf die Gräfin gehefteten Augen ließen einen tödlichen Schauer über ihre Glieder laufen. Sie hatte klar darin gelesen, daß sie kein Mitleid, keine Schonung zu erwarten hätte. Dennoch schüttelte sie endlich ihren Schrecken von sich ab und rief wieder mit fester Stimme: »Wer seid Ihr, der Ihr heimlich hier hereinkommt wie ein Dieb in der Nacht? Soll ein Sohn so in die Wohnung seiner Väter zurückkehren? Ist Don Antonio de Mediana nichts weiter als ein Verbrecher, der das Licht scheut?«
   »Geduld!« antwortete Don Antonio spöttisch. »Die Zeit wird kommen – und sie ist nicht fern —, wo ich in dieses Schloß einziehen werde, wie es sich geziemt: am hellen Tag, durch die geöffneten Gitter, mitten unter dem Zuruf, mit dem meine Rückkehr gefeiert werden wird. Aber heute abend paßt es für meine Pläne, nur – wir Ihr sagtet – ein Dieb in der Nacht zu sein.«
   »Was wollt Ihr denn?« rief die Gräfin ängstlich.
   »Wie? Begreift Ihr denn nicht«, erwiderte Don Antonio mit derselben Ruhe, die trotz des Zuckens seiner Muskeln von einem schrecklichen Entschluß zeugte, »daß ich herkomme, um mich zum Grafen von Mediana zu machen?«
   Hiermit gewann die Frage in den Augen der Gräfin plötzlich eine schreckliche Bedeutung. Hier war von keinem betrogenen Liebhaber mehr die Rede, den sie beschwichtigen mußte, wie sie es einen Augenblick geglaubt hatte – sie mußte ihren Sohn retten!


   24. Die Weissagung

   Bei diesen Worten, die die Gräfin über die Absichten Don Antonios nicht mehr zweifeln ließen, war ihre erste Bewegung, sich auf die Wiege ihres Sohnes zu stürzen, um mit ihrem Leib einen Wall für ihn zu bilden. Aber Don Antonio kam ihr zuvor, nahm seine Stellung zwischen ihr und der Wiege und richtete einen kalten und teilnahmslosen Blick auf sie, den er seit dem Anfang dieser Zusammenkunft angenommen hatte. Sein Gemüt mußte tief erbittert, sein Herz sehr abgestumpft sein, daß sein entsetzlicher Entschluß der Gräfin gegenüber nicht wankend wurde. Ihre Nasenflügel hatten sich erweitert, der Busen wogte, ihre langen Haarflechten hingen auf die Schultern herab; die Angst malte sich in ihren Zügen, und sie richtete ihre Augen bald mit bittendem, bald mit erschrecktem Ausdruck auf ihn; sie war bezaubernd in der ganzen wilden Schönheit, die ihr stolzes Antlitz versprach, während die mütterliche Sorge ihren Blicken einen unsagbaren Zauber verlieh. »Gnade für ihn!« sagte sie endlich, als sie wieder Worte fand. »Ihr könnt mich töten; aber er, er, was hat er Euch getan, Don Antonio?«
   »Was er mir getan hat?« erwiderte Don Antonio. »Ist er es nicht, der jetzt Graf von Mediana ist? Ist er nicht der gesetzliche Besitzer eines Titels und eines Vermögens, die ich nach dem Eid, den sein Vater unserer sterbenden Mutter geschworen hatte, erhalten sollte? Ist er nicht der Sohn derjenigen, die mir versprochen hatte, nur mich zu lieben, und die doch nicht eher Ruhe gehabt hat, als bis sie, mit Verletzung ihrer Eidschwüre, durch ihre verführerische Schönheit es so weit gebracht hat, daß auch mein Bruder seinen Eid brach?«
   Die Gräfin verbarg ihr Gesicht in ihre Hände. »Hat man Euch nicht seit langer Zeit tot geglaubt?« sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich habe den allgemeinen Irrtum geteilt!«
   »Denkt Ihr, mich durch solche Lügen zu täuschen? Weiß ich nicht, daß bei dem ersten Gerücht von meinem Tod, der durch nichts bestätigt wurde, die zarte Sorgfalt erwachte, die Ihr dem Grafen von Mediana und dem reichen Majorat, das ihm gehört, geweiht hattet; daß der Zweck aller Eurer Intrigen nur der gewesen ist, den Ältesten in den Netzen zu fangen, die Ihr für den zweiten nur aufgestellt hattet, weil Ihr das formelle Versprechen seines Bruders kanntet?«
   Die Gräfin antwortete nichts. Geschah dies vielleicht darum, weil die Anklagen des unerbittlichen Richters, in dessen Hände sie so plötzlich gefallen war, nicht so laut sprachen als ihr Gewissen? Oder verschmähte sie es, auf diese Anklage einer maßlosen Habgier zu antworten?
   Don Antonio fuhr fort: »Lassen wir diese Anschuldigungen aus der Vergangenheit; ich bin nicht hierher gekommen, um Euch die zärtlichen Vorwürfe eines verratenen Liebhabers hören zu lassen – ich habe einen ernsten Zweck.«
   Er tat einen Schritt nach der Wiege.
   »Aber Ihr seht doch ein«, rief die Gräfin, »daß mein Sohn Euch nichts getan hat?«
   In diesem Schrei lag so viel mütterliche Angst, so viel Heftigkeit, so viel Jammer, daß sich in der Seele Don Antonios ein Umschwung vorzubereiten schien, ohne daß jedoch seine Züge etwas von jener kalten Strenge verloren, in der er sein Gesicht verbarg; er antwortete mit einer etwas weniger drohenden Stimme: »Wer hat Euch gesagt, daß ich der Mörder eines Kindes sein wollte?«
   »Ach, Dank Euch für Eure Barmherzigkeit, Don Antonio!« rief die Gräfin mit gefalteten Händen.
   Don Antonio fuhr fort: »Hört zuerst die Bestimmung, die ich über ihn getroffen habe, und dann werdet Ihr sehen, ob Ursache dazu da ist, meine Barmherzigkeit zu segnen. Der Knabe hat nur die Schuld auf sich, daß ein Verrat, dessen Frucht er ist, ihn zwischen mich und ein Vermögen gestellt hat, das ich meiner Erziehung nach als das meinige betrachten mußte. Er weiß noch nicht, welchen Rang ihm Gott verliehen hat, und in der unbekannten Welt, in die ich ihn versetzen werde …«
   »Oh, ich segne Euch immer noch, Don Antonio!« rief sie.
   »… wird er es niemals erfahren; denn Ihr werdet nicht mehr da sein, um ihn daran zu erinnern!« fuhr der unerbittliche Richter fort.
   »Was ?« rief die Gräfin mit einer Stimme, die von Überraschung, Erstaunen und Schreck beim ersten Laut erstickt wurde. »Was? Ihr wollt mich trennen von ihm? O nein, Ihr werdet es nicht tun!« fuhr sie, aufs Knie fallend, mit ausgestreckten Armen und bittendem Blick fort.
   Don Antonio verharrte in düsterem Schweigen. Die Gräfin glaubte in seinem Herzen eine weniger unempfindliche Saite angeschlagen zu haben, und alles, was nur die Beredsamkeit einer Mutter an Überredungskraft aufbieten kann; alles, was ihr Flehen nur Rührendes hatte: die innigsten Bitten, die diesen unabänderlichen Entschluß mildern konnten, die Anrufung menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit – alles wurde von ihr in Tätigkeit gesetzt, um es dahin zu bringen, daß man sie nicht von ihrem Sohn trenne. Aber Tränen, Bitten, Versprechungen, Eide – alles war umsonst.
   Ein kaltes Lächeln antwortete ihren Bitten. »Wie? Glaubt denn etwa die Gräfin von Mediana, daß ich nur darum tausend Gefahren getrotzt habe, um bis zu ihr zu gelangen; daß ich nur darum ein den Augen der menschlichen Gerechtigkeit unsichtbares Netz, in dem
   ihr Ruf ungehört verhallen soll, gewebt habe, um in dem Augenblick auf meine Rache zu verzichten, wo ich diese endlich in meiner Gewalt habe? Nein, nein; mein Plan soll so ausgeführt werden, wie ich ihn entworfen habe, sofern nicht etwa«, fügte Don Antonio hinzu, indem er einen Dolch aus der Scheide zog und mit der Spitze auf die Wiege des kleinen Fabian zeigte, »ein Schrei oder ein unnützer Widerstand mich zwingen, diesen Plan zu ändern … Und in diesem Fall möge mir mein Bruder verzeihen, wenn ich sein Blut vergieße: Ihr habt es dann gewollt!«
   »O mein Gott!« rief die Gräfin. »Wirst du mir keinen Retter senden? Wirst du ein solches Verbrechen zulassen?«
   Laßt diese Rechnung mich mit Gott abschließen, Madame; was die Menschen anlangt, so werde ich, wie gesagt, keine Spur hinter mir zurücklassen. Glaubt mir also: Rechnet ja nur wenig auf die Gerechtigkeit Gottes, wenn sie schläft; auf die der Menschen, wenn sie blind ist.«
   Die Gräfin wollte noch einen letzten Versuch machen, dem Mann, der allen Bitten unzugänglich gewesen war, Schrecken einzuflößen, und mit bleicher Stirn, mit Augen, die von prophetischer Begeisterung glühten, trat sie auf ihn zu: »Hütet Euch!« sagte sie. »Die menschliche Gerechtigkeit, die Ihr verlacht, ist nicht da; aber jene Gerechtigkeit dort oben, die Ihr verspottet, wird am äußersten Ende der Welt, in den entlegensten Einöden, wo der Fußtritt des Menschen vielleicht noch niemals eine Spur zurückgelassen hat, Euch einen Ankläger, einen Richter und einen Henker erwecken.«
   »Die Zeit der Wunder ist vorüber«, sagte Don Antonio kalt; »und ich bin gewiß, sie wird niemals zurückkehren!« Dann fügte er mit ungeduldigem Ton hinzu: »Doch machen wir der Sache ein Ende; dies Kind hat zum letztenmal unter dem Dach seiner Väter geschlafen.«
   »O Gott, laß es nicht so sein!« rief Dona Luisa, indem sie an Gott das heißeste Gebet richtete, das je einem Mutterherzen entquollen ist. Dann sank sie aufs Knie vor demjenigen, den sie geliebt hatte, und rief: »Antonio, ich habe Euch so großherzig, so edel, so ehrenhaft gekannt; wollt Ihr Euch wirklich mit einem Verbrechen besudeln? O nein – es ist nur, um mich zu erschrecken, nicht wahr?«
   »Euch erschrecken?« antwortete Antonio mit sardonischem Lächeln. »Nein, wahrhaftig! Denn wenn ich alles, was Ihr sagt, wirklich gewesen bin, so ist das bei Gott ein ziemlich hübscher Vorrat von Tugenden, den ich ein wenig vermindern kann, ohne ihn zu erschöpfen. Aber die Zeit drängt«, fügte er hinzu, »und meine Leute werden ungeduldig.«
   Auf diesen kalten, grausamen Spott fand Doña Luisa keine Antwort mehr. Der Mann, der mit dem Verbrechen seinen Scherz trieb, mußte ein Herz haben, bei dem jeder Versuch, es zu rühren, fernerhin unnütz war. Seit diesem Augenblick – und nur erst von diesem Augenblick an – begriff die Gräfin von Mediana, daß alles vorbei sei. Eine unaussprechliche Betäubung bemächtigte sich ihres Geistes; ihr Körper verlor alle Spannkraft; sie dachte, sie handelte nicht mehr, sie hatte keine Idee mehr, und mit gänzlicher Ergebung erwartete sie schweigend ihr Urteil.
   In diesem weiten, ungleich erleuchteten Zimmer, wo die Windstöße mit düsterem Rauschen die langen Vorhänge erzittern ließen, sah diese Frau mit dem in Ergebung gebeugten Haupt dem Mann gegenüber, der bald kalt, bald spöttisch, bald zornig war, ganz wie ein armes Geschöpf aus, dessen Vertrag mit dem Bösen abgelaufen und das nun ganz seiner Willkür preisgegeben war. Wie dieses hatte auch die Gräfin – aber vergeblich – um Gnade oder nur um eine Frist von einem einzigen Augenblick gebeten; aber der Augenblick war da, ihre Seele gehörte ihr nicht mehr.
   Sie ging darum auch, als sie den Befehl von Don Antonio empfing, das Kind aufzuwecken und anzukleiden, auf die Wiege zu, als ob sie gar nicht mehr gewußt hätte, daß sie noch am Leben sei. Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, einen Schrei um Hilfe auszustoßen; aber mehr der Instinkt als die Überlegung hielt sie zurück; der Tiger, in dessen Klauen sie sich befand, hielt auch das Kind fest, und sein breites Messer blitzte vor ihren Augen mit blutigem Glanz. Sie sah es in ihrer Einbildung mit dem Blut dessen befleckt, den sie mehr als ihr Leben liebte, und mit diesem schrecklichen Gedanken, der sich ihrer bemächtigte, näherte sie sich ihrem Sohn mit umschleiertem Blick, mit gebeugtem Haupt und mit einem Herzen, das nicht mehr schlug.
   Sie begann also mit mütterlicher Sorgfalt mit ihren zitternden Händen über das Antlitz ihres Sohnes zu streichen, um die Locken zu entfernen, von denen es eingehüllt war. Das Kind fühlte die sanfte Berührung der Hände seiner Mutter, öffnete die Augen, und als es im Halbdunkel die Mutter bemerkte, die es jeden Abend an seinem Bettchen erblickte, lächelte es mit seinem süßesten Lächeln und schlief wieder ein. Die Gräfin warf auf ihren Henker einen verzweifelnden Blick; der Mut verließ sie, und ihre Arme fielen schlaff an ihrem Körper nieder.
   Don Antonio machte eine drohende Gebärde; die Gräfin schauderte, neigte sich abermals über ihr Kind und drückte auf seine Lippen einen Kuß mit derselben fieberhaften Glut, die ihre Lippen versengte. Bei dieser Berührung wachte es auf, blickte mit erstaunter Miene um sich her, und seine schlaftrunkenen Augenlider schlossen sich nochmals, als ein heftiger Stoß Don Antonios es wieder aufweckte und seiner Betäubung ein Ende machte. Das Kind schauderte inmitten der eisigen Luft, die durch das offene Fenster in das Zimmer drang, und beim Anblick eines Unbekannten, beim Anblick seiner bleichen und zitternden Mutter, deren Gesicht in Tränen schwamm, fing es an, vor Schrecken zu zittern, und barg sich weinend an ihrem Busen.
   Don Antonio – nachdem er mit gebieterischer Miene Eile befohlen hatte – zog sich ans Fenster zurück, aber ohne seine Augen von Doña Luisa abzuwenden. Die unglückliche Mutter unterbrach sich unendlich oft in einem gewöhnlich so süßen, jetzt aber so herzzerreißenden Geschäft, drückte zärtlich jedes Kleidungsstück ihres geliebten Sohnes und bedeckte mit glühenden Küssen jeden Teil seines Körpers, den ihr Mund erreichen konnte. Sie tat es, um einige kostbare Augenblicke zu gewinnen; um den schrecklichen Moment zu verzögern, wo ihr Sohn angekleidet vor ihr stand und aufhören mußte, ihr zu gehören. Bis dahin war sie ja noch immer seine Mutter; sie konnte ihn immer noch umarmen. Nur einen Augenblick mehr gewonnen, dachte sie, und vielleicht schickt Gott in seiner Barmherzigkeit einen Retter! Und wenn auch Gott die wahrscheinliche Vollendung dieses abscheulichen Verbrechens zugeben sollte – war der Gewinn einer Minute nicht soviel wie hundert Küsse, die sie ihm noch geben konnte?
   In der Freude wie im Schmerz gibt es Grenzen, die die menschliche Schwäche nicht überschreiten kann – jenseits dieser Grenzen würden die Bande des Lebens zerreißen. Gott hat es so eingerichtet, damit nicht das durch ihn hergestellte Gleichgewicht aufgehoben werde. Dies geschah auch im letzten Augenblick der Trennung der Mutter von ihrem so heißgeliebten Kind: Alles war beendet, der Retter war nicht erschienen; aber beim letzten Kuß, bei der letzten Umarmung bedeckten die Augen Doña Luisas sich mit einem Schleier; die Empfindungslosigkeit ihres Körpers ließ den Seelenschmerz aufhören; sie stieß einen schwachen Schrei aus und fiel in eine tiefe Ohnmacht.
   Don Antonio hatte diese Entwicklung wahrscheinlich vorhergesehen, und sie durchkreuzte seine ferneren Pläne nicht; kurz, er beleuchtete kaltblütig mit der Lampe das bleiche, leblose Antlitz der Gräfin, um sich zu überzeugen, ob sie noch atme, und ohne sich um das stille Weinen des Knaben zu kümmern, der vor Schreck nicht schreien konnte, schob er den Riegel vor die Eingangstür. Dann öffnete er einen Schrank von schwarz poliertem Eichenholz, der der Gräfin als Schreibtisch diente, raffte die Schmucksachen und das Gold, das er darin fand, zusammen und legte es in die einzelnen Fächer – steckte auch in der Eile einige Papiere in seine Tasche —, dann packte er alle Frauenwäsche zusammen und legte sie in andere Möbelstücke.
   Während dieser Zeit schluchzte der Knabe immer noch, während er seine Mutter umfaßt hielt, deren kalte Empfindungslosigkeit für ihn eine Quelle geheimnisvollen Schreckens war.
   Das Zimmer bot bald den Anblick der Unordnung dar, die einer großen Reise vorauszugehen pflegt. Die geleerten Schubfächer lagen hier und dort verstreut auf dem Fußboden, die Flügel des Schranks standen halb offen – mit einem Wort: alles bezeugte die Vorbereitungen zu einer schleunigen Abreise.
   Nachdem Don Antonio seine Durchsuchung beendet hatte, setzte er sich, seine Stirn trocknend, auf den Lehnsessel, den die Gräfin einige Zeit vorher eingenommen hatte, und blickte aufmerksam um sich her. Als dieser Blick auf den Körper der Gräfin fiel, die immer noch leblos dalag, und auf ihr Kind, das ihre Hand gefaßt hatte, schien sich seiner ein schrecklicher Gedanke zu bemächtigen. Er stand schon halb auf – dann setzte er sich wieder, als ob ein Kampf in seinem Herzen zwischen zwei entgegengesetzten Ideen sich entsponnen hätte. »Nein!« rief er endlich. »Ein Opfer ist genug! Aber er … er … er ist sein Blut, und ich will es nicht vergießen.« Und um den Gang seiner Gedanken zu ändern und einer unwiderstehlichen Versuchung zu entrinnen, ging er rasch ans Fenster, ließ ein leises Pfeifen ertönen, und einige Sekunden später erschien ein Kopf über dem Balkon, und einer von den Männern, die Pepe schon gesehen hatte, stieg herüber und trat in das Zimmer.
   Der Matrose sah kaltblütig auf die Szene, die sich seinen Augen darbot, und wartete auf die Befehle, die er empfangen würde.
   »Wirf diese Bündel durchs Fenster! Juan soll sie in Empfang nehmen.«
   »Welche?« fragte der Matrose mit rohem Lachen, indem er auf den Körper der Gräfin zeigte.
   »Diese da«, sagte Antonio.
   »Mit Eurer Erlaubnis, Kapitän«, sagte John, indem er einen kleinen silbernen Brasero, der am Fuß der Lampe stand, einsteckte.
   »Gut, mein Junge; aber vor allen Dingen beeile dich!«
   Niemals wurde ein Befehl pünktlicher ausgeführt, denn in einem Augenblick verschwanden tausend kleine Gegenstände der Damentoilette in den Taschen seiner Jacke, während die von Antonio gemachten Bündel zu seinem Gefährten hinabwanderten, der folgende Worte zu ihm hinaufrief: »John, wir teilen beide!«
   »Schnell nun«, sagte Don Antonio. »Hier ist das Schwerste noch wegzutragen; fühlst du dich stark genug dazu?«
   »Wie denn? Das ist ja zum Lachen, Kapitän!« Und er hob die Gräfin auf, als ob es der Körper eines Kindes gewesen wäre, nahm sie unter den Arm und ging zum Balkon. »He, Juan«, rief er, »zieh die Strickleiter straff; ich bringe dir Beute!« Und er verschwand langsam unter dem Balkon.
   Don Antonio folgte ihm, nahm den Knaben mit sich, der vor Schreck stumm war, und verließ seinerseits das Zimmer.
   Einige Minuten später warf die Lampe noch einmal einen lebhaften Schein auf die verstreuten Kleidungsstücke, auf die leere Wiege, auf die geöffneten Schränke – und erlosch. Dann trug inmitten des fernen Grollens des Ozeans gegen seine riesenhaften Eindämmungen ein pfeifender Windstoß einen Ton herbei, der wie ein Schluchzen, wie der letzte Schrei von Verzweiflung und Angst klang. Pepe der Schläfer, der es hörte, glaubte, es sei nur das klagende, traurige Rauschen des Windes in den Felsabhängen.
   Beenden wir diese traurige Erzählung. Die unglückliche, immer noch leblose Mutter wurde durch ihren Räuber in einen Nachen gelegt, der ihn hergeführt hatte. Bei seinem unversöhnlichen Ehrgeiz hatte Don Antonio Doña Luisas Urteil gesprochen; ein Vorwurf seines Gewissens hielt ihn allein ab, auch den jungen Fabian zu ermorden, den er jedoch der Willkür des Meeres in dem Nachen überließ, in dem einer seiner Matrosen die Gräfin erdolchte. Don Antonio hoffte wahrscheinlich, daß Hunger, Kälte und Sturm die Sorge auf sich nehmen würden, den Sohn seines Bruders verschwinden zu lassen.
   Was Mediana und seine beiden Mitschuldigen betrifft, so hatten sie sich schwimmend ins Meer geworfen und an Bord durch die Erfindung eines erlittenen Unfalls das Verlassen des Nachens erklärt, in dem sich nur noch eine tote Frau und ein armes Kind, das die Kälte einer Winternacht wahrscheinlich töten mußte, befanden.
   Don Antonio kam in die Wohnung seiner Väter zurück; man kennt sein Leben bis zu dem Abend, an dem Cuchillo in seiner Gegenwart beinahe den jungen Mann erdolcht hätte, den Gott auf seinen Weg geführt hatte. Wir haben auch gesehen, was dem neuen Mordversuch vorangegangen war, dessen Opfer Tiburcio in dem dicht bei der Hacienda liegenden Wald fast geworden wäre.


   25. Die Brücke über den Waldstrom

   Während Cuchillo mitten im Dickicht, in dem er zusammengekauert lag, auf den günstigen Augenblick lauerte, um seine Büchse auf den Feind, dessen Blut ihm der Señor aus Spanien bezahlte, abzudrücken, verfolgte dieser letztere unempfindlich und tätig – wie der Ehrgeizige ist, der den Wert der Zeit kennt, ohne sich mit dem Drama im voraus zu beschäftigen, das fast unter seinen Augen zu Ende gespielt werden sollte und dessen Entwicklung er als gewiß ansah – unabänderlich die Ausführung seiner Pläne.
   Das Wenige, was Cuchillo ihm über Diaz gesagt hatte – sein zurückhaltendes Betragen bei der Zusammenkunft mit den beiden anderen abenteuernden Gefährten des Banditen —, war für Don Estévan, der den Menschen schnell zu beurteilen verstand, genug gewesen, um sich über ihn eine ziemlich günstige Meinung zu bilden. Einige Worte, die Diaz entfielen; Worte, die von einem ehrlichen Herzen – wenn auch mit einem etwas leichtfertigen Gewissen – Zeugnis ablegten, hatten diese gute Meinung im Innern des Spaniers bestätigt.
   Arechiza oder – wenn man lieber will – der Herzog von Armada verheimlichte es sich nicht, daß die Abenteurer, die ihn im Verlauf seiner Expedition umgeben sollten, einem großen Teil nach von derselben Moralität wie Cuchillo und seine beiden Freunde sein würden. Für ihn war also ein beinahe rechtlicher Mann ein kostbarer Fund; was seinen entschlossenen Mut betraf, so ließ das weitverbreitete Gerücht davon ihn nicht bezweifeln. Don Estévan beschloß demnach, Diaz für seine Absichten zu gewinnen und ihn zu diesem Zweck an sich zu fesseln. Man darf nicht vergessen, daß der Spanier bei seinen politischen Plänen die Eroberung des Val d‘Or nur als ein Mittel betrachtete, das höchste Ziel, das er vor Augen hatte, zu erreichen.
   Während sie langsam der Straße folgten, die Cuchillo ihm vorgezeichnet hatte, hatte Don Estévan einen Versuch gemacht, die Gesinnungen seines Neuangeworbenen zu sondieren, dessen Entschlossenheit und Gewandtheit der Hacendero ihm schon gerühmt hatte. Aber diese zwei Eigenschaften genügten Don Estévan noch nicht, um aus Diaz einen Unterbefehlshaber und einen Vertrauten zugleich zu machen. Er lenkte die Unterhaltung auf eine ganz natürliche Weise auf die Gründe des Mißvergnügens über das Mutterland, wovon er die ersten Spuren während seines Aufenthalts im Staat Sonora bemerkt hatte. Bei den ersten Worten, die Pedro Diaz antwortete, sah Don Estévan, daß er der Mann sei, den er zu finden wünschte; aber der Augenblick war noch nicht da, sich ihm ganz zu eröffnen. Er hielt nur in seinem Geist den Gedanken fest, daß Diaz unter seinen Händen zugleich ein mächtiges Werkzeug und ein kostbarer Gehilfe sein würde, und begnügte sich damit, ihn halb und halb sehen zu lassen, daß die Expedition nach Tubac, wenn sie mit Erfolg gekrönt sei, leicht eine Trennung der Provinz Sonora vom souveränen Kongreß Mexikos herbeiführen könne.
   Cuchillos Büchsenschuß unterbrach Don Estévan. Wenn die Habgier des Banditen ihm gestattet hätte seine beiden Gefährten Oroche und Baraja, die ihre Kaltblütigkeit wiedergewonnen hatten, an der Belohnung, die er von Don Estévan erwartete, teilnehmen zu lassen, so würde Tiburcio gewiß von einer der drei zugleich auf ihn abgefeuerten Büchsen getroffen worden sein. Aber Cuchillo hatte allein die zwanzig ihm von Don Estévan versprochenen Unzen Gold gewinnen wollen, und die plötzliche Bewegung, die Tiburcio bei der Entdeckung Bois-Rosés gemacht hatte, war der Grund, daß er der einzelnen Kugel des Mörders entging.
   Als Cuchillo seinen Schuß abgegeben hatte, nahm er sich nicht die Zeit, zu untersuchen, ob er getroffen hätte, sondern beeilte sich, wie er es zuvor gesagt hatte, sich zu seinen beiden Gefährten zurückzuziehen. Doch war sein Auge etwas von Furcht getrübt; denn hatte er auch den getroffen, nach dem er gezielt hatte so zweifelte er doch nicht, daß zwei Jäger dessen Tod rächen würden, deren Geschicklichkeit und Unerschrockenheit er erst am Tag vorher schätzen gelernt hatte. Cuchillo erkannte also auch beim ersten Anlauf den Ort nicht, wo er sein Pferd angebunden hatte. Obgleich seine Ungewißheit nur kurze Zeit dauerte, so wäre sie ihm doch verderblich geworden, wenn nicht Bois-Rosé und seine beiden Freunde durch diesen plötzlichen Angriff ebenfalls ein wenig außer Fassung gekommen wären. Der unvorhergesehene Schuß, der sich in dem Augenblick entlud, wo Tiburcio und der Kanadier noch unter dem Eindruck der lebhaftesten Aufregung waren, betäubte sie gleichsam.
   »Caramba!« rief Pepe. »Ich wäre neugierig, zu wissen, wem diese Kugel zugesandt werden sollte – mir oder Euch, junger Mann; denn ich habe Eure Unterhaltung mit angehört, und ich, der ich dieser Geschichte von Elanchove nicht fremd bin …«
   »Von Elanchove?« sagte der Kanadier. » —Wie? Du solltest wissen …?«
   »Aber dies ist nicht der Augenblick, gefühlvoll zu sein«, antwortete Pepe rasch. »Wir wollen später darüber sprechen, denn es ist ein Geheimnis, das du ohne mich nicht entwirren könntest. Du bist es, der, wie es scheint, den jungen Grafen wiedergefunden hat; das ist für jetzt genug. Nun vorwärts, Bois-Rosé! Geh rechts, wo die Entladung herkam; dieser junge Mann und ich, wir wollen uns auf der anderen Seite in den Hinterhalt legen, denn der Schelm, der den Schuß getan hat, ist vielleicht jetzt gerade im Begriff, unser Nachtlager zu umgehen, und dann wird er in unseren Hinterhalt fallen.«
   Nach diesen Worten warf sich Pepe, die Büchse in der Hand und von Tiburcio, der sein Messer gezogen hatte, gefolgt, nach der einen Seite, während der Kanadier seine hohe Gestalt mit außerordentlicher Geschwindigkeit krümmte und in der Richtung, die Pepe ihm angedeutet hatte, unter den dichtesten Zweigen mit ebensoviel Schnelligkeit als Geräuschlosigkeit hinschlüpfte. Das Nachtlager war also für den Augenblick der Bewachung des Pferdes überlassen, das der frühere Grenzjäger eingefangen hatte und das, erschreckt durch den Knall der Feuerwaffe, seine Anstrengungen verdoppelte, um – selbst mit Gefahr, sich zu erdrosseln – den Lasso, mit dem es angebunden war, zu zerreißen.
   Indessen fielen die ersten Strahlen des Tages in die lichtvollen Öffnungen zwischen den einzelnen Bäumen; der Glanz des Feuers verschwand nach und nach vor dem der Sonne, der die Gegenstände allmählich deutlicher erkennen ließ. Die Natur erwachte in der ganzen Pracht der Wälder in den Tropengegenden. Der Huaco, der auf den weißblumigen Lianen saß, ließ die beiden Silben hören, die ihm den Namen gegeben haben und bei deren Klang die Schlangen sich zitternd verbergen; der Choyero schwebte an den Wipfeln der Bäume hin und her und belauerte die im Dickicht schlafenden Reptilien. Der Morgenwind trug von der Ebene her das ferne Wiehern der Pferde, das dumpfe Gebrüll der Stiere, die die aufgehende Sonne begrüßten, deren Strahlen bald in den Wald hineindrangen. Die Winden mit weißen und roten glockenförmigen Blüten, die Blätter von der verschiedenartigsten grünen Färbung funkelten unter dem Tau, mit dem die Nacht sie bedeckt hatte; die rauhen Baumstämme vergoldeten sich mit strahlendem Licht und zeigten hier und da in einem verborgenen Winkel ihrer Zweige leere Häute, die von Schlangen abgestreift worden waren. Die gleiche Sonne enthüllte auf einmal die Schrecken und die Pracht der wilden Natur.
   »Hier wollen wir haltmachen«, sagte Pepe zu Tiburcio – den wir von nun an Fabian nennen werden —, als sie nach einem raschen Lauf ein ziemlich dichtes Gebüsch erreicht hatten, in dem sie sich verbergen konnten, ohne doch selbst den schmalen Fußpfad, der nach der Brücke über den Salto de Agua führte, aus den Augen zu verlieren; »ich bin sicher, daß der Schelm, der so schlecht zielt, sogleich hier durchkommen wird, und ich hoffe, ihm bemerklich zu machen, daß, seitdem ich den Dienst des Königs von Spanien verlassen und bei dem Kanadier in der Schule gewesen bin, ich einige Fortschritte in der Handhabung der Büchse gemacht habe.«
   Fabian und Pepe machten hinter einem kleinen Sumachgebüsch halt. Der junge Graf, dessen Geist noch von den Aufschlüssen, die er vernommen hatte, in Aufregung war, wurde nicht böse über die augenblickliche Ruhe; er hoffte nämlich, der gewesene Grenzjäger werde sie benützen, um seine verwirrt gegebenen Aufschlüsse zu vervollständigen, da er ja doch behauptete, einem Ereignis nicht fremd geblieben zu sein, von dem Fabian bis jetzt nur einen dunklen Begriff hatte.
   Aber der spanische Jäger schwieg. Der Anblick desjenigen, der durch sein Zutun verwaist und seiner Güter und seines Namens beraubt worden war, weckte Gewissensbisse auf, die zwanzig Jahre nicht hatten töten können. Pepe betrachtete beim Licht des anbrechenden Tages schweigend das Kind, das er einst an den sandigen Küsten Elanchoves hatte spielen sehen. Der Stolz, der rücksichtslose Blick seiner Mutter lebte in den Augen des Sohnes; seine Haltung, sein ausdrucksvolles, männliches Gesicht erinnerten an seinen Vater Don Juan de Mediana; aber eine rauhe, an Anstrengungen reiche Jugendzeit hatte einen Mann aus Fabian gemacht, der körperlich viel kräftiger war als derjenige, von dem er das Leben empfangen hatte.
   Pepe entschloß sich endlich, das Schweigen, das bittere Erinnerungen ihn bewahren ließen, zu brechen. »Blickt immer so wie ich scharf auf den Fußpfad, der sich unter diesen Bäumen verliert«, sagte er, »und wendet den Kopf nicht ab. Bois-Rosé und ich, wir sprechen immer so miteinander in gefährlichen Augenblicken; hört aufmerksam auf meine Worte!«
   »Ich höre«, antwortete Fabian, indem er den Anordnungen Pepes Folge leistete.
   »Habt Ihr aus Eurer Kindheit nicht noch genauere Erinnerungen als diejenigen, die Ihr dem Kanadier mitgeteilt habt?« begann der alte Grenzjäger.
   »Ich habe vergeblich mein Gedächtnis befragt, seit ich wußte, daß Marcos Arellanos nicht mein Vater war; und obgleich dies schon lange her ist, so erinnerte ich mich doch nicht einmal dessen, der meine erste Kindheit gepflegt hat.«
   »Und der weiß nicht mehr als Ihr«, fuhr Pepe fort. »Ich kann Euch sagen, was Ihr nicht wißt.«
   »So sprecht doch, um Gottes willen!« rief Fabian. »Still! Nicht so laut! Diese Wälder, so einsam sie auch sind, umschließen doch ohne Zweifel die Feinde Eures Geschlechts; es sei denn, daß man es auf mich allein abgesehen hat. Da ich übrigens Euch nicht sogleich erkannt habe, so ist es möglich, daß er Euch ebensowenig erkannt hat.«
   »Wer? Von wem sprecht Ihr?« fragte Fabian lebhaft. »Vom Mörder Eurer Mutter; von dem, der Euch Eure Titel, Eure Würden, Eure Reichtümer und Euren Namen gestohlen hat.«
   »Ich bin also edel geboren und reich?« fragte Fabian, dessen erster Gedanke sich auf Doña Rosarita richtete, gleichsam, um ihr mit einem Adel und einem Reichtum, die er nur deshalb schätzte, weil er sie ihr anbieten konnte, seine Huldigung darzubringen. »Ach, warum habe ich es nicht früher gewußt – nur gestern schon!« Fabian dachte erst nachher an seine Mutter.
   »Edel geboren? Ihr seid es noch!« erwiderte Pepe, indem er den Lauf seiner Büchse mit seiner Hand umschloß und sie rasch an die Schulter brachte, denn er glaubte die Goldtresse eines Hutes unter den Bäumen am Weg funkeln zu sehen. Es war aber nur ein Sonnenstrahl, und der Jäger legte seine Waffe wieder aufs Knie. »Man hat Euch das Blut nicht nehmen können, das in Euren Adern fließt; aber reich seid Ihr nicht mehr!«
   »Was liegt mir daran!« antwortete Fabian traurig. »Heute wäre es zu spät.«
   »Oh, es liegt viel daran. Ich kenne zwei Männer, die das, was Ihr verloren habt, Euch wieder verschaffen oder bei dem Versuch ihr Leben verlieren werden.«
   »Und meine Mutter?« fuhr Fabian fort.
   »Ach, die Erinnerung an Eure Mutter und an Euch, Don Fabian, hat sehr oft einen Mann im Schlaf beunruhigt, von dem ich zu Euch rede. Sehr oft hat er mitten in der Stille der Nächte, mitten in den Wäldern den Angstschrei wiederzuerkennen geglaubt, den er eines Abends hörte und den er für das Murmeln der Brise an den Felsen abhängen hielt … Es war der Todesschrei Eurer unglücklichen Mutter!«
   »Welchen Mann meint Ihr denn?« fragte Fabian.
   »Einen Mann, der – freilich, ohne es zu wissen – dem Mörder Eurer Mutter behilflich gewesen ist. Ach, Don Fabian«, fuhr der Jäger lebhaft fort, gleichsam, um eine Gebärde des Abscheus von seiten des jungen Grafen von Mediana zu beantworten, »flucht ihm nicht; sein Gewissen hat mehr gesagt, als Ihr ihm würdet sagen können; und heute ist er bereit, jeden Blutstropfen für Euch zu vergießen.«
   Die stürmischen Leidenschaften, die sich erst vor einigen Stunden im Herzen Fabians beruhigt hatten, erwachten wiederum wie jene hoch aufflammenden Gluten, die zuweilen eine scheinbar schon erloschene Brandstätte emporsteigen läßt. Er hatte schon den Tod Arellanos‘ zu rächen, seinen Mörder zu verfolgen, ihn vor allen Dingen kennenzulernen, und jetzt erfuhr er plötzlich, daß auch das Blut seiner Mutter – derjenigen, die ihn unter ihrem Herzen getragen hatte – noch um Rache schrie. Das süße Antlitz Rosaritas verschwand inmitten der blutigen Bilder, die sein heißes Blut vor ihm erstehen ließ, wie vor den roten Streiflichtern eines Brandes in der Nacht die rosigen Farben der Morgenröte, die das Auge mit Vergnügen am fernen Horizont im Frühnebel sich abzeichnen sah, erbleichen und sich verwischen.
   »Und der Mörder meiner Mutter – kennt Ihr ihn?« fragte Fabian mit funkelndem Auge.
   »Ihr kennt ihn auch; Ihr habt mit ihm am selben Tisch beim Hacendero gegessen, dessen Haus Ihr eben verlassen habt.« —
   Doch wir wollen Pepe Fabian die traurige Geschichte erzählen lassen, die der Leser schon kennt, und wenden uns wieder zu dem kanadischen Jäger.
   Bois-Rosé war ganz mit der Gefahr beschäftigt, die das Kind laufen konnte, das ein zweites Wunder ihm wiedergegeben hatte, und er lief darum rasch vorwärts; aber vergeblich senkte sich sein Auge in die verriegelten Öffnungen dieses unentwirrbaren Labyrinths von dicht nebeneinanderstehenden Stämmen, verwirrten Lianen und buschigen Zweigen – kein Feind ließ sich erblicken. Vergebens lauschte er angestrengt, um jedes Geräusch zu vernehmen, das sich in den Wäldern nur hören läßt; außer dem, von dem wir schon gesprochen haben, ließ sich nichts weiter hören als das Knacken der Zweige, die er auf seinem Marsch niedergetreten hatte und die sich hinter ihm wieder aufrichteten. Er ging noch einige Minuten lang weiter, dann warf er sich auf die Erde, drückte sein Ohr auf den Boden und schloß die Augen, um besser alle Kraft seiner Sinne zusammennehmen zu können. Nach einigen Sekunden hörte er ein dumpfes Geräusch, wie wenn ein Pferd nach der entgegengesetzten Richtung hingaloppierte.
   »Pepe hat sich nicht getäuscht«, murmelte er aufstehend und eilte, ohne sich noch zu besinnen, auf demselben Weg zurück. »Der Taugenichts hat den Vorteil, ein Pferd zu haben, vor mir voraus und reitet um unser Lager herum; aber ich habe vor ihm den Vorteil, eine gute amerikanische Büchse zu besitzen, und Pepe hat eine ähnliche zur Verfügung.«
   Die Bäume flogen bei der Schnelligkeit seines Laufes rechts und links an ihm vorüber; da er einer vollkommen geraden Linie folgte und sein Feind nach der richtigen Voraussetzung seines Kameraden einen Halbkreis beschrieb, so bemerkte er einen Augenblick – freilich in einer ungeheuren Entfernung – die gelbliche Farbe einer ledernen Weste, die sich in einer Öffnung des Gebüsches gerade in der Höhe eines Mannes zu Pferd zeigte. Dieses fast unsichtbare Ziel war genug, und plötzlich stillstehend schoß er seine Büchse ab. Die lederne Weste verschwand; aber da für Männer seiner Art zielen treffen ist, so zweifelte der Kanadier keinen Augenblick, daß sein Feind tot oder wenigstens verwundet auf der Erde liege.
   Der weißliche Rauch des Schusses wirbelte noch in gleicher Höhe mit den niedrigsten Blättern der Bäume, als Bois-Rosé sich schon weit von dem Ort entfernt hatte, wo er stehengeblieben war, um zu zielen. Er dachte wohl einen Augenblick daran, seine Büchse wieder zu laden, aber bei dem heißen Rachedurst, der ihn vorwärts trieb, fürchtete er, hierdurch nur Zeit zu verlieren, und im Fall, daß der Mörder gegen alle Wahrscheinlichkeit nicht allein sei, verließ er sich auf seine Leibesstärke, um das Verhältnis auszugleichen.
   Diesmal vernachlässigte er jegliche Vorsicht, da seine Büchse seine Gegenwart bezeugt hatte. Wie ein Jäger vielleicht jetzt gerade im Begriff, unser Nachtlager zu umgehen, und dann wird er in unseren Hinterhalt fallen.«
   Nach diesen Worten warf sich Pepe, die Büchse in der Hand und von Tiburcio, der sein Messer gezogen hatte, gefolgt, nach der einen Seite, während der Kanadier seine hohe Gestalt mit außerordentlicher Geschwindigkeit krümmte und in der Richtung, die Pepe ihm angedeutet hatte, unter den dichtesten Zweigen mit ebensoviel Schnelligkeit als Geräuschlosigkeit hinschlüpfte. Das Nachtlager war also für den Augenblick der Bewachung des Pferdes überlassen, das der frühere Grenzjäger eingefangen hatte und das, erschreckt durch den Knall der Feuerwaffe, seine Anstrengungen verdoppelte, um – selbst mit Gefahr, sich zu erdrosseln – den Lasso, mit dem es angebunden war, zu zerreißen.
   Indessen fielen die ersten Strahlen des Tages in die lichtvollen Öffnungen zwischen den einzelnen Bäumen; der Glanz des Feuers verschwand nach und nach vor dem der Sonne, der die Gegenstände allmählich deutlicher erkennen ließ. Die Natur erwachte in der ganzen Pracht der Wälder in den Tropengegenden. Der Huaco, der auf den weißblumigen Lianen saß, ließ die beiden Silben hören, die ihm den Namen gegeben haben und bei deren Klang die Schlangen sich zitternd verbergen; der Choyero schwebte an den Wipfeln der Bäume hin und her und belauerte die im Dickicht schlafenden Reptilien. Der Morgenwind trug von der Ebene her das ferne Wiehern der Pferde, das dumpfe Gebrüll der Stiere, die die aufgehende Sonne begrüßten, deren Strahlen bald in den Wald hineindrangen. Die Winden mit weißen und roten glockenförmigen Blüten, die Blätter von der verschiedenartigsten grünen Färbung funkelten unter dem Tau, mit dem die Nacht sie bedeckt hatte; die rauhen Baumstämme vergoldeten sich mit strahlendem Licht und zeigten hier und da in einem verborgenen Winkel ihrer Zweige leere Häute, die von Schlangen abgestreift worden waren. Die gleiche Sonne enthüllte auf einmal die Schrecken und die Pracht der wilden Natur.
   »Hier wollen wir haltmachen«, sagte Pepe zu Tiburcio – den wir von nun an Fabian nennen werden —, als sie nach einem raschen Lauf ein ziemlich dichtes Gebüsch erreicht hatten, in dem sie sich verbergen konnten, ohne doch selbst den schmalen Fußpfad, der nach der Brücke über den Salto de Agua führte, aus den Augen zu verlieren; »ich bin sicher, daß der Schelm, der so schlecht zielt, sogleich hier durchkommen wird, und ich hoffe, ihm bemerklich zu machen, daß, seitdem ich den Dienst des Königs von Spanien verlassen und bei dem Kanadier in der Schule gewesen bin, ich einige Fortschritte in der Handhabung der Büchse gemacht habe.«
   Fabian und Pepe machten hinter einem kleinen Sumachgebüsch halt. Der junge Graf, dessen Geist noch von den Aufschlüssen, die er vernommen hatte, in Aufregung war, wurde nicht böse über die augenblickliche Ruhe; er hoffte nämlich, der gewesene Grenzjäger werde sie benützen, um seine verwirrt gegebenen Aufschlüsse zu vervollständigen, da er ja doch behauptete, einem Ereignis nicht fremd geblieben zu sein, von dem Fabian bis jetzt nur einen dunklen Begriff hatte.
   Aber der spanische Jäger schwieg. Der Anblick desjenigen, der durch sein Zutun verwaist und seiner Güter und seines Namens beraubt worden war, weckte Gewissensbisse auf, die zwanzig Jahre nicht hatten töten können. Pepe betrachtete beim Licht des anbrechenden Tages schweigend das Kind, das er einst an den sandigen Küsten Elanchoves hatte spielen sehen. Der Stolz, der rücksichtslose Blick seiner Mutter lebte in den Augen des Sohnes; seine Haltung, sein ausdrucksvolles, männliches Gesicht erinnerten an seinen Vater Don Juan de Mediana; aber eine rauhe, an Anstrengungen reiche Jugendzeit hatte einen Mann aus Fabian gemacht, der körperlich viel kräftiger war als derjenige, von dem er das Leben empfangen hatte.
   Pepe entschloß sich endlich, das Schweigen, das bittere Erinnerungen ihn bewahren ließen, zu brechen. »Blickt immer so wie ich scharf auf den Fußpfad, der sich unter diesen Bäumen verliert«, sagte er, »und wendet den Kopf nicht ab. Bois-Rosé und ich, wir sprechen immer so miteinander in gefährlichen Augenblicken; hört aufmerksam auf meine Worte!«
   »Ich höre«, antwortete Fabian, indem er den Anordnungen Pepes Folge leistete.
   »Habt Ihr aus Eurer Kindheit nicht noch genauere Erinnerungen als diejenigen, die Ihr dem Kanadier mitgeteilt habt?« begann der alte Grenzjäger.
   »Ich habe vergeblich mein Gedächtnis befragt, seit ich wußte, daß Marcos Arellanos nicht mein Vater war; und obgleich dies schon lange her ist, so erinnerte ich mich doch nicht einmal dessen, der meine erste Kindheit gepflegt hat.«
   »Und der weiß nicht mehr als Ihr«, fuhr Pepe fort. »Ich kann Euch sagen, was Ihr nicht wißt.«
   »So sprecht doch, um Gottes willen!« rief Fabian.
   »Still! Nicht so laut! Diese Wälder, so einsam sie auch sind, umschließen doch ohne Zweifel die Feinde Eures Geschlechts; es sei denn, daß man es auf mich allein abgesehen hat. Da ich übrigens Euch nicht sogleich erkannt habe, so ist es möglich, daß er Euch ebensowenig erkannt hat.«
   »Wer? Von wem sprecht Ihr?« fragte Fabian lebhaft.
   »Vom Mörder Eurer Mutter; von dem, der Euch Eure Titel, Eure Würden, Eure Reichtümer und Euren Namen gestohlen hat.«
   »Ich bin also edel geboren und reich?« fragte Fabian, dessen erster Gedanke sich auf Doña Rosarita richtete, gleichsam, um ihr mit einem Adel und einem Reichtum, die er nur deshalb schätzte, weil er sie ihr anbieten geschossen, ohne ihn zu treffen. Es waren aber noch vier andere Reiter bei ihm, und in dem einen habe ich den erkannt, der sich hier Don Estévan nennen läßt und der niemand anderer ist als …«
   »Ich habe lediglich den Mann mit der Lederweste gesehen«, unterbrach ihn Bois-Rosé, »und habe die Büchse bei mir, die er bei seinem Sturz hat fallen lassen. Aber bist du nicht verwundet?« wandte er sich lebhaft an Fabian.
   »Nein, nein, mein Freund – mein Vater!« erwiderte Fabian und warf sich in die ausgebreiteten Arme des Kanadiers, der ihn mit nassen Augen an sein Herz drückte und ausrief, als ob er ihn zum erstenmal sähe: »Ach, wie groß er ist! Wie schön ist jetzt der kleine Fabian!«
   Dann aber fielen ihm seine Blässe und seine feierliche Haltung auf, und er befragte sorgenvoll das Kind, das er eben wiedergefunden hatte.
   »Pepe hat mir alles gesagt!« antwortete Fabian. »Ich weiß, daß sich unter jenen Männern der Mörder meiner Mutter befindet!«
   »Ja«, sagte Pepe, »der Mann mit der Thunfischerei! Aber – bei der Heiligen Jungfrau von Atocha! – wollen wir ihn etwa entschlüpfen lassen?«
   »Das wolle Gott nicht!« rief Fabian.
   Schnell berieten sich die drei Freunde und faßten den Entschluß, so schnell wie möglich die hölzerne Brücke zu erreichen, die wir schon erwähnt haben, da dies der einzige Weg war, der nach Tubac führte.


   26. Das Blut der Mediana

   Nachdem Oroche und Baraja mehrmals ihre Büchsen erfolglos abgeschossen hatten, da die Entfernung zu groß war, als daß die Kugeln hätten gefährlich werden können, so beeilten sie sich, mit Cuchillo wieder zusammenzutreffen.
   Der Bandit war bleich wie der Tod. Die Kugel, die ihm der Kanadier aufs Geratewohl hin nachschickte, hatte Cuchillos Schädel so nahe gestreift, daß sie ihn aus dem Sattel warf. Nun hätte ihn Bois-Rosé ohne Zweifel wie ein giftiges Gewürm mit dem Fuß zertreten, wenn sein Pferd nicht so wunderbar dressiert gewesen wäre. Als das edle Tier nämlich sah, daß sein Herr sich nicht bis zu ihm erheben konnte, bückte es sich vor Cuchillo nieder, der nun die Mähne ergriff und sich in den Sattel schwang. Als das Pferd fühlte, daß er fest in die Bügel gestiegen war, galoppierte es schnell genug vorwärts, um seinen Reiter dem Messer Bois-Rosés, der in großen Sätzen herbeikam, zu entreißen.
   Das war aber nicht die einzige Gefahr, in der der Bandit schwebte. Als er mit seinen beiden Mitschuldigen Oroche und Baraja zusammengetroffen war und alle drei sich mit Don Estévan und Diaz, die sie am bezeichneten Ort erwarteten, wieder vereinigt hatten, brauchte der Spanier Cuchillo nicht zu fragen, um zu erfahren, daß Fabian noch einmal seinem Haß entgangen war. An der niedergeschlagenen Miene der beiden Taugenichtse, an der Blässe des Banditen, der noch betäubt im Sattel wankte, hatte Don Estévan alles erraten.
   In seiner Erwartung betrogen, fühlte der Spanier in seinem Herzen zuerst eine dumpfe Wut kochen, die aber bald zum Ausbruch kam. Er spornte sein Pferd gegen Cuchillo und schrie mit donnernder Stimme: »Feiger, ungeschickter Hund!« Und in seiner blinden Wut bedachte er gar nicht, daß Cuchillo allein die geheimnisvolle Lage des Val d‘Or kannte, und zog eine Pistole aus den Halftern.
   Glücklicherweise für den Banditen warf sich Pedro Diaz rasch zwischen ihn und Don Estévan, dessen Wut sich nach und nach besänftigte.
   »Was sind es für Männer, die bei ihm sind? Wer sind sie?« fragte der Spanier.
   »Die beiden Jaguartöter«, antwortete Baraja.
   Eine kurze Beratung fand in einiger Entfernung und mit leiser Stimme zwischen Don Estévan und Pedro Diaz statt; sie endete mit folgenden Worten, die alle vernehmen konnten: »Wir wollen die Brücke über den Salto de Agua zerstören«, sagte der letztere; »und es müßte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn sie uns vor Tubac einholten!«
   Die Reiter galoppierten vorwärts.
   Fabian hatte tags vorher Don Estévan zu Cuchillo sagen hören, daß er nur einige Stunden vor seiner Abreise nach dem Presidio in der Hacienda verweilen würde. Die letzten Ereignisse, die am vorigen Abend bei Don Agustin stattgefunden hatten, mußten diese Abreise noch beschleunigt haben. Es war also keine Zeit zu verlieren. Pepes Pferd wurde jetzt ein kostbares Hilfsmittel, um darauf den Flüchtigen zu folgen und ihnen nötigenfalls den Weg abzuschneiden; es blieb nur noch übrig zu bestimmen, wer es besteigen sollte, um ein so gefährliches Unternehmen zu wagen, wie das war, sich allein der Flucht von fünf bewaffneten Reitern zu widersetzen.
   »Das bin ich!« sagte Fabian. Mit diesen Worten sprang er auf das Pferd los, das erschrocken zurückfuhr; er ergriff den Halfter, mit dem es festgebunden war, und warf ihm sein Taschentuch über die Augen. An allen Gliedern zitternd, blieb das Pferd unbeweglich stehen. Fabian holte Pepes Sattel, schnallte ihn wie ein Mann fest, der an solche Arbeit gewohnt ist, schlang dann den Lasso so fest um die Nase, daß er zugleich Zügel und Kappzaum bildete, und wollte eben, ohne das Taschentuch, das wie eine Kappe über den Augen lag, wegzunehmen, in den Sattel springen, als Pepe auf ein Zeichen Bois-Rosés sich rasch ins Mittel legte.
   »Sachte, sachte! Wenn irgend jemand das Recht hat, dieses Pferd zu besteigen, so bin ich es; mir gehört es nach dem Recht der Eroberung!«
   »Aber seht Ihr denn nicht«, erwiderte Fabian ungeduldig, »daß diesem Pferd das Zeichen des Eigentümers noch nicht aufgebrannt ist? Das heißt, es ist noch niemals geritten worden; und wenn Ihr etwas auf Eure gesunden Gliedmaßen haltet, so werdet Ihr es nicht versuchen!«
   »Das muß meiner Entscheidung überlassen bleiben«, antwortete Pepe, der nun vorwärts trat, um den Fuß in den Steigbügel zu setzen.
   Aber das Pferd hatte kaum, obgleich die Augen verhüllt waren, gespürt, daß eine Hand sich fest auf den Sattelknopf stützte und ein Fuß fest in den Bügel trat, als ein wütender Seitensprung und einige plötzliche Sätze vorwärts den gewesenen Grenzjäger ganz betäubt zehn Schritt weit wegschleuderten.
   Pepe hatte seinen zornigen Lieblingsschwur noch nicht ganz ausgesprochen, als Fabian, ehe nur Bois-Rosé seinerseits sich seinem Vorhaben widersetzen konnte, in den Sattel sprang, ohne die Steigbügel zu berühren.
   »Halt, Fabian, halt!« schrie Bois-Rosé mit angstvoller Stimme. »Willst du dich allein der Gefahr aussetzen, in ihre Hände zu fallen?«
   Doch schon hatte Fabian das Taschentuch von den Augen des Pferdes gerissen, das, plötzlich wieder sehend geworden, mit den Nüstern vor Zorn schnaubte und hintereinander drei ungeheure Sätze machte, um die Last abzuschütteln, die zum erstenmal auf ihm ruhte; dann blieb es unbeweglich zitternd stehen, als ob es sich über seine Bändigung schämte.
   Bois-Rosé benützte diesen Augenblick der Ungewißheit, um den Riemen zu ergreifen, der als Zügel diente; aber es war zu spät: Trotz seiner Kraft zwang ihn ein zweiter Sprung des Pferdes, diesen fahren zu lassen, und das erschreckte Tier flog mit blindem Ungestüm, den menschliche Kraft nicht mehr bändigen – höchstens noch lenken – konnte, dahin. Einige Augenblicke konnte der Kanadier mit bangem Blick dem unerschrockenen Reiter noch folgen, der mit seinem wütenden Tier kämpfte und sich auf den Sattel niederbeugte, um den Schlag der Zweige zu vermeiden; aber bald sah ihn Bois-Rosé nicht mehr. »Sie werden ihn töten!« rief er schmerzlich bewegt. »Fünf gegen einen! Das ist kein ehrlicher Kampf! Laß uns so nahe wie möglich folgen, Pepe, um noch einmal dieses Kind zu beschützen, das mir erst seit so kurzer Zeit wiedergegeben ist!«
   Bois-Rosé hatte schon seine Büchse über die Schulter geworfen, und ohne die Antwort seines Freundes abzuwarten, war er schon mit einigen gigantischen Schritten außerhalb der Tragweite seiner Stimme in der Richtung, die Fabian eingeschlagen hatte.
   »Dieses Pferd ist nicht leicht zu regieren!« schrie Pepe ihm nach. »Ich weiß gewiß, daß es nicht in gerader Linie fortstürmen wird! Sei nicht bange; wir kommen vielleicht ebenso rasch hin wie er! Ach, Don Estévan, Euer böser Stern hat Euch unter diese Banditen geführt!«
   Unterdessen sprengte Fabian wie jene abenteuerlichen Reiter in den Legenden, die kein Hindernis aufhält, mit einer erschreckenden Geschwindigkeit über den ungleichen Boden, über Bäche, Baumstämme, die vor Alter umgestürzt waren. Seine Aufregung schien mit der seines Tieres zu wetteifern. Pepe hatte sich nicht getäuscht; kein Zweifel – er hätte trotz des Vorsprungs, den sie vor ihm hatten, schnell diejenigen, die er verfolgte, erreicht, wenn er den ungestümen Anlauf seines Pferdes nach seinem Willen hätte lenken können. Unglücklicherweise oder vielleicht glücklicherweise für ihn zwang sein noch ungezähmtes Pferd ihn zuweilen, von der geraden Linie auf der Verfolgung abzuweichen, und nur nach ungeheuren Anstrengungen konnte er es auf den engen Fußpfad zurückbringen, der sich durch den Wald schlängelte und auf dem die Spur der fünf Flüchtigen sichtbar war. Oft fand er sich plötzlich diesseits des Weges wieder, den er schon zurückgelegt hatte, und er verlor somit alles, was er an Raum beim vorhergehenden Ritt gewonnen hatte.
   Nach einer Stunde eines solchen regellosen Rennens und furchtbaren Kampfes jedoch fing das Pferd an zu fühlen, daß es seinen Meister gefunden hatte, seine Kraft begann nachzulassen; der heftig von der kräftigen Hand des Reiters angezogene Kappzaum preßte seine Nüstern, die nur noch einen pfeifenden Atem ausstießen; seine Schnelligkeit nahm nach und nach ab, seine Sprünge geschahen weniger rückwärts; endlich gehorchte es dem Druck, den es fühlte. Wie auf eine getroffene Verabredung hielten Mann und Pferd an, um Atem zu schöpfen; der Schweiß rieselte beiden vom Leib herab, und von den Flanken des Pferdes stieg der Dampf wirbelnd empor.
   Fabian benützte diesen Waffenstillstand, um sich zu orientieren; der Nebel, der seinen Blick verschleierte, begann sich zu zerstreuen, und das heftige Klopfen seines Herzens betäubte nicht mehr seine Ohren – er konnte hören und sehen.
   Zertretene Blätter, kleine frische, zerbrochene Zweige, die Spur mehrerer Pferdehufe auf dem Gras oder im Sand zeigten dem geübten Auge Fabians unzweifelhaft den Weg, den diejenigen eingeschlagen hatten, die vor ihm flohen. Plötzlich schlug das ferne Geräusch eines Wasserfalls an sein Ohr. Einen Augenblick noch, und die Flüchtigen gewannen vor ihm die unförmige Brücke, die über das breite und tiefe Bett führte, in dem der Waldstrom dahinstürmte; mit vereinten Kräften konnten sie die Brücke zerstören. Dann wurde jede Verfolgung unnütz, denn Don Estévan konnte, während er nach einer Furt suchte, mitten in die weiten Ebenen entrinnen, die sich bis nach Tubac hin ausdehnen.
   Diese Gedanken weckten abermals Fabians Leidenschaften; er preßte die Flanken seines Pferdes und sprengte im Galopp den Fußpfad entlang, dessen Windungen ihm noch die Feinde, die er verfolgte, verbargen. Diesmal hatte sein Tier eine höhere Macht anerkannt, und der Weg, den es gelehrig verfolgte, verschwand unter seinen Tritten.
   Das Brausen des Sturzbaches war schon lauter als der widerhallende Galopp des Pferdes, und obgleich es zu fliegen schien, so trieb es Fabian doch immer noch an. Bald mischten sich menschliche Stimmen in das Grollen der Gewässer. Diese Stimmen machten auf ihn einen so mächtigen Eindruck, daß seine Stöße in die Flanken des Tieres sich verdoppelten; noch einige Augenblicke mußten ihn mitten unter den Feind bringen, den zu erreichen er vor Begierde brannte.
   Die ungestümen Sprünge eines Pferdes treiben die menschlichen Leidenschaften auf den höchsten Gipfel der Aufregung; Pferd und Reiter stehen in Wechselwirkung miteinander; das Herz des Mannes verfügt über die stählernen Hacken, und das unvernünftige Tier erhebt sich zu einem Verständnis der Gefühle seines Reiters. Trunken vom wilden Ritt, trunken von einer nahen Befriedigung seiner Rache verschwand die Ungleichheit an Zahl vor Fabians Augen. Auch versetzte ihn der Anblick, der sich ihm bald darbot, in einen Schwindel getäuschter Erwartung.
   Wie schon erwähnt, verband eine Brücke von grob behauenen, viereckigen Baumstämmen die beiden steilen Ufer zwischen denen unten der Salto de Agua brauste. Die beiden äußersten Enden dieser Balken, die zusammen gerade so breit waren, daß ein Pferd hinübergehen konnte, ruhten auf dem bloßen Felsen und waren in keiner Weise befestigt. Die Kraft einiger Männer konnte also die Brücke, die zur Verbindung diente, auseinanderreißen oder hinabwerfen und somit an dieser Stelle, wo die beiden Ufer sehr entfernt voneinander waren, den Übergang unmöglich machen.
   Gerade in dem Augenblick, als Fabian die Brücke erreichte, zogen vier von ihren Reitern angespornte Pferde mit aller Kraft ihrer Hacken an den Lassos, die mit dem einen Ende am Sattelknopf befestigt, mit dem anderen an die Balken gebunden waren, die, dieser Anstrengung weichend, sich bewegten, auseinandergingen und dann in den Gießbach stürzten, wo der Schaum garbenweise aufbrauste, während die rasch vom Sattelknopf gelösten Riemen pfeifend dem Zug der beiden ungeheuren Massen folgten.
   Fabian stieß einen Schrei der Wut aus. Bei diesem Ausruf wandte sich ein Mann um; es war Don Estévan! Aber Don Estévan – durch eine unübersteigbare Schlucht von ihm getrennt —, der nun, geschützt vor aller Verfolgung, mit spöttischer Miene Fabian betrachtete, der mit Kleidern, die vom Dickicht zerrissen waren, mit blutendem Gesicht, mit wutentstellten Zügen ungestüm heransprengte, um über den Wasserfall zu setzen. Doch am Rand des Abgrunds angelangt, bäumte sich das erschreckte Tier heftig auf und sprang zurück.
   »Gebt Feuer auf ihn!« rief Don Estévan. »Gebt Feuer, oder dieser Wütende wird uns alle unsere Pläne durchkreuzen! Feuer, sage ich euch!«
   Drei Büchsen richteten sich schon auf Fabian, als sich in einiger Entfernung hinter ihm eine donnernde Stimme hören ließ und im selben Augenblick zwei Männer aus dem Gebüsch hervorbrachen: es waren der Kanadier und Pepe, die dank dem Umweg, den Fabian zu machen genötigt war, rechtzeitig hatten anlangen können.
   Beim Anblick der beiden furchtbaren Büchsen zögerten die Banditen. Fabian nahm einen neuen Anlauf; aber das erschrockene Tier bäumte sich abermals auf und wand sich, einem unbesiegbaren Schrecken nachgebend, heftig unter seinem Reiter hin und her.
   »Feuer! Feuer!« brüllte Don Estévan.
   »Wehe euch!« schrie der Kanadier angsterfüllt. »Wehe dem, der schießen wird! Und du, Fabian, komm zurück im Namen Gottes!«
   »Fabian?« wiederholte Don Estévan wie ein Echo beim Anblick des jungen Mannes, der, taub für die Bitten Bois-Rosés, noch immer sein Pferd anspornte, um über den Gießbach zu setzen; es sprang rechts und links, die Flanken waren mit Schaum bedeckt und pochten vor Schrecken.
   »Ja, Fabian!« rief er mit einer Stimme, die den Donner des Katarakts und den Ruf der beiden Jäger übertönte. »Fabian, der von Euch, Don Antonio de Mediana, Rechenschaft fordert für das Blut seiner Mutter!«
   Während diese Stimme, die sich mit dem Brausen des Sturzbaches vermischte, in den Ohren Medianas wie eine schreckliche Vorbedeutung klang; während ihn – vielleicht zum erstenmal in seinem Leben – der Schrecken auf seinen Platz bannte, zog der ungestüme junge Mann sein Messer, und indem er sein Pferd dessen Spitze fühlen ließ, trieb er es mit einem neuen, wütenden Anlauf vorwärts. Diesmal sprang das Tier wie ein Blitz über den Abgrund und fiel auf das entgegengesetzte Ufer.
   Aber ein Hinterfuß glitt auf dem feuchten Abhang aus. Einen Augenblick – einen einzigen Augenblick – kämpfte das Pferd, das Gleichgewicht wiederzugewinnen; der Fels knirschte unter seinen Hufen; aber eine unüberwindliche Macht brach die Kraft seiner Sprunggelenke, sein Auge wurde dunkel, ein ängstliches Wiehern ließ sich vernehmen, und seinen Reiter mit hinabreißend, verschwand es mit ihm.
   Beim Rauschen des Wassers, das bis auf das Ufer wallte, entfuhr ein herzzerreißender Schrei der breiten Brust des Kanadiers; ein Schrei des Triumphes erscholl vom entgegengesetzten Ufer; aber beide wurden bald übertönt von der grollenden Stimme des Waldstromes, der sich über seiner zweifachen Beute schloß.


   27. Die Steppe aus der Vogelperspektive

   Ungefähr vierzehn Tage nach dem letzten von uns erzählten Ereignis – das heißt, nach dem Sturz und dem Verschwinden Tiburcio Arellanos‘ oder vielmehr Fabians von Mediana im Salto de Agua – fanden andere Szenen in einer Gegend der Steppen statt, die sich vom Präsidio von Tubac bis an die mexikanische Grenze ausdehnen. Bevor wir jedoch die handelnden Personen wieder aufsuchen, wollen wir den Schauplatz beschreiben, auf dem sie uns wieder begegnen werden.
   Die weiten Ebenen, die Mexiko von den Vereinigten Staaten trennen, sind nur durch die ziemlich schwankenden Berichte der Jäger und der Goldsucher in einem Teil des Landes bekannt, der durch den Rio Gila und seine Nebenflüsse gerade am wenigsten bewässert ist. Dieser Fluß, dessen Quelle in den fernen nördlichen Bergen liegt, ist der einzige, der unter verschiedenen Namen einen unermeßlich ausgedehnten, sandigen und baumlosen Landstrich durchströmt, dessen dürre Einförmigkeit nur durch die von den Regenwassern ausgehöhlten Schluchten unterbrochen wird; aber diese Gewässer verwüsten, ohne zu befruchten.
   Der steinige Boden zeigt dem Reisenden nur die abschüssigen Schluchten – das Bett ausgetrockneter Gießbäche —, die seinen Marsch hemmen, ohne irgendeine Nahrung für ihn oder sein Pferd zu bieten. Der Damhirsch und der Büffel fliehen diese Einöden, wo höchstens ein spärliches Gras zu wachsen scheint, das schon vertrocknet, ehe es nur ausgewachsen ist. Selbst die Indianer durchstreifen sie nur, wenn der sengende Wind, der einen Teil des Jahres in diesen Steppen weht, vorüber ist.
   Wir führen den Leser an einen Ort, der etwa sechzig Meilen vom Presidio von Tubac und etwa hundert Meilen von der Grenze der Vereinigten Staaten entfernt ist. Die Sonne neigt sich nach Westen und sendet schon schrägere Strahlen herab. Das ist die Stunde, wo der Wind, obgleich er immer noch durch die Ausstrahlungen des glühenden Sandes erhitzt ist, doch nicht mehr aus der Öffnung eines Schmelzofens herauszuwehen scheint. Es mochte etwa vier Uhr nachmittags sein. Leichte, weiße Wolken, die anfingen, eine rosige Färbung zu bekommen, bewiesen, daß die Sonne zwei Drittel ihres Laufes vollendet hatte.
   Mitten am unermeßlichen Himmel, dessen dunkler Azur hier und da hinter Wolkengruppen verschwand, schwebte ein Adler bewegungslos über der Steppe. Er war hier der einzige Bewohner dieses Luftmeeres. Von dem erhabenen Punkt aus, wo der König der Vögel sich majestätisch wiegte, konnte sein durchdringendes Auge menschliche Geschöpfe auf den Ebenen der Erde zerstreut erblicken; die einen bildeten eine Truppe, die anderen waren ziemlich weit davon entfernt, so daß sie nur ihm allein sichtbar waren und einander nicht sehen konnten.
   Gerade unter ihm dehnte sich ein unregelmäßiger Kreis aus, der durch eine natürliche Hecke von großen Kakteen mit scharfen Spitzen und stachligen indianischen Feigenbäumen gebildet wurde. Einige wenige Eisenholzgebüsche mischten ihr bleiches Laub unter die Feigenbäume und die Kakteen. An dem einen Ende dieses Kreises erhob sich ein Hügel mit flachem Gipfel einige Fuß hoch und beherrschte diese Umzäunung nach allen Seiten hin. Rings um diese Verschanzung, bei deren Errichtung die Hand des Menschen sich nicht beteiligt hatte, lagen kalkige Strecken, sandige Heide oder eine Anzahl nacheinander folgender kleiner Hügel, die wie versteinerte Wellen in diesem Sandozean aussahen.
   Ein Trupp von ungefähr sechzig Reitern war in dieser Umzäunung von Kakteen und Gebüsch abgestiegen. Die Flanken der Pferde dampften wie nach einem angestrengten Marsch. Es war ein verworrener Lärm von Rufen, Wiehern der Pferde und Klappern von Waffen aller Art, denn dieser Reitertrupp schien kein gewöhnlicher zu sein. Lanzen mit roten fliegenden Fähnchen, Musketen, Büchsen, Doppelgewehre hingen noch am Sattelbogen. Von den Reitern putzten die einen ihre Pferde; andere lagen auf dem Sand im spärlichen Schatten der Kakteen und dachten nur daran, sich vor allem nach einem ermüdenden Tagesmarsch auszuruhen, auf dem die glühende Sonne die Glieder ebenso erstarrt wie die Kälte in der nördlichen Zone.
   Etwas weiter zurück kamen die beladenen Maultiere zu der für das Nachtlager gewählten Stelle, und noch weiter zurück, hinter diesen, fuhren schwer beladene Wagen – zwanzig an der Zahl – in einer krummen Linie; die vorgespannten Maultiere zogen sie in langsamstem Schritt heran.
   Endlich entdeckte das Auge des Adlers in der Richtung, der die Reisenden hatten folgen müssen, noch ohne Mühe, was das Auge keines Reiters oder Wagenleiters mehr sehen konnte: nämlich Leichname von Menschen und Tieren, die auf diesen dürren Flächen verstreut lagen und die den blutigen Weg bezeichneten, den diese Expedition von Abenteurern mitten unter stets erneuerten Kämpfen und unter den Gluten eines feurigen Himmels hatte machen müssen. Man hat gewiß schon die Schar Goldsucher unter den Befehlen Don Estévans wiedererkannt.
   Als die Maultiere und die Wagen das Nachtlager erreicht hatten, gab es zwar einige Verwirrung, aber sie dauerte nur wenige Augenblicke. Die Wagen waren bald abgeladen, die Maultiere ausgespannt, die Pferde abgesattelt. Die Wagen wurden nun Deichsel an Deichsel mit eisernen Ketten zusammengebunden, und die Packsättel der Maultiere füllten mit den übereinandergelegten Sätteln der Pferde, mit den Kakteen und den Feigen die Zwischenräume zwischen den Rädern, so daß augenblicklich eine furchtbare Barrikade daraus entstand.
   Im Innern des Lagers wurden die Tiere an die Wagen gebunden, Küchengeräte mit dazugehörigen Reisbündeln wurden in die Wagen hineingelegt. Eine tragbare Schmiede wurde aufgerichtet, und diese Kolonie, die wie durch ein Wunder aus der Erde emporgewachsen zu sein schien, war bald in voller Tätigkeit. Der Amboß ertönte von den Schlägen des Hammers, mit denen man die Hufeisen oder die Beschläge der Wagenräder in die gehörige Form brachte.
   Ein reichgekleideter Reiter, dessen Anzug jedoch von Staub und Sonne verblaßt war, saß auf einem schönen Schweißfuchs und war allein inmitten des Lagers, das sein Auge in allen seinen Einzelheiten sorgfältig prüfte, im Sattel geblieben. Der Herzog von Armada, der Chef der Truppe, war leicht in diesem Reiter wiederzuerkennen.
   Unterdessen waren drei Männer beschäftigt, auf dem Gipfel des kleinen Hügels die Pflöcke eines leinenen Zeltes in die Erde zu schlagen. Als das Zelt aufgerichtet und mit Stricken befestigt war; als auf dessen Spitze ein entfaltetes Banner mit sechs goldenen Sternen im azurenen Feld und der Umschrift »Ich werde wachen« im Wind flatterte, stieg der Reiter ebenfalls ab; er schien einem seiner Leute einen Befehl zum Überbringen zu geben, denn dieser stieg wieder auf und ritt aus dem Lager. Darauf ging der Herzog mit nachdenklicher Miene in das Zelt.
   Alle diese Vorbereitungen hatten kaum die Zeit von einer halben Stunde in Anspruch genommen, so sehr schien die Gewohnheit alles vereinfacht zu haben. Zur Rechten des Lagers – in östlicher Richtung, aber noch weit hinter den wellenförmigen Hügelreihen – erhob sich aus dem Sandmeer ein breites, dichtes Gehölz von Gummibäumen und Eisenholz, den einzigen Bäumen, die in diesen verlassenen Ebenen wuchsen.
   Eine zweite Reitertruppe hatte im Schatten dieses dichten Waldes haltgemacht. Hier gab es weder Wagen noch beladene Maultiere und keinen Verhau irgendwelcher Art. Aber das war nicht die einzige Verschiedenheit, den die letztere Truppe mit der ersteren darbot. Sie schien mehr als doppelt so stark zu sein. An dem bronzefarbigen Teint der Reiter, von denen die einen fast nackt, die anderen mit einem weiten, flatternden Lederanzug bekleidet waren; am Kopfputz, auf dem die Adlerfeder schwankte; an der gelben Ockerfarbe, mit der ihre Gesichter bemalt waren; am wilden Zierat ihrer Pferde konnte man leicht eine Abteilung Indianer auf einem Kriegszug erkennen.
   Zehn von ihnen – ohne Zweifel die Anführer – saßen in ernster Haltung rund um ein Feuer, das mehr rauchte als brannte, und ließen das Kalumet oder die lange Beratungspfeife von Hand zu Hand gehen. Die vollständige Rüstung eines jeden Häuptlings – das heißt, ein lederner Schild, mit dicken Fransen aus ähnlichen Federn besetzt, wie sie sich an ihrem beweglichen Kopfputz fanden, eine lange Lanze, eine Streitaxt und ein Messer – lag an der Seite eines jeden auf dem Sand.
   In einiger Entfernung vom indianischen Beratungsfeuer – weit genug, um die Worte der Ratsversammlung nicht hören zu können – hielten fünf Krieger je zwei sonderbar aufgeschirrte Pferde am Zügel; ihre hölzernen Sättel waren mit rohem Leder überzogen, und Fuchspelze schmückten ihr Hinterstück. Es waren die Pferde der zehn Häuptlinge; die fünf Krieger schienen nur mit großer Mühe die feurigen Tiere zu bändigen. Während das Kalumet seinem Nachbarn gereicht wurde, zeigte einer der Häuptlinge den anderen mit dem Finger einen Punkt am Horizont. Die Augen eines Europäers hätten an dem azurenen Himmel nur eine kleine graue Wolke mehr gesehen; aber das Auge des Indianers unterschied dort eine leichte Rauchsäule, die sich wirbelnd aus dem rings eingeschlossenen Lager der Weißen erhob.
   In diesem Augenblick brachte ein indianischer Bote ohne Zweifel irgendeine wichtige Nachricht, denn alle Reiter gruppierten sich um ihn.
   Jetzt entdeckte das Auge des Adlers zwischen dem Lager der Indianer und dem Verhau der Weißen noch einen Reiter; aber allein und ohne daß er von den Weißen und den Indianern gesehen werden konnte. Es war dies offenbar der Reiter, zu dessen Suche, wie wir gesehen haben, einer aus dem Lager der Goldsucher abgesandt war. Er ritt einen grauen Apfelschimmel und hielt jetzt an, und sein Pferd schien mit ausgestrecktem Hals und offenen Nüstern ebenso wie sein Reiter eine noch unsichtbare Spur zu suchen. Der Reiter trug den Lederanzug der Weißen, und seine – wenn auch sonnverbrannte – Gesichtsfarbe bewies hinlänglich, daß er der weißen Rasse angehörte.
   Der Mann zu Pferd war Cuchillo; er schlug plötzlich die Richtung mitten durch die Steppe ein und ließ dann sein Pferd den Gipfel einer Anhöhe in der Ebene ersteigen. Hier angelangt, fuhr er vor einem zweifachen Anblick zurück, denn seine Augen richteten sich abwechselnd auf die Rauchsäule, die sich aus dem Lager der Abenteurer erhob, und auf das Biwak der Indianer.
   Die Indianer bemerkten ihn aber ebenfalls, denn ein langes Gebrüll wie von hundert Panthern erhob sich zum Himmel, und der durch den Aufruhr erschreckte König der Vögel verlor sich bald wie ein schwarzer Punkt mitten in den Wolken.
   Der Bandit entfloh mit verhängten Zügeln nach der Rauchsäule hin, als er die Indianer wie hungrige Wölfe auf einer Hirschjagd zu seiner Verfolgung aufbrechen sah. Endlich unterschied sich noch weiter am Horizont – doch kaum dem Adler selbst sichtbar – eine andere Männergruppe ziemlich undeutlich inmitten eines leichten Nebels. Ihre Stellung war so, daß sie ein Dreieck mit den beiden Lagern – dem der Rothäute und dem der Weißen – bildete. Jener Nebel war durch die Ausdünstungen eines ziemlich breiten Flusses erzeugt, dessen Ufer von Bäumen beschattet waren und der in seinem Lauf eine kleine, dicht bewachsene Insel bespülte. Mitten auf diesem Eiland befanden sich augenblicklich die zuletzt angeführten Personen. Waren es aber zwei oder drei oder vier – das konnte man vor Nebel nicht unterscheiden. Doch überstieg ihre Zahl wohl nicht die zuletzt genannte.
   Dieser Teil der Steppe, dessen verschiedene Bewohner wir kennengelernt haben, endete an dem obenerwähnten Fluß. Er strömte von Osten nach Westen, teilte sich eine Meile westlich von der Insel in zwei Arme und bildete ein weites Delta, das von einer Bergkette begrenzt wurde; aber ein dichter Nebel bedeckte diese Anhöhen, und das Auge Gottes allein hätte diesen Dunstschleier durchdringen können, der – je nachdem die Sonne sich ihrem Untergang zuneigte – auch lebhaftere violette und azurfarbige Schattierungen darbot.
   In diesem Delta, das mehr als eine Quadratmeile groß ist, beinahe in gleicher Entfernung von der Hügelkette und dem Anfang der vom Fluß gebildeten gabelförmigen Landzunge, lag das Val d‘Or.
   Um die Erwartung des Lesers nicht länger zu ermüden und seinen Augen nicht bloß schweigende Schatten vorzuführen, wollen wir diesen Schatten zuerst Gedanken, dann Worte und endlich gleichzeitig Handlungen verleihen. Diese verstreuten Gruppen streben nach demselben Ziel; zwei von ihnen aus entgegengesetzten Interessen, die anderen als ihre Nebenbuhler. Einzeln oder vereint werden sie bald zusammenstoßen, wie die von entgegengesetzten Winden gepeitschten Sturmfluten aufeinandertreffen und im unermeßlichen Ozean eine an der anderen zerschellen.
   Infolge geschickter, von Pedro Diaz geleiteter Bewegungen hatte die Expedition am Tag vor ihrer Ankunft im Val d‘Or die Richtung, die sie eingeschlagen hatte, vor den Indianern seit zwei Tagen verheimlichen können. Aber sechzig Gefährten, mit denen Cuchillo teilen mußte – darauf hatte der Bandit nicht gerechnet. Er mußte diese Zahl vermindern, und unter dem Vorwand, den Weg auszukundschaften, hatte er sich seit zwei Tagen von seinen Kameraden getrennt. Voll Vertrauen auf die Schnelligkeit seines Pferdes und auf die genaue Kenntnis dieser Steppen wollte Cuchillo abermals die Indianer auf die rechte Fährte bringen.
   Um ihn seinen Weg finden zu lassen, falls sich etwas ereignete, das war der Grund, warum im Lager ein Feuer angezündet war, dessen Rauch ihm als Führer dienen sollte, und warum Don Antonio de Mediana einem seiner Leute, der sich auch – wie man gesehen hat – aus dem Verhau entfernte, den Auftrag gegeben hatte, das Feld zu durchstreifen, um den Führer der Expedition wiederzufinden. Ein kühnerer Gedanke keimte noch im Herzen Cuchillos; aber die Ausführung dieses Planes sollte ihn nur zu einer schrecklichen Strafe führen, die er so wohl verdiente. Doch hier ist noch nicht der Ort, davon zu reden.
   Wir hatten gesagt, daß ein Läufer mit anscheinend wichtigen Nachrichten im Lager der Indianer angekommen war. Dieser Läufer war beim Suchen der Weißen, die er verfolgte, bis an die Ufer des Flusses vorgedrungen; unter den dortigen Weiden versteckt, hatte er auf einer kleinen Insel drei von ihren weißen Feinden bemerkt. Diese drei Männer konnten nach der Beschreibung des Indianers nur der Kanadier Bois-Rosé, der Spanier Pepe und Fabian de Mediana sein, der nun ihre Abenteuer mit ihnen teilte. Es waren wirklich die drei Freunde, die man vielleicht nicht ohne einige Befriedigung wiederfinden wird.
   Wir haben Bois-Rosé und Pepe den Schläfer vierzehn Tage vor diesem Augenblick am Rand der Schlucht verlassen, in der der junge Spanier in dem blinden Ungestüm seines Alters und noch besonders aufgeregt durch die Erzählung des gewesenen Grenzjägers von der Ermordung seiner Mutter beinahe sein Grab gefunden hätte. Glücklicherweise war der Sturz nur für das Pferd tödlich gewesen; der Reiter war wie durch ein Wunder gerettet und dem Schicksal entgangen, das ihn auf dem Grund des Salto de Agua erwartet hätte.
   Die drei Freunde nahmen also die Verfolgung, die der Sturz Fabians gewaltsam unterbrochen hatte, wieder auf; da sie jedoch gezwungen waren, zu Fuß denselben Weg zu verfolgen, den ihre Feinde zu Pferd zurücklegten, so waren Fabian und die beiden Jäger erst an dem Tag in Tubac angekommen, an dem die Expedition es verließ; das heißt, nachdem sie durch den Sturz Fabians einen Tag verloren, hatten sie nur fünf gebraucht, um zu Fuß ungefähr sechzig Meilen zurückzulegen.
   Nun wurde es leichter, der auf ihrem Marsch durch die schwerbeladenen Wagen aufgehaltenen Kolonne von Abenteurern zu folgen; zehn Tagereisen hatten somit die drei unerschrockenen Freunde ebensoweit geführt als die Expedition. Obgleich sie durch die Sorge für ihre Sicherheit genötigt waren, einen Weg einzuschlagen, der von dem, den die Expedition genommen hatte, verschieden war, so hatten sie doch nur selten die Feuer ihrer Lagerplätze seit dem Abmarsch aus dem Presidio aus dem Gesicht verloren. Von einem solchen Gefolge umgeben wie hier, war Don Antonio keineswegs eine leichte Beute.
   Als der indianische Läufer, von dem wir vorhin gesprochen haben, seinen Bericht beendet hatte, berieten sich die Apachenkrieger, die zum Rat gehörten, abermals über den Entschluß, der gefaßt werden mußte. Bis hierher gab es unter den Feinden, mit denen sie auf diesem letzten Kriegszug gekämpft hatten, keine zwei Männer, auf die man die Schilderung hätte anwenden können, die der Kundschafter von Bois-Rosé und Pepe dem Schläfer entworfen hatte.
   Der jüngste unter den zehn Häuptlingen, der aufgefordert wurde, zuerst seine Meinung auszusprechen, zog langsam den Rauch aus seiner langen Pfeife und sagte: »Die Weißen haben bald die Füße des Hirsches, bald den Mut des Pumas oder die List des Schakals. Sie haben ihre Spuren seit zwei Tagen vor Augen zu verbergen gewußt, die die des Adlers in der Luft ausfindig machen könnten; es ist abermals eine List ihrerseits, ihre Krieger auf der weiten Steppe zu zerstreuen; nach der Insel des Flusses Gila hin also muß man sie suchen. Ich habe gesprochen.«
   Nach einem kurzen Schweigen nahm ein anderer Häuptling das Wort: »Die Weißen verfügen offenbar über tausend Kriegslisten; aber haben sie auch die, ihren Wuchs größer zu machen? Nein. Wenn sie im Gegenteil sich so klein machen könnten, daß die Augen des Indianers sie nicht sähen, so würden sie es tun. Unsere Feinde kommen aus dem Süden; diejenigen, die man eben gefunden hat, kommen aus dem Norden; wir dürfen also nicht zur Insel hin aufbrechen.«
   Als diese beiden entgegengesetzten Ansichten ausgesprochen waren, brach plötzlich das Geheul der Indianer los beim Anblick Cuchillos. Die Apachenhäuptlinge hoben ihre Beratung bis zu dem Augenblick auf, wo die Krieger, die ihn verfolgt hatten, mit der Nachricht zurückkamen, daß sie die Spur zum Lager der Weißen wiedergefunden hätten.
   Darauf nahm der zweite Häuptling, der gesprochen hatte, wieder das Wort; er war ein Mann von hohem Wuchs und einer viel dunkleren Gesichtsfarbe als die meisten seiner Gefährten, weshalb man ihm auch den Namen der »Schwarze Falke« gegeben hatte. »Ich habe gesagt, daß die Männer, die aus dem Norden kommen, nicht zu denen aus dem Süden gehören. Ich habe immer gesehen, daß der Norden und der Süden einander feindlich sind wie der Wind, der aus jeder der beiden Richtungen weht. Laßt uns einen Boten zu den drei Kriegern auf der Insel schicken, damit sie sich mit uns gegen die Krieger mit den Wagen verbinden, und der Indianer wird sich freuen über den Tod der Weißen durch die Weißen.«
   Aber dieses Bündnis, das Klugheit und Menschenkenntnis geboten hatte, fand im Rat keine Unterstützung. Alleinstehend mit seiner Ansicht, mußte der Schwarze Falke sie fallenlassen, und es wurde beschlossen, daß der Haupttrupp gegen das Lager marschieren, während zugleich eine Abteilung zur Insel aufbrechen sollte.
   Eine Viertelstunde später bewegten sich hundert Krieger in der Richtung nach dem Lager hin, während zwanzig andere erprobte Krieger sich zur Insel wandten, dürstend nach dem Blut der drei Männer, die sich augenblicklich noch in deren Schutz befanden.


   28. Das Lager der Goldsucher

   Wir verlassen auf einen Augenblick Fabian und seine beiden Gefährten auf dem Eiland, wo sie eine Zuflucht gesucht haben, um ein Wort über den Trupp der Abenteurer und über ihren Führer zu sagen.
   Wir finden sie gegen das Ende ihres zehnten Tagemarsches wieder, nachdem vierzig der Ihrigen auf dem Weg den Indianern oder den Gefahren der Steppe zum Opfer gefallen waren. Obgleich aber diese Verminderung ihrer Anzahl sie geschwächt hatte, so war doch der Ausgang des Kampfes zwischen diesen Abenteurern und den Indianern, die stets bereit waren, den Einfall in ihr Gebiet zurückzuweisen, noch gar nicht vorauszusehen. Die Schlauheit beider Teile war gleich groß; dieselbe Gewohnheit, fast unsichtbaren Spuren zu folgen, fand sich auf beiden Seiten. Die Habgier der einen hielt der Wildheit der anderen das Gleichgewicht.
   Nichtsdestoweniger war aber der Enthusiasmus nicht mehr so glühend als an dem Tag, wo sie unter freiem Himmel im Presidio von Tubac die Messe für den glücklichen Erfolg ihrer Expedition gehört hatten. Damals waren die Abenteurer mit triumphierendem Hurra aufgebrochen, unter dem Donner des Geschützes und unter dem Zuruf der Einwohner und der Garnison des Presidio.
   Doch hatte Don Estévan, der die Gabe, alles vorauszusehen, empfangen zu haben schien, keine Vorsichtsmaßnahme unterlassen. Bis jetzt handelte auf solchen Expeditionen jeder Mann sozusagen für sich allein, indem er sich zu seiner Verteidigung nur auf seine Waffen und auf sein Pferd verließ. Der Spanier hatte diese Abenteurer diszipliniert und sie zum Gehorsam gegen ihn gezwungen; die Wagen, die er gekauft hatte, dienten als Transport– und Verteidigungsmittel. Geradeso marschierten einst die alten Völker des Nordens auf ihren räuberischen Einfällen in das mittägliche Europa. Don Estévan hatte diese Taktik aus den Vereinigten Staaten mitgebracht, wo die Bewohner dazu bestimmt zu sein scheinen, die Steppen des amerikanischen Festlands zu durchziehen, um sie zu bevölkern. Auch war unter der geschickten und kräftigen Leitung eines solchen Führers diese letzte Expedition weiter in die Steppe vorgedrungen als irgendeine vorher unternommene.
   Die Verantwortlichkeit, die auf Don Estévan ruhte, den wir eben mit nachdenklicher Miene in das für ihn errichtete Zelt haben treten sehen, hätte allein schon hingereicht, seine Stirn mit Wolken zu bedecken; aber vielleicht dachte Don Estévan mehr an die Vergangenheit als an Gegenwart und Zukunft. Der Spanier hatte die Energie Fabians mit der Kleinmütigkeit des Senators Tragaduros vergleichen können; fortgerissen vom Lauf der Ereignisse, hatte er immer nur daran gedacht, seinen Neffen von seinem Weg fernzuhalten. Als er in dem Strudel verschwunden war, nachdem er eine schmähliche Drohung gegen den Bruder seines Vaters ausgestoßen hatte, hatte dieser plötzlich eine unermeßliche Leere in sich gefühlt.
   Eine schlecht geheilte Wunde seines Herzens war wieder aufgebrochen. Er stand auf dem Gipfel weltlicher Größe, und doch fehlte ihm etwas. Was er auch getan hatte, um es sich zu verheimlichen – der Stolz des Geschlechts lebte in ihm wieder auf. Als sein Neffe tot war, hatte sich seiner ein lebhaftes Mitgefühl für den jungen Mann bemächtigt, der in seiner Glut und Unzähmbarkeit, geliebt von Doña Rosarita, vielleicht den Senator in der Ausführung seines kühnen Plans ersetzen konnte. Er bedauerte es, sich von den Ereignissen beherrschen zu lassen haben, und in dem Augenblick, als der letzte Mediana nach ihm vor seinen Augen verschwunden war, bedauerte sein Stolz den Erben seines Namens, den er so würdig gefunden hatte, ihn zu tragen. Nach ihm sollte niemand sein Andenken mit in die Zukunft nehmen. An dem Tag vor der Eroberung des Val d‘Or, in dessen nächster Nähe er sich wußte und wodurch er eine Sprosse höher stieg, machte sich dieses Bedauern noch lebhafter geltend. So vermag der Ehrgeiz im Herzen nur eine weite Leere hervorzubringen, um eine andere auszufüllen.
   Indes war dies nicht die einzige Sorge, die Antonio de Mediana beschäftigte. Die Abwesenheit Cuchillos war ebenfalls ein Gegenstand der Unruhe für ihn. Ein treuloser Gedanke, den er dem Scharfblick Don Antonios verheimlicht hatte, den aber dieser zu ahnen begann und der ihn ebenfalls nachdenklich machte, hatte den Banditen aus dem Lager geführt.
   Cuchillo hatte einen beträchtlichen Vorsprung vor den Indianern gehabt. Solange er gesehen hatte, daß er weit vom Lager Don Antonios de Mediana entfernt war, hatte er alle Kräfte seines Pferdes in Anspruch genommen; aber sobald er durch die Kaktushecke und die Eisenholzgebüsche die Verschanzung seiner Gefährten erblickte, mäßigte er seinen Ritt, um nicht die Verfolgung, deren Gegenstand er war, zu entmutigen.
   Die Entfernung vom Lager war noch groß genug, daß er von keiner Schildwache, die ringsumher aufgestellt waren, bemerkt werden konnte. Als er die Indianer, die ihm nachjagten, beim Anblick der Rauchsäule – eines sicheren Zeichens für die Gegenwart weißer Krieger ebenfalls ihre Pferde zurückhalten sah, hielt er ganz an. Es lag in seinem Plan, so spät wie möglich zu den Seinen zurückzukehren, um erst im letzten Augenblick Lärm zu machen. Er kannte die indianischen Bräuche hinreichend, um kaltblütig ein so gefährliches Spiel zu wagen. Er wußte, daß sie fast niemals angreifen, außer wenn sie an Zahl überlegen sind; daß, ehe sie sich zu einem Sturm des Lagers entschieden hätten, noch einige Stunden vergehen würden, und daß endlich die Indianer, die ihn verfolgten – zufrieden damit, die Spur ihrer Feinde wiedergefunden zu haben —, umkehren würden, um diese Nachricht ihren Gefährten zu überbringen.
   Er hatte sich nicht getäuscht. Die roten Männer nahmen bald ihren Weg nach dem Dickicht zurück, in dem ihre Truppe lagerte.
   Ganz bezaubert von dem Erfolg seiner List, legte sich der Bandit, nachdem er die Feinde hatte verschwinden sehen, hinter einer Erhöhung nieder und lauschte aufmerksam, stets bereit, seine Flucht fortzusetzen, sobald seine geübten Sinne ihm die Rückkehr der Gefahr anzeigen würden. Wenn er sein Lager nur wenige Minuten vor dem Kampf wieder erreichte, so hoffte er auch mitten in der Aufregung, die dem Kampf vorangehen mußte, den Fragen Don Antonios zu entgehen, dessen Scharfsinn er fürchtete.
   Wir würden morgen unser sechzig sein zur Teilung dieser Schätze, dachte er bei sich, wenn ich nicht dafür gesorgt hätte, daß beim Anbruch des Tages die Zahl um ein gutes Viertel vermindert sein wird. Dann, wenn diese roten und die weißen Dummköpfe miteinander kämpfen, werde ich …
   Ein ferner Schall wie der einer abgeschossenen Büchse unterbrach plötzlich die Gedankenreihe Cuchillos. Dieser durch die Ferne gedämpfte Lärm schien aus nördlicher Richtung zu kommen. Wirklich kam er auch vom Fluß her, in dessen Mitte sich das Eiland befand, das Bois-Rosé und seine beiden Gefährten in Besitz genommen hatten.
   Es ist doch sonderbar, daß ein solcher Ton von da unten herkommt, dachte Cuchillo bei sich, indem er nach Norden blickte, denn das Lager der Weißen ist im Osten und das der roten Krieger im Westen!
   Ein zweiter Schuß ließ sich hören, dann, nach einem ziemlich langen Zwischenraum ein dritter, worauf endlich ein gut unterhaltenes Gewehrfeuer folgte. Einen Augenblick wurde Cuchillos Herz ganz kalt; er stellte sich vor, daß eine zweite zahlreiche Partie Weißer unabhängig von der Expedition, die er führte – sich der Schätze bemächtigen könnte, die der alleinige Gegenstand seiner Begierde waren. Dann fürchtete er auch, daß Don Antonio vielleicht eine Abteilung seiner eigenen Truppe vorausgesandt hatte, um das Val d‘Or zu besetzen und sich darin zu befestigen. Aber ein kurzes Nachdenken zeigte ihm sehr bald die geringe Wahrscheinlichkeit seiner Befürchtungen. Eine Abteilung Weißer würde Spuren zurückgelassen haben, die er während der zwei Tage, an denen er die Ebene durchstreifte, hätte erblicken müssen; und außerdem war es nicht wahrscheinlich, daß Don Antonio es gewagt haben würde, seine Truppe durch Teilung zu schwächen. Cuchillo faßte darum wieder Mut, blieb hinter der Bodenerhöhung, die ihn und sein Pferd unsichtbar machte, und kam endlich zu dem Schluß, daß die Schüsse von einer Abteilung amerikanischer Jäger herrühren mußten, die die Grenze ihres Landes überschritten hätten und auf mexikanischem Gebiet mit den Apachen handgemein geworden wären. —
   Wir wollen Cuchillo seinem Nachdenken überlassen, um – wie versprochen – in das Lager Don Antonios zurückzukehren, und der Ordnung folgen, die wir aufgestellt haben, indem wir den Anblick der Steppe und die Stellung der verschiedenen Personen, die sie belebten, aus der Vogelperspektive beschreiben.
   Das Gewehrfeuer hatte sich den ganzen Nachmittag hindurch verlängert, und man hatte es im Lager gehört, wo es zu einer Menge von Vermutungen Veranlassung gegeben hatte. Der Abend war gekommen. Rote Wolken bezeichneten im Westen noch die Flammenspur der Sonne. Die Erde fing an, sich von der Frische der Nacht abzukühlen, und in dem Maße, als die letzten Streiflichter der untergehenden Sonne erbleichten, stieg der Mond immer glänzender empor, bis zu dem Augenblick, wo die Dämmerung verschwunden war und der helle Schein des Mondes plötzlich das Licht der Sonne ersetzte.
   Das Lager bot im Mondschein einen malerischen Anblick dar. Auf dem Hügel, der das ganze Lager beherrschte, erhob sich, wie wir schon erwähnt haben, das Zelt des Führers der Expedition mit seinem azurenen Banner und seinen goldenen Sternen gleich dem Himmel über ihm. Ein schwaches Licht schimmerte durch die Leinwand des Zeltes und bewies, daß der Führer für alle wachte. Einige Feuer, deren Herd sich in Vertiefungen befand oder mit Steinen umgeben war, um den Schein der Glut, deren Glanz die Lagerstelle hätte verraten können, zu verdecken, verbreiteten auf der ebenen Erde einen rötlichen Widerschein.
   Für den Fall eines nächtlichen Angriffs erhoben sich Haufen von Reisbündeln in gewissen Entfernungen, die sofort in Brand gesetzt werden konnten und Licht genug verbreiteten, um den Tag zu ersetzen. Von den Abenteurern lagen Gruppen auf dem Boden, andere waren mit der Bereitung des Abendessens beschäftigt; dazwischen standen Pferde und Lasttiere, die ihre Ration Mais aus leinen Krippen fraßen. Sorglosigkeit und Entschlossenheit las man im Mondlicht auf dem bronzenen Antlitz der Männer, was hinreichend bewies, daß sie sich in bezug auf die Sorge für ihre Verteidigung ganz auf die Wachsamkeit des Führers verließen, den sie gewählt hatten.
   Am Fuß des Zeltes lag sorglos ein Mann auf der Erde wie eine Dogge, die bei ihrem Herrn wacht. An den langen Haaren, an der Gitarre, die neben der Büchse lag, an den Mantelresten, mit denen er sich umhüllte, konnte man leicht den Gambusino Oroche wiedererkennen. Seine Zeit schien durch die Betrachtung eines von Sternen funkelnden Himmels und durch die Unterhaltung eines am Fuß des Hügels brennenden und mit grünen Zweigen genährten Feuers in Anspruch genommen zu sein, von dem sich der Rauch in einer perpendikularen Säule erhob, die im Mondschein silbern glänzte.
   Jenseits der Befestigung bleichten ebenfalls die Strahlen des Mondes die Ebene, wo die Kakteen und die Napals große Schatten warfen. Er ließ im Regenbogenglanz den Nebel erscheinen, der westlich vom Berg die Spitzen einer Bergkette am Horizont bedeckte. Endlich beleuchtete er auch hinter den Wagen die Schildwachen, die, die Büchse im Arm, mit spähenden Augen auf und ab gingen.
   Unter den Männergruppen, die sich sehr nahe den Wagen gelagert hatten, finden wir Benito, den Diener Don Estévans, Baraja und Pedro Diaz wieder. Alle drei unterhielten sich leise.
   »Don Benito«, fragte Baraja den alten Diener, »Ihr seid so geschickt, jedes Geräusch in der Steppe oder im Wald zu erklären; könntet Ihr uns wohl sagen, was die Flintenschüsse bedeuten, die wir den ganzen Nachmittag gehört haben?«
   »Ich kenne die Sitten der Indianer nur wenig, indes …«
   »Laßt hören!« sagte Baraja. »Nur nichts Schreckenerregendes so absichtlich verschweigen, wie Ihr es in jener berüchtigten Nacht mit den Jaguaren so gut verstanden habt.«
   »Indes«, fuhr der Diener fort, »bin ich in meiner Jugend ihr Gefangener gewesen, und wenn sie nicht etwa bei irgendeinem unglücklichen Gefangenen die Marter anwenden, die ich erduldet habe, so ahne ich nicht, was die Ursache dieses Gewehrfeuers, das wir gehört haben, sein könnte.«
   »Glaubt Ihr denn, daß sie irgend jemand in diesen Steppen gefangengenommen haben?«
   »Warum nicht?« antwortete der alte Hirt auf diese neue Frage Barajas. »Seit zwei Tagen ist unser Freund Cuchillo nicht zurückgekommen, und ich fürchte fast, daß diese Dämonen auf seine Kosten ihre Belustigungen vornehmen. Wenn es dieselbe Behandlung ist, die ich erduldet habe, so wolle Gott seine Seele annehmen!
   » Aber von welcher Behandlung sprecht Ihr denn? Diese Marter muß doch nicht so schrecklich sein, da Ihr mit dem Leben davongekommen seid.«
   »Glaubt Ihr? Gut; ich erkläre Euch, daß das Skalpieren, das Zerreißen des Körpers in Stücke, das Braten bei langsamem Feuer – daß alle Qualen, die sie erfinden, mit einem Wort nichts sind im Vergleich damit.«
   »Demonio!« erwiderte Baraja. »Ich denke doch, daß die Indianer nur in der Aufregung ein Vergnügen daran finden, jemand so zu martern?«
   »Das tun sie, wenn sie bei guter Laune sind; denn es ist sehr selten, daß sie nicht zufrieden wären, wenn sie einige Gefangene gemacht haben. Also – sollte das Unglück es wollen, daß Ihr in ihre Hände fielet, Freund Baraja, so bittet Gott, daß die Apachen an diesem Tag bei lustiger Laune sind, und Ihr werdet eine grausame Todesstrafe erdulden, aber doch wenigstens eine sehr kurze.«
   »Fünf oder sechs Minuten, meine ich?«
   »Fünf oder sechs Stunden – zuweilen auch länger —, aber …«
   Benito wurde durch die Ankunft Oroches unterbrochen.
   »Senor Diaz«, sagte der letztere, »Don Estévan hält es für nötig, einen Augenblick mit Euch zu sprechen, und bittet Euch, zu ihm ins Zelt zu kommen.«
   Diaz erhob sich, folgte Oroche und ließ Baraja und Benito in ihrer Unterhaltung fortfahren.
   »Ich habe die besorgte Miene Don Estévans bemerkt«, sagte Benito. »Obgleich er niemals recht fröhlich gewesen ist seit der Abreise von der Hacienda – und besonders seit dem Augenblick, wo dieser junge Mann durch sein Pferd mit in den Waldstrom hinabgerissen wurde —, so ist er mir doch heute düsterer als gewöhnlich vorgekommen.« Baraja empfand bei dieser Gelegenheit einige Gewissensbisse, denn wenn man sich noch erinnert, was Pepe der Schläfer dem Kanadier erzählte, so war der Abenteurer einer von denen gewesen, die ihrerseits Feuer auf den Spanier und Fabian gegeben hatten. Er ließ also die Unterhaltung fallen, um sie an dem Punkt wiederaufzunehmen, wo sie unterbrochen war. Ihr sagtet also«, wiederholte er, »daß eine solche Marter fünf oder sechs Stunden dauere, zuweilen länger, aber …«
   »Aber niemals kürzer. Ihr werdet übrigens nach meiner Erzählung urteilen, daß eine sechsstündige Marter zuweilen besser ist als eine vierundzwanzigstündige, denn unter allen Todesarten ist die grausamste die, vor Furcht zu sterben.«
   »Zum Teufel mit Euren Geschichten!« rief Baraja. »Ich weiß nicht, warum ich so wahnwitzig bin, Euch so zu befragen.«
   »Es ist schrecklich, aber belehrend; und da Ihr jeden Augenblick den Indianern in die Hände fallen könnt, so ist es doch gut, zu wissen, welches Schicksal Euch in einem solchen Fall bevorstehen kann; es ist doch immer ein Trost in Ermangelung eines besseren.«
   »So macht doch ein Ende!« sagte Baraja seufzend. »Ich sehe wohl, daß alles in allem das Gewerbe eines Goldsuchers ein verwünschtes Geschäft ist.«
   »Ich habe immer«, fuhr der Erzähler fort, »mit Recht oder Unrecht gedacht, daß sich immer nur das ereignet, was sich ereignen muß, und daß man folglich über nichts in Schrecken zu geraten braucht. So sagte ich denn auch zu mir, als ich den Indianern in die Hände fiel, daß sie tun könnten, was ihnen beliebte; wenn ich nicht sterben sollte, so würde ich doch nicht sterben. Nun, die Indianer waren an diesem Tag in sehr mürrischer Laune, weil wir in einem Scharmützel nicht wenige Krieger getötet hatten. Sie beratschlagten anfangs – ich merkte es sehr gut an ihren Gebärden —, ob ich skalpiert, bei lebendigem Leibe erdrosselt oder in Stücke gehauen werden sollte. Endlich brachte ein Führer, dessen Aufregung außerordentlich war, seine Krieger dahin, daß man mich an einen Pfahl band, um ihnen als Zielpunkt in der Handhabung der Büchse zu dienen.
   Sie hatten einen langen Tag vor sich, und ich sollte die Kosten ihres Vergnügens für einen ganzen Tag bezahlen. Ich hatte einige Worte aus ihrer Unterhaltung verstanden und dachte, weil ich gegen alle Gewohnheit weder skalpiert noch lebendig gebraten werden sollte, so könnte ich vielleicht allem anderen noch entgehen. Wirklich war ich vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne ein Zielpunkt für ihre Büchsen. Jeder Krieger trat vor, wenn die Reihe an ihn kam, zielte nach meinem Kopf und gab Feuer. Ich hielt so 284 Schüsse aus, nicht mehr und nicht weniger; ich zählte der Zerstreuung halber, denn die Zeit schien mir sehr lang.«
   »Ich glaube es«, sagte Baraja im Ton der Überzeugung. »Aber Señor Benito, Ihr bindet uns etwas auf mit Euren 284 Büchsenschüssen!«
   »Ich kann nicht einen einzigen ablassen. Ich habe Euch ja gesagt, daß die Indianer sehr aufgeregt waren, und um sich zu trösten, machten sie den Versuch, mich vor Furcht sterben zu lassen. Die schlechtesten Schützen, die mich sofort hätten töten können, schössen nur mit Pulver nach mir. Öfter als zweihundertmal fühlte ich, wie das pfeifende Blei meine Haarbüschel bewegte. Dann aber, als sie sahen, daß diese fürchterliche Angst mich nicht getötet hatte, banden sie mich los. Ich hatte zwölf Stunden am Pfahl gestanden und kann sagen, daß ich 284mal erschossen wurde. Glaubt Ihr noch«, schloß der Erzähler, »daß dies keine grausamere Behandlung gewesen ist als der wirkliche Tod und daß, wenn die Annäherung des einfachen Todes zuweilen eine solche Entmutigung und Angst bei dem Kühnsten hervorbringt, es nicht eine Höllenqual ist, seine Seele zwanzigmal in der Stunde Gott zu empfehlen? Das heißt, alle drei Minuten einmal, denn in jedem Augenblick glaubte ich, daß dieses barbarische Spiel zu Ende, jeder Schuß der letzte sein würde.« Die beiden Sprecher waren eine kurze Zeit schweigsam: Benito dachte an die Erinnerungen aus seiner Jugend und war in Nachdenken versunken; Baraja belauschte angestrengt sozusagen das Schweigen der Steppe, in der so fürchterliche Dramen aufgeführt wurden. Der Gedanke an eine schreckliche Todesmarter, die fünf bis sechs Stunden – zuweilen länger, niemals jedoch kürzer – dauern konnte; diese 284 Büchsenschüsse, von denen der alte Hirt auch nicht einen ablassen wollte – all dies verdüsterte die Gedanken Barajas. Und doch trieb ihn eine unbesiegbare Neugierde, gegen seinen Willen den Greis noch weiter zu befragen. »Ihr glaubt also«, sagte Baraja, das Wort wieder aufnehmend, »daß vielleicht einer der Unseren den Indianern zur Belustigung gedient hat?«
   Cuchillo oder Gayferos, der Mann, den man zu seiner Suche ausgesandt hat; der eine oder der andere oder vielleicht alle beide!« antwortete Benito. »Und Gott gebe, daß sie die Kraft gehabt haben, unser Dasein an dieser Stelle nicht zu verraten!«
   »Fürchtet Ihr das?« sagte Baraja.
   »Diese Indianer sind teufelsmäßig neugierig, und sie haben Mittel, Euch Eure Geheimnisse zu entreißen, im Vergleich mit denen die der heiligen Inquisition nur Kinderspiele waren. Und obwohl sie dank der Geschicklichkeit Pedro Diaz‘ unsere Spur verloren haben, so kann doch ein unvorsichtiges Wort eines Gefangenen sie nach unserem Lager führen.«
   »Was Ihr da sagt, ist fürchterlich!« murmelte Baraja. »Aber belehrend, wiederhole ich Euch. Ihr denkt doch noch an die Nacht mit den Jaguaren?«
   »Wollte Gott, ich wäre noch da! Wir hatten es doch höchstens mit zwei Tieren zu tun; und hier mit wie vielen roten Dämonen? Man wagt gar nicht, es zu berechnen.«
   »Kaum hundert«, erwiderte der alte Hirt phlegmatisch; »selten sind sie in größerer Zahl auf dem Marsch. Wohlan, um auf die Nacht an der Poza zurückzukommen; der Schrecken unserer Pferde machte Euch selbst Furcht, aber er belehrte Euch wenigstens über die Gefahr. Die Furcht abgerechnet, die ich nicht kenne, spiele ich für Euch die Rolle der Pferde, deren Instinkt …« Der alte Vaquero unterbrach sich, um den Kopf rechts und links zu wenden. »… deren Instinkt sie niemals täuscht«, fuhr er fort. »Ei, seht doch, die Maultiere hören auf, ihren Mais zu fressen, und scheinen zu horchen.«
   Baraja erbebte sichtlich.
   »Seht dort das edle Schlachtroß von Pedro Diaz, wie es den Hals lang macht, als ob es die Gefahr wittere, wonach sein Herr und es selbst so begierig zu sein scheinen.«
   »Nun, was beweist das?«
   »Noch nichts; aber wenn diese Tiere, anstatt nur mit dem Fressen aufzuhören – oder wie jenes dort, anstatt die Nüstern zu öffnen und den Hals auszustrecken —, schaudern und dumpf schnauben, so will das sagen, daß die Indianer nicht fern sind. Die Pferde erkennen den Herrn in ihnen an! Denn es läßt sich nicht leugnen: Diese Dämonen allein haben den wilden und majestätischen Anblick der Könige der Schöpfung beibehalten.«
   »Caramba!« sagte Baraja. »Wollt Ihr Loblieder auf die Indianer anstimmen, wie Ihr es bei den Jaguaren getan habt?«
   »Warum nicht? Ich lasse meinen Feinden da Gerechtigkeit widerfahren, wo es nötig ist. Aber beruhigt Euch; die Maultiere fangen wieder an zu fressen, und Diaz‘ Pferd scheint falschen Lärm gemacht zu haben. Werfen wir einen Blick rings um das Lager!«
   Mit diesen Worten erhob sich Benito, von Baraja gefolgt, den seine Erzählungen zugleich erschreckten und bezauberten; er schlüpfte unter die Wagen, um die schweigende Unermeßlichkeit, die sie umgab, zu befragen. Aber nichts ließ die Nähe einer Gefahr ahnen. Einer der auf Wache stehenden Reiter ging vorüber, die Büchse im Arm.
   »Habt Ihr nichts gesehen, nichts gehört?« fragte der gewesene Hacendero.
   »Ich habe nichts gesehen«, antwortete die Wache. »Nur habe ich das Wiehern eines Pferdes zu hören geglaubt; es kam aus einem jener kleinen Täler, die Ihr dort unten seht; aber ich werde mich ohne Zweifel getäuscht haben. Trotz alledem aber bin ich doch erstaunt, daß weder Cuchillo noch Gayferos zurückkehrt.«
   Nach diesen Worten ging der Reiter wieder auf und ab, und die beiden Sprecher setzten sich wieder an den Platz, den sie eingenommen hatten.
   »Es ist unklug«, fuhr Benito fort, »daß mitten unter allen Vorsichtsmaßnahmen, die Don Estévan de Arechiza stets beachtet hat, er diese Rauchsäule den ganzen Nachmittag hat unterhalten lassen. An einem heiteren Himmel wie diesem hier ist es ein Zeichen, das weithin sichtbar ist.«
   »Ich gebe es zu«, erwiderte Baraja; »aber Ihr wißt, daß unser Führer Cuchillo notwendig ein Zeichen haben mußte, um sich zurechtfinden zu können. Die Menschlichkeit einerseits und unser persönlicher Vorteil andererseits geboten unserem Chef diese Vorkehrung, so gefährlich sie auch sein mag.«
   »Die Menschlichkeit – ich sage nicht nein; aber unser persönlicher Vorteil! Was trifft den Reisenden, der des Nachts den Irrlichtern in die Sümpfe folgt? Er fällt in lockeren Schlamm und versinkt. Wohlan, unter uns gesagt, Cuchillo scheint mir seinem Gesicht nach einer jener Führer zu sein, der statt zu Goldminen nur in Sümpfe leitet.«
   »Habt Ihr nichts von dem Gerücht gehört, das sich unter den Leuten unserer Expedition gebildet hat?«
   »Welches? Daß diese Expedition nicht so aufs Geratewohl hin wie die frühere unternommen ist und daß Don Estévan in diesen Einöden das Dasein eines unermeßlichen Goldlagers kennt?«
   »Ohne Zweifel kennt er dessen Dasein, denn ich will darauf wetten, daß dieses Gerücht begründet ist; aber er kennt die Lage nicht, und ich habe gute Gründe, zu glauben, daß Cuchillo in dieser Beziehung viel mehr weiß, als er sagen will, und daß sein Tod für uns ein unersetzlicher Verlust sein würde.«
   »Das bezweifle ich«, erwiderte der alte Diener, den Kopf schüttelnd. »Das Gesicht Cuchillos ist eines von denen, in denen ein geübtes Auge sich nicht täuscht. Übrigens wünsche ich sehr, mich zu täuschen.«
   »Bah! Ihr seht alles schwarz.«
   »Ich muß Euch in der Tat vorkommen wie jene Vögel von böser Vorbedeutung, die nur traurige Kunde geben. Niemand fürchtet die Gefahr weniger als ich; und doch scheint es mir, als ob Gott mir einen geübteren Sinn, sie vorher zu ahnen, verliehen hätte. Ich weiß nicht, welche innere Stimme mir heute abend zuruft, mein Leben zu hüten; und warum, wenn wir es recht betrachten? Wer kann das hindern, was kommen soll? Ach, seht doch, diese Tiere hören abermals auf zu fressen, um zu horchen!«
   »Wenn sie nur nicht noch anfangen zu schaudern«, sagte Baraja.
   »Was ist dabei zu tun?« erwiderte der alte Hirt. »Was mich betrifft, so werde ich, wenn Ihr nichts dagegen habt, mich auf meinen Mantel legen und schlafen.« Und indem er die Tat den Worten folgen ließ, wickelte sich Benito in seine wollene Decke – ebenso, wie er sich in seinen Fatalismus einhüllte – und streckte sich lang aus, mit dem Kopf an einen Packsattel gelehnt, wie diese am Fuß der Einfriedung aufgehäuft lagen.
   Aber Baraja war weit davon entfernt, ein Anhänger derselben Lehre wie der alte Hirt zu sein. Seine Einbildungskraft zeigte ihm tausend schreckliche Erscheinungen, die vor ihm aus der stets so feierlichen Dunkelheit der Steppe auftauchten. Er glaubte jeden Augenblick das Geheul der Indianer hören zu müssen, das die tiefe Stille unterbrach, in der sich Gefahren verbargen, von denen die kleinste das Haar auf dem Kopf sich sträuben ließ. Besonders in der Nacht hat auch der mutigste Mann solch schwache Augenblicke, und der ruinierte Hacendero war, ohne gerade einen für alle Fälle erprobten Mut zu haben, doch weit davon entfernt, ein Feigling zu sein. Er versuchte vergeblich, sich wie sein Gefährte in alles zu ergeben und ebenfalls einzuschlafen; aber er war noch zu sehr Neuling in dieser an Gefahren und Abenteuern reichen Laufbahn, um die philosophische Sorglosigkeit Benitos zu besitzen. Weit davon entfernt, wie dieser zu glauben, daß man einer unvermeidlichen Gefahr gegenüber nichts weiter tun könne, als den Kopf zu beugen, war der gewesene Hacendero vielmehr der Ansicht, das beste Mittel, sie zu vermeiden, sei das, ihr zu entfliehen.
   Allein in diesen Einöden, die das Mondlicht wie einen See erstrahlen ließ, wo der Tod überall lauern konnte, wäre es ebenso gefährlich gewesen, aus dem Lager zu fliehen, als ein Schiff in der Gefahr zu verlassen, um sich in die unbekannten Tiefen des Ozeans, die der gierige Hai durchstreift, hineinzustürzen.
   Nach einem langen Tagesmarsch schliefen alle Abenteurer lang ausgestreckt auf dem Sand; die Posten allein waren wach und ließen den Kies unter ihren Füßen erknirschen. Dieses von keinem anderen Geräusch unterbrochene Schweigen beruhigte endlich Baraja, als der Abendwind ihm noch den Schall einiger jener fernen Schüsse zutrug, die man während des Tages gehört hatte. Dieser Umstand widersprach den Behauptungen des alten Vaqueros in bezug auf die Marter von Gefangenen.
   Baraja stieß den alten Diener mit dem Ellbogen. »Man schießt noch dort unten!« sagte er.
   Der Vaquero lauschte. »Das ist richtig. Wenn dies jedoch kein Zeichen ist, daß Cuchillo oder Gayferos zum Zielpunkt indianischer Büchsen dienen, so freue ich mich darüber und wünsche Euch eine gute Nacht. Schlaft ebenfalls, Freund Baraja; in den Steppen ist die Zeit zum Schlafen sehr kostbar, obgleich man jede Minute in die Lage kommen kann, auf ewig einzuschlafen.« Nach diesem erschreckenden Ausspruch hatte der alte Vaquero seinen wollenen Mantel wieder über seine Augen gebreitet, um sie vor den lästigen Strahlen des Mondes zu schützen, als das dumpfe Schnauben der Lasttiere ihn abermals den Kopf heben ließ. »Ach«, sagte er, » die roten Teufel schweifen nicht weit von hier umher!«
   Ein Wiehern, das aus der Tiefe der Ebene herüberscholl, ließ sich, begleitet von einem Alarmruf, aus der Ferne vernehmen; zu gleicher Zeit, als ein Reiter mit verhängten Zügeln herbeisprengte. Und wie als letztes Anzeichen der Gefahr ließ der Instinkt die Tiere schweigen; ihrem dumpfen Schnauben folgte ein Schaudern vor Schrecken, das ihnen der Abendwind aus westlicher Richtung zuzutragen schien.
   »Das ist Cuchillo!« schrie der Vaquero beim Anblick des Reiters, der im Galopp herbeikam. Dann fügte er ganz leise hinzu, so daß nur Baraja ihn hörte: »Möge der Reisende sich in acht nehmen, wenn der Irrwisch in der Ebene tanzt!«


   29. Die Bekehrung eines Republikaners

   An diesem Abend wachte Don Estévan wie gewöhnlich in seinem Zelt, während seine Leute der Ruhe pflegten. Beim Schein eines düster brennenden Talglichts schien der Spanier unter seinem staubbesudelten Anzug, trotz des bescheidenen Aussehens seiner Wohnung aus Leinwand, doch nichts von seiner würdigen Haltung und seiner ausgezeichneten Persönlichkeit verloren zu haben. Seine Gesichtsfarbe, die sonnverbrannter war als in dem Augenblick, wo wir ihn zum erstenmal gesehen haben, gab seinen Zügen einen noch energischeren Charakter.
   Er schien noch ebenso nachdenklich als zur Zeit, wo er vom Pferd gestiegen und in das für ihn errichtete Zelt getreten war; aber sein Nachdenken hatte nicht mehr denselben sorgenvollen Ausdruck. Am Vorabend des Tages, wo nach tausend Gefahren seine weiten Pläne sich zu verwirklichen begannen, hatte Don Antonio de Mediana endlich wenigstens für den Augenblick die Niedergeschlagenheit von sich abgeschüttelt, die durch die früheren Ereignisse bis heute auf ihm gelastet hatte. Seine Seele war wieder hart geworden in der Hoffnung eines nunmehr unzweifelhaften Erfolgs.
   Er hatte die Leinwand aufgehoben, die den Türvorhang seines Zelts bildete, um einen raschen Blick auf die Männer, die unter seinem Schutz ruhten, und auf den nebligen Horizont zu werfen, der die »Nebelberge« bedeckte; er schien seine Mittel zum Handeln mit dem Zweck vergleichen zu wollen, den er verfolgte.
   Der Anblick dieser sechzig Männer jedoch, die seiner Autorität gehorchten, brachte ihn auf eine andere Gedankenreihe. »Geradeso«, sagte der Spanier zu sich, »war es vor zwanzig Jahren; ich befehligte eine fast gleiche Anzahl von ebenso entschlossenen Seeleuten, als diese Abenteurer sind, die hier lagern. Ich war zu jener Zeit nur ein unbekannter jüngerer Sohn einer Familie, und sie waren es, die mir geholfen haben, meine Erbschaft wiederzuerobern … ja, es war gewiß die meinige. Aber damals stand ich in der Blüte des Alters; ich hatte ein Ziel vor mir zu verfolgen, ich habe es erreicht … ich bin selbst darüber hinausgegangen; und doch finde ich mich heute, da ich nichts mehr zu wünschen habe, in reifem Alter wieder, daß ich die Steppen durchstreife, gerade wie ich die Meere durchfurchte und mein Banner auf ihnen entfaltete! Warum …?«
   Die innere Stimme Medianas rief ihm zu, daß es geschah, um einen Tag seines Lebens zu vergessen; aber in diesem Augenblick wollte Don Antonio sie nicht hören.
   Der Mond schien auf die im Lager pyramidenförmig geordneten Büchsen; er beleuchtete sechzig an Kampf und Gefahr gewöhnte Männer, die, nüchtern und unermüdlich, über Durst und Sonnenbrand lachten. In der Ferne spielte ein glänzender Duft wie bleiches Gold im Nebel der Berge, neben denen sich das Val d‘Or ausbreitete.
   »Warum?« wiederholte Don Antonio. Und er antwortete selbst auf seine eigene Frage: »Weil mir noch ein unermeßlicher Schatz und ein großes Königreich zu erobern bleiben.«
   Die Augen Medianas funkelten vor Stolz; doch bald erlosch dieser Blitz, und er heftete einen melancholischen Blick auf den Horizont.
   »Indessen«, fuhr er fort, »was werde ich von diesem Schatz für mich behalten? Nichts. Diese Krone – ich werde sie auf das Haupt eines anderen setzen. Und ich werde nicht einmal zum Lohn einen Sohn haben, einen Nachkommen, der den Namen Mediana trägt und sich eines Tages vor meinem Bildnis beugt, während er bei dessen Anblick die Worte spricht: ›Dieser hier konnte weder durch einen Schatz noch durch einen Thron in Versuchung geführt werden …‹ Man wird es nur, solange ich lebe, sagen … Doch alles in allem ist auch das ein schönes Los.«
   Pedro Diaz, der, wie man gesehen hat, zu Don Estévan beschieden war, hob den Zeltvorhang in dem Augenblick auf, als dieser ihn fallen ließ. Der Chef hatte seine feste, entschiedene Haltung wieder angenommen.
   »Ihr habt mich herbeschieden, Don Estévan, und da bin ich«, sagte der Abenteurer, indem er seinen betreßten Filzhut abnahm.
   »Ich habe mit Euch über wichtige Dinge zu reden, die ich Euch gestern nicht sagen konnte und Euch heute sagen muß«, erwiderte Arechiza; »denn ich habe auch einige Fragen an Euch zu richten, und obwohl es jetzt die Stunde der Ruhe ist, so können wir sie doch noch lange Zeit aussetzen. Wenn ich mich nicht täusche, Diaz, so gehört Ihr zu jenem Schlag von Männern, die nur ausruhen, wenn sie nichts Besseres zu tun haben. Die Ehrgeizigen sind einmal so«, fügte Don Estévan lächelnd hinzu.
   »Ich bin nicht ehrgeizig, Señor de Arechiza«, erwiderte ruhig der Abenteurer.
   »Ihr seid es, ohne es zu wissen, Diaz, und ich werde es Euch sogleich beweisen. Doch zuvor sagt mir, was denkt Ihr von diesem fernen Gewehrfeuer?«
   »Die Menschen treffen einander auf dem Meer, dessen Oberfläche ohne Vergleich viel umfangreicher ist als die unserer Steppen; es ist darum nicht sonderbar, daß sie einander hier begegnen. Reisende und Indianer haben sich plötzlich einander gegenüber gefunden und schlagen sich.«
   »Das war auch mein Gedanke«, sagte der Chef. »Noch eine andere Frage …, dann werden wir auf den Gegenstand der Unterhaltung zurückkommen, der mir am Herzen liegt. Ist Cuchillo wieder eingetroffen?« fragte der Spanier.
   »Nein, Señor, und alles läßt mich befürchten, daß wir den Führer, der uns bis heute geführt hat, verloren haben.«
   »Und welcher Ursache schreibt Ihr dieses sonderbare Ausbleiben zu?« erwiderte Don Estévan mit einer besorgteren Miene, als er vielleicht selbst zu zeigen dachte.
   »Es ist wahrscheinlich, daß er die Spur der Apachen zu weit verfolgt hat und durch einige dieser Räuber erwischt worden ist. In diesem Fall möchte seine Abwesenheit wohl ewig dauern, trotz der Feuer, die wir seit zwei Tagen anzünden, damit die Rauchsäule, die sich erhebt, ihm unseren Lagerplatz anzeige.«
   »Sind das Eure geheimsten Gedanken, obgleich – um die Wahrheit zu sagen – Cuchillo zu den Leuten gehört, die man selten mit Unrecht einer Treulosigkeit anklagt? Aber noch ahne ich nicht, zu welchem Zweck er uns verraten haben könnte.« Don Estévan hob eine Seite seines Zelts empor und zeigte Pedro Diaz mit dem Finger den Nebelschleier, der den Gipfel der Berge am Horizont umhüllte. »Die Nähe dieser Berge«, sagte er mit nachdenklichem Ton, »könnte uns vielleicht die Abwesenheit Cuchillos erklären.« Dann sagte er mit plötzlich verändertem Ausdruck: »Und ist der Geist unserer Leute immer noch derselbe?«
   »Immer noch, Señor«, erwiderte Diaz. »Mehr als jemals vertrauen sie ihrem Chef, der für sie wacht, wenn sie schlafen, und der nichtsdestoweniger wie der Letzte unter ihnen kämpft.«
   »Ich habe mich ein wenig auf allen Punkten der Erdkugel geschlagen«, sagte Arechiza, der für ein Lob empfänglich war, dessen Aufrichtigkeit ihm nicht verdächtig schien, »und habe selten entschlossenere Männer als diese hier kommandiert. Wollte Gott, es wären fünfhundert, statt sechzig, dann wären nach der Rückkehr von der Expedition meine Pläne leicht zu verwirklichen.«
   »Ich weiß nicht, welches die Pläne sind, von denen Eure Herrlichkeit zum erstenmal zu mir spricht«, erwiderte Diaz mit zurückhaltendem Ton; »aber vielleicht hält mich Señor Arechiza nur darum für ehrgeizig, weil er mir die Ehre erweist, mich nach sich selbst zu beurteilen.«
   »Das ist möglich, Freund Diaz«, antwortete der Herzog von Armada lächelnd. »Das erstemal, als ich Euch sah, habe ich geglaubt, daß ein Herz von Eurem Schlag mit dem meinigen übereinstimmen müsse. Wir sind gemacht, um uns zu verstehen, und ich bin überzeugt, daß es der Fall sein wird.«
   Der Mexikaner besaß ganz den lebhaften Verstand seiner Landsleute. Er hatte sich ein Urteil über Arechiza gebildet, aber er wartete, daß dieser zuerst den Anfang mache; er verbeugte sich höflich und schwieg.
   Der Spanier schob zum zweitenmal den Vorhang seines Zelts beiseite und zeigte mit dem Finger auf den Horizont. »Noch einen Tagesmarsch«, sagte er, »und morgen werden wir am Fuß dieser Berge dort hinten lagern.«
   »Gewiß«, sagte Diaz, »wir sind kaum sechs Meilen davon entfernt.«
   »Das ist es nicht, was ich damit sagen wollte«, fügte Don Estévan hinzu; »aber jene Nebeldecke, die ihren Gipfel umkränzt, während an ihrem Fuß der Mond die Ebene mit bleichem Licht erleuchtet – wißt Ihr, was sie verbirgt?«
   »Nein«, sagte der Mexikaner.
   Der Herzog von Armada warf einen Blick auf Diaz, der bis auf den Grund seiner Seele dringen zu wollen schien. In dem Augenblick, wo er im Begriff stand, dem Abenteurer das Geheimnis zu enthüllen, das er bisher sorgfältig verborgen gehalten hatte, wollte der spanische Señor sich versichern, ob derjenige, den er zu seinem Vertrauten machte, dieses Zeichen von Vertrauen auch wohl wert sei. Das redliche Gesicht Diaz‘, auf dem man keine der gierigen Leidenschaften lesen konnte, die bei seinen Gefährten die Triebfeder des Handelns waren, beruhigte ihn.
   Der Spanier fuhr sogleich fort: »Wohlan! Nach diesen Bergen marschieren wir von Tubac an. Ich werde Euch sagen, warum ich die Expedition nach diesem Ziel geführt habe, wie der Steuermann das Schiff nach einem Punkt im Ozean steuert, den nur er allein kennt. Heute abend sollt Ihr in meinen Gedanken lesen wie ich selbst. Wir sind gemacht, uns zu verstehen, sagte ich Euch. Jene Nebeldecke, die die Sonne morgens bei ihrem Aufgang nicht zerstreuen wird, verhüllt Schätze, die Gott vielleicht seit dem Anfang der Welt dort aufgehäuft hat. Seit Jahrhunderten führt das Regenwasser sie in die Ebene hinab; die Weißen haben sie niemals anders als nur halb gesehen, und die Indianer haben sie nicht angerührt. Morgen werden diese Schätze unser sein. Das ist der Zweck, den ich verfolge. Nun, Diaz, Ihr fallt nicht aufs Knie, um dem Himmel zu danken, daß Ihr zu denen gehört, die berufen sind, sie einzusammeln?«
   »Nein«, sagte der Abenteurer einfach; »die Habgier hätte mich nicht dahin gebracht, den Gefahren Trotz zu bieten, die die Rachsucht mich hat suchen lassen. Ich hätte durch die Arbeit meiner Hände das erlangt, was so viele andere auf leichteren, aber weniger sicheren Wegen zu erreichen suchen. Die Indianer haben meine Felder verwüstet, meine Herden geraubt, meinen Vater und meine Brüder ermordet; ich allein nur habe ihrer Wut entrinnen können. Seit dieser Zeit habe ich die Staatsordnung verflucht, die unsere reichen Provinzen nicht zu schützen versteht. Ich habe den Indianern einen erbitterten Krieg erklärt; ich habe die dreifache Anzahl ihrer Schlachtopfer getötet; ich habe die Söhne dieser Hunde zu Dutzenden verkauft – immer ist es noch die Hoffnung auf Rache, die mich hierher geführt hat; nicht der Ehrgeiz, nicht die Habgier. Aber ich liebe mein Vaterland, und ich möchte von diesen Schätzen nur darum besitzen, um noch den letzten Versuch zu machen, an diesem fernen Kongreß Wiedervergeltung zu üben, der uns tyrannisiert und es nicht versteht, uns zu schützen!«
   »Gut, Freund Diaz, gut!« sagte der Spanier, indem er dem Abenteurer die Hand reichte.
   Dieser fuhr heftig fort: »Stark durch die Hilfe, die das Gold mir gewährt, würde ich es dahin bringen, daß diese sechzig Männer, die da unter Euren Augen schlafen, meine Beschwerden mit mir teilten. Bei unserer Rückkehr müßte das der Gießbach werden, der in seinem Lauf immer mehr anschwillt, und wir würden das Joch einer Hauptstadt abschütteln, die nichts versteht, als nur in jedem Augenblick Personen und Prinzipien zu wechseln.«
   Don Estévan hatte schon in früheren Unterhaltungen mit Diaz einen dumpfen Haß gegen das Föderalsystem durchschimmern gesehen; aber noch niemals bis jetzt hatte sich sein Groll so klar erkennen lassen. Er wollte wissen, ob er sich nur auf persönliche Beweggründe stützte, ähnlich denjenigen, die er eben auseinandergesetzt hatte. »Der Kongreß ist sehr weit von Euch«, sagte er mit verstellter Gutmütigkeit; »der Regierung von Mexiko fehlt es an den notwendigen Truppen und Geldmitteln, um so entfernte Provinzen, als die euren sind, zu beschützen. Das ist ohne Zweifel der schwerste Vorwurf, den Ihr dieser macht?«
   »Der einzige Vorwurf? Wollte Gott, es wäre so! Es gibt aber noch andere. Die Unabhängigkeit ist für uns nur ein leeres, inhaltsloses Wort, und wir haben nur die Lasten von diesem fernen Mittelpunkt. Kaum überläßt man uns noch die Wahl unserer Alkalden. Unsere Zölle, unsere Finanzen, unsere Soldaten sind ein Weideplatz für ehrgeizige Wühler geworden, die heute in der Hauptstadt ein Prinzip an die Spitze stellen, das andere siegreiche Ruhestörer morgen mit Füßen treten. So werden diejenigen, die tags vorher auf den Schild erhoben wurden, am folgenden Tag schon geächtet! Menschen und Prinzipien – alles ist abgenutzt. Die so oft gewechselten Fahnen vereinen niemand mehr unter sich; wir wollen weder von den einen noch von den anderen etwas wissen. Unsere Frauen sind schöner, unsere Felder fruchtbarer, unsere Minen ebenso reich und unsere Männer tapferer als die ihrigen; was haben wir also von den Staaten des Zentrums zu erwarten?«
   Arechiza betrachtete mit stolzer Freude den Abenteurer, dessen Enthusiasmus so gut seine ehrgeizigen Absichten unterstützte. »Fügt hinzu«, unterbrach er ihn, »daß Gesetze, von einem Kongreß ausgehend, den man zu lenken wüßte, die Fremden in euer Land rufen würden, anstatt sie zurückzuhalten, wie man es bis jetzt getan hat. Die europäischen Schiffe würden sich in eure Häfen drängen, eine edle Bevölkerung würde nach eurem fruchtbaren Boden hinströmen, und aus einem Staat zweiten Ranges, aus einem zerstückelten Bundesstaat würde bald ein reiches und mächtiges Land erstehen!«
   Arechiza schwieg und forschte mit aufmerksamem Blick nach der Wirkung, die seine Worte auf den hochherzigen Sinn des Abenteurers hervorbrachten. Deren Eindruck wäre auch jedem anderen weniger scharfsichtigen Auge, als das des Spaniers war, sichtbar gewesen. Die Aussicht, zur Erhebung seines Landes beizutragen, verband sich mit der Hoffnung, das Joch eines Bundes abzuschütteln, der ihm hassenswert erschien, und verlieh dem Gesicht Diaz‘ einen Ausdruck von Enthusiasmus, den der Herzog zu benützen beschloß.
   »Und durch welchen Zufall«, fragte der erstaunte Mexikaner, »befinden sich Eure Gedanken hierin auf gleichem Weg mit den meinigen?«
   »Ich habe oft über die glänzende Zukunft nachgedacht, die sich der Staat Sonora durch seine Trennung von den Zentrumsstaaten bereiten könnte«, antwortete Arechiza gleichgültig.
   »Und Ihr glaubt also wie ich, daß die Lage Sonoras, seine Fruchtbarkeit, seine Reichtümer ihm eine glänzende Zukunft sichern?«
   »Aber«, fuhr der Spanier fort, »um aus Sonora einen an Kraft und Macht den europäischen Nationen gleichen Staat zu machen, muß er die Anfänge seines Glücks an derselben Quelle schöpfen. Ist er erst einmal seiner freien Tatkraft wiedergegeben, so wird ihm nur noch eine einzige Bedingung fehlen, um Großes zu vollbringen: ein Mann, dessen verständige und feste Hand die nach allen Seiten hin zerstreuten Keime der Kraft sammeln kann. Unter solchen Bedingungen würde ich, den Ihr nur unter dem Namen Arechiza kennt, die Schätze zu Eurer Verfügung stellen, Señor Diaz!«
   »Einen Chef, meint Ihr, Don Estévan?«
   »Mehr als einen Chef – einen König!«
   Bei diesem Wort fuhr der Abenteurer zusammen wie ein wildes Pferd, das den Sporn zum erstenmal fühlt.
   »Einen König!« fuhr der Spanier fort, als ob er auf einmal ein republikanisches Ohr an diesen fremdartig klingenden Namen gewöhnen wollte. »Europa verdankt es nur seinen Königen, den ganzen Erdkreis zuerst unterworfen und dann aufgeklärt zu haben.«
   »Einen König?« wiederholte langsam der Abenteurer. »Aber ein König ist die Geißel eines Volkes!«
   »Irrtum!« sagte der Spanier feierlich. »Als gegen das Ende des letzten Jahrhunderts der Geist des Schwindels durch das alte Europa, dessen Verfall schon begonnen hat, gegangen war, verleugneten einige Völker, die es bewohnen, ähnlich dem Wahnsinnigen, der in seinen Eingeweiden mit eigenen Händen wühlt, ihre Vergangenheit und sprachen wie Ihr: ›Die Könige sind die Geißeln der Völker.‹ Sie erkannten ihre Geschichte nicht mehr an und verzichteten auf die glorreichen Erinnerungen, die auf ihren Seiten verzeichnet stehen. Unfähig nun, irgend etwas aufzubauen, wollten sie alles niederreißen. Also sprachen sie zu den Söhnen derer, die durch ihren Namen an Tugend, Mut und Ruhm erinnerten: ›Ihr sollt die eitlen Titel, die euch eure Väter hinterlassen haben, nicht mehr tragen; die Ehren, von denen ihr umgeben wart; die Vorrechte, die ihr genossen habt, verschwinden künftig vor dem großen Prinzip, das alle Menschen gleich macht.‹ Du Armer sollst sie nicht mehr führen, diese Titel, ohne doch deiner Familie eine andere Erbschaft hinterlassen zu können; diese Auszeichnung verdunkelt diejenigen, deren Väter sich ausruhten im Schatten ihres Kramladens oder unter den Buchen auf ihrem Feld, während der Vater des Mannes, den sie beraubten, auf den Schlachtfeldern sein Blut vergoß, um den Kramladen oder die Furche der Väter der Räuber zu schützen. Wie, Diaz? Wenn Ihr Euer Vaterland wieder neu erstehen laßt; wenn Ihr es einer Knechtschaft, unter der es seufzt, entreißt, soll da Euer Sohn kaum das Recht haben, Euren Namen zu tragen?« Diaz hörte dem Spanier aufmerksam zu, der fortfuhr: »Wißt Ihr, was ein König ist? Er ist der Felsendamm, die steile Küste, die Gott dem Ozean als Grenze setzt. Wie die Fluten des Ozeans am Gestade, so bricht sich der umwälzende Ehrgeiz, dem die Völker stets als Opfer fallen, am König. Diese Völkerflut, die unaufhörlich in der Hauptstadt Eurer Republik grollt und die in ihrem Lauf weder Damm noch Gestade trifft, wodurch sie aufgehalten werden könnte, überströmt rauschend Euer Land bis zur Grenze und hat die Verwüstung und den Umsturz in ihrem Gefolge. Wißt Ihr, was ein König ist? Das ist ferner die mächtige Hand, die die Elemente der Kraft einer großen Nation zusammenhält und vereinigt, die die Gerechtigkeit und den Schutz für die entferntesten Provinzen wie für diejenigen, die der Hauptstadt am nächsten liegen, im Schatten ihrer Autorität zur Geltung bringt; es ist der Vater, der den Unterschied zwischen den einzelnen Provinzen vertilgt; der aus Kindern derselben Religion und desselben Vaterlandes einige Brüder macht, deren Kraft eben in der Einigkeit liegt. Ein König ist die große Pulsader, die das Blut in dem sozialen Körper kreisen läßt; er ist Einheit, Kraft, Glück!«
   »Und wer seid Ihr denn, der Ihr in Amerika als Vorkämpfer für die Könige auftretet, die Europa nicht mehr haben will?«
   »Ein Mann, der die Könige sehr nahe gesehen hat«, antwortete der Herzog von Armada; »ein Mann, der selbst es verschmähen würde, die Krone auf sein Haupt zu setzen, der aber Europa dem demokratischen Geist, der es tötet, überläßt, weil in den Beschlüssen Gottes jedes Ding seine Zeit haben muß und weil nunmehr die Reihe an Amerika ist, die Alte Welt zu beherrschen, wenn es für sich selbst das Prinzip aufnimmt, das Europa zurückzustoßen scheint.«
   »Das demokratische Prinzip tötet, sagt Ihr?« rief Diaz. »Wahrlich, Ihr sprecht da sonderbare Dinge zu mir. Europa ist alt, ich gebe es zu; aber ist es nicht unter seinen Königen alt geworden? Wenn die Stunde der Auflösung eines Tages für Europa schlägt, wird es nicht in der Demokratie wieder fest werden und sich mit Hilfe dieses großen Prinzips, das alles um uns her belebt, wieder verjüngen können? Wenn diese Demokratie, wie Ihr es glaubt, ein Gift ist für eine altersschwache Nation, werdet Ihr denn leugnen, daß sie ein Lebenselement für ein junges, erst seit kurzem frei gewordenes Volk ist, in dessen Adern ein reiches und edles Blut strömt? Seht das nördliche Amerika – es blüht im Schatten dieses zeugungskräftigen Prinzips!«
   »Das ist wahr«, erwiderte der Spanier, »aber eure Sitten selbst sind dem Königtum angepaßt. Mögen immerhin eure Nachbarn im Norden unter einer Regierungsform groß werden, die in sich den Keim der Vernichtung trägt und die sie später töten wird – ihr habt nicht denselben Geist wie sie; ihr habt nur ein vorzeitiges Greisenalter als Ziel vor euch, wenn ihr ihren Wegen folgen wollt. Die Zertrümmerung ereilt euch, weil ihr nicht einig seid; ihr seid alt in Mexiko, ohne jung gewesen zu sein; und wir müssen Sonora verjüngen! Das ist euer Vaterland! Was geht euch das andere an? Geben wir den Bundesstaaten ein Beispiel, dem sie früher oder später folgen werden! Ja«, fuhr Don Estévan fort, indem er den Republikaner bei der Liebe zu seinem Vaterland faßte, »die anderen Provinzen werden sich unserem königlichen Banner anschließen; sie werden ihren lächerlichen krallenlosen Adler vor dem Löwen senken, den wir aufpflanzen werden, und aus einem Staat zweiten Ranges wird Sonora der Hauptteil eines Königreichs werden, das mit jedem Tag an Größe zunimmt!«
   Der Mexikaner schüttelte den Kopf mit zweifelnder Miene. »Nein«, sagte er, »unser ganzes Land hat die Vergleiche zwischen dem republikanischen und dem monarchischen System anstellen können. Dreihundert Jahre der Knechtschaft erinnern nur zu sehr an die Fehler des letzteren; die Republik allein hat ihm die Unabhängigkeit gegeben. Eine Trennung vom Mutterstaat ist aber leicht für uns; die Gründung eines Königreichs ist unmöglich. Ein König in Eurem Sinn ist der Verwahrer der Kräfte einer Nation; aber der Mann, der in seinen Händen all die zerstreuten Elemente der Macht einer Nation vereinigt, ist immer nur zu sehr geneigt, sie seines Vorteils halber unwirksam zu machen. Darum wollen auch die Völker in dem Maße, als sie zur Reife gelangen, keine Könige mehr. Ihr sagt, wir hätten keine Jugend gehabt, und gerade darum hätten wir sie vertrieben. Ein Volk ist reif am ersten Tag einer Republik; im Interesse der Könige allein liegt es, die Kindheit der Nationen zu verlängern.«
   »Aber wir zählen Monarchien, die zwölf Jahrhunderte bestanden haben, und Ihr habt keine Republik, die heute auch nur ein einziges Jahrhundert alt wäre. Glaubt Ihr noch nicht, daß eine Staatsform, die zwölf Jahrhunderte überdauern kann, allein die Keime für die Lebensfähigkeit und die Macht der Nation enthält?«
   »Der eifersüchtige Geist der Könige hat immer die Republiken erstickt«, erwiderte der Mexikaner. »Das Problem der Monarchie hat nur allein gelöst werden können; die Erfahrung wird es für immer der Verurteilung preisgeben; das Problem der Republiken ist aber noch zu lösen. Und was steht nicht zu erwarten von der Vervollkommnung einer Staatsform, von der die älteste noch kein Jahrhundert zählt, deren Erfolge aber den Stempel der Größe in solchem Maße an sich tragen?«
   In einem Streit über Prinzipien, über die der Spanier lange Zeit reiflich nachgedacht hatte, mußte dieser dem Mexikaner weit überlegen sein, der plötzlich auf ein Terrain geführt war, das er vorher nicht hatte sondieren können. Der Herzog von Armada machte übrigens die Umwandlung des neuen Staates in eine Monarchie zur Bedingung, wenn er diesen Staat mit seinen Reichtümern, seiner Erfahrung und mit den Hilfsmitteln, die er von Europa erwartete, unterstützen sollte. Diaz wünschte vor allem die Selbständigkeit seines Vaterlands; er hörte darum auf, Einwürfe zu machen.
   Nun nahm der Spanier die Übelstände einen nach dem anderen wieder auf, über die der Abenteurer sich mit so großer Bitterkeit beklagt hatte. Er wußte seinen Zuhörer so sehr für den Erfolg der Sache, die er als die Sache seines Landes hinstellte, zu interessieren; er enthüllte ihm so geschickt seine Sendung, seinen Namen, seine Titel; er entwickelte die Überlegenheit des monarchischen Prinzips im Vergleich zu Mexiko mit einer solchen Kraft und Autorität der Rede, daß er die mißtrauischen Zweifel des Republikaners einen nach dem anderen erstickte oder doch zu ersticken schien. Er ließ ebenso, wie er es mit dem Senator gemacht hatte – aber mit mehr Behutsamkeit, da er einen edleren Charakter gewinnen mußte – unter die allgemeinen Gesichtspunkte auch Schlaglichter persönlichen Ehrgeizes fallen, und noch war keine halbe Stunde vergangen, als er auch schon in Diaz` Seele, wenn nicht eine vollständige Überzeugung, doch wenigstens eine gänzliche Zustimmung bewirkt hatte.
   Indem er nun von den Prinzipien auf die Personen überging, nannte er den König Don Carlos als denjenigen, dessen Vorläufer der Abenteurer und seine Freunde sein sollten.
   »Also ein König – der König Karl I.; gut!« sagte Diaz. »Aber wir werden viele Schwierigkeiten zu überwinden haben.«
   »Weniger als Ihr denkt«, antwortete der Spanier. »Jedenfalls wird Gold diese Schwierigkeiten heben, Freund Diaz. Morgen werden wir es mit vollen Händen sammeln; wir bauen dem neuen Königtum eine goldene Brücke, kaufen und bezahlen freigebig die Gründer, die Stützen eines Throns, der nur noch auf einen König zu warten braucht.«
   So legte der kühne Parteigänger, wie er es seinem Herrn versprochen hatte, selbst in der Mitte der Steppe den Grund zu einer künftigen Dynastie. Was der aristokratische Einfluß des Senators im Kongreß von Arizpe bewirken konnte und sollte, denselben Eindruck mußte der Einfluß eines zwar untergeordneten, aber durch seine kühnen Taten berühmten Mannes auf Standesgenossen ausüben. Mit dem Gipfelpunkt und der Grundlage hatte der Spanier alles gewonnen. Der hochstehende Señor war von nun an sicher, sein Ziel zu erreichen, und setzte stolz seinen Fuß auf die Hindernisse, die noch dazwischen lagen.
   Diaz hatte sich aus dem Zelt Don Estévans, der ihn begleitete, entfernt und wollte den Ort im Lager wieder aufsuchen, wo er schlafen mußte, um sich von einem langen Marsch auszuruhen und sich auf die Anstrengungen des folgenden Tages vorzubereiten. In demselben Augenblick, als Benito und Baraja sich auf den Boden gestreckt hatten, um ebenfalls zu schlafen, überschauten der Spanier und der Mexikaner von der Höhe des Hügels, auf dem sie sich befanden, die ganze, weite Ebene. Die »Nebelberge« erhoben sich in der Ferne, von ihrem geheimnisvollen Schleier ewigen Nebels umhüllt. In diesen dichten Dunstkreis, der soviel Gold in sich barg, schien der Mond lange Silberstrahlen zu werfen.
   So nahe dem Ziel seiner Expedition, so nahe den Nebelbergen, daß er sozusagen die Hand von seinem Zelt aus nach ihnen ausstrecken und sie berühren konnte, warf Don Antonio von Mediana einen Blick ruhigen Stolzes auf den Horizont. Alle Schwierigkeiten waren überwunden. Die unablässige Wachsamkeit der Indianer war dank desselben Diaz, des energischen Werkzeugs des Herzogs von Armada, der sich seinem Willen gebeugt hatte, getäuscht worden. Ein unermeßlicher Schatz in jungfräulicher Reinheit, noch unberührt seit dem Anfang der Welt, wartete nur auf die Hände, die ihn begierig aufwühlen sollten.
   »Seht«, sagte der Spanier zu Pedro Diaz, »aus jenem Nebel dort unten werden die Anfänge eines neuen Königreichs entstehen, und unser Name gehört nun der Geschichte an. Jetzt habe ich nur noch eine Furcht: nämlich die vor irgendeinem Verrat Cuchillos; und Ihr werdet sie mit mir teilen, wenn Ihr wißt, daß er es ist, der mir das Geheimnis, das jene Berge verhüllen, verkauft hat.«
   Diaz blickte mit nachdenklicher Miene auf die unermeßliche Ebene, die sich vor ihren Füßen ausdehnte. Er
   121 schien einen noch unerkennbaren Punkt in der Ferne zu betrachten. »Ach«, machte er, »ich sehe einen Reiter, der im Galopp herbeikommt; es ist Gayferos oder Cuchillo.«
   »Wollte Gott, es wäre der letztere«, sagte Arechiza, indem er mit dem Auge dem sich nähernden Reiter folgte. »Er ist ein Schelm, den ich lieber im Bereich meiner Hand als fern aus meinen Augen habe.«
   »Ich glaube seinen Schimmel zu erkennen«, antwortete der Mexikaner.
   Nach Verlauf einer Minute erkannten sie wirklich beim Mondschein in dem Reiter, der mit verhängten Zügeln heransprengte, Cuchillo.
   »Zu den Waffen! Zu den Waffen!« schrie Cuchillo. »Die Indianer sind da!« Und noch während er dieses Alarmzeichen gab, stürzte er mit seinem Pferd durch die Öffnung, die von den Schildwachen eben in die Verschanzung gemacht worden war.
   »Cuchillo – die Indianer! Zwei Namen von böser Vorbedeutung«, sagte der Herzog von Armada.


   30. Der Angriff auf das Lager

   Bei dem Ruf Cuchillos, der im ganzen Lager widerhallte, wechselten der Spanier und Pedro Diaz einen Blick des Einverständnisses miteinander, als ob derselbe Gedanke in ihrer Seele aufgestiegen wäre. »Es ist sonderbar, daß die Indianer unsere Spuren wiedergefunden haben«, sagte Don Estévan.
   »Sonderbar, in der Tat«, erwiderte Diaz.
   In einem Augenblick war das Lager auf den Füßen. Eine kurze Zeit herrschte überall Verwirrung. Ein allgemeiner Schauder durchlief diese unerschrockenen Männer, die doch an ähnliche Verwirrungen gewöhnt waren und sich schon mehr als einmal mit ihren unversöhnlichen Feinden gemessen hatten. Die Gewehrpyramiden wurden auseinandergenommen, und jeder bewaffnete sich in aller Eile.
   Die Reittiere zitterten gerade, wie Benito darauf aufmerksam gemacht hatte, bei der Witterung der Indianer und rissen an ihren Halftern wie bei der Annäherung eines Pumas oder des Jaguars – einen solch erschreckenden Eindruck machen diese Söhne der Steppe auf sie. Aber die durch den Alarmruf Cuchillos entstandene Unruhe legte sich bald, und jeder stand der Ordnung nach auf seinem Posten, den der Chef schon im voraus für den Fall eines Angriffs bestimmt hatte. Die ersten, die Cuchillo befragten, waren der alte Hirt und Baraja, der zum erstenmal einen solchen Zug mitmachte und den wir von den Erzählungen und düsteren Voraussagungen seines Gefährten unangenehm berührt gesehen haben.
   »Vorausgesetzt, Ihr habt die Indianer nicht auf unsere Spur gelockt«, sagte der alte Vaquero und warf dem Banditen einen argwöhnischen Blick zu, »weiß ich nicht, wie diese sie haben entdecken können.«
   »Ich habe sie in der Tat herbeigezogen!« sagte Cuchillo unverschämt, indem er vom Pferd stieg. »Ich möchte Euch durch hundert solcher Dämonen verfolgt gesehen haben, um zu wissen, ob Ihr nicht wie ich nach dem Lager galoppiert wärt, um Schutz darin zu suchen.«
   »In so einem Fall«, erwiderte Benito ernst, »darf ein Mann, um seine Gefährten zu retten, nicht fliehen; er läßt sich eher skalpieren, als daß er sie verrät. Ich würde so gehandelt haben – ich!« fügte er hinzu.
   »Ein jeder nach seinem Geschmack«, sagte Cuchillo; »aber ich habe nur dem Chef und nicht seinen Dienern Rechenschaft zu geben.«
   »Ja«, murmelte der alte Diener, »es geschieht, was geschehen muß; ein Feigling oder ein Verräter kann nur Feigheit oder Verräterei zeigen.«
   »Sind der Apachen viele?« fragte Baraja seinen ehemaligen Freund, denn seit ihrem Streit in der Hacienda waren ihre Beziehungen etwas abgekühlt.
   »Ich habe nicht Zeit gehabt, sie zu zählen«, erwiderte Cuchillo. »Alles, was ich sagen kann, ist, daß sie ganz nahe sein müssen.« Und ohne sich weiter aufzuhalten, ging er durch das Lager zu Don Estévan.
   Dieser wartete, da die ersten und wichtigsten Maßnahmen schon getroffen waren, am Eingang seines Zelts, daß Cuchillo herankäme und vom Erfolg seiner Rekognoszierung und der Nähe der Gefahr Bericht erstatte.
   In dem Augenblick, als Cuchillo sich näherte, ohne auf die zahlreichen Fragen zu antworten, mit denen er von allen Seiten überschüttet wurde, ging ein Mann mit einem flammenden Brand in der Hand zu den in gewisser Entfernung aufgerichteten Reisbündeln, um sie anzuzünden, als die Stimme Don Estévans sich hören ließ: »Noch nicht!« rief er. »Es ist vielleicht ein falscher Lärm, und solange wir nicht die Gewißheit des Angriffs vor uns sehen, dürfen wir das Lager nicht erleuchten, um uns nicht zu verraten.«
   Bei den Worten »ein falscher Lärm« hätte man sehen können, wie ein unheimliches Lächeln über Cuchillos Lippen flog. Der Mann warf seinen Brand in das Feuer zurück.
   »Auf jeden Fall«, rief Don Estévan abermals, »sattle jeder sein Pferd und mache sich jeder bereit.« Er ging wieder in sein Zelt und gab Diaz ein Zeichen, ihn zu begleiten. —
   »Das will sagen, Freund Baraja«, nahm Benito das Wort, »daß, wenn der Befehl gegeben ist, die Feuer anzuzünden, wir auch sehr sicher sind, daß wir angegriffen werden. Besonders nachts ist es schrecklich.«
   »Wer wüßte das besser als ich?« sagte Baraja.
   »Habt Ihr schon einmal des Nachts an einem solchen Fest teilgenommen?« fragte Baraja.
   »Niemals – darum fürchte ich eben einen nächtlichen Angriff so sehr.«
   »Wohlan! Wenn Ihr schon einen solchen gesehen hättet, so würdet Ihr Euch …«
   »So würde ich mich nicht mehr davor fürchten?« beeilte sich Baraja, ihn zu unterbrechen.
   »… so würdet Ihr Euch noch mehr davor fürchten!« – Cuchillo brachte auf seinem Weg zum Zelt Don Estévans sein Gesicht in Ordnung oder vielmehr in Unordnung. Er warf seine langen Haare in den Nacken zurück, als ob sie der Luftzug bei einem eiligen Ritt über den Kopf geworfen hätte; dann ging er in das Zelt wie ein Mann, der eben erst wieder Atem schöpft, und trocknete einen Schweiß auf seiner Stirn, der sich gar nicht vorfand. Sonst hatte er seine gewöhnliche unverschämte Miene beibehalten.
   Oroche, der ganz besonders mit der Wache bei der Person Don Estévans beauftragt schien, war an Diaz‘ Seite geschlüpft.
   Der Bericht Cuchillos war kurz. Beim Auftrag, den Zugang zu dem Ort zu erkunden, zu dem die Expedition ihren Marsch richten mußte, hatte er seine Rekognoszierung über die Grenzen hinaus ausgedehnt, die ihm die Klugheit vorschrieb …
   Diaz unterbrach ihn. »Ich hatte solche Vorsichtsmaßnahmen getroffen«, sagte er, »um unseren Marsch durch falsche Spuren den Indianern zu verbergen; ich hatte sie so vollständig irregeführt, daß Ihr die Richtung, der Ihr folgtet, habt verlassen müssen, um nach rechts oder links abzuweichen.«
   »Ich habe mich in der Tat verirrt«, erwiderte der Bandit, »da ich durch die Einförmigkeit dieser endlosen Ebenen, worin jeder Hügel dem anderen gleicht, getäuscht worden bin …«
   »Jeder Hügel soll dem anderen gleichen?« antwortete Diaz spöttisch. »Wenn ein Mann aus der Stadt sich dadurch täuschen läßt, so ist das begreiflich; aber Ihr … Die Furcht hat also wohl Eure Augen mit einem Nebelschleier bedeckt?«
   »Die Furcht?« antwortete Cuchillo. »Ich kenne sie nicht mehr als Ihr.«
   »Dann werden Eure Augen schlecht, Señor Cuchillo.«
   »Wie dem auch sein mag«, fuhr der letztere fort; »genug, ich verirrte mich, und ohne die Rauchsäule, die mich führte, hätte ich meinen Weg nicht so schnell, als es geschehen ist, wiederfinden können.
   Aber ich bemerkte eine Abteilung Indianer, die sich durch die Ebene bewegten, und mußte einen Umweg machen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Gerade auf diesem Umweg jedoch wurde ich durch umherstreifende Krieger entdeckt, und ich verdanke nur der Schnelligkeit meines Pferdes den Vorsprung, den ich eben über sie gewonnen habe.«
   Als er diesen Bericht, während dessen Don Estévan mehr als einmal die Augenbrauen zusammengezogen hatte, beendete, ging Oroche aus dem Zelt, kam aber sogleich zurück. »Die Indianer sind dort unten!« sagte er. »Seht jene schwarzen Schatten, die durch die Ebene eilen, das sind ihre vorausgesandten Krieger, die unser Lager rekognoszieren wollen.«
   Auf der bleichen Oberfläche der Steppe konnte man wirklich die Form von Reitern erblicken, die sich näherten und im Schatten der Sandhügel verschwanden. Pedro Diaz befragte Don Estévan mit einem Blick; dann rief er mit einer Stimme, die wie ein Schlachtsignal durch das Lager tönte: »Zündet überall die Feuer an; wir müssen unsere Feinde zählen können!«
   Einige Augenblicke nach diesen Worten schien ein rotes Licht, das beinahe ebenso lebhaft war, wie das der Sonne, das ganze Lager in Brand zu setzen; die Abenteurer standen auf ihren Posten, die Büchse in der Hand; die Pferde waren gesattelt und gezäumt und warteten nur, daß ihre Reiter sich auf ihre Rücken warfen, sobald etwa ein Ausfall notwendig wurde. Dann sank das Zelt Don Estévans über seinen Zeltpflöcken, die Oroche herausgezogen hatte, zusammen. Eine feierliche Stille war dem Lärm gefolgt. Die Steppe war in Schweigen gehüllt wie das Lager. Der Mond beleuchtete nicht mehr die Bewegungen der indianischen Streifreiter; sie waren verschwunden wie jene düsteren Träume, die die Rückkehr des Tages verscheucht. Es war die Zeit der Stille, die dem Sturm vorangeht.
   Diese Ruhe hatte übrigens etwas Schreckliches. Sie kündigte nicht eine jener Überraschungen an, in der ein an Zahl geringerer Feind seine Schwäche durch die Heftigkeit seines Angriffs verbirgt und immer bereit ist, die Flucht zu ergreifen, wenn er Widerstand findet. Es war die Ruhe vor der Schlacht, in der sich unversöhnliche Feinde einen Augenblick sammelten, um desto sicherer einen tödlichen Kampf zu beginnen.
   »Ja, verlaßt Euch nur darauf«, sagte der alte Benito zu Baraja; »eine Viertelstunde später werdet Ihr das Geheul dieser roten Teufel in Euren Ohren wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts widerhallen hören. Das sage ich Euch, obgleich ich die Indianer wenig kenne.«
   »Laßt doch!« erwiderte Baraja mit bestürzter Miene. »Ihr seid der erfahrenste Mann, was Jaguare und Indianer betrifft, den ich jemals gesehen habe; obgleich Ihr, um die Wahrheit zu sagen, ein wenig tröstlicher sprechen könntet. Wollte Gott, es wäre mir erlaubt, an der Wahrheit Eurer Worte zu zweifeln!« »Es gibt Dinge, die leicht vorauszusehen sind. Man kann dem Reisenden, der sich im ausgetrockneten Bett eines Waldstroms zum Schlafen niederlegt, voraussagen, daß die Fluten bei seinem Erwachen ihn mit sich fortreißen werden oder daß die Indianer, die die Stellung ihrer Feinde kennen und sich einen Augenblick zurückziehen; ihr Krieger zählen, um jene anzugreifen. Man kann mit Gewißheit voraussagen, daß mehr als einer unter ihnen seinen Todesschrei ausstoßen wird – ebenso wie viele von uns ihr letztes ›In manus‹ werden beten müssen —, aber wer dies sein wird, das ist es, was niemand voraussagen kann. Kennt Ihr irgendein Gebet für Sterbende, Señor Baraja?«
   »Nein«, sagte der Abenteurer traurig.
   »Das tut mir leid, denn das sind solche kleinen Dienste, die Freunde sich gegenseitig leisten; und wenn ich den Schmerz hätte – da es doch vernünftig ist, darauf gefaßt zu sein —, zu sehen, wie Ihr erst skalpiert und dann ermordet werdet …«
   Der alte Vaquero wurde durch ein Geheul, das aus der Ferne erscholl und sich dem Lager näherte, unterbrochen. Ungeachtet des stets Unglück weissagenden Sinnes der Rede des alten Hirten hielt doch sein kaltes Blut auch unter den größten Gefahren seine so kräftig durch einen tröstlichen Fatalismus unterstützte Entschlossenheit den weniger festen Mut Barajas aufrecht. In dem Augenblick, als dieser wider seinen Willen einen Schauder fühlte bei dem Kriegsgeschrei, das man gehört haben muß, um seinen schrecklichen Klang zu würdigen, warf er einen Blick auf Benito, um aus dessen Haltung ein wenig von dem Gleichmut zu schöpfen, der den Greis niemals verließ.
   Der Schein des Feuers beleuchtete lebhaft seine eingefallenen Wangen. Zum erstenmal schien eine resignierte Traurigkeit wie eine Wolke auf seiner gebeugten Stirn zu lagern. Seine Augen waren feucht, als ob ihnen eine Träne entquellen wollte. Baraja war bestürzt über die Veränderung. Er legte seine Hand auf den Arm des alten Hirten.
   Benito hob sein Haupt. »Ich verstehe Euch«, sagte er; »aber der Mensch hat seine schwachen Augenblicke. Was wollt Ihr? Ich gleiche demjenigen, den der Ton der Trompete in dem Augenblick von seinem Herd reißt, wo er gerade am wenigsten daran denkt, ihn zu verlassen. Mitten unter diesem Geheul höre ich dort oben den Ton der Trompete, die mich ruft, und so alt, wie ich bin, tut es mir doch einigermaßen leid, meinen Herd zu verlassen. Ich habe weder Frau noch Kinder, von denen ich mit Trauern scheiden oder die mich beweinen müßten; aber ich habe einen alten Gefährten meines einsamen Lebens, und ich kann an eine Trennung von ihm nicht ohne Schmerz denken. Dem indianischen Krieger ist es wenigstens ein Trost, zu wissen, daß sein Schlachtroß sein Grab mit ihm teilen wird, und zu glauben, daß er es einst ebenso im Land der Geister wiederfindet.
   Wie oft haben wir nicht zusammen die Wälder und Savannen durchstreift! Wie oft haben wir nicht alle beide Sonnenglut, Hunger und Durst ertragen! Dieser alte, treue Freund – Ihr habt es wohl schon erraten – ist mein Pferd. Ich schenke es Euch, Freund Baraja; behandelt es sanft, liebt es, wie ich es liebte, und es wird auch Euch lieben, wie es mich liebt. Es war der Gefährte jenes Tieres, das von einem Jaguar zerrissen wurde; von uns dreien wird es nun allein übrigbleiben.«
   Bei diesen Worten zeigte der Greis mit dem Finger auf einen bejahrten, edlen Renner, der sich mitten unter der Gruppe von gesattelten Pferden befand. Sein Hals war gebogen durch den am Sattelknopf befestigten Zügel; er kaute noch stolz an seinem Gebiß. Benito ging auf ihn zu und streichelte seinen starken Rücken. Als dieser schwache Augenblick vorüber war, wurde sein Gesicht wieder leidenschaftslos.
   Mit der Wiederkehr seines kalten Blutes war der alte Hirt auch wieder auf seine Gewohnheit zurückgekommen, alles vorauszusehen, wodurch alle diejenigen, die ihm zuhörten, vor Schrecken starr wurden.
   »Hört!« sagte er zu Baraja. »Um Euch schon im voraus meinen Dank für die Sorgfalt auszudrücken, die Ihr meinem alten Freund werdet zuteil werden lassen, kann ich Euch, solange es noch Zeit dazu ist, einen Vers aus dem Psalm für Sterbende lehren; das kann Euch von Nutzen sein; ebenso wie …«
   »Nun?« sagte Baraja, der sah, daß der Greis seine Rede nicht beendete. »Habt Ihr mir irgendeine erschreckende Neuigkeit zu verkünden?«
   Der alte Vaquero antwortete nichts; aber der Abenteurer fühlte, wie der Arm Benitos krampfhaft den seinigen ergriff. Der Anblick, der Baraja erschütterte, war viel schrecklicher als die schrecklichste Antwort des alten Mannes. Seine Augen rollten in ihren Höhlungen, und eine seiner Hände suchte vergeblich das Blut zu stillen, das aus einer breiten Wunde hervorquoll.
   Ein Pfeil war zischend gekommen und hatte seine Gurgel durchbohrt.
   Benito fiel, indem er sagte: »Es geschieht nur, was geschehen muß. – Laßt mich«, fügte er hinzu, indem er die Hilfe Barajas zurückwies, die dieser ihm zu leisten suchte; »meine Stunde ist gekommen! … Denkt an meinen … alten Freund …« Wellen von Blut stürzten aus seiner Wunde und nahmen ihm die Sprache.
   In diesem Augenblick zeigten sich die am besten berittenen Krieger der Apachen in der vom Mond erleuchteten Ebene.
   Diejenigen Reisenden, die nur mit zivilisierten Indianern zusammengetroffen sind, möchten sich nach ihnen schwerlich eine richtige Vorstellung von den wilden Indianerstämmen machen. Nichts glich dem entarteten Geschlecht der Indianer in den Städten weniger als diese ungebändigten Söhne der Steppen, die – ähnlich dem Raubvogel, der in der Luft seine kreisförmigen Bewegungen beschreibt, ehe er auf seine Beute niederstößt – auf ihren Pferden heulend um das Lager sprengten. Ihre gräßlich rot bemalten Gesichter erschienen zuweilen in heller Beleuchtung durch den Widerschein der Feuer. Ihre langen Haare flatterten weithin im Wind; die Lederriemen, womit ihr Anzug verziert war, umgaben bei dem raschen Galopp wie Schlangen ihren Körper, ihr durchdringendes trotziges und herausforderndes Geschrei – alles machte sie den Dämonen ähnlich, mit denen man sie so richtig verglichen hat. Es gab wohl nur wenige unter den Mexikanern, die nicht irgendwelche Beeinträchtigung an diesen unermüdlichen Räubern zu rächen gehabt hätten; aber keiner unter ihnen war in dieser Beziehung von einem größeren Haß beseelt als Pedro Diaz. Der Anblick seiner Feinde machte auf ihn denselben Eindruck wie ein scharlachrotes Fähnchen auf den Stier. Er schien kaum seinen glühenden Haß beherrschen und nur mit Mühe der Versuchung widerstehen zu können, sich durch eine jener kühnen Taten auszuzeichnen, die seinen Namen den Indianerstämmen so furchtbar gemacht hatten. Es war aber notwendig, ein Beispiel der Disziplin zu geben, und der Abenteurer bezähmte darum seine brausende Ungeduld. Übrigens war der Augenblick nicht fern, wo die Indianer selbst den Angriff beginnen würden; und diesmal wenigstens konnte die vorteilhafte Stellung der Mexikaner die größere Anzahl ihrer Feinde ersetzen.
   Nachdem Don Estevan jedem seinen Posten hinter den Wagen angewiesen hatte, ließ er auf der Anhöhe, wo eben auch sein Lagerzelt gestanden war, diejenigen von seinen Leuten sich aufstellen, deren Büchsen am weitesten trugen und deren Auge das sicherste war. Die Feuer verbreiteten ihr Licht weit genug, um das Ziel ihrer Kugeln deutlich zu erkennen. Was ihn selbst betraf, so war sein Posten überall.
   Indessen hatten der scharfe Blick der Indianer und die Berichte derer, die am weitesten vorgedrungen waren, sie ohne Zweifel über die Stellung der Weißen belehrt, denn einen Augenblick hindurch schien nach dem Versuch, ihre Feinde zu erschrecken, Unentschlossenheit unter ihnen zu herrschen.
   Aber die Waffenruhe war nur von geringer Dauer. Nach kurzem Schweigen ertönte plötzlich aus hundert Kehlen der Kriegsruf mit schrecklichen Modulationen; die Erde zitterte unter einer Lawine von Pferden, die in vollem Jagen mitten unter einem Hagel von Kugeln, Steinen und Pfeilen auf die Mexikaner losstürmten; das Lager war von drei Seiten durch eine verwirrte Masse von Kriegern mit flatterndem Haar eingeschlossen. Unterdessen wurde auf dem Gipfel des Hügels ein wohlgenährtes Feuer unterhalten, das in langen Blitzen durch die Nacht leuchtete.
   Unter diesem mörderischen Feuer galoppierten Pferde ohne Herren durch die Ebene, während anderseits Reiter sich von der Last ihrer gestürzten Tiere zu befreien strebten; der Kampf wurde bald zum Handgemenge Brust gegen Brust; die Mexikaner waren hinter den Wagen, die die Apachen zu erstürmen suchten. Oroche, Baraja und Pedro Diaz standen fest aneinandergelehnt, traten bald zurück, um den langen Lanzen ihrer Feinde auszuweichen, bald sprangen sie vor, um ihrerseits einen Stoß zu führen; sie ermutigten einander mit Gebärde und Stimme und unterbrachen sich nur, um einen raschen Blick auf ihren Anführer zu werfen.
   Wir haben schon erwähnt, daß das Gerücht sich weithin verbreitet hatte, er kenne eines der reichsten Goldlager im ganzen Staat; die Habgier hatte darum bei Oroche und Baraja eine enthusiastische Hingebung und Verehrung für ihn hervorgebracht.
   »Caramba!« rief Baraja aus. »Der Besitzer eines solchen Geheimnisses ist, sollte unverwundbar sein!«
   »Unsterblich!« rief Oroche dagegen. »Oder doch erst sterben, nachdem er …«
   Ein Schlag mit der Streitaxt, der Oroches Schädel traf, schnitt ihm das Wort vom Mund ab, und ohne seinen dicken Hut und seinen reichen Haarwuchs wäre es um ihn geschehen gewesen. Er fiel schwer zu Boden.
   Während er noch – ganz betäubt – wieder aufzustehen suchte, stützte sich sein Gegner, von der Wucht des Schlages mit fortgerissen, mit einer Hand auf die Deichsel zwischen ihnen, um sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Diaz ergriff den Indianer beim Arm, und an der Nabe des Rades sich festhaltend, zog er ihn mit unwiderstehlicher Gewalt an sich; der Apachenkrieger mußte aus dem Sattel und stürzte ins Lager. Er hatte noch nicht den Boden berührt, als schon das Schwert des Mexikaners seinen Kopf fast vom Rumpf getrennt hatte.
   Die Schützen, die nun auf ihrem erhabenen Posten unnütz wurden, da das Handgemenge so dicht war, daß ihre Kugeln ebensogut den Ihrigen als den Apachen tödlich hätten werden können, kamen herab und mischten sich unter die Kämpfenden.
   An dem Teil der Verschanzung, wo Don Estévan und Cuchillo Stellung bezogen hatten, mußte ein nicht weniger wütender Angriff abgeschlagen werden. Der erstere dachte zwar an seine persönliche Verteidigung – denn in einem solchen Fall muß ein Anführer auch Soldat sein —, warf aber dabei rasche Blicke auf die ganze Linie der Verschanzung. Nur mit großer Mühe jedoch konnte er die Anordnungen und Befehle, die er erteilte, mitten in dem Geheul, das die Kämpfenden betäubte, deutlich und hörbar machen. Mit großer Schnelligkeit und Geschicklichkeit aber lud und entlud er rasch hintereinander ein leichtes Doppelgewehr von englischem Fabrikat und befreite durch seine Kugel öfter als einmal einen der Seinigen von dem Messer, dem Tomahawk oder der Streitaxt, die ihn bedrohte. Laute Hurras antworteten dem Geheul der Apachen und belohnten seinen sicheren Blick. Er war mit einem Wort – wie der Abenteurer seit dem Beginn ihrer gefährlichen Expedition ihn gesehen hatte – der Anführer, der bei seinen Befehlen an alles dachte, und der Soldat, den nichts im Kampf erschreckte.
   Cuchillo stand so gedeckt als möglich, mit mehr Vorsicht als Mut hinter seinem Chef, während sein noch ganz gesatteltes Pferd allen seinen Bewegungen mit dem verständigen Blick eines Wachtelhundes folgte. Er schien noch mit besorgtem Auge die Wechselfälle des Angriffs und der Verteidigung zu berechnen, als er plötzlich wankte, zurückwich, wie wenn er tödlich verwundet sei, und in einiger Entfernung von den Wagen schwerfällig niedersank.
   Dieses Ereignis wurde mitten im Handgemenge fast nicht bemerkt; jeder hatte genug zu tun, Gefahren von sich abzuwenden und nur an sich zu denken. »Ein Feigling weniger«, war alles, was Don Estévan kaltblütig sagte, da er die vorsichtigen Bewegungen Cuchillos wohl beachtet hatte.
   Das Pferd des Gefallenen lief hin zu diesem und schnaubte ganz erschreckt beim Anblick seines Herrn. Einige Augenblicke blieb Cuchillo unbeweglich liegen, dann hob er nach und nach den Kopf empor und warf einen forschenden Blick um sich her; sein naher Tod hatte seinem Auge noch nichts von seiner Schärfe geraubt. Einige Sekunden darauf stand der Bandit wieder auf seinen Füßen wie ein Mann, dem der Todeskampf noch einmal einen Anschein von Kraft gibt; dann drückte er, scheinbar tödlich verwundet, die Hand auf seine Brust, als ob er das entfliehende Leben zurückzuhalten suchte, machte schwankend noch einige Schritte und ließ sich dann – ziemlich weit von der Stelle, wo er zuerst gefallen war, aber auf der dem Angriff nicht ausgesetzten Seite – langsam auf die Erde gleiten.
   Das Pferd folgte ihm und beschnupperte ihn abermals. Wären jetzt nicht die Abenteurer zu hart von ihren Feinden bedrängt gewesen, so hätten sie sehen können, wie der Bandit nach dem Punkt der Verschanzung hin wollte, den die Indianer freiließen; hier angelangt, wartete er noch, schlüpfte endlich unter die Räder der Wagen und war außerhalb des Lagers. Hier richtete er sich ebenso fest empor wie in den Tagen seiner Kraft. Ein Lächeln düsterer Freude flog über sein Gesicht.
   Die Dunkelheit und der Aufruhr begünstigten sein Unternehmen. Er löste schnell die eisernen Ketten von zwei Wagen und öffnete somit einen Durchgang. Der Bandit pfiff, und sein Pferd kam ebenfalls durch die Öffnung. In einem Augenblick war er im Sattel, fast ohne den Bügel zu berühren. Nachdem er sich einige Sekunden besonnen hatte, drückte er die Sporen in die Flanken des Pferdes, das wie ein Blitz fortschoß, und beide verschwanden in der Finsternis. —
   Auf den beiden Seiten der Verschanzung bedeckten Leichname die Erde. Die halbverbrannten Reisbündel beleuchteten mit rötlichem Glanz die blutigen Szenen dieses nächtlichen Kampfes; das Geheul erbitterter Feinde, das Sausen der Pfeile, die wiederholten Entladungen der Büchsen folgten ohne Unterbrechung aufeinander. Die grauenvollen Gesichter der indianischen Reiter sahen im Schein der Feuer noch schrecklicher aus; sie verschwanden aber bald in der Finsternis, ohne daß es möglich gewesen wäre, ihre Anzahl während ihres Verweilens in dem Raum zwischen Licht und Dunkelheit zu bestimmen.
   Indes waren doch die Verschanzungen an einem Punkt unter den ständig erneuerten Angriffen durchbrochen. Tot oder verwundet, hatten die Verteidiger dieses Teils der Wagenlinie Feinden weichen müssen, die jeden Augenblick zahlreicher und erbitterter aus der Erde hervorzuwachsen schienen. Es war dies ein Augenblick schrecklicher Verwirrung, ein Durcheinander von eng verschlungenen Leibern, über denen die Haarbüsche der indianischen Krieger flatterten und das von der Brust ihrer Pferde gespalten wurde. Doch wie der Strom, wenn er sich getrennt hat, wieder zusammenfließt, so schloß sich auch die einen Augenblick durchbrochene Linie der Abenteurer wieder hinter einer Gruppe von Apachen, die man wie wilde Tiere mitten im Lager toben sah.
   Oroche, Baraja und Pedro Diaz, die von der Stelle, die sie bis jetzt verteidigt hatten, herbeigeeilt waren, sahen sich nun Stirn an Stirn ihren Feinden gegenüber, ohne daß sie diesmal irgend etwas trennte. Zerfetzt, von Blut und Staub besudelt, wollten die drei Abenteurer eine letzte Anstrengung versuchen.
   Mitten in der Indianergruppe, deren Lanzen und Tomahawks ohne Unterschied die erschreckten Pferde, die Maultiere und die Männer trafen, war ein Häuptling an seinem hohen Wuchs, an der Malerei seines Gesichts und an der Gewalt seiner Hiebe leicht zu erkennen. Es war das zweitemal seit dem Beginn des Zuges durch die Steppe, daß der Apachenhäuptling sich Stirn gegen Stirn den Weißen gegenüber befand. Sein Name war ihnen bekannt.
   »Hierher, Diaz!« rief Baraja. »Hier ist die Pantherkatze!«
   Bei Diaz‘ Namen, dessen Ruf bis zu ihm gedrungen war, suchte der indianische Häuptling mit dem Blick denjenigen, der ihn trug. Die Augen des indianischen Kriegers schienen Flammen zu sprühen, und er zog die Lanze zurück, um Diaz zu durchbohren, der auf den Ruf Barajas herbeigeeilt war. Da durchschnitt Oroches Messer die Hacken seines Pferdes. Der Indianer stürzte durch den Fall seines Tieres auf die Erde und ließ die Lanze fallen, die er in der Hand hielt. Diaz ergriff sie, und während der Apache sich auf ein Knie erhob und ein kurzes Schwert entblößte, drang die Spitze der seiner Hand entschlüpften Waffe in seine nackte Brust.
   Der Indianer war tödlich getroffen, aber kein Schrei kam über seine Lippen, seine Augen verloren nichts von ihrem drohenden Ausdruck; ein einziger Wunsch nur malte sich auf seinen schon entstellten Zügen. »Die Pantherkatze hat hartes Leben«, sagte er.
   Und mit einer Hand, der der nahe Tod noch nichts von ihrer Kraft geraubt hatte, ergriff der indianische Häuptling entschlossen den Schaft der Lanze, die immer noch von Diaz festgehalten wurde. Ein letzter Kampf begann. Bei jeder Anstrengung des Apachen, seinen Feind an sich zu ziehen und ihn mit einer tödlichen Umarmung zu vernichten, drang das Eisen der Waffe auf seinem blutigen Weg immer weiter vor. Aber bald verließen ihn die Kräfte; die Lanze wurde heftig aus seinem Körper herausgerissen und blieb ganz rot von Blut in Diaz‘ Händen; der Indianer brach zusammen, warf noch einen herausfordernden Blick auf seinen Feind und rührte sich nicht mehr.
   Nachdem ihr Häuptling von den Händen Pedro Diaz‘ gefallen war, teilten die übrigen Apachen bald dasselbe Los, während ihre Gefährten vergeblich versuchten, die Linie der zusammengeketteten Wagen zum zweitenmal zu durchbrechen. Opfer ihres tollkühnen Mutes, waren die Krieger wie ihr Chef gefallen, ohne nur daran zu denken, um Gnade zu bitten, die sie selbst niemals gewähren. Sie waren gefallen, wie sie fallen mußten: das Antlitz dem Feind zugekehrt und von den Leichen derer umgeben, die ihnen auf der großen Reise nach dem Land der großen Geister vorangegangen waren.
   Von den Wilden, die sich im Lager befanden, war nur ein einziger aufrecht im Sattel geblieben. Eine Minute lang blickte er mit glühenden Augen um sich wie ein Tiger, der von den Jägern eingeschlossen ist. Weit davon entfernt jedoch, seine Gegenwart den Feinden zu verbergen, stieß der Indianer abermals sein Kriegsgeschrei aus; aber dieser Ruf verklang in dem wilden Geheul, das außerhalb das Echo der Ebenen weckte. Da benützte der Apache einen Augenblick der Verwirrung, wo die Abenteurer von außen angegriffen wurden und die offene Bresche in der Verschanzung fast freiließen; er setzte mit seinem Pferd hinüber und befand sich bei den Seinigen.
   Pedro Diaz hatte vielleicht allein im ganzen Lager den Indianer bemerkt, der dem Verderben seiner Gefährten entronnen war und die Verschanzung übersprungen hatte. Das war eine Beute, die er bedauerte, und der unversöhnliche Feind der Indianer war gewohnt, sich nicht in fruchtlosem Bedauern zu verzehren. Der Abenteurer hatte schnell das Schlachtroß bestiegen, das er der Freigebigkeit Don Agustin Penas verdankte. An seiner linken Hand an der Degenquaste hing eine lange, breite Toledoklinge mit der stolzen spanischen Inschrift:
   No la saques sin razon,
   No la embaines sin honor.
   Entblöße sie nicht ohne Grund,
   Stecke sie nicht ein ohne Ehre.
   Die Klinge war rot von Blut. Um nicht vom Glanz des Feuers geblendet zu werden, hatte er mit seiner rechten Hand einen Schirm vor die Augen gemacht und warf nun einen forschenden Blick in die ferne Dunkelheit. Plötzlich bemerkte er am äußersten Ende des Lichtkreises einen indianischen Reiter. Das war der Mann, den Diaz suchte. Der Indianer ließ ungestüm sein Pferd tausend verschiedene Schwenkungen machen und stieß ein herausforderndes Geschrei aus. Der Abenteurer dachte an das Wort des Hacenderos wegen des Pferdes, das er ihm geschenkt hatte: »Der Indianer, den Ihr verfolgen werdet, müßte auf den Flügeln des Windes reiten, wenn Ihr ihn nicht erreicht, so groß auch der Vorsprung sein mag, den er vor Euch hat«; und er beschloß, eine Probe zu machen.
   Das edle Tier setzte, vom Sporn getrieben, über die von den Indianern zerstörte Verschanzung, und in einem Augenblick befanden sich die beiden Pferde und die beiden Reiter nebeneinander, Seite an Seite. Der Indianer schwang seine Streitaxt, der Weiße hielt ihm die Spitze seiner geröteten Klinge entgegen. Einige Sekunden hindurch gab es nun einen bewunderungswürdigen Wettkampf an Unerschrockenheit und Reitergeschicklichkeit. Beide bewährten den Ruf der Mexikaner und der Indianer, die besten Reiter der Welt zu sein; vor der Streitaxt des Apachen flog der Degen des Mexikaners in Stücke. Die beiden Reiter faßten einander nun um den Leib, um sich gegenseitig aus dem Sattel zu heben – aber beide schienen mit dem Pferd, das sie ritten, eins zu sein.
   Endlich vermochte sich Diaz vom Griff seines Feindes zu befreien. Er ließ sein Pferd etwas zurückbleiben, ohne jedoch selbst aufzuhören, dem Indianer die Stirn zu bieten; dann ließ er, als er etwa zwei Schritt hinter ihm war, mit ein paar Sporenstößen sein Pferd sich so wütend bäumen, daß das Tier einen Augenblick über der Gruppe des Indianers und seines Renners zu schweben schien. In demselben Augenblick hob der Mexikaner, ohne den Bügel zu verlassen, seinen rechten Fuß empor, und mit einem Stoß dieses hölzernen Bügels, der breit, schwer und mit Eisen beschlagen ist, zerschmetterte er den Schädel des Indianers; sein Pferd trug einen toten, aber nicht aus dem Sattel gehobenen Reiter davon.
   Diese letzte, prächtige Waffentat schien das Ende des Kampfes zu bilden, der schon so lange gewütet hatte. Einige Pfeile flogen um Diaz herum, ohne ihn zu treffen; seine Waffengefährten empfingen ihn mit einem Freudengeschrei, das an wildem Klang dem der Apachen nichts nachgab. Diaz ersetzte seinen zerbrochenen Degen und schöpfte Atem.
   Ein beiden Teilen unentbehrlicher Augenblick der Ruhe stellte sich wie auf gemeinschaftliche Verabredung ein. Man konnte einander befragen und wieder zu sich kommen.
   »Armer Benito«, sagte Baraja; »Gott nehme seinen Geist auf! Er ist ein Verlust für uns. Es ist nichts an ihm, glaube ich – bis etwa auf seine schrecklichen Geschichten —, was ich nicht bedauerte.«
   »Und was noch beklagenswerter ist«, unterbrach ihn Oroche, »das ist der Tod unseres ausgezeichneten Cuchillo, des Führers der Expedition.«
   »Eure Gedanken sind noch etwas verwirrt von dem Schlag des Streitkolbens, den Ihr auf den Schädel bekommen habt!« sagte seinerseits Diaz, indem er auf seinem Steigbügel die Biegsamkeit der neuen Klinge, mit der er sich versehen hatte, versuchte. »Ohne den ausgezeichneten Cuchillo, wie Ihr ihn nennt, würden wir nicht heute abend wenigstens zwanzig brave Kameraden verloren haben, die wir morgen zur Erde bestatten müssen. Cuchillo hat unrecht gehabt, einen Tag zu spät zu sterben. Von ihm wage ich nicht zu sagen: ›Gott möge seine Seele aufnehmen.‹«
   Während dieser Zeit berieten sich die Indianer untereinander. Diaz‘ letzte Tat; der Tod, den mehrere von den Ihrigen im Lager der Weißen gefunden hatten, und diejenigen, die von den mexikanischen Kugeln kampfunfähig gemacht worden waren, hatten ihre Reihen gelichtet. Die Indianer bestehen niemals auf der Ausführung unmöglicher Dinge. Eine merkwürdige Mischung von Vorsicht und Todesverachtung bezeichnet diese außerordentliche Rasse. Die Vorsicht riet ihnen zum Rückzug; sie führten ihn ebenso plötzlich aus als den Angriff.
   Die Abenteurer jedoch mußten einer ganz anderen Taktik folgen. Es war dringend nötig, einen Sieg zu nützen, von dem das Gerücht sich bis tief in die Steppen verbreiten und ihren Marsch sicherstellen mußte. Auch wurde der Befehl zur Verfolgung der Flüchtlinge, den Don Estévan gab, mit einem Freudengeschrei aufgenommen. Zwanzig Reiter warfen sich auf ihre Pferde. Pedro Diaz war nicht der letzte. Den Degen in der einen Hand, den Lasso und den Zügel in der anderen, verschwand er bald mit seinen Begleitern aus den Augen der Mexikaner, die im Lager zurückgeblieben waren.
   Obgleich diese alle mehr oder weniger verwundet waren, so beschäftigten sie sich doch zuerst, ehe sie sich ausruhten, damit, sorgfältig für den Fall eines neuen Angriffs ihre durchbrochene Verschanzungslinie wiederherzustellen. Dann streckte sich jeder, von Mattigkeit, Durst und Hunger überwältigt – ohne daran zu denken, den Umkreis des Lagers von den Leichnamen, die ihn bedeckten, zu reinigen —, auf diese noch blutgetränkte Erde nieder, um nur einige Augenblicke Ruhe zu haben. Bald beleuchteten mitten im feierlichen Schweigen der Nacht die Strahlen des Mondes und die halberloschenen Holzscheite diejenigen, die einen kurzen Schlaf schliefen, ebenso wie die, die nicht wieder erwachen sollten.


   31. Der Fatalist

   Unterdessen erhob sich mitten in dieser augenblicklichen Ruhe, die auf den Lärm des Gefechts gefolgt war, während der durstige Boden alles auf ihm vergossene Blut trank, ein einziger Mann leise etwa nach einer Stunde. Einen Feuerbrand in der Hand, untersuchte er bei dem unbestimmten Licht, das dieser verbreitete, alle Leichname, die vor seinen Füßen ausgestreckt dalagen. Er schien in diesen todbleichen oder blutigen Gesichtern die Namen derer zu suchen, die diese bei ihren Lebzeiten getragen hatten. Bald beleuchtete der Glanz der Fackel die sonderbare Malerei eines indianischen Leichnams, bald das bleiche Antlitz eines Weißen, die hier nebeneinander den ewigen Schlaf schliefen; zuweilen bezeichnete bei seinen Nachforschungen ein halberstickter Seufzer einen der verwundeten Abenteurer; aber bei jeder Untersuchung machte der nächtliche Forscher eine Gebärde getäuschter Erwartung.
   Plötzlich nahm mitten in diesem Schweigen des Todes, das über die Lebenden wie über diejenigen ausgebreitet war, deren Seele schon den Leib verlassen hatte, eine schwache Stimme die Aufmerksamkeit des nächtlichen Suchers in Anspruch. Er suchte im Halbdunkel den Ort zu entdecken, von dem aus die Stimme ertönte, die ihn anrief. Eine schwache Bewegung mit der Hand, die einer von denen machte, die vor ihm ausgestreckt lagen, machte seiner Ungewißheit ein Ende. Er näherte sich dem Sterbenden, und mit Hilfe des geringen Lichts, das die Fackel verbreitete, die er vor sein Gesicht hielt, erkannte er den vor seinen Füßen liegenden Mann.
   »Ach, Ihr seid es, mein armer Benito!« sagte der Mann, während sein Gesicht ein Gefühl tiefen Mitleids ausdrückte.
   »Ja«, sagte der frühere Hirt, »es ist der alte Benito, der in der Steppe stirbt, wie er stets darin gelebt hat… Was mich betrifft, so weiß ich nicht, wer Ihr seid; meine Augen sind sehr dunkel… Ist Baraja noch am Leben?«
   »Ich denke«, antwortete der Mann, »er ist jetzt mit bei der Verfolgung der Indianer, und ich hoffe, er wird zeitig genug zurückkommen, um Euch ein letztes Lebewohl zu sagen.«
   »Ich bezweifle es«, erwiderte Benito. »Ich hatte ihn einen letzten Vers aus dem Gebet für Sterbende lehren wollen … ich weiß ihn jetzt nicht mehr. Wißt Ihr nicht einige?«
   »Auch nicht ein Stückchen«, antwortete derjenige, der mit dem Sterbenden sprach.
   »Dann muß ich mich damit zufriedengeben«, antwortete Benito, den sein philosophischer Gleichmut auch in diesem letzten Augenblick nicht verließ. Darauf nahm er wieder mit noch schwächerer Stimme das Wort: »Ich habe Baraja einen alten Gefährten, einen alten Freund zurückgelassen; wer Ihr auch sein mögt, bringt ihm meinen letzten Wunsch, daß er ihn liebe wie ich …«
   »Einen Bruder ohne Zweifel?«
   »Mehr als das: mein Pferd!«
   »Ich werde ihm Eure letzten Wünsche überbringen, glaubt es sicherlich.«
   »Danke!« erwiderte der Greis. »Was mich anlangt – ich habe meine Wanderungen beendigt. Die Indianer haben mich in meiner Jugend nicht getötet, als ich ihr Gefangener war; sie haben mich in meinem Alter getötet, ohne mich gefangenzunehmen, das …«
   Er hielt inne. Es war das letztemal, daß der Greis etwas absichtlich verschwieg.
   »Das gleicht sich aus«, fügte der alte Hirt mit so schwacher Stimme hinzu, daß deren Ton kaum in das Ohr dessen gelangte, der ihm zuhörte.
   Es war auch das letzte Wort, das über die Lippen Benitos kam. Er war mit dem Fatalismus entschlafen, der alle Ereignisse als gut ansah und der den Grundzug seines Charakters bildete.
   »Er war ein braver Diener«, sagte der nächtliche Sucher zu sich selbst. »Friede sei mit ihm!«
   Indessen fuhr er immer noch fort, die blutigen, auf dem Sand hier und da eingedrückten Spuren zu untersuchen; dann ging er gedankenvoll, einer nutzlosen Nachforschung müde, mit sorgenvoller Stirn auf den Platz zurück, den er verlassen hatte. Nun schien die kalte, einförmige Ruhe des Todes abermals das ganze Lager einzuhüllen, als ob der letzte Lebende sich seinerseits zum Sterben niedergelegt hätte.
   Kaum verbreiteten die Feuer noch einen schwachen Schein, als ein Lärm von Stimmen und Pferden die Rückkehr der Abenteurer bezeichnete, die zu der Verfolgung der Apachen ausgezogen waren. Derselbe Mann, der sich schon einmal erhoben hatte, ging ihnen entgegen und befragte sie. Während mehrere Reiter vom Pferd stiegen, um sich einen Durchgang durch die Barrikaden zu öffnen, näherte sich ihm Pedro Diaz. Blutiger Schweiß strömte von seiner Stirn.
   »Don Estévan«, sagte er zu ihm, »wir sind in unserer Verfolgung nicht glücklich gewesen. Kaum zwei oder drei Flüchtlinge haben wir niederstoßen können, und dazu haben wir noch einen von den Unsrigen verloren. Doch bringe ich einen Gefangenen mit: Wollt Ihr ihn vielleicht befragen?«
   Mit diesen Worten löste Diaz seinen Lasso vom Sattelknopf und zeigte mit dem Finger auf eine unförmige Masse, die in der Schlinge lag. Es war ein Indianer, der, unbarmherzig durch die Steine und Dornen der Ebenen geschleift, bei jedem Schritt etwas von seinem Leib eingebüßt hatte und sozusagen keine Spur von menschlicher Form mehr an sich trug. »Er war doch noch lebendig, als ich ihn fing!« sagte der Abenteurer. »Aber diese indianischen Hunde sind imstande, sich lieber sterben zu lassen, um nur nicht zu sprechen.«
   Ohne bei diesem grausamen Scherz zu lächeln, machte Don Estévan Diaz ein Zeichen, ihn zu einem Ort des Lagers zu begleiten, wo sie sich beraten könnten, ohne gehört zu werden.
   Als die zuletzt Gekommenen sich ebenfalls auf die Erde gelagert hatten und alles wiederum ruhig war, sagte Arechiza: »Diaz, wir sind dicht am Ende unserer Expedition; morgen, habe ich Euch gesagt, werden wir am Fuß jener Berge lagern. Damit aber der Erfolg unsere Anstrengungen kröne, darf kein Verrat uns Hindernisse in den Weg legen. In Beziehung darauf will ich heute abend Euren Rat hören und mich ohne Rückhalt gegen Euch aussprechen.
   Ihr kennt Cuchillo seit langer Zeit, aber nicht so lange und gewiß nicht so gründlich wie ich. Seit seiner frühesten Jugend ist es sein Gewerbe gewesen, diejenigen zu verraten, denen er am meisten ergeben zu sein schien. Ich weiß nicht, welches von den Lastern, mit denen er so reich begabt ist, den Preis bei ihm davonträgt; mit einem Wort, der unheilverkündende Ausdruck seines Gesichts ist nur ein schwacher Abglanz seiner schwarzen Seele. Diese reiche und geheimnisvolle Goldmine, zu der ich Euch führe und deren Ausbeute die ruhmvolle Wiedergeburt Sonoras bezahlen soll – er hat mir, wie ich Euch schon gesagt habe, deren Geheimnis verkauft. Ich habe erfahren, wie er sich zu dessen alleinigem Besitzer gemacht hat: nämlich dadurch, daß er den Freund, der es ihm umsonst mitgeteilt hatte, ermordete, während dieser Unglückliche in ihm einen treuen Begleiter in der Gefahr zu finden wähnte.
   Ich habe also immer ein offenes Auge auf Cuchillo gehabt; heute abend hatte mich sein Verschwinden beunruhigt, aber es konnte die Folge eines in diesen Steppen sehr gewöhnlichen Ereignisses sein. Der Angriff, dessen Opfer wir beinahe alle geworden wären, hat meinen Verdacht bestätigt. Er hat sich abermals unter unserem Schutz bis zu der Stelle begeben, wo seine Hand sich nach einem Teil dieser unermeßlichen Schätze ausstrecken konnte. Er bedurfte der Hilfe, um sechzig entschlossene Männer zu ermorden; die Apachen sind heute nur seine Werkzeuge und Mitschuldigen gewesen.«
   »In der Tat«, erwiderte Diaz, »ist mir einiges Zögern bei seinem Bericht verdächtig erschienen; aber es gibt ein einfaches Mittel: Man kann einen Kriegsrat versammeln, ihn verhören, der Verräterei überführen und ihn noch während der Sitzung erschießen.«
   »Seit dem Beginn des Kampfes hatte ich ihm einen Posten in meiner Nähe angewiesen, um ihn leichter überwachen zu können; ich habe ihn schwanken und – anscheinend tödlich getroffen – zu Boden stürzen sehen.
   Ich habe mir Glück gewünscht, einen Verräter und Feigling losgeworden zu sein, aber eben habe ich die Toten wieder und wieder gezählt und Cuchillo nirgends gefunden. Es ist darum dringend notwendig, daß wir, ohne Zeit zu verlieren, seine Spur verfolgen; er kann noch nicht weit von hier sein. Ihr seid an solche Art von Expeditionen gewöhnt; wir müssen ohne Verzug seine Verfolgung aufnehmen und schnelle, strenge Gerechtigkeit an einem Ehrlosen üben, der seine Verräterei mit seinem Leben bezahlen soll.«
   Diaz schien einige Augenblicke nachzudenken, dann faßte er einen schnellen Entschluß und sagte: »Seine Spur wird nicht weit und nicht schwer zu verfolgen sein; Cuchillo hat die Richtung nach dem Val d‘Or einschlagen müssen. In der Richtung nach dem Val d‘Or hin müssen wir also suchen.«
   »Ihr werdet eine Stunde ausruhen«, erwiderte der Chef, »denn Ihr müßt müde sein vom Gemetzel. Ach, Diaz, wenn alle die Männer wären wie Ihr, wie leicht würden wir uns – das Gold in der einen, den Degen in der anderen Hand – einen Weg bahnen!«
   »Ich habe getan, was ich vermochte«, entgegnete der Abenteurer einfach.
   »Ihr werdet unseren Leuten sagen, daß es notwendig ist, eine Rekognoszierung in der Umgebung des Lagers vorzunehmen. Ihr werdet unseren Soldaten den Befehl überbringen, gut Wache zu halten und unsere Rückkehr zu erwarten; dann sollen Baraja und Oroche uns begleiten, und alle vier zusammen wollen wir die Richtung nach dem Val d‘Or einschlagen.«
   »Es ist ganz gewiß, daß Cuchillo dort sein muß; und trotz des Vorsprungs, den er vor uns hat, werden wir ihn doch auf dem Hinweg oder auf der Rückkehr wiederfinden.«
   »Wir werden ihn im Val d‘Or treffen«, sagte Don Estévan. »Wenn Ihr es ein einziges Mal gesehen habt, so sollt Ihr mir sagen, ob es ein Ort ist, den ein Mensch wie Cuchillo leicht verlassen kann, sobald er ihn erreicht hat.«
   Diaz entfernte sich, um die Befehle seines Chefs auszuführen. Dieser ließ sein Zelt wieder aufrichten, damit selbst in seiner Abwesenheit sein Sternenbanner über dem Lager wehe als ein Zeichen schützender Gewalt; dann warf er sich auf sein Bett und schlief den Schlaf des Soldaten auf dem Schlachtfeld nach einem mühevollen Tagwerk.
   Eine Stunde darauf stand Diaz vor seinem Lager. »Don Estévan«, sagte er, »es ist alles zum Aufbruch bereit.« Der Herzog von Armada stand auf; er hatte sich in voller Kleidung niedergelegt. Sein Pferd war gesattelt und wartete auf ihn. Oroche und Baraja saßen ebenfalls im Sattel.
   »Diaz«, sagte Don Estévan vor dem Aufbruch halblaut, »fragt doch die Wachen, ob Gayferos zurückgekehrt ist.« Diaz wiederholte die Frage des Chefs einer Schildwache, die mit dem Gewehr im Arm hinter den Wagen auf und ab ging.
   »Señor Capitan«, antwortete der befragte Soldat, »der arme Kerl wird ohne Zweifel niemals zurückkehren. Die Indianer haben ihn gewiß überrascht und erschossen, ehe sie uns angriffen. Das ist auch wahrscheinlich, wie der alte Benito sagte, die Ursache der Flintenschüsse, die wir den ganzen Nachmittag gehört haben.«
   »Es ist nur zu gewiß, daß Gayferos getötet worden ist«, antwortete Pedro Diaz; »was aber die Flintenschüsse betrifft, deren Schall das Echo uns zugetragen hat, so ist es wahrscheinlich, daß sie eine andere Ursache haben.« Als er diese Worte gesprochen hatte, war Don Estévan seinerseits zu Pferd gestiegen, und während die Schildwachen allein wachten, wie die Reihe sie gerade traf, schlugen sie im scharfen Trab die Richtung nach den Nebelbergen ein.


   32. Steppenbilder

   Zur selben Stunde des Tages, wo die Indianer vereint um das Beratungsfeuer saßen und über die Mittel zum Angriff auf das Lager der Goldsucher berieten, müssen wir drei Personen wieder aufsuchen, die wir schon zu lange, wie man uns vorwirft, vergessen haben.
   Es ist ungefähr vier Uhr nachmittags. Die Steppe ist noch ruhig; der Nebel fängt an, sich langsam vom Fluß zu erheben, in dessen Mitte das kleine Eiland liegt, das den drei Jägern Bois-Rosé, Fabian und Pepe einen Zufluchtsort geboten hatte. Große Weiden und Zitterpappeln wuchsen an den Ufern des Rio Gila, etwa einen Büchsenschuß von der kleinen, in Rede stehenden Insel und dem Wasser so nahe, daß ihre Wurzeln den Uferrand durchbrachen und vom Fluß benetzt wurden. Der Zwischenraum zwischen den Bäumen war überdies ausgefüllt durch die kräftigen Schößlinge der Wasserweide oder durch sonstigen ineinander verschlungenen jungen Nachwuchs.
   Der Insel aber beinahe gegenüber öffnete sich ein ziemlich weiter vegetationsloser Raum. Das war der Weg, den sich die Herden wilder Pferde und Büffel gebahnt hatten, um am Fluß ihren Durst zu löschen. Man konnte also von der Insel aus durch diese Öffnung einen freien Blick auf die Ebene werfen. Die Insel, auf der sich die drei Jäger befanden, war in ihren ersten Anfängen durch Baumstämme gebildet, die durch ihre Wurzeln auf dem Grund des Flußbettes festgehalten wurden. Andere Bäume waren durch dieses Hindernis aufgehalten worden – die einen noch mit ihren Zweigen und ihrer Blättermasse versehen, die anderen schon trocken seit langer Zeit —, und aus der Verschlingung ihrer Wurzeln hatte sich etwas wie ein plumpes Floß gebildet.
   Seit dieser Anschwemmung hatten aber noch viele Winter und Sommer vergehen müssen, denn trockenes Gras, das durch großes Wasser von den Flußufern weggerissen worden war und sich in den Zweigen verwickelt hatte, füllte die Zwischenräume dieses Floßes aus. Dann hatte der Staub, den der Wind aufjagt und weithin mit sich fortnimmt, dieses Gras mit einer Erdkruste bedeckt und bildete so auf dieser schwimmenden Insel eine Art festen Bodens. Wasserpflanzen waren an ihrem Rand entlang aufgeschossen. Weidenstämme hatten kräftige Schößlinge getrieben, die samt dem Rohr und dem Schilf diese Insel mit einer grünen Einfassung umgaben, die sich sonderbar genug um die trockenen Baumskelette und die großen Zweige ohne Rinde geschlungen hatte.
   Diese Art von Floß konnte fünf bis sechs Fuß im Durchmesser haben, und ein Mann, der sich niedergelegt hatte oder selbst nur kniete, verschwand gänzlich, wie groß er auch sein mochte, hinter dem Vorhang, den die Schößlinge und die Zweige der Weiden bildeten.
   Die Sonne senkte sich gegen Westen, und schon warf der Blätter– und Pflanzengürtel ein wenig Schatten, der sich über den ganzen Raum der Insel verlängerte. Unter dem Einfluß der Kühle des eben entstandenen Schattens und den Ausdünstungen des Flusses schlief Fabian, auf der Erde liegend. Bois-Rosé schien diesen kostbaren Schlaf zu überwachen, dem er sich nach den Beschwerden eines langen Tagesmarsches und mitten unter stets sich wieder erneuernden Gefahren in aller Hast überlassen hatte. Pepe suchte Erfrischung, indem er seine Beine im Wasser badete.
   Wir wollen den augenblicklichen Schlaf Fabians nützen, um den Schleier aufzuheben, unter dem der junge Graf vor den Augen seiner beiden Freunde seine geheimsten und teuersten Gedanken verbarg.
   In dem Augenblick, als Fabian in den Gießbach stürzte, hatte Pepe vergessen, daß der Feind, dem er Rache geschworen hatte, seinem Haß entging. Der Kanadier und er hatten nur daran gedacht, Fabian schnell zu Hilfe zu kommen. Als das Leben in ihn zurückkehrte, war sein Herz noch zerrissen von der Erzählung des früheren Grenzjägers, und seine erste Bewegung bestand darin, eine abgebrochene Verfolgung wiederaufzunehmen. Die Eroberung des Val d‘Or, die stets lebende Erinnerung an Doña Rosarita waren einen Augenblick vor der gebieterischen Notwendigkeit, seine Mutter zu rächen, zurückgetreten. Pepe seinerseits war nicht der Mann, auf den Eid, den er geschworen hatte, zu verzichten. Was Bois-Rosé anlangt, so hatte er seine ganze Liebe auf seine beiden Gefährten übertragen und wäre ihnen bis ans Ende der Welt gefolgt.
   Weit davon entfernt, durch diese augenblickliche Schlappe den Mut zu verlieren, hatte diese ihren Eifer nur noch mehr angespornt. In der Liebe wie im Haß sind die Hindernisse immer ein mächtiger Sporn bei Gemütern von kräftigem Schlag. Nach und nach war in dieser Verfolgung ein doppeltes Ziel vor Fabians Augen getreten. Er näherte sich durch diese dem Val d‘Or, das in der Steppe lag, in die Don Antonio eben eindrang, und belebte zugleich eine unbestimmte Hoffnung: Vielleicht war die Goldmine, deren Geheimnis ihm entdeckt war, die gleiche wie diejenige, die die durch den Herzog von Armada geführte Expedition in Besitz nehmen wollte. Bei ruhiger Überlegung sagte sich nun Fabian, daß die Tochter Don Agustins sich ohne Zweifel nur den ehrgeizigen Plänen ihres Vaters fügte und daß es ihm, von edler Geburt und reich, ein leichtes sein würde, den Sieg über einen Nebenbuhler wie den Senator Tragaduros davonzutragen.
   Aber nach und nach war auch die Mutlosigkeit zurückgekehrt und hatte sich Fabians bemächtigt. Er liebte die Tochter des Hacenderos mit allen Kräften, von ganzem Herzen. Er hätte lieber das Herz Rosaritas allein besessen, als daß er ihre Person und nicht ihre Liebe mit dieser gekauft hätte, und das Bewußtsein, diese Liebe nur den Schätzen, denen er nachjagte, zu verdanken, hatte die Mutlosigkeit bei ihm hervorgebracht, deren Opfer er geworden war.
   Fabian hatte ebensogut begriffen, daß die glühende und eifersüchtige Liebe des Kanadiers ihn zum Mittelpunkt seines Lebens gemacht hatte; daß Bois-Rosé, der wie alle seine Genossen, die Waldläufer, dem zivilisierten Leben für immer entsagt hatte, ähnlich dem Adler, der sein Junges der Hand des Menschen entreißt, um es auf seinen Horst zu tragen, der ihm nur allein zugänglich ist, aus ihm seinen unzertrennlichen Gefährten in der Steppe machen wollte und daß es hieß, einen Trauerschleier über die Zukunft des alten Mannes zu werfen, wenn er in dieser Hoffnung getäuscht würde. Indessen hatte noch keinerlei vertrauliche Besprechung über ihre zukünftigen Pläne zwischen Fabian und Bois-Rosé stattgefunden. Aber einer – wie er glaubte – hoffnungslosen Liebe gegenüber hatte Fabian den glühenden, wenn auch geheimen Wünschen des Mannes, der zwei Jahre hindurch Vaterstelle bei ihm vertreten hatte und dem eine Trennung das Herz brechen mußte, großmütig und stillschweigend seine Wünsche und Hoffnungen, die sich noch gegen den Tod stemmten, zum Opfer gebracht.
   Wir könnten mit einem Wort die Lage Fabians, der sozusagen nur die Hand auszustrecken brauchte, um Güter, die jedermann beneidet – Reichtum, Titel, Ehren – in Besitz zu nehmen, mit nichts besser vergleichen als mit dem Zustand eines Mannes, dessen Leben durch eine unglückliche Liebe allen Reiz verloren hat, der die Zukunft verschmäht und in einem Kloster Vergessen der Vergangenheit sucht. Für Fabian de Mediana war die Steppe dieses Kloster; und hatte er erst Rache für seine Mutter genommen, so blieb ihm nichts mehr übrig, als sich für immer darin zu begraben. Die Einöde mit ihren geheimnisvollen Stimmen; mit den glühenden Betrachtungen, die sie weckt; mit den endlosen Aufregungen, in die sie stürzt, ist nur ein trauriges und wirkungsloses Heilmittel für eine Leidenschaft, die die Einsamkeit selbst so tief in dem jungen Herzen Fabians entwickelt hatte.
   Eine einzige Hoffnung blieb ihm: nämlich daß mitten unter den stets wiederkehrenden Gefahren eines abenteuerlichen Lebens der Tag vielleicht nicht fern war, wo er sein Leben in irgendeinem Zusammentreffen mit den Indianern oder bei einem verzweifelten Unternehmen verlor, das er gegen den Mörder seiner Mutter versuchen würde.
   Er hatte vor dem Kanadier sorgfältig die Liebe verborgen gehalten, die noch in der Tiefe seines Herzens begraben lag, und nur in dem Schweigen der Nächte wagte Fabian, während er wachte, zuweilen verstohlene Blicke in die geheimen Falten seines Herzens zu werfen. Dann erhob sich wie der strahlende Widerschein, den der Verbannte am Horizont eines dunklen Himmels über den großen Städten bemerkt, von denen er scheiden muß, vor den Augen Fabians ein ferner Glanz in der unermeßlichen Steppe und zeigte ihm ein ewig strahlendes Bild in jener Maueröffnung der Hacienda, an die sich seine letzten Erinnerungen knüpften. Oder wie die dumpfe Stimme eines Mannes, den man lebendig begraben hat, vom Lärm des Tages erschreckt wird, so sprach Fabians vergeblich bekämpfte Liebe leise in sein Ohr, während diese Nächte voll banger, trauriger Klagen langsam vergingen.
   Am Tag jedoch suchte der heroische junge Mann unter einer anscheinenden Ruhe die Melancholie zu verbergen, die ihn verzehrte. Er begnügte sich, mit trauriger Ergebung bei den Plänen für die Zukunft zu lächeln, die der Kanadier zuweilen vor ihm aufzurollen nicht unterließ. Dieser fühlte sich glücklich, den wiedergefunden zu haben, und zitterte, den noch einmal zu verlieren, dessen Hand eines Tages seine Augen zudrücken sollte, wenn er sich zu einem ewigen Schlaf in diesen Steppen niederlegte, in denen sein Leben verlaufen mußte.
   Die blinde Zärtlichkeit Bois-Rosés ahnte nicht den Abgrund auf der ruhigen Oberfläche des Sees. Pepe allein schien klarer zu sehen. Unter dem Eindruck solcher Gedanken begegnen wir den drei Gefährten auf der Insel des Flusses Gila wieder.
   »Gewiß«, sagte der spanische Jäger, »würden die Einwohner von Madrid einen Wasserstrom wie diesen hier im Manzanares teuer bezahlen; aber es ist auch nicht weniger gewiß, daß wir hier einen ganzen Tag verlieren, der nützlicher hätte angewandt werden können, wenn wir uns dem Val d‘Or genähert hätten, von dem wir zur Zeit nicht mehr fern sein können.«
   »Ich gebe es zu«, antwortete Bois-Rosé, »aber das Kind« – und mit diesen Worten meinte er den kraftvollen jungen Mann, der unter seinen Augen schlief– »ist nicht so wie wir daran gewöhnt, lange Tagemärsche zu Fuß zu machen; und obgleich sechzig Meilen in zwölf Tagen für uns keine Anstrengung sind, so bedeuten doch für ihn sechzig Meilen schon etwas, da er niemals weite Strecken anders als zu Pferd zurückgelegt hat. Aber er wird noch kein Jahr bei uns sein, so ist er imstande, ebenso lange zu marschieren, als wir selbst es nur vermögen.«
   Pepe konnte sich nicht enthalten, bei dieser Antwort des Kanadiers zu lächeln; aber dieser bemerkte es nicht, und der frühere Grenzjäger fuhr fort, mit den Füßen im kühlen Flußwasser zu plätschern. »Sieh nur«, sagte der Spanier, indem er auf den schlafenden Fabian zeigte, wie sehr sich der arme Junge seit wenigen Tagen verändert hat. Ich finde es ganz begreiflich; als ich mich in seinem Alter befand, hätte ich das einfachste hübsche Gesichtchen einer Manola und die Puerta del Sol zu Madrid allen Herrlichkeiten der Steppe vorgezogen. Die Anstrengung allein hat diese Veränderung bei ihm nicht hervorgebracht. Es steckt ein Geheimnis dahinter, das der junge Mann uns nicht sagt!« Aber ich werde es eines Tages erfahren, schloß Pepe in Gedanken. Bei diesen Worten wandte der Kanadier lebhaft sein Gesicht nach seinem heißgeliebten Kind, und ein freudiges Lächeln verjagte die Wolke, die plötzlich seine Stirn umlagert hatte.
   Fabian lächelte wirklich; er träumte, daß er vor Rosarita kniete und ihrer süßen Stimme lauschte, die ihm von ihrer Angst während seiner langen Abwesenheit erzählte, und daß hinter ihm, auf seine Büchse gestützt, Bois-Rosé sie beide segnend betrachtete. – Aber es war nur ein Traum.
   Die beiden Jäger waren einen Augenblick still und betrachteten den schlafenden Fabian.
   »Das ist also der letzte Sprößling der Mediana«, sagte der Spanier seufzend.
   »Was gehen uns jetzt die Mediana und ihr mächtiges Geschlecht an?« unterbrach ihn der Kanadier. »Ich kenne hier nur ganz einfach Fabian. Als ich ihn gerettet, als ich mich so seiner angenommen habe, als wäre er ein Knabe von meinem eigenen Blut gewesen, habe ich da etwa nach seinen Ahnen gefragt?«
   »Du wirst ihn aufwecken, wenn du in solchem Ton sprichst; deine Stimme rauscht wie ein Wasserfall«, sagte Pepe. »Das ist wahr!«
   Und der Riese fuhr mit leiserem Ton fort: »Du willst mich immer an Dinge erinnern, die ich gar nicht zu wissen wünschte oder die ich wenigstens vergessen möchte. Ich weiß gewiß, daß einige Jahre in der Steppe ihn daran gewöhnen werden …«
   »Du bildest dir wahrhaftig sonderbare Dinge ein, Bois-Rosé«, unterbrach ihn seinerseits der Spanier, »wenn du meinst, daß mit den Hoffnungen, die Don Fabian in Spanien erwarten, und mit den Rechten, die er dort wieder in Anspruch nehmen kann, dieser junge Mann sich entscheiden sollte, sein ganzes Leben in den Steppen zuzubringen. Das ist gut genug für uns, die wir weder Haus noch Hof haben; aber er …«
   »Wie denn? Ist nicht die Steppe den Städten vorzuziehen?« antwortete lebhaft der frühere Matrose, der es sich vergeblich auszureden suchte, daß der Spanier recht hatte. »Ich nehme es auf mich, ihn über die Vorzüge eines unsteten Lebens vor einer sitzenden Lebensart aufzuklären. Ist nicht der Mensch geboren, um sein ganzes Leben hindurch zu kämpfen und die mächtigen Aufregungen der Steppe zu empfinden?«
   »Ganz gewiß ist es so«, sagte Pepe ernsthaft; »darum sind auch die Städte so öde und die Steppen so volkreich!«
   »Scherze nicht; ich spreche von ernsten Dingen«, antwortete der Kanadier. »Ich lasse Fabian vollkommene Freiheit, seinen Neigungen zu folgen, aber ich werde es schon dahin bringen, daß er dieses berauschende Leben von Mühseligkeiten und Gefahren lieben lernt. Sieh nur einmal: Ist nicht ein solcher in aller Eile in der Mitte von zwei Gefahren in der Steppe genossener Schlaf demjenigen vorzuziehen, den man nach einem sicher durchlebten, müßigen Tag in den Städten genießt? Würdest du wohl selbst, Pepe, einwilligen, jetzt in dein Vaterland zurückzukehren, nachdem du die Reize eines unsteten Daseins schätzen gelernt hast?«
   »Es gibt zwischen dem Erben der Mediana – und ich nehme es auf mich, ihn seinen Onkel beerben zu lassen, ehe es noch Zeit dazu ist – und dem früheren Grenzjäger einen wesentlichen Unterschied. Ihm wird man schöne Besitzungen, einen großen Namen, ein schönes gotisches Schloß mit Türmchen, verziert wie die Kathedrale von Burgos, zurückgeben; während man sich beeilen würde, mich wieder nach Ceuta zu schicken, um Thunfische zu angeln, was wohl das abscheulichste Leben ist, das ich kenne. Ich hätte dann nur eine Aussicht, ihm zu entgehen: nämlich eines schönen Morgens in Tunis oder in Tetuan als Sklave unserer Nachbarn, der Mauren Afrikas, zu erwachen. Es ist wahr, ich habe hier täglich die Aussicht, von den Indianern skalpiert oder lebendig von ihnen geschunden zu werden, was mich viel eher zu der Behauptung brächte, daß die Städte ebenso gefährlich für mich sind wie die Steppen; aber für Don Fabian …«
   »Fabian hat immer in der Einöde gelebt«, unterbrach ihn der Kanadier, »und ich denke, er wird die Ruhe der Steppe dem Lärm der Städte vorziehen. Wie schweigend und feierlich ist nicht alles um uns! Sieh nur das Kind an« – er zeigte mit der Hand auf den schlafenden jungen Mann —, »es schläft sanft, eingewiegt vom Murmeln des Flusses, der dies kleine Eiland bespült, oder vom Lufthauch, der leise durch die Weiden rauscht. Sieh dort unten den Nebel« – und er zeigte auf den Horizont —, »den die Sonne zu färben beginnt; sieh die grenzenlose, unermeßliche Ebene, die der Mensch in seiner ursprünglichen Freiheit durchstreift wie der Vogel, der durch die Luftregionen schwebt!«
   Der Spanier schüttelte das Haupt mit zweifelnder Miene, obgleich er von Herzen die Ansichten des Kanadiers teilte, da auch für ihn das umherschweifende Leben durch die Gewöhnung daran mit einem geheimen Zauber erfüllt war. »Sieh«, fuhr der alte Jäger fort; »diese Staubwolke, die sich am Ufer des Flusses erhebt, ist ein Haufe wilder Pferde, die ihren Durst löschen wollen, ehe sie für die Nacht ihren fernen Weideplatz wieder aufsuchen. Sieh doch, wie sie sich in der ganzen stolzen Schönheit nähern, die Gott den Tieren in der Freiheit gegeben hat! Das Auge glüht, die roten Nüstern sind weit geöffnet, die Mähne flattert durch die Luft! Ach, ich habe Lust, Fabian aufzuwecken, damit er sie sehe und bewundere …«
   »Laß ihn schlafen, Bois-Rosé! Vielleicht verleiht ihm sein Schlaf Träume, wie man sie in seinem Alter hat; anmutigere Erscheinungen, als ihm jemals die Steppe vorführen wird; Erscheinungen, an denen unsere Städte in Spanien reich sind auf den Balkonen oder hinter den vergitterten Fenstern.«
   Der alte Jäger seufzte. »Indessen«, fügte er hinzu, »ist dies auch ein schöner Anblick! Ach, wie diese edlen Tiere vor Freude im Rausch ihrer Freiheit umherspringen!«
   »Ja, bis zu dem Augenblick, wo die Indianer Jagd auf sie machen und sie dann vor Schreck fortrasen werden.«
   »Da stürmen sie hin, schnell wie die Wolke, die der Wind vor sich hertreibt«, fuhr der Kanadier fort, der noch gegen seine eigene Überzeugung kämpfte. »Jetzt ändert sich die Szene. Halt! Siehst du den Hirsch, der von Zeit zu Zeit seine großen, leuchtenden Augen und sein schwarzes Maul in den Zwischenräumen der Bäume zeigt? Er wittert in der Luft, er lauscht. Ach, da kommt er ebenfalls, um zu trinken. Er hat Geräusch gehört, er hebt den Kopf empor; könnte man nicht sagen, daß diese Wasserfäden, die aus seinem Maul herabträufeln, flüssiges Gold sind, wenn die Sonne sie so glänzend färbt? Gewiß, ich werde das Kind wecken.«
   »Laß ihn schlafen, sage ich dir; vielleicht zeigt ihm jetzt ein Traum statt dieses schönen Tieres schwarze Augen und lächelnde Rosenlippen hinter den Weiden oder irgendeine am Rand eines klaren Baches schlafende Nymphe gleich der dem Strauß entfallenen und im Gras vergessenen Blume.«
   Der alte Kanadier seufzte abermals. »Ist dieser Hirsch nicht auch das Sinnbild unbegrenzter Unabhängigkeit?«
   »Bis zu dem Augenblick, wo die Wölfe sich sammeln, um ihn zu verfolgen und zu zerreißen. Vielleicht würde er in unseren Tiergärten mehr Aussicht auf ein langes Leben haben. Jedes Ding zu seiner Zeit, Bois-Rosé: Das reife Alter liebt die Stille, die Jugend hat nur fröhliche Träume mitten im Lärm.«
   Die Täuschung kämpfte bei Bois-Rosé noch gegen die Wirklichkeit. Das ist der Tropfen Galle, den Gott in jede Schale voll Glück träufelt: Er will nicht, daß es eine vollkommene Glückseligkeit gäbe, es würde uns sonst zu schwer werden, zu sterben; wie er ebensowenig das Unglück ohne Entschädigung dafür will, es würde uns sonst schwer werden, zu leben.
   Der Kanadier senkte nachdenklich das Haupt auf seine Brust und warf, in traurige Träumereien versenkt, nur dann und wann einen verstohlenen Blick auf seinen schlafenden Ziehsohn, während Pepe wieder seine Halbstiefel aus Büffelhaut anzog.
   »Ei sieh doch! Was sagte ich dir? Hörst du nicht dieses ferne Geheul? Ich wollte sagen dieses Bellen; denn jagende Wölfe bellen wie Hunde. Armer Hirsch! Er ist wahrlich, wie du sagtest, das Sinnbild des Lebens in der Steppe!«
   »Soll ich diesmal Fabian aufwecken?« fragte der Kanadier mit triumphierender Miene.
   »Ja, gewiß«, erwiderte der Spanier; »denn wenn seine Träume so gewesen sind, wie ich vermute, so ist, nachdem man von der Liebe geträumt hat, der Anblick einer schönen Jagd das sehenswerteste Schauspiel für einen großen Herrn, wie er es künftig sein wird; und gewiß wird er selten etwas Ähnliches sehen.«
   »Das heißt, er wird in keiner Stadt etwas Ähnliches sehen!« rief der Kanadier ganz begeistert. »Solche Szenen werden ihm Liebe zur Steppe einflößen.« Und der alte Jäger rüttelte sanft den jungen Mann, nachdem er ihn schon vorher gerufen hatte, um ihm selbst ein plötzliches Auffahren beim Erwachen zu ersparen.
   Das Geweih tief auf dem Rücken, den Hals geschwellt, den Kopf zurückgeworfen, um leichter durch die weit geöffneten Nüstern die seinen weiten Lungen nötige Luft einatmen zu können, floh der Hirsch wie ein Pfeil durch die unermeßliche Ebene; hinter ihm lief eine heißhungrige Schar von Wölfen – die einen weiß, die meisten aber schwarz – und verfolgte ihn mit der Schnelligkeit von Kanonenkugeln, die von einer Fläche abprallen.
   Der Hirsch war ihnen sehr weit voraus; aber auf den Sanddünen, die die Savanne bedeckten und sich fast mit dem Horizont vereinigten, konnte das scharfe Auge eines Jägers andere, als Wachen aufgestellte Wölfe unterscheiden, die die Anstrengungen ihrer Gefährten, ihnen den Hirsch zuzutreiben, beobachteten. Das edle Tier schien sie nicht zu sehen oder ihre Gegenwart nicht zu beachten, denn es floh immer nach dieser Richtung hin.
   Als er sich den Schildwachen, die ihm den Weg versperrten, bis auf eine gewisse Entfernung genähert hatte, stand der Hirsch einen Augenblick still. In der Tat war er durch einen Kreis von Feinden, der immer enger um ihn wurde, eingeschlossen, und er stand still, um ein wenig Atem zu schöpfen.
   Plötzlich machte er kehrt, lief den Wölfen entgegen, die ihn in ihren Hinterhalt jagten, und versuchte eine äußerste und letzte Anstrengung, um diese Schar von Feinden zu durchbrechen. Aber er konnte über diesen Haufen heulender Köpfe nicht hinwegsetzen und fiel mitten unter seine Verfolger. Einige rollten zertreten unter seine Füße, zwei oder drei von ihnen beschrieben mit aufgeschlitztem Leib einen Kreis in der Luft. Dann näherte sich das arme Tier, an dessen Sprunggelenk sich ein Wolf festgebissen hatte, mit blutigen Weichen und heraushängender Zunge dem Rand des Flusses, gerade den drei Zuschauern dieser sonderbaren Jagd gegenüber.
   »Das ist schön, das ist prächtig!« rief Fabian, indem er in die Hände klatschte und von jenem Jagdeifer fortgerissen wurde, der das zarte Gefühl in den Herzen fast aller Menschen schweigen läßt.
   »Ist das nicht schön?« sagte seinerseits der alte Kanadier, ganz glücklich über die Freude Fabians und selbst glücklich in seiner Jagdlust. »Wohlan, mein Sohn, wir werden noch vieles andere der Art sehen. Du siehst hier nur die ärmliche Seite der Steppen Amerikas; wenn du aber erst mit Pepe und mir am Ufer der großen Ströme und der großen Seen des Nordens sein wirst…«
   »Der Hirsch hat sich eben von seinem Feind befreit«, unterbrach ihn Fabian, »und wird sich in den Fluß stürzen!«
   Das Wasser brauste und schäumte beim Sprung des Hirsches; hinter ihm schäumte und brauste es noch zehnmal; dann sah man aus den schäumenden Fluten den Kopf und das Geweih des Hirsches und die Köpfe der Wölfe auftauchen, die ihn gierig mit blutunterlaufenen Augen, heulend vor Hunger und Lüsternheit, verfolgten, während die anderen, die Furchtsamen, wie toll am Ufer hinrannten und ein klägliches Bellen hören ließen.
   Der Hirsch war nicht mehr weit von der Insel entfernt, auf der sich die Zuschauer seines Todeskampfes befanden, als die am Ufer zurückgebliebenen Wölfe plötzlich zu bellen aufhörten, um bestürzt die Flucht zu ergreifen. »Nun? Was ist das?« fragte Pepe. »Woher kommt dieser panische Schrecken?«
   Der gewesene Grenzsoldat hatte seine Frage noch nicht beendet, als das Schauspiel, das sich plötzlich seinen Augen darbot, selbst die Antwort darauf gab.
   »Bückt euch! Bückt euch! Um Gottes willen nieder hinter das Schilf!« sagte er, indem er mit gutem Beispiel voranging. »Die Indianer jagen ebenfalls!«
   In der Tat erschienen jetzt furchtbarere Jäger auf diesem weiten Tummelplatz, der allen, die in diese herrenlosen Steppen kamen, offenstand.
   Etwa zwölf von den wilden Pferden, die der Kanadier und Pepe ihren Durst löschen gesehen hatten, galoppierten bestürzt durch die Ebene. Indianische Reiter, die ohne Sattel auf ihren Pferden saßen, um diese schneller zu machen, und die Knie fast bis zum Kinn heraufgezogen hatten, um ihnen ganz freien Lauf zu lassen, sprengten hinter den erschreckten Tieren her. Anfänglich waren nur drei Indianer zu sehen; aber nach und nach tauchten beinahe zwanzig an der Grenze des Horizonts empor. Die einen waren mit Lanzen bewaffnet, andere wiederum ließen ihre Lassos aus geflochtenem Leder durch die Luft kreisen; alle aber stießen jenes Geheul aus, wodurch sie ihre Freude oder ihren Zorn kundgeben.
   Pepe warf einen fragenden Blick auf den Kanadier, wie um ihn zu fragen, ob er auch so schreckliche Aussichten berechnet hätte, um Fabian ihre abenteuerliche Lebensweise angenehm zu machen. Zum erstenmal in einem solchen Augenblick war die Stirn des unerschrockenen Jägers von einer tödlichen Blässe bedeckt. Ein düsterer, aber beredter Blick war die Antwort Bois-Rosés auf die stumme Frage des Spaniers.
   Das heißt, dachte Pepe, daß eine zu große Liebe im Herzen des mutigsten Mannes ihn für den zittern läßt, den er mehr als sein Leben liebt, und daß Abenteurer, wie wir es sind, durch nichts an die Welt gefesselt sein dürfen. Ein Beispiel ist Bois-Rosé, der schwach wird wie ein Weib.
   Indessen war es beinahe gewiß, daß selbst das so geübte Auge eines Indianers ihren geheimen Zufluchtsort nicht durchdringen konnte. Die drei Jäger beobachteten also, nachdem die erste Unruhe vorüber war, die Bewegungen der Indianer mit kälterem Blut. Einen Augenblick noch verfolgten die wilden Reiter die flüchtigen Pferde.
   Die zahllosen Hindernisse, mit denen diese anscheinend so gleichen Ebenen besät sind – nämlich Schluchten, Hügel, Kakteen mit scharfen Spitzen —, konnten sie nicht aufhalten. Ohne sich nur die Mühe zu geben, ihren ungestümen Ritt zu mäßigen oder diese Hindernisse zu umgehen, setzten die indianischen Krieger mit einer Kühnheit, die vor nichts zurückbebte, darüber hinweg. Fabian betrachtete, da er selbst ein tollkühner Reiter war, die Kunststückchen dieser unerschrockenen Jäger mit Enthusiasmus; doch bewirkten die Vorsichtsmaßnahmen, die die drei Freunde zu treffen genötigt waren, um sich dem Auge der Indianer zu entziehen, daß ihnen ein Teil des großartigen und zugleich schrecklichen Schaupiels einer indianischen Jagd entging, deren Gegenstand man leicht selbst werden kann.
   Diese weiten, eben noch so öden Savannen hatten sich plötzlich in eine Szene voll Verwirrung und Lärm verwandelt. Der halb zu Tode gejagte Hirsch, der gezwungen war, das Ufer wieder zu ersteigen, setzte seine windschnelle Flucht fort, während die durch ihre Anstrengungen gierig gemachten Wölfe ihn heulend verfolgten. Die wilden Pferde flohen vor den Indianern, deren Geheul dem der reißenden Tiere nichts nachgab, und beschrieben weite Kreise, um der Lanze oder dem Lasso zu entgehen. Zahlreiche Echos wiederholten das Bellen der Wölfe und das verwirrende, schreckliche Geheul der Apachen.
   Beim Anblick Fabians, der mit funkelndem Auge all diesen geräuschvollen Bewegungen folgte, ohne, wie es schien, sich über die Gefahr zu beunruhigen, der er zum erstenmal gegenüberstand, rief Bois-Rosé vergeblich sein Selbstvertrauen zurück, das ihn wohlbehalten aus drohenderen Gefahren als dieser hier gerettet hatte, zumal sie sich nicht sorgen mußten, so leicht entdeckt zu werden. »Ach«, begann er, »das sind Szenen, wie sie die Bewohner der Städte niemals sehen werden. Nur in der Steppe begegnet man ihnen!« Aber seine Stimme zitterte wider seinen Willen, und er schwieg. Er fühlte recht gut, daß er ein Jahr seines Lebens darum gegeben hätte, wenn sein Kind nicht Zeuge davon zu sein brauchte. Eine Ursache zu noch größeren Befürchtungen vermehrte bald noch seine Angst.
   Ohne sich äußerlich zu verändern, wurde die Szene noch ernster; ein neuer Spieler – ein Spieler, dessen Rolle kurz, aber schrecklich sein sollte – war eben aufgetreten. Es war ein Reiter, den die drei Freunde an seinem Anzug schaudernd als einen Weißen erkannten, für einen Christen wie sie selbst. Der Unglückliche, der plötzlich bei einer Schwenkung der indianischen Jagd entdeckt wurde, war nun seinerseits Gegenstand einer ausschließlichen Verfolgung geworden. Die wilden Pferde, die Wölfe, der Hirsch waren im fernen Nebel verschwunden. Es blieben nur noch zwanzig auf allen Punkten eines unermeßlichen Umkreises zerstreute Reiter zurück, in deren Mitte sich der Weiße zu Pferd befand. Einen Augenblick konnte man ihn, allein unter so vielen Feinden, einen Blick verzweiflungsvoller Angst nach allen Punkten des Horizonts werfen sehen. Aber überall waren Indianer – die Seite nach dem Fluß hin ausgenommen. Diese einzige Richtung war noch freigelassen, und hierhin mußte er fliehen; er warf also sein Pferd ungestüm herum in Richtung der Baumgruppe, die sich der Insel gegenüber erhob. Aber der kurze Augenblick, während dessen er unentschlossen stehengeblieben war, war für die Indianer genug gewesen; sie hatten sich schon näher zusammengezogen.
   »Der Unglückliche ist verloren, wie er es auch anfangen mag«, sagte Bois-Rosé; »es ist nun zu spät, durch den Fluß zu schwimmen.«
   »Bois-Rosé, Pepe«, rief Fabian, »wenn wir einen Christen retten können, sollen wir ihn dann vor unseren Augen ermorden lassen?«
   Pepe befragte Bois-Rosé mit einem Blick.
   »Ich bin Gott für dein Leben verantwortlich«, sagte der Kanadier feierlich; »das könnte es nicht mehr sein, wenn wir entdeckt würden; wir sind nur drei gegen zwanzig. Das Leben von drei Männern – das deine besonders, Fabian – ist mehr wert als das eines einzigen; wir müssen das Schicksal dieses armen Teufels sich erfüllen lassen.«
   »Aber wir sind ja gedeckt!« fuhr der edelmütige Fabian fort.
   »Wir sind gedeckt?« erwiderte Bois-Rosé. »Nennst du diesen schwachen Wall von Weiden, Rohr und Schilf eine gedeckte Stellung? Denkst du, daß diese Blätter undurchdringlich für die Kugeln sind? Und dann sind diese Indianer jetzt zwanzig an der Zahl; sobald eine Kugel aus unserer Büchse einen dieser roten Dämonen zu Boden gestreckt hat, wirst du bald hundert anstatt zwanzig erblicken! Gott verzeihe mir meine Härte, aber sie ist notwendig!«
   Fabian bestand diesem letzten Grund gegenüber nicht mehr auf seiner Meinung. Er war nur zu wahrscheinlich, und Fabian wußte nicht, daß der Hauptteil der Indianerschar sich dem Lager der Weißen zugewandt hatte.
   Während dieser Zeit floh der Weiße wie ein Mann, der als letztes Hilfsmittel nur noch die Schnelligkeit seines Pferdes kennt. Er wandte sich nach der in der Baumgruppe der schwimmenden Insel gegenüber befindlichen Öffnung. Schon konnte man den Ausdruck seiner schreckensbleichen Züge bemerken. Er war nur noch zwanzig Schritt vom Fluß, als der Lasso eines Indianers auf ihn niederfiel und der Unglückliche das Gleichgewicht verlor, heftig aus dem Sattel und auf den Sand geschleudert wurde. »Nun? Was ist das?« fragte Pepe. »Woher kommt dieser panische Schrecken?«
   Der gewesene Grenzsoldat hatte seine Frage noch nicht beendet, als das Schauspiel, das sich plötzlich seinen Augen darbot, selbst die Antwort darauf gab.
   »Bückt euch! Bückt euch! Um Gottes willen nieder hinter das Schilf!« sagte er, indem er mit gutem Beispiel voranging. »Die Indianer jagen ebenfalls!«
   In der Tat erschienen jetzt furchtbarere Jäger auf diesem weiten Tummelplatz, der allen, die in diese herrenlosen Steppen kamen, offenstand.
   Etwa zwölf von den wilden Pferden, die der Kanadier und Pepe ihren Durst löschen gesehen hatten, galoppierten bestürzt durch die Ebene. Indianische Reiter, die ohne Sattel auf ihren Pferden saßen, um diese schneller zu machen, und die Knie fast bis zum Kinn heraufgezogen hatten, um ihnen ganz freien Lauf zu lassen, sprengten hinter den erschreckten Tieren her. Anfänglich waren nur drei Indianer zu sehen; aber nach und nach tauchten beinahe zwanzig an der Grenze des Horizonts empor. Die einen waren mit Lanzen bewaffnet, andere wiederum ließen ihre Lassos aus geflochtenem Leder durch die Luft kreisen; alle aber stießen jenes Geheul aus, wodurch sie ihre Freude oder ihren Zorn kundgeben.
   Pepe warf einen fragenden Blick auf den Kanadier, wie um ihn zu fragen, ob er auch so schreckliche Aussichten berechnet hätte, um Fabian ihre abenteuerliche Lebensweise angenehm zu machen. Zum erstenmal in einem solchen Augenblick war die Stirn des unerschrockenen Jägers von einer tödlichen Blässe bedeckt. Ein düsterer, aber beredter Blick war die Antwort Bois-Rosés auf die stumme Frage des Spaniers.
   Das heißt, dachte Pepe, daß eine zu große Liebe im Herzen des mutigsten Mannes ihn für den zittern läßt, den er mehr als sein Leben liebt, und daß Abenteurer, wie wir es sind, durch nichts an die Welt gefesselt sein dürfen. Ein Beispiel ist Bois-Rosé, der schwach wird wie ein Weib.
   Indessen war es beinahe gewiß, daß selbst das so geübte Auge eines Indianers ihren geheimen Zufluchtsort nicht durchdringen konnte. Die drei Jäger beobachteten also, nachdem die erste Unruhe vorüber war, die Bewegungen der Indianer mit kälterem Blut. Einen Augenblick noch verfolgten die wilden Reiter die flüchtigen Pferde.
   Die zahllosen Hindernisse, mit denen diese anscheinend so gleichen Ebenen besät sind – nämlich Schluchten, Hügel, Kakteen mit scharfen Spitzen —, konnten sie nicht aufhalten. Ohne sich nur die Mühe zu geben, ihren ungestümen Ritt zu mäßigen oder diese Hindernisse zu umgehen, setzten die indianischen Krieger mit einer Kühnheit, die vor nichts zurückbebte, darüber hinweg. Fabian betrachtete, da er selbst ein tollkühner Reiter war, die Kunststückchen dieser unerschrockenen Jäger mit Enthusiasmus; doch bewirkten die Vorsichtsmaßnahmen, die die drei Freunde zu treffen genötigt waren, um sich dem Auge der Indianer zu entziehen, daß ihnen ein Teil des großartigen und zugleich schrecklichen Schauspiels einer indianischen Jagd entging, deren Gegenstand man leicht selbst werden kann.
   Diese weiten, eben noch so öden Savannen hatten sich plötzlich in eine Szene voll Verwirrung und Lärm verwandelt. Der halb zu Tode gejagte Hirsch, der gezwungen war, das Ufer wieder zu ersteigen, setzte seine windschnelle Flucht fort, während die durch ihre Anstrengungen gierig gemachten Wölfe ihn heulend verfolgten. Die wilden Pferde flohen vor den Indianern, deren Geheul dem der reißenden Tiere nichts nachgab, und beschrieben weite Kreise, um der Lanze oder dem Lasso zu entgehen. Zahlreiche Echos wiederholten das Bellen der Wölfe und das verwirrende, schreckliche Geheul der Apachen.
   Beim Anblick Fabians, der mit funkelndem Auge all diesen geräuschvollen Bewegungen folgte, ohne, wie es schien, sich über die Gefahr zu beunruhigen, der er zum erstenmal gegenüberstand, rief Bois-Rosé vergeblich sein Selbstvertrauen zurück, das ihn wohlbehalten aus drohenderen Gefahren als dieser hier gerettet hatte, zumal sie sich nicht sorgen mußten, so leicht entdeckt zu werden. »Ach«, begann er, »das sind Szenen, wie sie die Bewohner der Städte niemals sehen werden. Nur in der Steppe begegnet man ihnen!« Aber seine Stimme zitterte wider seinen Willen, und er schwieg. Er fühlte recht gut, daß er ein Jahr seines Lebens darum gegeben hätte, wenn sein Kind nicht Zeuge davon zu sein brauchte. Eine Ursache zu noch größeren Befürchtungen vermehrte bald noch seine Angst.
   Ohne sich äußerlich zu verändern, wurde die Szene noch ernster; ein neuer Spieler – ein Spieler, dessen Rolle kurz, aber schrecklich sein sollte – war eben aufgetreten. Es war ein Reiter, den die drei Freunde an seinem Anzug schaudernd als einen Weißen erkannten, für einen Christen wie sie selbst. Der Unglückliche, der plötzlich bei einer Schwenkung der indianischen Jagd entdeckt wurde, war nun seinerseits Gegenstand einer ausschließlichen Verfolgung geworden. Die wilden Pferde, die Wölfe, der Hirsch waren im fernen Nebel verschwunden. Es blieben nur noch zwanzig auf allen Punkten eines unermeßlichen Umkreises zerstreute Reiter zurück, in deren Mitte sich der Weiße zu Pferd befand. Einen Augenblick konnte man ihn, allein unter so vielen Feinden, einen Blick verzweiflungsvoller Angst nach allen Punkten des Horizonts werfen sehen. Aber überall waren Indianer – die Seite nach dem Fluß hin ausgenommen. Diese einzige Richtung war noch freigelassen, und hierhin mußte er fliehen; er warf also sein Pferd ungestüm herum in Richtung der Baumgruppe, die sich der Insel gegenüber erhob.
   Die folgenden 2 Seiten fehlten im Buch. Re.
   »Was sollen wir diesem Hund antworten?« sagte Bois-Rosé.
   »Nichts«, erwiderte Pepe lakonisch.
   Wirklich war auch der Windhauch, der im Schilf des Flusses säuselte, die einzige Antwort, die der indianische Häuptling erhielt.
   Der Schwarze Falke begann abermals: »Der Adler kann seine Spur in der Luft dem Auge eines Apachen verbergen; der Lachs, der den Wasserfall hinaufschwimmt, läßt keine Furche hinter sich zurück; aber ein Weißer, der die Steppe durchstreift, ist weder ein Adler noch ein Lachs!«
   »Ein Vogel ebensowenig«, murmelte Pepe der Schläfer; »und nur ein Vogel könnte sich jetzt verraten, wenn er anfinge zu singen.«
   Der Indianer horchte abermals; aber die Antwort des Spaniers war nicht gegeben, um bis zu ihm zu gelangen.
   »Die weißen Krieger des Nordens«, fing der Schwarze Falke wieder an, ohne die Geduld zu verlieren, »sind nur ihrer drei« – und er betonte das Zahlwort, um seinen Zuhörern recht begreiflich zu machen, daß er ihre Anzahl ebensogut wie ihre Stellung wisse —, »sie sind nur ihrer drei gegen zwanzig, und die roten Krieger verpfänden ihr Wort, ihre Freunde und Verbündeten zu sein!«
   »Aha«, sagte der Kanadier leise zu Pepe; »zu welcher Verräterei mag uns der Indianer wohl gebrauchen wollen?«
   »Lassen wir es ihn sagen, und wir werden es erfahren«, antwortete Pepe; »er ist noch nicht zu Ende, oder ich müßte mich sehr täuschen.«
   »Wenn die weißen Krieger die Absichten des Schwarzen Falken kennenlernen wollen, so mögen sie aus ihrem Versteck hervorkommen!« fuhr der Apachenhäuptling fort. »Sie werden sie kennenlernen: Die weißen Männer aus dem Norden sind die Feinde derer aus dem Süden; ihre Sprache, ihr Gott sind nicht dieselben. Die Apachen halten in ihren Krallen ein ganzes Lager von Kriegern aus dem Süden.«
   »Die Goldsucher werden einen schlechten Augenblick haben«, sagte Bois-Rosé.
   »Wenn die Krieger aus dem Norden ihre langen Büchsen mit gezogenem Lauf mit denen der Indianer vereinigen wollen, so sollen sie mit diesen die Skalpe, die Schätze, die Pferde der Männer aus dem Süden teilen; und die Indianer und die Weißen werden um die Leichname ihrer Feinde tanzen.«
   Bois-Rosé und Pepe sahen sich mit Erstaunen an. Auch Fabian wußte durch ihre Übersetzung, daß man ihnen ein Bündnis vorschlug, das ihr Gewissen zurückwies; und ihre leuchtenden Augen, der verächtliche Ausdruck ihrer Züge bewiesen, daß die drei edelmütigen Männer in diesem Punkt ganz einer Ansicht waren: nämlich lieber zu sterben als den Indianern zu einem Triumph selbst über ihre Todfeinde zu verhelfen.
   »Hört ihr den Ungläubigen?« sagte Bois-Rosé, den seine Entrüstung fortriß, mit einem in der indianischen Sprache gebräuchlichen Bild. »Er hält Jaguare für Schakale. Ach, wenn Fabian nicht hier wäre«, schloß er ganz leise, »so würde die Kugel aus einem guten gezogenen Lauf meine Antwort überbringen.«
   Unterdessen verlor der Indianer keineswegs die Überzeugung von der Gegenwart der Jäger auf der Insel; er fing indessen an, die Geduld zu verlieren, denn die Befehle der Häuptlinge im Kriegs rat waren entscheidend. Diese Befehle lauteten, die Weißen anzugreifen; aber wir haben schon gesagt, daß der indianische Diplomat sich seine eigene Politik gemacht hatte, die er zur Geltung bringen wollte. Er wußte, daß die Kugel eines Amerikaners oder eines Kanadiers niemals ihr Ziel verfehlt; und wie groß auch die Anzahl der Mexikaner sein mochte – die Verbündeten aus dem Norden schienen ihm nicht verschmäht werden zu müssen. Er hatte also versucht, sie für seine Sache zu gewinnen.
   »Der Büffel der Steppe«, begann er abermals, »ist nicht leichter zu verfolgen als die Spur eines Weißen. Die Fährte des Büffels sagt dem Indianer, wie alt er ist; ob er fett oder mager ist; wohin er seinen Lauf richtet und sogar, wann er vorbeigezogen ist. Es befindet sich also hinter dem Schilf der schwimmenden Wiege ein Mann, stark wie ein Bison und größer als die längste Büchse; bei ihm sind ein Krieger von einer Rasse, die aus dem Süden und dem Norden gemischt ist, und ein junger Krieger aus der reinen Rasse des Südens. Aber das Bündnis der beiden letzteren mit dem ersteren beweist, daß sie Feinde der Weißen aus dem Süden sind; denn die Schwachen suchen die Freundschaft der Starken, und deren Streitsache ist immer die ihrige.«
   »Der Scharfsinn dieser Hunde ist bewunderungswürdig«, sagte Bois-Rosé zu Pepe.
   »Das denkst du, weil sie dir schmeicheln«, erwiderte der frühere Grenzsoldat, dessen Eigenliebe etwas verletzt schien.
   »Ich warte auf die Antwort der Weißen!« begann der Schwarze Falke wieder. Und er lauschte. »Ich höre nur«, fuhr er fort, »das Rauschen des Stromes, das Wehen des Windes, der mir sagt: Die Weißen bilden sich tausend Irrtümer ein; sie glauben, daß der Indianer seine Augen hinten im Nacken habe, daß die Spur des Bisons unsichtbar ist, daß Schilfbüsche undurchdringlich für die Kugeln sind. Der Schwarze Falke spottet über die Antwort des Windes.«
   »Aha«, sagte Pepe, »der Indianer spricht seine wahre Sprache; es war gar nicht so abgeschmackt, Verbündete, wie wir sind, aufzusuchen.«
   »Ach«, sagte der Kanadier, »wären wir doch zwei Meilen weiter oben in den Fluß gestiegen!«
   »Ein verschmähter Freund«, fuhr der indianische Häuptling spruchreich fort, »wird ein schrecklicher Feind.« »Wir sagen etwas Ähnliches bei uns«, fügte Pepe mit leiser Stimme hinzu:
   »Ni pastel recalentado, Ni amigo reconciliado.«
   Zu gleicher Zeit machte der Schwarze Falke dem Gefangenen ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Dieser näherte sich. Der Häuptling zeigte ihm das Eiland mit dem Finger und bezeichnete ihm den Raum zwischen zwei Schilfbüscheln.
   »Wird die Büchse des Bleichgesichts« – es war dies bei dem Indianer keine Anspielung auf die bleifarbige Blässe, die die Stirn des Unglücklichen bedeckte, sondern es ist eine gewöhnliche Bezeichnung der Hautfarbe der Weißen– »wohl eine Kugel in den Zwischenraum senden können, der jenes lange Schilf dort unten voneinander trennt?«
   Aber der Gefangene hatte nur wenig von dem Spanischen verstanden, das dem indianischen Dialekt beigemischt war, und blieb stumm und zitternd stehen. Darauf sagte der Schwarze Falke einige Worte zu einem seiner Krieger, der dem Weißen die Büchse zurückgab, die man ihm genommen hatte; dann machte er endlich durch Gebärden dem Gefangenen begreiflich, was er von ihm verlangte. Der unglückliche Goldsucher zielte; aber der Schrecken ließ seine Glieder zittern, und seine Büchse schwankte in seiner Hand von der rechten zur linken Seite, von oben nach unten.
   »Der arme Junge wird nicht einmal die Insel treffen«, sagte Pepe sorglos; »und wenn der Indianer kein besseres Mittel hat, uns zum Sprechen zu bringen, so will ich sicherlich bis morgen kein Wort reden.«
   Der Weiße gab Feuer, und wirklich schlug die Kugel, die von seinen zitternden Händen abgesandt war, pfeifend einige Zoll diesseits der Insel ins Wasser.
   Der Schwarze Falke machte eine Gebärde der Verachtung; dann wandte er sich um und ließ sein Auge rings umherschweifen.
   »Jawohl!« sagte Pepe. »Suche nur Pulver und Kugeln unter den Lanzen und Lassos deiner Krieger!«
   Als der gewesene Grenzjäger diesen tröstlichen Gedanken ausgesprochen hatte, kehrten die fünf Reiter, die sich auf Befehl des Häuptlings entfernt hatten, auf ihren wieder gesattelten Pferden zurück, selbst für den Kampf von Kopf bis zu den Füßen bewaffnet, mit Büchsen oder Köchern, die von Pfeilen strotzten. Sie hatten nur ihre Waffen wieder geholt, die sie abgelegt hatten, um ungehindert die wilden Pferde zu jagen. Fünf andere Krieger entfernten sich ihrerseits.
   »Das verschlimmert sich«, sagte Bois-Rosé traurig. »Ob wir sie angreifen, solange ihrer nicht mehr als fünfzehn sind?« fragte Pepe. »Nein«, erwiderte der Kanadier, »bleiben wir stumm und still; der Indianer zweifelt noch, ob wir hier sind oder nicht.«
   »Wie du willst!« Und Pepe blickte wieder durch den Raum zwischen den Baumstämmen.
   Der Indianerhäuptling hatte selbst seine Büchse genommen und näherte sich abermals dem Ufer. »Die Hand des Schwarzen Falken zittert nicht wie das dürre Gras vor dem Wind«, sagte der Indianer, der seine Büchse hob und sie mit dem Lauf gerade nach der Insel in seinen kräftigen Händen festhielt. »Aber ehe er Feuer gibt«, fuhr er fort, »wird der Indianer die Antwort der auf dem Eiland verborgenen Weißen erwarten; er wird bis hundert zählen!«
   »Leg dich hinter mich, Fabian«, sagte Bois-Rosé.
   »Ich bleibe hier!« sagte Fabian mit entschlossener Miene. »Ich bin viel jünger, und mir kommt es zu, mich für dich der Gefahr auszusetzen.«
   »Mein Kind«, sagte der Kanadier, »siehst du denn nicht, daß mein Körper in allen Punkten den deinigen überragt? Das hieße also den Kugeln der Indianer ein doppeltes Ziel darbieten!« Ohne auch nur einen einzigen von den Schilfstengeln, die die grüne Einfassung rings um die Insel bildeten, erzittern zu lassen, kam der Kanadier herbei und kniete vor Fabian nieder.
   »Laßt alles mit Euch machen, Fabian«, sagte Pepe ruhig. »Niemals hat ein Mann einen besseren Schild gehabt als das Herz dieses Riesen, das nur um Euretwillen vor Furcht klopft.«
   Der Häuptling lauschte zählend, die Büchse im Anschlag; aber nur das Wasser murmelte leise, indem es das Schilf vor seinen Füßen niederbog; nur ein warmer Lufthauch wehte über den Fluß – sonst herrschte überall tiefes Schweigen nah und fern.
   Der Schwarze Falke gab Feuer, und Rohrstücke flogen in die Luft; aber die drei Jäger lagen einer hinter dem anderen auf den Knien, ohne ein breites Ziel darzubieten; die Kugel fuhr also pfeifend an ihnen vorüber.
   Der Schwarze Falke ließ noch eine Minute vergehen, dann rief er wieder mit lauter Stimme: »Der Indianer hat sich getäuscht; er sieht seinen Irrtum ein und wird die weißen Krieger anderswo suchen.«
   »Glaube das und trink Wasser dazu!« sagte Pepe. »Der Hund ist seiner Sache sicherer als je. Der Versucher wird uns endlich einige ruhige Minuten gönnen, bis er mit dem armen Teufel dort ein Ende gemacht hat; und das wird nicht lange dauern, denn der Tod eines Weißen ist ein Schauspiel, das ein Indianer eiligst zu genießen sucht.«
   »Aber ist es jetzt nicht an der Zeit, einen Versuch zur Rettung dieses Unglücklichen, dem ein schrecklicher Tod bevorsteht, zu machen?« fragte Fabian.
   Bois-Rosé befragte seinerseits seinen Gefährten mit einem Blick und antwortete: »Wir sagen nicht nein; aber unterdessen hoffe ich immer noch, daß irgendein unerwartetes Ereignis uns zu Hilfe kommt. Was auch Pepe dazu sagen mag – dieser Indianer kann immer noch seiner Sache nicht gewiß sein; zeigen wir uns aber, so wird er nicht mehr zweifeln.« Er wurde nachdenklich. »Ein Bündnis mit diesen Dämonen anzunehmen – selbst gegen Don Estévan – würde eine gemeine Feigheit sein. Was sollen wir tun? … Was sollen wir tun? …« fügte er unentschlossen hinzu.
   Noch eine andere Besorgnis quälte ihn. Er hatte Fabian in der Gefahr gesehen, als sein Blut siedete unter der Glut der Leidenschaft. Besaß aber Fabian auch wohl den kalten, unbewegten Mut, der dem Tod trotzt, ohne aufgeregt zu werden? Besaß er jenen stoischen Gleichmut, von dem der Spanier und er, Bois-Rosé, tausend Proben gegeben hatten? Der Kanadier faßte einen plötzlichen Entschluß.
   »Höre, Fabian, wirst du die Sprache eines Mannes verstehen? Werden die Worte, die durch die Ohren in dein Herz dringen, es nicht erstarren lassen?«
   »Warum an meinem Mut zweifeln?« erwiderte Fabian im Ton sanften Vorwurfs. »Was du auch sagen magst, ich werde es hören, ohne zu erbleichen; was du auch tun magst, ich werde es tun, ohne zu zittern.«
   »Don Fabian hat recht, Pepe!« sagte der Kanadier. »Sieh nur, wie stolz sein Auge seine einfache Sprache Lügen straft!« Und im Ausbruch seiner Freude drückte er Fabian an seine Brust und begann dann wieder mit einer gewissen Feierlichkeit: »Niemals haben sich drei Männer in einer größeren Gefahr befunden, als diejenige ist, die uns bedroht; unsere Feinde sind siebenmal stärker als wir. Wenn jeder von uns sechs Krieger getötet hat, so wird immer noch eine Anzahl übrigbleiben, die der unseren fast gleichkommt …«
   »Wir haben es schon gekonnt!« unterbrach ihn Pepe.
   »Gut«, erwiderte Bois-Rosé; »was aber auch folgen möge – diese Dämonen sollen uns wenigstens nicht lebendig fangen. Laß hören, Fabian«, fügte der alte Mann mit einer Stimme hinzu, die nach Festigkeit rang, und entblößte zugleich ein langes breites Messer mit hornenem Griff. »Wenn wir kein Pulver mehr hätten und ohne Munition der Willkür dieser Hunde preisgegeben wären, was würdest du sagen, wenn in dem Augenblick, wo wir in ihre Hände fallen, dieser Dolch in meiner Hand die einzige Rettung wäre?«
   »Ich würde sagen: ›Stoß zu, mein Vater; laß uns zusammen sterben!‹«
   »Ja, ja«, sagte der Kanadier mit einem unaussprechlich zärtlichen Blick auf den Sprechenden, der ihn seinen Vater nannte, »das wäre noch ein Mittel, uns nicht mehr zu verlassen.« Und er reichte Fabian seine vor Aufregung zitternde Hand, der diese Hand eines Helden ehrerbietig küßte. Das Auge des Kanadiers leuchtete von einer stolzen Zärtlichkeit. »Jetzt«, sagte er, »mag kommen, was da will; wir werden uns nicht mehr trennen. Gott wird helfen – wir wollen die Rettung dieses Unglücklichen versuchen.«
   »Ans Werk also!« sagte Fabian.
   »Noch nicht, noch nicht, mein Kind; wir wollen erst sehen, was diese roten Dämonen mit ihrem Gefangenen vorhaben.«
   Während dieses Gesprächs hatten die Indianer den Gefangenen herbeigeholt, ohne ihn jedoch am freien Gebrauch seiner Glieder zu hindern. In einer Entfernung von zwei Büchsenschüssen vom Ufer waren sie in einer geraden Linie aufgestellt. Der Weiße befand sich eine kurze Strecke diesseits seiner in gerader Linie stehenden Henker.
   »Ich sehe, was sie tun wollen«, sagte Bois-Rosé; »so gut, als wäre ich bei ihrer Beratung zugegen gewesen. Sie wollen prüfen, ob die Füße des Unglücklichen fester sind als seine Hand. Diese Dämonen wollen sich das Vergnügen eines Wettlaufs machen.«
   »Wieso?« fragte Fabian.
   »Sie werden dem Gefangenen einen kleinen Vorsprung lassen, dann nimmt jeder auf ein gegebenes Zeichen seinen Anlauf. Die Indianer verfolgen ihn nun mit der Lanze oder der Streitaxt in der Hand. Wenn der Weiße schnellfüßig ist, so wird er eher als sie an den Fluß kommen, und wir wollen ihm dann zurufen, zu uns herüberzuschwimmen.
   Einige Büchsenschüsse werden ihn beschützen, und er wird wohl und gesund auf die Insel gelangen. Das übrige ist unsere Sache. Wenn ihm aber seine Füße vor Schreck den Dienst versagen, wie es eben mit seiner zitternden Hand der Fall war, so wird der erste Indianer, der ihn einholt, seinen Kopf mit der Streitaxt zerschmettern oder ihn mit einem Lanzenstoß durchbohren. In jedem Fall wollen wir unser Bestes tun.«
   In diesem Augenblick kamen die fünf Indianer, die sich entfernt hatten, ebenso wie ihre Vorgänger von Kopf bis zu den Füßen bewaffnet, zurück. Die zuletzt Gekommenen traten zu den übrigen.
   Fabian preßte heftig den Lauf seiner Büchse und warf einen Blick innigen Mitleids auf den unglücklichen Weißen, der mit verstörten Augen und schreckentstellten Zügen in einer fürchterlichen Angst wartete, daß von dem indianischen Häuptling das Zeichen gegeben würde. Es war ein feierlicher Augenblick, denn die Menschenjagd sollte beginnen.
   Auf dem Eiland wie auf der Ebene erwartete jedermann das Zeichen mit tiefer Beklommenheit, als der Schwarze Falke eine Gebärde mit der Hand machte, um den Augenblick der Eröffnung dieser schändlichen Jagd noch zu verzögern. Diese Gebärde war leicht zu begreifen. Mit dem Finger zeigte er auf die nackten Füße seiner Krieger und dann auf die Halbstiefel aus Korduanleder, die die Füße des Weißen bedeckten. Man sah nun, wie der Weiße sich auf den Sand niedersetzte und langsam und zögernd, um vielleicht noch einige Minuten zu gewinnen, sich seiner Fußbekleidung entledigte.
   »Die Hunde! Die Dämonen!« sagte Fabian. Aber Bois-Rosé legte die Hand auf seinen Mund. »Still!« sagte er. »Nimm diesem Unglücklichen nicht, indem du dich zu früh zeigst, die letzte Aussicht, sein Leben zu retten; nämlich unseren Schutz im Bereich unserer Büchsen.«
   Fabian begriff und schloß die Augen, um das schreckliche Schauspiel nicht zu sehen, das vor ihm aufgeführt werden sollte.
   Endlich stand der Weiße zum zweitenmal aufrecht; die Indianer hatten den Fuß vorgestreckt und verschlangen ihn mit ihren Blicken. Der Schwarze Falke klatschte in die Hände.
   Man könnte das Geheul, das auf dieses Signal folgte, nur mit dem Brüllen einer Schar Jaguare vergleichen, die auf eine Herde Damwild Jagd machen. Der unglückliche Gefangene schien die Füße des Hirsches zu haben, aber seine Verfolger setzten ihm wie jagende Tiger nach. Infolge des Vorsprungs, den er erhalten hatte, durcheilte der Gefangene wohlbehalten einen Teil der Entfernung, die ihn vom Ufer des Flusses trennte. Aber die Kieselsteine zerrissen seine Füße, und die scharfen Spitzen der Nopals, von denen sie durchbohrt wurden, ließen ihn bald hin und her schwanken.
   Nichtsdestoweniger hatte er immer noch einigen Vorsprung, als einer der Indianer einen Sprung bis zu ihm machte und einen wütenden Stoß mit der Lanze auf den Läufer richtete. Die Waffe fuhr zwischen Arm und Leib hindurch; der Indianer verlor durch die Kraft seines verfehlten Stoßes das Gleichgewicht und stürzte unsanft in den Sand.
   Gayferos – man erinnert sich, daß sein Name so lautete – schien einen Augenblick ungewiß zu sein, ob er die der Hand des gefallenen Indianers entschlüpfte Lanze aufraffen solle oder nicht. Dann ließ der Instinkt der Selbsterhaltung ihn seinen Lauf wieder fortsetzen. Dieses Zögern war ihm verderblich.
   Die drei Jäger verfolgten, die Büchse im Anschlag, mit ängstlichen Augen die verschiedenen Aussichten auf den Erfolg des Kampfes eines einzelnen gegen zwanzig Feinde. Plötzlich blitzte mitten in der Staubwolke, die sich bei diesem verzweifelten Rennen erhoben hatte, eine Streitaxt über dem Haupt des unglücklichen Gayferos, der nun seinerseits zu Boden stürzte und durch seinen Fall beinahe bis ans Ufer geschleudert wurde.
   Der Kanadier wollte Feuer geben; nur die Furcht allein, den zu töten, den er verteidigen wollte, hielt seinen Finger am Drücker fest. Einen Augenblick – einen einzigen Augenblick – öffnete der Wind die Staubwolke. Bois-Rosé gab Feuer – aber es war zu spät; der Indianer, den die Kugel des Jägers niederstreckte, schwang in der Hand den blutigen Skalp des unglücklichen Gefangenen, der verstümmelt am Ufer lag.
   Auf diesen unerwarteten Schuß, dem ein vom Kanadier und vom Spanier zu gleicher Zeit ausgestoßener Kriegsruf folgte, antwortete das Geheul sämtlicher Indianer. Die Apachen zogen sich von dem zurück, der nur noch ein Leichnam zu sein schien. Bald jedoch sah man, wie der vermeintliche Tote sich blutend mit nacktem Schädel erhob, zwei Schritte vorwärts taumelte und, von dem herabströmenden Blut geblendet, erschöpft wieder hinstürzte.
   Der kanadische Jäger bebte vor Entrüstung. »Ach«, sagte er, »wenn ihm noch ein Funke von Leben bleibt; wenn er nur skalpiert ist – denn man stirbt nicht davon —, so wollen wir ihn noch retten! Gott sei mein Zeuge!«


   34. Indianische Kriegslist

   Als der Kanadier den hochherzigen Schwur, den die Entrüstung ihm entrissen hatte, ausgesprochen hatte, schien es ihm, als ob er eine flehentliche Stimme vernähme. »Ruft der Unglückliche nicht um Hilfe?« sagte er. Und zum erstenmal hob er den Kopf über den Kreis von Schilf empor.
   Beim Anblick der Mütze aus Fuchspelz, die das Haupt des Riesen bedeckte, und der langen, schweren Büchse, die seine Hand wie eine Weidengerte aufzuheben schien, erkannten die Apachen einen ihrer furchtbarsten Feinde aus dem Norden, und alle wichen bestürzt bei dieser plötzlichen Erscheinung zurück. Man darf nicht vergessen, daß außer dem Schwarzen Falken keiner der indianischen Krieger die Beschreibung des Jägers kannte. Dieser ließ einen festen und sicheren Blick über das Ufer gleiten, wo Gayferos lag, von dem die Indianer sich zurückgezogen hatten. Er bemerkte den armen Skalpierten, der mit schwacher Stimme um Hilfe rief und seine zitternden Hände nach ihm ausstreckte. Der Indianer, der ihn skalpiert hatte, hielt noch die Kopfhaut des Weißen in seinen vom Tod krampfhaft zusammengezogenen Fingern.
   Bei diesem schrecklichen Anblick erhob sich der Kanadier und zeigte seine gigantische Gestalt in ihrer ganzen Größe. »Gebt nacheinander Feuer auf diese Hunde«, sagte er, »und vergeßt nicht, daß sie euch nicht lebendig gefangennehmen dürfen!«
   Mit diesen Worten ging Bois-Rosé entschlossen ins Wasser. Jedem anderen Mann wäre es bis an den Kopf gegangen; aber der Kanadier ragte mit seiner ganzen Schulterbreite darüber hinaus. Seine Büchse hielt die Feinde in ehrerbietiger Entfernung.
   »Schießt erst nach mir«, sagte Pepe zu Fabian; »ich habe eine festere Hand als Ihr, und meine Kentuckybüchse trägt doppelt so weit wie Euer Lütticher Gewehr. Aber auf jeden Fall macht es so wie ich und bleibt im Anschlag! Wenn einer dieser Hunde eine Bewegung macht, so überlaßt mir die Sorge, ihn daran zu hindern, uns Schaden zuzufügen.«
   Der Spanier ließ sein funkelndes Auge über seine Feinde gleiten, die sich in gehöriger Entfernung hielten, und bedrohte seinerseits mit dem Lauf seiner Büchse jeden Apachen, indem er bereitstand, beim geringsten Zeichen von Feindseligkeit ihrerseits Feuer zu geben.
   Der Kanadier ging während dieser Zeit immer vorwärts, und das Wasser um ihn wurde nach und nach flacher, als ein Indianer seine Büchse hob, um auf den unerschrockenen Jäger zu feuern. Ein Schuß kam ihm zuvor, und der Indianer ließ sein Gewehr in den Sand fallen, während er selbst aufs Gesicht stürzte.
   »Die Reihe ist an Euch, Don Fabian«, sagte Pepe, indem er sich auf die Erde warf, um, nach amerikanischer Sitte für solchen Fall, auf dem Rücken liegend, seine Büchse wieder zu laden.
   Fabian drückte ab; aber da sein Schuß weniger sicher war und sein Gewehr nicht so weit trug, so stieß der Indianer, auf den er zielte, nur einen Schrei der Wut aus, stürzte aber nicht nieder. Einige Pfeile flogen auf den Kanadier los; aber Bois-Rosé bückte sich oder parierte sie mit erprobter Kaltblütigkeit mit der Hand, und in dem Augenblick, als er den Fuß auf das Ufer setzte, hatte Pepe seine Büchse wieder geladen und war bereit, ein zweites Mal Feuer zu geben. Die Indianer waren einen Augenblick unentschlossen, und dies nützte der Jäger, um Gayferos auf den Rücken zu nehmen.
   Der Unglückliche klammerte sich fest an seine Schultern und hatte die Geistesgegenwart, die Arme seines Retters nicht an ihrer Bewegung zu hindern. Der Kanadier trat mit seiner Last abermals ins Wasser, ging aber rückwärts. Ein einziges Mal ließ sich die Büchse Bois-Rosés hören, und ein Indianer antwortete auf den Schuß mit einem Todesschrei. Zuletzt flößte dieser Rückzug des Löwen, der unter dem Feuer Fabians und Pepes bewerkstelligt wurde, den Feinden Ehrfurcht ein, und einige Minuten darauf legte Bois-Rosé siegreich den armen, fast ohnmächtigen Gayferos auf den Boden der Insel nieder.
   »Jetzt sind drei kampfunfähig«, sagte der Riese. »Wir werden einen Waffenstillstand von einigen Minuten haben. Nun, Fabian, siehst du, wie vorteilhaft ein Feuern nacheinander ist? Die Schelme haben eine Viertelstunde lang genug. Für dein erstes Auftreten ist es nicht übel, und ich kann dir die Versicherung geben, daß du mit einer Kentuckybüchse, wie wir sie haben, ein recht guter Schütze sein wirst.«
   Der augenblickliche Erfolg, den er eben errungen hatte, schien bei dem Kanadier die düsteren Gedanken verscheucht zu haben; er wandte sich an Gayferos, der dumpfe Seufzer ausstieß, und sagte: »Wir sind zu spät gekommen, um Eure Kopfhaut zu retten, mein Junge; beruhigt Euch, das ist nicht gefährlich. Ich habe eine Menge Freunde, die in derselben Lage sind wie Ihr und sich darum nicht schlechter befinden; man spart noch dabei, indem man sich das Haar nicht schneiden zu lassen braucht; das ist alles. Das Leben ist für den Augenblick gerettet, das ist das Wesentliche bei der Sache! Wir wollen nun versuchen, ob wir es auch ferner bewahren können.«
   Mittels einiger Stücke von Gayferos‘ Kleidung legte man um seinen skalpierten Schädel einen groben Verband aus gequetschten und reichlich mit Wasser getränkten Weidenblättern. Nachdem man diesen Verband erst angelegt hatte, war an dem von Blut überströmten Kopf des Mexikaners die fürchterliche Wunde nicht mehr zu erblicken.
   »Siehst du«, sagte der Kanadier, dem der Gedanke, seinen Fabian bei sich zu behalten, immer noch Vergnügen machte, »du mußt nun die Gewohnheiten in der Steppe und die indianischen Sitten kennenlernen. Die Schelme, die auf Kosten von drei der Ihrigen erfahren haben, von welchem Schlag wir sind, haben sich zurückgezogen, um durch List zu versuchen, was sie mit Gewalt nicht zu erreichen vermocht haben. Sieh nur, wie still alles nach so großem Lärm ist.«
   In der Tat hatte die Steppe ihr düsteres, regungsloses Ansehen wieder angenommen; die Blätter der Zitterpappeln rauschten in der Abendluft, und die untergehende Sonne begann das Wasser des Flusses lebhafter zu färben. Jenseits der Fernsicht durch die Bäume war die eben noch so geräuschvolle Ebene nur noch eine weite Sandfläche, ebenso ruhig wie der Spiegel eines Sees.
   »Nun, was meinst du, Pepe? Es sind jetzt nur noch siebzehn …« fügte der Kanadier im Ton naiven Triumphes hinzu.
   »Wenn es nur siebzehn sind«, erwiderte Pepe, »so sage ich wahrlich nicht, daß wir mit ihnen nicht fertig würden; aber wenn sie Verstärkung erhalten? …»
   »Darauf müssen wir es ankommen lassen! Es ist eine schreckliche Aussicht – aber unser Leben liegt in Gottes Hand«, antwortete Bois-Rosé, der von neuem auf seine Besorgnisse für Fabian zurückkam: »Sagt doch, Freund«, redete er Gayferos an, »Ihr seid doch wahrscheinlich aus dem Lager Don Estévans?«
   »Kennt Ihr ihn denn?« fragte der Verwundete mit schwacher Stimme.
   »Jawohl. Und auf welchem abenteuerlichen Ritt habt Ihr Euch denn so weit von Eurem Lager entfernt?«
   Der Verwundete erzählte, wie er sich auf Befehl Don Estévans auf den Weg gemacht hatte, um ihren verirrten Führer wieder zu suchen, und wie er sich selbst verirrt und zu seinem Unglück mit den Indianern, die Jagd auf wilde Pferde machten, zusammengetroffen sei.
   »Wie heißt dieser Führer?« fragte Fabian.
   »Cuchillo.«
   Fabian wechselte einen Blick des Einverständnisses mit Bois-Rosé.
   »Ja«, sagte der Jäger, »es ist einige Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß dein Verdacht gegen diesen Teufel mit weißer Haut nicht ohne Grund ist und daß er wirklich die Expedition zum Val d‘Or führt; aber, mein Kind, wenn wir diesen indianischen Hunden entgehen, sind wir dann nicht ganz in seiner Nähe? Haben wir uns erst einmal dort festgesetzt, so werden wir unser Ziel erreichen, und wenn es noch hundert an der Zahl wären.« Dies hatte er Fabian leise ins Ohr gesagt.
   »Ein Wort noch«, sagte er zu dem Verwundeten, »dann sollt Ihr Ruhe haben. Wie viele Leute hat Don Estévan noch bei sich?«
   »Sechzig ungefähr«, antwortete Gayferos.
   Nachdem der Kanadier diese Erkundigung eingezogen hatte, kühlte er wiederum den schmerzenden Schädel des Verwundeten durch eine erneute Besprengung mit frischem Wasser. Der Unglückliche, der eine momentane Erleichterung fühlte, war so durch Gemütsaufregung und Blutverlust geschwächt, daß er in einen dem Tod ähnlichen Schlaf versank.
   »Nun wollen wir an unsere Lage denken«, sagte der Kanadier, »und eine Verschanzung machen, die etwas mehr den Kugeln oder den Pfeilen widersteht als diese bewegliche Einfassung von Blättern und Schilf. Habt ihr gezählt, wie viele Büchsen die Indianer haben?«
   »Sieben, wenn ich nicht irre«, antwortete der frühere Grenzjäger.
   »Es sind also zehn unter ihnen, vor denen man sich weniger zu fürchten braucht. Laßt sehen; diese Hunde können uns auf diesem Floß weder von der rechten noch von der linken Seite angreifen, da sie dem Strom folgen müssen. Man braucht sich also nur auf einen Angriff von den beiden Ufern her gefaßt zu machen, denn vielleicht haben sie einen Umweg gemacht, um über den Fluß zu setzen und uns zwischen zwei Feuer zu nehmen.«
   Die dem Ufer, auf dem die indianischen Krieger erschienen waren, entgegengesetzte Seite war hinreichend durch ungeheure Wurzeln, die wie spanische Reiter oder Schanzpfähle emporstarrten, gedeckt; aber die Seite, auf der der Angriff wahrscheinlich wieder beginnen würde, war nur von einer dichten, aber wenig haltbaren Einfassung von Schilf und Weidenschößlingen umgeben. Dank der nicht gewöhnlichen Kraft seiner Arme konnte der Kanadier mit Pepes Hilfe von den beiden äußersten Enden der Insel, die stromaufwärts und stromabwärts lagen, einige große trockene Zweige und kürzlich erst angeschwemmte Baumstämme abreißen. Einige Minuten reichten für die beiden geschickten Jäger aus, die schwächste und bedrohteste Seite mit einer groben, aber festen Verschanzung zu versehen, die den Verteidigern der Insel mehr als eine tödliche Wunde ersparen konnte.
   »Siehst du, Fabian«, sagte Bois-Rosé, »hinter diesen Baumstämmen wirst du ebenso sicher liegen als in einer Festung von Steinen. Du bist nur den Kugeln ausgesetzt, die vielleicht vom Gipfel der Bäume am Ufer aus auf dich abgeschossen werden könnten; aber ich werde dahin sehen, daß keiner dieser eingefleischten Teufel den Gipfel erreicht.« Der Kanadier rieb sich die Hände vor Vergnügen, daß er zwischen Fabian und dem Tod eine genügende Schranke erbaut hatte, und bezeichnete ihm seinen Posten hinter der am besten befestigten Stelle. »Hast du wohl bemerkt, Pepe«, fragte er, »wie bei jeder Anstrengung, die wir machten, um einen Zweig oder einen Holzblock abzureißen, die Insel bis auf den Grund erzitterte?«
   »Jawohl«, sagte Pepe; »man hätte glauben können, sie würde sich von ihrem Grund losreißen und mit dem Strom fortschwimmen.«
   Die beiden Jäger fühlten jedoch, daß der Augenblick der Gefahr herannahe und der Waffenstillstand zu Ende ginge, um einem langen, tödlichen Kampfplatz zu machen. Der Kanadier empfahl darum seinen beiden Gefährten, ihre Munition zu sparen; er gab Fabian einige Unterweisungen, sicherer zu zielen; er drückte aufgeregt die Hand des Spaniers, der den Druck schweigend erwiderte; dann schloß er Fabian mit stürmischer Zärtlichkeit an sein Herz wie an dem Tag, wo er bei dem Seegefecht von ihm getrennt wurde. Nachdem dieser Tribut der menschlichen Schwäche dargebracht war, begaben sich die Verteidiger der Insel mit einem Gleichmut auf ihre Posten, wie ihn kein Indianer in höherem Maße gezeigt haben würde.
   Einige Augenblicke vergingen, in denen der stockende Atem des Verwundeten, das Plätschern des Wassers gegen das Floß, das seinem Lauf hindernd entgegenstand, das einzige Geräusch war, das die tiefe Stille der Natur zu der Zeit unterbricht, wenn die Sonne eben untergehen will.
   Die Oberfläche des Flusses, der Gipfel der am Ufer wachsenden Zitterpappeln, die Ufer selbst und ihre Schilfbüsche – nichts entging der aufmerksamen Beobachtung der Jäger, denn die Nacht mit dem Hinterhalt in ihrem Gefolge brach schnell herein.
   »Das ist die Stunde, wo die Dämonen der Nacht ihre Schlingen legen«, sagte Bois-Rosé ernst; »die Stunde, wo diese menschlichen Jaguare umherstreifen und nach Beute suchen. Sie sind es, von denen die Heilige Schrift hat reden wollen.«
   Niemand antwortete auf diese Worte des Kanadiers, die eher ein laut ausgesprochener Gedanke waren als eine Warnung, auf der Hut zu sein. Unterdessen wurde der Schatten nach und nach dichter. Die am Ufer wachsenden Gesträuche fingen an, die abenteuerlichen Formen anzunehmen, die das Ungewisse Licht der Dämmerung den Gegenständen auf freiem Feld verleiht. Das Grün der Bäume erhält eine schwarze Färbung; aber die Gewohnheit hatte den beiden Jägern – dem Kanadier und dem Spanier – das durchdringende Auge der Indianer verliehen, und nichts konnte bei der Wachsamkeit, die sie entfalteten, ihre geübten Sinne täuschen.
   »Pepe«, begann der Jäger mit leiserer Stimme, wie wenn plötzlich die erwartete Gefahr vor ihm stünde, »kommt es dir nicht vor, als ob jenes Gebüsch dort drüben« – er zeigte mit dem Finger durch das Schilf auf einen Weidenbusch – »seine Form verändert hätte und breiter geworden wäre?«
   »Ja«, antwortete der Spanier, »das Gesträuch hat seine Form verändert.«
   »Sieh einmal, Fabian«, fuhr der kanadische Jäger fort, »du hast das durchdringende Auge, das ich in deinem Alter besaß; meinst du nicht, daß an jenem Weidenbusch – an seiner äußersten linken Seite – die Blätter sich nicht mehr in derselben Lage befinden als die Blätter unten am Stammende, wo der Saft ihnen Nahrung zuführt?«
   Der junge Mann bog leise das Schilf auseinander und betrachtete mit aufmerksamen Augen den von Bois-Rosé bezeichneten Punkt. »Ich möchte darauf schwören«, sagte er; »aber …« Er hielt inne und blickte auf eine etwas entferntere Stelle.
   »Nun?« fragte der Kanadier. »Siehst du noch etwas anderes? Ja oder nein?«
   »Ich sehe dort unten«, erwiderte Fabian, »zwischen jener Weide und der Zitterpappel, zehn Schritt von dem Weidenbusch, ein Gesträuch, das vor einer Stunde gewiß noch nicht da war.«
   »Ach«, sagte der Kanadier, »da sieht man, was es heißt, fern von den Städten zu leben; die geringsten Punkte in einer Landschaft prägen sich dem Gedächtnis ein und werden kostbare Kennzeichen! Du bist geschaffen, um das Leben der Jäger zu führen, Fabian.«
   Pepe hob seine Büchse in der Richtung des erwähnten Gesträuchs.
   »Pepe hat sogleich begriffen«, sagte Bois-Rosé; »er weiß so gut wie ich, daß die Indianer ihre Zeit benützt haben, um diese Zweige abzuschneiden und sich daraus eine tragbare Schutzwehr zu machen; aber das heißt in der Tat, die Weißen zu verächtlich behandeln, von denen doch zwei sie Kriegslisten lehren könnten, von denen sie noch gar nichts wissen. Überlaß dieses Gebüsch Fabian«, sagte der Kanadier zu Pepe. »Das wird für ihn ein leichteres Ziel sein; und du ziele auf jene Zweige, deren Blätter welk herabzuhängen beginnen. Hinter diesen steckt der Indianer. Nach der Mitte, nach der Mitte, Fabian!« schloß er lebhaft.
   Zwei Schüsse fielen so von der Insel, daß sie nur einen einzigen bildeten. Das nachgemachte Gesträuch knickte zusammen, ohne daß das Auge der beiden Jäger einen roten Körper bemerkte, der hinter den Blättern gezuckt hätte; die dem Weidenbusch beigefügten Zweige bewegten sich heftig.
   Pepe, Fabian und Bois-Rosé hatten sich auf den Rücken geworfen; die beiden ersten luden ihre Büchsen, der dritte machte sich bereit, von der seinigen Gebrauch zu machen.
   Eine Anzahl Kugeln zerschmetterte über dem Haupt der Jäger Blätter und kleine Zweige, die verstreut auf sie herunterfielen. Zugleich zerriß das Kriegsgeschrei der überraschten Indianer ihre Ohren.
   »Wenn ich mich nicht irre, so sind es nur noch fünfzehn«, sagte der Kanadier, indem er einen kleinen trockenen Zweig in fünf Stücke zerbrach und diese in die Erde steckte. »Es ist gut, ihre Toten zu zählen.«
   Bois-Rosé verließ seine liegende Stellung, um sich aufs Knie zu erheben. Die Sonne färbte zum letztenmal die Gipfel der Bäume. »Achtung, Kinder!« sagte er. »Ich sehe, wie sich dort unten die Blätter einer Zitterpappel bewegen, und ganz gewiß ist es nicht der Wind, der das bewirkt. Es ist ohne Zweifel einer dieser Schelme, der den Gipfel ersteigt oder ihn schon erstiegen hat.«
   Eine Kugel durchlöcherte einen zum Floß gehörigen Stamm und bewies, daß der Jäger recht hatte.
   »Teufel! Man muß den Indianer durch List zwingen, sich zu zeigen.« Mit diesen Worten nahm er seine Mütze ab, zog seine Weste aus und legte sie leicht sichtbar in den Raum zwischen den Zweigen; Fabian beobachtete ihn aufmerksam. »Wenn ich einen weißen Krieger vor mir hätte«, sagte Bois-Rosé, »so würde ich meine Stellung neben meiner Weste einnehmen, denn der Soldat würde auf diese zielen; einem Indianer gegenüber aber werde ich mich dahinter stellen, denn die roten Krieger überlisten einander nicht auf diese Weise, und er wird seitwärts von meinen Kleidungsstücken zielen. Leg dich nieder, Fabian, und du auch, Pepe! Laßt mich nur allein; eine Minute später werdet ihr die Kugeln rechts und links von dem Ziel, das ich ihnen gesteckt habe, pfeifen hören.«
   Der Kanadier kniete abermals hinter seiner Weste nieder und war bereit, Feuer auf die Zitterpappel zu geben. Er hatte sich in seiner Voraussetzung nicht geirrt. Noch eher, als er gesagt hatte, zerrissen indianische Kugeln die Blätter auf beiden Seiten der Weste und der Mütze; sie trafen aber weder Kanadier noch seine Gefährten, die sich links und rechts zurückgezogen hatten.
   Der Jäger zielte auf einen gabelförmigen Zweig der Zitterpappel, wo sich ein roter Punkt zeigte, der jedem anderen Auge als eines von jenen rötlichen Herbstblättern erschienen wäre. Der Schuß krachte noch, als ein Indianer wie ein Apfel, der von einer großen Schloße getroffen ist, von Zweig zu Zweig herunterstürzte. Ein Geheul antwortete diesem trefflichen Schuß des Kanadiers und hallte so furchtbar wider, daß Nerven von Eisen und Stahl dazu gehörten, um beim Klang dieser ohrenzerreißenden Töne nicht vor Schreck zusammenzufahren. Der Verwundete selbst, den die aufeinanderfolgenden Schüsse nicht hatten aufwecken können, schüttelte für einen Augenblick seine Lethargie ab und murmelte mit zitternder Stimme: »Virgen de los Dolores! Sollte man nicht meinen, eine Schar Tiger heulte in der Dunkelheit? Heilige Jungfrau, erbarme dich meiner!«
   »Dankt ihr vielmehr!« unterbrach ihn der Kanadier. »Die Schelme könnten mit ihrem Geheul, das sie einer nach dem anderen ausstoßen, wohl einen Neuling wie Euch täuschen, aber nicht einen alten Waldläufer. Ihr habt doch schon abends die Schakale heulen und einander antworten gehört, als ob sie zu Hunderten dagewesen wären, und oft sind es nur drei oder vier. Die Indianer machen es wie die Schakale, und ich stehe dafür, daß sich jetzt nicht mehr als zwölf hinter diesen Bäumen befinden. Ach, wenn ich sie doch dahin bringen könnte, durch das Wasser zu waten! Nicht einer von ihnen sollte in sein Dorf zurückkehren, um die Nachricht von ihrer Niederlage zu überbringen.«
   Als ob ein plötzlicher Gedanke durch seinen Kopf führe, ließ Bois-Rosé seine Gefährten sich auf den Rücken legen. Die Ufererhöhungen der Insel und die Baumstämme boten ihnen hinreichenden Schutz, solange sie nur platt auf der Erde lagen.
   »Wir sind sicher, solange wir in solcher Stellung bleiben«, fuhr er fort. »Es handelt sich nur darum, die Gipfel der Bäume im Auge zu behalten; nur von da aus können sie uns treffen. Laßt uns nur in dem Fall schießen, daß einige auf die Weidenbäume klettern; sonst wollen wir tun, als ob wir getötet wären. Die Schelme werden ohne unsere Skalpe nicht zurückkehren wollen und endlich doch den Entschluß fassen, herüberzukommen.«
   Dieser Plan schien dem Jäger vom Himmel eingeflößt worden zu sein, denn kaum lagen sie ausgestreckt auf dem Boden, als ein Hagel von Kugeln und Pfeilen die Schilfeinfassungen durchlöcherte und zerriß, die Zweige zerschmetterte, hinter denen sie sich eine Minute vorher befunden hatten; aber da er in horizontaler Richtung vorübersauste, traf er sie nicht. Der Kanadier riß seine Mütze und seine Weste ungestüm herab, als ob er selbst unter den Kugeln seiner Feinde gefallen wäre, und das tiefste Stillschweigen herrschte nach dieser scheinbar mörderischen Salve auf der Insel.
   Mit Triumphgeschrei nahmen die Indianer dieses Schweigen auf und unterbrachen es nur einen Augenblick durch einen neuen Kugelregen. Aber auch diesmal blieb die Insel stumm und düster wie der Tod.
   »Steigt da nicht schon wieder einer von diesen Hunden auf jene Weide?« fragte Pepe.
   »Ja; wir wollen aber sein Feuer aushalten, ohne uns zu rühren – als ob wir tot wären. Wir müssen es darauf ankommen lassen. Dann wird er herabsteigen und seinen Gefährten verkünden, daß er auf dem Boden die vier Bleichgesichter gezählt hat«, meinte Bois-Rosé.
   Trotz der Gefahr, die in dieser Kriegslist lag, wurde der Vorschlag Bois-Rosés angenommen; jeder blieb unbeweglich auf der Erde liegen und beobachtete nicht ohne Beklommenheit alle Bewegungen des Indianers. Mit außerordentlicher Vorsicht stieg der rote Krieger von einem Zweig zum anderen und kam endlich an einen Punkt, von wo aus er das Innere der schwimmenden Insel übersehen konnte.
   Es war noch hell genug, um auch nicht eine Bewegung des Indianers aus den Augen zu verlieren, als die Blätter ihn nicht mehr ganz bedeckten. Nachdem der Indianer endlich die gewünschte Höhe erreicht hatte, kauerte er auf einem großen Ast nieder und streckte den Kopf vorsichtig heraus. Der Anblick der auf dem Boden der Insel ausgestreckten Leichname schien ihn nicht zu überraschen. Vielleicht argwöhnte er jedoch eine List, denn mit einer Kühnheit, die durch den Tod eines seiner Gefährten auf demselben Baum nicht entmutigt sein mußte, zeigte sich der Apache ganz und gar und zielte mit seiner Büchse in der Richtung nach der Insel; sein Auge schien wie das der Schlange seine Feinde bezaubern zu wollen. Plötzlich hob er den Lauf seiner Waffe empor, zielte abermals und wiederholte dann noch mehrmals hintereinander dieselbe Bewegung. Aber die Jäger blieben bewegungslos liegen wie wirkliche Leichname. Nun stieß der Indianer ein Triumphgeschrei aus.
   »Der Hai beißt an die Angel«, sagte Bois-Rosé. »Ich werde diesen Hundesohn wiedererkennen!« sagte Pepe. »Und wenn ich ihm nicht die Unbehaglichkeit, die er mir verursacht hat, vergelte, so wird mich nur die Kugel, die er uns zusenden will, daran hindern.«
   »Es ist der Schwarze Falke!« erwiderte Bois-Rosé. »Er ist ein kühner und vorsichtiger Häuptling.«
   Der Indianer richtete noch einmal den Lauf seines Gewehrs auf die Körper, die er anscheinend leblos vor sich liegen sah; er zielte so ruhig wie der Schütze, der auf einem ländlichen Fest den Preis durch den besten Schuß davonzutragen strebt, und entschloß sich endlich, Feuer zu geben.
   Im selben Augenblick zerriß ein von einem Baumstamm, zwei Linien vom Kopf des Spaniers entfernt, herabgeschossener Splitter dessen Stirn. Pepe rührte sich nicht mehr als das tote Holz, an dem er lehnte, sondern begnügte sich mit den Worten: »Hund von einer Rothaut; ich werde in kurzer Zeit mit dir Abrechnung halten.«
   Einige Blutstropfen waren auf das Gesicht des Kanadiers gespritzt. »Ist jemand verwundet?« fragte dieser mit bebender Stimme. »Eine Schramme, weiter nichts!« antwortete der ehemalige Grenzjäger.
   »Gott sei gelobt!«
   Darauf stieß der Indianer abermals ein Freudengeschrei aus und stieg vom Baum, auf dem er sich befand, herunter. Die drei Jäger holten tief Atem.
   Indes war der Erfolg ihrer List noch nicht vollständig. Es mußten wohl noch einige Zweifel in der Seele der Indianer zurückgeblieben sein, denn ein langes, feierliches Schweigen folgte dem letzten Schuß des Apachen.
   Die Sonne ging unter. Eine kurze Dämmerung breitete eine matte Farbe über die ganze Natur; die Nacht kam, und der Mond glänzte auf dem Fluß, ohne daß die roten Krieger ein Lebenszeichen von sich gegeben hätten.
   »Unsere Skalpe locken sie, aber sie zögern noch, herüberzukommen und sie zu nehmen«, sagte Pepe und unterdrückte ein Gähnen vor Langeweile.
   »Geduld!« antwortete der Kanadier. »Die Indianer sind wie die Geier, die den Leichnam eines Menschen nicht eher anzuhacken wagen, bis er anfängt zu verwesen, aber sich doch endlich dazu entschließen. Die Apachen werden es wie die Geier machen. Nun wollen wir die Stellung hinter dem Schilf wieder einnehmen.«
   Die Jäger erhoben sich langsam auf die Knie und fingen wieder an, die Bewegungen der Indianer zu beobachten. Einen Augenblick lang erschien das Ufer ihnen gegenüber noch einsam, aber bald ließ sich ein Indianer sehen – anfangs mit großer Vorsicht, um die Geduld des Feindes zu prüfen, sofern hinter seiner Bewegungslosigkeit noch irgendeine Kriegslist stecken sollte. Ein anderer Krieger trat zu ihm, und beide näherten sich mit wachsendem Vertrauen dem abschüssigen Ufer des Flusses; zuletzt zählte der Kanadier zehn von ihnen. Der Mond beleuchtete ihre kriegerisch bemalten Körper.
   »Die Indianer werden, wenn ich sie recht kenne, einer hinter dem anderen durch den Fluß waten«, sagte Bois-Rosé. »Fabian, du wirst den ersten aufs Korn nehmen; Pepe wird auf die Mitte zielen, und ich nehme den vorletzten auf mich. Auf diese Weise werden sie uns nur in einer gewissen Entfernung voneinander angreifen können, und wir werden bald mit ihnen fertig werden. Es wird ein Kampf Leib an Leib sein. Fabian, mein Kind, während Pepe und ich sie mit dem Messer in der Hand erwarten, hast du nur unsere Büchsen wieder zu laden und sie uns zu überreichen. Beim Andenken an deine Mutter verbiete ich dir, dich mit diesen Hunden mit blanker Waffe zu messen.«
   Als der Kanadier diese verschiedenen Anordnungen getroffen hatte, stieg ein Krieger von hohem Wuchs in den Fluß, und der Mond beleuchtete nach und nach neun andere Indianer. Alle näherten sich mit großer Vorsicht, so daß kein Geräusch ihre Schritte verriet. Man konnte denken, die Schatten von Kriegern, die aus dem Land der Geister wiedergekehrt waren, wandelten schweigend auf dem Wasser.


   35. Der Schwarze Falke

   Der Tod schien in den Augen der Indianer mitten in der stillen Dunkelheit über der Insel zu schweben, denn die Jäger hielten selbst ihren Atem zurück – und doch näherten sich die Apachen nur mit unendlicher Vorsicht. Der erste, der an der Spitze der Reihe marschierte, war an eine Stelle gekommen, wo das Wasser anfing tiefer zu werden. Es war der Schwarze Falke. Der letzte verließ eben das gegenüberliegende Ufer. Der Augenblick war da, die Befehle des Kanadiers auszuführen.
   Aber als Fabian auf den Indianerhäuptling Feuer geben wollte – zum großen Bedauern Pepes, der selbst mit ihm Abrechnung zu halten wünschte – tauchte der Schwarze Falke – sei es, daß er eine Ahnung von irgendwelcher Gefahr hatte, sei es, daß der Widerschein des Mondlichts vom Büchsenlauf eines Jägers ihn gewarnt hatte – plötzlich unters Wasser.
   »Feuer!« rief Bois-Rosé.
   Zur selben Zeit stürzte der Indianer, der zuletzt marschierte, in den Fluß, um nicht wieder aufzustehen; zwei andere, die Fabian und der Spanier sich ausgesucht hatten, wälzten sich noch einige Augenblicke mitten im Wasser, das bald ihre schon bewegungslosen Körper mit sich fortriß.
   Pepe und der Kanadier hatten rasch ihre Büchsen hinter sich geworfen, damit Fabian sie dem Übereinkommen gemäß wieder laden könne, und standen diesmal aufrecht am Rand der Insel, den Fuß vorgestreckt, das Messer in der Hand, in Erwartung eines Angriffs Mann gegen Mann.
   »Die Apachen sind noch sieben!« rief der Kanadier mit Donnerstimme; er wollte gern mit einem Mal mit ihnen fertig werden, und sein Widerwille gegen sie war bei ihrem Anblick aufs neue erwacht. »Werden sie es wagen, die Skalpe von zwei Weißen zu nehmen?«
   Aber das plötzliche Verschwinden ihres Häuptlings und der Tod dreier Krieger hatte die Indianer aus der Fassung gebracht. Sie flohen nicht, aber sie blieben unentschlossen stehen – bewegungslos wie schwarze Felsen, die halb vom glänzenden Wasser des Flusses bespült werden. »Verstehen die roten Krieger nur Leichname zu skalpieren?« fügte Pepe mit verächtlichem Lachen hinzu. »Sind die Apachen wie die Geier, die nur die Toten zerhacken? Heran doch, ihr Hunde, Geier, ihr memmenhaften Weiber!« brüllte der Spanier beim Anblick seiner Feinde, die diesmal rasch das Ufer erreichten.
   Plötzlich bemerkte er in einiger Entfernung einen schwarzen, auf dem Rücken treibenden Körper. Aber noch schwärzere, funkelnde Augen bewiesen, daß es kein Leichnam war, obgleich die herabhängenden Arme und die Bewegungslosigkeit des Körpers den Glauben hätten hervorrufen können.
   »Don Fabian, um Gottes willen, meine Büchse! Das ist der Schwarze Falke, der sich tot stellt und sich vom Strom forttreiben läßt. Der Hund konnte mir keine bessere Gelegenheit zur Abrechnung geben.«
   Pepe nahm die Büchse aus Fabians Händen und zielte auf den schwimmenden Körper, aber mit Ausnahme der Augen des Kriegers, die wie glühende Kohlen in ihren Höhlungen funkelten, bewegte sich kein Muskel. Pepe senkte die Büchse. »Ich habe mich getäuscht«, sagte er mit lauter Stimme; »die Weißen verschwenden nicht wie die Indianer ihr Pulver auf Leichname.«
   Der Körper trieb immer noch auf dem Rücken, die Füße auseinander, die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt; der Strom trug ihn sanft mit sich fort; Pepe nahm wiederum seine Büchse, zielte mit noch größerer Sorgfalt als das erstemal und ließ dann abermals den Kolben sinken. Erst nachdem er glaubte, dem indianischen Häuptling Angst für Angst vergolten zu haben, gab der Spanier Feuer, und der Körper schwamm nicht mehr auf dem Wasser.
   »Hast du ihn getötet?« fragte der Kanadier.
   »Nein; ich habe ihm nur die Schulter zerschmettern wollen, damit er sich immer an den Schauder erinnere, den er mir verursachte, und an die Verräterei, die er uns vorgeschlagen hat. Wenn er tot wäre, so würde er an der Oberfläche treiben.«
   »Du hättest besser daran getan, ihn zu töten!« erwiderte Bois-Rosé. »Ach«, sagte er, mit dem Fuß auf die Erde stampfend, »was ist jetzt zu tun? Ich hoffte der Sache ein Ende zu machen, indem ich diesem Dämon in einem Kampf Mann gegen Mann den Leib aufschlitzte, und nun müssen wir alles wieder von vorn anfangen. Wir können nicht über die Insel hinaus, um sie anzugreifen!«
   »Und doch würden wir am besten daran tun.« »Mit Fabian würde ich mich niemals dafür entscheiden«, erwiderte Bois-Rosé mit leiser Stimme; »sonst wäre ich schon auf das entgegengesetzte Ufer geflüchtet, da dieses von den Indianern besetzt ist; denn du kennst sie zu gut, um nicht zu wissen, daß sie dort nach Rache schnauben wie heißhungrige Wölfe.«
   Der Spanier zuckte mit stoischem Gleichmut die Schultern; er kannte ebensogut wie der Kanadier die Hartnäckigkeit der Rachgier bei den Indianern. »Ohne Zweifel«, erwiderte er; »aber wir müssen uns entschließen, zu fliehen oder zu bleiben.«
   »Bei Gott! Wenn wir beide allein wären, so sollte es das Werk nur einer einzigen Minute sein, die andere Seite des Flusses zu gewinnen. Die sieben Reiter, die jetzt noch übrig sind, würden uns ohne Zweifel einholen; zu zweit jedoch würden wir mit ihnen sicherlich fertig werden – wir haben früher wohl schwierigere Taten zu Ende gebracht.«
   »Es würde immer besser sein, als hier belagert zu bleiben wie Füchse, die man in ihrer Höhle ausräuchern kann.«
   »Einverstanden!« erwiderte Bois-Rosé mit nachdenklicher Miene. »Aber Fabian und der unglückliche Skalpierte, den wir nicht so der Willkür seiner Henker, die ihn schon so verstümmelt haben, überlassen können? Warten wir mit dem Fluchtversuch wenigstens so lange, bis der Mond untergegangen und die Nacht mit ihrer gewöhnlichen Dunkelheit eingetreten ist.«
   Und der Jäger beugte sein Haupt auf sein Knie mit einer Miene der Mutlosigkeit, die auf den Spanier einen traurigen und peinlichen Eindruck machte. Der Kanadier gab seine düstere Haltung nur auf, um einen besorgten Blick auf den Himmel zu werfen. Aber der Mond glitt nur langsam wie immer über die azurene, sternenbedeckte Fläche.
   »Gut, es bleibt dabei«, sagte Pepe, indem er sich an die Seite seines Gefährten setzte. »Doch halt – hier stehen fünf Holzstückchen in der Erde, das sind fünf tote Apachen; drei dazu macht acht. Es müssen also zwölf übrigbleiben; warum haben wir nur zehn im Fluß gezählt? Ich glaube dennoch mich nicht zu irren, wenn ich denke, daß der Schwarze Falke die beiden Abwesenden nach Verstärkung ausgesandt hat.«
   »Das ist möglich«, antwortete Bois-Rosé. »Ob wir bleiben oder fliehen – die Wahl zwischen beidem ist schrecklich.«
   Als jedoch die drei Jäger ein einfaches Abendessen, bestehend aus Fleisch, das in der Sonne getrocknet war, und aus ein wenig grobem Maismehl, zu sich genommen hatten, fielen die Strahlen des Mondes schon schräger auf die leichten Wirbel des Flusses; schon war ein Teil der Baumwipfel in Schatten gehüllt. Mehr als eine Stunde war schon seit dem Versuch der Indianer verflossen, und obwohl kein Geräusch die Stille der Nacht störte, so lauschte doch Pepe, der weniger in Gedanken vertieft war als Bois-Rosé, zuweilen mit einem Gefühl, das an Unruhe grenzte. »Dieser verdammte Mond wird niemals untergehen«, sagte er. »Ich bin unruhig; es ist mir, als ob ich das Wasser von irgendwelchen Füßen rauschen hörte, und das Geräusch ist nicht das der Wirbel im Fluß. Die Büffel kommen ebenfalls nicht, um zu dieser Stunde der Nacht ihren Durst zu löschen.« Bei diesen Worten erhob sich der Spanier, beugte sich vor, um stromauf– und stromabwärts zu blicken – das heißt, rechts und links der ganzen Ausdehnung seines Laufs mit den Augen zu folgen —, aber oben wie unten breiteten Nebelschichten, die sich wirbelnd erhoben, schon in kurzer Entfernung einen undurchdringlichen Schleier vor dem Auge des Jägers aus. Die Kühle der amerikanischen Nächte, die auf die glühende Hitze des Tages folgt, ballt so die Ausdünstungen der Erde und des von der Sonne erwärmten Wassers zu dichten Wolken zusammen. »Ich sehe nur Nebel!« sagte Pepe ärgerlich.
   Nach und nach jedoch erstarb dieses ungewisse Geräusch im Ohr des spanischen Jägers, und die Luft war wieder ruhig und still. Abermals verging eine lange Zeit; der Mond neigte sich immer mehr seinem Untergang zu; die wandernden Sternbilder befanden sich nicht mehr mitten am Himmel; die Natur schlief unter ihrer Decke von weißen Dünsten, als die Verteidiger der Insel plötzlich erbebten und einander bestürzt ansahen.
   Ein Geheul hatte sich auf beiden Seiten des Flusses zugleich mit so anhaltendem und durchdringendem Klang erhoben, daß, als der Mund derer, die es ausgestoßen hatten, schon geschlossen war, es die Echos von beiden Ufern wiederholten. Von nun an wurde die Flucht unmöglich; die Indianer schlossen die Insel auf jeder Seite zugleich ein. Die beiden Jäger hatten zuviel Erfahrung, um noch daran zu zweifeln.
   »Der Mond kann nun untergehen!« sagte Pepe, indem er wütend die Fäuste ballte. »Ach, ich sagte es wohl, daß ich den beiden Absendern und dem Geräusch, das ich vernahm, mißtraute; es waren nur die Indianer, die nach dem anderen Ufer übersetzten. Wer weiß nun, wie viele Feinde wir um uns haben?«
   »Was schadet es«, antwortete der Kanadier mit düsterer Miene, »daß hundert Geier da sind, unsere Leichname zu zerreißen, wenn wir nicht mehr sein werden, daß hundert Indianer um sie herum heulen?«
   »Es ist wahr, die Zahl tut unter solchen Umständen nichts zur Sache; aber wenn dieser Tag ein Tag des Triumphes für die Indianer sein soll, so werden die Geier gewiß dabei verlieren.«
   »Willst du nicht deinen Todesgesang wie die Indianer anstimmen, die, an den Pfahl gebunden, die Skalpe zählen, die sie genommen haben?«
   »Und warum nicht? Das ist eine sehr gute Sitte; die Erinnerung, daß wir als Männer gelebt haben, hilft uns, als Helden zu sterben.«
   »Denken wir vielmehr daran, als Christen zu sterben«, entgegnete Bois-Rosé. Dann zog er Fabian zu sich heran und fuhr fort: »Ich kann mir nicht recht klar darüber werden, mein vielgeliebtes Kind, was ich alles für dich geträumt hatte. Ich bin halb wild, halb zivilisiert, und meine Träume zeugen davon. Bald wollte ich dir deine weltliche Größe, deine Ehren und deine Titel wiedergeben und damit noch die Schätze des Val d‘Or verbinden. Bald träumte ich für dich nur von den glänzenden Erscheinungen der Steppe, von jenem erhabenen Zusammenklang in der Natur, der den Menschen in Schlaf wiegt und ihn bei seinem Erwachen freudig begrüßt; aber alles, was ich zu sagen vermag, ist, daß der vorherrschende Gedanke meines Herzens war, dich niemals zu verlassen. Muß es nun im Tod geschehen, den wir vereint finden? Sollst du – so jung, so kühn, so schön – dasselbe Los mit einem Mann teilen, der morgen in dieser Welt nutzlos sein würde?«
   »Wer würde mich lieben, wenn du nicht mehr da bist?« erwiderte Fabian mit einer Stimme, der diese verzweifelte Lage nichts von ihrer Zärtlichkeit und Festigkeit raubte. »Ehe ich dich wiedergefunden hatte, deckte das Grab alles, was ich liebte; der einzige Überlebende, der es mir ersetzen konnte, das warst – du. Was sollte ich noch in dieser Welt bedauern?«
   »Die Zukunft, mein Kind, die Zukunft, in die die Jugend hineinzustürzen strebt wie der durstige Hirsch in das Wasser eines Sees …«
   Der dumpfe Knall entfernter Schüsse unterbrach diese melancholischen Betrachtungen des alten Jägers. Es war die Stunde, wo die Indianer das Lager Don Estevans angriffen. Sie zeugten von einem heftigen Kampf zwischen den Weißen und den Indianern. Der Leser kennt dessen Ausgang.
   Eine laute Stimme, die vom gegenüberliegenden Ufer erscholl, mischte sich in die wiederholten Salven: »Mögen die Weißen ihre Ohren öffnen!«
   »Das ist wieder dieser Hund, der Schwarze Falke!« sagte Pepe, der die Stimme des von ihm verwundeten Häuptlings wiedererkannte.
   In der Tat unterstützten ihn zwei Krieger mit ihren Armen.
   »Wozu nützt es, die Ohren zu öffnen?« rief Pepe mit Stentorstimme, indem er sich des Gemischs aus der spanischen und der Apachensprache bediente. »Die Weißen lachen über die Drohungen des Schwarzen Falken und verachten seine Versprechungen.«
   »Gut«, antwortete der Indianer; »die Weißen sind mutig, und sie werden auch ihres ganzen Mutes bedürfen. Die weißen Männer aus dem Süden werden jetzt angegriffen; warum stehen die Männer aus dem Norden ihnen nicht gegenüber?«
   »Weil ihr schon gegen sie kämpft, du Vogel mit traurigem Gefieder; weil die Löwen nicht mit den Schakalen jagen; weil die Schakale nur heulen können, wenn der Löwe seine Beute verschlingt. – Bedanke dich für das Kompliment, du Schelm; es ist die schönste Blüte indianischer Redekunst!« fügte Pepe aufgeregt hinzu.
   »Es ist gut!« antwortete der Häuptling. »Die Weißen machen es wie der Indianer, der besiegt seinen Sieger verhöhnt. Aber der Adler lacht über die Schmähungen des Spottvogels, der alle Stimmen nachahmt; der Spottvogel ist es auch nicht, den der Adler seiner Anrede würdigt.«
   »Wer denn?« rief Pepe, den dieses Gleichnis nicht gerade besänftigte.
   »Der Riese ist es, sein Bruder! Der Adler von den schneebedeckten Bergen, der es verschmäht, die Sprache anderer Vögel nachzuahmen.«
   »Was wollt ihr von ihm?« rief die Stimme Bois-Rosés dazwischen.
   »Der Indianer möchte hören, daß der Krieger des Nordens um sein Leben bittet«, erwiderte der Häuptling.
   »Ich habe eine entgegengesetzte Forderung an Euch zu stellen!« sagte der Kanadier.
   »Ich höre«, erwiderte der Indianer.
   »Wenn Ihr bei der Ehre eines Kriegers, bei den Gebeinen Eurer Väter schwören wollt, meine drei Gefährten unverletzt ziehen zu lassen, so will ich hinüberkommen – ganz allein, ohne Waffen – und Euch meinen zuckenden Skalp auf meinem Kopf überbringen. Das wird ihn in Versuchung führen«, schloß Bois-Rosé leiser.
   »Aber bist du toll geworden, Bois-Rosé?« rief Pepe, wie ein verwundeter Tiger aufspringend.
   Fabian stürzte auf den Kanadier zu. »Beim ersten Schritt, den Ihr nach den Indianern hin tut, durchbohre ich mich mit diesem Dolch!« sagte der junge Mann heftig.
   Der rauhe Jäger fühlte, wie sein Herz sich beim Klang dieser beiden Stimmen öffnete, die er so sehr liebte. Der Indianer hatte nicht geantwortet und bedachte sich ohne Zweifel. Ein kurzes Schweigen herrschte einen Augenblick lang, wurde aber bald von der Antwort des Indianers unterbrochen.
   »Der Schwarze Falke will, daß der Weiße aus dem Norden sein Leben von ihm fordert, und er fordert den Tod. Sie verstehen einander nicht. Mein Wille ist folgender: Der Mann aus dem Norden verlasse seine Gefährten, und ich schwöre bei der Ehre eines Kriegers, bei den Gebeinen meiner Väter, daß sein Leben sicher ist; aber nur sein Leben allein – die drei anderen müssen sterben!«
   Bois-Rosé würdigte dieses Anerbieten, das noch schimpflicher war als das, sich mit ihm gegen die Mexikaner zu verbinden, keiner Antwort.
   Der indianische Häuptling wartete also vergeblich, daß der Kanadier seine Vorschläge annahm oder zurückwies. Er fuhr darauf fort: »Bis zu ihrer Todesstunde hören die Weißen jetzt die Stimme eines Häuptlings zum letztenmal. Meine Krieger haben sich auf allen vier Seiten der Insel am Fluß aufgestellt. Indianisches Blut ist geflossen; es muß gerächt werden – das Blut der Weißen muß ebenfalls fließen. Aber der Indianer will dieses Blut nicht, wenn es von der Hitze des Kampfes durchglüht ist; er will es, wenn der Schrecken es zu Eis erstarrt, wenn der Hunger es spärlich gemacht hat. Er wird die Weißen lebendig fangen – aber erst, wenn er sie in seinen Krallen hält; nicht mehr als Krieger, sondern als verhungerte Hunde, die nach einem dürren Büffelknochen heulen. Dann wird der Indianer sehen, was in den Herzen von Männern wohnt, die durch Entbehrung und Furcht zu Hunden geworden sind; er wird aus ihrer Haut einen Sattel für sein Schlachtroß machen, und jeder ihrer Skalpe wird an seinen Bügeln und am Sattelriemen wehen als ein Zeichen seiner Rache. Meine Krieger werden die Insel, wenn es nötig ist, vierzehn Tage, und ebenso viele Nächte einschließen, um den Auswurf der weißen Rasse gefangenzunehmen!« Nach diesen schrecklichen Drohungen verschwand der Indianer hinter den Bäumen.
   Aber Pepe wollte den Indianer nicht glauben lassen, daß er sie eingeschüchtert habe; er rief darum so kaltblütig, als es der in ihm brausende Zorn gestattete, hinüber: »Du Hund, der du nur bellen kannst – die Weißen verachten deine eitlen Drohungen; der Anblick ihres Skeletts allein könnte dich im Schlaf stören! Du Schakal, du schmutziger Iltis, ich verachte dich! Ich …« Die Wut erstickte seine Stimme, und er ergänzte die Worte, die er nicht mehr hervorbringen konnte, dadurch, daß er dem Schwarzen Falken die verächtlichste Gebärde machte, die ihm einfiel.
   Ein schallendes Gelächter begleitete diese Antwort Pepes, den diese beleidigende Gebärde ein wenig beruhigt hatte und der, zufrieden damit, das letzte Wort gehabt zu haben, sich ganz getröstet niederlegte.
   Bois-Rosé sah in den Drohungen des Indianers nur die Ablehnung seines heroischen Opfers. »Ach«, seufzte er, »wärt ihr nicht dazwischengetreten, so hätte ich noch alles zur allgemeinen Zufriedenheit beigelegt. Nun ist es zu spät; sprechen wir nicht mehr davon.« Der Mond war jetzt untergegangen, der ferne Lärm des Gewehrfeuers hatte sich verloren; Schweigen und Dunkelheit herrschten überall, und die drei Freunde fühlten um so lebhafter, daß es ihnen ohne diese Verstärkung der Indianer leicht gewesen wäre, das entgegengesetzte Ufer zu erreichen und selbst den verstümmelten Goldsucher mitzunehmen. Dieser lag immer noch, unempfindlich für alles, was um ihn herum vorging, in seinem todesähnlichen Schlaf.
   »Wir haben also vierzehn Tage vor uns«, sagte Pepe, indem er zuerst das traurige Schweigen brach, das unter ihnen herrschte. »Freilich haben wir keine Lebensmittel. Wahrhaftig, wir werden fischen, um essen zu können und Zerstreuung zu haben.«
   Aber Pepes Scherze waren nicht imstande, die sorgenvolle Stirn des Kanadiers aufzuheitern. »Bemühen wir uns nur, die wenigen Stunden, die uns noch bis zum Tagesanbruch übrigbleiben, nützlich anzuwenden.«
   »Wozu?« fragte Pepe.
   »Zur Flucht, bei Gott!«
   »Wieso?« »Ach, das ist es ja eben, was mich in Verlegenheit setzt«, erwiderte Bois-Rosé. »Du kannst doch ohne Zweifel schwimmen, Fabian?«
   »Hätte ich mich sonst aus der ungestümen Flut des Salto de Agua retten können?«
   »Es ist wahr! Ich glaube, die Furcht macht mich verwirrt! Nun, vielleicht wäre es nicht unmöglich, ein Loch mitten in dieser Insel zu machen und uns von da aus dem Strom zu überlassen. Die Nacht ist jetzt schwarz genug, um unbemerkt von den Indianern eine ferne Stelle zu erreichen, da sie nicht sehen, daß wir uns in den Fluß werfen. Wartet, ich will erst einen Versuch machen, ehe wir es selbst unternehmen.«
   Mit diesen Worten riß der Kanadier einen Weidenstamm von dem natürlichen Floß los, auf dem sie eine Zufluchtsstätte gefunden hatten; das knotige Ende dieses Stammes war einem menschlichen Kopf ziemlich ähnlich. Der alte Jäger legte diesen Holzblock vorsichtig auf die Oberfläche des Flusses, und bald trieb die schwarze Masse sanft stromabwärts.
   Die Freunde folgten gespannt einige Augenblicke der geräuschlosen Fahrt, und erst nachdem das Holz in der Dunkelheit verschwunden war, nahm der Kanadier das Wort: »Ihr seht, ein vorsichtiger Schwimmer würde unbemerkt wie dieser Baum vorbeikommen. Kein Indianer hat sich gerührt.«
   »Das ist richtig«, sagte Pepe; »wer steht uns aber dafür, daß das Auge des Apachen keinen Menschen von einem Stück Holz unterscheiden kann? Und dann ist auch jemand unter uns, der nicht schwimmen kann.«
   »Wer denn?«
   Der Spanier zeigte auf den Verwundeten, der im Schlaf auf seinem Schmerzenslager seufzte, als ob sein Schutzengel ihn benachrichtigte, daß die Rede davon sei, ihn allein seinen Feinden zu überlassen.
   »Was liegt daran?« antwortete Bois-Rosé zögernd. »Ist das Leben dieses Mannes so viel wert wie das Leben des letzten Sprößlings der Mediana?«
   »Nein!« erwiderte der Spanier. »Ich war eben fast entschlossen, diesen Unglücklichen zurückzulassen, aber ich glaube jetzt, daß es eine Feigheit wäre.«
   »Dieser Mann«, fügte Fabian hinzu, »hat vielleicht Kinder, die gerade ebenso ihren Vater beweinen, wie ich den meinigen in solchem Fall beweinen würde.«
   »Es wäre schlecht gehandelt und würde uns Unglück bringen, Bois-Rosé«, fuhr der Spanier fort.
   Die abergläubische Zärtlichkeit des Kanadiers wurde bei diesen Worten seines Gefährten plötzlich unruhig; er bestand nicht mehr darauf, sagte aber: »Gut, Fabian! Du bist ein guter Schwimmer; folge dem Weg, der offen vor dir liegt. Pepe und ich, wir werden zum Schutz dieses Mannes hierbleiben, und wenn wir unser Leben verlieren, so fallen wir als Opfer unserer Pflicht und mit dem freudigen Gedanken, daß du wenigstens gerettet bist.«
   Fabian schüttelte den Kopf. »Ich wiederhole es noch einmal«, sagte er: »Ich will das Leben nicht ohne euch und bleibe bei euch.«
   »Aber was ist dann zu tun?« fragte der Kanadier.
   »Wir müssen suchen«, erwiderten Fabian und Pepe zu gleicher Zeit.
   Unglücklicherweise war es einer von den Fällen, wo alle menschlichen Hilfsmittel machtlos sind. Es war eine jener verzweifelten Lagen, aus denen nur eine höhere Macht als die menschliche sie retten konnte. Vergeblich wurde der Nebel immer dichter, die Nacht immer finsterer; der erste Entschluß, den Verwundeten nicht zu verlassen, stellte sich der Flucht der drei Jäger als ein unüberwindliches Hindernis entgegen. Bald wurden von allen Seiten auf beiden Ufern des Flusses von den Indianern Feuer angezündet, die auf das Wasser ein rötliches Licht warfen, von dem der ganze Strom in ziemlich großer Entfernung erleuchtet wurde.
   Mit diesem Lichtschimmer wurde auch die letzte Aussicht auf Rettung, die der Kanadier vorgeschlagen hatte, unmöglich, wenn sie auch den Versuch dazu hätten machen wollen. Aber niemand dachte mehr daran. Wären die Feuer nicht gewesen, von denen der Fluß sich rötete, so hätte man sie bei der Stille, die auf den beiden gegenüberliegenden Ufern herrschte, für gänzlich verlassen halten können; denn kein Feind war am Feuer sichtbar, keine menschliche Stimme unterbrach das Schweigen der Nacht.
   Unterdessen verdichteten sich die aus dem Fluß emporsteigenden Dünste nach und nach immer mehr und schlossen sich um die Insel immer enger zusammen. Die Ufer des Flusses schienen sich immer weiter zu entfernen; endlich verschwanden sie ganz, und bald glänzten die Feuer mitten im wallenden Nebel nur noch wie undeutliche, blasse Lichtpunkte unter dem Schattenriß der in Nebel gehüllten Bäume.
   Werfen wir nun einen raschen Blick auf das Ufer des Flusses, das der Schwarze Falke besetzt hatte.
   Die von den Indianern auf beiden Ufern angezündeten Feuer warfen auf das Wasser ein so lebhaftes und so weit ausgedehntes Licht, daß die Feinde, die sie so streng belagerten, keinen Versuch machen konnten, sie zu täuschen. Bei jeder Feuerstelle wachte ein Indianer, unterhielt das Feuer und durfte keine Bewegung, die auf der Insel gemacht werden konnte, übersehen.
   Der Schwarze Falke saß auf dem Boden und lehnte sich an den Fuß eines Baumes. Seine von Pepes Kugel zerschmetterte Schulter war mit Lederstreifen verbunden; auf seinem Gesicht lag der Ausdruck befriedigter Grausamkeit. Was den Schmerz anlangt, den seine Wunde ihm verursachte, so verschmähte er es wie jener Philosoph des Altertums, der den Schmerz entweder leugnete oder wirklich gar nicht kannte, irgendein Gefühl davon laut werden zu lassen. Seine funkelnden Augen richteten sich ständig auf die dunkle Masse der Insel, auf der, wie er glaubte, die drei Männer, nach deren Blut er so sehr dürstete, schrecklichen Ängsten preisgegeben seien.
   Während der ersten Stunden der Nacht konnten die Indianer leicht alles überwachen. Aber in dem Maße, als der Nebelschleier die Insel immer dichter umhüllte, wurde der Lichtkreis, den der Glanz des Feuers über den Fluß verbreitete, nach und nach immer enger. Bald wurden die Dünste so dicht, daß die Wachen zuerst das gegenüberliegende Ufer nicht mehr erblicken konnten; dann sahen sie auch die Feuer dort nicht mehr leuchten; endlich verschwand die Insel im Nebel.
   Der indianische Häuptling fühlte, daß es nötig war, die Wachsamkeit zu verdoppeln. Er rief zwei Krieger heran, auf deren Ergebenheit er rechnen konnte. Dem einen befahl er, über den Fluß zu setzen, dem anderen, am Ufer, auf dem er sich befand, entlangzugehen, um so den Wachen auf beiden Ufern dieselben Befehle und dieselben Drohungen zukommen zu lassen. »Geht«, schärfte ihnen der Häuptling ein, »und sagt denjenigen von meinen Kriegern, die die Bewachung dieser Christen übernommen haben, deren Skalp und Haut ein Schmuck unserer Pferde sein wird, daß jeder von den Söhnen des Waldes vier Ohren haben muß, um die Augen, die der Nebel blendet, zu ersetzen. Sagt ihnen, daß sie in diesem Fall auf die Dankbarkeit ihres Häuptlings rechnen können; daß aber, wenn der Schlaf ihre Ohren taub macht, die Streitaxt des Schwarzen Falken sie zum ewigen Schlaf in das Land der Geister senden wird.«
   Die beiden Boten entfernten sich, um sich ihres Auftrags zu entledigen, und kehrten bald mit der Versicherung zurück, daß der Schwarze Falke auf eine pünktliche Befolgung seiner Befehle rechnen könne.
   Wirklich verdoppelten auch die Wachen ihre Aufmerksamkeit. sie wurden zugleich durch ihren eigenen Haß gegen die weiße Rasse und durch die Aussicht auf eine Belohnung angefeuert. Sie erschraken, im Fall der Schlaf sie überraschte, nicht vor dem Tod – ein Indianer fürchtet ihn selten —, wohl aber vor dem Erwachen in den Jagdgefilden des Landes der Geister, wo ein Krieger die Stirn unter der Schmach beugen muß, wenn er sich vom Schlaf hat überwältigen lassen.
   Es gibt kaum ein Geräusch in der Nacht, das dem bewunderungswürdigen Gehör des Indianers entginge – ebenso wie nur wenige Dinge von ihren scharfen Augen nicht entdeckt werden —, in diesem Fall jedoch dämpfte der Nebel jeden Ton in der Luft und entzog dem Auge die Erscheinung aller äußeren Dinge. Nur die angestrengteste Aufmerksamkeit konnte die Sinne ersetzen, die durch den Nebel und durch die Dunkelheit der Nacht ganz unbrauchbar geworden waren. Mit geschlossenen Augen und offenen Ohren standen die indianischen Krieger unbeweglich neben dem Feuer; sie standen, um den Schlaf, den die Natur gebieterisch forderte, von sich abzuschütteln. Nur warf jeder dann und wann einen Baumzweig in die Glut, um sie wiederzubeleben, und nahm darauf seine schweigende, aufmerksame Stellung wieder ein.
   So verfloß ein ziemlich langer Zeitraum, währenddessen an den Ufern wie auf der Insel das schwache Murmeln eines fernen Wasserfalls und das Rauschen des Schilfs, das sich unter dem Andrang des Wassers beugte, die einzigen Töne waren, die sich hören ließen.
   Der indianische Häuptling war auf dem linken Ufer. Die Nachtluft verschlimmerte die Wunde an seiner Schulter und vermehrte noch Haß und Groll in seinem Herzen. Der Schein des Feuers, das neben dem Baum, an dem er lehnte, angezündet war, beleuchtete seine trotz der schwärzlichen Haut vom Blutverlust bleichen Züge. Sein Gesicht war mit gräßlichen Malereien bedeckt und vom Schmerz, den er unterdrückte, verzerrt; seine Augen blitzten mit wildem Glanz und gaben ihm Ähnlichkeit mit einem blutdürstigen Götzenbild aus einem rohen Zeitalter. Bald jedoch schlossen sich trotz der Herrschaft, die ein Indianer über seine Sinne auszuüben vermag, seine schlaftrunkenen Augenlider, und eine fast unüberwindliche Betäubung bemächtigte sich des Schwarzen Falken. Nach einigen Augenblicken verfiel er in einen so tiefen Schlaf, daß er nicht hörte, wie ein Mokassin die trockenen Zweige erkrachen ließ, und nicht sah, daß ein Indianer seines Stammes sich ihm näherte.
   Unbeweglich und gerade wie ein Bambusrohr wartete ein Apachenläufer, mit Blut bedeckt, die Nasenflügel geschwellt, die Brust keuchend wie nach einem langen Lauf, zwei Schritte von dem eingeschlafenen Indianer, bis der gefürchtete Häuptling, vor dem er stand, die Augen öffnen und ihn befragen würde. Als der Läufer aber bemerkte, daß der Kopf des Häuptlings sich immer mehr auf die Brust neigte, entschloß er sich, ihm seine Gegenwart bemerkbar zu machen. In hoch klingenden Kehltönen sprach er folgende Worte: »Wenn der Schwarze Falke seine Augen öffnen will, so wird er aus meinem Mund eine Botschaft hören, die den Schlaf weithin verjagen wird.«
   Der Indianer hob seine Lider beim Ton der Stimme, die in seine Ohren klang, und eine Anstrengung seines Willens entfernte plötzlich den Schlaf, dem er unterlegen war. Voll Scham, daß ein Häuptling wie ein ruhmloser Krieger im Schlaf überrascht worden war, glaubte der Indianer, sich entschuldigen zu müssen.
   »Der Schwarze Falke hat viel Blut verloren; er hat genug verloren, daß die Sonne des nächsten Tages es nicht auf der Erde trocknen kann; sein Körper ist schwächer als sein Wille.«
   »So ist der Mensch«, erwiderte der Bote spruchreich.
   Der Schwarze Falke nahm wieder das Wort: »Ohne Zweifel erhalte ich eine wichtige Botschaft, da die Pantherkatze den schnellsten ihrer Läufer gewählt hat, sie mir zu überbringen.«
   »Die Pantherkatze wird keine Botschaften mehr senden«, antwortete der Indianer mit seiner tiefen Stimme.
   »Die Lanze eines Weißen hat seine Brust durchbohrt, und der Häuptling jagt jetzt mit seinen Vätern im Land der Geister.«
   »Was liegt daran! Er ist siegend gefallen; er hat, ehe er starb, gesehen, wie die weißen Hunde sich in der Ebene zerstreuten.«
   »Er ist besiegt gefallen; die Apachen haben im Gegenteil fliehen müssen, nachdem sie ihren Häuptling und fünfzig berühmte Krieger verloren!«
   Es fehlte nicht wenig daran, so wäre der Schwarze Falke trotz des brennenden Schmerzes seiner Wunde und ungeachtet der Herrschaft, die ein indianischer Häuptling über sich selbst haben muß, bei dieser unerwarteten Nachricht auf die Füße gesprungen. Er hielt aber an sich und erwiderte fest, wenngleich mit zitternden Lippen: »Wer sendet dich dann also zu mir, du Bote mit so traurigen Nachrichten?«
   »Krieger, die eines Häuptlings bedürfen, um ihre Niederlage wiedergutzumachen. Der Schwarze Falke war nur der Häuptling einer Abteilung; heute ist er der Häuptling eines ganzen Stammes.«
   Befriedigter Stolz leuchtete in den schwarzen Augen des Indianers. Erstens wuchs sein Ansehen, und dann bewies auch die Niederlage, von der man ihn benachrichtigte, die Weisheit des Rates, den er gegeben und den die Häuptlinge zurückgewiesen hatten. »Wenn die Büchsen aus dem Norden mit denen unserer Krieger vereinigt gewesen wären, so würden die Weißen aus dem Süden nicht gesiegt haben.« Dann aber erinnerte er sich an die beleidigende Weise, mit der die beiden Jäger seine Vorschläge verworfen hatten; ein Blitz des Hasses mischte sich mit dem stolzen Blick seiner Augen, und er begann abermals, indem er mit dem Finger auf seine Wunde zeigte: »Was kann ein verwundeter Häuptling tun? Seine Füße versagen ihm den Dienst; kaum wird er sich auf seinem Pferd im Sattel halten können.«
   »Man wird ihn daran festbinden«, antwortete der Indianer. »Ein Häuptling ist zugleich Kopf und Arm: Wenn der Arm machtlos ist, wird der Kopf handeln; der Anblick des Blutes ihres Häuptlings wird immer die Krieger anfeuern. Das Beratungsfeuer ist nach unserer kopflosen Flucht abermals angezündet worden; man erwartet, daß der Schwarze Falke seine Stimme dort vernehmen läßt. Sein Schlachtroß steht bereit – brechen wir auf!«
   »Nein«, erwiderte der Schwarze Falke; »meine Krieger halten auf beiden Ufern des Flusses die weißen Krieger umzingelt, die ich zu Verbündeten machen wollte; jetzt sind sie Feinde! Die Kugel des einen unter ihnen hat auf sechs Monde den Arm zerschmettert, der so rasch bereit war zum Kampf; und böte man mir den Befehl über zehn Stämme an, so würde ich ihn zurückweisen, um hier auf die Stunde zu warten, wo das Blut, nach dem ich dürste, vor meinen Augen fließen wird.«
   Der Schwarze Falke erzählte kurz Gayferos‘ Gefangennahme, seine Befreiung durch den Kanadier, das Verwerfen seiner Angebote und endlich das Rachegelübde, das er getan hatte.
   Der Abgesandte hatte ihn ernst angehört. Er fühlte ganz, wie wichtig es sei, noch einmal die Goldsucher in dem Augenblick anzugreifen, wo diese siegestrunken glauben mußten, vor einem so nahe bevorstehenden Angriff sicher zu sein; er drang also eifrig in den Schwarzen Falken und machte ihm den Vorschlag, sich bei der Belagerung durch einen Häuptling seiner Wahl ersetzen zu lassen.
   Der Schwarze Falke war unerschütterlich.
   Der Läufer jedoch hielt sich noch nicht für geschlagen. »Es ist gut«, sagte er. »Der Augenblick ist nicht mehr fern, wo die Sonne aufgehen wird; ich werde warten, bis es Tag ist, und den Apachen die Nachricht zurückbringen, daß der Schwarze Falke die Sorge für seine eigene Rache höher schätzt als die Ehre seiner ganzen Nation. Unsere Krieger werden dann weniger Zeit haben, den Verlust des Bravsten unter ihnen zu bedauern.«
   »So sei es«, sagte der Schwarze Falke mit einer um so ernsteren Stimme, je mehr diese geschickte Schmeichelei seinen Stolz angenehm kitzelte; »aber ein Läufer ist nach einer Schlacht und einem darauffolgenden langen Lauf der Ruhe bedürftig. Während dieser Zeit werde ich den Bericht über den Kampf anhören, in dem die Pantherkatze das Leben verloren hat.«
   Der Abgesandte setzte sich mit gekreuzten Beinen ans Feuer, stützte einen Ellbogen auf das Knie und legte den Kopf in die flache Hand. Nach einigen Minuten des Schweigens und der Ruhe, währenddessen sich das heftige Klopfen seines Herzens mäßigte, begann der Indianer einen umständlichen Bericht über den Angriff, den sein Stamm auf das Lager der Weißen gemacht hatte. Er vergaß keine Tat, die den Haß des Schwarzen Falken gegen die Mexikaner zu wecken vermochte.
   Nachdem er seine Erzählung beendet hatte, streckte sich der Läufer am Feuer nieder und schlief ein oder schien wenigstens einzuschlafen. Diesmal aber hielten die stürmischen, entgegengesetzten Leidenschaften, die im Herzen des Schwarzen Falken siedeten – der Ehrgeiz auf der einen, die Rachsucht auf der anderen Seite —, den Häuptling wach, ohne daß er irgendeine Anstrengung zu machen brauchte, den Schlaf zu bewältigen.
   Das Ufer, auf dem der Schwarze Falke lagerte, wurde ebenso ruhig wie die mitten im Nebel verlorene Insel. Nach Verlauf von ungefähr einer Stunde erhob sich der Läufer halb von seinem Lager auf dem Rasen; er schlug den Zipfel des Mantels aus Büffelhaut, den er über den Kopf gezogen hatte, um den Nebel abzuhalten, zurück und bemerkte den Schwarzen Falken unbeweglich in derselben Stellung und mit offenen Augen. »Die Stille der Nacht hat in meine Ohren geflüstert«, sagte er. »und ich habe gedacht, daß ein berühmter Häuptling wie der Schwarze Falke bei Sonnenaufgang seine Feinde in seiner Gewalt haben und ihren Todesgesang hören muß.«
   »Meine Krieger können nicht auf dem Wasser gehen wie auf dem Kriegspfad«, entgegnete der Häuptling. »Die Männer aus dem Norden gleichen nicht denen aus dem Süden, in deren Händen die Büchsen nur hohles Schilf sind!«
   »Der Blutverlust des Schwarzen Falken hat seinen Geist verwirrt und seine Augen verdunkelt. Wenn er es erlauben will, so werde ich für ihn handeln, und morgen soll seine Rache vollständig sein.«
   »Tu es!« antwortete der Häuptling. »Von welcher Seite auch die Rache komme – sie wird ein gerngesehener Gast an meinem Feuer sein.«
   »Gut; ich werde bald die drei Jäger samt demjenigen hierherbringen, dessen Skalp sie nicht haben retten können.« Mit diesen Worten erhob sich der Läufer und verlor sich bald im Nebel aus den Augen des Schwarzen Falken, die immer fest auf die Insel gerichtet waren. – Dort wenigstens waren edlere Leidenschaften tätig. Während das feierliche Schweigen der Nacht die ganze Natur ringsumher deckte, floh der Schlaf auch die Augenlider der drei Jäger.
   Wenn es entscheidende Augenblicke im Leben gibt, wo auch das Herz der bravsten Männer schwach wird, so gehörte die gegenwärtige Lage gewiß zu solchen Augenblicken. Die Gefahr war schrecklich und unvermeidlich und bot außerdem weder die Aussicht, in der Hitze des Kampfes zu fallen, noch die Hoffnung, sein Leben teuer zu verkaufen – eine Hoffnung, die wie ein letzter Trost erscheint.


   36. Der Waldläufer

   Umringt von Feinden, die hinter den Bäumen am Ufer vor den Kugeln der drei Jäger gedeckt standen, konnten diese letzteren nicht hoffen, deren Wut wie am vorhergehenden Tag dadurch anzustacheln, daß einige von ihren Kugeln niedergestreckt wurden. Bois-Rosé und der Spanier kannten die unversöhnliche Hartnäckigkeit der Indianer zu gut, als daß sie noch erwartet hätten, der Schwarze Falke würde, einer erfolglosen Belagerung müde, seinen Kriegern eine Erwiderung ihrer Angriffe nicht verwehren und ihnen somit die Möglichkeit lassen, durch ein mörderisches Gewehrfeuer das Leben zu verlieren.
   Ein solcher Soldatentod auf dem Schlachtfeld wäre dem Haß des Apachenhäuptlings zu sanft vorgekommen. Er wollte seine Feinde, an Leib und Seele durch den Hunger entkräftet, lebendig haben.
   Unter dem Eindruck dieser traurigen Gedanken sprachen die drei Jäger kein Wort mehr, aber sie fügten sich viel eher in ihr Schicksal, als daß sie daran gedacht hätten, den unglücklichen Verwundeten zurückzulassen und einen Fluchtversuch nach einem Ufer des Stromes zu machen. Fabian war ebenso zum Sterben entschlossen wie seine Gefährten; er war in seinen Hoffnungen betrogen; eine tiefe Mutlosigkeit hatte sich seiner bemächtigt, und darum hatte auch der Tod für ihn nichts Schreckliches mehr. Nichtsdestoweniger aber hätte sein heißes Blut einen raschen Tod mit den Waffen in der Hand dem schmachvollen und langsamen, der sie alle am Marterpfahl der Indianer erwartete, vorgezogen. Er entschloß sich zuerst, die Totenstille zu brechen, die mitten im nächtlichen Nebel über der Insel zu schweben schien.
   Die tiefe Ruhe auf dem Fluß und auf seinen Ufern war in den Augen der beiden erfahrenen Jäger – des Kanadiers und des Spaniers – nur ein um so gewisseres Zeichen vom unerschütterlichen Entschluß ihrer Feinde. Aber Fabian erschien sie wie ein beruhigendes Zeichen, wie eine Gunst des Himmels, die man nützen müsse. »Alles schläft jetzt um uns«, sagte er; »nicht nur die Indianer auf dem Ufer, sondern alles, was Leben hat, in den Wäldern und in der Steppe; selbst der Fluß scheint langsam zu strömen. Seht nur, der Widerschein der Feuer erstirbt in ziemlich weiter Entfernung von uns. Wäre dies nicht der Augenblick, einen Fluchtversuch auf dem einen oder anderen Ufer zu machen?«
   »Die Indianer schlafen?« unterbrach ihn Pepe mit Bitterkeit. »Ja, wie dieses Wasser, das stehenzubleiben scheint, aber nichtsdestoweniger seinen Lauf bis zu den unbekannten Abgründen fortsetzt, in denen es sich verliert. Ihr könnt nicht drei Schritte im Fluß tun, ohne zu sehen, wie die Indianer sich euch nachstürzen, gerade wie ihr die Wölfe sich zur Verfolgung des Hirsches habt hineinstürzen sehen. Hast du nichts Besseres vorzuschlagen, Bois-Rosé?«
   »Nein«, erwiderte der Kanadier kurz, während seine Hand still die Hand Fabians suchte. Dann zeigte er mit der anderen auf den Verwundeten, der sich immer noch im Schlaf auf seinem Schmerzenslager hin und her warf. Diese Gebärde antwortete allen Einwürfen Fabians.
   »Wenn wir keine andere Aussicht haben«, fuhr dieser fort, »so bliebe uns doch wenigstens die, ehrenvoll Leib an Leib zu sterben, wie wir haben sterben wollen. Wenn wir siegen, so können wir diesem Unglücklichen, der nur uns allein zu seiner Verteidigung hat, zu Hilfe kommen. Wenn wir fallen, würde uns dann wohl selbst Gott, wenn wir vor ihm erscheinen, den Vorwurf machen können, daß wir das Leben des Mannes, den er unserem Schutz anvertraut hat, geopfert hätten, während wir doch selbst das unsrige für die Rettung aller aufs Spiel setzen?«
   »Gewiß nicht«, antwortete Bois-Rosé; »aber hoffen wir noch auf den Gott, der uns durch ein Wunder wieder vereinigt hat. Was heute nicht geschieht, kann morgen geschehen; wir haben noch Zeit vor uns von jetzt bis zu dem Augenblick, wo unsere Lebensmittel ausgehen. Auf irgendeinem Punkt ans Ufer zu steigen, das hieße jetzt, da die Anzahl der Indianer sich wahrscheinlich mehr als verdreifacht hat, einem sicheren Tod entgegengehen. Der Tod würde nicht viel zu bedeuten haben – denn er ist immer das letzte Hilfsmittel, über das wir verfügen, solange wir noch ein Messer in der Hand haben. Aber vielleicht würden wir gefangengenommen, und ich schaudere bei dem Gedanken an den schrecklichen Todeskampf, der uns bevorstünde. O mein vielgeliebter Fabian, diese Indianer wollen uns nur lebendig fangen und verlängern dadurch wenigstens für mich das Glück bei dir zu sein, um einige Tage.«
   Abermals herrschte Schweigen unter der bestürzten Gruppe. Dieser Gedanke, noch bei seinem Kind zu leben, war für den Kanadier das, was für den Verurteilten die Frist vor der Hinrichtung ist. Wie aber der Verurteilte im Gedanken an den furchtbaren Augenblick, der auf diese Frist folgen muß, wütend an den Eisengittern seines Kerkers rüttelt, so trat auch bald vor Bois-Rosés Einbildungskraft der Tag, wo er auf diesen Trost, so schrecklich er auch war, verzichten mußte, und er schüttelte krampfhaft einen der Stämme, aus denen das Eiland bestand. Unter dem gewaltigen Stoß zitterte die Insel, als ob sie sich von ihrem Grund losreißen wollte.
   »Ach, die Hunde! Die Teufel!« rief im selben Augenblick der Spanier, der einen Ausbruch der Wut nicht unterdrücken konnte. »Seht nur!«
   Ein rötliches Licht durchdrang nach und nach den Dunstschleier, der auf dem Fluß lag, und schien bei seiner Annäherung immer größer zu werden wie der Widerschein eines sich immer mehr ausdehnenden Feuers. Und – sonderbar genug! – das Feuer schwamm auf dem Wasser. So dicht auch der Nebel war, der sich aus dem Fluß erhob, dessen warme Ausdünstungen die Kühle der Nacht zusammenballte – so dicht, daß man ihn fast mit den Händen greifen konnte —, die Feuermasse, die auf dem Wasser dahertrieb, zerstreute ihn wie die Sonne die Finsternis.
   Die drei Jäger hatten noch nicht Zeit gehabt, über das Erscheinen dieses plötzlichen Lichtes zu erstaunen, als sie auch schon dessen Ursache erraten konnten.
   Eine lange Erfahrung während eines Lebens in der Steppe und unter den stets wiederkehrenden Gefahren, die ein solches Leben hervorruft, hatte dem Kanadier eine solche Festigkeit der Muskeln gegeben, die der Spanier noch nicht besaß. Anstatt sich durch seinen Zornausbruch fortreißen zu lassen wie Pepe, hatte Bois-Rosé seine gewöhnliche Ruhe beibehalten. Er wußte, daß eine Gefahr, wenn man ihr nur kaltblütig ins Antlitz blickt, fast schon halb überwunden ist, so schrecklich sie auch erscheinen mag; und sein kaltes Blut wurde beim Nahen der Gefahr noch kälter als gewöhnlich. »Ja«, sagte er als Antwort auf den Ausruf des früheren Grenzsoldaten, »ich sehe gerade ebensogut, was es ist, als ob die Indianer es mir im voraus gesagt hätten. Du sprachst doch eben von Füchsen, die man aus ihrer Höhle räuchert; wohlan, die Schelme wollen uns in unserer Höhle verbrennen.«
   Der Feuerball, der den Fluß heruntertrieb, vergrößerte sich mit erschreckender Schnelligkeit und bestätigte die Worte des Kanadiers. Schon wurden mitten im flammenroten Wasser die Schilfbüschel und Weidenschößlinge, von denen die Insel stromauf und stromabwärts umgeben war, vom Schein des schwimmenden Feuers erleuchtet.
   »Das ist ein Brander«, sagte Pepe, »mit dem sie unsere Insel anzünden wollen.«
   »Gott sei Dank!« fügte Fabian hinzu. »Es ist immer noch besser, mit dem Feuer zu kämpfen, als so den Tod ohne Kampf zu erwarten.«
   »Das ist wahr«, sagte Bois-Rosé, » aber das Feuer ist ein schrecklicher Gegner. Ach, wenn ich doch ein Feuer dagegen anzünden könnte; unglücklicherweise sind wir nicht in einer Prärie, und aller Vorteil ist auf Seiten dieser Teufel.«
   Der Kanadier spielte auf eine Kriegslist an, die oft in den Prärien von den Indianern gegen ihre Feinde angewandt wird. In den unermeßlichen Steppen Amerikas, wo der Wind das lange Gras wie die Wellen des Ozeans hin und her wogen läßt, verbreitet sich die Flamme mit der Schnelligkeit des Pulvers. Der weiße Jäger jedoch oder der erfahrene Indianer, den der Brand zu verschlingen droht, bekämpft das Feuer durch das Feuer. Eilig zündet er selbst auf einem großen Raum dieses trockene Gras an, und wenn das durch seine Hand entstandene Feuer allen brennbaren Stoff rings um ihn verzehrt hat, steht die feindliche Flamme vor dem leeren Raum, den er geschaffen hat, still.
   Hier aber konnten die Belagerer nicht der Glut die Glut entgegenstellen, und der von den Indianern abgeschickte Brander mußte das Floß vernichten, ohne daß denen, die sich darauf befanden, eine andere Aussicht, dem Feuer zu entgehen, übrigblieb, als sich in das Wasser zu stürzen. Dort aber waren sie in der Gewalt der Indianer, die sie entweder mit Flintenschlüssen töten oder lebendig gefangennehmen konnten.
   Darauf war der Plan des indianischen Läufers berechnet. Auf seinen Befehl hatten die Indianer die Zweige einer harzigen Fichte abgehauen, hatten sie auf einen Baumstamm, der noch alle seine Zweige besaß, geschichtet, Feuer daran gelegt und ihre Brandmaschine dem Strom überlassen. Die Richtung war so genau, daß die schwimmende Flamme gerade auf die Insel losgetrieben wurde.
   Pepe warf einen bitteren Blick auf Bois-Rosé und Fabian. Man sah, daß die rachsüchtigen Leidenschaften des Spaniers sich der Gefahr gegenüber entflammten. Sein Blick traf die ruhigen, leidenschaftslosen Züge des Kanadiers und das unbewegte Gesicht Fabians. Der edle junge Mann hatte in seinem Herzen schon ein schmerzlicheres Opfer als das des Lebens gebracht.
   Die prasselnde Flamme des harzigen Holzes strahlte unglückbringend von der Oberfläche des Stroms zurück, und unter der schwarzen Rauchwolke, die sich mit dem Nebel mischte, waren die Insel und die Ufer des Flusses erleuchtet wie bei vollem Sonnenlicht, doch waren die Bewohner des Floßes unsichtbar hinter der grünen Einfassung; von Zeit zu Zeit aber konnte man den roten Schattenriß einer indianischen Schildwache bemerken.
   Pepe konnte einer plötzlichen Versuchung nicht widerstehen. »Warte, du Dämon der Hölle«, sagte er halblaut; »du wenigstens wirst nicht zurückkehren und deinem Dorf von den letzten Augenblicken im Todeskampf eines Christen erzählen!« Bei diesen Worten leuchtete ein roter Blitz aus der Büchse des erzürnten Spaniers durch das Schilf hindurch, und man sah den Federbusch eines indianischen Kriegers im selben Augenblick zu Boden sinken, wo der Schuß das Schweigen der Nacht unterbrach.
   »Eine traurige und verspätete Rache«, sagte Bois-Rosé feierlich, als er den Indianer fallen sah.
   In der Tat schienen die Apachen die Kugeln eines besiegten Feindes nicht mehr zu beachten; das Ufer blieb in sein düsteres Schweigen gehüllt, ohne daß ein einziges Geheul, wie es doch gewöhnlich der Fall ist, die letzten Seufzer eines Kriegers begleitete. Die Flamme der brennenden Reisbündel, die sich nur noch in kurzer Entfernung von der Insel und in gerader Linie mit ihr befanden, ließ die von machtloser Wut verzerrten Züge des Spaniers hervortreten. »Demonio!« sagte er, mit dem Fuß stampfend. »Ich werde mit um so größerer Seelenruhe sterben, je mehr von diesen rothäutigen Teufeln ich vor mir in die andere Welt gesandt habe.« Und während er seine Büchse wieder lud, suchten seine Augen überall auf beiden Ufern nach einem Gegenstand, den er seinem Rachedurst opfern könnte.
   Während dieser Zeit prüfte der Kanadier kaltblütig den Feuerball, der an der Insel stranden und deren trockene Bäume in Brand setzen mußte.
   »Wahrhaftig«, sagte Pepe, bei dem die Wut die Urteilskraft verdunkelte, »betrachte nur immerzu diesen Brander! Hast du vielleicht auch ein Mittel in Bereitschaft, um diesen schwimmenden Scheiterhaufen, der sich an die Seiten unserer Insel klammern wird, aus seiner Richtung zu bringen?«
   »Vielleicht«, erwiderte der Kanadier, der seine Prüfung fortsetzte, lakonisch.
   Der ehemalige Grenzsoldat fing an, mit einer gleichgültigen Miene zu pfeifen – ein vergeblicher Versuch, um seinen Zorn nicht durchblicken zu lassen.
   »Halt!« sagte Bois-Rosé. »Hier sehe ich etwas, was beweist, daß die Berechnung dieser Söhne der Wälder nicht untrüglich ist. Wenn es nicht in zwei Minuten einen Hagel von Kugeln und Pfeilen auf uns regnen würde, um uns zu zwingen, während der Zeit, da der Brander unsere Insel in Flammen setzt, eine gedeckte Stellung einzunehmen und ihn nicht wegzustoßen, so wollte ich dieses brennende Floß beseitigen wie eine Feuerfliege, die im Gras schwirrt.«
   Auf einer dicken Unterlage von feuchtem Heu, die gleichsam einen Boden in den Baumzweigen bildete, auf dem der Haufe harziger Reisbündel ruhte, näherte sich das schwimmende Feuer der Insel. Die Indianer hatten die Stärke dieses Bodens so berechnet, daß er durch die Berührung mit dem Feuer trocken werden und sich selbst ebenso wie die Baumzweige gerade in dem Augenblick entzünden sollte, wo der Brander gegen die Insel stieß. Aber das Heu tauchte oft ins Wasser, und die Feuchtigkeit, die es in jedem Augenblick durchdrang, hatte seine Verbrennung verzögert. Die großen Zweige des Baums hatten ebenfalls noch nicht Zeit gehabt, in Brand zu geraten; nur die kleinen Zweige und Nadeln waren in Flammen aufgegangen. Dieser Umstand war dem Späherauge des Kanadiers nicht entgangen, und er entschloß sich, mit einer langen Stange in der Hand die Unterlage aus feuchtem Gras auseinanderzuwerfen, wie es der Heumacher mit dem abgemähten Gras tut; im selben Augenblick jedoch, wo er dieses gefährliche Unternehmen versuchen wollte, ging seine Voraussage in Erfüllung. Einige Kugeln und Pfeile fuhren zischend in den geringen Zwischenraum, der sich noch zwischen der Insel und dem Brander befand. Die Salven schienen mehr den Zweck zu haben, die Jäger zu erschrecken, als sie zu treffen.
   »Es ist einmal beschlossen«, sagte Bois-Rosé mit leiser Stimme, »uns nur lebendig zu fangen; wohlan, wir müssen einen Versuch machen.«
   Der Feuerberg berührte beinahe die Insel; noch einige Augenblicke, und die Flammen mußten sich der Insel selbst mitteilen. Heißer Rauch umhüllte schon deren Bewohner, als der Kanadier sich plötzlich mit der Schnelligkeit des Blitzes in den Fluß stürzte und gänzlich verschwand.
   Ein Geheul ertönte auf beiden Ufern des Flusses, und die Indianer ebenso wie der Spanier und Fabian, die allein zurückgeblieben waren, sahen den schwimmenden Baum unter dem mächtigen Stoß des Kanadiers hin und her schwanken. Das große Feuer warf einen noch glänzenderen Schein umher; aber bald zischte das Wasser, die Heumasse löste sich auf und versank in einer Flut von Schaum.
   Die tiefste Dunkelheit folgte plötzlich dem Glanz des Feuers; Finsternis und Nebel hatten abermals ihre düstere Decke über den ganzen Lauf des Flusses ausgebreitet. Der Baum, dessen Zweige vom Feuer geschwärzt waren, hatte seine Richtung geändert und schwamm, das Schilf zerknickend, an der Insel vorüber, als mitten unter dem Geheul der bestürzten Indianer Bois-Rosé wieder zu seinen Gefährten kam. Die Insel zitterte nach unter den Anstrengungen des Kanadiers, sie wieder zu ersteigen.
   »Heult nach Belieben«, sagte Bois-Rosé, indem er Atem schöpfte; »ihr habt uns noch nicht! Aber«, fügte er ganz leise hinzu, »werden wir immer so glücklich sein?«
   In der Tat war auch diese Gefahr beseitigt; wie viele blieben ihnen nicht noch zu überwinden übrig? Wer konnte die neuen Ränke voraussehen, die die Indianer gegen sie anwenden würden? Diese Gedanken hatten bald die erste Trunkenheit des Triumphes zerstreut; ein düsteres Schweigen folgte auf die Glückwünsche, die die beiden Jäger an Bois-Rosé richteten.
   Plötzlich sprang Pepe auf seine Füße, einen Schrei unterdrückend – aber diesmal einen Freudenschrei. »Bois-Rosé, Don Fabian«, sagte er, »wir sind gerettet, ich stehe euch dafür!«
   »Gerettet?« wiederholte der Kanadier mit zitternder Stimme. »O sprich doch, Pepe, sprich doch, schnell!« »Hast du nicht bemerkt«, fuhr der ehemalige Grenzjäger fort, »wie vor wenigen Stunden die ganze Insel unter unseren Händen zitterte, als wir einige große Äste zu unserer Deckung abrissen? Wie sie eben noch unter dir selbst zitterte, Bois-Rosé? Wohlan! Ich hatte einen Augenblick daran gedacht, ein Floß aus den Stämmen zu machen, die unter unseren Füßen liegen, aber jetzt verzichte ich darauf; wir sind unserer drei, wir können durch die Kraft unserer Arme die Insel selbst entwurzeln und flottmachen. Der Nebel ist dick, die Nacht schwarz, und morgen, wenn der Tag anbricht …«
   »Werden wir weit von hier fortgetrieben sein«, sagte Bois-Rosé. »Ans Werk! Ans Werk! Der Wind weht schon frisch und kündigt die Nähe des Morgens an; wir haben nicht mehr zuviel Zeit vor uns! Wenn ich nicht meinen seemännischen Blick verloren habe, so wird uns der Fluß nicht schneller als drei Knoten in der Stunde treiben.«
   »Desto besser«, sagte Pepe; »unsere Entfernung wird um so weniger sichtbar sein.«
   Der brave Kanadier nahm sich nur Zeit, seinen beiden Gefährten die Hand zu schütteln, und erhob sich.
   »Was willst du tun?« fragte Fabian. »Können wir nicht alle drei, wie es Pepe vorgeschlagen hat, die Insel mit vereinten Kräften losreißen?«
   »Losreißen, gewiß, Fabian; aber wir laufen auch Gefahr, sie wie ein Reisbündel, dessen Band man zerrissen hat, auseinanderzuwerfen, und unsere Rettung hängt von der Erhaltung der Insel in dem Zustand ab, wie sie die Natur gemacht hat. Vielleicht hat sich nur irgendein Hauptast oder irgendeine große Wurzel an den Boden des Flusses festgeklammert und hält sie unbeweglich zurück. Viele Jahre haben verfließen müssen, seitdem diese Bäume sich hier festgepflanzt haben, sofern ich nämlich richtig von der Erdschicht aus schließe, die sich auf ihnen gebildet hat. Auf die Länge müssen diese Wurzeln oder Zweige im Wasser morsch geworden sein, und das will ich zu erfahren suchen.«
   In diesem Augenblick unterbrach die traurige Stimme einer Eule den Kanadier. Diese klagenden Töne, die plötzlich die tiefe Stille der Nacht störten, klangen gerade in dem Augenblick, wo ein Strahl von Hoffnung in den Augen der Jäger blitzte, den Ohren Pepes wie eine traurige Vorhersagung. »Ach«, sagte der Spanier, bei dem die Gefahr abergläubische Gedanken weckte, traurig, »die Stimme der Eule in einer solchen Lage wie dieser bedeutet nichts Gutes.«
   »Die Nachahmung ist vollkommen, ich gebe es zu«, erwiderte Bois-Rosé; »aber du solltest dich nicht so täuschen lassen. Eine indianische Schildwache stößt diesen Ruf aus, vielleicht um seine Gefährten zu warnen, die Augen offenzuhalten; oder es ist – was noch wahrscheinlicher ist – eine Erfindung ihrer teuflischen Niederträchtigkeit, um uns in Erinnerung zu bringen, daß sie über uns wachen. Es ist eine Art Todesgesang, mit dem sie uns belustigen wollen.«
   Der Kanadier hatte kaum geendet, als sich vom entgegengesetzten Ufer derselbe Ton wiederholte, aber mit bald spöttischen, bald klagenden Modulationen, die die Voraussage des alten Jägers Punkt für Punkt bestätigten. Aber diese Stimmen waren darum doch nicht weniger schrecklich, denn sie zeugten von den Gefahren und Nachstellungen, die die Dunkelheit der Nacht verhüllte.
   »Ich habe Lust, ihnen hinüberzurufen, sie sollten lieber wie Jaguare brüllen, die sie doch sind«, sagte Pepe.
   »Tue es ja nicht; das hieße ihnen genau die Stelle bezeichnen, wo wir uns befinden. Die Schelme wissen es nicht mehr genau.« Bei diesen Worten trat Bois-Rosé mit der größten Vorsicht ins Wasser.
   Nicht ohne einige Unruhe folgten die auf der Insel zurückgebliebenen zwei Jäger mit dem Auge der Untersuchung des Kanadiers. Dieser tauchte ins Wasser und verschwand von Zeit zu Zeit unter der Oberfläche des Flusses wie der Taucher, der längs der Wände des Schiffes die Stelle sucht, wo das einströmende Wasser das Schiff sinken zu machen droht.
   »Nun?« fragte Pepe lebhaft, als der Kanadier wieder auftauchte, um Atem zu schöpfen. »Liegen wir an mehreren Ankern fest?«
   »Ich glaube, alles geht gut«, antwortete Bois-Rosé.
   »Ich bemerke bis jetzt nur einen, der die Insel auf der Stelle festhält; aber es ist der Notanker!«
   »Nimm dich nur besonders in acht, zu weit vorzugehen!« sagte Fabian. »Du könntest dich in die Wurzeln und in das Netz von Zweigen unter dem Wasser verwickeln.«
   »Sei ohne Furcht, mein Kind«, erwiderte der Kanadier. »Ein Wal würde eher an einem Fischerboot, das er zwanzig Fuß hoch in die Luft schleudern kann, hängenbleiben, als ich unter dieser Insel, die ich mit einem Schulterstoß in Stücke umherstreuen würde.«
   Der Fluß rauschte abermals über dem Haupt des Kanadiers. Ein ziemlich langer Zwischenraum verfloß, währenddessen – als ob die Ahnungen Fabians sich erfüllen sollten – sich das Verweilen Bois-Rosés an den Wirbeln zeigte, die sich um die Insel bildeten, die bald wie ein Schiff mitten auf hochgehender See bis auf den Grund erbebte. Man fühlte, daß der Riese eine mächtige, letzte Anstrengung machen mußte. Fabians Herz stand einen Augenblick in seiner Brust bei dem Gedanken still, daß Bois-Rosé vielleicht mit dem Tod ringe, als ein dumpfes Krachen wie das der Rippen eines Schiffes, das an einem Felsen zerbirst, sich fast unter seinen Füßen vernehmen ließ.
   Im selben Augenblick erschien der Kanadier wieder auf der Oberfläche des Stromes mit triefenden Haaren und einem Gesicht, das vom heftig zum Kopf dringenden Blut gerötet war. Mit einem Sprung war er auf der Insel, die sich langsam um sich selbst zu drehen begann und dann sanft dem Strom folgte. Eine ungeheure Wurzel hatte sich tief in das Bett des Flusses gesenkt, war aber in den kräftigen Händen des Kolosses zerbrochen, dessen Kraft sich in der Verzweiflung verzehnfacht hatte. »Gott sei gelobt!« sagte er. »Das letzte und einzige Hindernis, das uns festhielt, ist überwunden, und wir sind flott.« In der Tat bewegte sich die Insel schon, während er sprach, unter dem Eindruck des Stromes vorwärts; zwar kaum merklich, aber doch vorwärts.
   »Jetzt«, sagte Bois-Rosé, »liegt unser Schicksal in der Hand Gottes. Wenn die Insel sich in der Mitte des Flusses hält, so werden wir bald mit Hilfe des Nebels, der seine Oberfläche bedeckt, den Indianern aus dem Gesicht und aus dem Bereich ihrer Hand sein. O mein Gott«, sagte er mit Inbrunst, »noch einige Stunden Nacht, und deine Geschöpfe sind gerettet!«
   Die drei Jäger schwiegen. Sie folgten mit unruhigen Augen den Bewegungen der schwimmenden Insel, als daß sie miteinander hätten ein Wort wechseln können. Freilich mußte der Tag bald anbrechen; aber bei der Kälte der Nacht, die sich gewöhnlich ein oder zwei Stunden vor Sonnenaufgang noch vergrößert, werden die aus dem Fluß aufsteigenden Dünste noch dicker und ballen sich noch mehr zusammen.
   Die Feuer am Ufer erschienen nur noch wie Sterne, die am Firmament bei der Rückkehr der Morgenröte erbleichen. Auf dieser Seite des Flusses war die Gefahr weniger groß und die Aussicht, dem Blick der indianischen Wachen zu entgehen, fast gewiß; aber eine andere Gefahr bedrohte die drei Jäger: Die schwimmende Insel, so sanft sie auch vom Lauf des Flusses mitgenommen wurde, folgte der Strömung doch nur, wobei sie sich um sich selbst drehte, und es stand zu befürchten, daß sie bei diesen ständigen Umdrehungen von der geraden Richtung abweichen und am Ufer stranden würde. Zur Rechten oder zur Linken– die Indianer waren überall.
   Wie die Matrosen eines seiner Masten und seines Steuers beraubten Schiffes, das von der wogenden See nach dem Riff geschleudert wird, wo es zerschmettert werden muß, so verfolgten die drei Jäger mit angstvollen Augen die ungewisse und schweigende Fahrt des Eilands. Zuweilen kam ein sanfter Lufthauch von der Seite des Landes und säuselte durch die Einfassung von Weidenschößlingen, verdorrten Zweigen und Schilfbüschen. Die schwimmende Insel schien sich nach rechts oder links zu neigen und beschrieb einen weiten Kreis. Zuweilen bemächtigte sich auch eine durch die Ungleichheit des Flußbettes gebildete Strömung des Floßes aus Baumstämmen und brachte es wieder in gerade Richtung; aber in keinem Fall konnten diejenigen, die sich darauf befanden, durch ihre Anstrengungen dessen Lauf lenken. Das geringste Geräusch wäre durch seinen Widerhall am Ufer eine Warnung für die Indianer gewesen. Glücklicherweise war der Nebel so dicht, daß selbst die Bäume, die die abschüssigen Ufer des Flusses beschatteten, nicht mehr sichtbar waren.
   »Nur Mut!« sagte Pepe. »Solange wir die Bäume am Ufer noch nicht sehen können, sind wir auf gutem Weg. Ach, wenn Gott uns gnädig noch weiterhin beschützt, so wird vielfaches Geheul an diesen jetzt so ruhigen Ufern widerhallen, wenn beim Anbruch des Tages die Indianer weder die Insel noch die, die eine Zuflucht darauf gesucht haben, wiederfinden.«
   »Ja«, antwortete der alte Jäger, »du hast da einen glänzenden Gedanken gehabt, Pepe! In der Verwirrung, in der ich mich befand, wäre mir dieser Gedanke nicht eingefallen – ein so einfacher Gedanke!«
   »Die einfachen Gedanken kommen dem Geist immer zuletzt; aber weißt du, was dies beweist, Bois-Rosé?« flüsterte der frühere Grenzsoldat seinem Gefährten ins Ohr. »Es beweist, daß in der Steppe die Furcht vor dem Tod schon ein ziemlich ernstes Vorurteil ist und daß es unklug handeln heißt, wenn man sich darin lange Zeit mit denen herumtreibt, die man mehr liebt als sein Leben; das ist etwas, wodurch ein Mann um alle Hilfsmittel kommen kann, die ihm sonst zu Gebote stehen. Ich sage es dir offen heraus, Bois-Rosé: Seit einiger Zeit erkenne ich dich nicht mehr.«
   »Das ist wahr; ich erkenne mich auch nicht mehr«, antwortete der Kanadier mit leiser Stimme. »Und doch …«
   Bois-Rosé sprach nicht weiter, denn ein tiefes Nachdenken hatte sich seiner bemächtigt, und währenddessen schien er – wie ein Mensch, der wohl körperlich vorhanden ist, dessen Geist sich aber anderswo befindet —nicht mehr an die unbestimmten Bewegungen der schwimmenden Insel und an ihre Überwachung zu denken. Für den Jäger, der seit zwanzig Jahren in der schrankenlosen Freiheit der Steppen lebte, war ein Verzichten auf diese Art Leben soviel wie der Tod; ein Verzichten aber auf den Trost, Fabian täglich zu sehen, zu wissen, daß sein Adoptivsohn ihm einst die Augen zudrücken würde, hieß ebenfalls, dem Glück Lebewohl sagen. Fabian und die Wildnis waren die beiden beherrschenden Leidenschaften seines Lebens; den einen oder die andere zu verlassen, das schien ihm eine unmögliche Anstrengung. So fand in der Seele des Jägers ein Kampf zwischen dem zivilisierten Menschen und dem Mann statt, den eine lange Gewohnheit fast zum Wilden gemacht hatte.
   Pepe unterbrach bald die Träumereien des Kanadiers. Schon seit einiger Zeit warf der erstere unruhigere Blicke nach einem der beiden Flußufer hinüber. Es kam ihm vor, als ob er in verwirrten Umrissen die weißen und phantastischen Formen der Bäume durch den Nebel hindurch bemerkte. Sie sahen aus wie formlose Gestalten der Einbildungskraft, die, von langen Dunstgewändern umwallt, sich weinend über den Fluß zu beugen schienen.
   »Wir kommen aus der Richtung, Bois-Rosé«, sagte Pepe ganz leise. »Jene Nebelmassen dort, die noch dichter als sonst erscheinen, können nur die Wipfel der Uferweiden sein.«
   »Das ist wahr!« erwiderte der Kanadier, der sich aus seinem Nachdenken herausriß. »An den Feuern, die noch rechts und links leuchten, können wir leicht sehen, wie kurz der Weg ist, den wir seit einer halben Stunde zurückgelegt haben.«
   An dieser Stelle schien die schwimmende Insel einen Anstoß zur schnelleren Bewegung zu erhalten. In einigen Sekunden hatte sie zwei Kreise beschrieben, die sie vorher nur in einem viel beträchtlicheren Zeitraum zurücklegte; der Wipfel der fernen Bäume wurde darum auch bald weniger undeutlich. Die beiden Jäger wechselten einen unruhigen Blick.
   Das Floß näherte sich immer mehr der Uferseite des Flusses. Eins von den Feuern, die eben noch so schwach mitten im Nebel glänzten, bekam nach und nach vor den Augen des erbebenden Bois-Rosé einen immer größeren Lichtkreis. Bei dem noch unbestimmten Schein der Glut konnte man eine von den indianischen Wachen aufrecht und unbeweglich in ihrer schrecklichen Kriegstracht stehen sehen. Die lange Mähne eines Büffels bedeckte den Kopf, und darauf schwankte ein Federbusch wie ein römischer Helmschmuck.
   Der Kanadier zeigte Pepe den an die Lanze gelehnten Krieger. Glücklicherweise war der Nebel zu undurchsichtig, als daß der Apache, den nur das Feuer sichtbar werden ließ, die dunkle Masse der Insel hätte bemerken können, die leicht wie ein Seevogel auf der Oberfläche des Flusses dahintrieb. Doch als ob der Instinkt dem Wilden ein Zeichen gegeben hätte, daß seine unerschrockenen und gewandten Feinde seine Wachsamkeit täuschen wollten, richtete er seinen gebeugten Kopf empor und schüttelte die flutende Mähne zurück, mit der er geschmückt war.
   »Sollte er irgendeinen Argwohn haben?« sagte der Kanadier zu Pepe.
   »Ach, wenn eine Büchse nicht mehr Lärm machte als ein Pfeil, wie würde ich mich beeilen, diesen menschlichen Bison in jener Welt auf Posten stehen zu lassen!« antwortete der Spanier.
   Die beiden Jäger sahen bald, wie der indianische Krieger seine Lanze, an der er lehnte, in die Erde stieß, den Körper vorwärts beugte und seine beiden Hände wie einen Schirm über die Augen hielt, um die Schärfe des Blickes zu verstärken.
   Ein plötzliches Gefühl der Angst durchflog das Herz der Flüchtlinge, die beim Anblick des Indianers einen Augenblick lang gar nicht mehr zu atmen wagten. In gebückter Haltung stand der grimmige Häuptling da wie ein wildes Tier auf der Lauer; sein Gesicht war halb von den langen Flechten seines Haarbusches bedeckt und hatte ein fürchterliches Aussehen. Ein Mann von gewöhnlichem Mut hätte ihn nicht ohne Schaudern betrachten können. Die drei Flüchtlinge indes hätten diese schreckliche Erscheinung ebensowenig beachtet wie die eines Kindes, wenn in diesem kritischen Augenblick ein Kind nicht ebenso gefährlich gewesen wäre wie der Indianer. Mitten im dichten Nebel beleuchtete das Feuer, bei dem der wilde Posten wachte, nur einen engen Kreis.
   Plötzlich machte der Apache, nachdem er einige Augenblicke in der Stellung eines Menschen verblieben war, dessen Auge einen fernen Gegenstand mitten in der Dunkelheit zu erkennen sucht, zwei oder drei Schritte in der Richtung nach dem Wasser und verschwand. Er hatte die Lanze auf dem Platz, den er eben einnahm, stehenlassen; der Abendwind bewegte nur noch die nach Art eines Fähnchens an ihrem Schaft hängenden Skalpe.
   Dies war ein Augenblick noch lebhafterer Angst, denn die Nacht verhüllte die Bewegungen des Indianers. Die Flüchtlinge hielten selbst ihren Atem an, und das Floß glitt langsam auf der düsteren Oberfläche des Stromes weiter.
   »Sollte uns der Dämon bemerkt haben?« flüsterte Pepe dem Kanadier ins Ohr.
   »Ich fürchte es fast«, antwortete Bois-Rosé.
   Ein klingendes Geschrei ließ die Jäger erbeben; der Ruf wurde auf beiden Ufern wiederholt: es waren die Signale, die die Wachen einander gaben, indem sie den Ruf der Eule nachahmten. Dann wurde alles wieder still.
   Endlich seufzte Bois-Rosé aus erleichtertem Herzen und zeigte mit dem Finger auf das Feuer, das am Ufer brannte. Der Indianer war eben in den Lichtkreis zurückgekehrt, und nachdem er seine Lanze wieder ergriffen hatte, nahm er die Stellung wieder ein, die er einen Augenblick verlassen hatte. Die Angst war nicht nötig gewesen; aber die Insel näherte sich nichtsdestoweniger immer mehr dem Ufer.
   »Wenn es so weitergeht«, sagte Bois-Rosé, »dann werden wir zwei Minuten später im Lager dieses indianischen Teufels sein. Ach, wenn wir doch mit Hilfe dieses großen Zweiges ein wenig rudern könnten – wir würden bald wieder auf den richtigen Weg kommen. Aber das Rauschen des Wassers würde unsere Flucht verraten!«
   »Und doch werden wir uns dazu entschließen müssen; vielleicht ist die Gefahr, uns zu verraten, immer noch der Gewißheit vorzuziehen, in die Hände unserer Feinde zu fallen. Doch zuvor müssen wir untersuchen, ob auch diese Strömung, in die wir geraten sind, ihren Lauf nach dem Ufer nimmt; in letzterem Fall dürfen wir nicht länger zögern, und obgleich ein Baumzweig mehr Lärm im Wasser macht als ein mit Leinen umwickeltes Ruder, so wirst du doch dein Bestes tun, um leise zu rudern.«
   Als Pepe diese Ansicht ausgesprochen hatte, brach er leise ein Stück trockenes Holz ab und warf es in den Fluß. Über Bord geneigt forschten Pepe und Bois-Rosé nach der Richtung, der das Holz folgen würde. Es befand sich an dieser Stelle infolge des Einflusses irgendeines tiefen Loches im Flußbett ein heftiger Wirbel. Einen Augenblick kreiste das Holz Stückchen, als ob es untergehen wollte; dann schwamm es rasch nach der dem Ufer entgegengesetzten Richtung. Die beiden Jäger stießen einen schweren Seufzer und einen leisen Ruf der Freude aus, wechselten aber bald einen bestürzten Blick miteinander. Der Zweig wurde von einer unteren Strömung zurückgeworfen und schwamm plötzlich zum Ufer. Es war keine Täuschung möglich – es mußte der Insel ebenso gehen wie dem Stückchen Holz, das ihr Vorläufer gewesen war. Wirklich schien die schwimmende Insel einen Augenblick unbeweglich stehenzubleiben; allein sie gehorchte endlich dem Einfluß der ersten Strömung und entfernte sich bald abermals vom Ufer. Der Nebelvorhang, der zugleich rechts und links immer dichter wurde, war für die beiden Jäger ein Beweis, daß ihr Floß wieder eine günstige Richtung eingeschlagen hatte.
   So verfloß unter ängstlichem Wechsel von Furcht und Hoffnung ungefähr eine Stunde; dann verloren sich die indianischen Biwaks in nebliger Ferne. Die Flüchtlinge waren beinahe außer aller Gefahr. Indes mußte man sich nun selbst forthelfen. Beruhigt durch die zurückgelegte Strecke, stellte sich der frühere Matrose an das hintere Ende der Insel und begann bald mit dem Zweig in seiner Hand kräftig zu rudern.
   Wie ein lange Zeit seinen Launen überlassenes Pferd endlich die Hand und den Sporn eines geschickten Reiters fühlt, so hörte auch die schwimmende Insel auf, sich nach allen Richtungen im Kreis zu drehen, und folgte viel schneller der Strömung. Wo das Wasser tiefer war, wurde ihre Bewegung vom Kanadier beschleunigt und gelenkt, und so hatte sie bald einen beträchtlichen Weg zurückgelegt. Von jetzt an konnten die drei Freunde annehmen, daß sie, wenn nicht ganz gerettet, doch wenigstens in größerer Sicherheit waren.
   »Der Tag wird bald erscheinen«, sagte Bois-Rosé. »Wir müssen nun an dem einen oder dem anderen Ufer landen und das Weite suchen, denn wir machen zu Fuß einen doppelt so großen Weg als auf diesem Floß, das noch langsamer geht als ein holländischer Huker – und das will viel sagen.«
   »Wohlan —lande, wo du willst, Bois-Rosé«, antwortete Pepe; »wir wollen dann zu Fuß im Wasser weitergehen, um den Indianern unsere Spuren zu verbergen. Wir tragen, wenn es nötig ist, den Verwundeten auf den Armen und werden wenigstens zwei Meilen in der Stunde zurücklegen. Denkt Ihr, Don Fabian, daß das Val d‘Or noch sehr weit ist?«
   »Ihr habt ebenso wie ich die Sonne hinter den Nebelbergen, in denen es liegt, untergehen sehen«, antwortete Fabian; »wir müssen kaum noch einige Stunden davon entfernt sein und werden es ohne Zweifel noch vor Tagesanbruch erreichen.«
   Bois-Rosé gab mit Pepes Hilfe dem Floß, auf dem sie sich befanden, eine schräge Richtung nach dem linken Ufer, und nach einer Viertelstunde etwa stieß die Insel so heftig an den Rand des Flusses, daß ein Riß mitten durch ihren Boden entstand. Während Pepe und Fabian auf ein Ufer sprangen, wo keine Feinde mehr waren, nahm der Kanadier den immer noch bewegungslosen Gambusino in seine Arme und legte ihn ins Gras.
   Der Verwundete erwachte. Beim Anblick einer Gegend, die von der, wo er eingeschlafen war, ganz verschieden war – was ungeachtet des Nebels und der Nacht leicht bemerkt werden konnte —, sah er sich erstaunt um. »Virgen santa!« sagte er. »Muß ich immer noch das schreckliche Geheul, das mich im Schlaf störte, vernehmen?«
   »Nein, mein Sohn, die Indianer sind jetzt fern, und wir befinden uns in Sicherheit. Gott sei gelobt, daß ich alles, was mir teuer ist – meinen Fabian und meinen alten Begleiter—, in allen Gefahren durch seine Gnade habe retten können.« Bei diesen Worten entblößte der Kanadier ehrfurchtsvoll sein ergrauendes Haupt und reichte Pepe und Fabian von Mediana herzlich die Hand.
   Nachdem man dem skalpierten Gambusino einige Augenblicke zur Besinnung gelassen hatte, machten sich die drei Jäger bereit, ihren Weg fortzusetzen.
   »Wenn Ihr nicht imstande seid, mit uns zu marschieren«, sagte der Kanadier zu ihm, »so wollen wir eine Art Tragbahre machen, um Euch fortzuschaffen. Wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn wir diesen Räubern entgehen wollen, die, sobald der Tag anbricht, Jagd auf uns machen werden.
   Gayferos‘ Verlangen, so schnell wie möglich einem neuen Zusammentreffen mit den Indianern zu entgehen, war jedoch so groß, daß er fast die heftigen Schmerzen vergaß, die er litt. Er erklärte, daß er seinen drei Befreiern ebenso schnell folgen wolle, als sie selbst nur marschieren könnten, und schlug vor, sogleich aufzubrechen.
   »Wir müssen vorher noch einige Vorsichtsmaßnahmen treffen«, sagte Bois-Rosé. »Ruht Euch noch einige Augenblicke aus, bis wir dieses Floß, das uns so nützlich gewesen ist, zerstückelt und es der Strömung des Flusses überlassen haben. Es ist nötig, daß die Indianer keine Spur von uns wiederentdecken.«
   Alle drei machten sich ans Werk. Die schwimmende Insel war schon durch das Zerreißen der Wurzel, von der sie im Fluß festgehalten wurde, und durch den Stoß, den sie an dem abschüssigen Ufer, wo sie landete, empfangen hatte, auseinandergegangen und widerstand den vereinten Kräften der drei Jäger nicht lange. Die Baumstämme, aus denen sie bestand, wurden nach und nach losgerissen und in die Strömung gestoßen, die sie mit fortriß; bald blieb keine Spur des Floßes mehr übrig, auf dessen Bildung die Natur so viele Jahre verwandt hatte.
   Als der letzte Zweig aus den Augen der Jäger verschwunden war, richtete Bois-Rosé mit Pepes Hilfe die Grashalme wieder auf, um so den etwa hinterlassenen Eindruck ihrer Füße zu verwischen, und gab das Zeichen zum Aufbruch.
   Als der größte und stärkste von den vier Flüchtlingen ging er zuerst ins Wasser, und zwar weit genug vom Ufer, daß die Spur ihrer Füße verdeckt wurde und die Indianer voraussetzen mußten, sie wären auf der Insel weitergefahren. Der Marsch war zu beschwerlich, als daß er hätte sehr beschleunigt werden können; dennoch aber kamen sie nach einer Stunde in dem Augenblick, wo ihre schmerzenden Füße sie trotz der beibehaltenen Fußbekleidung zwangen, haltzumachen, an die Stelle, wo die beiden Flüsse das Delta bildeten und wo das Val d‘Or liegen mußte.
   Der Tag brach an. Die Morgendämmerung begann den Horizont im Osten zu erhellen; ein graues Halbdunkel folgte der Finsternis. Glücklicherweise war der Arm des Flusses, durch den man waten mußte, nicht sehr tief; die Wassermasse strömte in den anderen Arm hinein. Das war ein glücklicher Zufall, denn der verwundete Gambusino würde einen langen Aufenthalt verursacht haben, ehe er schwimmend das andere Ufer erreicht hätte. Bois-Rosé nahm ihn auf seine Schultern. Alle drei Männer gingen ins Wasser, das ihnen kaum bis ans Knie reichte.
   Die Bergkette der Nebelberge war nur etwa eine Meile von dem Punkt des Deltas entfernt, wo sie sich eben befanden, und nach einem kurzen Halt wurde der Marsch mit neuem Eifer wiederaufgenommen.
   Bald bekam der Boden ein anderes Aussehen. Auf den feinen Sand des angeschwemmten Erdreichs – denn während eines Teils des Jahres war das durch die Trennung der beiden Stromarme gebildete Delta zur Zeit des Steigens der Gewässer überschwemmt – folgten tiefe Löcher und manches ausgetrocknete Flußbett, wie es sich die Gießbäche wühlen, wenn sie während der Regenzeit von den Bergen herabstürzen. Anstatt der langen, schmalen Einfassung von Weiden und Baumwollstauden, die die Ufer ausgetrockneter Flüsse beschatten, erhoben sich von Strecke zu Strecke grüne Eichen, und die ganze umgewühlte Gegend war durch die Bergkette, die man die »Nebelberge« nennt, begrenzt.
   Hier machten die Wanderer einen Augenblick halt. Der Anblick dieser Landschaft aus der Nähe war sonderbar und großartig zugleich. Selten hatten wohl die Füße des weißen Mannes diese noch mit ihrer unberührten, jungfräulichen Wildheit geschmückte Steppe betreten. Marcos Arellanos und Cuchillo waren allein bis hierher vorgedrungen. Wie in den unermeßlichen Domen, die ganz von der Majestät Gottes erfüllt sind, so ließ auch hier, dem übernatürlichen Zauber gegenüber, der auf dieser rauhen Landschaft zu ruhen schien, aus einem unbestimmten Gefühl ehrfurchtsvollen Schreckens die Stimme des Menschen sich unwillkürlich nur leiser vernehmen.
   Diese von einem ewigen Nebel eingehüllten Hügel waren auch jetzt, wo die Ebenen ringsumher von den Strahlen der Sonne glänzten, damit bedeckt und schienen auf ihrem Gipfel undurchdringliche Geheimnisse zu verbergen. Zuweilen dringen, nach der Aussage der Reisenden, unter dem Gewölk eines wolkenfreien Himmels leuchtende Blitze durch den Nebel, der auf den Höhen lagert; die Echos senden einander ein dumpfes Geräusch wie das eines fernen Donners zu und übertönen mit ihrer ehrfurchtgebietenden Stimme die Wasserfälle, die sich in gähnende Abgründe stürzen. Man könnte sagen, daß Geister unter der Erde, unsichtbare Wächter verborgener Schätze, miteinander in den Tiefen der Erde kämpfen und daß nach den indianischen Sagen diese Nebeldecke die unverletzliche Wohnung des Herrn der Berge verbirgt.


   37. Der Finger Gottes

   Unterdessen hatten Mattigkeit und Schmerz den Gambusino überwältigt. Da die Notwendigkeit es gebieterisch verlangte, daß er nichts von der Lage des Val d‘Or, ja nicht einmal sein Dasein erfahren durfte, so faßten Bois-Rosé und Pepe nach gemeinschaftlicher Verabredung den Entschluß, ihn jetzt, da er in Sicherheit war, auf einige Stunden zu verlassen und diese Zeit zu benützen, um die Örtlichkeiten aufzusuchen, deren Beschreibung Fabian von seiner Adoptivmutter empfangen hatte. »Hört, mein Junge«, sagte Bois-Rosé zu Gayferos, »wir haben Euch ohne Zweifel hinreichende Proben von Zuneigung und Ergebenheit gegeben, so daß wir Euch hier nun einen halben, vielleicht einen ganzen Tag zurücklassen können. Wir haben noch etwas abzumachen, wozu drei entschlossene Männer nötig sind. Wenn wir heute abend oder morgen früh noch auf der Welt sind, so werdet Ihr uns zurückkommen sehen; wo nicht … Ihr begreift, es ist dann nicht unsere Schuld. Unterdessen sind hier Wasser und trockenes Fleisch, und mit diesen Lebensmitteln werden vierundzwanzig Stunden bald vorüber sein.«
   Wie man sich wohl denken kann, willigte der arme Verstümmelte nicht ohne Widerstreben in diese Trennung; indessen beruhigte er sich mit einem neuen und feierlichen Versprechen der hochherzigen Jäger, denen er schon soviel verdankte, und fand sich darein, sie ziehen zu lassen.
   »Ich muß noch, ehe wir Euch verlassen, eine letzte Forderung an Euch richten«, sagte der alte Jäger. »Wenn der Zufall Eure Gefährten, von denen Ihr auf so traurige Art getrennt seid, hier vorüberführte, so fordere ich für den Fall, daß der Dienst, den wir Euch geleistet haben, einigen Wert in Euren Augen hat, beim Heil Eurer Seele von Euch, daß Ihr keinem von ihnen unseren Aufenthalt in diesen Gegenden verratet. Was Euer Hiersein betrifft, so mögt Ihr es rechtfertigen, wie Ihr es für gut befindet.«
   Gayferos versprach, sich nach den Forderungen des Jägers zu richten, und die drei Freunde entfernten sich mit raschen Schritten.
   Bois-Rosé stand auf dem Punkt, einen seiner glühenden Wünsche zu verwirklichen, was auch die Folge davon sein mochte; nämlich den Wunsch, sein vielgeliebtes Kind zu bereichern, mit Fabians künftigem Vermögen noch unermeßliche Schätze zu vereinigen. Er schien in seiner glühenden Hingebung zu vergessen, daß die Eroberung des Val d‘Or eine Schranke mehr zwischen Fabian und ihm errichten würde.
   Auch Pepe war glücklich auf diesem Marsch. Er stand bereit, so viel in seinen Kräften lag, das Böse, das er gegen seinen Willen der Familie der Mediana zugefügt hatte, wiedergutzumachen. Sein Gewissen war erleichtert, sein Schritt elastisch.
   Nur Fabian schien von diesem Einfluß des Glücks nichts zu empfinden, und nach einer Viertelstunde bewog er seine Begleiter unter dem Vorwand, daß er sich ein wenig ausruhen müsse, zum Anhalten. Alle drei setzten sich auf einem kleinen Hügel nieder, von dessen Höhe sie die öde Landschaft ringsum überblicken konnten.
   »Nun, Don Fabian«, sagte Pepe im Ton lustigen Vorwurfs und zeigte mit dem Finger auf die noch undeutliche Masse der »Nebelberge«, »sollten Eure Füße nicht neue Kraft durch die Nähe dieser so goldreichen Gegenden erhalten?«
   »Nein«, antwortete Fabian; »ich werde vor Sonnenaufgang nicht einen Schritt mehr nach dieser Seite hin tun.«
   »Ach«, unterbrach ihn der Kanadier ungestüm, womit er zugleich auf eine Gebärde des Erstaunens von seiten Pepes und auf seine eigene Überraschung antwortete, »das ist etwas ganz Neues! Und warum das, wenn ich fragen darf?«
   »Warum? Weil hier eine verfluchte Stelle ist; eine Stelle, wo derjenige, den ich vor dir, Bois-Rosé, wie einen Vater liebte, ermordet wurde; weil tausend Gefahren euch hier umgeben und ich euch diesen nur schon zu sehr dadurch ausgesetzt habe, daß ihr meine Sache als die eure betrachtet.«
   »Welches sind denn diese Gefahren, denen wir drei nicht trotzen könnten? Sollten sie etwa größer sein als diejenige, der wir eben entgangen sind? Und wenn wir nun Lust haben, Pepe und ich, sie für dich auf uns zu nehmen?« antwortete der Kanadier.
   »Die Gefahren sind jeglicher Art«, erwiderte Fabian; »warum sollte ich mich noch länger täuschen? Beweist nicht alles auf dem geraden Marsch, den die Expedition eingeschlagen hat, daß Don Antonio von Mediana ebenso wie ich das Dasein des Val d‘Or kennt? Der Führer, der die Expedition leitet, ist seiner Sache gewiß, das weiß ich heute bestimmt.«
   »Nun«, fragte Bois-Rosé, »was folgerst du denn aus alledem?«
   »Daß drei Männer«, antwortete Fabian, »nicht gegen sechzig kämpfen können!«
   »Höre, mein Kind«, erwiderte der Kanadier etwas ungeduldig, »du hättest, ehe du uns zu dieser Unternehmung bewogst, nachdenken sollen; heute ist es zu spät dazu. Und warum denkst du nicht mehr so wie gestern?«
   »Weil mich gestern die Leidenschaft noch irreführte: weil die Überlegung an die Stelle des Ungestüms, das mich mit fortriß, getreten ist; kurz, weil ich nicht mehr hoffe … was ich gestern noch hoffte.« Die entgegengesetzten Leidenschaften, die im Herzen Fabians stürmten, ließen ihn dem Kanadier die verschiedenen Strömungen seines Willens nicht näher erklären.
   »Fabian«, sagte der Kanadier feierlich, »du hast eine heilige, schreckliche Pflicht zu erfüllen, und diese Pflicht läßt nicht mit sich handeln! Wer sagt dir ferner, daß die von Don Antonio befehligte Expedition in derselben Richtung wie wir marschiert? Aber täte sie es auch – um so besser; der Mörder deiner Mutter wird dann in unsere Hände fallen.«
   »Der Führer, der den Auftrag hat, den Goldsuchern den Weg zu zeigen«, erwiderte Fabian, der infolge seiner edlen Aufopferung Bois-Rosé seine wirklichen Gefühle zu verheimlichen suchte, »kann niemand anders sein als dieser Schelm von Cachillo. Habe ich euch nicht die Spur seines Pferdes gezeigt, die oft von der seiner Gefährten getrennt war? Es muß ihm also, wenn ich mich nicht täusche, das Tal, wo sich der Goldsand befindet, bekannt sein; in jedem Fall müssen wir, so schwer es auch deiner Ungeduld werden mag, warten, bis die Sonne wieder aufgeht, ehe wir uns blindlings in eine Gegend stürzen, die wir nicht kennen und wo goldgierige Abenteurer ebenso furchtbare Feinde für uns sein können wie die Indianer selbst. Ist das nicht auch deine Meinung, Pepe?«
   »Fast in allen Stunden dieser Nacht«, antwortete der frühere Grenzsoldat, »hat der Wind den Schall eines Gewehrfeuers bis in unser Ohr getragen, was offenbar beweist, daß der Hauptteil mit den Indianern gekämpft haben muß. Es ist nicht wahrscheinlich, daß uns jemand zuvorgekommen ist; ich muß also ganz offen bekennen, daß meine Ansicht von der Eurigen verschieden ist. Ich meine, wir müssen ohne Zeitverlust irgendeinen Ort in diesen Bergen zu gewinnen suchen, wo wir uns in einen letzten, unvermeidlichen Kampf gegen unsere Feinde mit einiger Hoffnung auf Erfolg einlassen können.«
   »Diesen ungleichen Kampf will ich eben vermeiden«, erwiderte Fabian mit Wärme. »Solange ich noch hoffen kann, vor dem Presidio von Tubac diejenigen einzuholen, die mir die Vorsehung für meine Rache bezeichnet hat, solange noch drei gegen fünf standen, habe ich sie ohne Überlegung verfolgt; solange ich glauben konnte, daß ich mich getäuscht hätte und daß diese Expedition wie alle vorhergehenden in dieselben Einöden ohne einen anderen Zweck eindrang als den, irgendeine unbekannte Goldmine zu entdecken, bin ich ihrem Marsch Schritt für Schritt gefolgt – aber was ist geschehen? Nachdem wir vier Tage hindurch eine verschiedene Richtung eingeschlagen hatten, finden wir nicht Don Estévan und seine Leute in dieser Nacht selbst bei den Nebelbergen wieder? Ihr Ziel ist also dasselbe wie unseres. Drei Männer können nicht gegen sechzig kämpfen; also wolle Gott nicht, daß ich im Interesse meiner Rache oder aus eigenen habgierigen Absichten zwei hochherzige Freunde opfere, deren Leben mir kostbarer ist als das meine.«
   »Du bist noch ein Kind«, sagte der Kanadier, »das nicht einsieht, daß hier zwar jeder für sich handelt, daß aber unser dreifaches Interesse nur ein einziges bildet. Verfolgten wir nicht schon zwei Tage zuvor, ehe Gott dich zum zweitenmal in meine Arme geworfen hat, den Mann, der damals deine Hoffnungen vernichtete, wie er einst deine Mutter getötet und deinen Namen gestohlen hat? Seit zehn Jahren tun Pepe und ich immer dasselbe; unsere Freunde und Feinde sind gemeinschaftliche gewesen, und du bist der Sohn Pepes, weil du der meinige bist. Fabian, mein Kind, danken wir Gott, daß er und ich dasselbe Ziel verfolgen, das zugleich das deinige ist. Was auch daraus folgen mag – wir werden nicht einen Schritt rückwärts tun.«
   »Und dann«, nahm der ehemalige Grenzsoldat das Wort, »achtet Ihr es denn für nichts, Don Fabian, Goldklumpen aufzulesen, ein ganzes Leben voll Überfluß für eine eingebildete Gefahr zu gewinnen? Denn ich wiederhole es: Wir müssen die ersten im Val d‘Or sein, und ein Tag, eine Stunde Vorsprung kann uns für immer reich machen. Ihr seht also wohl, daß wir im Gegenteil nur unwürdige Egoisten sind und daß wir es vielmehr wagen, Euch unserem persönlichen Vorteil zu opfern.«
   »Pepe hat recht«, fügte der alte Jäger hinzu; »wir wollen Gold, viel Gold!«
   »Und was wolltest du mit dem Gold machen?« fragte Fabian lächelnd.
   »Was ich damit machen würde?« fragte Bois-Rosé, indem er den frühen Grenzjäger mit dem Ellbogen stieß.
   »Das Kind fragt, was ich damit machen würde!«
   »Ja, ich bestehe darauf, es zu wissen.«
   »Was ich damit machen würde?« wiederholte der ehrliche Kanadier, den diese Frage nicht wenig in Verlegenheit setzte. »Ich würde… wahrhaftig, ich würde… damit sehr vieles machen… und wenn ich es auch nur – mit deiner Erlaubnis – dazu benützte, an meine Büchse einen Lauf aus lauterem Gold machen zu lassen«, fügte er mit triumphierender Miene hinzu. Fabian konnte nicht umhin, noch lächelnd mit den Schultern zu zucken.
   »Du lachst?« fuhr Bois-Rosé fort, in Eifer geratend. »Denkst du denn nicht, daß es außerordentlich schmeichelhaft für mich wäre, wenn ich einem Apachen oder Sioux oder Pawnee mit dem Messer den Garaus machte und ihm sagen könnte: ›Hund, die Kugel, die dir den Kopf zerschmettert hat, kommt aus einem ganz goldenen Lauf!‹ Geh doch, mein Kind; wenige Biberjäger würden ebenso sprechen können!«
   »Das gebe ich zu«, antwortete Fabian. Dann fuhr er ernsthaft fort: »Nein, meine Freunde, Don Estévan entgeht meiner Rache dank den Kriegern, von denen er umgeben ist; diese Goldmine, die ich für mein Eigentum hielt, entgeht mir ebenfalls – was schadet es! Habe ich nicht noch im Fall, daß der Ehrgeiz mich ergreifen sollte, den Namen und die Güter meiner Väter wieder in Besitz zu nehmen? Gibt es nicht in Spanien Gerichtshöfe, die allein ein gleiches Recht sprechen? Gott wird helfen; aber ich will nicht wie ein Tor zwei edle Leben aufs Spiel setzen – ich rede nicht von meinem!« fuhr er melancholisch fort. »Habe ich nicht schon, so jung ich auch noch bin, den bitteren Kelch bis auf den Grund geleert? Genug; eure edelmütigen Ausflüchte sollen mich nicht mehr zum Schweigen bringen.«
   Bei diesen Worten reichte Fabian den Jägern die Hände, die den Druck liebreich und fest erwiderten.
   Der Kanadier betrachtete einige Minuten schweigend und gerührt das edle Antlitz dessen, den er mit Stolz seinen Sohn nannte; dann aber machte der augenblickliche, gezwungene Ausdruck seiner Züge den wahren Gefühlen seines Herzens Platz, und er sagte: »Fabian, mein Kind, mein ganzes Leben ist entweder auf dem Meer oder mitten in den Einöden verflossen, aber ich erinnere mich noch genug der Städte und ihrer Sitten, um zu wissen, daß unter den Menschen die Gerechtigkeit sich eher erkaufen als erobern läßt. Dieses Gold, mein Kind, das in diesen Bergen verborgen liegt, dieses Gold wollen wir anwenden, um das aus dir zu machen, wozu die Vorsehung dich bestimmt hatte: dieses Gold wird die Hindernisse ebnen, an denen sich ohne Zweifel dein gutes Recht brechen würde. Pepe wird mich nicht Lügen strafen, wenn ich dir sage, daß wir unser Leben daransetzen wollen, um dir die Güter deiner Vorfahren und den berühmten Namen, den zu tragen du so würdig bist, wieder zu verschaffen.«
   »Ja«, sagte der Grenzjäger, »ich habe es Euch schon gesagt, der erste Teil meines Lebens ist nicht so gewesen, wie ich es wohl gewünscht hätte – das ist freilich auch ein wenig die Schuld der spanischen Regierung, die mich nicht bezahlte —, nichtsdestoweniger liegt doch eine schreckliche Last auf meinem Herzen. Oft habe ich traurig an meine Vergangenheit zurückgedacht; aber Gott verzeiht immer dem Schuldigen, weil er mit der einen Hand das Verbrechen wägt, während die andere die Sühnung darbietet. Der Tag der Sühnung ist da, die Verzeihung ist nahe, und es ist nur gerecht, wenn ich Euch mit Gefahr meines Lebens wiedergebe, was mit durch meine Schuld Euch geraubt ist.«
   »Vorwärts also!« sagte der Kanadier. »Gott hat jedem von uns seinen Weg vorgezeichnet und wird – wie du sagtest, Fabian – das übrige tun. Wenn du hierbleiben willst, so werden wir ohne dich gehen.«
   Mit diesen Worten erhob sich der Kanadier, warf seine Büchse über die Schulter und forderte mit einer Gebärde der Autorität seine Gefährten auf, ihm zu folgen. Fabian war gezwungen, dem unwiderruflichen Entschluß seiner Freunde zu gehorchen. Alle drei gingen entschlossen auf die Nebelberge los und verschwanden bald auf dem rauhen, zerrissenen Terrain. Die Morgendämmerung war dem Tag noch nicht gewichen, als der kanadische Jäger und seine beiden Begleiter die Stelle, wo sie gesessen waren, verließen.
   Ein neuer Teilnehmer näherte sich seinerseits dem Schauplatz der Szenen, die das Licht des Tages beleuchten sollte. Wie der Satan, wie der Dämon der Finsternis kam er allein. Sein Pferd warf im ungestümen Lauf mit den Hufen den Sand und den Kies der dürren Ebene empor, die es zu verschlingen schien. Der Reiter, dessen unheimliches Gesicht von habgierigen Leidenschaften glühte – und in diesem Reiter hat man Cuchillo wohl schon wiedererkannt —, schien indes selbst zuweilen von geheimen Schrecken beunruhigt zu werden.
   In der Tat konnte seine Flucht aus dem Lager – selbst im Lärm des Kampfes – von irgend jemand unter denen bemerkt worden sein, die er im Augenblick der Gefahr verließ; streifende Indianer konnten sein Entfliehen gesehen haben, und das waren die Ursachen zu seiner Besorgnis. Doch war Cuchillo nicht der Mann, einen so kühnen Streich zu versuchen, ohne ebenfalls die günstigen Aussichten abgewogen zu haben. Er hatte es wie der Jäger gemacht, der die Jungen des Löwen oder des Jaguars in der Höhle fangen will und dem Alten eine Beute vorwirft, um seine Aufmerksamkeit abzuziehen und ihn zu entfernen. Die Leute, die er den Herren dieser Steppe vorgeworfen hatte, waren seine Gefährten. Seine vorhergehenden Streifereien hatten, wie schon gesagt, nur zum Zweck gehabt, einer Indianerabteilung, deren Spur er bemerkt hatte, den Weg zum Lager Don Estévans zu zeigen. Er spielte freilich ein gefährliches Spiel, und man hat gesehen, wie er kaum das Expeditionskorps wiedererreichen konnte und nur einige Augenblicke vor den ihn wütend verfolgenden Apachenkriegern anlangte.
   Er hatte gedacht, daß der Kampf sich bis in einen Teil der Nacht hinein verlängern würde; daß die Abenteurer – mochten sie nun Sieger oder Besiegte sein – es den ganzen folgenden Tag hindurch nicht wagen würden, ihre schützende Wagenburg zu verlassen, und daß er somit lange Stunden vor sich hatte, wo er einen Teil der Schätze des Val d‘Or einsammeln und sie nach seiner Rückkehr unter den Schutz seiner Gefährten stellen konnte. Endlich bedachte er auch noch, daß, wenn die ganze Expedition das Val d‘Or in Besitz genommen hatte, er auch als Soldat und als Führer seinen Anteil erhalten mußte. An Vorwänden sollte es ihm schon nicht fehlen, um seine abermalige Abwesenheit zu bemänteln, und somit hätte er noch reichlich die Kenntnis eines Geheimnisses ausgebeutet, das er schon für eine bedeutende Summe verkauft hatte.
   Aber, wie wir gesehen hatten, Cuchillo rechnete ohne das Mißtrauen, das Don Antonio gegen ihn gefaßt hatte. Um seinen Handel mit ihm abzuschließen, war er gezwungen gewesen, ihm so genaue Nachweise über die Lage des Val d‘Or zu geben, daß Don Antonio von dem Ort aus, den die Expedition erreicht hatte, sich nicht mehr über den Weg, der eingeschlagen werden mußte, täuschen konnte. Der hatte diese Kenntnis nun Pedro Diaz an dem Abend mitgeteilt, wo sein Mißtrauen durch die längere Abwesenheit Cuchillos wach geworden war. Die Vorsicht wollte es so, sonst hätte wohl die Habgier noch andere dasselbe tun lassen, was der Bandit getan hatte.
   Nachdem Cuchillo sich gestellt hatte, als ob er tödlich verwundet sei, und mitten im Lager niedergestürzt war, hatte er sich still und unbemerkt nach der Wagenburg begeben, die von den Indianern nicht umzingelt war, sein Pferd war ihm gefolgt, wie er es dazu schon lange dressiert hatte, und begünstigt von der Dunkelheit, war er nach den Bergen gesprengt, deren Zugänge er kannte. Die Habgier, die glühendste unter seinen Leidenschaften, hatte ihn die Augen über gewisse schwache Seiten eines Plans schließen lassen, dessen Ausführung ohnehin schon großen Gefahren unterlag.
   Er war nun nahe daran, seine Treulosigkeit mit Erfolg gekrönt zu sehen; mit gierig funkelnden Augen, das Herz klopfend vor Hoffnung und Furcht, näherte er sich mit verhängten Zügeln dem Val d‘Or. Aber wie der Geizige unaufhörlich fürchtet, daß ein unsichtbares verborgenes Auge seinen Schritten nach dem Schatz folgt, den er an einem nur ihm bekannten Ort verscharrt weiß, so setzte er auch zuweilen seinen raschen Lauf aus, um aufmerksam den dumpfen, unbestimmten Tönen der Wildnis zu lauschen. Wenn er dann mit dem Blick die weite Steppe durchforscht hatte, so erkannte er, daß seine Furcht grundlos gewesen sei, und er setzte seinen Weg mit neuem Vertrauen und neuem Eifer fort.
   Zuweilen weckte auch der Anblick der Gegenden, die er schon gesehen hatte, düstere Erinnerungen in ihm. Sein Instinkt hatte ihn gut auf denselben Weg geleitet: auf diesem kleinen Hügel hatte er sich mit Marcos Arellanos ausgeruht, dieser Nopal hatte ihnen seine erquickenden Früchte geliefert; sie hatten beide mit geheimnisvollem Schrecken das sonderbare Aussehen der Nebelberge betrachtet.
   Cuchillo jagte immer weiter; der Wind pfiff durch sein Haar; sein Pferd wieherte, und dessen schneller Galopp trug den Mörder der Stelle entgegen, wo sein Opfer den Tod unter seinen Stößen gefunden hatte. Der Furcht vor seinen irdischen Feinden folgte nun diejenige, die uns unter dem Mantel der Nacht das Gewissen einflößt, das am Tag wohl eingeschläfert werden kann, des
   Nachts aber um so gewisser erwacht. Die Sträucher, die stachligen Nopals tanzten wie Gespenster vor Cuchillo und streckten die Arme aus, um sich seinem Marsch zu widersetzen. Ein kalter Schweiß benetzte seine Stirn; aber die Habgier war stärker als die Furcht – sie stachelte ihn an wie seine Sporen die Flanken seines Pferdes und trieb ihn blindlings nach dem Val d‘Or.
   Die Wirklichkeit folgte bald auf seine Visionen, und der Bandit lachte über seinen Schrecken. »Die Gespenster«, sagte er, »sind wie die Alkalden: sie beschäftigen sich niemals mit so armen Teufeln, wie ich bin; aber wenn ich nur zwei oder drei Aroben von diesem Gold aufraffe, so will ich so viele Messen für die Ruhe von Arellanos‘ Seele lesen lassen, daß er sich Glück wünschen wird, von so freigebigen Händen getötet worden zu sein.«
   Cuchillo brach in ein Gelächter aus und spornte sein Pferd zu noch schnellerem Lauf an; dann hielt er nach einigen Minuten ungestümen Rennens wieder an, um zu horchen. Nur sein Pferd atmete schnaubend durch die Nüstern; sonst störte kein Geräusch das Schweigen der Steppe. Der Bandit fühlte sich sicher und ließ einen Augenblick die frische Morgenluft seine schweißtriefende Stirn kühlen.
   »Ich bin allein, ganz allein!« sagte er. »Dieses Vieh, das ich so gut geführt habe, schlägt sich dort unten, damit ich mit Bequemlichkeit dem Sand einen Teil jenes Goldes nehmen kann, das er verhüllt, aber nicht verbirgt. Wer wird mich jetzt daran hindern, wenn der Tag anbricht, soviel davon zusammenzuraffen, als ich tragen kann, ohne mein Geheimnis zu verraten? Diesmal wird es nicht so sein wie mit Arellanos; ich werde nicht wieder vor den Indianern zu fliehen brauchen; ich habe ihnen ihre Beute überliefert, um sie aus meinem Weg zu entfernen. Nachher werde ich abermals mit denjenigen von meinen Gefährten zurückkommen, die den Lanzen der Apachen entgangen sind! Wie viele werden wohl noch übrigbleiben, um mit mir zu teilen? Oh, der Gedanke an diese Schätze macht das Blut in meinen Adern zu Feuer. Ist es nicht dieses Gold, das bald mir gehören wird, das allein hier auf Erden Ruhm, Vergnügen und alle Güter dieser Welt gibt und dessen Macht sich nach den Worten unserer Priester noch bis übers Grab ausdehnt?«
   Ein glänzendes Luftgebilde ging an den Augen des Banditen vorüber; er spornte abermals sein Pferd an und flog wieder vorwärts nach dem Val d‘Or.
   Während Cuchillo, trunken von der Hoffnung auf eine reiche Beute, blindlings dahinstürmte, wohin sein Geschick ihn rief; während er selbst dem Einfluß gehorchte, der ihn nach jenen düsteren Einöden trieb, näherten sich ihrerseits die vier Reiter, die schweigend das mexikanische Lager verlassen hatten: Don Estévan, Pedro Diaz, Oroche und Baraja. Von allen Abenteurern, die unter seinen Befehlen standen, waren sie diejenigen, denen der Chef am sichersten sich anvertrauen zu können glaubte.
   Obgleich die Nebelberge nicht weiter als sechs Meilen vom Lager entfernt waren, so hatte doch Arechiza, da er nicht wußte, wieviel Zeit zu seiner Expedition nötig sein würde, den Befehl hinterlassen, seine Rückkehr im Schutz der Wagenburg abzuwarten. Dann war er, wie wir schon erwähnt haben, unter dem Vorwand weggeritten, eine Rekognoszierung in der Umgegend vorzunehmen, ohne jedoch die Abenteurer ahnen zu lassen, daß sie nahe dem Ziel wären, auf das sie losgingen.
   Oroche und Baraja allein kannten den wirklichen Grund dieser nächtlichen Expedition und folgten in einiger Entfernung Don Estévan und Diaz, die voranritten. Die beiden Freunde ritten durch die Nacht mit einem vor Begier klopfenden Herzen; bald setzten sie nun ihre Füße auf die reichste Mine, die jemals das Auge eines Goldsuchers geblendet hat, und brannten vor Verlangen, Cuchillo den Weg dahin abzuschneiden.
   Zwei Stunden ritten sie ebenso rasch wie der, den sie verfolgten – aber ohne Resultat. Cuchillo hatte einen ebenso großen Vorsprung und blieb unsichtbar für seine Verfolger in den unermeßlichen Ebenen, wo in der Dunkelheit seine Spuren selbst dem Auge eines Indianers entgangen wären.
   Mehr als einmal war Don Estévan auf dem Punkt, auf eine nutzlose Verfolgung zu verzichten und das Verschwinden Cuchillos irgendeinem anderen Grund als dem Verrat zuzuschreiben.
   »Es ist nicht daran zu zweifeln, daß der Taugenichts den Angriff der Indianer benützt hat, um nach dem Val d‘Or zu fliehen und vorher erst von den Schätzen, die er an uns verhandelt hat, einen Zehnten zu erheben, der in unseren Händen vielleicht hinreichen würde, um die Majorität im Kongreß von Arizpe zu erkaufen; es ist doch gut, einer solchen Plünderung vorzubeugen«, sagte Pedro Diaz.
   »Das ist es nicht, was ich am meisten fürchte«, antwortete Don Estévan lächelnd. »Wenn Cuchillo die Größe des Schatzes, den er mir verkaufte, nicht übertrieben hat, so müßte der Senat von Arizpe beinahe einzig in der Welt dastehen, wenn uns nicht noch Gold genug übrigbliebe, ihn mehrmals zu bestechen. Aber ich weiß nicht, welche unbestimmte Furcht, noch im Hafen zu scheitern, mich plötzlich so nahe dem erstrebten Ziel durchbebt, um dessentwillen ich die Steppe durchzogen und eine von allen beneidete Stellung aufgegeben habe, um den Gefahren einer Expedition, wie die unsere ist, zu trotzen. Die Steppe ist wie das Meer reich an Piraten aller Art, und Cuchillos Herz ist reich an Verrätereien: es kommt mir vor, als ob dieser Bandit mein Verderben sein wird.« Und Don Antonio setzte schweigend seinen Weg fort.
   Nicht so war es mit den beiden Reitern, die ihm folgten. Ihren Augen kam es vor, als ob ein goldener Nebel über der goldreichen Stelle schwebte, auf die sie zuritten.
   »Wenn Cuchillo nicht der größte Taugenichts ist, dem ich jemals begegnet bin«, sagte Baraja zu seinem Gefährten, »so will ich mein ganzes Leben hindurch einen Mantel wie den Euren tragen! Und doch verzeihe ich ihm von Herzen die Treulosigkeit, deren Opfer wir beinahe geworden wären, da er es ist, dem ich es verdanken werde, den Fuß einmal auf eine jener Goldminen gesetzt zu haben, von denen ich schon soviel habe reden hören und an deren Reichtum – ich muß es gestehen – Euer kläglicher Mantel mich oft hatte zweifeln lassen.«
   In dem Augenblick, als der Gambusino mit den langen Haaren etwas bitter diese Anspielung auf das namenlose Kleidungsstück rügen wollte, das seine Freunde nur aus Höflichkeit einen Mantel zu nennen beliebten, hielt Don Estévan an, während Diaz vom Pferd stieg. Der Abenteurer beugte sich nieder, um aus dem Sand einen schwarzen Gegenstand von zweifelhafter Form aufzuheben. Es war eine Art kleiner, lederner Reisetasche, die als Cuchillos Eigentum erkannt wurde. »Hier, Señor, das beweist, daß wir ihm gewiß auf der Spur sind«, sagte Diaz. »Der anbrechende Tag wird uns bald die Gegenwart eines Verräters zeigen …«
   »Und das soll seine letzte Verräterei sein, das schwöre ich!« fügte Don Estévan hinzu.
   In der Tat fanden sich beim Aufgang der Sonne – und dieser war nicht mehr fern – die Hauptpersonen dieses Dramas zur bestimmten Zeit ein, um in dem unzugänglichsten Teil dieser Einöden, umgeben von einer ebenso seltsamen wie großartigen Natur, zusammenzutreffen. Der Finger Gottes hatte sie ohne ihr Wissen hierher geführt.


   38. Der Parlamentär

   Seit einiger Zeit schon hatten die vier Flüchtlinge das Ufer bestiegen, wo sie die Insel, die sie hierhergebracht hatte, zertrümmerten, als der Abgesandte der Apachenhäuptlinge, der dem Schwarzen Falken den Oberbefehl anbieten sollte, die Augen dem Licht des Morgens öffnete. Einige Stunden Schlaf waren hinreichend gewesen, seine ermüdeten Glieder wieder zu kräftigen; der Steppenkrieger auf seinem harten Lager bedarf keiner langen Ruhe. Der Häuptling war immer noch regungslos und erschien im Licht des Feuers, das nach und nach erlosch, ebenso düster und unversöhnlich wie am vergangenen Tag.
   »Die Vögel fangen an zu singen«, sagte der Läufer in der poetischen Bildersprache, die die Indianer mit den Orientalen, von denen sie auch abzustammen scheinen, gemeinsam haben; »der Nebel entflieht vor der Sonne. Hat die Nacht dem Häuptling einen Rat erteilt, der günstig für den Stamm lautet, der seiner Ankunft wartet?«
   »Die Nacht spricht gar viel zu dem, der nicht schläft«, erwiderte der Häuptling, »und die ganze Nacht hindurch hat der Schwarze Falke die Seufzer seiner Schlachtopfer gehört; er hat das Grollen des Hungers in ihrem Innern vernommen, er hat allen Stimmen seiner Gedanken gelauscht, aber die Bitten der Krieger seiner Nation hat er nicht gehört.«
   »Gut! Der Bote wird denen, die ihn schicken, treu die Worte überbringen, die er gehört hat.«
   Der Läufer schickte sich an, aufzubrechen, und zog den ledernen Gurt um seine Hüften enger zusammen, als der Häuptling ihn bat, ihm aufstehen zu helfen. Der Apache gehorchte. Nicht ohne Anstrengung richtete sich der Schwarze Falke empor, unterdrückte den stechenden Schmerz, den ihm die Bewegung in seiner zerschmetterten Schulter verursachte, und stützte sich auf den Arm des Läufers.
   »Es ist gut«, sagte der Häuptling, »wenn wir erst die Posten befragen, die in der Nacht die Wache gehabt haben.« Und der Schwarze Falke wandte sich, begleitet und unterstützt von dem Indianer, mit langsamem, aber ziemlich festem Schritt nach den verschiedenen noch brennenden Feuern.
   Andere Wachen hatten die Stelle der ersten eingenommen, die nun ebenfalls auf ihrer Büffelhaut schliefen. Nur der Schwarze Falke allein von allen seinen Kriegern hatte die Augen nicht geschlossen. Die Späher waren auf ihren Posten unbeweglich wie eherne Statuen.
   Der erste wurde über die Vorfälle der Nacht befragt und antwortete: »Der Nebel ist nicht schweigsamer als der Fluß; die weißen Krieger, die dem Feuer entgangen sind, hätten nicht schwimmend entfliehen können, sofern sie nicht stumm und still wie die Fische unter dem Wasser gewesen sind.«
   Alle anderen antworteten in demselben Sinn.
   »Gut«, sagte der Häuptling, dessen Augen vor wilder Freude funkelten. Dann wandte er sich an den Abgesandten, zeigte mit dem Finger auf den Verband seiner Schulter und fuhr fort: »Die Rache spricht zu laut in mein Ohr; es kann keine andere Stimme als diese vernehmen.«
   Das war eine neue Bestätigung seiner abweisenden Antwort, die der Häuptling dem Abgesandten gab. Dieser führte schweigend den Schwarzen Falken wieder zu seiner Feuerstelle. Dennoch beeilte der Läufer trotz dieser zweiten Andeutung seinen Aufbruch nicht; sein Auge schien die dichte Nebelwolke, die auf dem Fluß lagerte, durchdringen zu wollen. Der Wind wehte etwas lebhafter vor Sonnenaufgang und öffnete zuweilen breite Durchblicke darin. Man sah leicht, daß die schwarze Nebelmasse von einem Augenblick zum anderen zerreißen mußte. Soviel Aufmerksamkeit aber auch der Indianer auf seine Prüfung verwandte, hätte er doch durch diese leichten Stellen hindurch die vom Häuptling bezeichnete Insel nicht entdeckt.
   Eine Ahnung, daß die Wachsamkeit der Späher aus irgendwelchen unbegreiflichen Gründen getäuscht worden sein könnte, durchflog plötzlich die Seele des Abgesandten, denn in seinem Blick leuchtete eine schlecht verhehlte Freude. »Ich habe gesagt, daß ich erst beim Aufgang der Sonne aufbrechen werde.« Dieser Gedanke war dem indianischen Läufer infolge des plötzlich entstandenen Argwohns gekommen.
   Das erste dämmernde Licht wurde bald bestimmter. Nebelwogen rollten übereinander wie der von einer Büffelherde aufgewirbelte Staub. Dann erglänzte der graue Schleier von den noch schrägen Strahlen der Sonne im rötlichen Feuer des Opals. Dann bebte die Nebelwand wie ein ungeheurer Vorhang, von dem bald jeder Sonnenstrahl, jedes Säuseln der Luft ein graues Stückchen abriß.
   Kaum noch einige Dunstflocken tanzten auf der azurenen Decke des Flusses, als der Schwarze Falke einen schrecklichen Schrei getäuschter Wut ausstieß. Die Insel war vollständig verschwunden; die Stelle, wo sie sich am Abend zuvor befunden hatte, war glatt wie ein Spiegel; auch nicht ein Schilfbusch von ihrem Rand, auch nicht eine grüne ausgeschlagene Wurzel ragte über die Oberfläche des Stromes.
   »Die Hand des Bösen Geistes hat sich über den Fluß gebreitet«, sagte der indianische Läufer. »Er hat nicht gewollt, daß die weißen Hunde, die seine Kinder sind, den Tod durch die Hand eines berühmten Häuptlings wie des Schwarzen Falken finden sollen.«
   Aber der Indianer hörte nicht auf die erkünstelten Beileidsbezeugungen des Gesandten, der sich im Grund seines Herzens zu dem Verschwinden der Flüchtlinge Glück wünschte. Diesmal hatte der wilde Häuptling sich allein auf seine Füße erhoben, sein Auge war verstört, sein Gesicht bleich trotz der Tätowierung und der roten Malerei; die geschwungene Streitaxt in der Hand, ging er schwankend auf den Wachtposten los, der am nächsten im Bereich seines Armes war.
   Aber der bedrohte indianische Krieger machte keine Bewegung. Er blieb mit vorgebeugtem Kopf und halberhobenem Arm stehen, ganz in der Haltung eines Mannes, der lauscht, als ob er dadurch zeigen wollte, daß er selbst bis zu diesem schrecklichen Augenblick nicht aufgehört hätte, treu zu wachen.
   Die Streitaxt jedoch war im Begriff, auf seinen Kopf zu fallen, als der Arm des Gesandten den des Häuptlings aufhielt. »Die scharfen Sinne des Indianers haben ihre Grenze«, sagte er; »er kann nicht das Gras wachsen hören; sein Auge konnte nicht durch die Wolken dringen, die den Fluß bedeckten. Der Schwarze Falke hat getan, was möglich war, er hat keine Vorsichtsmaßnahmen vernachlässigt. Der Geist oben hat nicht gewollt, daß ein Häuptling seine Zeit damit verliere, das Blut von drei Weißen fließen zu lassen, weil er ihm vorbehalten hat, es stromweise dort unten zu vergießen.« Der Indianer zeigte mit dem Finger in die Richtung nach dem mexikanischen Lager.
   Der Schwarze Falke war erschöpft durch die Anstrengung, die er gemacht hatte, und durch die Wut, die ihn verzehrte; er konnte nicht antworten. Seine Wunde hatte sich wieder geöffnet, und sein Blut floß abermals durch den ledernen Verband. Er wankte, seine Knie beugten sich, und der Abgesandte war genötigt, ihn auf das Gras niederzulegen, wo er schließlich das Bewußtsein verlor.
   Die Zeit, die bis zu dem Augenblick verfloß, wo der Schwarze Falke wieder zu sich kam, rettete die vier Flüchtlinge, die sonst von den Apachen mitten auf ihrem langsamen Marsch im Fluß gewiß noch eingeholt worden wären.
   Ein langes Geheul, das vom entgegengesetzten Ufer herüberscholl, sagte dem wilden Häuptling in dem Augenblick, wo er die Augen wieder öffnete, daß auch seine Begleiter das Verschwinden der schwimmenden Insel eben bemerkt hatten.
   »Wir werden die Spuren der Flüchtlinge suchen«, sagte der Läufer, »dann wird der Schwarze Falke auch die Stimme der Vernunft hören; seine Ohren werden nicht mehr taub sein.«
   Die am anderen Ufer postierten Apachenkrieger erhielten den Befehl, sich um ihren Häuptling zu sammeln, und als sie alle – etwa dreißig an der Zahl – beisammen waren, half man dem verwundeten Indianer auf sein Pferd. Der Bote, der zu Fuß gekommen war, da er bei dem Angriff sein Pferd verloren hatte, stieg hinter dem Schwarzen Falken auf, um ihn im Sattel zu halten.
   Der wilde Reiterzug folgte nun dem Lauf des Flusses. Nachdem der erste Augenblick der Überraschung vorüber war, wurden die Indianer zu der Annahme gezwungen, daß die schwimmende Insel von ihrem Grund losgerissen worden sein müsse, und sie hofften sie nicht weit vom Punkt ihrer Abfahrt gestrandet wiederzufinden.
   Aber die Indianer marschierten lange Zeit, ohne irgendeine Spur von denen zu bemerken, die sie suchten. Es ist wahr, daß einer von ihnen ein Freudengeschrei beim Anblick der Spuren der Flüchtlinge ausstieß, die sich an der Stelle zeigten, wo sie den steilen Uferrand betreten hatten – die Vorsichtsmaßnahmen Bois-Rosés hatten sie den Augen der Apachen nicht verbergen können —, aber die Sorgfalt, mit der er die Holzblöcke des Floßes zerstreut hatte, um es ganz und gar zu vernichten, täuschte die Krieger. Das Wasser hatte das Gras, die Zweige und die Wurzeln schon weit mit fortgenommen, und die Indianer bemerkten, so weit sie sehen konnten, nichts, was die bekannte Gestalt der Insel an sich getragen hätte. Die dem Ufer eingedrückten Spuren führten nur einige Schritte weit; es war also klar, daß die Flüchtlinge ihre Fahrt noch weit darüber hinaus fortgesetzt und den Vorteil eines Vorsprungs hatten, den man ihnen nur ohne Erfolg streitig machen konnte.
   Trotz seiner Erbitterung bei diesem neuen Beweis, daß es nicht in seiner Macht lag, die drei Jäger, die Gegenstände seines Hasses, zu erreichen, hatte der Schwarze Falke doch Zeit gehabt, die Herrschaft über sein Gesicht wiederzugewinnen. Es blieb also unbewegt. Die in ihm erregte Blutgier war nicht erstickt, aber da die Flüchtlinge doch einmal verschwunden waren, so führte sie ihm ein anderes Ziel zur Verfolgung vor die Augen. Er fügte sich mit Anstrengung der Notwendigkeit, seine Rache aufzuschieben, und ließ seinem ungestümen Ehrgeiz freien Spielraum.
   Zum zweitenmal fühlte er das Bedürfnis, sich in den Augen des Abgesandten zu rechtfertigen. Der verschlagene Indianer stieß einen Seufzer der Erleichterung aus wie ein Mann, der einen schrecklichen Traum gehabt hat, in dem Augenblick, wo er die Augen öffnet. Nachdem er einen Blick getäuschten Hasses auf den Fluß geworfen hatte, streckte er den Hals nach der entgegengesetzten Seite hin und blieb unbeweglich.
   »Was hört der Häuptling, dessen Gehör so fein ist?« fragte der Läufer.
   »Der Schwarze Falke hört das Schweigen; die Stimme des Blutes braust nicht mehr in seinen Ohren.«
   »Ist das alles, was er hört?« fuhr der Abgesandte fort.
   Der indianische Häuptling setzte seine diplomatische Posse fort. Er antwortete nicht, aber sein Gesicht bekam einen freudigen Ausdruck, als ob eine ferne Melodie an sein Ohr summte. »Meine Ohren«, fuhr er fort, »sind nicht mehr taub. Die Hand des Bösen Geistes liegt nicht mehr auf ihnen. Ich höre die Stimme der Krieger, die mich rufen, um die Ehre meines Stammes zu rächen; ich höre das Knistern des Beratungsfeuers. Der Gute Geist, der Beschützer der Apachenstämme, habe Dank. Brechen wir auf!« Der Indianer lenkte sein Pferd nach der Gegend, wo nach dem Bericht des Läufers die versammelten Krieger seine Antwort erwarteten.
   Die Sonne ergoß Fluten von Licht über die Steppe, als der Schwarze Falke und sein Reitertrupp zu der Oase von Gummibäumen kamen, wo wir die Indianer bei ihrer Beratung am vorigen Tag gesehen haben. Sie hatten nach der Niederlage, die sie erlitten hatten, und nach der nächtlichen Verfolgung, deren Gegenstand sie gewesen waren, das Beratungsfeuer an derselben Stelle wieder angezündet. Beim Anblick des gefürchteten Häuptlings, auf dessen Rückkehr man so lebhaft gewartet hatte, brach ein Freudengeschrei von allen Seiten aus.
   Der ehrgeizige Indianer nahm den Zuruf mit Würde wie eine Huldigung auf, die er verdiente; dann wandte er sich an all die vereinten Krieger: »Nur der Geist des Schwarzen Falken«, sagte er, »wird mit seinen Kriegern sein, denn sein Leib ist krank und sein Arm schwach.« Und er zeigte auf seine blutige Schulter.
   Ein schmerzliches Geheul trat an die Stelle des Freudengeschreis, und nachdem sich diese Trauerbezeugungen gelegt hatten, half man dem Häuptling, vom Pferd zu steigen und einen Sitz am Feuer einzunehmen. Als er sich gesetzt hatte, verbeugten sich seine Pairs und setzten sich im Kreis nieder. Der Schwarze Falke rauchte das Kalumet, das man ihm reichte, gab es einem anderen, und die Pfeife ging so mitten im tiefsten Schweigen durch die ganze Versammlung. Alle bereiteten sich durch Nachdenken auf die Beratung vor, die stattfinden sollte. —
   Wir wollen die wilden Häuptlinge erst die Pfeife rauchen lassen, wie es Kriegern geziemt, deren Geist langsam, deren Hand rasch sein muß, und einen Blick auf das mexikanische Lager werfen, das ohne Führer und ohne Chef geblieben war.
   Hier herrschte die größte Verwirrung. Das Gerücht hatte sich verbreitet – wie es fast immer so kommt, man mag ein Geheimnis so sorgfältig verheimlichen, wie man will —, daß die Goldsucher dem Ziel ihrer Expedition nahe seien; daß sich dicht beim Lager eine Mine von unberechenbarem Reichtum befände; daß endlich die Rekognoszierung, um derentwillen sich Don Estévan de Arechiza entfernt hatte, aus keinem anderen Grund vorgenommen worden sei, als die Lage dieser Mine genau zu ermitteln.
   Während der ersten Frühstunden war die Verwirrung im Lager nur durch die fieberhafte Ungeduld entstanden, mit der sie die Rückkehr ihres Chefs, der gute Nachricht mitbringen mußte, erwarteten. Als aber die Sonne fast die Hälfte ihres Laufes zurückgelegt hatte, ohne daß einer der vier Reiter, die sich am Morgen entfernt hatten, zurückgekehrt wäre, folgte die Unruhe der Ungeduld. In diesem zweiten Zustand finden wir die Goldsucher wieder.
   Das nach dem Befehl des Chefs auf dem kleinen Hügel, der das Lager beherrscht, aufgerichtete Zelt ist verlassen. Das Kriegsbanner der Mediana hängt, anstatt lustig zu wehen, traurig an seinem Schaft herunter; nicht ein Windhauch bewegt mitten in diesem Sandmeer seine Falten. Vergeblich durchspähen die mexikanischen Schildwachen jeden Augenblick den Horizont – sie sehen niemand zurückkehren; nicht ihren Chef, nicht ihren Führer, dessen geheimnisvolles Verschwinden sie in Schrecken setzt, nicht die drei Begleiter Don Estévans.
   Die Pferde sind an ihre Pfähle gebunden und senken den Kopf vor Durst. Die Männer fühlen diesen ebenfalls, und dazu bedroht sie noch der Hunger, denn die Jäger wagen es nicht mehr, zur Verfolgung der Damhirsche oder der Büffel das Lager zu verlassen; die bestimmtesten Befehle sind gegeben, daß sich niemand aus den Verschanzungen entfernen soll. In dem Maße, wie die Zeit vergeht, verdoppeln sich die Unruhe und der Mißmut – das ist der Zustand des Lagers.
   Außerhalb – nicht weit von der Wagenreihe, aber unter dem Wind – verwesen die Leichname von Pferden und Indianern auf dem Boden. Auf der Ebene, in entgegengesetzter Richtung, zeigt der frisch aufgegrabene Sand den Ort an, wo diejenigen der Abenteurer, die beim Kampf am Tag vorher getötet wurden, eine ewige Ruhestätte gefunden haben. Dieser schmerzliche Anblick vermehrte noch den düsteren Eindruck der ganzen schon so traurigen Landschaft.
   Es war fast dieselbe Stunde, wo die Goldsucher am vorigen Tag an dieser Stelle haltgemacht hatten – etwa vier Uhr —, als die Schildwachen in der Ferne eine leichte Staubwolke bemerkten. Alle stürzten sich um die Wette nach dieser Seite, in der Hoffnung, Don Estévan und seine Begleiter zurückkehren zu sehen.
   Die Täuschung dauerte nicht lange. Die Federbüsche der Indianer und die Lanzen, an denen nach der Art der Fähnchen die Skalpe herabhingen, wurden bald mitten in der Staubwolke sichtbar.
   »Zu den Waffen! Zu den Waffen! Die Indianer!«
   Die schon so große Verwirrung war nichts im Vergleich mit der, die bei dieser unerwarteten Nachricht im Lager herrschte. Wer sollte kommandieren? Wer gehorchen? Indes beeilte sich doch jeder, so gut es ging, sich in Reih und Glied zu stellen und den Posten einzunehmen, der ihm am vergangenen Tag bezeichnet worden war. Die Angst lag auf jedem Gesicht.
   Kurz darauf aber faßte jeder wieder Mut. Die Indianer waren nur sechs, und anstatt im Galopp heranzusprengen und ihr Kriegsgeschrei auszustoßen, marschierten sie ruhig auf die Wagenburg zu. Einer von ihnen schwang an der Spitze seiner Lanze einen weißen Lappen, der die Stelle der Fahne vertrat, die in allen Ländern das Symbol des Friedens ist.
   Als sie noch zwei Büchsenschüsse weit entfernt waren, trennte sich der Reiter mit dem weißen Fähnchen von der Gruppe; die übrigen hielten an. Nach einigen Schritten hielt auch der Parlamentär an und schwenkte abermals sein Fähnchen.
   Einer von den Abenteurern war aus dem Presidio von Tubac und hatte in einiger Verbindung mit den Apachenstämmen gestanden; er wußte genug von ihrer Sprache, um den an der Grenze gebräuchlichen indianisch und spanisch gemischten Dialekt zu verstehen und zu sprechen. Er war ein kleiner, magerer Mann, der in den Augen der Indianer, die wie alle rohen Völker Bewunderer äußerlicher Schönheit sind, die höchste Autorität ziemlich schlecht repräsentieren mußte. Auch sträubte er sich mit aller Gewalt, diese Rolle zu übernehmen, mußte jedoch endlich einwilligen. Die Abenteurer durften sich im Interesse ihrer eigenen Wohlfahrt und des glücklichen Erfolgs der Konferenz nicht den Anschein geben, als ob sie ihren Chef verloren hätten. Ein weißes Tuch mußte ihrerseits die Parlamentärfahne darstellen.
   Der Abenteurer – sein Name war Gomez – verließ sehr aufgeregt die Verschanzungen, um dem Indianer entgegenzureiten, dessen feste Haltung seinem furchtsamen Wesen gegenüber sehr abstach. Indes faßte er sich doch beim Anblick des blutigen Verbandes, der die eine Schulter des Apachenkriegers verhüllte. – Man hat an dieser Wunde schon den Schwarzen Falken erkannt.
   Der Mexikaner und der Indianer grüßten sich, und der Schwarze Falke nahm zuerst das Wort. »Es sind ohne Zweifel zwei Häuptlinge, die miteinander sprechen wollen«, sagte der Indianer artig. Der Mexikaner antwortete nicht weniger höflich, aber eine gewisse Verwirrung strafte seine Bejahung ein wenig Lügen.
   »Ein großer Geist wohnt manchmal in einem kleinen Körper; mein weißer Bruder muß ein großer Häuptling sein!«
   In dieser zweideutigen Antwort lag mehr Ironie als Freimütigkeit, aber der Ton des Indianers zeugte nur von einer vollständigen Überzeugung, obgleich sein Feingefühl durch den Goldsucher nicht befriedigt war. Der Schwarze Falke heftete ein paar Augen auf Gomez, die bis auf den Grund seines Herzens dringen zu wollen schienen. Der Mexikaner konnte diesen forschenden, schrecklichen Blick nicht aushalten; er schlug die Augen nieder, als der Indianer begann: »Mein Bruder lügt nicht, wenn er sich für einen Häuptling ausgibt; aber im Lager der Weißen sind ohne Zweifel mehrere, und er ist einer von ihnen.«
   »Ich bin der einzige«, antwortete der Abenteurer sichtlich verwirrt.
   Beim Anblick eines Chefs von so wenig imponierendem Äußeren fühlte der Schwarze Falke, daß er mit einem armen Teufel, der so unfähig war, es mit ihm an List und Entschlossenheit aufzunehmen, leichtes Spiel haben würde; sein Auge blitzte darum mit einem noch unheimlicheren Glanz. Er faßte den Entschluß, sich über die Wahrhaftigkeit des sogenannten Chefs Gewißheit zu verschaffen.
   »Die Worte, die ich überbringe, sind Worte des Friedens; alle Krieger des Südens sollten um mich versammelt sein, sie zu hören. Die Indianer würden den Abgesandten der Weißen an ihrem Beratungsfeuer empfangen; er würde unter das Zelt des Häuptlings treten. Warum läßt der Häuptling der Weißen den Indianer, der zu ihm kommt, so weit vom Lager halten?«
   Gomez zögerte; er wollte den Wolf nicht in den Schafstall führen.
   Der Schwarze Falke sah dieses Zögern; seine Augenbrauen zogen sich zusammen; eine dunkle Wolke wie beim Drohen eines Gewitters zog über die Stirn des Indianers; seine Augen leuchteten wie die Blitze, die die Wolke entsendet. »Der Häuptling der Apachen ist kein Häuptling, den man nicht in sein Zelt lädt. In der einen Hand hält er den Krieg, die andere umschließt den Frieden; welche von beiden soll er öffnen?«
   Diese Drohung mit einem Bruch und der Ton, mit dem es gesagt wurde, schüchterten den Mexikaner ganz und gar ein. Er stand auf dem Punkt, zu antworten, daß er seine Gefährten fragen wolle, aber er besann sich noch zeitig genug.
   Der verschmitzte Indianer fuhr mit etwas spöttischem Ton fort: »Ein einziger von meinen Kriegern wird mich begleiten. Sind die Weißen so gering an Zahl, daß sie sich vor zwei Kriegern fürchten müssen, die unter sie treten? Ist ihr Lager nicht befestigt? Sind ihre Vorräte an Pulver und Kugeln nur gering?«
   Von der diplomatischen Gewandtheit des Indianers umgarnt, fühlte der arme Gomez, daß er dem Parlamentär den Eintritt in sein Lager nicht länger verweigern konnte, ohne sich der Gefahr auszusetzen, die Hoffnungen auf Frieden zu zerstören, und auch, ohne ein Mißtrauen zu zeigen, das die offenbar günstige Meinung des Indianers über die Hilfsmittel herabstimmen mußte.
   »Mein roter Bruder mag sich einen Gefährten wählen – aber nur einen!« sagte er.
   Der Schwarze Falke wollte gar nicht mehr. Wenn der Abenteurer, indem er sich für den Chef der Weißen ausgab, die Wahrheit gesprochen hatte, so ließ der Takt des roten Kriegers ihn vom Kapitän auf die Tüchtigkeit der Soldaten schließen; wenn er gelogen hatte, so mußte er wenigstens den wirklichen Chef der Weißen sehen und danach seinen Angriffsplan feststellen.
   In unseren Kriegen in Europa ist ein Parlamentär immer eine geheiligte Person, weil Herz und Mund bei ihm dasselbe sagen; aber bei den wilden Völkerschaften dient ein Friedensvorschlag fast immer nur dazu, einen nachfolgenden Verrat zu verdecken.
   Der Indianer machte ein Zeichen, und derjenige von seinen Kriegern, der sich auf diese Gebärde hin näherte, war niemand anderer als die Antilope – der Läufer, den wir schon als einen ebenso großen Diplomaten kennengelernt haben, als der wilde Diplomat war, zu dem er kam, um ihm das Kommando über den ganzen Stamm anzubieten. Der Läufer war außerdem auch der einzige von allen Apachenkriegern, der den wirklichen Chef Don Estévan, den er nicht wiederfinden sollte, von Person kannte, da er ihn während des Kampfes gesehen hatte.
   Die beiden Indianer folgten Gomez und wechselten mit leiser Stimme folgende Worte: »Was ist das für ein Schakal, der sich mit der Haut des Löwen geschmückt hat?« sagte der Läufer.
   »Es ist der Häuptling, der das Auge des Schwarzen Falken täuschen will; aber das Auge des Schwarzen Falken hatte schon unter seine Haut geblickt«, antwortete der schlaue Häuptling.
   Und beide begaben sich ins Lager wie das Schwert und das Feuer, die ihre Verheerungen vereint beginnen wollen.


   39. Schwert und Feuer

   Das Gemälde der Sitten und Gewohnheiten in der Steppe, das wir zu entwerfen versuchen, würde nicht vollständig gewesen sein, wenn wir nicht das traurige Ende einer von jenen abenteuerlichen Expeditionen beigefügt hätten, die so oft von den mexikanischen Goldsuchern unternommen werden.
   Nach unserer Meinung ist die englisch-amerikanische Rasse allein stark genug, um auch in geringerer Zahl den Kampf mit der indianischen Schlauheit und Grausamkeit zu bestehen. Die kanadische Rasse ist die einzige, die mit ihr an heroischen Taten und Fruchtbarkeit in den Hilfsmitteln wetteifert – das Beispiel Bois-Rosés hat es bewiesen —; aber die Nachkommen der Spanier – seltene Ausnahmen abgerechnet – sind zu schwach für die schrecklichen Feinde jeder Art – Durst und Hunger ausgenommen —, mit denen sie in den Wildnissen der Neuen Welt zusammentreffen können.
   Die beiden Indianer hatten, als sie das mexikanische Lager betraten, den Kopf weder rechts noch links gewandt; sie hatten jene Maske unerschütterlicher Gleichgültigkeit beibehalten, die die Vorfahren der Indianer nicht einmal bei der ersten Artilleriesalve hatten fallen lassen, die seit der Eroberung Nordamerikas in ihre Ohren gedonnert hatte. Nichts jedoch war ihrer furchtbaren, untrüglichen Prüfung entgangen. Die Leichname der Ihrigen außerhalb des Lagers; das leere Zelt Don Estévans; die ungeordnete Geschäftigkeit der Abenteurer, die keinen anderen Chef hatten als den erbärmlichen Gomez; das Mißtrauen und die Furcht – alles hatten sie gesehen.
   Der Schwarze Falke und die Antilope warfen, einmal im Lager, auf die sie umgebende Gruppe einen ruhigen, stolzen Blick wie zwei Löwen, die ein Bündnis mit den Wölfen schließen wollen. Seinem Rang gemäß nahm der Schwarze Falke zuerst das Wort. Es war für ihn wichtig, zu erfahren, wo denn der wirkliche Chef geblieben sei; der unerschrockene Häuptling, von dessen Klugheit und Mut – zwei Eigenschaften, die die Indianer so hochschätzen, wenn sie vereinigt sind – der Läufer ihm während ihrer Nachtwache erzählt hatte.
   Wären Don Estévan und Pedro Diaz – dessen Wert die Antilope in seinem tödlichen Kampf mit der Pantherkatze hatte beurteilen können – getötet, so mußten die übrigen eine leichte Beute sein. Was war aus beiden geworden? Das wollten die Parlamentäre zu erfahren suchen.
   »Wir bringen hier Friedensvorschläge, die den Weißen wie den Indianern angenehm sein werden«, sagte der Schwarze Falke; »aber unser Herz ist traurig, denn man soll die Überbringer guter Nachrichten ehren, und hier empfangen unsere Brüder die indianischen Gesandten in der heißen Sonnenglut, während doch das Zelt des Häuptlings« – er zeigte auf das Zelt Don Estévans – »sich öffnen sollte, sie aufzunehmen! Von der Höhe des Hügels werden sich die Worte eines Häuptlings besser verstehen lassen.« Der Indianer machte einen Umweg, um seinen Zweck zu erreichen.
   Der improvisierte Chef erschrak bei diesem offenbaren Beweis, daß er einen Verstoß gemacht hatte; aber er hatte nicht Zeit gehabt, seine Rolle gründlich einzustudieren. Gomez beeilte sich, den Wunsch der Parlamentäre zu erfüllen, und ging unter das verlassene Zelt Don Estévans voran; aber der Schwarze Falke hatte die schreckliche Rolle, die er spielen mußte, gründlich studiert, und obgleich es ein gefährliches Drama war, dessen Prolog er jetzt aufführte, so setzte er sich doch mit ebenso großer Kaltblütigkeit nieder, als ob er die Redlichkeit und der Friede in Person gewesen wäre.
   Gomez hob den Leinwandvorhang des Zeltes in die Höhe und befestigte ihn so, daß seine Falten die Indianer nicht verdeckten; dann wartete er, daß sie endlich den Gegenstand ihrer Sendung genauer auseinandersetzten, als es bis jetzt geschehen war. Die Indianer jedoch behielten auch ferner dieselbe Ruhe, dasselbe Schweigen bei.
   Gomez glaubte das Wort nehmen zu müssen. »Ich erwarte«, sagte er mit mehr Würde, als er bis jetzt gezeigt hatte, »die Friedensworte meiner Brüder aus der Steppe. Die Ohren eines Häuptlings sind geöffnet.«
   Der arme Gomez wünschte sich innerlich zu dieser ganz dem indianischen Geist angemessenen Redensart Glück; aber der Schwarze Falke ließ ihn sein eingebildetes Glück nicht lange genießen. Der wilde Krieger hob langsam das Haupt empor; ein Ausdruck verwundeten Stolzes ließ seine Nasenflügel sich schwellen, als ob er zum erstenmal den Betrug des Weißen entdeckte, und sein funkelnder Blick ließ seinen Zuhörer bleich werden; dann sagte er mit einer Stimme, die immer lauter wurde wie der Donner, der plötzlich an einem heiteren Tag in der Ferne grollt: »Ich sehe hier nur einen Häuptling« – er setzte einen Finger auf seine nackte Brust —, »einen indianischen Häuptling. Wo ist der weiße Häuptling? Ich sehe ihn nicht!«
   Durch diese stolze Antwort wurde der Abenteurer ganz bestürzt; er fühlte, daß er entlarvt war. Er machte den Versuch, seine Gedanken zu ordnen und sich ebenfalls die Haltung eines Mannes zu geben, der in seinem gerechten Stolz beleidigt ist.
   Aber der Schwarze Falke fuhr fort: »Warum einen redlichen Indianer betrügen wollen?«
   »Gomez betrügt niemals jemand!« antwortete der Mexikaner stotternd. »Ich habe es Euch gesagt: Ich bin der Häuptling, der einzige Häuptling.«
   Der Schwarze Falke machte der Antilope ein Zeichen. Der Läufer schaute nun ebenfalls den Abenteurer, den er vollends in Verwirrung bringen wollte, fest an. »Der einzige Häuptling, sagst du? Der Herr dieses leinenen Wigwams, der Krieger mit dem Sternenbanner, das auf der Spitze weht?«
   »Ich bin das alles!« sagte der Mexikaner.
   »Ich habe eine Lüge gehört!« rief der Schwarze Falke diesmal mit donnernder Stimme. »Ein Häuptling wie ich darf nicht zwei vernehmen!«
   Antilope spielte die Rolle des Vermittlers und warf sich zwischen den Zorn des indianischen Häuptlings und den Unmut des Mexikaners; er bat den Schwarzen Falken, der entschlossen schien, sich zu erheben und die Unterredung zornig abzubrechen, sitzen zu bleiben; dann wandte er sich an Gomez: »Der weiße Krieger«, sagte er, »hat sich über seine Freunde, die Indianer, lustigmachen oder ihren Verstand auf die Probe stellen wollen. Er weiß recht gut, daß er nicht der Häuptling mit der doppelläufigen Büchse ist; mit dem schwarzen Haar, das anfängt, weiß zu werden; mit dem emporstehenden Schnurrbart; mit dem hohen Wuchs und den breiten Schultern.« Der Indianer schilderte die Erscheinung Don Estévans. »Er weiß recht gut, daß diese Hütte aus Leinwand nicht ihm gehört; ebensowenig wie auch sein Name nicht ein Name ist, den das Echo der Wildnis wiederholt hat. Dieser Name ist der eines anderen Häuptlings. Dieser Häuptling ist klein wie mein Bruder; aber sein Wuchs ist das doppelte Maß des seinigen; sein Körper ist biegsam wie der Bambus, aber stark wie der Stamm eines Eisenbaums.«
   »Was ist das für ein Krieger?« fragte Gomez, um Zeit zu gewinnen und seiner Bestürzung Herr zu werden.
   »Dieser Häuptling ist derjenige, der gestern abend hier« – der Läufer zeigte auf die Stelle, wo der Indianer unter Diaz‘ Lanze gefallen war – »die Pantherkatze getötet hat. Sein Name ist Pedro Diaz; unsere Kinder haben ihn zuweilen zitternd ausgesprochen.«
   Was sollte der arme Gomez tun, zerschmettert von dem Gewicht der von dem Indianer so trefflich gezeichneten Porträts? Sich bestürzt unter den Zauber beugen, dem er unterlag, und aus Furcht, eine friedliche Verhandlung in Abwesenheit Don Estévans abzubrechen? Das Zugeständnis machen, daß der verräterische Läufer die Wahrheit gesprochen hatte? Er tat es. Er hätte aber dennoch die ganze Unterredung fallenlassen, wenn er den flammenden Blick, den die beiden Wilden miteinander wechselten, bemerkt hätte. Der Schwarze Falke ließ plötzlich unter seinen Augenwimpern den Ausdruck wilder Freude verschwinden, den er nur die Antilope hatte sehen lassen; dann richtete er seine ernsten Augen wieder auf Gomez. »Warum maßt du dir einen Titel an«, fuhr er fort, »der doch nicht der deinige ist? Nur an den Häuptling mit der doppelläufigen Büchse und an den Häuptling mit dem Körper aus Eisenholz will ich meine Friedensworte richten. Wo sind sie beide?«
   »Sie haben sich beide mit einer Abteilung der Unsrigen entfernt, um Bisons zu jagen und unseren Soldaten Nahrungsmittel zu verschaffen«, antwortete Gomez mit ziemlich viel Geistesgegenwart; aber er hatte es mit zu starken Gegnern zu tun.
   »Die Antilope und der Schwarze Falke werden ihre Rückkehr abwarten!« erwiderte der Indianer entschlossen. »Bis dahin wird der Mund der beiden Krieger stumm sein.«
   Wirklich schlossen die Indianer verächtlich die Augen, zogen ihre Büffelmäntel über die Schultern und schienen sich um die Gegenwart ihres Wirtes nicht mehr zu kümmern.
   Dieser Entschluß – so beleidigend er auch für die Eigenliebe des angeblichen Chefs war – machte wenigstens seiner Bestürzung ein Ende. Das Gewicht des Kommandos schien ihm zu drückend, seine improvisierte Rolle zu schwer zu spielen, daß er sich nicht erleichtert gefühlt hätte, als er sich bis zu Don Estévans und Diaz‘ Rückkehr, die nach seiner Meinung bald erfolgen mußte, davon befreit sah.
   »Meine Brüder dort unten werden ungeduldig«, sagte Gomez, »die Worte der indianischen Häuptlinge kennenzulernen; ich will sie damit bekanntmachen.«
   »Geh«, antwortete der Schwarze Falke.
   Gomez ließ sich nicht lange bitten und stieg die Anhöhe wie ein Schüler hinab, der endlich eine unangenehme Arbeit vollendet hat. Er erzählte die Einzelheiten seiner Unterhaltung, vergaß aber gewisse Punkte, die wenig schmeichelhaft für seinen Stolz waren, und stellte es als einen unschätzbaren Vorteil dar, den man einzig und allein seiner Festigkeit und Schlauheit verdanke, daß die Häuptlinge dahin gebracht worden waren, die Rückkehr Don Estévans abzuwarten.
   Die Zeit verfloß, und er kam nicht.
   Während dieser Zeit fand eine sehr lebhafte Unterhaltung mit leiser Stimme zwischen den beiden Indianern statt, die in dem Zelt Arechizas zurückgeblieben waren. Der Schwarze Falke hatte, seitdem er die Überzeugung gewonnen hatte, daß der wirkliche Führer abwesend und Gomez nur ein bleiches, trauriges Schattenbild von ihm sei, einen kühnen Plan entworfen und nahm für sich allein alle Gefahr von dessen Ausführung in Anspruch. Antilope widersetzte sich und wollte selbst alle Gefahren bestehen.
   Dieser Plan war folgender: Irgendein Grund – ein Zufall, eine zu lange dauernde Jagd – konnte die beiden Führer länger vom Lager entfernt halten, als sie selbst dachten. Man konnte eine Abteilung Indianer in einen Hinterhalt legen, um sie bei ihrer Rückkehr anzugreifen. Wenn diese Abwesenheit bis in die Nacht hinein dauerte, so sollten die Apachen, vom Läufer geführt, die durch die Entfernung ihrer Führer entmutigten Weißen überfallen. Die Aussicht auf deren Niederlage war ziemlich sicher, und der Schwarze Falke machte außerdem noch den Vorschlag, als Parlamentär und Geisel zurückzubleiben, um ihre Wachsamkeit einzuschläfern. Durch einen Angriff unter so unglücklichen Verhältnissen waren die Mexikaner ihrer Gnade, der Gnade der Indianer, preisgegeben. Freilich mußte die Geisel, die sie durch ihre Gegenwart mit Friedenshoffnungen, die das Blutbad und der Tod so bald vernichten sollten, geködert hatte, fast gewiß das Leben verlieren; aber was ist der Tod für einen indianischen Häuptling, wenn sein Blut seinem Stamm nützlich sein kann?
   Antilope billigte diesen Plan vollständig, aber er wollte selbst als Geisel zurückbleiben. Es lag nur wenig daran, ob der Stamm einen einfachen Krieger verlor, wenn er dafür einen mit vollem Recht berühmten Häuptling behielt. Es war ein hochherziger Wettstreit, der lange dauerte.
   »Der Leib des Schwarzen Falken wird wieder gesund werden«, sagte Antilope feierlich. »Er wird dem Stamm bald mit einem kräftigen Körper und einem großen Geist zu Dienste stehen. Wenn der Häuptling stirbt, wird das Klagegeschrei der Krieger viele Monde lang währen – wer wird nach dem Tod der Antilope noch daran denken, daß sie gelebt hat?«
   Der Schwarze Falke war immer noch dagegen.
   »Mein Körper ist aus Eisen«, erwiderte der Läufer; »das Harz des Feigenbaums ist nicht elastischer als die Hacken der Antilope. Im Augenblick der Gefahr wird sie mit einem Sprung über die Verschanzung der Weißen setzen. Vom Gipfel dieser Anhöhe wird sie bis in die Mitte ihrer Krieger springen. Was wird der Schwarze Falke mit seiner zerschmetterten Schulter tun?«
   »Er wird den Tod erwarten, unerschütterlich, die Augen auf seine Feinde geheftet; er wird lachen über ihren Zorn und über ihre Messer.«
   Gewiß war dies ein kostbares Leben, das der Läufer seinem Stamm erhalten wollte, und er wurde darum nur noch dringender. »Die Antilope«, sagte er, »wird wie der Schwarze Falke über die Wut ihrer Feinde lachen. Sie wird ihren Messerstößen eine ebenso starke Seele entgegenstellen, aber sie wird eine von keiner Wunde geschwächte Kraft zum Beistand haben.«
   Während die beiden Apachen so an Hochherzigkeit miteinander wetteiferten, zählten die Mexikaner in tödlicher Unruhe alle Minuten, die verflossen, ohne daß Don Estévan zurückkehrte. Niemand unter ihnen wünschte seine Rückkehr lebhafter als Gomez, der trotz seiner Prahlereien nichts so sehr fürchtete, als wenn er den beiden Indianern wieder als Unterhändler oder als Chef gegenübertreten sollte.
   Ein düsteres Schweigen herrschte im ganzen Lager, als man nach ungefähr einer Stunde den Schwarzen Falken das Zelt verlassen sah; er ging den Hügel hinunter und auf die Gruppe zu, bei der sich Gomez befand. »Meine Krieger«, sagte der Indianer, »sind ebenfalls ungeduldig, aus dem Mund ihres Häuptlings die Hoffnungen auf Frieden und Freundschaft mit den Weißen zu vernehmen. Der Schwarze Falke wird bald unter seine Freunde zurückkehren; er läßt seinen Begleiter als Geisel zurück.«
   »Geh!« sagte Gomez im Ton ernster Würde, den er in Gegenwart seiner Gefährten anzunehmen wußte.
   Der Indianer ging hinaus, wie er eingetreten war: ohne den Kopf zur Seite zu wenden, ohne scheinbar auch dem geringsten Gefühl von Neugier nachzugeben.
   Als der Häuptling bei den vier Kriegern, die ihn erwarteten, angelangt war, sprach er einige Augenblicke mit ihnen. Er schien mit dem Finger auf das Zelt zu zeigen, auf dessen Schwelle der Läufer unbeweglich und ernst wie eine Statue saß. Nach einigen Minuten sahen die Weißen, die ihren Bewegungen mit den Augen folgten, daß sich ein Apachenreiter im Galopp entfernte. Die anderen Indianer blieben, die Zügel ihrer Pferde in der Hand, ebenso ruhig auf der Erde sitzen wie der Läufer auf der Schwelle des Zeltes Don Estévans.
   Unterdessen verging die Zeit. Die Sonne war am Horizont verschwunden; einige Wolken von rötlicher Färbung fingen an bleich zu werden und verkündeten das Hereinbrechen der Nacht. Don Estévan, Diaz, Baraja und Oroche, deren Namen die Mexikaner jeden Augenblick wiederholten, wurden immer noch vergeblich erwartet. Die Nacht brach herein und verdoppelte die Unruhe. Die Indianer sind veränderlich und launisch, das wußte jedermann im Lager; ein plötzlicher Angriff konnte auf die Friedensvorschläge folgen, die sie so unbestimmt gemacht hatten.
   Gomez suchte diese Unruhe zu beschwichtigen. »Was habt ihr zu befürchten, solange der Indianer unter uns bleibt? Ist nicht seine Ruhe ein Zeichen der Aufrichtigkeit seiner Absichten?«
   Der schwarze Schatten von Antilope, der im Lager zurückgeblieben war, ließ sich trotz der Nacht immer noch unterscheiden. Der indianische Läufer hatte seine Stellung nicht verändert; nur wenn es Tag gewesen wäre, hätte man sehen können, wie er leicht das Haupt neigte, als ob er aufmerksamer auf das Geräusch horchen wollte, das bald das Schweigen der Steppe unterbrechen sollte.
   Dieses Schweigen war ehrfurchtgebietend. Diese großen wellenförmigen Ebenen, über denen nach und nach der schwarze Himmel oder die aufgehenden Sterne erschienen, waren stumm wie dieser Himmel. Gerade in der Dämmerung, die auf den Sonnenschein folgt, nimmt die Steppe einen wilderen und großartigeren Charakter an, und die Nacht mit dem Schrecken in ihrem Gefolge war hereingebrochen.
   Im Lager wurde die schreckliche Ruhe der wüsten Einöden, in denen es aufgeschlagen war, nur durch das Geflüster einiger Gruppen Abenteurer oder durch den halblauten Gesang eines unruhigen Goldsuchers unterbrochen. Alle warfen von Zeit zu Zeit mißtrauische Blicke auf die Apachengruppe, die sich vor ihren Pferden gelagert hatte. Sie schienen ebenso unbeweglich wie die Felsblöcke, denen die Dunkelheit zuweilen eine menschliche Form verleiht; aber sie schienen – vielleicht der Dunkelheit halber – von Minute zu Minute immer entfernter zu sein.
   »Das ist sonderbar«, sagte einer der Abenteurer mit nachdenklicher Miene zu Gomez; »die Indianer schienen mir eben noch dieser Erdvertiefung viel näher gewesen zu sein.«
   »Es ist eine optische Täuschung«, antwortete Gomez, der aufgelegt war, alles in einem rosenfarbigen Licht zu sehen.
   »Seht, Gomez«, sagte ein anderer, »ich spüre hier nicht den geringsten Lufthauch, und doch scheint der Wind dort unten vor den Indianern Sandwolken aufzujagen.«
   »Das macht, weil wir vor dem Wind durch unsere Wagenburg gedeckt sind, und die Steppe dort hat keine geschützte Seite.«
   Unterdessen schien, wenn man von dem immer unbestimmteren Umriß der Indianer schließen durfte, die Finsternis sich zu verdoppeln, und bald fragten in der Gruppe – der Gomez vergeblich das Vertrauen, das ihm seine Geisel einflößte, mitzuteilen suchte – mehrere einander, ob der entfernte Schatten, den man kaum noch bemerkte, von den Indianern oder von Nopalsträuchern herrührte. Bald wurde die Ungewißheit in dieser Beziehung so groß, daß einer der Abenteurer sich entschloß, das wirkliche Sachverhältnis zu untersuchen, und sich mit der Büchse auf der Schulter entfernte.
   Was man bemerkte, waren wirklich nur Nopalbüsche und nicht Menschen und Pferde. Die Indianer hatten die wachsende Dunkelheit benützt, um sich langsam zu entfernen, ohne ihre Stellung zu verändern. Die Staubwirbel, die sie in der Luft erregten, hatten ebenfalls dazu gedient, ihre Bewegungen unsichtbar zu machen, und so hatten sie sich wieder mit ihren Gefährten vereinigt. Als der Kundschafter zu der Stelle kam, wo die Apachen gesessen hatten, fand er den Platz und die Steppe, soweit er sie überblicken konnte, öde und leer. Er lief hastig zum Lager zurück, um die Nachricht vom Verschwinden der Indianer zu überbringen. Dieses Ereignis war ein ärgerliches Zeichen.
   Vom Gipfel des Hügels, den er immer noch einnahm, hatte Antilope nicht eine Bewegung seiner Stammesgenossen aus den Augen verloren. Gomez wurde von den Abenteurern genötigt, über diesen Gegenstand Auskunft zu verlangen, und ging – sehr ungern – auf ihn zu. »Warum hat der Häuptling nicht seinen Kriegern befohlen, bei den Weißen zu bleiben?« sagte er.
   »Was will mein Bruder sagen?« erwiderte der Indianer, der tat, als ob er nicht verstünde. »Von welchen Kriegern will er reden?«
   »Von denen, die eben noch dort unten wie Freunde lagerten und jetzt wie Feinde verschwunden sind.«
   »Man kann in der Dunkelheit nicht weit blicken; die Weißen haben nicht genau hingesehen; sie müssen ihre Feuer anzünden, und die Flamme wird sie diejenigen sehen lassen, die sie suchen. Was liegt übrigens daran? Haben sie nicht in ihren Händen den Häuptling eines ganzen Stammes, der die Rückkehr seiner Gesandten erwartet? Unsere Krieger werden ihnen sagen wollen, sich zu beeilen.«
   Diese Antwort des listigen Indianers weckte in Gomez eine plötzliche Erinnerung. Er bebte, und der Läufer bemerkte es; eben hatte er daran gedacht, daß am Abend vorher alles trockene Holz, womit das Lager erleuchtet werden mußte, verbrannt war und daß man während des unruhevollen Tages vergessen hatte, den Vorrat zu erneuern. Es war zu spät, es jetzt zu tun.
   Dieser seinen verräterischen Absichten so günstige, die Weißen aber sehr beunruhigende Umstand war dem Läufer ebensowenig als den anderen entgangen, und er hatte seine Zweifel darüber aufklären wollen; jetzt zweifelte er nicht mehr.
   Kalter Schweiß trat bei dem Gedanken an diese unverzeihliche Nachlässigkeit auf Gomez‘ Stirn. Sein einziger Trost war nur, daß die Flucht der Indianer keine Treulosigkeit verbergen konnte, da ihr Häuptling als Geisel zurückblieb. Er beschloß jedoch, ihn genau zu überwachen. »Ein Häuptling darf nicht mitten unter seinen Freunden allein bleiben, und ich werde darum sechs von unseren Leuten den Befehl geben, in seiner Nähe zu bleiben, wie es sich ziemt. Sie werden die Erzählung von seinen Kämpfen anhören.«
   Gomez verließ die Antilope, ohne den verächtlichen Zug auf den Lippen des Indianers zu sehen, und gab sechs seiner Kameraden den Befehl, sich um den Läufer herumzusetzen und ihn zu erdolchen, sobald sich der geringste Anschein von Verrat kundgeben würde. Der Mexikaner fing an, sich an das Kommandieren zu gewöhnen. Einen Augenblick dachte er daran, die Unvorsichtigkeit, die eine so gefährliche Hilfe für die Indianer geworden war, wiedergutzumachen und eine Abteilung zur Einsammlung von Holz abzusenden; aber seine Truppe wäre dadurch zu sehr geschwächt, und er verwarf diesen Gedanken bald wieder.
   Das Lager blieb also in die vollständigste Dunkelheit eingehüllt. Diese Dunkelheit aber war nicht nur eine Gefahr für die Abenteurer allein; vielleicht hatten sich diejenigen, deren Abwesenheit so fühlbar war, verirrt, und nun fehlte ihnen der Widerschein der Feuer, um durch sie ihren Rückweg wiederzufinden. Die Gedanken des Menschen sind immer von den Szenen abhängig, die ihn umgeben, und die Finsternis, die überall herrschte, die weißen Dünste, die langsam aus dem Schoß der Erde emporstiegen und die Sterne verhüllten, trugen dazu bei, die Gedanken aller Lagerbewohner zu verdüstern. Sie fingen an zu zweifeln, ob ihr Chef und seine drei Gefährten jemals wieder zu ihnen zurückkehren würden. In solchem Fall ist von der Furcht zur Gewißheit nur ein kleiner Schritt, und Don Estévan und seine Begleiter wurden bald als verloren betrachtet. Leise geführte Unterhaltungen wurden unterbrochen. Jeder behielt seine Unruhe für sich, und im Lager wie auf der unermeßlichen Ebene herrschte ein düsteres Schweigen.
   Bald jedoch störten unbestimmte Laute diese feierliche Stille. Man glaubte aus der Ferne etwas wie ein schwaches Wiehern zu vernehmen. Gomez hatte sich mit der ihm so plötzlich zugefallenen Würde in Gedanken schon etwas vertraut gemacht und beeilte sich jetzt – angespornt durch die Nähe der Gefahr, die von allen schon vorhergefühlt wurde, ehe sie noch da war —, selbst mit dem indianischen Läufer zu sprechen, den er für einen wirklichen Häuptling hielt.
   Antilope war mitten unter denen, denen Gomez seine Bewachung übertragen hatte, noch ebenso kaltblütig wie sonst.
   »Die Ohren eines Weißen«, sagte der Mexikaner in seiner Anrede an den Apachen, »sind nicht so fein wie die eines Indianers. Könnte wohl der Häuptling sagen, ob dies das Wiehern der Pferde der Abgesandten ist, das sich dort unten in der Ebene hören läßt?«
   Der Indianer horchte aufmerksam einige Sekunden lang. »Es sind die Abgesandten«, antwortete er; »sie wollen erfahren, ob der Häuptling mit der doppelläufigen Büchse und derjenige, der Pedro Diaz heißt, endlich heimgekehrt sind.«
   »Die Indianer wissen vielleicht besser als die Weißen, daß diese beiden Häuptlinge niemals zurückkehren werden; wenn sie aber diesmal nicht mit demjenigen, den die Kameraden an seiner Stelle gewählt haben, mit mir über den Frieden verhandeln wollen, so nehmen wir an, daß sie den Krieg wollen.«
   »Gut!« sagte der Indianer. »Der Schwarze Falke ist ein gefürchteter Häuptling, der niemand fragt, was er sagen oder tun soll.«
   Während dieser kurzen Unterredung war der ferne Lärm immer größer geworden. Die Erde widerhallte dumpf vom Galopp von Pferden, die man in der Dunkelheit noch nicht sehen konnte. Ein unheimlicher Schauder lief durch das Lager; die Goldsucher jedoch verließen sich auf die Gegenwart der Antilope und dachten noch nicht daran, sich in Verteidigungszustand zu setzen.
   Gomez wollte den Befehl dazu geben, als ihm der Indianer ein Zeichen gab, zu lauschen, und selbst zuerst den Kopf vorneigte. »Das sind die Abgesandten noch nicht!« sagte er. »Sieh!«
   Eine Schar Pferde sprang durch die Ebene, nahe genug, um zu unterscheiden, daß keines einen Reiter trug. »Es sind wilde Pferde«, fuhr der Indianer fort, »und meine Krieger machen Jagd darauf. Wenn sie diese einholen, so werden unsere Freunde mit dem bleichen Gesicht ihren Anteil an der Beute bekommen. Der Schwarze Falke wird bald zurückkehren, die Beute zu verteilen.«
   Zwei oder drei Indianer sprengten wirklich hinter den herrenlosen Pferden her, die erschreckt zu fliehen schienen.
   »Die Bleichgesichter können ruhig sein!« rief Antilope, um den Verdacht seiner Feinde einzuschläfern. »Der Schwarze Falke kommt endlich, um mit seinen neuen Freunden zu unterhandeln. Seht, er sprengt furchtlos durch ihr Jagdrevier!«
   Der Indianer richtete diese Worte an Leute, deren Mißtrauen durch dieses Schauspiel nicht im entferntesten erregt wurde. Die meisten Mexikaner sahen es vielmehr als ein Pfand der Sicherheit an. Sie glaubten, daß das Vertrauen, mit dem einzelne Indianer wilde Pferde bis unter die Verschanzungen der Weißen verfolgten, ein Zeichen sei, daß der Friede bald abgeschlossen sein würde. Keiner von ihnen bemerkte, daß der Läufer sacht die Bänder seines weiten Mantels löste und daß seine Hand unter dessen Falten eine scharfe Streitaxt, die an seinem Gürtel hing, losmachte; ihre Aufmerksamkeit war durch die neue Szene, die ihre Blicke auf sich zog, ganz in Anspruch genommen. Die Pferdeschar mußte in der Richtung, die sie verfolgte, an der Wagenreihe des Lagers entlanglaufen.
   Unter den Indianern, die die springenden Tiere in der Ebene verfolgten, war der Schwarze Falke zu erkennen. Die Abenteurer sahen, wie er vor die Spitze des fliehenden Haufens sprengte, um ihm den Rückzug abzuschneiden. Wirklich hielten auch die Pferde ungestüm vor der Öffnung an, die man vor einigen Stunden in die Wagenreihe gemacht hatte, um die Parlamentäre einzulassen.
   Plötzlich erhob sich unter den Mexikanern in dem Augenblick, wo das wahnsinnige Vertrauen auf die Gegenwart des Läufers unter ihnen und auf die friedliche Haltung der jagenden Indianer keine Grenzen mehr kannte, ein Schrei der Bestürzung und des Schreckens. Wie durch ein Wunder, das man nur im Traum sieht, richteten sich in einem Augenblick düstere schwarze Gestalten, Kindern der Finsternis ähnlich, vor den Augen der Mexikaner empor. Diese Pferde, die herrenlos zu sein schienen, waren plötzlich von Reitern mit wehenden Federn und flatternden Mänteln bestiegen, die ihre Waffen schwangen und ein wütendes Geheul ausstießen.
   Ein unglücklicher Zufall vermehrte noch Lärm und Schrecken dieses Überfalls. Die Pferde nämlich, die ihr Instinkt schon seit einigen Augenblicken von der Gegenwart der Indianer in Kenntnis gesetzt hatte, erschraken bei dem plötzlich mitten im Schweigen ausbrechenden Geheul und gaben jenem tollen, panischen Schrecken nach, der sie zuweilen ergreift und den die Mexikaner eine Estampida nennen. In einem Augenblick waren die Riemen zerrissen, mittels derer sie an die Räder und Deichseln der Wagen gebunden waren: die Pfähle, an denen sich ihre Halfter befanden, wurden herausgerissen, und die erschrockenen Tiere fingen an. im Lager umherzuspringen, rissen ihre Herren, die nicht imstande waren, sie festzuhalten, nieder und traten sie unter die Füße. Einige fuhren blind gegen die Verschanzungen; andere sprangen über die Wagen hinweg oder stürzten durch die Öffnung des Lagers.
   Ausrufe des Schmerzes und der Wut mischten sich in das Wiehern der Pferde und in das Geheul der Indianer: die Mutigsten wurden ratlos und bestürzt. Bald waren keine anderen Pferde mehr da als diejenigen, die sich in ihrem blinden Schrecken an den Wagen zerschmettert oder betäubt hatten; die anderen galoppierten schon durch die Ebene.
   Dieser neue Unglücksfall jedoch, der die Mexikaner traf, wäre beinahe zu ihrem Glück eingetreten. Die Indianer, die sich rasch in den Sattel geworfen hatten, waren einen Augenblick im Zweifel, ob sie nicht diese lebendige Beute, die ihnen entfloh, verfolgen sollten. Einige stürzten auch schon den zerstreuten Tieren nach-, zum Unglück für die Weißen hielt die Stimme des Schwarzen Falken sie zurück.
   Ein Wort wird jetzt das unerwartete Erscheinen der Wilden erklären. Die Apachen hatten gegen die Mexikaner eine List gebraucht, die nur so kühne Reiter wie sie ausführen können. Sie hängen sich nämlich mit einem Fuß an ihren Sattel, verbergen den Körper an der Seite ihres Pferdes und können so lange Strecken durchfliegen. Die Finsternis hatte die Ausführung dieser Kriegslist noch viel leichter gemacht, und die Abenteurer hatten scheinbar nur wilde Pferde gesehen, ohne die Reiter, die sie trugen, zu bemerken.
   Wie eine Staubwolke, die der Wind in die Ferne treibt, stürzten sich die Reiter durch die frei gebliebene Öffnung. Der Boden erzitterte bald unter dem Galopp der größeren Abteilung Indianer, die herbeieilte, um sich dem ersten anzuschließen, als Gomez seinen Dolch auf den Indianer neben ihm zückte – aber Antilope kam ihm zuvor. Sein Mantel glitt von den Schultern, und mit einem Schlag der Streitaxt, die er ergriffen hatte, spaltete er den Schädel des unglücklichen Goldsuchers bis auf die Augen.
   Im selben Augenblick ertönte auf der Schwelle des Zeltes Don Estévans ein so ohrenzerreißendes Kriegsgeschrei, daß man eher hätte sagen können, es sei von der Kehle eines Dämons als von einer menschlichen Brust ausgestoßen. Antilope – denn er war es, der das Signal zum Blutbad gegeben hatte – sprang, wie er es dem Schwarzen Falken versprochen hatte, vom Gipfel des Hügels herab und fiel wie ein Blitzstrahl mitten unter die Weißen. Ein hundertfaches Geheul antwortete zu gleicher Zeit dem Geheul des Läufers.
   »Die Weißen sind nicht einmal Hunde!« rief der Indianer. »Sie sind mutlos wie die Hasen und dumm wie das Vieh.« Antilope hatte, nachdem er diese Beschimpfung ausgestoßen hatte, einen Anlauf genommen, und gewandt wie das Tier, dessen Namen er führte, setzte er mit einem Sprung über die Verschanzung und befand sich wieder unter seinen wilden Genossen.
   Eine schreckliche Verwirrung herrschte mehr als je im Lager der Mexikaner. Man rannte ganz verdutzt in der Dunkelheit aufeinander; die einen zogen das Messer gegen die anderen, da sie sich gegenseitig für Feinde hielten; die Todesstunde hatte für alle geschlagen.
   Vergeblich wurden die Indianer von einigen aufeinanderfolgenden Schüssen empfangen; die Hand, die die Muskete abschoß, war unsicher; das zielende Auge war verstört – niemand wurde getroffen. Die Apachen nahmen sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Die wilden Krieger sprangen mit der Lanze und dem Streitkolben in der Hand heran wie eine von jenen wütenden Sturzwellen, die brüllend über einem sinkenden Schiff zusammenschlagen. Sechzig Pferde wurden auf einmal gegen die Verschanzungen mit dem wilden Ungestüm getrieben, das solchen Reitern und Pferden eigentümlich ist; sie stürzten sich darauf, wie die Wogen des Ozeans sich schäumend auf ein umgeworfenes Schiff stürzen, mit dem wir das mexikanische Lager verglichen haben.
   An der Spitze dieser schrecklichen Reiter mit roter Haut, die ein betäubendes Geheul ausstießen, war der Schwarze Falke an seinem hohen Wuchs und an der Unbeweglichkeit seines rechten Arms leicht erkenntlich. Der unerschrockene Häuptling hatte sich auf seinen Sattel binden lassen, um nur seine Krieger anführen und seine Augen an der Niedermetzelung weiden zu können. Wir sagen seine Augen, denn seine linke Hand mußte das Pferd lenken; er konnte nur die Kämpfenden von den Hufen seines Rosses zermalmen lassen.
   In einigen Minuten hatten Streitaxt, Messer und Lanze in den Händen der Indianer eine schreckliche Arbeit vollbracht. Die Leichname bedeckten die Erde. Einige Mexikaner kämpften noch mit dem Mut der Verzweiflung; die meisten von ihnen versuchten zu fliehen; aber die einzigen Pferde, die noch im Lager geblieben waren, lagen, an der Seite ihrer Herren getötet, auf dem Sand. Dennoch war die Furcht stärker– die Weißen verließen ihren letzten Zufluchtsort, um sich zerstreut in die Ebene zu werfen.
   Die Niederlage der Mexikaner war schon mehr als zur Hälfte vollendet, als diejenigen, die noch im Lager kämpften, einen Schimmer von Hoffnung faßten. Von den Nebelbergen her sprengten zwei Reiter in vollem Lauf. Einige Flüchtlinge vereinigten sich mit ihnen. Dieses unvorhergesehene Ereignis konnte die Lage der Dinge ändern; aber die Flüchtlinge wurden von den Indianern eng umstellt, und da sie alle zu Fuß waren, so konnten sie nicht lange gegen ihre Feinde zu Pferd standhalten.
   Einer von den unverhofft angekommenen Reitern, den man in der Dunkelheit nicht zu erkennen vermochte, war mit einer Streitaxt bewaffnet, die er einem Apachen entrissen hatte. Er stand fast aufrecht in den Bügeln und schlug mit jedem Hieb einen Gegner nieder, kräftig unterstützt von seinem Begleiter, der ebenso wie er in der Dunkelheit unkenntlich war. Sie waren bald von einer Flut von gräßlichen Körpern umgeben, die auf allen Seiten ihre Bewegungen hemmten.
   Nach einiger Zeit jedoch setzte ein Pferd mit seinem Reiter mit einem wundervollen Sprung über diese lebende Hecke, und beide verschwanden bald, hitzig verfolgt, nach derselben Seite hin, woher sie gekommen waren. Was den anderen Reiter anlangt, so bewies ein triumphierendes Geheul den im Lager umzingelten Abenteurern, daß er entweder tot oder gefangen war.
   Dies war der letzte Akt in diesem beklagenswerten Drama. In jedem Augenblick fiel einer der zerstreuten Flüchtlinge oder einer der wenigen Streiter im Lager unter der indianischen Lanze, um sich nicht wieder zu erheben; bald verloren sich Verfolger und Verfolgte in der Finsternis, wo die Schüsse sich immer seltener hören ließen, je geringer die Zahl der Flüchtigen wurde – dann hörte man nichts mehr.
   Einige Zeit darauf kamen die Indianer zu ihren siegreichen Kameraden zurück; alle hatten Skalpe in der Hand, von denen das Blut noch herabtropfte. Ebenso waren auch die im Umkreis des Lagers ermordeten Weißen verstümmelt. Von dieser ganzen zahlreichen Truppe waren nur der noch lebend skalpierte Gambusino und einige in der Dunkelheit dem schrecklichen Gemetzel entronnene Flüchtlinge übriggeblieben. Die anderen waren nur Leichname ohne Kopfhaut und lagen, hundertfach verstümmelt, mitten unter den Maultieren und den getöteten Pferden. Eine Stunde nach Beendigung dieses blutigen Kampfes beleuchtete der Schein der als ungeheurer Scheiterhaufen verbrannten Wagen weithin die mit Toten und Sterbenden bedeckte Ebene. Die Flamme zeigte auch einen weißen Gefangenen, der an den Stamm eines Eisenholzbaums gebunden war, und eine Gruppe Indianer, die einen wilden Tanz um den Gefangenen aufführten.
   Der Schwarze Falke und die Antilope saßen wie vor einigen Stunden auf der Schwelle des Zeltes Don Estévans; sie glichen den Geistern der Zerstörung und des Gemetzels. Mit Lust schienen sich ihre Augen an dem düsteren Schauspiel des Todes, ihre Ohren an den Seufzern zu weiden, die der letzte Todeskampf einigen Verwundeten entriß; sie atmeten mit Lust den faden, ekelhaften Geruch des Blutes, dessen Dünste bis zu ihnen emporstiegen. Ein dunkler Himmel, hier und da rot vom Widerschein des Feuers, lag über diesem traurigen Anblick.
   Die beiden Indianer hatten ihre ruhige Haltung wieder angenommen, als ob sie beide allem, was sich eben zugetragen hatte, ganz fremd gewesen wären. Beide schwiegen; Antilope sprach zuerst. »Was hört jetzt der Schwarze Falke?« fragte er seinen Gefährten.
   »Zwei Stimmen«, antwortete der Häuptling: »Die des Fiebers, das das Mark seiner Gebeine verbrennt und ihm zuruft, sich den Händen des Arztes im Stamm anzuvertrauen. Er hört aber auch noch das Geräusch der drei fliehenden Krieger aus dem Norden und die Stimme eines Freundes, die zu dem verwundeten Häuptling sagt: ›Ein Freund wird es auf sich nehmen, dich zu rächen !‹«
   »Es ist gut«, erwiderte Antilope einfach; »morgen will ich mit dreißig unserer besten Krieger auf ihrer Spur sein.«


   40. Das Val d‘Or

   Wir müssen jetzt auf den Morgen desselben Tages zurückkommen, der den Mexikanern so verderblich wurde und an dem auch die drei wunderbar auf ihrer schwimmenden Insel geretteten Jäger in das Val d‘Or eindringen wollten.
   Dunkelheit verhüllte noch die Landschaft und ließ nur deren große Umrisse erkennen; sie war indes nicht mehr so groß wie in den feierlichen Stunden einer Steppennacht. Die Sterne verließen nach und nach den Himmel, auf dem die Zacken der Sierra abstachen wie Türme mit abenteuerlichen Zinnen, deren Gipfel grauer Nebel umkränzt. Dichte Schatten bezeichneten an den Seiten tiefe Spalten. Am Fuß der Sierra trennte sich ein einsamer Fels wie ein vorgeschobenes Bollwerk von der Masse der benachbarten Berge. Hinter der flachen Ebene seines Gipfels stürzte sich ein Wasserfall mit ehrfurchtgebietendem Rauschen in einen bodenlosen Abgrund. Diesseits des einsamen Felsens, der sich wie ein abgestumpfter Kegel erhob, stand eine Reihe Zwergweiden und Baumwollstauden – ein Beweis, daß sich ein Flüßchen oder eine Einfassung von angeschwemmtem Boden in der Nähe befand.
   Dann dehnte sich die unermeßliche Ebene des Deltas, das durch die Trennung der beiden Arme des Rio Gila gebildet wurde, der sich westlich und östlich einen Durchgang durch die Kette der Nebelberge bahnte, bis zum Gipfelpunkt des Triangels in seiner ganzen düsteren Erhabenheit aus. Die Basis des vom Fluß eingeschlossenen Deltas war nicht weiter als eine Meile vom Gipfel entfernt; aber zwischen seinen beiden Seiten, die von den beiden Armen des Gila begrenzt wurden, hatte seine Grundlinie eine fast dreimal so große Ausdehnung.
   Das waren in der Dunkelheit für den Reisenden, der von der Gabel des Flusses herkam, die hervorstechenden Züge der Landschaft.
   Die Nacht machte der Dunkelheit Platz, das bläuliche Licht des Morgens folgte der Finsternis auf den Zacken der Berge. Wie in einem verwirrten Entwurf tauchten ihre Gipfel nacheinander aus der düsteren Morgendämmerung hervor. Unbestimmte Schlaglichter drangen nach und nach in die Abgründe der sich amphitheatralisch erhebenden Hügel. Das Licht kam nur Schritt vor Schritt. Auf der Plattform des einsam stehenden Felsens waren zwei Fichten wie zwei Gespenster sichtbar, streckten ihre gewaltigen Wurzeln weit aus, und ihre gebeugten Stämme, ihre schwarzen Nadeln neigten sich über den Abgrund. Zu ihren Füßen stand aufrecht, von verborgenen Banden gehalten, das Skelett eines Pferdes, das auf seinen weißen Knochen noch den wilden Zierat trug, mit dem es einst geschmückt gewesen war. Die Bruchstücke eines Sattels umschlossen noch seine durchsichtigen Flanken.
   Das Licht der Morgendämmerung beleuchtete bald noch unheimlichere Sinnbilder: an Pfählen, die in gewisser Entfernung voneinander aufgerichtet waren, flatterten menschliche Skalpe im Morgenwinde. Diese gräßlichen Trophäen bezeichneten das Grabmal eines Kriegers aus einem Barbarenvolk. Wirklich ruhte auch ein früher durch seine Taten berühmter indianischer Häuptling auf dem Gipfel dieser natürlichen Pyramide. In seinem Grab liegend beherrschte er wie der Genius der Verwüstung diese Ebenen, wo sein Kriegsgeschrei so oft widerhallt war und die er auf dem Schlachtroß durchflogen hatte, dessen Gebeine jetzt an seiner Seite im Tau der Nacht und in der Glut des Tages bleichten. Raubvögel flogen schreiend über dieses stumme Grab, als sollte ihr Geschrei den wieder aufwecken, der hier auf ewig schlief und dessen erstarrte Hand ihnen nicht mehr blutige Feste bereiten sollte.
   Einige Minuten später färbte sich der Horizont den Nebelbergen gegenüber mit einem bleichen Licht; rosige Wolken schwebten zum Zenit. Bald darauf traf ein Sonnenstrahl, ähnlich dem ersten Funken eines entstehenden Brandes, wie ein goldener Pfeil den dichten Nebel der Sierra, und das Licht überflutete mit einer Flammendecke die Tiefen der Täler.
   Der Tag war angebrochen, aber ein Nebelmantel verhüllte noch die Hügelmasse. Dieser Nebel wurde wie ein hin und her schwankender Vorhang vom Morgenwind emporgehoben und zerstreute sich nach und nach. Dunstflocken hingen noch hartnäckig an den Blättern der Sträucher oder sprangen wie Gemsen auf den Bergen von Kamm zu Kamm. Tiefe Engpässe, an deren Eingang die Opfergaben indianischen Aberglaubens für die Geister der Berge in Menge zur Schau lagen, wurden einer nach dem anderen sichtbar und zeigten wilde Abgründe und Wasserfälle, die an ihren Seiten entlangschäumten.
   Über das Grab des indianischen Häuptlings breitete die Kaskade eine feuchte Dunstmasse und bildete hinter den durchsichtigen Gebeinen des Schlachtrosses schnell verschwindende Regenbogen. Endlich breitete sich ein enges Tal am Fuß dieser Pyramide aus, auf der das Grabmal stand; es war auf der einen Seite durch senkrechte Felsen, an denen grüne Schlinggewächse lang herunterhingen, auf der anderen durch einen See mit regungslosem Wasser begrenzt. Dieses Tal zwischen den Felsen und dem See, von einem Gürtel von Weiden mit bleichem Laub und Baumwollstauden mit offenen Hülsen umgeben, war das Val d‘Or.
   Das Auge bemerkte anfänglich nur die düstere, wunderliche Umgebung, diesen mit Tannen und Nebel umkränzten Felsen, auf dessen Gipfel ein bleiches Skelett stand; die gräßlichen Trophäen von menschlichen Skalpen, herabstürzende Wasserfälle und den unter einem Mantel von Wasserpflanzen kaum sichtbaren See. Aber ein Gambusino würde bald einen reelleren Eindruck von diesem Tal gewonnen haben.
   Nichts verriet noch an diesem wüsten Ort die Gegenwart beseelter Wesen, als drei Männer, die bis dahin in dem zerrissenen Terrain nicht hatten erblickt werden können, ganz nahe beim Val d‘Or zum Vorschein kamen. Alle drei schienen erstaunte, fast furchtsame Blicke um sich zu werfen.
   »Wenn der Satan irgendwo auf dieser Welt ein Absteigequartier hat«, sagte Pepe, indem er seine beiden Gefährten zurückhielt und auf die Nebeldecke zeigte, die die Bergkette bedeckte, »so muß es sich ganz gewiß in diesen wilden Schluchten befinden.«
   »Wenn es wahr ist – und man kann daran doch nicht wohl zweifeln —, daß des Goldes halber die meisten Verbrechen auf der Erde begangen werden, so sollte man vielmehr glauben, daß der Urheber des Bösen das Val d‘Or zum Aufenthalt gewählt hat, da nach deiner Meinung, Fabian, sein Inhalt ein ganzes Geschlecht zugrunde richten kann.«
   »Du hast recht«, antwortete Fabian mit feierlicher Haltung und bleichem Gesicht; »die Stelle, die mein Fuß jetzt betritt, ist vielleicht der Ort, wo der unglückliche Marcos Arellanos von dem Mann, der ihn begleitete, ermordet wurde. Ach, wenn diese Gegend sprechen könnte, so würde ich den Namen dessen erfahren, den zu verfolgen ich geschworen habe; aber Sturm und Regen haben die Spur der Schritte des Opfers wie die des Mörders verwischt, und die Stimme der Wildnis ist stumm geblieben.«
   »Geduld, mein Kind, Geduld!« erwiderte Bois-Rosé eindringlich. »Ich habe im Verlauf eines langen Lebens noch niemals das Verbrechen ohne Strafe bleiben sehen; oft findet man Spuren wieder, die man schon seit langer Zeit verwischt glaubt; selbst die Stimme der Wildnis erhebt sich zuweilen gegen den Schuldigen. Wenn der Mörder nicht tot ist, so wird die Habgier ihn abermals an diesen Ort führen, und das wird ohne Zweifel nicht mehr lange dauern, denn er befindet sich vielleicht im mexikanischen Lager. Sollen wir jetzt, Fabian, den Feind an dieser Stelle erwarten, oder sollen wir unsere Taschen mit Gold füllen und nach Hause zurückkehren?… Du wirst darüber entscheiden.« Bei diesen Worten seufzte Bois-Rosé.
   »Ich kann nicht darüber entscheiden«, antwortete Fabian; »ich komme fast wider meinen Willen hierher. Es ist wahr, ich gehorche einem Einfluß; aber ich möchte fast sagen, einem Willen, der stärker ist als meiner und deiner. Ich fühle, daß eine unsichtbare Hand mich vorwärts treibt wie an dem Abend, wo ich zu euch kam und mich an eurem Feuer niederließ. Warum habe ich mein Leben aufs Spiel gesetzt? Um dieses Gold zu gewinnen, mit dem ich doch nichts anzufangen weiß? Ich kenne den Grund davon nicht. Ich weiß nur eines: das ist, daß ich hier bin mit traurigem Herzen und einer Seele, die voll quälender Ungewißheit ist.« »In der Tat ist der Mensch nur das Spielzeug der Vorsehung«, sagte Bois-Rosé; »was aber die Traurigkeit anlangt, die du empfindest, so ist sie hinreichend durch den Anblick dieser Gegenwart gerechtfertigt, und was …«
   Ein rauher Ausruf, eine Art menschlichen Brüllens unterbrach den Kanadier und mischte sich mit dem Grollen des Wasserfalls. Dieser Ausruf schien vom indianischen Grabmal herzuschallen und erhob sich wie eine Stimme, die die in die Wohnung der Toten eindringenden Räuber anklagte.
   Die drei Jäger hoben zu gleicher Zeit überrascht den Kopf nach dem Gipfel der Pyramide – aber keine lebendige Kreatur zeigte sich dort. Die Sonne spielte durch die offen daliegenden Rippen des Skeletts, und die Skalpe wehten immer noch im Luftzug an den Stangen, an denen sie befestigt waren, hin und her. Nur das Auge des Raubvogels, der über dem Felsen schwebte, hätte den Mann entdecken können, der durch dieses Geschrei so plötzlich das Echo der Wildnis weckte.
   Die düstere Feierlichkeit der Gegend, in der sich die drei Freunde befanden; die blutigen Erinnerungen, die sie in Fabian hervorrief, und die abergläubischen Gedanken, die in Pepes Seele dadurch geweckt wurden, vereinigten sich mit diesem fremdartigen, geheimnisvollen Ausruf, so daß sie ein Gefühl hatten, das dem Schrecken sehr nahe kam. Es war in dem Ton etwas so Unerklärliches, daß sie einen Augenblick zweifelten, ob sie diesen auch wirklich gehört hatten.
   »War dies denn die Stimme eines Menschen?« sagte Bois-Rosé ganz leise, indem er Fabian und Pepe zurückhielt. »Oder ist es vielleicht ein sonderbares Echo wie es in dieser Nacht in den Bergen widerhallte?«
   »Wenn es eine menschliche Stimme ist, so frage ich, woher sie kommen könnte«, erwiderte Fabian, »denn ich habe ebensogut wie ihr einen Schrei über uns gehört. Er schien vom Gipfel dieses Felsens zu kommen – und doch sehe ich niemand!«
   »Gott gebe«, sagte nun der Grenzjäger, sich bekreuzend, »daß wir es in diesen Bergen, wo unerklärliche Töne grollen, wo Blitze am heiteren Himmel leuchten, nur mit Menschen zu tun haben! Aber wenn diese Nebel auch eine Legion von Teufeln verbergen sollten und ihr immer noch behauptet, daß dieses Tal ein mehrfaches Jahreseinkommen des Königs von Spanien enthält, so seid so gut, Don Fabian, und nehmt Eure Erinnerungen zusammen, und sagt uns, ob wir noch weit davon entfernt sind.«
   Fabian schien sich zu besinnen, denn er warf abermals einen aufmerksamen Blick um sich – auf den Kamm der Nebelberge, auf den Gipfel der Pyramide und auf den dunsterfüllten Punkt, wo sich der Fluß teilte. Diese sonderbare Landschaft war bestimmt diejenige, die man ihm so genau beschrieben hatte. Er war mit seiner Prüfung zufrieden und beantwortete die Frage des Spaniers: »Ohne Zweifel sind wir da, denn am Fuß des Grabmals des indianischen Häuptlings muß es sein, und diese wilde Verzierung beweist hinreichend, daß dieser Felsblock das Grab ist. Während Ihr mit Bois-Rosé um den Felsen herumgeht, will ich einen Blick durch diese Baumwollstauden und Weiden werfen.«
   »Ich mißtraue allem, was mich an diesem geheimnisvollen Ort umgibt«, erwiderte Bois-Rosé. »Dieser Schrei, den wir eben gehört haben, beweist, daß ein menschliches Wesen gegenwärtig ist; Weißer oder Roter – wir müssen ihn fürchten. Laß mich, ehe wir uns trennen, den Boden in unserer Nähe untersuchen.«
   Alle drei richteten ihre Augen, die gewohnt waren, auf dessen Oberfläche wie in einem offenen Buch zu lesen, auf den Boden.
   »Was habe ich euch gesagt?« rief der Kanadier zuerst. »Hier ist der Eindruck der Füße eines Weißen, und ich möchte darauf schwören, daß er vor nicht mehr als zehn Minuten hiergewesen ist.«
   Wirklich befanden sich die Spuren menschlicher Füße im Sand; einer hatte sogar den Stamm eines wilden Pertulaks niedergetreten, dessen Stengel sich nacheinander langsam wieder aufrichteten. Diese Spuren führten zu der Hecke von Baumwollstauden.
   »Auf jeden Fall ist er allein«, sagte Fabian und näherte sich der grünen Einfassung.
   Bois-Rosé hielt ihn zurück. »Laß mich hingehen; diese undurchdringliche Hecke kann den Feind verbergen. Doch nein«, fügte er hinzu; »der Mann, dessen Schritte hier sichtbar sind, hat nur die Zaunreben, die sich um die Bäume schlingen, auseinandergebogen, um einen Blick hineinzuwerfen.«
   Bois-Rosé bog bei diesen Worten ebenfalls die Zweige und das verschlungene Netz, das sie umwickelt hatte, auseinander; aber nach einer kurzen Prüfung, deren Resultat nichts Merkwürdiges bot, kam er zurück und ließ den grünen Vorhang sich selbst wieder schließen. Der Jäger folgte den Spuren, die von da zum felsigen Hügel mit dem abgestumpften Gipfel führten; weiterhin aber wurde der Boden kalkig, bedeckte sich mit flachen Steinen, den Grabsteinen auf den Kirchhöfen ähnlich, und ließ keine Spur mehr erkennen.
   »Wir wollen um diesen Felsen herumgehen«, sagte Bois-Rosé; »vielleicht sagt uns der Boden dort mehr. Komm, Pepe! Fabian, du wartest hier auf uns!«
   Die beiden Jäger entfernten sich; Fabian blieb nachdenklich allein. Dieses Val d‘Or, von dessen Eroberung er zur Zeit, als sein Herz noch so süße Hoffnungen nährte, geträumt hatte, dieses Val d‘Or war ganz in seiner Nähe. Dieser Traum, den er sonst nur als eine Chimäre zu betrachten wagte, war jetzt etwas Wirkliches geworden; und Fabian war viel unglücklicher als damals, wo die hoffende Liebe ihm noch in seiner ersten Armut zulächelte. So ist es aber: Das Glück entflieht immer in dem Augenblick, wo man es zu ergreifen meint.
   Zuweilen lauscht der Reisende in der Stille des Waldes auf die melodischen, durch die Entfernung geschwächten Töne des Cenzontlé. Er nähert sich vorsichtig der Stelle, wo, unter den Blättern verborgen, der Vogel der Wildnis nur für diese seine süßen Gesänge singt. Der Reisende hofft, dem geflügelten, menschenscheuen Sänger näher zu kommen und keinen Ton zu verlieren. Vergebliche Hoffnung! Er mag gehen, soviel er will – die Stimme des Cenzontlé bleibt ewig fern, der Vogel selbst ewig unsichtbar.
   So ist es auch im Leben. Ferne Stimmen besingen das Glück; der Mensch hört es, er nähert sich – und das Glück ist nicht mehr da. Sein Leben entschwindet, indem er unaufhörlich diesen Melodien nachgeht, die stets vor ihm fliehen. Für Fabian war das Glück nicht mehr im Val d‘Or; es war nirgends mehr. Keine ferne Stimme sang jetzt noch in der Einöde seines Lebens; der Wanderer hatte kein Ziel mehr zu verfolgen; er konnte nicht mehr hoffen, ein stets fliehendes, aber immer noch geliebtes Bild endlich an die Brust zu drücken.
   Fabian durchlebte einen Augenblick, wie ihn Gott glücklicherweise selten im Leben schickt; in solchen Augenblicken ist alles Finsternis wie auf dem Meer, wenn das Feuer des Leuchtturms, das den Seemann leitet, erloschen ist. Fabians Herz war traurig wie das Herz, das nicht mehr hofft. Er näherte sich mechanisch dem dichten Gebüsch, das vor ihm eine fast undurchdringliche Hecke bildete. Doch kaum hatte er mitten durch diese verschlungenen Zweige geblickt, als er starr vor Erstaunen stehenblieb.
   Der bläuliche Schatten, der noch die Tiefe der Tals bedeckte, verschwand vor der Sonne und enthüllte nach und nach durch sein Verschwinden eine unzählige Menge geheimnisvoll leuchtender Punkte. Dicht gereiht wie die Steine am flachen Meeresufer, ließen sich die Kiesel, die das Licht ausstrahlten, in einem Tag nicht zählen. Jeder andere als ein Goldsucher hätte sich beim Anblick dieser Kiesel, die ganz den verglasten Steinen am Fuß der Vulkane glichen, getäuscht abgewandt; aber das geübte Auge Fabians brauchte nur halb hinzusehen, um unter seiner tonartigen Hülle das gediegene, ursprüngliche Gold zu erkennen, wie es die Gießbäche von den Bergen in die Ebene tragen. Vor seinen Augen breitete sich der reichste Schatz aus, der sich jemals dem forschenden Blick eines Mannes gezeigt hat.
   Und doch – wenn der Windhauch an das Ohr des jungen Grafen von Mediana die Töne von Rosaritas Stimme, als sie ihn einige Tage vorher nach der Hacienda zurückrief, durch die Wildnis getragen hätte, hätte er freudig all diese Schätze liegen lassen, um zu ihr zu eilen. Aber der Wind war stumm, und es liegt ein solcher Zauber im Gold, daß Fabian trotz seiner tiefen Traurigkeit einen Schwindel fühlte, von dem er sich nicht befreien konnte.
   Aber es dauerte nicht lange. Die Seele Fabians gehörte zu denen, die vom Glück nicht berauscht werden, und nachdem die Aufregung, von der sich auch das teilnahmsloseste Herz nicht freimachen kann, einige Minuten gewährt hatte, rief er seine beiden Gefährten. Der Jäger und Pepe hatten sich bald eingefunden. »Habt Ihr ihn gefunden?« rief der ehemalige Grenzsoldat.
   »Den Schatz, aber nicht den Mann. Seht hier!« sagte Fabian, indem er mit seiner Büchse das Netz von Lianen auseinanderbog, das den Blick in das kleine Tal verwehrte.
   »Was?« fragte Pepe. »Diese funkelnden Steine …?« »… sind reines Gold! Es ist der Schatz, den Gott seit Jahrhunderten hier verbirgt.«
   »Gott Jesus!« rief Pepe starr vor Staunen. Dann heftete er seine Augen glühend auf diese schwindelerregende Masse von Reichtümern, die vor ihm ausgebreitet lagen, und fiel auf die Knie. Leidenschaften, die er schon längst unter seine Füße getreten glaubte, schienen bis zu seinem Herzen zurückzuströmen; eine vollständige Umwandlung ging mit ihm vor, und der unheimliche Ausdruck seines Gesichts erinnerte plötzlich an den Banditen, der vor zwanzig Jahren um den Blutpreis gefeilscht hatte.
   Fabian blickte mit melancholischem Antlitz auf das in den Kieseln spielende Licht. Er dachte daran, daß all diese Reichtümer für ihn nicht soviel Wert besaßen wie ein Lächeln, ein Blick von der, die ihn verschmäht hatte.
   »Jetzt kann ich mir erklären«, fuhr Fabian fort, »wie die beiden Ströme bei ihrem jährlichen Steigen und die Gießbäche, die von den Nebelbergen herabstürzen, dieses enge Tal bedecken und hier, jeder von seiner Seite her, das Gold der Minen und der Hügel aufhäufen; die Lage dieses Tals ist vielleicht einzig in der Welt.«
   Aber der Spanier hörte die Stimme Fabians nicht; die Reichtümer gewannen in seinen Augen wieder ihren zauberischen Einfluß, obgleich die rauhe Lektion, die er bekommen hatte – das unabhängige Leben, das wilde Glück, das er seit zehn Jahren genoß —, ihn hätte lehren sollen, sie zu verachten. Wie eine unglückbringende Leidenschaft, die in dem Herzen, das sie zerrissen hat, nur schlecht gedämpft ist und bei einem Wort, einer zufälligen Erinnerung heftiger als jemals wieder erwacht, so erhob sich plötzlich die Goldgier beim Anblick dieser Schätze in der Seele des Jägers mit neuer Kraft.
   »Nicht wahr, Pepe, Ihr konntet nicht ahnen«, sagte Fabian immer noch gedankenvoll, »daß soviel Gold an einem Ort aufgehäuft gefunden werden könnte? Ich glaube es wohl. Ich selbst, dessen erstes Gewerbe doch
   das eines Goldsuchers gewesen ist, würde es nicht zu träumen gewagt haben, obgleich man mir davon erzählt hatte.«
   Pepe antwortete immer noch nicht. Seine Augen irrten immer noch über die Goldklumpen; er warf nur auf Fabian und Bois-Rosé einen unheimlichen Blick, der diejenigen nicht mehr zu sehen schien, die neben ihr standen. Der alte Jäger hatte unbeweglich seine Lieblingsstellung angenommen – den Arm auf der Mündung seiner Büchse – und sah von all diesen Schätzen nur den an, der ihm der teuerste war: den jungen Mann. den der Himmel ihm zurückgegeben hatte.
   Der eine von ihnen war der alte Begleiter des Spaniers in allen Gefahren; in hundert Kämpfen hatten sie zusammen ihr Kriegsgeschrei ausgestoßen wie jene Waffenbrüder der alten Ritterzeit, die stets unter demselben Banner kämpften; Kälte, Hunger und Durst – alles hatten sie gemeinsam ertragen; ihre Tage waren unter derselben Sonne, ihre Nächte unter demselben Sternenhimmel vorübergegangen.
   Der andere war ein durch seine Schuld verwaistes Kind – zwanzig Jahre hindurch hatte sein Gewissen ihm dies vorgeworfen; dieses Kind war das Leben, die Liebe seines einzigen Freundes in dieser Welt. Aber der Teufel der Habgier, die sein Herz zernagte, wischte all diese Erinnerungen der Vergangenheit aus: Diese beiden Männer waren heute zuviel in seinen Augen. Ein Schauder des Schreckens ließ den Körper des Spaniers erzittern, als diese Gedanken durch seine Seele fuhren. Ein heftiger Kampf entstand in seinem Innern; ein Kampf der Gefühle seiner Jugend gegen die viel edleren Gefühle, die der Anblick der wilden Natur, in der sich der Mensch Gott näher fühlt, in ihm entwickelt hatte. Aber dieser so schreckliche Kampf war nur kurz; der Grenzjäger von ehemals war plötzlich verschwunden, und als Pepe seine gehässigen Gedanken zum Bewußtsein kamen, trug die edle Natur, die er wiedergewonnen hatte, den Sieg davon – der alte Mensch war auf immer besiegt, es blieb nur noch der Waldläufer da, der durch die Reue und durch die Wildnis gereinigt war.
   Pepe kniete immer noch auf dem Boden, er hatte die Augen geschlossen; eine verstohlene Träne – eine Träne, die von seinen beiden Gefährten ebensowenig bemerkt wurde wie der Kampf, aus dem er als Sieger hervorgegangen war – drang durch seine Augenlider und rollte über seine bronzene Wange. »Señor Graf von Mediana«, sagte er, sich erhebend, »Ihr seid von heute an ein reicher und mächtiger Herr, denn all dieses Gold gehört Euch allein!« Bei diesen Worten entblößte er seine Stirn und verbeugte sich mit einer erhabenen Anstrengung ehrerbietig vor dem, der ihm von jetzt an nichts mehr zu verzeihen hatte. »Das wolle Gott nicht«, sagte Fabian lebhaft, »daß ihr nicht mit mir dieses Gold teilt, nachdem ihr meine Gefahren geteilt habt. Was sagst du dazu, Bois-Rosé? Freust du dich nicht, daß du ebenfalls in deinem Alter noch ein reicher und mächtiger Herr wirst?«
   Aber Bois-Rosé beharrte immer noch in seiner Stellung und stützte ruhig den Arm auf den Lauf seiner Büchse. So großen Reichtümern gegenüber unerschütterlich wie der Felsen, der sich über ihnen erhob, begnügte er sich damit, den Kopf zu schütteln, während ein Lächeln unaussprechlicher Liebe für Fabian von dem einzigen Interesse zeugte, das er an diesem wunderbaren Anblick nahm. »Ich denke wie mein Freund Pepe«, sagte der Kanadier. »Was sollte ich mit diesen Reichtümern machen, nach denen jedermann so begierig ist? Wenn dieses Gold für uns einen unschätzbaren Wert hat, so liegt der Grund davon darin, daß er dir gehören soll; der Besitz des kleinsten Kiesels würde in seinen und in meinen Augen den Wert des Dienstes schmälern, den wir dir haben leisten können. Aber der Augenblick ist da, zu handeln und nicht zu sprechen; gewiß sind wir in dieser Einöde nicht allein.«
   Dieser letzte Gedanke erinnerte die drei Freunde daran, daß die Zeit wirklich kostbar war. Pepe bog zuerst die Zweige der Baumwollstauden auseinander und drang durch die grüne Einfassung; aber kaum hatte er das Val d‘Or betreten, als ein Schuß im Berg widerhallte. Nach einigen Sekunden der Angst um das Schicksal ihres Gefährten beruhigte sie seine Stimme. »Das ist der Teufel«, rief der Jäger, »der uns verwehren will, Eingriffe in sein Eigentum zu tun; aber auf jeden Fall ist es ein Teufel, dessen Auge nicht untrüglich ist.«
   Der Kanadier und Fabian hoben, ehe sie ebenfalls das Tal betraten, ihre Augen zum zweitenmal zum Gipfel der Pyramide, von der der Schuß und die Stimme, die sie gehört hatten, herzukommen schienen. Aber ein dicker Nebel, den der Wind vom Gipfel der Berge abgelöst hatte, entzog ihrem Blick gerade die Plattform des Felsens und seine phantastische Ausschmückung.
   Bois-Rosé und Fabian hatten den Spanier bald erreicht, und alle drei wandten sich ganz von selbst nach dem alleinstehenden Felsen. Dort mußte ohne Zweifel der Feind verborgen sein, der sie bedrohte. Die Seitenflächen der Pyramide waren, wenn auch abschüssig, doch mit Gesträuch besetzt, weshalb man sie auch ersteigen konnte. Dennoch war es immer ein gefährliches Unternehmen, denn im Nebel konnte man gar nicht ahnen, mit wie vielen Feinden sie zu tun haben würden.
   Fabian wollte vorangehen, aber der kräftige Arm des Kanadiers hielt ihn zurück, während Pepe die Anhöhe schon halb erstiegen hatte. Bois-Rosé bildete nun einen Schild für sein zärtlich geliebtes Kind und folgte Pepe, nachdem er Fabian inständig gebeten hatte, nur seinen Fußstapfen zu folgen.
   Indessen wogte der Nebel immer noch wie ein Helmbusch auf dem Gipfel des Felsens; zwar schwankte er unter dem Wehen des Windes unregelmäßig von einer Seite zur anderen, war aber undurchdringlich wie der Wolkenschleier, der den Blitz verbirgt. Der unerschrockene Grenzjäger jedoch stieg immer vorwärts, ohne vor dem Hinterhalt zu erschrecken, der hinter dieser Dunstmasse, die von der Luft traurig auf den Höhen hin und her wallte, verborgen sein konnte. Er verschwand bald selbst mitten im Nebel.
   Fabian und Bois-Rosé verloren ihn im selben Augenblick aus dem Gesicht, wo sie ein wenig anhielten, um Atem zu schöpfen; dann klimmten sie ihren gefährlichen Pfad mit einem Herzen voll peinlicher Ungewißheit weiter hinauf. Ein Triumphgeschrei Pepes bewies, daß er glücklich und wohlbehalten oben angelangt war. Seine beiden Gefährten beantworteten seinen Ruf und setzten bald selbst ihren Fuß auf die Plattform – sie war verlassen!
   In dem Augenblick, wo sie, unmutig über den geringen Erfolg und in dem dichten Nebel kaum füreinander sichtbar, sich anschickten, wieder in die Ebene hinabzusteigen, vertrieb ein plötzlicher Windstoß, der über die öden Gipfel der Hügel fegte, ungestüm den Nebel, und die drei Freunde konnten die Ebene überschauen. Rechts und links war sie das vollständige Bild der Steppe in ihrer ganzen düsteren Pracht: dürre Flächen, auf denen wirbelnde Sandsäulen einen traurigen Anblick gewährten; eine sonnenverbrannte, trockene Ebene; überall Schweigen, überall Regungslosigkeit – ausgenommen auf einem Punkt. Ziemlich weit noch von der Einfassung von Weiden und Baumwollstauden, die von der Ebene her den Zugang zum Val d‘Or verdeckten, schienen vier Reiter aus dem Nebel des Flusses hervorzukommen, von dem sie fast noch ganz eingehüllt waren. Sie näherten sich, fest aneinandergeschlossen, die Büchse in der Faust; doch war die Entfernung zwischen den Neuangekommenen und dem Val d‘Or noch zu groß, als daß diejenigen, die sich auf der Plattform des Felsens befanden, ihren Anzug und ihre Hautfarbe hätten unterscheiden können.
   »Müssen wir etwa hier noch eine Belagerung aushalten?« sagte Bois-Rosé. »Sind es Weiße, sind es Rothäute?«
   »Rothäute oder Weiße – jedenfalls sind es Feinde«, sagte Pepe.
   Während die drei Abenteurer sich niederbückten, um nicht bemerkt zu werden, ging ein Mann, der für beide Parteien bis jetzt unsichtbar gewesen war, leise in den See hinein. Er bog vorsichtig die schwimmenden Blätter der Seerosen auseinander, machte aus ihren glänzenden Kelchen ein Dach über seinem Kopf und blieb unbeweglich. Der See beherbergte einen unerwarteten Gast, aber seine Oberfläche hatte ihr Aussehen nicht verändert.
   Dieser Mann war Cuchillo, der schmutzige Schakal, der, schlecht beraten von seinem Geschick, auf dem Grund und Boden der Löwen jagen wollte.


   41. Die Strafe des Tantalus

   Als Cuchillo auf seinem atemlosen Ritt in die Nähe der Nebelberge gekommen war, hielt er abermals an. Der Bandit hatte die äußere Erscheinung der Gegend, die er schon einmal gesehen hatte, nicht vergessen, aber sein Herz war von Furcht und Freude erschüttert; das aufgeregte Blut summte in seinen Ohren und benahm seinem Auge den gewöhnlichen scharfen Blick. Er mußte einen Augenblick haltmachen, um sich zu orientieren.
   Nach einigen Minuten erst konnte er ruhiger um sich blicken. Es herrschte noch vollständige Dunkelheit, als er nicht weit von der Pyramide, die sich über dem Val d‘Or erhob, anlangte; die feuchten Ausdünstungen des Sees umhüllten noch das Tal und den steilen Hügel des indianischen Grabmals mit einem dichten Schleier.
   Das dumpfe Grollen des Wasserfalls, dessen er sich erinnerte, wurde für ihn ein Zeichen, seiner Ungewißheit ein Ende zu machen. Er hatte nicht vergessen, daß der Wasserfall sich nicht weit von der Goldmine in einen Abgrund hineinstürzte.
   Er stieg also vom Pferd, um sich einen Augenblick auszuruhen und den Tag zu erwarten. Aber kaum hatte er sich niedergelegt, als ein Gefühl des Schreckens ihn aufspringen ließ, als hätte er sich in der Nähe einer giftigen Schlange befunden. Durch einen verhängnisvollen Zufall hatte er gerade an der Stelle angehalten, wo er Marcos Arellanos ermordet hatte. Eine plötzliche Erinnerung führte auch die kleinsten Ereignisse in diesem tödlichen Kampf mit der Schnelligkeit des Blitzes wieder vor die Augen des Banditen. Cuchillo fühlte, wie ein tiefer Schrecken sich seiner bemächtigte; aber er war nur von kurzer Dauer.
   Unter dem klaren Himmel Amerikas hat der Aberglaube nicht wie in unseren nebligen Ländern, wo die Ausdünstungen des Abends den Gegenständen einen phantastischen Anblick geben, der ganz natürlich zur Träumerei auffordert, seine Wohnung aufgeschlagen. Aus solcher Träumerei ist jene düstere, nordländische Poesie entstanden, die unsere Länder, die schon von der Natur genug vernachlässigt sind, mit Geistern und Gespenstern bevölkert hat, als ob die Seelen derer, die ihr ganzes Leben hindurch verdammt waren, Reif und Frost zu ertragen, sich nicht zu glücklich schätzen müßten, ihnen entronnen zu sein, um sich wohl in acht zu nehmen, ihnen jemals wieder zu trotzen.
   In den amerikanischen Wildnissen fürchtet der Reisende viel mehr die Lebenden als die Toten, und Cuchillo mußte die Weißen oder die Roten zu sehr fürchten, um sich lange mit Arellanos zu beschäftigen. Der Bandit bekam bald andere Gedanken, die an die Stelle derer traten, die ihn eben aufgeregt hatten. Wir wollen damit nicht sagen, daß er wieder ruhig wurde – denn die Nähe des Goldlagers raubte ihm seine freie Urteilskraft —, aber er dachte wenigstens nicht mehr an ein Verbrechen, das sich mit allen anderen vermischte, deren er sich schuldig gemacht hatte.
   Der Gedanke an Arellanos war schon längst verschwunden, als Cuchillo von den ersten Strahlen der Morgendämmerung mitten in der Trunkenheit überrascht wurde, mit der die Habgier sein Gehirn umnebelte. Obgleich er beinahe gewiß war, daß niemand seine Entfernung aus dem Lager bemerkt hatte und noch weniger ihn jemand verfolgte, so beschloß er doch, die Pyramide, die sich vor ihm erhob, zu ersteigen und vom Gipfel dieser Anhöhe aus die Steppe weithin zu überblicken.
   Die beiden Tannen, deren düsteres Grün das Grab des Apachenhäuptlings bekränzte, schienen ihm wunderbar dazu geeignet, ihn den Augen der Indianer zu entziehen, wenn sich etwa zufällig solche in der Nähe befänden, und er wandte sich zum Fuß des Berges. Er konnte es jedoch nicht unterlassen, im Vorbeigehen einen zugleich gierigen und ängstlichen Blick auf das Tal mit den Goldklumpen zu werfen. Ein plötzlicher Gedanke hatte nämlich einen Augenblick lang seine Aufregung zerstreut. War die Goldmine auch immer noch jungfräulich und unberührt wie damals, wo er sie vor zwei Jahren verlassen hatte?
   Ein einziger Blick beruhigte ihn. Nichts hatte sich im Aussehen des Val d‘Or verändert; immer noch strahlten diese Massen des kostbaren Metalls ganze Garben von Licht aus. Der halb verdurstete Reisende erblickt nicht mit größerer Freude die Oase mit fließendem Wasser mitten in den unermeßlichen, glühenden Sandflächen; niemals hat in dem fabelhaften Zeitalter ein Faun oder Satyr auf eine im Bad unter dem verschwiegenen Schatten des Laubdachs überraschte Nymphe glühendere Blicke geworfen als Cuchillo auf die Haufen des gediegenen Goldes, das durch die Hecke von Baumwollstauden glänzte.
   Jeder andere Abenteurer, den sein glücklicher Stern an diese Stelle geführt hätte, würde sich beeilt haben, soviel Gold, als er hätte tragen können, einzusammeln und mit seiner Beute zu entfliehen. Aber bei Cuchillo war wie bei dem Geizigen die Habgier eine Leidenschaft, die sich bis zum äußersten Punkt entwickelt hatte. Der Bandit hatte schon seit zwei Jahren in Gedanken diesen Schatz habgierig betrachtet; er hatte nicht gezögert, das Leben aller seiner Gefährten für ihn zu opfern und wollte sich nun nach Gefallen an dessen Betrachtung weiden, ehe er ihn plünderte.
   Nachdem der Bandit einige Augenblicke der Befriedigung seines teuersten Wunsches gewidmet hatte, nahm er, seinen vorsichtigen Gewohnheiten getreu, sein Pferd beim Zügel, näherte sich rasch den Bergen und band es dort an eines von den Gesträuchen, die in einer Schlucht wuchsen. Sie war tief genug, um es vor jedem Auge zu verbergen, und er machte sich nun daran, die Pyramide zu ersteigen.
   Auf dem Gipfel angelangt, hatte er die Einöden ringsherum durchforscht, um sich zu versichern, ob er auch wohl allein sei. Eine aufmerksame Prüfung von einigen Minuten hatte ihn abermals beruhigt, denn Don Estévan und seine drei Begleiter ebenso wie der kanadische Jäger und seine beiden Freunde befanden sich noch außerhalb des Bereichs seiner Augen zwischen den Hügeln, da sie durch weniger genaue Beschreibungen gezwungen waren, die Gegend zu rekognoszieren. Cuchillo war befriedigt durch das Schweigen, das rings um ihn herrschte, und hatte mechanisch seine Blicke wieder nach der Kaskade gewandt, da er einen Augenblick durch die Nähe der zu seinen Füßen ausgebreiteten Schätze ganz in Anspruch genommen war. Der Wasserstrahl, der in seinem Sturz hinter der Pyramide eine Brücke aus flüssigem Silber über den Abgrund zu bilden schien, brach sich zuweilen in seinem Fall.
   Hier war ein Goldklumpen durch die hundertjährige Bewegung des Wassers bloßgelegt und funkelte durch die vom Wind zerstreuten regenbogenfarbigen Dünste in den Strahlen der Sonne. Die ungeheuerste Frucht, die sich jemals zwischen den Blättern einer Kokospalme gewiegt hat, war nicht größer als er. Dieser Goldklumpen war ständig von dem feuchten Staub der Kaskade bespült und strahlte in seinem ganzen Licht. Jeden Augenblick schien er aus seiner Einfassung von Kieselsteinen herausstürzen zu wollen, und doch drohte er vielleicht schon seit Jahrhunderten den Wert des Lösegelds eines Königs mit in den Abgrund zu nehmen.
   Beim Anblick dieses Blocks, den er anscheinend mit ausgestrecktem Arm erreichen konnte, hatte Cuchillo einen Anfall wahnsinniger Freude. Gierig beugte er sich mit ausgestreckten Händen und erweiterten Augen über den Abgrund; seine Brust hob sich bis zum Zerspringen, und er wäre der schmerzlichen Aufregung, die ihn ergriffen hatte, unterlegen, wenn er nicht einen Schrei des Schmerzes und der Lust zugleich ausgestoßen hätte. Das war der Schrei, den der Kanadier und seine beiden Gefährten gehört hatten.
   Bald jedoch entriß ihm ein Schauspiel, auf das er mitten in dieser Einöde durchaus nicht gerechnet hatte, einen anderen Ausruf; aber diesmal war es ein Ausruf der Wut. Der Bandit hatte eben ein menschliches Wesen bemerkt; einen Mann, der mit ihm das Geheimnis seines Lebens teilte und mit profanem Fuß auf seinen unberührten Schatz trat. Bois-Rosé und Fabian waren für ihn hinter der dicken Einfassung des Val d‘Or noch nicht sichtbar; Cuchillo dachte, daß der frühere Grenzjäger allein sei, und ohne Überlegung, fast, ohne sich Zeit zum Anlegen zu lassen, hatte er Feuer auf ihn gegeben. Das war die Ursache des Büchsenschusses; Pepe hatte die Kugel an seinen Ohren vorbeipfeifen hören.
   Es ist unmöglich, die Wut und die Bestürzung des Banditen zu schildern, als er, selbst hinter den Zweigen der beiden Tannen versteckt, zwei Männer sich an Pepe anschließen sah und in dem einen von ihnen an seinem hohen Wuchs den schrecklichen Jaguarjäger von der Poza her und in dem anderen Fabian erkannte – denjenigen, der schon zweimal seinem Hinterhalt entgangen war.
   Ein tödlicher Schauder erstarrte einen Augenblick sein Herz in der Brust. Betäubt schwankte Cuchillo hin und her; noch einmal mußte er aus diesem Val d‘Or fliehen; immer schien ein schreckliches Verhängnis ihn fernhalten zu müssen und neue unersättliche Begierden in ihm zu entzünden.
   Glücklicherweise für den Banditen entzogen ihn der dichte Nebel, der noch auf dem Gipfel der Pyramide wallte, und die dicken Flocken, die vom Wind hierhin und dorthin geweht wurden, den Blicken der Feinde, die zu ihm emporklimmten. Als sie auf der Höhe des Hügels anlangten, hatte Cuchillo unbemerkt auf der entgegengesetzten Seite hinabsteigen können, nachdem er noch Zeit gehabt hatte, auch Don Estévan und sein Gefolge in der Ferne zu erkennen. Das war ein neuer Gegenstand der Überraschung für den Banditen, der wie eine Schlange längs der Felsen hinglitt, sich unter die Blätter der Seerose im Wasser versteckte und den Entschluß faßte, die Entwicklung seines sonderbaren Abenteuers abzuwarten.
   Cuchillo konnte so von niemand gesehen werden und war bereit, von dem Kampf, der zwischen Don Estévan und seinen drei Begleitern auf der einen und Fabian und seinen beiden Freunden auf der anderen Seite stattfinden mußte, einen Vorteil zu ziehen. Ein Schauer teuflischer Freude ergriff ihn in dem kühlenden Wasser des Sees. Er glich hier dem Raubvogel, der in den Wolken schwebt und wartet, bis das Schlachtfeld ihm sein Opfer überläßt. Er ahnte leicht, daß sich ein tödlicher Kampf zwischen Fabian und dem Herzog von Armada entspinnen würde, und berechnete schnell die günstigen Aussichten, die ihm noch blieben.
   Wenn die drei Jäger siegten, so hatte er wenig oder nichts von Fabian zu fürchten, der in seinen Augen immer noch Tiburcio Arellanos war. Die Mexikaner der unteren Klasse betrachten unter sich einen Messerstoß größtenteils wie eine Kleinigkeit, und er hoffte Verzeihung für den zu erhalten, den er Tiburcio gratis versetzt hatte, wenn er das Gehässige in seinem Verhalten auf Don Estévan schob.
   Wenn dieser letztere Herr des Schlachtfeldes blieb, so schmeichelte er sich, seine Flucht leicht mit einem glaubhaften Vorwand beschönigen zu können. Er entschied sich daher, den Kampf beginnen zu lassen und im entscheidenden Augenblick dem Stärksten zu Hilfe zu eilen; er war beinahe überzeugt, daß seine Dazwischenkunft, nach welcher Seite auch immer der Sieg sich wenden mochte, dazu beitragen mußte, seine Sache zu verteidigen und seinen Prozeß zu gewinnen.
   Während Cuchillo versuchte, sich über sein unglückliches Abenteuer durch Schlüsse zu trösten, die nicht ohne eine gewisse scheinbare Richtigkeit waren, hatte Bois-Rosé die Farbe der zuletzt Gekommenen unterscheiden können. »Es sind vier Reiter aus dem mexikanischen Lager«, sagte er.
   »Ich hatte es geahnt«, sagte Fabian. »Wir werden bald die ganze Schar auf dem Hals haben und uns hier wie wilde Pferde in einem Pfahlwerk gefangen sehen.«
   »Still!« antwortete Bois-Rosé. »Halte dich nur an mich, wenn es darauf ankommt, uns aus dieser schlechten Lage zu ziehen. Nichts beweist, daß sich noch andere Reiter hinter ihnen befinden, und auf jeden Fall hätten wir keine vorteilhaftere Stellung als diese Anhöhe wählen können, von wo aus wir einen ganzen Stamm Wilder herausfordern könnten; ebensowenig beweist irgend etwas, daß sie die Absicht hätten, hier anzuhalten. Unterdessen werde ich sie überwachen.«
   Mit diesen Worten legte sich der Kanadier platt auf die Erde nieder und richtete sich so ein, daß sein Kopf zwischen Steinen, die sich wie Zinnen auf dem Gipfel der Pyramide befanden, verborgen blieb, ohne daß er doch die vier Reiter aus dem Gesicht verloren hätte. Man vernahm bald das Geräusch der Hufe ihrer Pferde mitten im Schweigen der Steppe. Der alte Jäger sah, wie sie einen Augenblick anhielten und sich berieten, aber ihre Stimme gelangte nicht bis zu ihm.
   »Warum dieser Aufenthalt, Diaz?« sagte der Herzog von Armada und nicht ohne etwas Ungeduld zu seinem Vertrauten. »Die Zeit drängt; wir haben schon zuviel verloren!«
   »Die Vorsicht fordert, daß wir nicht so vorwärts marschieren, ohne die Gegend zu rekognoszieren.«
   »Stimmt sie nicht mit der Beschreibung überein, die Cuchillo uns von ihr gegeben hat?«
   »Das schon, aber der Schelm muß sich nicht weit von hier versteckt haben, weil wir eben seine Spuren in der Richtung nach jenem Felsen hin wiedergefunden haben; vielleicht ist er nicht allein, und wir haben alles von ihm zu befürchten.«
   Don Estévan machte eine verächtliche Gebärde. »Diaz täuscht sich nach meiner Meinung nicht«, sagte Baraja. »Niemand soll mich glauben machen, daß ich nicht etwas wie den Schatten eines Menschen auf dem Gipfel jenes Felsens gesehen habe.«
   »Alle jene am Eingang dieser Engpässe von den Indianern niedergelegten Opfergaben«, fügte Oroche hinzu, »beweisen, daß dieser Ort sehr von ihnen besucht ist; er ist vielleicht keine so vollständige Einöde, als es den Anschein hat. Die Indianer sind mehr zu fürchten als Cuchillo, und das Leben Don Estévans darf man am wenigsten aussetzen.«
   Don Estévan fügte sich diesen Gründen, und Bois-Rosé sah hinter einer Art von Brustwehr, wie Oroche den Auftrag erhielt, die Gegend zu untersuchen, vom Pferd stieg und sich von der Gruppe trennte.
   »Ach«, sagte Bois-Rosé mit leiser Stimme, »ich erkenne jetzt unter diesen Reitern einen von denen, die ich nachts an der Poza gesehen habe, und zwar denjenigen, der sich Don Estévan nennen läßt … und der niemand anderer ist als Don Antonio von Mediana … Sein Schicksal liefert ihn endlich in unsere Hände!«
   »Don Antonio von Mediana?« wiederholte Fabian. »Ist es möglich? Täuschst du dich auch nicht?«
   »Er ist es, sage ich euch.«
   »Ach«, sagte Fabian, »jetzt sehe ich ihn; der Finger Gottes war es, der mich wider meinen Willen nach diesem verfluchten Ort trieb. Geist meiner Mutter«, fügte er ganz leise hinzu, »freue dich in der Tiefe deines Grabes!«
   Pepe schwieg, aber bei dem Namen, den er eben vernommen hatte, hob er ebenfalls den Kopf. Der Haß leuchtete in seinem Blick, und sein Auge schien die Entfernung zu messen, die ihn noch vom Gegenstand dieses Hasses trennte. Kaum hätte ein geschickter Schütze wie Bois-Rosé einen von den Reitern getroffen, und Pepe versteckte sich wieder hinter den zackigen Felsen. »Richte dich doch nicht so weit empor, Pepe«, sagte der Kanadier, »du wirst sonst gesehen werden!«
   »Bemerkst du hinter ihnen keine anderen Reiter?« fragte Fabian.
   »Niemand. Von der Spitze dort unten, wo der Fluß sich in zwei Arme teilt, bis hierher sehe ich nur Nebel und Sonne und kein lebendes Wesen … sofern nämlich«, fuhr Bois-Rosé fort, nachdem er einen Augenblick innegehalten hatte, als suchte er sich die Erscheinung eines fernen Gegenstandes zu erklären, »sofern, wie ich annehme, jene schwarze Masse, die ich auf dem Fluß treiben sehe, ein abgestorbener, fortschwimmender Baum ist. Jedenfalls aber – mag es nun ein Stamm oder ein Rindenkanu sein – folgt der schwarze Körper der Strömung des Wassers und entfernt sich folglich von uns.«
   »Was liegt daran?« fragte Fabian, der sich viel mehr für die Überwachung Don Estévans als für die Aufklärung eines fernen Geheimnisses interessierte. »Beschreibe mir die Reiter, die den Führer begleiten; vielleicht kann ich sie an der Schilderung, die du davon entwirfst, erkennen.«
   »Aha!« fuhr der Kanadier fort. »Das Rindenkanu oder der Baumstamm …«
   »Laß doch, um Gottes willen, dieses ferne Ding ruhen!« sagte Fabian, von einer wütenden Ungeduld ergriffen. »Was haben wir uns darüber Sorge zu machen?« »Frage auf einem unbekannten Meer den Matrosen im Mastkorb, ob er sich über die Felsenriffe beunruhigen soll. Wohlan! Wenn ich es denn aussprechen muß: Dieser schwarze Körper kann ein Rindenkanu sein; und Gott gebe, daß es nicht hier mit einigen von diesen Freibeutern landet, deren es so viele in der Steppe gibt. Gut, das Kanu verschwindet im Nebel.«
   »Die Reiter? Die Reiter?« wiederholte Fabian mit dumpfer Stimme.
   »Was die drei Reiter betrifft, so kenne ich sie nicht. Es ist einer dabei, dessen Wuchs gerade und schmächtig ist wie eine Binse; welch ein schönes Pferd reitet er!
   »Ein rotbraunes Pferd, goldene Tressen an seinem Filzhut, edles Gesicht?«
   »Geradeso.«
   »Es ist Pedro Diaz.«
   »Hilf, Himmel!« fuhr Bois-Rosé fort. »Da ist ein anderer, der hat wohl Gefallen daran gefunden, seinen Mantel zu zerfetzen.«
   »Das ist Oroche«, unterbrach ihn Fabian. »Und was tun sie jetzt? Aber es wäre wirklich eine Feigheit, uns jetzt nicht zu zeigen, wo Gott uns Don Antonio fast allein zuschickt!«
   »Geduld!« sagte Pepe. »Ich habe ebenso wie Ihr ein Interesse, ihn nicht entkommen zu lassen, aber Übereilung kann alles verderben. Wenn man fünfzehn Jahre gewartet hat, so kann man wohl noch eine Minute länger warten. Sind sie allein, Bois-Rosé, oder bemerkst du in der Ferne noch das übrige Gefolge?«
   »Der Sand wirbelt zwar dort unten, aber es ist der Wind, der ihn aufjagt; sie sind allein. Ach, seht, sie halten an, als ob sie sich orientieren wollten! Sie blicken nach allen Seiten hin. Da steigt der Mann mit dem zerfetzten Mantel vom Pferd und nähert sich der Weideneinfassung.«
   »Ja«, sagte Fabian, »sie haben gute Gründe, den Weg zu wissen; aber befindet sich nicht unter ihnen ein Mann in einer Gamuza auf einem Apfelschimmel? Wenn es der Fall ist, so ist es Cuchillo.«
   »Er ist nicht dabei«, erwiderte der Jäger. »Doch halt – der Mann mit dem Mantel bückt sich, er rafft Sand auf und schwingt ihn in der Hand. Er öffnet halb den Lianenvorhang, er verschwindet hinter der Hecke … Ach, der Schelm hat die Goldmine gefunden«, fuhr der Jäger fort; »aber ich müßte mich sehr irren, wenn wir nicht bald mit ihm Abrechnung halten.«
   Einen Augenblick war alles still; die drei Freunde hielten selbst den Atem an.
   Der Jäger nahm jedoch bald seine Beobachtungen wieder auf. »Es scheint mir, als ob das Wasser des Sees sich bewegte«, sagte er. »Ach, der Mann mit dem Mantel ist aus der Umzäunung herausgetreten; er spricht mit einem seiner Gefährten, und beide springen wie wahnsinnig umher. Die Freude macht sie verrückt, ich kann es mir recht gut denken. Selten haben diese Leute, die nur Gold suchen, eine Mine wie diese hier gefunden; aber sie sind allein, und der Augenblick ist da, wo wir ihnen begreiflich machen müssen, daß diese Mine nur uns allein gehört. Wir können nicht Christen wie Hunde oder – was dasselbe ist – wie Apachen töten! Wir wollen sie also auffordern, sich auf Gnade oder Ungnade zu ergeben.«
   Bois-Rosé stand bei diesen Worten langsam auf. Er glich dem Adler, der die mächtigen Flügel schüttelt, ehe er sie in ihrer ganzen Ausdehnung entfaltet und sich in schnellem Flug wie der Blitz von seinem erhabenen Horst in die Ebene stürzt.
   Oroche und Baraja waren mit der Prüfung der Gegend zufrieden; sie schien vollständig öde zu sein. Sie waren darum wieder auf ihre Pferde gestiegen und hatten Don Estévan und Pedro Diaz, die zurückgeblieben waren, ein Zeichen gegeben, zu ihnen zu stoßen. Obgleich die beiden Kundschafter durch den funkelnden Anblick des Val d‘Or ganz geblendet waren, so hatten sie doch die von Cuchillo auf dem Sand zurückgelassenen Spuren nicht unbemerkt lassen können. Sie erwarteten die Ankunft ihres Führers, um seine Befehle darüber zu vernehmen.
   Die beiden Goldsucher hatten ebenso wie Cuchillo und Pepe vor ihnen zu gleicher Zeit in ihrem Herzen den Biß des Dämons der Habgier gefühlt. Diese düstere Gegend, diese öden Abgründe, die Gewißheit, im ganzen Lager die einzigen zu sein, die mit Don Estévan und Diaz das Geheimnis dieser schwindelerregenden Goldmine teilten – alles flüsterte unheimliche Ratschläge in ihr Ohr.
   Ohne Zweifel sind die Verbrechen, die der Anblick eines Schatzes hervorruft, unter dem Sinnbild von gierigen Drachen verstanden, die nach heidnischen oder christlichen Legenden in dessen Nähe wachen. Wenn Don Estévan und Pedro Diaz nicht wieder ins Lager zurückkehrten, so blieben Baraja und Oroche allein. Später würden sie sich dann schon gegenseitig voneinander zu befreien suchen. Das waren die Gedanken, die die Seelen der beiden Kundschafter durchflogen, als die Reiter zu ihnen stießen. Das war auch der Ausdruck des Blickes, den Baraja und Oroche miteinander wechselten.
   »Wir haben die Spuren Cuchillos gesehen«, sagte der erste; »und wenn wir ihn gefangennehmen wollen, so müssen wir diese Berge sorgfältig durchsuchen.«
   »Cuchillo hat den Schatz gesehen und darf uns nicht entwischen«, fügte der zweite hinzu. »Ich denke wie Baraja, daß er sich in diesen Abgründen versteckt hält und hofft, daß wir ihm nicht dahin folgen werden.«
   Die beiden Schelme wußten, daß die dunklen Nebelberge viele Geheimnisse auf ewig in sich verschließen konnten.
   »Don Estévan«, sagte Pedro Diaz, »ich bin jetzt der Meinung, daß wir zum Lager zurückkehren.«
   Don Antonio zögerte einen Augenblick, und in dieser Zeit schlug das Herz ungestüm in Barajas und Oroches Brust.
   Es war gut, Diaz‘ Rat zu befolgen – und niemand wußte es besser als die beiden Taugenichtse —, aber es war zu spät. Sie waren in der Schußweite der drei Jäger, die auf der Spitze der Pyramide im Hinterhalt lagen und alle ihre Bewegungen überwachten; jetzt konnten sie nicht mehr fliehen. Ein schreckliches Erwachen sollte die gierigen Träume Barajas und Oroches zerstreuen.
   »Es ist Zeit!« sagte Bois-Rosé.
   »Ich muß Don Antonio lebendig haben!« sagte Fabian kurz. »Richtet euch danach; das übrige kümmert mich wenig.«
   Als er geendet hatte, richtete sich der Kanadier in seiner ganzen Höhe empor; er stieß einen Schrei aus, der plötzlich in den Ohren der vier zuletzt Gekommenen widerhallte und ihnen einen Ausruf der Überraschung entriß, der durch den gigantischen Wuchs des Kanadiers und durch seinen sonderbaren Anzug noch verdoppelt wurde.
   »Wer seid ihr? Was wollt ihr?« rief eine Stimme, die Fabian als die Don Antonios erkannte.
   »Wer wir sind?« antwortete der Jäger. »Ich will es euch sagen und euch zuerst an eine Wahrheit erinnern, die man weder in meinem Vaterland noch in der Steppe jemals bestreitet, nämlich daß das Land dem gehört, der es zuerst in Besitz nimmt! Da ihr uns nun nicht habt hierherkommen sehen, so müssen wir wohl vor euch hier gewesen sein. Wir sind also die einzigen Herren dieser Gegend. Was wir wollen, ist, daß ihr euch in guter Haltung entfernt – das heißt drei von euch —, daß aber der vierte sich uns auf Gnade und Ungnade ergibt, damit wir ihn an ein zweites Steppengesetz erinnern, das Blut für Blut fordert!«
   »Das ist irgendein Einsiedler, den die Einsamkeit verrückt gemacht hat!« sagte Pedro Diaz, der den Bruder der Büchse und des Messers mit einem friedlichen Einsiedler verwechselte.
   »Nehmt euch in acht!« sagte Baraja. »Ich kenne diesen Mann; er ist der gefürchtetste Jaguartöter, den ich jemals gesehen habe. Halt, Diaz! Wir haben keine Aussicht auf Erfolg!«
   »Was kümmert mich das?« rief Pedro Diaz.
   »Zu fordern, daß man sich ohne Schwertstreich zurückziehen soll! Einem solchen Schatz gegenüber, Freund«, rief Oroche, indem er auf das Val d‘Or zeigte, »läßt man sich eher das Herz aus der Brust reißen, als daß man irgend jemandem weicht!«
   »Ihr habt es gewollt«, erwiderte der Kanadier phlegmatisch.
   »Wartet«, sagte Pedro Diaz; »ich will der Unterredung mit einem Büchsenschuß ein Ende machen.«
   »Nein«, sagte Mediana und hielt ihn zurück, »laßt uns doch erst sehen, wie weit die Tollheit dieses Sonderlings geht. Wer unter uns ist denn derjenige, Freund«, rief er mit spöttischem Ton, »den Ihr das Gesetz der Steppe lehren wollt?«
   »Ihr seid es, wenn es Euch gefällt!« rief Fabians Stimme, der plötzlich im selben Augenblick hervortrat, wo sich auch Pepe an seiner Seite erhob.
   »Ah, Ihr seid es immer noch«, antwortete Mediana mit einer Stimme, die fast beim ersten Laut von Wut und Überraschung erstickt wurde.
   Fabian verbeugte sich feierlich. »Und ich folge Euch vierzehn Tage lang Schritt für Schritt und danke Gott, daß ich endlich eine alte Rechnung bezahlen kann, die schon fünfzehn Jahre unberichtigt geblieben ist.«
   »Wer seid Ihr denn?« fragte Don Estévan, der vergeblich zu erraten versuchte, mit wem er es zu tun hatte, so sehr hatten die Jahre und der Anzug den früheren Grenzjäger und Küstenwächter verändert.
   »Pepe der Schläfer, der nicht wie Ihr seinen Aufenthalt im Presidio von Ceuta vergessen hat.«
   Bei diesem Namen, der ihm die Drohung Fabians an der Brücke über den Salto de Agua erklärte, verlor Don Estévan plötzlich die verächtliche Miene, die sein Gesicht bis jetzt gezeigt hatte. Eine plötzliche Ahnung sagte ihm, daß sein Glück im Abnehmen begriffen sei. Er warf einen unruhigen Blick um sich her. Die hohen Felsen, die das Val d‘Or auf der einen Seite umgaben, konnten sie gegen das Feuer der Jäger, die die Plattform besetzt hielten, sichern. Ein kurzer Raum trennte ihn davon, und einen Augenblick riet ihm die Klugheit, nach dieser Deckung zu stürzen; aber sein Stolz empörte sich dagegen, und er blieb auf seinem Platz.
   »Nun, so rächt euch doch an einem Feind, der die Flucht verschmäht!« rief Pepe stolz dem Spanier zu.
   »Habe ich Euch nicht gesagt«, erwiderte kaltblütig der letztere, »daß wir Euch nur lebendig haben wollen?«


   42. Der Gefangene

   Während seiner ganzen wechselvollen Laufbahn als Soldat und als Seemann hatte sich der Herzog von Armada niemals in einer schrecklicheren Gefahr befunden, als diejenige war, die ihn jetzt bedrohte. Die Ebene bot ihm keinen Schutz gegen die Büchsen des kanadischen Jägers und des Spaniers. Was waren die Feuerwaffen seiner Reiter in ihren ungeschickten Händen gegen Büchsen mit gezogenem Lauf und doppelt so großer Tragweite in den Händen zweier Schützen, deren Auge untrüglich war, deren Arm niemals zitterte?
   Diese furchtbaren Gegner hatten noch den Vorteil einer uneinnehmbaren Stellung voraus: sie hatten Felsenzinnen, hinter denen sie geschützt standen. Sobald ein Reiter eine Bewegung machte, eine feindliche Gebärde, so war es wenigstens um zwei von ihnen geschehen.
   Don Antonio übersah die ganze Größe der Gefahr, der er ausgesetzt war; aber wir müssen ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sein Mut darum nicht kleiner wurde. Indes konnte diese Lage nicht lange dauern. Alle fühlten das – auf dem Gipfel des Felsens und unten in der Ebene. »Auf! Machen wir endlich der Sache ein Ende!« rief die donnernde Stimme des Kanadiers, dessen Hochherzigkeit nur mit Widerstreben die Vorteile seiner Stellung benützte, während sein Gewissen ihm Vorwürfe machte, Blut zu vergießen, wenn es sich vermeiden ließ. »Ihr habt alle gehört, daß wir es nur mit eurem Chef zu tun haben; ihr müßt euch nun entschließen – ich will nicht sagen, ihn uns auszuliefern, wohl aber ihn durch uns gefangennehmen zu lassen. Zieht euch also in Güte zurück, wenn ihr nicht wollt, daß wir euch wie Apachen oder Jaguare behandeln.«
   »Niemals!« rief Diaz. »Wir werden keine solche Feigheit begehen. Ihr seid zuerst gekommen – gut; wir wollen das Feld räumen. Aber Don Estévan wird sich wie wir mit allen Kriegsehren zurückziehen!«
   »Abgeschlagen!« rief Pepe. »Wir müssen den haben, den ihr Don Estévan nennt.«
   »Widersetzt euch nicht der Gerechtigkeit Gottes«, fügte Fabian hinzu; »die Sache dieses Mannes kann nicht die eurige sein. Wir geben euch fünf Minuten zum Überlegen, dann werden unsere Büchsen und das gute Recht zwischen uns entscheiden.«
   »Sagt doch, Don Tiburcio«, rief Oroche Fabian zu; »sofern wir nun einwilligen, uns in Güte zurückzuziehen, soll es uns dann nicht gestattet sein, eine Ladung von diesem Gold mitzunehmen?«
   »Jeder etwa einen Hut voll?« fuhr Baraja fort.
   »Auch nicht das kleinste Stückchen!« antwortete Pepe.
   »Dieses Gold gehört Don Fabian ganz allein!«
   »Und wer ist dieser glückliche Sterbliche, den Ihr Don Fabian nennt?« fragte Oroche.
   »Dieser hier«, entgegnete Bois-Rosé und zeigte auf Tiburcio.
   »Jedem Señor, was ihm gehört«, sagte Oroche und grüßte Fabian mit einem Ausdruck von Haß und Neid, die wegen dieses fabelhaften Glücks in ihm rege wurden.
   Pepe nützte diesen Augenblick des Schweigens, das diesen letzten Worten des langhaarigen Gambusinos folgte, um leise zum Kanadier zu sagen: »Deine Großmut kann dich teuer zu stehen kommen, Bois-Rosé! Diese beutegierigen Geier in ihr Lager zurückkehren lassen, heißt uns die ganze Meute auf den Hals ziehen, denn es scheint, daß die Indianer von ihnen geschlagen worden sind. Ich sage dir, diese Menschen dürfen nicht von hier fort. Gebe Gott, daß sie nicht einwilligen, sich zurückzuziehen! Das ist der Grund, warum ich nicht will, daß sie das kleinste Körnchen von diesem Gold mitnehmen.«
   »Du hast vielleicht recht«, antwortete Bois-Rosé mit nachdenklicher Miene, »aber sie haben mein Wort, und ich nehme es nicht wieder zurück.«
   Pepe hatte sich nicht getäuscht. Die wankende Treue Oroches und Barajas hätte nicht lange standgehalten, wenn sie sich von dem wunderbaren Schatz, den sie halb gesehen hatten, ihren Anteil hätten mitnehmen dürfen, und die abschlägige Antwort des Spaniers brachte die beiden Abenteurer in grenzenlose Wut, die ihre Treue gegen ihren Chef ersetzte.
   »Lieber auf der Stelle sterben, als einen Fußbreit zurückweichen!« rief Oroche wütend. »Gut«, sagte Pepe leise.
   »Ihr habt nur noch zwei Minuten, um euch zu entscheiden!« rief Bois-Rosé, dessen Büchsenlauf sich genau auf die drei Reiter richtete und das trockene Kraut zerquetschte. »Glaubt mir, erspart uns ein unnützes Blutvergießen; es ist noch Zeit dazu.«
   »Zurück, zurück! Die Zeit drängt!«
   Mediana bewahrte mit stets erhobener Stirn ein düsteres Schweigen.
   Pedro Diaz war unerschütterlich in seinen Gefühlen von ritterlicher Ehre; er war entschlossen, mit dem Chef, dessen Leben ihm für die Wiedergeburt seines Vaterlands so kostbar war, zu sterben, und warf einen fragenden Blick auf Don Estévan.
   »Kehrt ins Lager zurück!« sagte der spanische Señor. »Überlaßt einen Mann seinem Geschick, der von nun an Eurer Sache nichts mehr nützen kann, und kehrt zurück, meinen Tod zu rächen!«
   Aber Diaz blieb unbeweglich wie eine Reiterstatue; bald darauf aber näherte sich der gewandte Reiter Don Estévan, ohne daß man sah, wie sein Fuß oder seine Hand sein Pferd berührte. Als sein Knie an das des Spaniers stieß, nahm er seine frühere Regungslosigkeit wieder an. Den Blick auf den kanadischen Jäger geheftet und ohne daß seine Lippen sich zu bewegen schienen, fand er Gelegenheit, seinem Chef ins Ohr zu flüstern: »Tretet fest in die Bügel…; nehmt Euer Pferd zusammen … und laßt mir freie Hand!«
   Der frühere Grenzjäger folgte unterdessen mit wachsamen Augen den verschiedenen Bewegungen seiner Gegner.
   Don Estévan machte ein Zeichen mit der Hand, als ob er einen Aufschub verlangen wollte. »Oroche und Baraja«, sagte er zu ihnen so laut, daß seine Worte bis auf die Plattform des Felsens gehört wurden, »das Lager bedarf aller seiner Verteidiger; kehrt mit dem edlen und braven Diaz dahin zurück, er soll von nun an euer Chef sein! Ihr werdet den Männern, die ich befehligte, sagen, daß dies mein letzter Wille ist.«
   Oroche und Baraja hörten mit scheinbarer Unentschiedenheit die Aufforderung Don Estévans; aber auf dem Grund ihrer Seele bedachten die beiden Abenteurer, daß es freilich ein schreckliches Herzeleid sei, mit ihren gierigen Händen nicht in den fast vor ihren Füßen liegenden Goldklumpen wühlen zu können; daß es aber doch besser sei, sich auf Gnade und Ungnade zu ergeben und das Leben mit der Hoffnung zu erhalten, an einem oder dem anderen Tag zum Val d‘Or zurückzukehren. Sie waren also entschlossen, sich womöglich nicht töten zu lassen; beide wollten aber, ohne sich verabredet zu haben, anstandshalber ihr scheinbar edles Zögern wenigstens so lange wie möglich verlängern.
   »Ich will wetten, daß dieser Schelm, der mit der Hand durch seine langen Haare fährt, als ob es ihm widerstrebte, Reißaus zu nehmen, ebenso wie sein Gefährte in der Lederweste den Befehlen seines Führers niemals mit größerem Eifer gehorcht hat. Aber bei allen Teufeln! Ist das nicht einer von den beiden Schelmen, die im Wald bei der Hacienda auf uns geschossen haben?«
   »Ich weiß es nicht«, antwortete Bois-Rosé. »Ich war zu weit von ihnen entfernt, um ihr Gesicht zu erkennen; was liegt auch daran?«
   In diesem Augenblick machte Baraja auch ein Zeichen mit der Hand. »Wir können nur den Befehlen unseres Führers gehorchen«, sagte er. »Wir kapitulieren, sosehr sich auch unser Stolz dagegen sträubt.«
   »Die Geschichte ist voll von Kapitulationen«, fügte Oroche hinzu, »und ich wüßte nicht, daß man sich dadurch entehrt hätte, wenn man sich dem Feind ergibt, sobald das Los der Waffen gegen die eine Partei entschieden hat. Wir sagen also Euch, Don Fabian, und Euren beiden Freunden ergebenst Lebewohl.«
   Ohne den Anschein zu haben, als bemerkten sie den verächtlichen Blick, den ihnen Diaz zuschleuderte, schwenkten die beiden würdigen Männer mit der einen Hand ihren Hut, wandten mit der anderen ihre Pferde und entfernten sich, als Pepe seine Büchse mit unheimlichem Geräusch auf die Plattform stieß.
   »Con mil rayos!« rief der frühere Grenzsoldat mit furchterregender Stimme. »Lautet denn unser Vertrag, daß ihr euch mit Waffen und Gepäck zurückziehen sollt?«
   »So haben wir es verstanden!« rief Oroche. »Wenn es anders gemeint ist, wollt ihr dann vielleicht herabkommen und unsere Waffen in Empfang nehmen?«
   »Werft sie in den See dort unten, und macht euch davon!« antwortete Pepe.
   »So sei es!« antwortete Baraja, der seine Büchse mit einer Hand ergriff, als ob er sie fortwerfen wollte, sie jedoch schnell an die Schulter brachte und auf den Gipfel der Anhöhe Feuer gab.
   »Seht ihr?« rief Pepe mit spöttischer Miene, ohne nur eine Bewegung zu machen, als auch Oroche Anstalten machte, dem Beispiel seines Gefährten zu folgen.
   Der Gambusino jedoch verlor seine Zeit nicht mit Zielen, sondern spornte sein Tier heftig dem Pferd Barajas nach, das eben zur Seite gesprungen war, und beide verschwanden hinter dem Felsenwall, der sich auf der einen Seite des Val d`Or erhob.
   »Das ist deine Schuld, Bois-Rosé! Du bist zu großmütig, und wir werden nun diese beiden Schelme früher oder später aus ihrer Festung vertreiben müssen. Ach, hätte ich doch nur auf mich gehört!«
   Der Kanadier zuckte mit den Schultern und murmelte einige Worte von Gesindel und trauriger Rache, als plötzlich Don Estévan einen verzweifelten Entschluß zu fassen schien.
   »Bücke dich, um Gottes willen, Fabian!« rief Bois-Rosé. »Der Schelm will Feuer geben!«
   »Vor dem Mörder meiner Mutter niemals!« sagte Fabian und blieb aufrecht stehen.
   Aber rasch wie der Gedanke senkte sich der Arm des Kanadiers schwer auf seine Schulter und ließ ihn aufs Knie niedersinken.
   Don Estévan suchte vergebens ein Ziel für sein doppelläufiges Gewehr. Man sah außer der furchtbaren, auf ihn gerichteten Büchse Bois-Rosés niemand mehr auf der Plattform, obgleich der Jäger, den Befehlen Fabians gehorsam, den Kampf nicht dadurch beenden wollte, daß er den Mann vom Pferd schoß, den sein Sohn lebendig haben wollte.
   Diaz beschloß diese Lage der Dinge, von der er nur das Resultat sah, den schrecklichen Beweggrund aber nicht ahnte, zu nützen. Er schwang sich mit ebensoviel Mut als Verstand und Gewandtheit hinter Don Estévan, der seinem Rat gemäß an seiner Seite geblieben war, auf die Kruppe. Der unerschrockene Parteigänger schlang seine Arme um den Reiter, den der Stoß erschüttert hatte, ergriff die Zügel des Pferdes, ließ es rasch sich bäumen und umwenden und entfloh, indem er mit seinem Leib wie mit einem Schild den Führer deckte, den er mit Gefahr seines Lebens retten wollte.
   Während Fabian und Pepe, von gleicher Leidenschaft getrieben, sich auf die Gefahr hin, ihre Glieder zu zerschmettern, die abschüssigen Seiten des Hügels hinabgleiten ließen, folgte Bois-Rosé mit seiner Büchse, deren langer, schwerer Lauf in seinen Händen wie auf einer eisernen Gabel ruhte, den Sprüngen des Pferdes in der Ebene. Die beiden Reiter flohen in gerader Linie vor ihm und schienen nur aus einem Leib zu bestehen. Die Kruppe des Pferdes oder Diaz‘ Schultern – das war das einzige Ziel für seine Kugel. Kaum war einmal von Minute zu Minute der Kopf des Tieres vor ihnen sichtbar. Diaz zu opfern, war ein unnützer Mord, denn Don Estévan entkam doch; noch einen Augenblick mehr, und die Flüchtlinge waren außer Schußweite. Aber der Kanadier gehörte zu jenen Schützen, die einen Fischotter oder einen Biber mit der Kugel ins Auge treffen, um den Balg zu schonen – und hier sollte er den Kopf eines Pferdes treffen!
   Nur eine Sekunde bog der edle Renner, der die beiden Reiter davontrug, den Kopf unter dem Einfluß des Zügels leicht zur Seite – diese Sekunde genügte dem Kanadier. Ein plötzlicher Schuß, eine Kugel, die so nahe an ihren Wangen vorbeipfiff, daß die Haut schauerte, das war alles, was die beiden Reiter vernahmen, die kopfüber vom Pferd rollten, das tödlich getroffen zusammenstürzte.
   Don Antonio von Mediana und Pedro Diaz erhoben sich kaum, zerstoßen und zerquetscht von ihrem Fall, als Fabian und der Spanier – den Dolch zwischen den Zähnen, die Büchse in der Hand – auf sie zuliefen; ziemlich weit hinter seinen Freunden kam der Kanadier in gigantischen Sprüngen, indem er zugleich wieder seine Büchse lud.
   Als dies geschehen war, stand der Kanadier unbeweglich wie eine zweiglose Eiche.
   Pedro Diaz war treu bis zum letzten Augenblick; er lief zum Gewehr, das der Hand Don Estévans entfallen und weit weggerollt war, und brachte es ihm zurück. »Verteidigen wir uns bis auf den Tod!« sagte er und zog aus dem Knieband seiner Reitgamaschen ein langes Messer.
   Der spanische Señor stand wieder fest auf den Füßen, legte sein Gewehr an und schien einen Augenblick unentschlossen, ob der erste Schuß Fabian oder Pepe gelten sollte; aber der Kanadier wachte in der Ferne. Don Estévan hatte Fabian, den er sich als Opfer ausersehen hatte, noch nicht aufs Korn genommen, als eine Kugel aus Bois-Rosés Büchse die Waffe in seinen Händen traf, von der er eben Gebrauch machen wollte. Das Blei zerbrach das Gewehr an der Stelle, wo der Lauf am Schaft befestigt ist. Die Büchse entschlüpfte den Händen Don Estévans; er selbst verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Sand.
   »Endlich! Nach fünfzehn Jahren!« rief Pepe, indem er sich auf Don Antonio stürzte und ein Knie auf seine Brust setzte.
   Vergebens wollte der Spanier Widerstand leisten. Sein Arm war durch die Heftigkeit des Stoßes, wodurch ihm seine Büchse aus der Hand gerissen wurde, betäubt und versagte ihm jeden Dienst. In einem Augenblick hatte Pepe den wollenen Gürtel, der mehrmals um seinen Leib geschlungen war, aufgeknüpft und band damit die Hände und Füße seines Feindes fest zusammen. Diaz konnte ihm nicht zu Hilfe kommen, er mußte sich gegen Fabian verteidigen.
   Fabian kannte Pedro Diaz kaum. Er hatte ihn nur einige Stunden in der Hacienda del Venado gesehen; aber sein hochherziges Benehmen hatte ein warmes Mitgefühl im Herzen des jungen Mannes erweckt – er wollte sein Leben schonen. »Ergebt Euch, Diaz!« rief er, indem er einem Dolchstoß auswich, den ihm der Abenteurer bestimmt hatte, der entschlossen war, zu sterben und sich nicht zu ergeben.
   Während der kurzen Zeit, wo der spanische Jäger Don Antonio knebelte, kämpften Fabian und Diaz mit gleicher Geschicklichkeit und Gewandtheit. Fabian war zu großmütig, um von seiner Feuerwaffe gegen einen Feind Gebrauch zu machen, der zu seiner Verteidigung nur einen Dolch hatte; er suchte nur seinen Gegner zu entwaffnen. Diaz aber war blind vor Rachsucht und sah die edelmütige Anstrengung des jungen Grafen von Mediana nicht. Er hatte den Lauf des Gewehrs in der Hand, und mit dem Kolben suchte er wie mit einer Keule den Arm mit dem Dolch zu treffen, dessen rasche Bewegungen ihn jeden Augenblick bedrohten; aber er hatte es mit einem nicht weniger gewandten und kräftigen Gegner, als er selbst war, zu tun. Diaz sprang rechts und links, wich den Schlägen Fabians aus, und in dem Augenblick, wo der junge Mann den Arm des Mexikaners zu lähmen dachte, fuhr sein Hieb durch die Luft, und abermals blitzte das Messer wie ein Blitzstrahl dicht an seinem Körper.
   Bois-Rosé lud seine Büchse nicht wieder, sondern lief hinzu, um einen Kampf zu beenden, in dem Fabian durch seine Großmut eben dabei war, den kürzeren zu ziehen. Auch Pepe, der Don Antonio unfähig gemacht hatte, am Kampf teilzunehmen, stürzte auf die Kämpfenden zu.
   Der Mexikaner war nun von drei Männern bedroht, die ihre Kräfte gegen ihn vereinten; er wollte nicht ohne Rache sterben. Er zog den Arm lebhaft zurück und schleuderte das Messer, mit dem er bewaffnet war, wie einen Pfeil auf Fabian los.
   Aber Fabian hatte die Bewegung seines Gegners nicht aus dem Auge verloren, und in dem Augenblick, wo der Dolch pfeifend Diaz‘ Hand entfuhr, begegnete die Büchse Fabians, die er zu gleicher Zeit nach seines Gegners Brust geschleudert hatte, im Flug der mörderischen Waffe des Mexikaners. Der Dolch verlor seine Richtung und bohrte sich nicht weit von Fabian in den Sand; der Kolben des Gewehrs aber traf wie eine gewichtige Waffe mitten auf die Brust.
   »Demonio!« rief Pepe und umfaßte kräftig Diaz‘ nunmehr machtlose Arme. »Muß man Euch denn töten, wenn Ihr Euch gefangengeben sollt … Ihr seid nicht verwundet, Don Fabian, Gott sei Dank! Sonst … sagt, was machen wir wohl mit Euch, Freund?«
   »Was Ihr mit dem edlen Kavalier dort machen werdet«, antwortete der Mexikaner keuchend und sah dabei auf Don Estévan, der auf dem Sand lag und seine Bande schüttelte.
   »Fordert nicht, sein Los mit ihm zu teilen«, erwiderte Fabian; »die Tage dieses Mannes sind gezählt!«
   »Welches auch sein Schicksal sein mag – ich will es teilen«, sagte Diaz, der sich vergebens der überlegenen Kraft des spanischen Jägers zu entziehen suchte. »Ich nehme von euch weder Schonung noch Gnade!«
   »Spielt nicht mit unserem Zorn!« rief Pepe, dessen heftige Leidenschaften sich entzündet hatten. »Ich bin wenig daran gewöhnt, meinen Feinden zweimal Schonung anzubieten.«
   »Ich kenne das Mittel, das ihn geneigt machen wird, Gnade anzunehmen«, sagte Fabian, der Diaz‘ Messer wieder aufhob. »Laßt ihn los, Pepe; es gibt ein Mittel, sich mit einem mutigen Mann zu verständigen.«
   Fabians Ton ließ keine Widerrede zu; Pepe öffnete die Arme und löste so das Eisenband, das den Mexikaner fesselte. Dieser richtete erstaunt, aber mit verächtlichem Mund seine Augen der Reihe nach auf seine drei Gegner.
   »Hier, Diaz«, fuhr Fabian fort, indem er seine Büchse weit von sich warf, »nehmt Eure Waffe zurück, und hört mich an!«
   Bei diesen Worten reichte Fabian dem Abenteurer mit so edlem Ausdruck seinen Dolch hin, daß dieser davon betroffen wurde; unbewaffnet ging er auf ihn zu, die Brust im Bereich seines Arms. Diaz nahm sein Messer zurück, aber sein Gegner hatte ihm nicht zuviel zugetraut. Die edle Einfachheit hatte seinen Zorn überwunden.
   »Ich höre Euch«, sagte er und ließ seinen Dolch zu seinen Füßen fallen.
   »Gut«, sagte Fabian mit einem Lächeln, das ihm Diaz‘ Herz gewann; »ich wußte, daß es so kommen würde.« Und er fuhr bald darauf fort: »Ihr stellt Euch, ohne es zu wissen, zwischen das Verbrechen und die gerechte Rache, die darauf folgt. Wißt Ihr denn, wer der Mann ist, für dessen Rettung Ihr Euer Leben aufs Spiel setzt, und wer diejenigen sind, die es edelmütig schonen wollen? Wißt Ihr nicht, ob wir nicht das Recht haben, von dem Chef, den Ihr ohne Zweifel nur unter dem Namen Don Estévan de Arechiza kennt, eine schreckliche Rechenschaft für eine Vergangenheit zu fordern, von der Ihr nichts wißt? Antwortet mir mit der ganzen Ehrlichkeit Eures Gewissens auf die Fragen, die ich Euch vorlegen will, und entscheidet dann, auf welcher Seite sich Gerechtigkeit und gutes Recht befinden.«
   Von solcher Sprache überrascht, hörte Diaz schweigend zu.
   Fabian fuhr fort: »Wenn der Zufall Euch in einem bevorzugten Stand hätte geboren werden lassen; wenn Ihr Erbe eines großen Vermögens, Träger eines berühmten Namens gewesen wärt, und ein Mann hätte Euch, um Euch dieses Vermögen und diesen Namen zu rauben und beides selbst zu besitzen, wider Euer Wissen unter den Haufen derer geworfen, die nicht einmal im Schweiße ihres Angesichts ihr täglich Brot sicher verdienen – würdet Ihr der Freund dieses Mannes sein?«
   »Ich würde sein Feind sein!« erwiderte Diaz.
   »Wenn dieser Mann«, fuhr Fabian fort, »Eure Mutter ermordet hätte, um bis auf die Erinnerung das zu verwischen, was die Natur aus Euch gemacht hatte, was würde er verdient haben?«
   »Die Strafe der Wiedervergeltung. Schlag für Schlag, Blut für Blut; so lautet das Gesetz.«
   »Wenn Ihr nun den Räuber Eures Namens und den Mörder Eurer Mutter lange Tage hindurch mitten unter stets sich erneuernden Gefahren hitzig verfolgt hättet, und das Los der Waffen hätte ihn endlich in Eure Hände fallen lassen, würdet Ihr das Gesetz, das Ihr anführt, auf ihn anwenden?«
   »Ich würde mich schuldig vor Gott und den Menschen glauben, wenn ich es nicht täte.«
   »Wohlan, Diaz«, fuhr Fabian nachdrücklich fort; »man hat mir meinen Namen, mein Vermögen geraubt, und man hat meine Mutter ermordet; aus der Tiefe des Abgrunds, in den man mich gestoßen hat, habe ich erst seit kurzer Zeit die Höhe messen können, von der man mich gestürzt hat; ich habe den Mörder meiner Mutter und den Räuber meines Namens verfolgt. Das Los der Waffen hat ihn in meine Hände gegeben, und dort ist er!«
   Als Fabian diese Worte gesprochen hatte, deren Ton nicht in die Ohren des Gefangenen klang, zeigte er Diaz mit dem Finger den Grafen von Mediana als den, den die Vorsehung eben in seine Hand gegeben hatte.
   Eine Wolke von Schmerz verdunkelte die Augen des Abenteurers beim Anblick des Chefs, dessen Todesurteil er, ohne es zu wissen, ausgesprochen hatte; denn das unerbittliche Rechtsgefühl, das Gott in das Herz des Menschen geprägt hat, sagte ihm, daß Don Estevan sein Schicksal verdient hatte, sofern Fabian ihn nicht mit Unrecht anklagte. Diaz senkte traurig das Haupt, erstickte einen Seufzer und schwieg.
   Während sich diese Ereignisse in diesem Winkel der unermeßlichen Steppe zutrugen, hätten die handelnden Personen des Dramas, das aufgeführt werden sollte, sehen können, wie Cuchillo die schwammige Decke über seinem Haupt emporhob, einen gierigen Blick auf das Val d‘Or warf und triefend den See verließ; wie einer von den bösen Geistern, denen der indianische Aberglaube diese düsteren Berge zur Wohnung gab.
   Aber die feierliche Lage nahm die ganze Aufmerksamkeit Diaz‘, Bois-Rosés und seiner beiden Gefährten in Anspruch.


   43. Die Schakale wollen den Anteil der Löwen haben

   Fabian, Bois-Rosé und der spanische Jäger hatten, beherrscht vom raschen Verlauf der Ereignisse im vorhergehenden Kapitel, einige Augenblicke lang das Verschwinden Barajas und Oroches ganz vergessen.
   Man hat genug von den geheimen Gedanken gesehen, die in den Herzen der beiden Taugenichtse einige Zeit vor der Katastrophe aufstiegen, durch die sie sich plötzlich von ihren Gefährten getrennt fanden; man wird also auch ihre Stimmung gegeneinander ahnen, als sie sich allein sahen.
   Der erste Büchsenschuß, den sie auf ihrer Flucht vernahmen – es war der, der das Pferd Don Estevans mit seinen beiden Reitern niederwarf —, tönte lustig in ihrem Herzen wider. Einer von den Besitzern dieses wunderbaren Geheimnisses war ohne Zweifel dem Schweigen des Todes anheimgefallen. Der andere mußte wahrscheinlich sein Geheimnis ebenfalls bald in eine bessere Welt mit hinübernehmen, wo man sich nicht mehr um alles Gold der Erde kümmert.
   Als sich beide hinter den steilen Felsen, die das Val d‘Or im Westen begrenzten, in Sicherheit erblickten, hatten sie keine Zeit verloren, um sich von dem Ort zu entfernen, der ihnen beinahe so verderblich geworden wäre. Diese Felsenkette hatte nach der Ebene hin eine ziemlich sanfte Abdachung und vereinigte sich wieder mit den Nebelbergen wie eine an deren Seiten stehende Geldkiste. Die beiden Abenteurer folgten dieser Art von Wall, und es wurde ihnen somit leicht, die undurchdringlichen Schlupfwinkel der Sierra zu erreichen. Sie machten nun in einer tiefen Schlucht halt, auf deren Grund sie sich, von dem über ihrem Kopf schwebenden Nebel bedeckt, vollständig in Sicherheit befanden. Hier überströmte Freude ihr Herz, und ihre Gefühle waren anfänglich zu lebhaft, als daß es ihnen möglich gewesen wäre, im ersten Augenblick auch nur ein Wort miteinander zu wechseln.
   »Erlaubt mir, Señor Oroche«, sagte Baraja, der zuerst wieder Worte fand, »Euch Glück zu wünschen, daß Ihr den Büchsen dieser halsstarrigen Jaguartöter entgangen seid.«
   »Um so lieber, Señor Baraja, als es Euch, wenn Euer Schädel von einer Kugel zerschmettert worden wäre … denn diese eingefleischten Teufel zielen immer den Leuten gar zu gern nach dem Kopf —, sehr schwer geworden wäre, Eure Komplimente an mich zu richten. Ich bin sehr froh, Euch am Leben zu sehen.«
   Hiermit schminkte nun Oroche die Wahrheit ein wenig. Im Grunde und ohne sich gerade Rechenschaft zu geben, warum, wäre er fast lieber allein geblieben. Die Nähe eines Schatzes weckt gewöhnlich bei den Menschen das Verlangen nach Einsamkeit.
   Vielleicht waren die Komplimente Barajas nicht aufrichtiger als die Oroches, und wir zweifeln, daß die Gewohnheit der Jaguartöter, ihren Feinden nach dem Kopf zu zielen, ihm nicht so betrübend als dem Gambusino vorgekommen sein würde, wenn dieser ihr Opfer geworden wäre. Tatsache ist, daß die beiden Schelme infolge gleicher Gedanken, die aus ihrer engen Freundschaft entsprangen, plötzlich träumerisch wurden.
   Ein Büchsenschuß, der vom Echo der Berge zurückgeworfen wurde, unterbrach ihre sympathischen Träumereien.
   »Das ist der zweite Schuß, der die tiefe Ruhe dieser Einöden stört. Der erste hat Diaz` Schädel zerschmettern müssen, und der Gedanke, daß der zweite ebenso die Feldzüge Don Estévans beendet hätte, wäre mir sehr schmerzlich«, sagte Oroche, der ziemlich schlecht sein lebhaftes Verlangen verbarg, das Geheimnis des Val d`Or allein zu besitzen.
   »Ich begreife es«, antwortete Baraja zerstreut; »diese Einöden sind schrecklich für zwei einsame Menschen, wie wir es nun sein werden.«
   Caramba! dachte Oroche. Sollte mich mein Freund Baraja – was er auch darüber sagen möge – denn schon als überflüssig bei ihm betrachten?
   »Warum zieht Ihr den Hahn Eurer Büchse auf, Señor Oroche?« fragte Baraja seinen Freund.
   »Weiß man denn, was sich in diesen Steppen ereignen kann? Seht, man muß auf alles vorbereitet sein.«
   »Ihr habt recht; man weiß nicht, was geschehen kann.« Bei diesen Worten ließ auch Baraja wie sein Freund das Schloß seiner Büchse spielen und setzte sich in Verteidigungszustand.
   Als ob der Dämon des Goldes, der diese Berge bewohnte und dessen mordgieriger Atem sie beide erbeben ließ, an den zügellosen Leidenschaften und wütenden Kämpfen, die das Val d`Or noch erwecken sollte, seine Lust gehabt hätte, hörte man plötzlich einen dumpfen, unterirdischen Lärm unter dem Dunstvorhang der Nebelberge.
   »Wie nun? Was sollen wir jetzt tun?« sagte Oroche, dessen Bestrebungen nach Einsamkeit, die anfänglich noch unbestimmter waren, auf erschreckende Weise immer bestimmter hervortraten.
   »Sind wir stark genug, diese drei verteufelten Jäger aus ihrer Festung zu vertreiben?«
   »Nein.«
   »Wohlan, so müssen wir zum Lager zurückkehren«, antwortete Baraja, »mit Verstärkung wiederkommen und die Räuber der Schätze, die in dem Euch bekannten Tal ausgebreitet liegen, niedermachen.«
   »Brechen wir also so schnell wie möglich auf!« rief Oroche mit Ungestüm.
   »Wir haben keine Minute zu verlieren«, fügte Baraja hinzu.
   Aber keiner von ihnen rührte sich – aus dem einfachen Grund, weil Oroche ebensowenig wie sein Freund es sich angelegen sein ließ, den Weg ins Val d`Or dem Schwarm raubgieriger Geier zu zeigen, die sie im Lager zurückgelassen hatten. Sie dachten ganz richtig, daß die drei Jäger – sollte auch jeder soviel Gold mitnehmen, als er selbst schwer war – doch immer noch mehr demjenigen von ihnen, der den anderen überlebte, übriglassen würden, als wenn die ganze Truppe der Abenteurer, von ihnen geleitet, sich auf die reiche Beute stürzte. Beide stellten sich bebend vor, wie dieses jungfräuliche, blitzende Val d`Or von ihren gierigen Gefährten überflutet und entweiht auf seiner besudelten Oberfläche nur noch die unreine Spur ihrer Schritte übrigbehalten würde.
   Wie heißhungrige Schakale auf die Entfernung des gesättigten Löwen lauern, um die Überbleibsel, die er verschmäht hat, zu verschlingen, so wollten auch Oroche und Baraja, ohne es auszusprechen, ganz allein das Fortgehen der Jäger abwarten, da deren Gegenwart sie beide zur Flucht nötigte.
   »Hört«, sagte Baraja, »ich will geradeheraus mit Euch sprechen.«
   Welche Lüge wird der Schelm mir erzählen? dachte Oroche bei sich. »Von Eurer Ehrlichkeit habe ich nicht weniger erwartet«, antwortete er laut.
   »Ihr fürchtet, daß wir bei der Rückkehr nach dem Lager auf unserer Flucht entdeckt würden?«
   »Ihr habt einen außerordentlichen Scharfsinn«, erwiderte Oroche.
   »Das ist ganz natürlich«, fuhr Baraja im Ton liebenswürdiger Gutmütigkeit fort; »zwei Menschen ziehen die Aufmerksamkeit mehr auf sich als einer.«
   »Man kann in den Gedanken eines Mannes nicht deutlicher lesen«, antwortete nun Oroche mit so viel Hingebung, daß Baraja einen Augenblick davor erschrak.
   »Wohlan, da Ihr so vollkommen meine Gedanken teilt, so werdet Ihr auch meine Absicht teilen«, sagte Baraja.
   »Ich nehme sie schon an, ohne sie genau zu kennen; ich habe niemals ein halbes Vertrauen zu meinen Freunden!«
   »Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr dieser schon gänzlich mißtraut?«
   »O Señor Baraja«, sagte Oroche, indem er sich mit einer Miene beleidigter Offenherzigkeit in den Lumpen wickelte, den er Mantel nannte, »ich falle ständig in das entgegengesetzte Extrem.«
   »Ich denke also, es ist gut, daß jeder von uns einen verschiedenen Weg einschlägt, um das Lager zu erreichen; wir laufen dann bestimmt weniger Gefahr, von den Jägern bemerkt zu werden, die immer nach dem Kopf zielen.«
   »Ihr sprecht golden, Señor Baraja.«
   »Das macht der Boden, auf dem ich mich befinde, und ich beeile mich, Euch mit einem guten Beispiel voranzugehen.«
   »Noch einen Augenblick!« sagte Oroche. »Wo werden wir uns hernach wieder treffen?«
   »Da, wo der Fluß sich teilt. Wer zuerst ankommt, wartet auf den anderen.«
   »Und soll er lange warten?« fragte Oroche mit vollkommen gespielter Aufrichtigkeit.
   »Das wird von der Ungeduld des zuerst Gekommenen und vom Grad der Zuneigung, die er für seinen Freund fühlt, abhängen.« »Teufel!« entgegnete Oroche. »In dem Fall, daß ich nun zuerst ankäme und Ihr unglücklicherweise durch einen Sturz in einen Abgrund oder durch eine Kugel daran verhindert wärt, zu mir zu stoßen, hieße das ja, mich dazu verdammen, Euch bis zum Jüngsten Gericht zu erwarten!«
   »Eine solch übermäßige Hingebung von Eurer Seite würde mich nicht in Erstaunen setzen«, antwortete Baraja mit eindringlichem Ton; »aber ich könnte sie nicht annehmen. Selbst die Freundschaft muß ihre Grenzen haben. Wenn es Euch recht ist, so setzen wir eine Stunde zum Warten fest; wenn sie vorüber ist …«
   »… wird der zuerst Gekommene das Lager aufsuchen und seinen Freund beweinen.«
   Hierauf schlugen die beiden Schelme eine schräge Richtung ein und nahmen einen Weg, der sie auseinanderführte. Eine Zeitlang konnten sie sich noch sehen; bald aber verschwand jeder inmitten des ewigen Dunstes der Nebelberge. Der Morgenwind ließ den Mantel des Gambusinos flattern wie die Lumpen, die in einem Getreidefeld als Vogelscheuche dienen.
   Als Baraja ihn aus dem Gesicht verloren hatte, hielt er an, um sich zu orientieren. Dies geschah aber nicht, um den kürzesten Weg von der Stelle, wo er sich befand, bis zu dem Ort zu suchen, wo der Fluß sich wie eine Gabel spaltete. Es wird niemand überraschen, wenn wir sagen, daß er ebensowenig daran dachte, das Lager wieder aufzusuchen, als zurückzukehren und sich selbst den Jägern, vor denen er floh, auszuliefern. Baraja war nicht so dumm; er suchte ganz einfach nur einen bequemen und sicheren Ort, um eine kurze Siesta zu halten, und ließ Oroche an dem verabredeten Sammelplatz vergeblich warten.
   Der beutegierige Goldsucher wollte sich jedoch nicht zu weit entfernen. Die Dinge hatten sich seit dem Morgen so glücklich für ihn gestaltet, daß er fest auf eine neue Gunst des Glücks rechnete, um aus diesem Hesperidengarten die Drachen, die die goldenen Äpfel bewachten, zu entfernen. Aber Baraja rechnete ohne die drei furchtbaren Bewohner der Steppe und ohne die Sympathie seines Freundes, und man weiß, daß man in solchem Fall genötigt ist, zweimal zu rechnen.
   Nicht weit von ihm bildete eine Vertiefung in einem Felsen eine Art Nest, dessen Boden mit langem, trockenem Gras, noch niedergedrückt durch den Springbock, der in der vergangenen Nacht darauf geruht hatte, bedeckt war. Baraja stieg vom Pferd, zäumte es ab, damit es nach Belieben weiden konnte, nahm aus einem kleinen ledernen Sack, der an seinem Sattel hing, eine Handvoll grobes Maismehl und hatte bald mittels einiger Tropfen Wasser, die er aus seinem Schlauch in eine Kürbisflasche goß, ein frugales Frühstück bereitet. Die Raben krächzten traurig im Nebel; die von der beständigen Feuchtigkeit der magnetischen Spitzen der Sierra gebildeten Wasserbäche rauschten düster über die Felsen; zuweilen zeichnete ein Blitz unheimliche Bilder in die Wogen des Nebels; aber diese wilden Erscheinungen verursachten dem in seinen Mantel gehüllten Abenteurer nur einen Schauer gieriger Wollust.
   Baraja hatte sich vergeblich mit der Hoffnung geschmeichelt, einen Augenblick schlafen zu können. Das Gold unten im Tal blitzte durch seine geschlossenen Augenlider in tausendfachen Funken und verjagte den Schlummer; Irrlichter tanzten in der Dunkelheit vor ihm wie jener verwirrende Lichtschein, den die Sonne in unseren Augen zurückläßt, wenn wir einen Augenblick unverwandt in sie hineingeblickt haben. Dann ließ ihn plötzlich ein schrecklicher Gedanke erbeben: Vielleicht lauerte Oroche auf einen vorübergehenden Schlummer, um ihn zu überraschen und sich seiner zu entledigen!
   Baraja stand auf; er blickte aufmerksam um sich, aber alles war ruhig, und nur der Wind der Steppe murmelte klagende Töne in sein Ohr. »Bah!« sagte er und legte sich wieder nieder. »Oroche wird fünf Minuten auf mich warten, dann wird er nach …« Er unterbrach seine angefangene Rede; der Luftzug ließ ihn ein sehr deutliches Wiehern hören. Nanu, dachte er, sollte etwa Oroche in diesen Bergen zurückgeblieben sein, um nicht Gefahr zu laufen, mich dort unten bis zum Jüngsten Gericht zu erwarten?
   Baraja zäumte rasch sein Pferd auf, das, besser beraten als sein Herr, das trockene Gras allen Reichtümern des Val d`Or vorzog; er warf sich in den Sattel, die Büchse in der Hand.
   Er war noch keine Minute auf dem Marsch, als er fast unter seinen Füßen ein ebenso beunruhigendes als unerwartetes Schauspiel wahrnahm. Die Stelle, wo er sich befand, war eine Brücke mit einem einzigen Bogen. Die Natur hatte sie über ein Nebenflüßchen des Hauptstromes gebaut, von dem ein Arm sich einen Weg durch die Nebelberge gebrochen hatte. Dieser Bach von geringer Breite und Tiefe verlor sich unter den Füßen Barajas, und nach einem ziemlich langen Lauf unter der Erde ergoß er sich in den See beim Val d`Or.
   Ein Kanu aus Birkenrinde kam den Bach herunter; zwei Männer saßen darin. Ein glücklicher Zufall war es ohne Zweifel für den Abenteurer, daß in dem Augenblick, wo er einen bestürzten Blick auf diese beiden Personen warf, ihr Nachen unter dem Felsenbogen verschwand. Baraja hatte jedoch Zeit, den fremdartigen Anzug dieser Unbekannten genau zu betrachten. Da man in kurzer Zeit sehen wird, daß sie eine ebenso bemerkenswerte wie schreckliche Rolle in dieser Erzählung spielen, so werden wir sie mit Muße zeichnen, sobald der Augenblick dazu gekommen ist.
   Es schien, als ob diese bis dahin so verlassene Einöde plötzlich das Rendezvous eines oder mehrerer Repräsentanten aller Menschenklassen geworden wäre, die die amerikanischen Steppen durchstreifen.
   Baraja sollte noch kein Ende seiner Bestürzung und seines Erstaunens finden. Kaum waren die beiden schweigenden Schiffer verschwunden, als eine neue Quelle des Schreckens sich vor dem Goldsucher öffnete. Beunruhigt von dem Wiehern, das er gehört hatte, blickte er rings um sich her. Es war Zeit. Mitten durch den Nebel kam ein Mann, die Büchse in der Hand, langsam auf ihn zu; die Mündung seines Gewehrs war auf seinen Leib gerichtet.
   Dieser Mann war für ihn nicht zu verkennen. Es war Oroche.
   Baraja warf sich von seinem Pferd, um der drohenden Kugel zu entgehen und selbst bequemer zielen zu können. Ein lautes Lachen seines Freundes und folgende Worte erreichten sein Ohr: »Bei Gott, Señor Baraja, Ihr seht Cuchillo von weitem so ähnlich, daß ich im Begriff war, einen Irrtum an Euch zu begehen, den ich beweint haben würde …«
   »Bis zum Jüngsten Tag«, erwiderte Baraja ironisch. »Und vielleicht noch länger. Aber, Señor Baraja, wie wäre es, wenn wir jetzt, da wir uns als Freunde wiedererkannt haben, die Waffen beiseite legten? Was meint Ihr dazu?«
   »Sehr gern«, antwortete Baraja, der keineswegs mehr als sein Freund auf einem gefährlichen Zweikampf bestand, an dessen Stelle ein Hinterhalt später bessere Dienste leisten konnte.
   Und beide warfen die Büchsen wieder auf die Schulter und näherten sich einander; doch in einer Haltung, wie sie ein bewaffneter Friede gebietet.
   »Wer in aller Welt hätte glauben können, daß Ihr hier wärt?« sagte Oroche.
   »Und Ihr?« fragte Baraja.
   »Die Bergluft ist mir so heilsam«, erwiderte Oroche unverschämt.
   »Und mich hat ein plötzlicher Schwindel verhindert, meinen Weg fortzusetzen. Ich bin leider … solchem Schwindel sehr ausgesetzt«, sagte Baraja mit schmerzlichem Ton.
   Die beiden würdigen Bundesgenossen waren darin einverstanden, daß jeder von ihnen die gewichtigsten Gründe gehabt hatte, sich nicht allein vom Val d`Or zu entfernen, und schworen sich aufs neue Ergebenheit auf alle Fälle. Dann teilte Baraja Oroche das seltsame Ereignis mit, von dem er eben Zeuge gewesen war.
   »Wohlan!« sagte er. »Ihr seht, daß unser eigener Vorteil es mehr als jemals verlangt, daß wir einig bleiben. Kehren wir also alle beide zum Lager zurück; später werdet Ihr wiederkommen, die Bergluft einzuatmen.«
   »Und Ihr seid nicht mehr schwindlig?«
   »Der Kummer, Euch zu verlassen, war mir zu Kopf gestiegen.«
   »Vorwärts!«
   Ein neues Ereignis verzögerte den Abmarsch der beiden Schelme. An der Stelle, wo die beiden Freunde bei ihrer Vereinigung haltgemacht hatten, führte ein enger, von den Springböcken gebildeter Pfad in Schlangenwindungen auf die Anhöhe. Es war ein leichtes, wenn man ihm folgte, unbemerkt in die Felsen hinter dem Grab auf der Pyramide zu kommen und die Ebene wiederzugewinnen – weit aus dem Gesichtskreis oder doch wenigstens aus dem Bereich der Büchsen Bois-Rosés und Pepes.
   »Wir wollen diesen Fußsteig einschlagen«, sagte Oroche zu Baraja. »Warum noch länger zögern? Habt die Güte, mir voranzugehen, und ich folge Euch.«
   »Das kann nicht geschehen!« sagte Baraja. »Ich bin – bei Gott – zu höflich, um dergleichen zu tun.«
   »Oh«, erwiderte Oroche; »machen Freunde so viele Umstände untereinander?«
   »Mein Pferd ist furchtsam, Señor Baraja, und ich bin kurzsichtig. Wahrhaftig, Ihr werdet mir einen Gefallen erzeigen, wenn Ihr vorangeht, da dieser Pfad zu eng ist, als daß zwei Reiter nebeneinander bleiben können.«
   »Laßt sehen – seid aufrichtig! Ihr macht Euch nichts daraus, nach dem Lager zurückzukehren, selbst in Gesellschaft«, sagte Baraja.
   »Ihr ebensowenig als ich.«
   »Ihr möchtet mich lieber in der Hölle sehen, Señor Oroche.«
   »Und Ihr möchtet mich gern zu allen Teufeln schicken, Señor Baraja.«
   Baraja heftete auf seinen Gefährten einen spöttischen Blick. »Leugnet es nur nicht, Señor Oroche«, sagte er; »Ihr wollt mich nur vorangehen lassen, um mir von hinten einen Büchsenschuß beizubringen.«
   »Oh, was läßt Euch solches argwöhnen?«
   »Nun, wahrhaftig, der Wunsch, Euch zu töten, den ich selbst fühle.«
   »Eure Freimütigkeit macht mich offenherzig«, erwiderte der langhaarige Gambusino. »Ich habe es wirklich gewagt, diesen mörderischen Gedanken zu fassen; aber ich bedenke, daß, wenn ich Euch getötet hätte, ich damit doch nicht stärker sein würde gegen diesen wütenden Kanadier, und ich verzichte darauf.«
   »Und ich ebenfalls.«
   »Wir wollen offen gegeneinander sein«, fuhr Oroche fort: »Wir kehren nicht zum Lager zurück, sondern legen uns in diesen Bergen in Hinterhalt. Es wird sich in dieser Nacht wohl irgendeine Gelegenheit bieten, uns von diesen fremden Räubern zu befreien, wenn sie schlafen werden. Dann sind wir nur noch zwei bei der Teilung des Val d`Or und haben nicht mehr nötig, uns gegenseitig zu ermorden. Pfui! So reiche Leute, wie wir es sein werden, sollen im Gegenteil nur dahin streben, ihr Leben zu verlängern. Zum Beweis meiner Aufrichtigkeit gehe ich voran.«
   »Ich nehme diese Ehre in Anspruch«, sagte Baraja.
   »Ich halte darauf, Euch meine Reue zu bezeugen!«
   »Ich hege den lebhaftesten Wunsch, daß Ihr mein Vergehen vergessen möchtet.«
   Die beiden Schelme waren um so eifriger, je mehr Lust sie hatten, sich voneinander zu befreien. Sie schoben nur auf eine spätere Zeit die Ausführung ihres mörderischen Plans auf. Derart war die erneuerte lebhafte Freundschaft, die sie fühlten.
   Oroche ging endlich voran. Er schien in seinem eigenen Herzen Barajas Gedanken so gut zu lesen, daß er ohne Mißtrauen vorausging, ohne auch nur den Kopf umzuwenden. Er wußte gewiß, daß sein Gefährte ebenso wie er in seinen Gedanken nach einem Mittel suchte, seine Dienste zu benützen, ehe er das Werkzeug, von dem er Gebrauch gemacht hatte, zerbrach.
   Diese Überzeugung war bei beiden eingetreten; sie hofften sich zuerst Bois-Rosés und seiner beiden Gefährten zu entledigen, dann würden sie sehen, was sich tun ließe. In der Tat – wenn die drei Jäger im Schlaf ermordet waren und Diaz und Don Estévan, wie sie nicht daran zweifelten, den Tod gefunden hatten – blieben sie dann nicht die alleinigen Besitzer ihres Geheimnisses?
   Obgleich der Weg bis zu der Stelle, wo sich der Wasserfall nicht weit von ihnen in den Abgrund hinter dem indianischen Grabmal stürzte, nicht sehr lang war, so bot er doch ihren Pferden tausend Schwierigkeiten dar, die für die Vicunas, von denen er glattgetreten war, nicht vorhanden zu sein schienen. Der Boden war von vulkanischen Ausbrüchen zerrissen, die – nach dem dumpfen Geräusch zu urteilen, das noch im Innern der Berge grollte – aus neuerer Zeit herrühren mußten. In jedem Augenblick stießen sie auf herabgestürzte Felsstücke, die von dem dichten Nebel, der unter den Füßen ihrer Pferde wie Staub aufwirbelte, schlüpfrig geworden waren und ihnen unaufhörlich neue Hindernisse darboten. Zuweilen führte auch der schlüpfrige Fußpfad an tiefen Abgründen hin, in die der geringste falsche Schritt sie hineinstürzen konnte. Ein vor ihnen wallender Nebelschleier ließ die Gegenstände in einer kurzen Entfernung vom Kopf ihrer Pferde nur undeutlich bemerken.
   Mitten in diesem wogenden Nebel wurden Dornensträuche und verkrüppelte Bäume, die auf den Trümmern, in die sie ihre Wurzeln geschlagen hatten, sich hin und her bewegten, in den erschreckten Augen der Reiter zu Indianern im Hinterhalt, zu wilden Tieren von fremdartiger Gestalt, die auf ihrem Weg zu lauern schienen. Ein Springbock, der in einem einsamen Lager überrascht worden war, das der Fuß eines Menschen vielleicht noch niemals betreten hatte, nahm in weiten Sätzen die Flucht und verlor sich im Nebel. Mitten in diesen wilden Szenen grollte die Stimme des noch unsichtbaren Wasserfalls.
   Plötzlich hielt Oroche so ungestüm sein Pferd zurück, daß Barajas Pferd an dieses stieß.
   »Was gibt es?« fragte Baraja mit leiser Stimme Oroche, der die Augen fest auf einen Punkt vor sich richtete und durch ein Zeichen mit der Hand ihm Schweigen empfahl.
   Baraja hatte nicht nötig, seine Frage zu erneuern. Mitten in dem grauen, halb durchsichtigen Nebel lag ein Mann mit triefenden Haaren und besudelten Kleidern platt auf der Erde und versperrte so den engen Pfad vor ihnen. Das war alles, was man durch den wogenden Nebel, der sich nach allen Richtungen hin bewegte, bemerken konnte. War dieser undeutliche Körper der eines Indianers oder eines Weißen? War dieser Leib, dessen Umrisse durch den Nebel verwischt waren, lebendig oder nur ein Leichnam? Dies alles konnte Oroche nicht unterscheiden.
   Um die Verlegenheit auf den höchsten Punkt zu steigern, lief der Pfad an der Stelle, wo die beiden Abenteurer genötigt gewesen waren, haltzumachen, auf der einen Seite an einem senkrechten Felsen neben einem Abgrund hin und stieß auf der anderen Seite an eine steile Felswand, so daß ein Mann zu Pferd nicht kehrtmachen konnte.
   Oroche zögerte; er war zugleich erschreckt und erstaunt, einem menschlichen Wesen in dieser Einsamkeit zu begegnen, wo nur Adler und Springböcke ihre Wohnung hätten haben sollen. Er betrachtete unruhig die fremdartige Erscheinung. Der Kopf dieses Mannes neigte sich vorwärts über den Abgrund, und bei einer plötzlichen Lichtung konnte er ihn einen Augenblick lang unterscheiden. Er hatte seine Arme unter seinen Leib gestemmt und betrachtete irgendeinen Gegenstand unter sich.
   Das Rauschen des Wasserfalls war an dieser Stelle stark genug, um Oroches Stimme zu übertönen. »Es ist Cuchillo«, sagte er, ohne sich nach seinem Gefährten umzuwenden.
   »Cuchillo?« wiederholte Baraja verwundert. »Und was, zum Teufel, treibt er da?«
   »Ich weiß es nicht.«
   »Sendet ihm doch eine Kugel zu; das wird eines der wenigen Dinge sein, die er nicht gestohlen haben wird.«
   »Jawohl«, erwiderte Oroche, »damit der Schuß diesem Kanadier zeige, daß wir hier sind.« Er dachte nicht daran, daß dies außerdem soviel hieß, als sich waffenlos der Gnade seines Freundes anzuvertrauen.
   In diesem Augenblick führte die Luft neue Nebelwolken in die einen Augenblick lang geöffnete Lichtung, und Cuchillo verschwand hinter diesem wallenden Vorhang. Eine Zeitlang konnten die beiden Reiter kaum einander unterscheiden. Es wurde gefährlich – unmöglich sogar —, vorwärts zu gehen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, in den Abgrund zu stürzen; außerdem wollten auch die beiden Goldsucher in keinem Fall Cuchillo von ihrer Gegenwart benachrichtigen.
   »Geht keinen Schritt mehr vorwärts, Señor Oroche!« sagte Baraja so, daß er beim Rauschen des Wasserfalls nur von seinem Freund verstanden werden konnte. »Bedenkt, daß ich einen großen Wert auf Euer kostbares Leben setze!«
   »Ich werde mich auch hüten, es zu gefährden. Ihr findet diese Einöde so schrecklich für einen einzelnen Menschen, und ich möchte Euch gern einen Gefährten erhalten.«
   »Das ist ein Verfahren, dessen edlen Beweggrund ich vollkommen zu schätzen weiß. Was mich anlangt, so hoffe ich, daß Ihr nicht mehr an meiner Aufrichtigkeit zweifelt. Seht, wenn ich nur ein wenig mit der Brust meines Pferdes an die Kruppe des Eurigen stieße, so würde ich mich ganz allein befinden.« Baraja sagte die Wahrheit, und zum erstenmal fühlte Oroche, wie vor der Anziehungskraft des Abgrunds, in den sein Freund ihn ohne eigene Gefahr stürzen konnte, ein eisiger Schauder über sein Gesicht lief. »Aber wir sind unser zwei nicht zu viele«, fuhr Baraja fort, »um mit Erfolg gegen unsere drei Feinde zu kämpfen.«
   Oroche wurde für den Augenblick zwar wieder ruhig, war jedoch von jetzt an überzeugt, daß Baraja ebenso wie er zuerst von der Gegenwart seines Gefährten Nutzen ziehen wollte. »Einigkeit macht stark«, sagte der langhaarige Gambusino, obgleich er trotz dieses Denkspruchs lebhaft wünschte, seinen Freund nicht allzu lange der Versuchung auszusetzen, die Anwendung davon zu vergessen.
   Nach Verlauf einiger Minuten, in denen zugleich mit dem feuchten Dunst der Wasserfläche, die auf dem Grund der Schlucht schäumte, der Schwindel aus der Tiefe des Abgrunds bis zu Oroche hinaufzusteigen schien, öffnete ein Windstoß abermals eine weite Lichtung im Nebel.
   »Ah, Gott sei Dank!« sagte Oroche, indem er nach diesem angstvollen Augenblick wieder Atem schöpfte. »Dieser Schelm Cuchillo ist nicht mehr da!«
   Der Weg war auf dieser Seite frei von Hindernissen, und die Berge waren wieder vollständig einsam geworden. Oroche spornte rasch sein Pferd zu dem Ort an, den Cuchillo eben verlassen hatte.
   Die fremdartige Landschaft, in der die beiden Flüchtlinge auf gut Glück umherirrten; die Nähe des Schatzes, den jeder von ihnen einen Augenblick halb gesehen hatte, und die Aufregungen jeder Art, deren Raub sie seit dem Morgen gewesen waren – alles hatte dazu beigetragen, ihre Einbildungskraft gewaltig anzuspannen. In solcher Lage bietet das geringste Ereignis Stoff zu allerlei Vermutungen. Die Aufmerksamkeit, mit der Cuchillo vor ihren Augen einen unsichtbaren Gegenstand betrachtet hatte, reizte lebhaft die Neugier der beiden Abenteurer.
   Der Weg wurde an dieser Stelle breit genug, um zwischen dem Abgrund und der Felsenwand absteigen zu können, und Oroche und Baraja stiegen zu gleicher Zeit vom Pferd, ohne sich ihre Gedanken mitgeteilt zu haben.
   »Was habt Ihr vor?« fragte der erstere.
   »Wahrhaftig, Ihr wißt es recht gut, daß Ihr meinem Beispiel folgt!« antwortete Baraja. »Ich will einen Versuch machen, das zu sehen, wonach Cuchillo eben so begierig blickte. Es muß sehr merkwürdig sein, wenn ich mich nicht täusche.«
   »Nehmt Euch in acht; diese Felsen sind verteufelt schlüpfrig.«
   »Seid ohne Furcht, und geniert Euch nicht, es ebenso zu machen wie ich.« Mit diesen Worten kniete Baraja nieder, um sich über den Abgrund zu neigen. Sechs Schritt vor ihnen stürzte sich der Wasserfall aus einer Art von Luftloch und durchschnitt den Pfad, der eben über diesen gähnenden Abgrund sich hinschlängelte und eine Art natürlicher Brücke darüber bildete.
   Oroche nahm sein Pferd beim Zügel und setzte mit ihm über die steinige Wölbung, die sich über dem Wasserfall gebildet hatte. Das war eine Vorsichtsmaßnahme, die er anwenden zu müssen glaubte, und einige Augenblicke nachher lagen die beiden Freunde, ohne einander sehen zu können, platt auf der Erde, beugten den Kopf über den Abgrund und warfen einen gierigen Blick nach unten. Ungeachtet ihres Vorsatzes, eine günstigere Zeit gegenseitig abzuwarten, fühlte sich doch jeder freier und leichter, wenn er von seinem Begleiter etwas entfernt war.
   Derselbe Anblick traf beide zugleich und ließ in ihrem Kopf abermals mörderische Gedanken entstehen, die sie einen Augenblick aufgeschoben hatten. Der zwischen dem Wasserfall und dem Felsen funkelnde Goldklumpen, der Cuchillo einen wilden Schrei entrissen hatte, hätte auch ihnen beinahe einen ähnlichen entlockt; es war jedoch nötig, sich zu verstellen und im Zaum zu halten. Dies geschah aber nicht ohne eine übermenschliche Anstrengung.
   Wie ein funkelnder Diamant in der Krone eines Königs von Golkonda; wie ein von der Sonne losgerissener und in den Felsen haftender Sonnenstrahl; wie ein offenes, zauberkräftiges Auge, das über dem Abgrund schwebte – so strahlte der kolossale Goldklumpen Garben bleichen Lichts aus und schien die Hand des Menschen einzuladen, dieses wunderbare, freigebige Geschenk der Natur nicht vom gähnenden Abgrund verschlingen zu lassen.
   Doch der unermeßliche Abgrund verteidigte schrecklicher als der Drache, der das Goldene Vlies bewachen mußte, seinen Schatz, den er mit den feuchten Dünsten der Tiefe liebkosend umhüllte, gleich dem Atem des immer wachsenden Ungeheuers, das die Argonauten töten mußten. Die ständige Feuchtigkeit hatte die senkrechten Wände des Felsens mit einem Mantel grünen Mooses bedeckt. Unter dem Goldblock schien ein kleiner, aber durch die Wasserdünste mit einer klebrigen Schicht überzogener Vorsprung auf den Fuß zu warten, der kühn genug wäre, sich dieser gefährlichen Stütze anzuvertrauen; aber ein einzelner Mann konnte das Wagnis nicht unternehmen. Das war auch der Grund gewesen, warum sich Cuchillo zurückgezogen hatte, der eben noch vor den beiden Abenteurern seine Augen an dem Glanz des unschätzbaren Blocks weidete.
   Baraja war der erste, der sich der schreckensvollen Aufregung, die dieser schwindelerregende Anblick bei ihm hervorbrachte, entriß, denn sein Herz preßte sich bei dem Gedanken zusammen, daß der Goldklumpen jeden Augenblick in den Abgrund rollen könnte wie die reife Frucht, die vom Orangenbaum fällt. Oroche folgte bald dem Beispiel seines Gefährten, und beide standen fast zu gleicher Zeit auf. Sie wußten nicht, was sie anfangen sollten, und waren voneinander durch den Felsenbogen getrennt, aus dem rauschend und schäumend der Wasserfall hervorstürzte.
   »Nun, was habt Ihr gesehen?« fragte Baraja zuerst.
   »Und Ihr?« antwortete Oroche.
   »Einen endlosen Abgrund. Wirbelnden, aus der Tiefe emporsteigenden Nebel.«
   »Einigkeit macht stark«, wiederholte Oroche, der plötzlich seinen Entschluß gefaßt hatte.
   »Zu zweit ist man zweimal stärker.«
   »Was Ihr da sagt, ist unbestreitbar«, sagte Oroche.
   »Wohlan! Zu zweit werden wir ihn bekommen.«
   »Was?« sagte Oroche, der den Unwissenden spielte.
   »Demonio! Den Goldblock, den Ihr ebensogut wie ich gesehen habt!«
   »Aber wie es anfangen?« fragte Oroche.
   »Wir flechten unsere beiden Lassos wie ein Bild unserer Freundschaft zusammen; einer von uns läßt sich längs der Felsenwand hinunter und raubt dem Abgrund seinen Schatz«, sagte Baraja mit flammenden Augen.
   »Wer von uns beiden wird sich opfern?«
   »Das Los wird darüber entscheiden, Señor Oroche, und wenn Ihr es seid …«
   »Wenn ich es bin, so werdet Ihr mich fallen und zerschmettern lassen!«
   Baraja zuckte mit den Schultern. »Ihr seid ein Einfaltspinsel, mein teurer Oroche; ein Freund läßt nicht mit seinem Freund zugleich einen dreifach königlichen Schatz fallen. Den Freund … ich will nicht dagegen streiten; aber den Schatz … niemals!«
   »Mein teurer Baraja, Ihr treibt Euren Scherz mit den ehrwürdigsten Dingen – sogar mit der Freundschaft«, erwiderte Oroche mit so großer Zerknirschung, daß Baraja mehr als jemals darüber erschrocken war.
   Bald jedoch gaben die beiden Abenteurer der Trunkenheit nach, die sich ihrer bemächtigte: Sie hörten auf, an Schlauheit miteinander zu wetteifern, und beschlossen, mit vereinten Kräften den Goldklumpen seiner Felseneinfassung zu entreißen. Baraja zog aus seiner Tasche ein Spiel Karten; man kam überein, daß der Gewinnende das Recht hätte, die Rolle, die ihm die beste schiene, zu wählen. Dieses Recht fiel Oroche zu.
   Außer daß Barajas Worte ihn überzeugt hatten, dachte der Gambusino auch, daß der Besitz des Schatzes ein allmächtiger Talisman gegen die Verderbtheit seines Gefährten sei, und er wählte wider Erwarten des letzteren die gefährliche Rolle, sich, über dem Abgrund schwebend, hinunterzulassen.
   Nachdem die beiden Schelme sich geeinigt hatten, lösten sie nach dem Vorschlag Barajas ihren Lasso vom Sattelknopf, den jeder mexikanische Reiter, dort festgebunden, bei sich führt. Die beiden Leinen wurden so zusammengeflochten, daß sie ein noch schwereres Gewicht als das eines Mannes tragen konnten. Das eine Ende wurde um Oroches Leib gebunden und das andere mehrmals um den Stamm einer jungen Eiche geschlungen, die in einer Felsenspalte wurzelte; Baraja hielt es in der Hand. Wirklich wäre ohne die Stütze, die der noch schwache Stamm der Steineiche gewährte, Barajas Rolle ebenso gefährlich gewesen wie die Oroches, dessen Schwere ihn leicht trotz seines Widerstands zuerst in den Abgrund hätte ziehen können.
   Nachdem das doppelte Seil unter seinen Armen fest um die Brust gebunden war, fing Oroche an, langsam hinabzusteigen, indem er sich an den Vorsprüngen des Felsens festhielt und sich mit seinen Füßen in den Spalten stützte.
   Dumpfer Lärm stieg aus der Tiefe des Abgrunds herauf; unterirdische Stimmen schienen ihn zu rufen; die Anziehungskraft des Unermeßlichen schien sich des Abenteurers zu bemächtigen. Aber die Habgier sprach stärker in sein Ohr als das Rauschen des Abgrunds. Nach Verlauf einer Minute berührten seine Füße, dann sein Leib, endlich seine Hände den Goldklumpen. Er konnte seine gerundete Außenseite liebkosend betasten, die Festigkeit seiner Lage im Gestein untersuchen. Der Abgrund grollte nicht mehr drohend unter ihm; er sang sanfte Weisen wie der Bach der murmelnd dahinfließt und die süßesten Träume hervorruft.
   Die zusammengezogenen Finger des Gambusinos erschütterten den Block; er widerstand anfänglich; bald jedoch bewegte er sich im Felsen wie das Kind, das sich eben dem Schoß seiner Mutter entwindet und das Licht der Welt erblickt. Zwei gierige Hände genügten kaum, ihn zu umspannen; eine schlecht angebrachte Anstrengung konnte ihn dem Felsen, der ihn umschloß, entreißen und in den Abgrund stürzen lassen. Oroche atmete nicht mehr, und Baraja, der sich über ihm vorgebeugt hatte, teilte seine Angst.
   Das Echo des Abgrunds wiederholte zweimal einen zweifachen Schrei: das Triumphgeschrei Oroches und seines Gefährten – der Goldklumpen funkelte in den Händen des Räubers. Wie der Adler, der sein Junges aus dem unzugänglichen Horst rauben sieht, in dem er es verborgen hatte, so schien der Abgrund, indem er das Geschrei wiedergab, den Raub zu beweinen, den man ihm entriß.
   »Zieht mich schnell empor, bei der Liebe Gottes!« sagte Oroche mit bebender Stimme. »Ich trage sechzig Pfund gediegenen Goldes in meinen Armen. Ach, ich hätte mich nicht für so stark gehalten!«
   Baraja zog anfänglich die Leine mit krampfhaftem Eifer empor, bald jedoch langsamer, und dann hörte er plötzlich mit jeder Anstrengung auf. Die Hände Oroches waren noch nicht in gleicher Höhe mit der Plattform.
   »Auf Baraja, noch einmal!« sagte Oroche. »Spannt das Seil an, und ich bin bei Euch.«
   Aber Baraja blieb unbeweglich. Ein teuflischer Gedanke blitzte durch seine verwirrten Ideen. »Gebt mir diesen Goldblock!« sagte er. »Er macht Eure Anstrengungen vergeblich, und meine Kräfte sind zu Ende.«
   »Nein, nein, tausendmal nein!« rief der Gambusino, dessen Stirn von einem plötzlichen Schweiß triefte und der seinen Schatz in seine Arme preßte. »Ich würde Euch eher meine Seele geben. Aha«, fuhr er fort, »Ihr würdet dann loslassen!«
   »Wer sagt Euch denn, daß ich Euch nicht jetzt loslasse?« antwortete Baraja mit dumpfem Ton. »Euer eigenes Interesse«, erwiderte der Gambusino, dessen Stimme zitterte.
   »Wohlan! Ich will Euch nicht loslassen – doch nur unter einer Bedingung: Ich will dieses Gold für mich allein haben … für mich allein, versteht Ihr? Gebt es mir … oder ich überlasse Euch dem Abgrund!«
   Oroche schauderte bis ins Mark seiner Gebeine. Beim Anblick des bleifarbigen Gesichts Barajas verwünschte der Unglückliche einen Augenblick sein tolles Vertrauen. Er wollte eine Anstrengung versuchen, aber die Last, die er trug, machte die Kraft seiner Arme vergeblich. Er blieb unbeweglich wie der Mann, in dessen Händen sein Leben lag.
   »Ich will dieses Gold, versteht Ihr?« wiederholte Baraja. »Ich will es haben, oder ich lasse die Leine los … oder schneide sie durch.« Und er zog einen scharfen Dolch aus seinem Gürtel.
   »Lieber will ich sterben!« rief Oroche. »Lieber soll der Abgrund mich verschlingen und das Gold mit mir!«
   »Die Wahl steht Euch frei«, wiederholte der Elende.
   »Euer Gold für Euer Leben.«
   »Ah! Ihr würdet mich töten, wenn ich es Euch auch gäbe.«
   »Gut«, sagte Baraja, der langsam eine der sechs Schnüre des Seils zerschnitt, indem er dem Unglücklichen zurief, daß es noch Zeit sei, sich zu entscheiden.


   44. Die beiden Mediana

   Kehren wir nun zu einem Teil unserer Erzählung zurück, den wir einen Augenblick unterbrochen haben. Diaz schüttelte bald die schmerzliche Niedergeschlagenheit und das tiefe Erstaunen von sich ab, das ihn einen Augenblick überwältigt hatte. »Ich bin euer Gefangener nach den Gesetzen des Krieges«, sagte er, indem er langsam den Kopf hob, »und warte darauf, zu erfahren, was ihr über mich entscheiden werdet.«
   »Ihr seid frei, Diaz«, sagte Fabian; »frei ohne Bedingungen.«
   »Keineswegs!« fiel Bois-Rosé ein. »Wir legen Euch vielmehr eine unerläßliche Bedingung für Eure Freiheit auf.«
   »Welche?« fragte der Abenteurer.
   »Ihr wißt jetzt wie wir«, erwiderte Bois-Rosé, »ein Geheimnis, das uns schon seit langer Zeit bekannt war. Ich habe meine Gründe, daß die Kenntnis von diesem Geheimnis mit denen sterbe, die so unglücklich gewesen sind, es mit uns zu teilen. Ihr allein«, fügte der Kanadier hinzu, »werdet eine Ausnahme von der Regel machen, weil ein braver Mann, wie Ihr einer seid, Sklave seines Wortes sein muß. Ich fordere also, ehe ich Euch die Freiheit wiedergebe, daß Ihr Euch auf Ehrenwort verbindlich macht, niemals irgend jemandem das Dasein des Val d`Or zu entdecken.«
   »Ich hatte von der Eroberung dieses Schatzes«, erwiderte der edle Abenteurer schwermütig, »nur die Befreiung und die Größe meines Landes gehofft. Das traurige Schicksal, das dem Mann droht, von dem ich die Erfüllung meiner Hoffnungen erwartete, macht aus dem allen nur noch einen Traum. Ob alle Reichtümer des Val d`Or für immer in diesen Steppen begraben bleiben, das kümmert mich jetzt wenig. Ich schwöre also und gebe mein Ehrenwort, das Dasein dieser Schätze niemals jemandem in der Welt – wer es auch sein mag – zu entdecken. Ich werde selbst vergessen, daß ich sie einen Augenblick gesehen habe.«
   »So ist es gut«, sagte Bois-Rosé; »Ihr könnt nun gehen.«
   »Noch nicht, wenn Ihr es erlaubt«, erwiderte der Gefangene. »Es liegt in allem, was sich unter meinen Augen zugetragen hat, ein Geheimnis, das ich nicht aufklären will … aber …«
   »Es ist, bei Gott, sehr einfach«, unterbrach ihn Pepe. »Dieser junge Mann«, sagte er, indem er auf Fabian zeigte …
   »Noch nicht«, fügte dieser feierlich hinzu, indem er dem spanischen Jäger ein Zeichen machte, mit seiner Aufklärung einzuhalten. »In der Gerichtssitzung, die in Gegenwart des höchsten Richters« – Fabian zeigte gen Himmel – »eröffnet werden soll, wird alles durch Anklage und Verteidigung in Diaz‘ Augen klar werden, wenn er bei uns bleiben will. In der Steppe sind die Minuten kostbar, und wir müssen uns durch ruhiges Nachdenken auf die schreckliche Pflicht vorbereiten, die uns noch zu erfüllen übrigbleibt.«
   »Gerade um die Erlaubnis, zu bleiben, wollte ich nachsuchen. Ich weiß nicht, ob dieser Mann unschuldig ist oder schuldig. Alles, was ich weiß, ist, daß er der Chef ist, den ich frei gewählt habe, und daß ich bei ihm bleiben werde bis zu seinem letzten Augenblick; bereit, ihn gegen euch mit meinem Leben zu verteidigen, wenn er unschuldig ist; bereit, mich vor dem Urteilsspruch, der ihn verdammen wird, zu beugen, wenn er schuldig ist.«
   »Gut! Ihr werdet erst hören und dann urteilen«, sagte Fabian.
   »Dieser Mann ist einer der Großen der Erde«, fuhr Diaz traurig fort, »und er liegt dort geknebelt, wie ein Missetäter des niedrigen Standes.«
   »Löst seine Bande, Diaz«, erwiderte Fabian, »aber macht keinen Versuch, der Rache eines Sohnes den Mörder seiner Mutter zu entziehen. Nehmt Don Antonio das Wort ab, nicht zu fliehen; wir verlassen uns in dieser Beziehung auf Euch!«
   »Ich bürge mit meiner Ehre für ihn, daß er nicht fliehen wird«, antwortete der Abenteurer; »ebenso daß ich selbst seine Flucht nicht unterstützen werde.« Und Diaz ging rasch auf Don Estévan zu.
   Während dieser Zeit saß Fabian abseits, das Herz voll feierlicher und trauriger Gedanken, und seufzte über seinen schmerzlichen Sieg.
   Pepe wandte den Kopf ab und schien aufmerksam das Spiel des Nebels auf dem Kamm der Nebelberge zu betrachten; was Bois-Rosé anlangt, der seine gewöhnliche ruhende Stellung beibehalten hatte, so richteten sich seine besorgten Blicke auf den jungen Mann, und sein Gesicht schien von denselben Wolken bedeckt zu sein, die sich auf der Stirn seines geliebten Kindes anhäuften.
   Diaz war bei Don Estévan angelangt. Wer könnte die stürmischen Gedanken aussprechen, die nacheinander in der Seele des im Staub liegenden spanischen Señors kamen und gingen? Seine Augen strahlten noch vom selben Stolz wie in den Tagen des Glücks, wo er davon träumte, dem gestürzten Erben der spanischen Monarchie einen Thron zu erobern und zu schenken.
   Doch bei Diaz‘ Anblick, der seine Sache verlassen zu haben schien, zeigte sich ein schmerzlicher Ausdruck in seinem Antlitz. »Kommt Ihr als Freund oder Feind zu mir, Diaz?« fragte er. »Solltet Ihr auch einer von denen sein, die ein heimliches Vergnügen beim Anblick der Demütigung von Männern empfinden, denen sie in den Tagen ihrer Macht schmeichelten?«
   »Ich gehöre zu denen, die nur gefallenen Größen schmeicheln und sich nicht beleidigt fühlen durch die bitteren Worte, die ein großes Unglück in den Mund legt.« Mit diesen Worten, die von seiner Haltung und seinen traurigen Worten bestätigt wurden, beeilte sich Diaz, den Gürtel aufzubinden, der um die Arme des edlen Gefangenen geschlungen war. »Ich habe mein Wort verpfändet, daß Ihr keinen Versuch machen würdet, Euch dem Schicksal – wie es auch sein mag – zu entziehen, das Euch in den Händen jener Männer, die ein verderblicher Zufall auf unseren Weg geworfen hat, erwartet«, fügte Diaz hinzu. »Ich habe gedacht, daß Ihr die Flucht niemals gekannt habt.«
   »Und Ihr habt recht daran getan, Diaz«, erwiderte Don Estévan. »Aber ahnt Ihr etwas von dem Schicksal, das diese Tollköpfe mir zugedacht haben?«
   »Sie sprechen von einem zu rächenden Mord, von einer Anklage … einem Richterspruch.«
   »Ein Richterspruch?« erwiderte Don Antonio mit einem bitteren und hochmütigen Lächeln. »Man kann mich morden, aber man wird mich niemals richten!«
   »Im ersteren Fall werde ich mit Euch sterben«, sagte Diaz einfach; »im zweiten … Aber wozu nützt es, von dem zu reden, was nicht sein kann? Ihr seid an dem Verbrechen, dessen man Euch anklagt, unschuldig.«
   »Ich ahne das Schicksal, das mich erwartet«, erwiderte Don Estévan, ohne auf die Beteuerung des Abenteurers zu antworten. »Der König Don Carlos I. wird einen treuen Untertan verlieren. Aber Ihr werdet Sonora wiederaufrichten; Ihr werdet zum Senator Tragaduros zurückkehren; er weiß, was er tun muß, und Ihr werdet ihn unterstützen.«
   »Ach«, sagte Diaz schmerzlich, »ein solches Werk könnte nur von Euch unternommen werden. In Eurer Hand wäre ich ein mächtiges Werkzeug gewesen; ohne sie falle ich in meine Unzulänglichkeit zurück. Die Hoffnung meines Lebens erlöscht mit Euch!«
   Während dieser Zeit hatten Fabian und Bois-Rosé die Stelle verlassen, wo die vorigen Szenen sich so rasch ereignet hatten. Sie waren wieder zum Fuß der Pyramide zurückgekehrt. Dort sollte die feierliche Gerichtssitzung eröffnet werden, in der Fabian und der Herzog von Armada die Rolle des Richters und des Angeklagten übernehmen sollten.
   Pepe gab Diaz ein Zeichen; Don Estévan sah und begriff es.
   »Es ist nicht genug, nicht zu fliehen«, sagte er; »man muß seinem Schicksal entgegengehen; der Besiegte muß dem Sieger gehorchen … Kommt!«
   Nach diesen Worten ging der spanische Señor, mit dem Stolz bewaffnet, der ihn niemals verließ, festen Schrittes zum Val d‘Or. Pepe war mit seinen beiden Gefährten zusammengetroffen.
   Der Anblick Don Estévans, der sich ohne Prahlerei und ohne Schwäche mit unerschrockener, ruhiger Stirn näherte, nötigte seinen drei Feinden, die sich so gut auf den Mut verstanden, einen Blick der Bewunderung ab. Dann erhob sich Fabian, um seinem edlen Gefangenen die Hälfte des Weges zu ersparen. Einige Schritte hinter dem spanischen Edelmann ging Diaz mit gebeugtem Haupt, die Seele voll düsterer Gedanken. Alles sagte ihm in der Haltung der Sieger, daß diesmal das Recht auf seiten des Stärkeren war.
   »Señor Graf von Mediana, Ihr seht, daß ich Euch kenne«, sagte Fabian, der mit entblößtem Haupt zwei Schritte von dem edlen Spanier stehenblieb, während dieser es ebenfalls tat, »und Ihr wißt, wer ich bin.«
   Der Herzog von Armada blieb gerade und unbeweglich, ohne seinem Neffen Höflichkeit mit Höflichkeit zu vergelten. »Ich habe das Recht, mit bedecktem Haupt vor dem König von Spanien zu stehen; ich werde vor Euch von meinem Privilegium Gebrauch machen«, erwiderte er. »Ich habe auch das Recht, nur zu antworten, wenn ich es für gut befinde, und das ist abermals ein Recht, von dem ich Gebrauch machen werde, wenn Ihr nichts dagegen habt.«
   Trotz seiner stolzen Antwort mußte der frühere jüngere Sohn der Familie Mediana sich erinnern, daß jetzt eine lange Zeit verflossen war, seitdem der junge Mann, der sich zu seinem Richter aufwarf, ein zitterndes Kind gewesen war, das unter seinem Blick vor zwanzig Jahren im Schloß von Elanchove geweint hatte. Der furchtsame junge Adler war herangewachsen und hielt nun ihn selbst zwischen seinen mächtigen Fängen.
   Die Blicke der beiden Mediana kreuzten sich wie zwei Schwerter, und Diaz betrachtete erstaunt und nicht ohne eine Mischung von Ehrfurcht den erhabenen und anders gewordenen Adoptivsohn des Gambusinos Arellanos, der sich plötzlich so sehr über die niedere Sphäre erhoben hatte, in der er ihn vor kurzem kennengelernt hatte. Der Abenteurer erwartete die Lösung dieses Rätsels.
   Die Stirn Fabians zeigte denselben Stolz wie die des Herzogs von Armada. »Gut«, sagte er; »vielleicht jedoch solltet Ihr nicht vergessen, daß hier das Recht des Stärkeren kein Wort ohne Inhalt ist.«
   »Das ist wahr«, antwortete Don Antonio, der trotz seiner scheinbaren Resignation bis in seine letzten Fibern vor Wut und Schmerz erbebte, sich so elend im Hafen scheitern zu sehen. »Ich darf nicht aus den Augen verlieren, daß Ihr ohne Zweifel entschlossen seid, dieses Recht zu benützen. Ich werde also Eure Frage beantworten, aber nur, um Euch zu sagen, daß ich nur etwas von Euch weiß: nämlich, daß ein Dämon Euch angetrieben hat, Eure Lumpen ständig zwischen das Ziel, das ich verfolge, und mich zu werfen … Ich weiß …« Die Wut erstickte seine Stimme.
   Erbleichend verschluckte der ungestüme junge Mann die Beschimpfung von Seiten des Mörders seiner Mutter, den er außerdem auch noch im Verdacht hatte, der Mörder seines Adoptivvaters zu sein. Gewiß war diese Mäßigung die Folge einer heroischen Anstrengung; und wer da weiß, von welch geringem Gewicht das Leben eines Menschen in diesen Einöden ist, wohin der Arm des Gesetzes nicht zu reichen vermag, der wird sie gewiß bewundern. In Fabians Seele jedoch waren seit seinem Zusammenleben mit dem kanadischen Jäger tiefgreifende Veränderungen vorgegangen.
   Es kommt uns sonderbar vor, wenn wir sehen, daß in Amerika die Zivilisation nur im Gefolge derer an Boden gewinnt und sich ausbreitet, die sozusagen vor ihr fliehen. Es gibt unter diesen Vorläufern eine große Anzahl, die von der Gesellschaft verstoßen sind oder nicht Geduld genug haben, um das Joch des Gesetzes zu ertragen, und deshalb die Steppen aufsuchen, in denen ihre Leidenschaften und Laster einen schrankenlosen Tummelplatz finden.
   Es gibt aber auch andere unter ihnen, die, ohne es zu wissen, edleren Einflüssen gehorchen. Es gibt unter ihnen solche, die keinen anderen Lebenszweig kennen als die Jagd und sich dieser dort nicht mehr hingeben können, wo Wälder, die sonst ohne Besitzer waren, nun das ausschließliche Eigentum eines Mannes geworden sind, der sie durch Kauf erworben hat. Diese Jäger sind gezwungen, das Wild bis in die Steppe zu verfolgen, in die es beim Vordringen des Menschen geflüchtet ist.
   Es gibt auch noch andere, die trotz ihres rauhen Äußeren eine poetische Seele haben und bei denen ein Leben voll Gefahren zur Gewohnheit geworden ist, wie der Matrose, den das Land langweilt und dessen Herz nur mitten im unermeßlichen Ozean frei und fröhlich schlagen kann. Bois-Rosé gehörte zur Zahl dieser letzteren. Das Leben auf dem Meer hatte bei ihm die Neigung für die großartigen Szenen in der Steppe entwickelt, doch trug er – wie die amerikanische Rasse im allgemeinen – in seinem Herzen die Ehrfurcht vor dem natürlichen Gesetz selbst da, wo das geschriebene Gesetz ihn nicht erreichen konnte.
   Obgleich Fabian entgegengesetzte Grundsätze eingesogen hatte, so war er dem Einfluß des Jägers doch unterlegen. Er war nicht mehr der junge Mann, der seine wilden Leidenschaften einer blinden Rachsucht zur Verfügung stellte; er hatte gelernt, daß die Macht auch gnädig sein kann; er war mit einem Wort – ohne es zu wissen – dadurch, daß er die Ideen des Kanadiers annahm, der Stunde vorangeeilt, wo die Rasse, der er entsprungen war, in die anglosächsische wird aufgehen müssen. Das war das Geheimnis einer Mäßigung, die seinem bisher gezeigten Charakter gänzlich widersprach. Seine Züge zeigten jedoch eine solche Aufregung, daß man gut sehen konnte, welche Anstrengungen es ihn kostete, sich selbst zu beherrschen.
   Der spanische Señor verschluckte unterdessen schweigend seine Wut.
   »Also«, fuhr Fabian fort, »wißt Ihr nichts weiter von mir? Ihr wißt also nicht meinen Namen und Stand? Ich bin also nichts weiter, als was ich zu sein scheine?«
   »Ein Mörder vielleicht«, erwiderte Mediana, indem er Fabian den Rücken zukehrte, um anzudeuten, daß er nicht mehr antworten wolle.
   Während dieses Gesprächs zwischen zwei Männern vom selben Blut und von einer gleich unzähmbaren Natur waren der Jäger und Pepe abseits geblieben.
   »Kommt heran«, sagte Fabian zu dem früheren Grenzjäger, »und sagt«, fügte er mit gezwungener Ruhe hinzu, »diesem Mann, wer ich bin; sein Mund legt mir einen Namen bei, den er allein verdient hat.«
   Wenn Don Antonio noch irgendeinen Zweifel über die Gesinnung der Männer gehabt hätte, in deren Hände er gefallen war, so mußte dieser vor dem finsteren Antlitz verschwinden, mit dem Pepe sich bei der Aufforderung Fabians näherte. Die sichtlichen Anstrengungen, die er machte, um den leidenschaftlichen Haß zu unterdrücken, den der Anblick des spanischen Señors in ihm erregte, weckten in dem letzteren eine düstere Ahnung. Ein Schauder überlief Don Antonio; aber er schlug die Augen nicht nieder, und stark in seinem unbesieglichen Stolz erwartete er mit anscheinender Ruhe, daß Pepe das Wort ergreife.
   »Wahrhaftig!« sagte dieser und strengte sich vergeblich an, einen spöttischen Ton anzunehmen. »Lohnte es sich wohl der Mühe, mich zur Thunfischerei an die Küsten des Mittelmeeres zu schicken, um zuletzt dreitausend Meilen von Spanien mir und dem Neffen zu begegnen, dessen Mutter Ihr ermordet habt? Ich weiß nicht, ob Don Fabian von Mediana Lust hat, Euch zu begnadigen. Was mich betrifft«, fügte er hinzu, indem er den Kolben seiner Büchse auf dem Sand erdröhnen ließ, »so habe ich geschworen, daß ich es nicht tun werde.«
   Fabian warf Pepe einen gebieterischen Blick zu, der ihm einzuschärfen schien, seinen Willen dem seinigen unterzuordnen, und wandte sich dann an den Spanier. »Señor von Mediana, Ihr steht hier nicht vor Mördern, sondern vor Richtern, und Pepe wird es nicht vergessen!«
   »Vor Richtern?« sagte Don Antonio. »Ich erkenne nur meinen Pairs das Recht zu, mich zu richten, und verwerfe als solche einen Flüchtling aus dem Presidio und einen Bettler, der einen Titel in Anspruch nimmt, auf den er kein Recht hat. Ich sehe hier keinen anderen Mediana als mich und habe nichts zu antworten.«
   »Und dennoch werde ich Euer Richter sein«, erwiderte Fabian. »Aber ein unparteiischer Richter, denn ich nehme Gott zum Zeugen, dessen Sonne auf uns niederstrahlt – mein Herz kennt von diesem Augenblick an weder Bitterkeit noch Haß gegen Euch.«
   Es lag so viel Ehrenhaftigkeit und überzeugende Kraft in dem Ton, mit dem Fabian diese Worte aussprach, daß Medianas Antlitz plötzlich sein düsteres Mißtrauen verlor. Die Hoffnung flog wie ein Blitz darüberhin, denn der Herzog von Armada erinnerte sich, daß er vor dem Erben stand, den sein Stolz einen Augenblick beweint hatte. Seine Stimme klang weniger hart, als er sagte: »Welchen Verbrechens bin ich denn angeklagt?«
   »Ihr sollt es erfahren«, antwortete Fabian.


   45. Das Lynchgesetz

   Es gibt an den amerikanischen Grenzen ein schreckliches Gesetz. Es ist nicht gerade darum schrecklich, weil der einzige Artikel sagt: »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut«; denn die Anwendung dieses Grundsatzes ist für den, der den Lauf der Dinge hier auf Erden beobachtet, in allen Akten der göttlichen Vorsehung sichtbar. »Wer das Schwert zieht, soll durch das Schwert umkommen«, sagt schon das Evangelium. Aber das Gesetz der Steppe ist schrecklich durch den Schein einer ehrfurchtgebietenden Gesetzlichkeit, mit der es sich zu umgeben den Anschein hat.
   Dieses Gesetz ist schrecklich; nicht nur wie alle blutigen Gesetze dadurch, daß diejenigen, die es anwenden, eine Macht in Anspruch nehmen, die ihnen nicht verliehen ist, sondern dadurch, daß die dabei Beteiligten sich zu gleicher Zeit als Richter aufwerfen, von der Strafe entweder freisprechen oder den Urteilsspruch vollstrecken. Man nennt es das Lynchgesetz oder das Gesetzbuch des Lynch.
   Mitten in den Steppen, die an die Grenzen der Vereinigten Staaten stoßen, vollziehen es die Weißen untereinander, die Indianer gegen die Weißen, die Weißen gegen die Indianer mit unerbittlicher Strenge. Die zivilisierte Gesellschaft hat seine Anwendung gemildert und es nur noch in der Todesstrafe in seiner Ursprünglichkeit bestehen lassen; aber das Barbarentum der Steppe läßt dieses Gesetz der ersten Zeitalter der Welt immer noch ohne Einschränkung in Kraft treten.
   Ist hier nicht der Ort, zu bemerken, daß dieser Berührungspunkt der Zivilisation mit der Barbarei ein Schandfleck für die erstere ist, der verschwinden muß? Die Ehre der Zivilisation verlangt es. Die Gesellschaft hat Gesetze zum Schutz für alle aufgestellt. Der Mensch, der bei uns sich selbst Gerechtigkeit verschafft, verletzt die Gesetze und fällt dem Richterspruch derer anheim, denen die Gesellschaft das Amt erteilt hat, zu verurteilen und zu strafen.
   »Man freut sich im Himmel«, heißt es im Evangelium, »mehr über einen Sünder, der Buße tut, als über neunundneunzig Gerechte.« Warum sollen die menschlichen Gesetze nicht vom Abglanz der göttlichen bestrahlt werden?
   Aber heutigen Tages ist die Freiheit das einzige Gut, das die Gesellschaft dem zurückerstatten kann, dem ein Vergehen oder das Unglück diese geraubt hat.
   Wir sagen das Unglück; gibt es nicht in der Tat ein Gesetz, das den ehrlichen, aber zahlungsunfähigen Schuldner dem Verbrecher gleichstellt und ihn derselben Behandlung in seinem Gefängnis unterwirft?
   Nach dieser Abschweifung kommen wir auf das Lynchgesetz zurück. Vor einem solchen Gerichtshof ohne Berufung, wo die Parteien sich zu Richtern aufwerfen, sollte Don Antonio de Mediana erscheinen, und die Justiz der Städte hätte mit all ihren erschreckenden Vorbereitungen die Feierlichkeit der Gerichtssitzung nicht erreicht, die eben in der Steppe eröffnet werden sollte, wo drei Männer die menschliche Gerechtigkeit samt ihren Irrtümern vertraten.
   Wir haben schon gesagt, welch großartige und sonderbare Szenerie sich ringsum dem Auge darbot, so daß bei deren Blick der Herzog von Armada zu dem Glauben hätte bewogen werden können, er befände sich unter dem Eindruck irgendeines schrecklichen Traums. In der Tat: diese finsteren, nebelumhüllten Berge; das dumpfe Geräusch, das unter der Erde grollte; die menschlichen Skalpe, die im Wind flatterten; das Skelett des indianischen Pferdes, durch das man hindurchsehen konnte – alles gewann in den Augen des spanischen Señors einen fremdartigen, phantastischen Charakter. Man hätte einen Augenblick glauben können, es fände hier eine Aufnahme in irgendeine geheime Verbindung des Mittelalters statt, wo man vor den Augen dessen, der aufgenommen werden sollte, alles entfaltete, was nur irgend seiner Seele Schrecken einflößen konnte, um dadurch seinen Mut zu erproben.
   Dies alles war jedoch leider eine schreckliche Wirklichkeit.
   Fabian zeigte mit dem Finger dem Herzog von Armada eine Steinplatte, wie sie, den Grabsteinen ähnlich, die Ebene bedeckten, und setzte sich auf eine andere, so daß er mit dem Kanadier und dem spanischen Jäger ein Dreieck bildete, dessen Gipfelpunkt er selbst war.
   »Es ziemt dem Angeklagten nicht, sich in Gegenwart seiner Richter zu setzen«, sagte der spanische Señor mit bitterem Lächeln. »Ich werde also stehen bleiben.«
   Fabian antwortete nichts. Er wartete, bis Diaz – der einzige fast unparteiische Zeuge vor diesem Gerichtshof – die ihm zusagende Stellung gewählt hätte. Wohl blieb der Abenteurer fern von den handelnden Personen in diesem Schauspiel, aber doch nahe genug, um alles zu sehen und zu hören. Seine Haltung war kalt, zurückhaltend und aufmerksam wie die eines Geschworenen, der sich seine Überzeugung nach der Debatte bilden will, die vor seinen Augen beginnen soll.
   Fabian nahm hierauf das Wort: »Ihr sollt nun erfahren«, sagte er, »welches Verbrechens man Euch anklagt. Was mich anlangt, so bin ich hier nur der Richter, der hört, verdammt oder freispricht.« Nach diesen Worten schien er zu überlegen. Er mußte vor allen Dingen die Identität des Angeklagten dartun. »Seid Ihr auch«, fuhr er endlich fort, »Don Antonio, den man bis jetzt Graf von Mediana genannt hat?«
   »Nein«, erwiderte der Spanier mit fester Stimme.
   »Wer seid Ihr denn?« fuhr Fabian mit einem fast schmerzlichen Erstaunen, das er nicht verbergen konnte, fort; es widerstrebte ihm, zu glauben, daß ein Mediana zu einer feigen Lüge seine Zuflucht genommen hätte.
   »Ich war der Graf von Mediana«, antwortete Don Antonio mit stolzem Lächeln, »bis zu dem Augenblick, wo mein Schwert mir andere Titel erobert hat; heute nennt man mich in Spanien nur Herzog von Armada. Das ist der Name, den ich auf den Mann meines Geschlechts vererben könnte, den ich als meinen Sohn adoptieren würde.« Dieser letztere beiläufig vom Angeklagten hingeworfene Satz sollte bald sein einziges Verteidigungsmittel bilden.
   »Gut«, sagte Fabian; »der Herzog von Armada wird erfahren, welches Verbrechens Don Antonio von Mediana angeklagt ist. Sprich, Bois-Rosé; sage das, was du weißt, und nichts weiter!«
   Dies zu empfehlen war nutzlos. Es lag auf dem rauhen, männlichen Antlitz des gigantischen Abkömmlings der normannischen Rasse, der unbeweglich, die Büchse auf der Schulter, neben ihm saß, so viel Ruhe und Ehrenhaftigkeit, daß sein Anblick allein jeden Gedanken an Verrat verbannte. Bois-Rosé stand auf, nahm langsam seine Pelzmütze ab und entblößte seine breite, edle Stirn. »Ich werde nur sagen, was ich weiß«, begann er. »Im Jahre 1808 war ich Matrose an Bord des Luggers ›Albatros‹, eines französischen Korsaren und Schleichhändlers. Es war im Monat November und eine neblige Nacht. Wir waren an Land gestiegen nach einer Verabredung, die mit dem Capitan der Grenzjäger von Elanchove an der Küste der Biskaya getroffen war. Ich will Euch nicht erzählen« – bei diesen Worten flog ein Lächeln über Pepes Lippen —, »wie wir mit Flintenschüssen von einer Küste verjagt wurden, wo wir als Freunde gelandet waren. Die Erklärung wird genug sein, daß, als wir unser Schiff wieder zu erreichen suchten, Kindergeschrei, das aus der Tiefe des Ozeans selbst hervorzukommen schien, meine Aufmerksamkeit erregte. Dieses Geschrei kam aus einem verlassenen Nachen. Ich ruderte an ihn mit Gefahr meines Lebens heran, denn ein lebhaftes Feuer war auf diesen Nachen gerichtet.
   In diesem Kahn schwamm eine ermordete Frau in ihrem Blut. Die Frau war tot; an ihrer Seite lag ein kleines Kind im Sterben. Ich nahm das Kind mit; dieses Kind ist der hier gegenwärtige Mann.« Er zeigte auf Fabian. »Ich habe das Kind mitgenommen; ich habe die ermordete Frau auf das Ufer gelegt. Ich weiß nicht, wer dieses Verbrechen begangen hatte; ich habe nichts weiter zu sagen.« Nach diesen Worten bedeckte sich Bois-Rosé, schwieg und setzte sich.
   Eine feierliche Stille folgte dieser Erklärung. Fabian senkte einen Augenblick seine blitzenden Augen auf den Boden und richtete sie dann wieder ruhig und kalt auf den Grenzjäger, an den jetzt die Reihe zu sprechen gekommen war. Fabian stand auf dem Gipfel seiner schrecklichen Rolle, und in seinem Ernst, in der Haltung des jungen Mannes in Lumpen lebte der ganze Adel eines Geschlechts wieder auf, lag die ganze Leidenschaftslosigkeit eines Richters. Er warf Pepe einen so gebieterischen Blick zu, daß der wilde Jäger nicht umhin konnte, diesem, zu gehorchen. Der Grenzjäger erhob sich und trat zwei Schritte vor. Auf seinem Antlitz ließ sich ebenfalls der feste Entschluß lesen, nur nach seinem Gewissen zu reden. »Ich verstehe Euch, Graf von Mediana«, sagte er, sich an Fabian wendend, der in seinen Augen nur allein das Recht hatte, diesen Titel zu führen; »ich werde vergessen, daß der hier gegenwärtige Mann mich lange Jahre unter dem Abschaum der Menschheit in einem Presidio hat zubringen lassen. Wenn ich einst vor Gott erscheinen werde, mag er mir die Worte, die ich jetzt sagen will, wiederholen; ich werde sie hören und nicht bedauern, sie ausgesprochen zu haben.«
   Fabian machte eine Gebärde der Zustimmung.
   »Im Jahre 1808«, sagte Pepe, »war ich noch Grenzjäger oder königlicher Mikelet in spanischen Diensten. Es war eine Novembernacht; ich war auf Posten an der Küste Elanchoves; drei Männer kamen von der Seeseite und betraten die Meeresküste.
   Der Führer, der uns befehligte, hatte einem von ihnen das Recht verkauft, an einer verbotenen Küste zu landen. Ich muß mir den Vorwurf machen, der Mitschuldige dieses Mannes gewesen zu sein; ich habe von ihm den Preis für meine schuldbeladene Schwäche empfangen. Am folgenden Tag hatte die Gräfin von Mediana mit ihrem kleinen Sohn nachts ihr Schloß verlassen. Die Gräfin war ermordet worden, der junge Graf erschien nicht wieder. Nicht lange darauf stellte sich der Onkel des Kindes ein; er forderte die Güter und Titel seines Neffen für sich; alles wurde ihm übergeben. Ich hatte geglaubt, mich nur einer Intrige verkauft zu haben – ich hatte einen Mord unterstützt!
   Ich habe den neuen Grafen von Mediana dieses Verbrechens vor den Menschen angeklagt. Fünf Jahre im Presidio von Ceuta sind die Belohnung meiner Kühnheit gewesen. Heute, fern vom Tribunal dieser bestochenen Richter, im Angesicht Gottes, der uns sieht, klage ich wie ehemals den unrechtmäßigen, hier gegenwärtigen Inhaber des Namens Graf von Mediana des Mordes der Gräfin an. Ich habe nichts weiter zu sagen. Möge der Mörder mich mit Lügen strafen.«
   »Ihr hört es«, sagte Fabian. »Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu erwidern?«
   In dem Augenblick, wo Fabian diese Frage beendete, ließ sich ein Angstgeschrei von der Seite her vernehmen, wo der Wasserstrahl sich bogenförmig in den Abgrund stürzte. Alle blickten sogleich nach dieser Richtung hin, und hinter dem durchsichtigen Schleier des Wasserfalls schien eine menschliche Gestalt einen Augenblick über dem Abgrund zu schweben und dann als dunkle Linie hinabzustürzen.
   Wenn die Zuschauer dieser schrecklichen Episode das Dasein des Goldblocks gekannt hätten, so würden sie ihn jetzt nicht mehr an der Stelle gefunden haben, wo der Felsen ihn so lange Zeit festgehalten hatte. Er war verschwunden, und derjenige, der ihn trug, war mit ihm vom Abgrund verschlungen. Tiefes Schweigen folgte dem Ruf, der sich eben hatte hören lassen, während unter dem Nebel der Berge ein dumpfer Donner grauenvoll widerhallte.
   Die Szene war den handelnden Personen angemessen. Schwarze Geier schwebten kreisend über ihnen, und ihr scharfes Geschrei mischte sich in das ferne Rollen auf den Hügeln, als ob sie eine neue Beute ahnten oder den Leichnam bedauerten, den der Abgrund verschlungen hatte.
   Nach der ersten Bewegung des Erstaunens, die durch ein Schauspiel, das alle so wenig erwartet hatten, hervorgerufen worden war, wiederholte Fabian: »Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen?«
   Im Herzen Medianas fand ein heftiger Kampf zwischen seinem Gewissen und seinem Stolz statt. Der Stolz trug den Sieg davon. »Nichts«, antwortete Don Antonio. »Nichts?« erwiderte Fabian. »Aber Ihr begreift vielleicht nicht die schreckliche Pflicht, die ich noch erfüllen muß?«
   »Ich begreife sie.«
   »Und ich«, rief Fabian mit erhobener Stimme, »ich werde sie zu erfüllen wissen! Und doch – obwohl das Blut meiner Mutter um Rache schreit, reinigt Euch von der Schuld, und ich will Eure Worte segnen. Schwört mir beim Namen Mediana, den wir beide tragen; schwört auf Eure Ehre, beim Heil Eurer Seele, daß Ihr unschuldig seid, und ich werde glücklich sein, Euch glauben zu können.«
   Dann erwartete Fabian unter dem Gewicht einer unaussprechlichen Angst die Antwort Medianas; aber unbeugsam und ruhig wie der gefallene Erzengel blieb Mediana schweigsam und still.
   In diesem Augenblick näherte sich Diaz den Richtern und dem Angeklagten und sagte: »Ich habe mit tiefer Aufmerksamkeit die gegen Don Estévan de Arechiza, den ich auch unter dem Namen Herzog von Armada kannte, gerichtete Anklage mit angehört. Darf ich hier frei aussprechen, was ich davon denke?«
   »Redet!« antwortete Fabian.
   »Ein Punkt scheint mir zweifelhaft. Ich weiß nicht, ob das Verbrechen, das man diesem edlen Kavalier vorwirft, von ihm begangen worden ist; aber dies auch zugegeben – habt Ihr ein Mandat, ihn zu richten? Nach den Gesetzen an unseren Grenzen, wo die Tribunale keine Sitzung halten können, haben nur die nächsten Verwandten des Getöteten das Recht, das Blut des Schuldigen zu fordern. Don Tiburcio hat seine Jugend in diesem Land verlebt; ich habe ihn als den Adoptivsohn des Gambusinos Marcos Arellanos kennengelernt. Was beweist, daß Tiburcio Arellanos der Sohn der ermordeten Frau ist? Wie hat nach so langen Jahren der frühere Matrose, der jetzt hier gegenwärtige Jäger mitten in diesen Steppen in dem hier stehenden Mann den Knaben wiederzuerkennen vermocht, den er nur einen Augenblick in einer nebligen Nacht gesehen hat?«
   »Antworte, Bois-Rosé!« sagte Fabian kalt.
   Der Kanadier erhob sich abermals. »Zunächst muß ich Euch sagen«, begann der alte Jäger, »daß ich den Knaben, um den es sich handelt, nicht bloß einen einzigen Augenblick in einer nebligen Nacht gesehen habe. Nachdem ich ihn einem gewissen Tod entrissen hatte, habe ich zwei Jahre lang mit ihm an Bord eines Schiffes gelebt, auf das ich ihn gebracht hatte. Die Züge eines Sohnes sind nicht tiefer in das Gedächtnis eines Vaters gegraben, als die Züge dieses Kindes in dem meinigen hafteten.
   Jetzt komme ich zu der Frage: Wie habe ich ihn wiedererkannt? Wenn Ihr in der Einöde auf ungebahntem Pfad geht, richtet Ihr Euch da nicht nach dem Lauf der Flüsse, nach dem Aussehen der Bäume, nach der Gestalt ihrer Stämme, nach dem Zustand des Mooses, das sie bedeckt, nach den Sternen am Himmel? Wenn Ihr denselben Weg wieder im folgenden Jahr nehmt oder zwanzig Jahre später oder in einer nächtlichen Stunde; wenn der Fluß vom Regen angeschwollen ist; wenn ihn die Sonne halb ausgetrocknet hat; wenn Blätter den Baum bedecken, den Ihr im Winter unbelaubt gesehen habt; wenn sein Stamm stärker geworden ist; wenn das Moos sich verdichtet hat – würdet Ihr nicht immer den Stern, den Baum oder den Bach erkennen?«
   »Ganz gewiß«, erwiderte Diaz; »der Mann, der die Steppe durchstreift hat, täuscht sich darin nicht. Aber …«
   Der Kanadier fuhr, den Abenteurer unterbrechend, fort: »Wenn Ihr in den Savannen einem Unbekannten begegnet, der den Schrei des Vogels oder die Stimme des Tieres mit Euch austauscht, die Euch oder Euren Freunden als Erkennungszeichen dienen, sagt Ihr da nicht: ›Dieser Mann gehört zu uns!‹?«
   »Ganz gewiß!«
   »Wohlan! Ich habe das Kind in dem erwachsenen Mann wiedererkannt, wie Ihr den schwanken Schößling in dem groß gewordenen Baum, den einst murmelnden Bach in dem tosenden, vom Regen angeschwollenen Strom wiedererkennen würdet; ich habe den Knaben an einem Losungswort wiedererkannt, das er in zwanzig Jahren nur halb vergessen hatte.«
   »Ist dieses Zusammentreffen nicht zum verwundern sonderbar?« fügte Diaz, fest überzeugt von der Wahrhaftigkeit des Kanadiers, hinzu.
   »Gott«, sagte Bois-Rosé feierlich, »Gott, der dem Windhauch befiehlt, den befruchtenden Blütenstaub des männlichen Palmbaums weit durch den Raum hindurch nach der weiblichen Dattelpalme zu tragen; Gott, der dem verheerenden Sturm, dem verwüstenden Sturzbach, dem Zugvogel auf der Wanderung den Samen der Bäume und Pflanzen anvertraut, die zum Unterhalt der Menschen notwendig sind, um sie hundert Meilen von der Pflanze oder dem Baum, der ihnen das Dasein gegeben hat, wieder entstehen zu lassen – sollte der nicht ebenso leicht zwei nach seinem Bild geschaffene Wesen einander begegnen lassen können?«
   Diaz schwieg einen Augenblick, da er doch nichts weiter gegen die warme Rede des Kanadiers einzuwenden wußte, dessen ehrliches Gesicht den Stempel der Wahrheit trug und eine unwiderstehliche Überzeugung aussprach; dann wandte er sich an Pepe. »Habt Ihr« fragte er, »in dem Adoptivsohn des Gambusinos Marcos Arellanos den Sohn der Gräfin von Mediana wiedererkannt?«
   »Ich müßte niemals seine Mutter gesehen haben, um ihn länger als einen Tag nicht als solchen zu erkennen«. erwiderte Pepe. »Übrigens möge mich der Herzog von Armada Lügen strafen.«
   Don Antonio war zu stolz zum Lügen und konnte die Wahrheit nicht leugnen, ohne sich in den Augen der drei Mitglieder des improvisierten Tribunals herabzusetzen, ohne das einzige Verteidigungsmittel zu vernichten, zu dem sein Stolz und der geheime Wunsch seines Herzens ihm seine Zuflucht zu nehmen gestatteten. »Es ist wahr«, sagte er; »dieser Mann ist von meinem Blut; ich könnte es nicht leugnen, ohne meine Lippen mit einer Lüge zu besudeln. Die Lüge ist die Tochter der Feigheit.«
   Diaz senkte das Haupt, ging wieder an seinen Platz und sagte nichts weiter.
   »Ihr habt es gehört«, sagte Fabian; »ich bin gewiß der Sohn dieser von dem hier gegenwärtigen Mann ermordeten Frau. Ich habe also das Recht, Rache für sie zu nehmen. Was sagt nun das Gesetz der Steppe?«
   »Auge um Auge«, antwortete Bois-Rosé.
   »Zahn um Zahn«, fügte Pepe hinzu.
   »Blut um Blut«, schloß Fabian, »Tod um Tod!« Dann wandte er sich an Don Antonio und sprach langsam die Worte aus: »Ihr habt Blut vergossen und getötet; es wird Euch geschehen, was Ihr anderen getan habt. Gott hat so gesprochen und will es so.«
   Fabian entblößte seinen Dolch; die Sonne überflutete mit ihrem Morgenlicht die Steppe und die Gegenstände darin warfen lange Schatten. Ein heller Blitz leuchtete von der nackten Klinge des jüngsten der beiden Mediana. Fabian stieß die Spitze in den Sand. Der Dolch warf einen seiner Länge gleichen Schatten.
   »Die Sonne«, sagte Fabian, »wird die Augenblicke bestimmen, die Euch zu leben übrigbleiben. Sobald der Schatten dieses Dolches waagrecht fällt, werdet Ihr vor Gott erscheinen, und meine Mutter wird gerächt sein.« Ein tiefes Schweigen folgte den letzten Worten Fabians, der unter dem Gewicht schmerzlicher, so lange Zeit unterdrückter Gemütsbewegungen mehr auf den Stein zurückfiel, als daß er sich darauf niederließ. Bois-Rosé und Pepe waren gleichfalls schweigend sitzen geblieben, so daß den Verurteilten ein Dreieck von Büchsen umgab, da jeder einen Winkel des Dreiecks eingenommen hatte. Alle vier blieben unbeweglich …
   Diaz fühlte nun wohl, daß alles vorbei sei, und wollte bei der Ausführung des Urteilsspruchs nicht gegenwärtig sein. Er näherte sich, ohne zu sprechen, dem Herzog von Armada, beugte ein Knie vor ihm, ergriff seine Hand und küßte sie, immer noch schweigsam. »Ich werde für das Heil Eurer Seele beten«, sagte er endlich mit leiser Stimme. »Señor Herzog von Armada, entbindet Ihr mich meines Eides?«
   »Ja«, erwiderte Don Antonio mit fester Stimme. »Geht, und Gott segne Euch für Eure Ehrenhaftigkeit.«
   Der edle Abenteurer entfernte sich schweigend. Sein Pferd war nicht weit davon stehengeblieben. Diaz ging darauf zu, nahm den Zügel in die Hand und entfernte sich langsam in Richtung der Flußgabel.
   Unterdessen beschrieb die Sonne an einem wolkenlosen Himmel ihren ewigen Kreis. Die Schatten wurden nach und nach kürzer; die schwarzen Geier schwebten immer noch kreisend über ihnen, und dumpfer Donner grollte noch wie einen Augenblick vorher unter der Dunsthülle der Nebelberge wie ein fernes Gewitter.
   Bleich, aber ergeben, war der unglückliche Graf von Mediana aufrecht stehen geblieben. In eine letzte Träumerei versunken, schien er nicht zu bemerken, daß der Schatten immer kürzer wurde. Die äußeren Gegenstände verschwanden vor seinen Augen zwischen einer Vergangenheit, die ihm nicht mehr gehörte, und der Ewigkeit, die sich bald vor ihm öffnen sollte. Sein Stolz jedoch kämpfte immer noch in seinem Herzen, und er bewahrte ein hartnäckiges Schweigen.
   »Señor Graf von Mediana«, nahm Fabian, einen letzten Versuch machend, das Wort, »in fünf Minuten wird der Dolch keinen Schatten mehr werfen!«
   »Ich habe nichts über die Vergangenheit zu sagen«, antwortete Don Antonio; »ich habe mich nur noch mit der Zukunft meines Namens zu beschäftigen. Täuscht Euch nicht über den Sinn der Worte, die Ihr jetzt hören werdet; in welcher Gestalt der Tod sich mir auch zeigen möge, er hat nichts Schreckliches für mich.«
   »Ich höre«, sagte Fabian sanft.
   »Du bist noch sehr jung, Fabian«, fuhr Mediana fort; »das vergossene Blut wird darum nur noch länger auf dir lasten.«
   Fabian machte eine Gebärde der Angst.
   »Warum willst du so bald dieses Leben besudeln, das du kaum erst begonnen hast? Warum willst du nicht dem Weg folgen, den eine unverhoffte Gnade der Vorsehung vor dir öffnet? Gestern warst du arm und ohne Familie. Gott gibt dir eine Familie zu derselben Zeit, wo er dir Reichtum verleiht. Das Erbe deines Namens ist in meinen Händen nicht geringer geworden; in einem Zeitraum von zwanzig Jahren habe ich den Namen Mediana zur Höhe der berühmtesten Namen Spaniens erhoben, und ich bin bereit, ihn mit allem Glanz, den ich ihm habe beifügen können, zurückzugeben. Nimm doch ein Gut zurück, das ich dir freudig und glücklich abtrete, denn mein einsames Leben schien mir sehr drückend; aber erkaufe es dir nicht durch ein Verbrechen, von dem dich eine eingebildete Gerechtigkeit nicht freisprechen wird und das du bis zum letzten Tag deines Lebens beweinen wirst.«
   »Der Richter, der auf seinem Richterstuhl sitzt, hat nicht das Recht, auf die Stimme seines Herzens zu hören. Sein Gewissen und der Dienst, den er der Gesellschaft leistet, machen ihn stark; er kann den Schuldigen beklagen, aber seine Pflicht erheischt es, ihn zu verdammen. Diese beiden Männer und ich repräsentieren in diesen Einöden die menschliche Gerechtigkeit. Vernichtet die Anklagen, die auf Euch lasten, Don Antonio, und von uns beiden werdet Ihr nicht der Glücklichste sein, denn nur bebend stehe ich als Ankläger hier. Es liegt aber nicht in meiner Macht, mich der Pflicht, die Gott mir auferlegt hat, zu entziehen.«
   »Bedenke es wohl, Fabian: nicht Verzeihung, sondern Vergessenheit nehme ich in Anspruch. Dank diesem Vergessen wird es nur von dir abhängen, als der Sohn, den ich adoptieren werde, ein Mediana, der Erbe eines fürstlichen Hauses, zu sein. Nach meinem Tod werden diese Titel nur noch ein leeres Wort sein.«
   Bei diesen Worten bedeckte eine tödliche Blässe die Stirn des jungen Mannes; aber er stieß die Versuchung des Stolzes, die im Grund seines Herzens aufstieg, zurück und verschloß das Ohr der Stimme, die ihm einen reichlichen Anteil von menschlicher Größe vorhielt, als ob er nur das eitle Rauschen des Windes gehört hätte, der im Laub der Weiden murmelt. »O Mediana, warum müßt Ihr meine Mutter getötet haben?« rief Fabian, indem er das Gesicht mit beiden Händen verhüllte. Dann warf er einen Blick auf den im Sand steckenden Dolch und fügte mit feierlicher Stimme hinzu: »Señor Herzog von Armada, der Dolch wirft keinen Schatten mehr!«
   Don Antonio erbebte wider seinen Willen; erinnerte er sich etwa jetzt der prophetischen Drohung, die die Gräfin von Mediana ihm zwanzig Jahre vorher zugerufen hatte? »Vielleicht«, hatte sie ihm gesagt, »wird der Gott, den Ihr verspottet, Euch einst mitten in der Wüste, wohin die Menschen noch nie gedrungen sind, einen Ankläger, einen Zeugen, einen Richter und Henker finden lassen.«
   Ankläger, Richter und Zeuge – alles befand sich vor seinen Augen; wer aber sollte der Henker sein?
   Es sollte jedoch nichts an der Erfüllung der furchtbaren Vorhersagung fehlen. Ein Geräusch wie von zerbrochenen Zweigen ließ die handelnden Personen in diesem Drama, dessen Entwicklung die Sonne ein Ziel setzen sollte, ihre Augen erheben.
   Ein Mann in einem von Wasser triefenden, von Schlamm besudelten Anzug kam aus dem Kreis der Baumwollstauden – es war Cuchillo. Der Schelm näherte sich mit unerschütterlicher Ungezwungenheit, obgleich er ein wenig zu hinken schien. Keiner von diesen vier so tief in Gedanken versunkenen Männern schien durch seinen Anblick überrascht zu sein.
   »Caramba! Ihr habt mich also erwartet?« sagte er. »Und ich bestand hartnäckig darauf, das unangenehmste Bad zu verlängern, das ich jemals genommen habe, von dem meine Eigenliebe sich gekränkt gefühlt hätte« – Cuchillo erwähnte seinen Ausflug in die Berge mit keinem Wort —; »aber das Wasser dieses Sees ist so eisig kalt, daß ich, um nicht darin vor Kälte umzukommen, noch einer größeren Gefahr getrotzt haben würde, als die ist, wieder mit alten Freunden zusammenzutreffen. Dazu kommt noch, daß ich fühlte, wie sich an meinem Fuß eine Wunde wieder öffnete, die ich dort empfangen hatte … vor langer, sehr langer Zeit… Don Estévan, Don Tiburcio, ich bin Euer ergebener Diener.«
   Cuchillos Worte wurden mit tiefem Schweigen aufgenommen. Er fühlte wohl, daß er die Rolle des Hasen spielte, der unter den Zähnen der Windhunde eine Zuflucht sucht; aber er versuchte durch Unverschämtheit seine mehr als zweifelhafte Lage zu sichern. Der Jäger allein warf einen Blick auf Fabian, der nach dem Grund zu forschen schien, der diese Person mit dem unverschämten Gesicht und dem schlammbedeckten grünlichen Bart ungerufen herbeigezogen hatte.
   »Es ist Cuchillo«, sagte Fabian als Antwort auf den Blick Bois-Rosés.
   »Cuchillo, Euer unwürdiger Diener«, erwiderte der Taugenichts, »der Eure Heldentaten bei jener Jaguarjagd wohl bemerkt hat.« Meine Gegenwart, dachte Cuchillo, ist ihnen entschieden weniger unangenehm, als ich geglaubt hätte. Er fühlte, wie seine Unverschämtheit sich verdoppelte, obgleich der Empfang, der ihm zuteil wurde, eisig genug war; obgleich das Schweigen demjenigen glich, das in einem Sterbehaus beim Erscheinen eines jeden Neuankommenden herrscht. Er fuhr mit lauter Stimme fort, als er die feierliche Haltung aller bemerkte: »Aber, bei Gott, ich sehe, daß ihr in Geschäften begriffen seid und daß ich vielleicht unbescheiden bin; ich ziehe mich daher zurück. Es gibt Augenblicke, wo man nicht gern gestört sein mag; ich weiß es aus Erfahrung.«
   Bei diesen Worten machte Cuchillo Miene, ein zweites Mal durch die grüne Einfassung des Val d‘Or zu dringen, als die rauhe Stimme Bois-Rosés ihn zurückhielt. »Beim Heil Euer Seele, bleibt hier, Señor Cuchillo!« sagte der Jäger zu ihm.
   Der Riese wird von meinen geistigen Fähigkeiten gehört haben, sagte sich Cuchillo; sie bedürfen meiner. Im ganzen will ich doch lieber mit ihnen teilen, als gar nichts bekommen; aber gewiß ist dieses Val d‘Or bezaubert. »Mit Eurer Erlaubnis, Señor Kanadier?« erwiderte er, sich an den Jäger wendend. Dann heuchelte er eine Überraschung, die er beim Anblick seines Chefs nicht empfand: »Ich habe …«
   Ein gebieterisches Zeichen Fabians schnitt Cuchillos Rede kurz ab. »Ruhig!« sagte er. »Stört nicht die letzten Gedanken eines Christen, der sterben muß! Señor Graf von Mediana«, fügte Fabian hinzu, »ich frage Euch noch einmal bei dem Namen, den wir tragen, bei Eurer Ehre, beim Heil Eurer Seele: Seid Ihr unschuldig am Mord an meiner Mutter?«
   Auf diese Frage erwiderte Don Antonio, ohne zu wanken: »Ich habe nichts zu sagen; ich gestehe nur meinen Pairs das Recht zu, über mich zu urteilen. Mögen mein Schicksal und deines in Erfüllung gehen!«
   »Gott sieht und hört mich«, sagte Fabian. Dann führte er Cuchillo beiseite und sagte zu ihm: »Ein feierlicher Spruch hat diesen Mann verurteilt. Als Repräsentanten der menschlichen Gerechtigkeit in dieser Steppe legen wir in Eure Hände das Amt des Henkers. Die Schätze, die dieses Tal umschließt, werden die Belohnung für die Erfüllung dieser schrecklichen Pflicht sein. Möchtet Ihr niemals einen ungerechten Mord begangen haben!«
   »Man hat nicht vierzig Jahre gelebt, ohne einige Sünden auf seinem Gewissen zu haben, Don Tiburcio; ich würde jedoch Don Estévan nicht um einen geringeren Preis getötet haben und bin stolz darauf, meine Talente nach ihrem wahren Wert anerkannt zu sehen. Ihr meint also, das Gold des Val d‘Or soll mir gehören?«
   »Ganz und gar, ohne nur ein Stückchen davon auszunehmen!«
   »Caramba! Trotz meiner wohlbekannten Gewissenszweifel ist es ein guter Preis; ich will auch nicht darum feilschen. Wenn Ihr etwa noch einen anderen kleinen Dienst von mir fordern wollt – geniert Euch nicht, es kommt auf die gleiche Rechnung.«
   Das unerwartete Erscheinen Cuchillos wird durch die vorangehenden Ereignisse gerechtfertigt. Der Bandit war aus dem Wasser des benachbarten Sees, wo er sich verborgen gehalten hatte, herausgekommen, als der Prolog des Dramas stattgefunden hatte, an dem er sich eben beteiligt hatte. Durch das Zusammentreffen mit Baraja und Oroche in den Bergen war er auf seinen ersten Gedanken zurückgekommen: nämlich, sich dem Sieger anzuschließen. Alles in allem sah er, daß die Dinge einen besseren Verlauf für ihn nahmen, als er geglaubt hatte, doch verhehlte er sich die Gefahr nicht, die für ihn darin lag, daß er der Henker eines Mannes sein sollte, der alle seine Verbrechen kannte; der ihn mit einem Wort der unerbittlichen Gerechtigkeit, die in der Steppe herrscht, überliefern konnte.
   Er begriff, daß er, um sich die versprochene Belohnung zu verdienen und Don Antonio für immer den Mund zu verschließen, damit beginnen müsse, diesen zu täuschen, und er fand Gelegenheit, dem Verurteilten leise ins Ohr zu flüstern: »Fürchtet nichts… Ich bin auf Eurer Seite.«
   Unter den Zuschauern dieser schrecklichen Szene herrschte tiefes Schweigen, wie es der verschiedene Eindruck, dem sie preisgegeben waren, hervorgebracht hatte. Eine gänzliche Niedergeschlagenheit war in Fabians Seele der Willensenergie gefolgt, und seine Stirn war gegen die Erde gebeugt, ebenso bleich, ebenso aschfarbig wie die des Mannes, dem seine Gerechtigkeit den Urteilsspruch verkündet hatte.
   Bois-Rosé, bei dem die täglichen Gefahren des Matrosen– und des Jägerlebens diesen physischen Schauder des Menschen vor der Vernichtung schon längst abgestreift hatten, schien einzig und allein in die melancholische Betrachtung dieses jungen Mannes versunken, den er wie einen Sohn liebte und dessen ganze gebrochene Haltung von seinem Schmerz zeugte. Pepe dagegen suchte mit einer undurchdringlichen Maske die stürmischen Gefühle einer befriedigten Rachsucht zu verhüllen und war still und schweigsam wie seine beiden Gefährten.
   Cuchillo allein, dessen blutgierige und rachsüchtige Triebe ihn umsonst die gehässige Rolle des Henkers hätten übernehmen lassen, konnte beim Gedanken an die ungeheure Summe, die dieser Mord ihm einbringen sollte, kaum seine Freude beherrschen. Außerdem fand sich Cuchillo durch einen sonderbaren Zufall zum erstenmal im Einverständnis mit einer scheinbaren Gesetzmäßigkeit. Caramba! dachte er bei sich, als er seine Büchse aus Pepes Hand nahm und Don Antonio zugleich ein Zeichen des Einverständnisses machte. Das ist ein Fall, wo der Alkalde von Arizpe selbst mich – wenn auch wütend darüber – freisprechen müßte.
   Der Spanier wußte nicht, ob er in Cuchillo seinen Retter oder seinen Henker sehen sollte; er war bleich, seine Augen funkelten, aber er rührte sich nicht. »Es ist mir prophezeit worden, daß ich in einer Wüste sterben würde. Ich habe vor einem Gericht, wie Ihr es nennt, gestanden; ich bin verurteilt – sollte Gott auch noch die äußerste Schmach über mich kommen lassen, von der Hand dieses Mannes zu sterben? Señor Fabian, ich verzeihe dir; möge dieser Bandit dir nicht ebenso verderbenbringend werden, als er es dem Bruder deines Vaters sein wird, als er es deinem …«
   Ein Schrei Cuchillos – ein Schrei des Schreckens – unterbrach den Herzog von Armada. »Zu den Waffen! Zu den Waffen! Da sind die Indianer!« rief er.
   Es entstand eine augenblickliche Verwirrung; Fabian, Bois-Rosé und Pepe ergriffen ihre Büchsen; Cuchillo benützte diesen kurzen Augenblick, stürzte auf Don Antonio los, der ebenfalls mit vorgestrecktem Hals die unermeßliche Ebene überschaute, und stieß ihm seinen Dolch zweimal durch die Kehle. Der unglückliche Mediana stürzte zu Boden, und Wogen von Blut entquollen seinem Mund.
   Ein Lächeln flog über Cuchillos Lippen – Don Antonio nahm das Geheimnis des Banditen mit in den Tod.


   46. Das Gottesurteil

   Ein Augenblick der Bestürzung folgte diesem so rasch vollbrachten Mord. Don Antonio rührte sich nicht mehr.
   Fabian schien zu vergessen, daß der Bandit nur die Vollziehung des von ihm selbst verkündeten Urteilsspruchs beschleunigt hatte. »Unglücklicher!« rief er aus und stürzte auf Cuchillo los, den Lauf seiner Büchse in der Hand, als ob er nur die Absicht hätte, sich ihres Kolbens gegen den Henker zu bedienen.
   »La, la«, sagte Cuchillo zurückweichend, während Pepe, der geneigter war, dem Mörder Don Antonios zu verzeihen, sich zwischen beide warf. »Ihr seid lebhaft und aufbrausend wie ein wildes Füllen und jeden Augenblick bereit, wie ein Novillo die Hörner zu gebrauchen. Die Indianer sind zu sehr beschäftigt, um an uns zu denken. Es war eine Kriegslist, um Euch schneller den ausgezeichneten Dienst zu leisten, den Ihr von mir verlangt habt. Seid doch nicht undankbar; warum es nicht eingestehen? Ihr wart eben noch in betreff Eures Onkels in der größten Verlegenheit, in die jemals ein Neffe geraten ist… Ihr seid gut, edel, großmütig: Ihr hättet es Euer ganzes Leben hindurch bedauert, diesem Onkel nicht verziehen zu haben, während ich den Knoten zerhauen habe. Ich habe die Gewissensbisse auf mich genommen – das ist alles.«
   »Der Schelm hat einen raschen Verstand und eine sichere Hand«, sagte der frühere Grenzjäger.
   »Ja«, erwiderte Cuchillo, offenbar geschmeichelt, »ich bin stolz darauf, kein Dummkopf zu sein und mich auf ein zartfühlendes Gewissen zu verstehen; ich habe Eure Gewissensskrupel auf mich genommen. Wenn ich jemand liebe, so vergesse ich mich immer für ihn, das ist mein Fehler. Als ich sah, daß Ihr mir so edelmütig den Dolchst …, die Schramme verziehen habt, die ich Euch gemacht hatte, habe ich Euch einen neuen Dienst leisten wollen. Und wahrhaftig, ich habe mein Bestes getan, ihn auszuführen; das übrige muß zwischen meinem Gewissen und mir abgemacht werden.«
   »Ach«, seufzte Fabian, »ich hoffte immer noch, ihm verzeihen zu können.«
   »Was ist dabei zu tun?« unterbrach ihn der frühere Grenzjäger. »Dem Mörder Eurer Mutter zu verzeihen, Don Fabian, wäre eine Feigheit gewesen; einen wehrlosen Mann töten – ich gestehe es zu, selbst nach einem fünfjährigen Aufenthalt im Presidio —, wäre fast einem Verbrechen gleichgekommen. Unser Freund Cuchillo hat uns die Verlegenheit, zu wählen, erspart. Das ist seine Sache. Was denkst du davon, Bois-Rosé?«
   »Mit solchen Beweisen wie denen, in deren Besitz wir sind, würde der Gerichtshof einer Stadt den Mörder zur Strafe der Wiedervergeltung verurteilt haben; die indianische Gerechtigkeitspflege hätte ihn ebensowenig geschont. Gott hat gewollt, daß wir nicht das Blut eines Weißen vergießen sollten. Ich sage wie Pepe, das ist Cuchillos Sache.«
   Vor diesem Ausspruch des alten Jägers beugte sich Fabian, aber immer noch schweigend, als ob er unter den einander widersprechenden Stimmen, die sich in der Tiefe seines Herzens vernehmen ließen, nicht hätte zur Gewißheit kommen können, ob er sich über diese unerwartete Entwicklung freuen oder darüber trauern sollte. Immer jedoch lagerte eine Wolke tiefer Traurigkeit auf seiner Stirn. Er war weniger als seine beiden wilden Begleiter an blutige Szenen gewöhnt und konnte darum nur seufzend ihren unbarmherzigen Entschlüssen zustimmen.
   Während dieser Zeit hatte Cuchillo seine ganze Keckheit wiedergewonnen. Seine Angelegenheiten nahmen die beste Wendung für ihn. Er warf auf die Leiche dessen, der nun nicht mehr sprechen konnte, einen Blick befriedigten Hasses und murmelte halblaut: »Woran hängt doch das Schicksal der Menschen! Vor zwanzig Jahren war mein Leben nur von der Abwesenheit eines Baumes abhängig.« Dann wandte er sich an Fabian: »Es ist also vollständig erwiesen, daß ich Euch einen großen Dienst geleistet habe. Ach, Don Tiburcio, Ihr müßt Euch entschließen, für immer mein Schuldner zu bleiben – aber halt, ich habe da einen Gedanken, Euch die Mittel an die Hand zu geben, Eure Schuld zu bezahlen. Dort liegen unermeßliche Reichtümer, und es handelt sich nur darum, ob Ihr Euch Eures gegebenen Wortes erinnert. Ihr habt es einem Mann gegeben, der – ich wage es zu sagen – sich nicht fürchtet, zum erstenmal für Euch in offenen Zwist mit seinem Gewissen zu geraten.«
   Und Cuchillo, der trotz des Versprechens Fabians, ihm das Gold, den Gegenstand seiner Habgier, zu überlassen, recht wohl wußte, daß Versprechen und Halten zweierlei Dinge sind, erwartete mit Unruhe Fabians Antwort.
   »Ach, es ist wahr! Ich schulde Euch noch den Blutlohn«, sagte Fabian zum Banditen.
   Cuchillo nahm eine beleidigte Haltung an.
   »Wohlan, dieses Blut wird Euch prachtvoll bezahlt werden«, fuhr der junge Mann mit verächtlicher Miene fort. »Aber man soll nicht sagen, daß ich mit Euch geteilt hätte; das Gold dieser Mine gehört Euch!«
   »Alles?« rief Cuchillo, der seinen Ohren nicht glauben konnte.
   »Habe ich es Euch nicht gesagt?«
   »Ihr seid toll!« warfen der frühere Soldat und der Jäger ein. »Der Taugenichts hätte ihn für gar nichts getötet! »Ihr seid ein Gott!« rief Cuchillo. »Und Ihr allein schätzt meine Gewissensangst nach ihrer ganzen Größe. – Wie? Alles Gold?«
   »Alles bis auf das kleinste Stückchen«, erwiderte Fabian einfach. »Ich will nichts mit Euch gemein haben; nicht einmal dieses Gold.« Und er gab Cuchillo ein Zeichen.
   Der Bandit stürzte, anstatt durch die Hecke von Baumwollstauden zu dringen, zu der Stelle hin, wo er sein Pferd angebunden hatte. Einige Minuten nachher kam er mit seiner Zarapa in der Hand zurück. Er bog die ineinandergeschlungenen Zweige, die das Val d‘Or umgaben, auseinander und verschwand bald aus Fabians Augen. —
   Die Sonne stand im Mittag. Sie verbreitete ein strahlendes Licht und ließ das im Tal verstreute Gold in tausend Farben leuchten. Ein Schauder lief durch die Adern Cuchillos. Sein Herz pochte beim Anblick dieses gelblichen Lichts, das von dem strahlenden Gold ausging; er glich dem Tiger, der in eine Schafhürde einbricht und nicht weiß, welches Opfer er wählen soll; sein verstörtes Auge flog über die zu seinen Füßen ausgebreiteten Schätze, und wenig fehlte, so hätte er in einem Anfall unsinniger Freude sich in diesen Goldwellen gewälzt wie der zu Tode gehetzte Hirsch im Wasser eines Sees. Dessenungeachtet gab ihm die Stärke der habgierigen Leidenschaften selbst, die in seinem Herzen kochten, bald etwas Kaltblütigkeit zurück. Er breitete seinen Mantel auf den Sand, und da er unmöglich alle Reichtümer des Val d‘Or mitnehmen konnte, so warf er einen ruhigeren Blick um sich her. Cuchillo traf seine Wahl mit den Augen.
   Während dieser Zeit hatte Diaz, der in einiger Entfernung haltgemacht hatte, fast nichts von dieser Szene verloren. Er hatte das plötzliche Erscheinen Cuchillos bemerkt; er hatte die Rolle, die dieser spielen sollte, geahnt; er hatte den falschen Alarmruf des Banditen gehört – endlich war ihm auch der blutige Schluß des Dramas nicht entgangen. Bis dahin hatte er unbeweglich wie die Statue eines Mausoleums in der Ebene angehalten; er beweinte das Schicksal seines Chefs und die Hoffnungen, die sein Tod vernichtete.
   Cuchillo war eben im Val d‘Or verschwunden, als die drei Jäger Diaz sich erheben und herankommen sahen. Er näherte sich langsamen Schrittes wie die Gerechtigkeit Gottes, deren Werkzeug er auch sein sollte.
   Der Zügel seines Pferdes war um seinen Arm geschlungen und seine Stirn, vom Schmerz verdüstert, gegen die Erde gebeugt. Der Abenteurer warf einen trauervollen Blick auf den Herzog von Armada, der in seinem Blut schwimmend dalag; der Tod hatte den Ausdruck unveränderlichen Stolzes auf seinem Antlitz nicht verwischt.
   »Ich tadle Euch nicht«, sagte er. »Ich hätte an Eurer Stelle ebenso gehandelt. Wieviel indianisches Blut habe ich nicht schon vergossen, um meinen Rachedurst zu stillen.«
   »Das ist der beste Anblick, den man haben kann«, unterbrach ihn Bois-Rosé, indem er mit der Hand in seine dichten grauen Haare fuhr und einen Blick, der von gleichen Gefühlen zeugte, auf den Abenteurer warf. »Pepe und ich können sagen, daß unsererseits …«
   »Ich tadle also nicht, aber ich weine darüber, daß ich fast vor meinen Augen einen Mann mit festem Herzen, einen Mann, der die Zukunft Sonoras in seiner Hand hielt, habe fallen sehen und daß der Ruhm meines Landes mit ihm gestorben ist.« »Er war, wie Ihr sagt, ein Mann mit festem Herzen – aber mit einem Felsenherzen«, sagte Bois-Rosé. »Gott möge seiner Seele gnädig sein!«
   Ein schmerzliches Beben ergriff Fabians Herz.
   Diaz fuhr in der Leichenrede des Herzogs von Armada fort: »Er und ich, wir hatten von der Befreiung einer mächtigen Provinz, von Tagen des Glanzes geträumt; weder er noch ich, noch irgend jemand wird sie anbrechen sehen. Ach, warum habe ich nicht an seiner Stelle getötet werden können! Niemand würde jetzt noch daran denken, daß ich nicht mehr am Leben sei! Ein Streiter weniger hätte die Sache, der wir beide dienten, nicht gefährdet; der Tod des Chefs aber hat sie für immer zugrunde gerichtet. Die Schätze, die hier im Sand verborgen sein sollen, waren zur Wiedergeburt Sonoras bestimmt; denn ihr wißt vielleicht nicht, daß nahe bei dieser …«
   »Wir wissen es«, unterbrach ihn Fabian.
   »Gut«, antwortete Diaz. »Ich habe mit dieser unermeßlichen Goldmine nichts mehr zu tun; ich habe immer den Anblick eines von meiner Hand getöteten Indianers einem Sack voll Goldstaub vorgezogen.«
   Dieser gemeinsame Haß gegen die Indianer steigerte noch Bois-Rosés Gefühle für Diaz, der ihm schon durch seinen Mut und seine Uneigennützigkeit soviel Achtung eingeflößt hatte.
   »Wir sind im Hafen gescheitert«, fuhr Diaz im Ton bitteren Grolls fort; »und das alles durch die Schuld eines Verräters, den ich Eurer Gerechtigkeit überliefern will – nicht, weil er euch täuschte, sondern weil er das Werkzeug zerstört hat, das in Gottes Hand aus meinem Vaterland ein mächtiges Königreich gemacht hätte.«
   »Was wollt Ihr damit sagen?« fragte Fabian. »Soll das heißen, daß Cuchillo …«
   »Dieser Verräter, der zweimal versucht hat, Euch zu ermorden – das erstemal in der Hacienda del Venado, das zweitemal in dem Wald in der Nähe —, er war es, der uns ins Val d‘Or führte.«
   »Also Cuchillo hat euch dessen Geheimnis verkauft? Ich war dessen beinahe gewiß; aber Ihr, wißt Ihr es auch genau?«
   »So genau, als ich eines Tages vor Gott erscheinen werde. Der arme Don Estévan hat mir erzählt, wie das Dasein und die Lage des Schatzes zur Kenntnis Cuchillos gekommen sind: dadurch nämlich, daß er seinen Gefährten, der ihn zuerst entdeckt hatte, ermordete. Wenn Ihr nun der Meinung seid, daß der Mann, der Euch zweimal nach dem Leben getrachtet hat, eine exemplarische Strafe verdient, so liegt die Entscheidung darüber in Eurer Hand.« Nachdem Pedro Diaz diese Erklärung gegeben hatte, machte er sich zum Aufbruch bereit.
   »Noch ein Wort!« rief Fabian. »Ist dieser Grauschimmel, der auf dem rechten Vorderfuß strauchelt, schon lange in Cuchillos Besitz?«
   »Länger als zwei Jahre, wie ich ihn habe sagen hören.« Diese letzte Szene war Cuchillo entgangen; die Einfassung von Baumwollstauden war dicht genug, um ihm die Aussicht zu rauben! Aber der Blitz hätte vor seinen Füßen einschlagen können, ohne daß er seine Blicke von dem Goldlager abgewandt hätte, das seine Sinne berauschte. Im Sand kniend kroch er über den mit Goldkieseln bedeckten Boden, die dicht nebeneinander lagen wie die Sterne am Himmelsgewölbe. Die Adern seiner Stirn waren angeschwollen, sein Gesicht mit Schweiß bedeckt; er schien mehr das Opfer irgendeiner Seelenqual als der unumschränkte Herr so großer Reichtümer zu sein – ein Ziel, nach dem seine Phantasie unaufhörlich gestrebt hatte.
   Diaz beendete seine schreckliche Enthüllung gerade in dem Augenblick, als Cuchillo einigermaßen Herr seiner Gefühle geworden war und auf seinem Mantel eine strahlende Pyramide aufzubauen begann.
   »Ach, das ist ein schrecklicher, verderbenbringender Tag«, sagte Fabian, in dessen Herzen der letzte Teil von Diaz‘ Enthüllung keinen Zweifel mehr zurückgelassen hatte. »Was soll ich mit diesem Mann tun? Sprecht, ihr beide, die ihr wißt, was er mit meinem Adoptivvater getan hat! Pepe, Bois-Rosé, gebt mir Rat, denn meine Kraft und meine Entschlossenheit sind zu Ende; die Aufregung ist zu groß für einen einzigen Tag!«
   »Verdient der feige Hund, der deinen Vater ermordete, etwa mehr Nachsicht als der Edelmann, der deine Mutter getötet hatte, mein Sohn?« antwortete entschlossen der Kanadier.
   »Möge nun Euer Stiefvater oder irgend jemand anderer sein Opfer gewesen sein – dieser Räuber verdient auf jeden Fall den Tod«, fügte Diaz hinzu, indem er sich in den Sattel schwang, »und ich überlasse ihn Eurer Gerechtigkeit.«
   »Ich sehe Euch ungern aufbrechen«, sagte Bois-Rosé zum Abenteurer. »Ein Mann, der wie Ihr der erbitterte Feind der Indianer ist, wäre ein Gefährte gewesen, dessen Gesellschaft ich hochgeschätzt haben würde.«
   »Meine Pflicht ruft mich zum Lager zurück, das ich unter dem Einfluß des bösen Sterns des unglücklichen Don Estévan verlassen habe«, antwortete der Abenteurer; »aber es gibt zwei Dinge, die ich niemals vergessen werde: nämlich das Verfahren edelmütiger Feinde und den Eid, den ich in Eure Hände niedergelegt habe, das Geheimnis dieser unermeßlichen Reichtümer niemandem in der Welt zu offenbaren.«
   Nach diesen Worten entfernte sich der biedere Diaz in größter Eile, indem er über die Mittel nachdachte, sein gegebenes Wort mit der Sorge für die Sicherheit der Expedition zu vereinen, deren Chef vor seinem Tod das Kommando in seine Hände niedergelegt hatte. Die drei Freunde hatten ihn bald aus den Augen verloren.
   Während er sich entfernte, schlug auch noch ein anderer Reiter, den sie ebenfalls nicht sehen konnten, den Weg zu dem mexikanischen Lager ein, indem er einem Arm des Flusses folgte: es war Baraja. Dieser hatte endlich, das Herz noch voll von den abscheulichen Leidenschaften, die ihn seinen Gefährten hatten opfern lassen, und mehr als je vom Golddurst gequält, den Entschluß gefaßt, seine Beute zu teilen, und sprengte zum Lager, um Verstärkung zu holen, weit entfernt, zu vermuten, daß er dort nur Feuer und Schwert – das Ende der Expedition – vorfinden würde.
   Die Sonne stieg immer höher und warf ihre Strahlen in dem Tal nur noch auf Cuchillo, der sich gierig über seine Goldernte bückte, und die drei Jäger, die miteinander über sein Schicksal berieten. Fabian hatte schweigend die Ansicht angehört, die Bois-Rosé und der eben marschfertige Diaz ausgesprochen hatten; er wartete noch auf die des früheren Grenzjägers.
   »Ihr habt ein Gelübde getan«, begann dieser, »von dem Euch nichts entbinden kann. Arellanos‘ Frau hat Euch dieses Gelübde auf ihrem Totenbett abgenommen; der Mörder ihres Mannes ist in Eurer Gewalt; Ihr dürft nicht ausweichen!« Als er darauf eine angstvolle Unentschiedenheit auf Fabians Antlitz bemerkte, fügte er mit dem beißenden Spott, der den Grundzug seines Charakters ausmachte, hinzu: »Wenn Euch jedoch diese Rolle so sehr zuwider ist, so will ich sie übernehmen; denn da ich gegen Cuchillo nicht den geringsten Groll habe, so kann ich ihn ohne irgendwelche Gewissensskrupel henken; Ihr werdet sehen, Don Fabian, daß der Schelm nicht über das bestürzt sein wird, was ich ihm sagen werde. Leute, die ein solches Gesicht haben wie Cuchillo, müssen von einem Augenblick zum anderen darauf gefaßt sein, gehenkt zu werden.«
   Mit dieser scharfsinnigen Bemerkung näherte sich Pepe der grünen Hecke, die sie von Cuchillo trennte.
   Dieser hatte sich um nichts gekümmert, was um ihn her vorgegangen war; er war bezaubert und geblendet von dem goldigen Schein, der unter den Strahlen der Sonne von der Oberfläche des Tals ausströmte; er hatte nichts gesehen, nichts gehört. Seine gekrümmten Finger wühlten im Sand mit der Gier eines verhungerten Schakals, der einen Leichnam ausgräbt.
   »Señor Cuchillo! Ein Wort, wenn‘s gefällig ist«, sagte Pepe, indem er die Zweige der Baumwollstauden halb zurückbog, »Señor Cuchillo!«
   Aber Cuchillo hörte nicht. Erst beim dritten Anruf wandte er den Kopf, nachdem er mit einer unwillkürlichen Bewegung des Mißtrauens einen Zipfel seines Mantels über das Gold, das er eingesammelt hatte, geworfen hatte.
   »Señor Cuchillo«, fuhr Pepe fort, »ich habe Euch soeben einen philosophischen Satz aussprechen hören, der mir eine hohe Idee von Eurem Charakter gibt.« Sieh da, dachte Cuchillo, indem er seine schweißtriefende Stirn trocknete, da ist noch jemand, der meiner bedarf. Diese Menschen werden unbescheiden; aber, bei Gott, sie bezahlen freigebig! Dann sagte er laut: »Einen philosophischen Satz?« und warf dabei verächtlich eine Handvoll Sand hin, die an jedem anderen Ort die Freude eines Goldsuchers erregt hätte. »Welchen? Ich sage oft dergleichen und immer die besten; die Philosophie ist meine starke Seite!«
   Pepe, auf der einen Seite der Hecke, stützte sich in einer Stellung stolzer Nachlässigkeit mit der unerschütterlichsten Kaltblütigkeit auf seine Büchse; er und Cuchillo, dessen Kopf auf der anderen Seite die grüne Einfassung des kleinen Tals überragte, sahen aus wie zwei Nachbarn auf dem Land, die sich über den Wechsel der Witterung unterhalten. Niemand, der sie beide so gesehen hätte, würde den schrecklichen Schluß dieser friedlichen Unterhaltung geahnt haben.
   Der frühere Grenzjäger ließ auf seinem Gesicht ein anmutiges Lächeln sehen. »Ich sagte es wohl«, antwortete er. »Woran hängt doch‹, habt Ihr gesagt, ›das Schicksal der Menschen! Vor zwanzig Jahren war mein Leben nur von der Abwesenheit eines Baumes abhängig.«
   »Das ist wahr«, erwiderte Cuchillo zerstreut, »ich habe lange Zeit eine Vorliebe für die Gesträuche gehabt, mich seitdem jedoch mit den größten Bäumen wieder ausgesöhnt. Und dann habe ich auch noch einen Lieblingsgrundsatz: nämlich, daß der weise Mann sich über sehr viele kleine Unannehmlichkeiten hinwegsetzen muß.«
   »Dabei fällt mir ein«, fügte Pepe nachlässig hinzu, »daß es oben auf diesem abschüssigen Hügel zwei herrliche Tannen gibt, die sich über den Abgrund neigen und die Euch vor etwa zwanzig Jahren viel ernstliche Unruhe verursacht haben würden!«
   »Ich sage nicht nein; doch heute mache ich mir geradesoviel daraus wie aus einem Oreganobusch.«
   »Ich sagte es wohl.«
   »Ich sagte es wohl?« wiederholte Cuchillo etwas ungeduldig. »Ach so, Ihr erzeigtet mir also die Ehre, von mir zu reden? Und zu welchem Zweck?«
   »Oh, es war eine einfache Bemerkung. Meine beiden Freunde und ich, wir hatten einige Gründe, zu vermuten, daß in der Nähe dieser Berge sich ein gewisses Val d‘Or finden müsse; nichtsdestoweniger jedoch haben wir es erst nach langem Suchen entdeckt. Ihr kennt es also ebenfalls und selbst besser als wir, da Ihr Euch ohne zu zögern und ohne einen Augenblick zu verlieren gerade mitten in eine Goldmine, wie Ihr es nennt, begeben und wahrhaftig schon so viel gesammelt habt, daß Ihr davon eine Kirche für Euren Schutzpatron erbauen könntet.«
   Cuchillo dachte jetzt an die Unvorsichtigkeit, die er begangen hatte, und fühlte bei diesem unverdeckten Angriff seine Knie unter sich erbeben. »Es ist auch meine Absicht, dieses Gold nur zu frommen Zwecken anzuwenden«, sagte er, indem er seine Herzensangst, so gut er konnte, verbarg. »Was die Kenntnis dieses wundervollen Tales anlangt, so ist es ein … so ist es ein Zufall, dem ich sie verdanke.«
   »Der Zufall kommt immer der Tugend zu Hilfe«, erwiderte Pepe phlegmatisch. »Wohlan! In Eurer Lage würde ich doch nicht ohne einige Unruhe in betreff der Nähe dieser beiden Tannen sein.«
   »Was meint Ihr damit?« sagte Cuchillo erbleichend.
   »Nichts weiter, als daß diese Bäume eine von den kleinen Unbequemlichkeiten sind, über die, wie Ihr eben sagtet, der Mensch sich nicht weiter den Kopf zerbrechen müsse. Bei Gott, Ihr habt eine Beute, die einen König neidisch machen könnte!«
   »Aber ich habe dieses Gold ehrlich verdient. Um es zu verdienen, habe ich einen Mord begangen; was ich getan habe, ist gewiß nichts Geringes … Zum Teufel, ich bin nicht gewohnt, umsonst zu morden!« sagte Cuchillo aufgebracht, der sich in den Absichten des Grenzjägers irrte und in seinen beunruhigenden Auslassungen nur das Bedauern einer getäuschten Habgier sah. Wie der Kaufmann, der im Sturm einen Teil seiner Ladung opfert, um den anderen zu retten, so entschloß sich Cuchillo seufzend, auf seine Kosten die Gefahr zu beschwören, von der er sich dunkel und unbestimmt bedroht fühlte. »Ich wiederhole es Euch«, sagte er mit leiser Stimme: »Nur der Zufall hat mir diese Goldmine gezeigt. Ich fühle jedoch die ganze Selbstsucht meines Betragens; meine Absicht geht nicht dahin, Euren Teil mitzunehmen. Hört«, fuhr er fort, »an einer anderen Stelle befindet sich ein Goldblock von unschätzbarem Wert; ehrliche Leute verständigen sich leicht, und dieser Block soll Euch gehören. Ach, Euer Los wird schöner sein als das meinige.«
   »Ich hoffe es«, sagte Pepe. »Und wo habt Ihr mir meinen Anteil aufbewahrt?«
   »Dort oben!« sagte Cuchillo, indem er auf den Gipfel der Pyramide zeigte.
   »Dort oben? In der Nähe jener Tannen? Ach, Señor Cuchillo, wie freue ich mich, daß Ihr einen dummen Scherz nicht übelgenommen habt und daß diese Bäume Euch nicht mehr bekümmern als ein Oreganostrauch. Unter uns gesagt: Don Tiburcio, der scheinbar so in Gedanken versunken ist, bedauert in der Tat nur die ungeheure Belohnung, die er Euch für eine Tat gegeben hat, die er ebenso selbst würde vollbracht haben.«
   »Eine ungeheure Belohnung? Es war wohl nur der genaueste Preis; billiger würde ich Verlust gehabt haben!« sagte Cuchillo, der seine gewöhnliche Unverschämtheit beim Anblick der Veränderung wiederbekam, die sich im Wesen und im Ton des ehemaligen Grenzjägers kundgab.
   »Einverstanden«, erwiderte dieser; »aber er könnte doch den eingegangenen Handel bereuen, und ich muß gestehen, wenn er mir den Befehl erteilte, Euch den Kopf zu zerschmettern, um Euch loszusein, so würde ich gezwungen sein, ihm zu gehorchen. Erlaubt mir also, ihn herzurufen und ihn zu beruhigen, oder – noch besser – kommt und zeigt mir den Anteil, den Eure Freigebigkeit mir bestimmt hat. Darauf wird jeder seines Weges ziehen, und was Ihr auch sagen mögt – der Anteil, der Euch zufällt, wird alle Eure Erwartungen übertreffen!«
   »Vorwärts also!« sagte Cuchillo, der sich glücklich fühlte, eine Unterhandlung, deren Resultat ihn ernstlich zu beunruhigen begann, so vorteilhaft für sich beendet zu sehen. Und indem er auf den Goldhaufen, den er auf seinem Mantel aufgetürmt hatte, einen Blick leidenschaftlicher Zärtlichkeit warf, stieg er zum Gipfel der Anhöhe hinauf.
   Er war kaum dort angelangt, als auf Pepes Wink Fabian und Bois-Rosé die steile andere Seite zu erklimmen begannen.
   »Niemand kann seinem Schicksal entgehen«, sagte Pepe zu Fabian; »und ich habe es Euch schon vorher gesagt, daß der Schelm keine Miene verziehen würde. Wie es auch kommen mag – denkt daran, daß Ihr geschworen habt, den Tod Eures Adoptivvaters zu rächen, und daß Ihr in diesen Steppen die Gerechtigkeit der Städte, die die Straflosigkeit duldet, beschämen müßt. Bei solchen Taugenichtsen ist Nachsicht ein Verbrechen gegen die Gesellschaft. Bois-Rosé, ich werde die Hilfe deiner Arme nötig haben.«
   Der Kanadier befragte mit dem Blick denjenigen, für den seine Ergebenheit keine Grenzen kannte.
   »Marcos Arellanos hat um Gnade gefleht und sie nicht erhalten«, sagte Fabian, dessen Ungewißheit aufgehört hatte; »möge diesem da auch geschehen, was er anderen getan hat!«
   Und die drei unerbittlichen Männer setzten sich feierlich auf dem Gipfel der Pyramide nieder, wo Cuchillo sie schon erwartete.
   Beim Anblick der ernsten Haltung derer, die zu fürchten er in seinem Inneren so viele Gründe hatte, fühlte Cuchillo alle seine Besorgnisse wiederum erwachen. Er versuchte indessen, sein zuversichtliches Betragen wieder anzunehmen. »Seht!« sagte er, indem er hinter der Wasserfläche, deren ehrfurchtgebietendes Rauschen an ihre Ohren schlug, auf die Stelle zeigte, wo bisher der Goldblock seine glänzenden Strahlen ausgesprüht hatte, jetzt aber nur die Spur davon am Ufer des Flusses übriggeblieben war. Das gierige Auge des Banditen hatte bald das Fehlen des Goldblocks bemerkt, und er stieß einen sogleich wieder erstickten Schrei der Wut aus.
   Aber die Augen seiner Richter folgten nicht der Richtung, die er angegeben hatte. Fabian erhob sich langsam; sein Blick machte Cuchillos Körper schauern. »Cuchillo«, sagte er, »Ihr habt es verhindert, daß ich vor Durst gestorben bin, und habt Euch keinen Undankbaren verpflichtet. Ich habe Euch den Dolchstoß verziehen, mit dem Ihr mich in der Hacienda del Venado verwundet habt. Ich habe Euch neue Versuche in der Nähe des Salto de Agua, ich habe Euch den Büchsenschuß vergeben, den Ihr allein vom Gipfel der Pyramide habt auf uns abfeuern können. So hätte ich Euch denn alle Versuche verziehen, deren Zweck war, mir das Leben, das Ihr gerettet hattet, zu nehmen. Ich habe sogar noch mehr getan, als Euch Verzeihung zu gewähren: Ich habe Euch auch bezahlt, wie kein König den Vollstrecker seiner Gerechtigkeit bezahlt.«
   »Ich leugne es nicht; aber dieser geschätzte Jäger, der mir mit aller nur möglichen Schonung den zarten Punkt auseinandergesetzt hat, auf den Ihr kommen wollt, hätte Euch auch sagen müssen, wie vernünftig er mich in dieser Beziehung gefunden hat.«
   »Ich habe Euch vergeben«, fuhr Fabian fort; »aber es gibt außer den anderen noch ein Verbrechen, von dem Euer Gewissen Euch nicht hat freisprechen können.«
   »Mein Gewissen und ich, wir verstehen einander sehr gut«, erwiderte Cuchillo mit unheimlichem Lächeln; »wir scheinen uns jedoch von unserem Gegenstand zu entfernen.«
   »Jener Freund, den Ihr in feiger Weise ermordet habt …«
   »Er bestritt mir, daß ich die Partie gewonnen hätte, und – wahrhaftig! – wir hatten zuviel Branntwein getrunken«, unterbrach Cuchillo. »Aber erlaubt …«
   »Gebt Euch nicht den Schein, mich nicht zu verstehen!« sagte Fabian, erzürnt über die Unverschämtheit des Banditen.
   Cuchillo schien sich zu besinnen: »Wenn Ihr von Tio Tomas sprecht, so ist das eine Sache, von der man niemals recht viel gewußt hat, aber …« Fabian öffnete den Mund, um kurz und bündig die Anklage auf Arellanos‘ Ermordung auszusprechen, als Pepe dazwischentrat. »Ich wäre doch neugierig«, sagte er, »die Geschichte von Tio Tomas genau zu erfahren; vielleicht möchte Señor Cuchillo nicht Muße genug haben, seine Memoiren zu schreiben.«
   »Ich bin auch stolz darauf«, erwiderte Cuchillo, durch das Kompliment geschmeichelt, »daß ich beweisen kann, wie nur wenige Menschen ein empfindlicheres Gewissen haben als ich. Die Geschichte ist folgende: Tio Tomas, mein Freund, hatte einen Neffen, der den Augenblick, die Erbschaft anzutreten, gern beschleunigen wollte. Ich erhielt von ihm zu diesem Zweck hundert Piaster; das war doch gewiß wenig für ein so schönes Testament! Es war so wenig, daß ich Tio Tomas davon benachrichtigte, und ich erhielt zweihundert Piaster, damit sein Neffe niemals von ihm erben sollte. Ich beging den Fehler … den Neffen abzufertigen, ohne ihn – wie ich es vielleicht hätte tun sollen – davon zu benachrichtigen. Da fühlte ich denn, wie unbequem ein unzufriedenes Gewissen ist, wie ich es besitze; ich ergriff also das einzige Mittel, das mir noch blieb, mich mit ihm abzufinden. Das Geld des Neffen war ein Gewissensbiß für mich; ich faßte den Entschluß, mich dessen zu entledigen.«
   »Des Geldes? Nicht doch! – Und Ihr schicktet nun auch den Onkel dem Neffen nach?« fragte Pepe.
   Cuchillo verbeugte sich. »Mein Gewissen hatte mir seitdem auch nicht den kleinsten Vorwurf zu machen. Ich hatte dreihundert Piaster mit der feinsten Ehrenhaftigkeit gewonnen.«
   Cuchillo lächelte noch, als Fabian sagte: »Hatte man Euch denn auch für Marcos Arellanos‘ Ermordung bezahlt?«
   Bei dieser Anklage, die wie ein Blitzstrahl auf ihn niederfuhr, entstellte die Blässe des Todes Cuchillos Züge. Er konnte sich nicht länger das Schicksal verhehlen, das ihn erwartete. Die Binde, die seine Augen verhüllte, fiel plötzlich herab, und den Träumen, denen er sich hingegeben hatte, folgte plötzlich eine schreckliche Wirklichkeit. »Marcos Arellanos?« stammelte er mit erloschener Stimme. »Wer hat Euch das gesagt? Ich habe ihn nicht getötet!«
   Fabian lächelte bitter. »Wer sagt dem Hirten«, rief er aus, »wo die Höhle des Jaguars ist, der seine Herden zerreißt? Wer sagt dem Vaquero, wohin das Pferd geflüchtet ist, das er verfolgt? Wer zeigt dem Indianer den Feind, den er sucht? Wer dem Goldsucher das Gold, das Gott verbirgt? Nur die Oberfläche des Sees läßt nicht die Spur des Vogels, der über seine Gewässer hinfliegt, nicht die Spur der Wolke zurück, die sich darin spiegelt. Aber die Erde, das Gras, das Moos – alles läßt für unsere Augen, für uns Söhne der Steppe, die Spur des Jaguars, des Pferdes, des Indianers zurück. Wißt Ihr das nicht ebensogut wie ich?«
   »Ich habe Arellanos nicht getötet«, wiederholte der Mörder.
   »Ihr habt ihn getötet! Ihr habt ihn an dem gemeinschaftlichen Feuer ermordet; Ihr habt seinen Körper in den Fluß geworfen! Die Erde hat mir alles gesagt: von dem Straucheln des Pferdes, das Ihr rittet, bis zu der Wunde am Fuß, die Ihr im Kampf empfangen habt.« »Gnade, Don Tiburcio!« rief Cuchillo, der von der plötzlichen Enthüllung dieser Tatsachen, von denen Gott allein Zeuge gewesen war, sich ganz zu Boden geschmettert fühlte. »Nehmt alles Gold, das Ihr mir gegeben habt, aber laßt mir das Leben; und um Euch dafür zu danken, will ich alle Eure Feinde töten, ich will überall und immer auf einen Wink von Euch … umsonst … meinen Vater sogar töten, wenn Ihr es befehlt – aber beim Namen des allmächtigen Gottes, dessen Sonne uns bescheint, laßt mir das Leben, laßt mir das Leben!« wiederholte er, indem er Fabian zu Füßen fiel.
   »Arellanos bat Euch auch um Gnade; habt Ihr ihn gehört?« sagte Fabian, sich abwendend.
   »Aber ich habe ihn getötet, um all dieses Gold allein zu besitzen. Ich gebe dieses Gold heute für mein Leben – was wollt Ihr mehr?« fuhr er fort, indem er Pepe Widerstand leistete, der ihn hindern wollte, Fabians Füße zu küssen.
   Mit schreckentstellten Zügen, den weißen Schaum vor dem Mund, die Augen übermäßig weit, aber ohne Ausdruck geöffnet, flehte Cuchillo noch und suchte bis zu Fabian hinzukriechen. Der Bandit war unter stetem Ringen bis an den Rand der Plattform gekommen. Hinter seinem Haupt stürzte sich der Wasserfall schäumend in die Tiefe.
   »Gnade! Gnade!« wiederholte er. »Gnade im Namen Eurer Mutter, im Namen Doña Rosaritas, die Euch liebt! Ich weiß es, daß sie Euch liebt, ich habe es gehört …«
   »Was?« rief Fabian aus, indem er nun ebenfalls auf Cuchillo losstürzte.
   Aber die Frage erstarb auf seinen Lippen. Ein Fußstoß des Grenzjägers schleuderte Cuchillo von der Plattform – er stürzte rücklings kopfüber in den Abgrund.
   »Was habt Ihr getan, Pepe?« rief Fabian.
   »Der Schurke«, sagte der frühere Grenzjäger, »war weder einen Strick noch einen Schuß Pulver wert.«
   Ein herzzerreißender Schrei – ein Schrei, der aus dem Abgrund erscholl – übertönte ihre Stimmen und das Rauschen des Wasserfalls. Fabian beugte sich vornüber, wich aber sogleich wie von Entsetzen ergriffen zurück. Er hatte an den Zweigen eines Strauchs, dessen Wurzeln sich nach und nach unter dem Gewicht, das an ihnen lastete, aus dem Felsen lösten, Cuchillo hängen sehen, der, über dem Abgrund schwebend, vor Angst heulte.
   »Zu Hilfe!« schrie er. »Zu Hilfe, wenn Ihr noch ein menschliches Herz in der Brust tragt!«
   Die drei Freunde wechselten einen unbeschreiblichen Blick. Jeder von ihnen trocknete den Schweiß von seiner Stirn. Alle drei horchten ängstlich. Ein kurzes Schweigen folgte den flehentlichen Bitten Cuchillos. Der übermäßige Schreck erstickte ohne Zweifel seine Stimme, oder sein Verstand war unter einer so schrecklichen Erschütterung erloschen. In der Tat machte ein lautes, noch viel gräßlicheres Gelächter sie fast starr vor Schreck.
   »Ah …! Ah …!« rief die Stimme des Banditen. »Warum funkeln die Augen Don Estévans so sehr …? Warum strahlt dieser Goldblock so glänzenden Schein aus …? Ah, ich habe es … Don Estévan … Das Gold … Seine Augen … Ah …! Ah …!«
   Es rauschte einen Augenblick stärker im Abgrund; das war das Zeichen, daß der Körper eben bis auf den Grund des Sees gefallen war, der durch den Wasserfall gebildet wurde, der bald die ganze feierliche Einförmigkeit seiner Stimme wiedergewonnen hatte.
   »Ach«, sagte Fabian, »Ihr habt dem menschlichen Gericht seinen erhabenen Charakter genommen.«
   »Vielleicht«, antwortete Pepe. »Aber das Gottesgericht, das eben vollzogen wurde, war noch schrecklicher.«


   47. Die inneren Stimmen

   Unterdessen wurden die von den Höhen gebildeten Schatten nach Osten zu unmerklich immer länger und ragten nach und nach in die Ebene hinein. Unter diesen Schatten, die in dem Maße größer wurden, als die Sonne, ihren ewigen Kreislauf beschreibend, sich dem Westen näherte, erloschen die Streiflichter des Val d‘Or wie eine trügerische Luftspiegelung. Noch einige Stunden, und dieselbe Dunkelheit, dieselbe Ruhe hüllte abermals die Einöden ein, wo all diese Ereignisse sich zugetragen hatten.
   Eine Pflicht blieb noch zu erfüllen übrig: nämlich Don Antonio ein seiner würdiges Begräbnis zu geben. Pepe und der kanadische Jäger übernahmen diese Sorge, und seine Leiche wurde von ihren Armen bis auf den Gipfel der Pyramide getragen, wo sie ihre letzte Ruhestätte im Grab des indianischen Häuptlings fand. Die abergläubische Verehrung, die diesen Ort beschützte, sicherte sie vor der Entweihung der Menschen; der Wind, der über die Höhen hinstreicht, mußte den Leichengeruch weithin verwehen und den Toten der Witterung der wilden Tiere entziehen. Die Steine, die ihn deckten, schützten ihn hinlänglich gegen die Raubvögel.
   Wie oft«, sagte der Jäger melancholisch, »bin ich nicht seit der Zeit, wo ich alt genug bin, ein Gewehr oder eine Büchse zu führen, in diesen feierlichen Augenblicken zugegen gewesen, wo man seine Toten zählt! Ach, was man auch dagegen sagen mag – der blutdürstige Sinn des Menschen wird niemals vergehen; mag er nun seinesgleichen auf dem unermeßlichen Ozean oder in den Einöden des festen Landes begegnen – immer ist es dasselbe Resultat: Blut, das das Meer rötet oder das der Sand trinkt! Und doch scheint Gott Erde und Meer nur so unendlich groß geschaffen zu haben, damit jedermann Platz darauf hat.«
   »Ist das ein halber Vorwurf, den du mir machst?« fragte Fabian in schmerzlichem Ton. »Ich hatte den Mörder meiner Mutter verurteilt, und die Hand eines anderen ist nur meiner Gerechtigkeit zuvorgekommen, wirst du sagen. Ich hatte auch den Mörder meines Adoptivvaters verurteilt, wie ich deinen Mörder verurteilt haben würde; ein anderer hat ebenfalls die Vollstreckung des Spruchs auf sich genommen. Was ich getan habe, würde ich noch einmal tun«, fügte er mit Festigkeit hinzu. »Hätte ich wohl das Recht gehabt, dem einen wie dem anderen Verzeihung zu gewähren?«
   »Deine Seele ist voll Bitterkeit, mein Kind«, sagte Bois-Rosé. »Nein, nein, ich würde ungerecht und unvernünftig sein. Wenn ich auch nicht selbst eine der deinigen gleiche Ansicht in dieser schrecklichen Sache ausgesprochen hätte, so würde ich doch nicht das Recht haben, dich anzuklagen. Gott bewahre mich davor, dein Verfahren zu tadeln! Es ist freilich wahr: Ich habe irgendwo in der Bibel gelesen: ›Die Rache ist mein, spricht der Herr.‹ Ich habe auch darin gelesen: ›Wehe dem, der in meiner Hand der Stab meiner Gerechtigkeit und die Rute meines Zorns sein wird!‹ Aber … wir haben uns mit Unrecht die Rache des Herrn angemaßt.«
   »Wir sind der Stab seiner Gerechtigkeit gewesen«, unterbrach ihn Fabian mit düsterem Ton; »heißt es darum auch: Wehe über uns?«
   Bois-Rosé hörte auf, unbewußt mit dem Schloß seiner Büchse zu spielen, und warf auf Fabian einen Blick zärtlicher Liebe. Man konnte leicht sehen, daß der junge Mann eine der geheimsten und schmerzlichsten Befürchtungen seines Herzens laut ausgesprochen hatte. »Das habe ich nicht damit sagen wollen«, erwiderte der Kanadier, der sich selbst durch den prophetischen Sinn seiner eigenen Worte traurig getroffen fühlte; »dieses Verbot und diese Drohung finden nicht auf die gewöhnliche Gerechtigkeitspflege der Menschen ihre Anwendung, und wir haben heute den Gerichtshof der Städte vertreten, der die Stelle Gottes selbst vertritt. Es war eine von den traurigen Notwendigkeiten, die uns die Vorsehung auferlegt und denen wir uns nicht entziehen können. Du hast dich dieser unterworfen, wie nur ein edelmütiges Herz es tun kann. Hast du nicht edel genug die Größe dieser Welt von dir gewiesen, die der Mörder deiner Mutter dir anbot? Anders zu handeln, wäre Feigheit gewesen. Ich bin stolz auf dich, mein vielgeliebtes Kind; erblicke darum in meinen Bemerkungen über die Wut der Menschen, sich gegenseitig zu zerstören, nur einen schmerzlichen Gedanken, der mich unwillkürlich überfiel. Die Zeit kommt immer näher, wo ich allein sein werde, und ich habe mich des Gedankens nicht erwehren können, daß ich vielleicht, wenn eines Tages auch an mich die Reihe kommt, keinen Feind finden werde, der meine Leiche den wilden Tieren oder den Entweihungen der Menschen entzieht.«
   Fabian antwortete nicht, und der Jäger fuhr, einen Seufzer erstickend, fort: »Ehe ich dich wiedergefunden hatte, Fabian, wagte ich nicht an die Vergangenheit zu denken; heute wage ich es nicht, in die Zukunft zu blicken.« Er seufzte abermals. »Doch was nützt es, sich mit dem zu beschäftigen, was nicht mehr ist, oder mit dem, was noch nicht ist? … Was kann ich gegenwärtig mehr wünschen? Bist du nicht bei mir, und habe ich nicht noch einmal das Kind zu beschützen, das der Himmel mich hat wiederfinden lassen? Wohlan denn! Wenn du nicht mehr bei mir sein wirst, werde ich zu mir sagen: ›Wenn Gott, der ihn zweimal zu mir gesandt hat, ihn mir nicht abermals zurückgibt, so ist mir das ein Beweis, daß er reich und glücklich ist und daß keine Gefahr ihn bedroht‹, und dieser Gedanke wird meine Einsamkeit mit Freude füllen.«
   Der Jäger wandte sich ab, um die Bewegung zu verbergen, die sich auf seinem Gesicht ausdrückte und seine Stimme überwältigte; er schien eine Antwort Fabians zu erwarten, aber Fabian blieb stumm.
   »Alles Gold hier gehört dir, mein Kind«, fuhr Bois-Rosé fort; »es ist das Erbe, das dein Adoptivvater dir hinterlassen hat; Pepe und ich werden soviel davon mitnehmen, als unsere Kräfte es nur gestatten. Wir haben schon viel Zeit verloren. – Auf, Pepe, ans Werk!« wandte sich der Kanadier an den Spanier, der, sein Gesicht auf die Hand gestützt, ebenfalls melancholische Blicke auf die Steppe warf, denn die Befriedigung einer Leidenschaft läßt im Herzen immer die Stelle leer, die von ihr eingenommen wurde.
   »Noch nicht«, sagte der durch den zärtlichen Ton Bois-Rosés beruhigte junge Mann sanft. »Wenn ihr es für gut befindet, so wollen wir die Nacht hier zubringen. Ich bin der Ruhe bedürftig; ein schrecklicher Schlag hat meinen Geist erschüttert; ich werde mich in der Stille der Nacht und der Steppe mit mir selbst darüber beraten, worüber ich einen Entschluß fassen muß, und morgen will ich euch diesen mitteilen.«
   »Worüber du einen Entschluß fassen mußt?« fragte Bois-Rosé mit erstaunter Miene.
   »Es ist jetzt zu spät, um sich auf den Weg zu machen«, sagte Fabian, ohne sich weiter zu erklären.
   »Gut. Ich will dir nicht widersprechen; ein Tag mehr mit dir verlebt wird mir immer kostbar sein. Du hörst es, Pepe; mein Rat ist also, unser Lager dort oben auf dem Hügel aufzuschlagen. Diese Höhe wird uns vor einem Überfall Sicherheit gewähren.«
   »Ja«, sagte Fabian; »vielleicht bringt die Nähe des Mannes, der seit einer Stunde neben dem indianischen Häuptling ruht, irgendeine Lehre für mich, die ich benützen werde.«
   Die Sonne neigte sich immer mehr gegen den Horizont hinab, und die drei Freunde erklommen abermals die Höhe. Vom Gipfel aus beherrschte das Auge weithin das Land, und die feierliche Stille versprach eine ruhige Nacht. Einen Schwarm von Geiern ausgenommen, der über dem Pferd Don Estévans schwebte, das wie sein Herr in seinem Grab leblos auf der Ebene zurückgeblieben war und die Erinnerung an eine blutige Begebenheit weckte, hatte alles wieder dasselbe Bild düsterer Ruhe angenommen.
   Diese ruhigen Abendstunden wecken auf dem Land die Träumerei; aber in der Steppe mischt sich unter die Gedanken, die sie hervorrufen, immer ein Gefühl von Furcht. Pepe war weniger in Nachdenken versunken als seine beiden Gefährten und warf allein von Zeit zu Zeit besorgte Blicke auf den Horizont. »Meine Ansicht ist«, sagte er endlich, »daß wir eine große Unklugheit begehen, wenn wir diese Nacht hierbleiben.«
   »Warum denn? Wo könnten wir eine stärkere und vorteilhaftere Stellung finden als auf dieser Höhe?« erwiderte der Kanadier.
   »Wir haben zwei Schelme entkommen lassen, deren Groll uns einen schlechten Streich spielen wird.«
   »Was? Dieses Geschmeiß? Erinnerst du dich nicht, daß wir den einen dieser Taugenichtse in denselben Abgrund fallen gesehen haben, wohin du Cuchillo gesandt hast, ihm Gesellschaft zu leisten?«
   »Das ist wahr, und ich werde noch lange an das herzzerreißende Geschrei dieses Unglücklichen denken!« erwiderte Pepe, schaudernd bei dieser furchtbaren Erinnerung. »Aber der andere wird zum Lager zurückkehren, und vielleicht noch heute abend werden wir sechzig Männer auf dem Nacken haben.«
   »Ich glaube nicht daran. Derjenige, der vor unseren Augen in den Abgrund des Wasserfalls stürzte, ist ohne Zweifel nicht zufällig hineingefallen. Ich möchte wetten, daß sein Gefährte ihn hinuntergestoßen hat. Warum? Um allein Besitzer der Geheimnisse zu bleiben; und wenn er es nicht mit seinem Freund hat teilen wollen, wird er dann wohl sechzig heißhungrige Goldsucher zu einem Mahl einladen, das er für sich in Anspruch nimmt? Weit davon entfernt, zum Lager zurückzukehren, muß der Schelm vielmehr zu dieser Stunde in irgendeiner Schlucht versteckt liegen, um die Nacht zu erwarten. Wenn die Finsternis die Steppe bedeckt, werden wir ihn um den Schatz herumschweifen sehen, wie wir die Wölfe nach dem Leichnam des Pferdes dort unten werden heulen hören.«
   Der Kanadier täuschte sich nicht in seinen Schlüssen; wenigstens was Oroches Schicksal betraf.
   »Alles, was du da sagst, klingt sehr wahrscheinlich«, antwortete Pepe, ohne überzeugt zu sein; »nichtsdestoweniger bleibe ich bei meiner Ansicht. Wir haben noch zwei Stunden Tag vor uns und sollten jeder dreißig bis vierzig Pfund von diesem Gold mitnehmen. Das ist ein leichtes und macht, wenn ich mich nicht täusche, eine ziemlich runde Summe aus. Wir würden dann die ganze Nacht in der Richtung zum Presidio von Tubac marschieren und irgendwo ein Versteck suchen; wir würden unseren Schatz vergraben, dann zurückkommen und neuen Vorrat holen. Der Schelm, der dadurch freies Feld bekommt, würde uns, sollte er auch soviel Gold mitnehmen, als er selbst schwer ist, doch noch mehr zurücklassen, als Don Fabian braucht. Seht doch, ist eine solche Anhäufung von Reichtümern in diesem Tal nicht ein Wunder Gottes?«
   Bei diesen Worten warfen die beiden Jäger einen Blick hinunter. Die Schatten verlängerten sich langsam, und der magische Glanz verschwand nach und nach. »Ich sagte dir, daß der Mann nicht zum Lager zurückkehren wird; es liegt nicht in seinem Interesse«, fuhr Bois-Rosé fort. »Und außerdem werden wir auch in einigen Stunden aufbrechen.« »Und der arme Teufel, den wir dort unten zurückgelassen haben? Sollen wir bis morgen warten, ihn abzuholen?«
   »Müßten wir nicht noch länger warten, wenn wir deinem Rat folgten? Ich stehe dafür, daß ihn das Fieber den ganzen Tag wie ein Murmeltier hat schlafen lassen«, erwiderte Bois-Rosé. »Er ist in Sicherheit; er hat Wasser; wir könnten doch bis morgen nichts für ihn tun. Meine Ansicht ist, ihn zu lassen, wo er ist. Das ist vielleicht hart«, sagte er ganz leise, »aber du begreifst, daß er die genaue örtliche Lage des Schatzes nicht wissen darf, wenn auch, daß es hier irgendwo einen solchen gibt. Wir werden ihn für die gezwungene Einsamkeit, in der wir ihn zurücklassen, dadurch entschädigen, daß wir ihm einige Goldkiesel geben, denn … Ach, das bringt mich in Verlegenheit: Was werden wir dann mit ihm anfangen?«
   »Wir werden es überlegen; aber ich vermute, sobald er einige Pfund Gold in seiner Tasche fühlt, so wird er nichts Eiligeres zu tun haben, als uns zu danken und seine Flucht nach menschlichen Wohnungen zu nehmen.«
   Diese Unterhaltung zwischen den beiden Jägern fand in der Zeit statt, als Fabian einen Augenblick in die Ebene hinabgestiegen war, um freier nachdenken zu können.
   »Das Klarste von alledem ist«, schloß Pepe, »daß du meiner Ansicht bist, aber daß Don Fabian den gefährlichen Einfall hat, die Nacht hier zuzubringen, und daß dies höchstes Gesetz für dich ist.«
   Der Kanadier lächelte und antwortete nicht. In diesem Augenblick fand sich Fabian bei seinen beiden Gefährten auf dem Gipfel des Hügels wieder ein.
   »Die Reihe ist an mir«, sagte der Grenzjäger, »einen Blick hinter diese Felsen zu werfen.«
   Pepe entfernte sich, die Büchse auf der Schulter. Eine halbe Stunde später kam er zurück. Er hatte die Spuren Barajas und Oroches in der Richtung nach den Bergen hin wiedergefunden, es aber nicht für angemessen gehalten, diesen weiter als einige hundert Schritte zu folgen. Dann hatte er noch einmal die kleine Felsenkette erstiegen, unter deren Schutz die beiden Abenteurer ihren Büchsen entkommen waren.
   »Die Gipfel dieser Felsen«, fügte der ehemalige Soldat hinzu, indem er seinen Bericht schloß, »– und ihr könnt es beide von hier aus sehen – sind mit so dichtem Gebüsch bedeckt, daß fünf oder sechs Männer uns auf dieser Plattform viel Schaden zufügen könnten, und ich möchte fast raten, diesen Posten zu verlassen und uns dort oben niederzulassen.«
   Ein örtlicher Umstand allein ließ den Kanadier Pepes Ansicht nicht teilen: Im Fall einer Belagerung nämlich war ihnen der Wasserfall nahe genug, um sich mit Hilfe einer an das Ende eines Baumzweigs gebundenen Kürbisflasche mit Wasser zu versorgen. Das war eine kostbare Hilfsquelle, denn unter einer glühenden Sonne war Wasser fast notwendiger als Lebensmittel. Die drei Jäger beschlossen also nach gemeinsamer Verabredung, auf der Plattform zu bleiben und etwa um vier Uhr morgens aufzubrechen.
   Der Kanadier hatte das Erscheinen des geheimnisvollen Bootes in der Ferne, das seinen Augen im Lauf des Morgens aufgefallen war, nicht vergessen. Er verhehlte sich ebensowenig, daß es nach Pepes Ausdruck ein gefährlicher Einfall Fabians war, hartnäckig die Nacht an einem Ort zubringen zu wollen, dessen Geheimnis sich auf die eine oder andere Weise in das Lager der Goldsucher hatte verbreiten können. Aber es war dem würdigen Kanadier genug, daß sein Kind diesen Wunsch so förmlich ausgedrückt hatte, um sich willig darein zu fügen. Alles in allem war die Plattform des indianischen Begräbnisses höher als die Felsenkette. Zwei von jenen großen, flachen Steinen, die so zahlreich in der Ebene lagen und sich ganz in ihrer Nähe befanden, wurden auf die hohe Kante gestellt, und dieser Schutz bildete bald – in Verbindung mit den natürlichen Zinnen des abgestumpften Hügels – eine Deckung, hinter der die drei Jäger im Notfall vor den Kugeln sicher waren.
   Nachdem diese Vorkehrung getroffen war, warf der Kanadier einen Blick ruhiger Befriedigung um sich her. Ihr Vorrat an Pulver und Blei war mehr als hinreichend, und der Jäger verließ sich im übrigen auf sein unerschrockenes Herz, auf seinen richtigen Blick und auf jene Fruchtbarkeit an Hilfsmitteln, die ihn schon aus so vielen gefährlichen Lagen und dem Anschein nach unüberwindlichen Schwierigkeiten gerettet hatte.
   »Nun«, sagte Pepe, »wollen wir vor dem ersten Viertel der Nacht erst etwas essen. Hast du noch ein wenig trockenes Fleisch in deiner Jagdtasche, Bois-Rosé? Was mich betrifft, so habe ich kaum noch einige Brocken, die hintereinander herlaufen, ohne zusammenzutreffen.«
   Nach der Untersuchung der Mundvorräte fand es sich, daß mit Ausnahme einer Quantität Pinole,Pinole ist grobes Mehl aus gestoßenem Mais, gemischt mit einem Teil Zucker und gestoßenem Zimt. die noch für zwei Tage ausreichte, in der Sonne getrocknetes Fleisch gerade noch für ein kärgliches Mahl vorhanden war. Da aber Fabian erklärte, er wäre mit einer Handvoll Maismehl, in Wasser gerührt, zufrieden, so beschlossen die beiden Jäger, sich mit ihrer Cecina, wie sie sich in Bois-Rosés Jagdtasche fand, zu begnügen.
   »Weißt du wohl«, sagte Pepe, indem er sich ans Werk machte, »daß wir seit unserem Aufbruch von der Hacienda – jenes Reh ausgenommen, dessen Überreste du in der Sonne trocknen ließest – nur sehr magere Mahlzeiten gehalten haben?«
   »Was willst du mehr?« antwortete der Kanadier. »Drei Männer, allein in der Steppe, wagen es nicht, ein Feuer anzuzünden oder einen Büchsenschuß nach einem Damhirsch zu tun, aus Furcht, sich zu verraten.«
   »Das ist wohl wahr; aber was auch daraus folgen mag – wehe dem ersten Reh, das sich im Bereich meiner Büchse findet!«
   Während der Jäger und Pepe ihre frugale Mahlzeit beendeten, war die Sonne verschwunden; die Sterne gingen einer nach dem anderen auf, und der Nebel fiel dichter und kälter auf dem Gipfel der Nebelberge.
   »Wer wird die Wache während des ersten Viertels der Nacht übernehmen?« fragte Pepe.
   »Ich werde es sein«, erwiderte Fabian; »Ihr und Bois-Rosé werdet schlafen. Ich werde für euch wachen, denn der Schlaf ist meinen Augen fern.«
   Vergeblich bestand der Jäger darauf, daß Fabian als der Jüngste zuerst einige Augenblicke ruhen solle; dieser bestand auf seinem Entschluß. Bois-Rosé streckte sich also an der Seite des Grenzjägers nieder, und alle beide hatten bald die Ereignisse des Tages vergessen.
   Fabian war allein wach geblieben; er wickelte sich in seinen Mantel, kauerte sich, das Auge nach Westen gerichtet, nieder, da von da her besonders die Gefahr kommen konnte, und hielt sich ebenso unbeweglich wie diejenigen, die an seiner Seite schliefen.
   Mitten in der Stille der Nacht, bei dem Grab, dessen Erde noch frisch war, treu – ohne es zu wissen – dem Wahlspruch seines Hauses: »Ich werde wachen!«, befragte er nacheinander drei Ratgeber, die niemals täuschen: die Einöde, den Tod und Gott. Sein Nachdenken währte lange und war tief, denn der Mond war schon aufgegangen und beschien weithin die Ebene mit seinem bleichen Licht, als er den Ort verließ, wo er so lange unbeweglich sitzen geblieben war, und sich dem Rand der Plattform näherte. Der Mond entlockte den in dem engen Tal verstreut liegenden Goldblöcken bläuliche Blitze. Ein ziemlich umfangreicher Gegenstand zeichnete sich noch unter allen funkelnden Steinen aus, die den Boden bedeckten. Es war der Schatz, den Cuchillo in den Falten seiner Zarapa zusammenzuhäufen begonnen hatte und der jetzt keinen Herrn mehr besaß.
   Fabian betrachtete lange diese wunderbaren Reichtümer, an denen soviel Ehrgeiz gescheitert war. Unter den Füßen des jungen Mannes mit den abgenutzten, ärmlichen Kleidern lag hier ein ganzes Leben voll Macht und Luxus, um die Reichsten davor erbleichen zu machen. Mit einem Teil dieser Goldkiesel konnten alle Wünsche befriedigt werden, die im Menschen nur entstehen können, alle Pläne mit Erfolg gekrönt werden, deren Ausführung überhaupt möglich ist.
   Das Gold ist fast immer ein ebenso schlechter Ratgeber als der Hunger. Ein schreckliches, schon vergessenes Wort seiner Adoptivmutter auf ihrem Totenbett fing plötzlich wieder an, in Fabians Ohren zu klingen: »Versprich mir, Arellanos zu rächen«, hatte die Sterbende gesagt, »und ich will dir ein Geheimnis mitteilen, das dich so reich machen wird, daß du den Gegenstand deiner tollen Leidenschaft für eine Stunde, einen Tag, einen Monat – wenn es dir beliebt, bis zu dem Augenblick wirst erkaufen können, wo du, ihrer überdrüssig, sie von dir in die Arme eines Mannes wirfst, der zu glücklich ist, sie mit dem Schatz zu nehmen, mit dem du ihren Besitz bezahlt hast.«
   Einen Augenblick blieb Fabian, erschüttert über seine verschmähte Liebe, bei diesem abscheulichen Gedanken stehen; ein blendender Schwindel umhüllte seine Augen, dann hörte sein Herz auf, heftig zu klopfen, und bald war es beim Anblick dieser Goldmasse von einem unendlichen Ekel erfüllt; eine bittere Traurigkeit bemächtigte sich seiner, als ob das Leben für ihn nichts Verlockendes mehr gehabt hätte. Er fühlte eine traurige Enttäuschung, ähnlich wie bei den Mächtigen der Erde, denen Gott zu ihrem Unglück die Mittel gegeben hat, die Lichter, die das menschliche Leben wie ein Leuchtturm erhellen – nämlich die Furcht, den Wunsch, die Hoffnung auszulöschen —, und denen nur noch das Unmögliche zu träumen übrigbleibt. Fabian schien plötzlich zu fühlen, daß die kalte Hand des Alters das glühende Herz, das bis jetzt in seiner Brust geschlagen hatte, zu Eis erstarrte.
   Und doch bezauberten die bleichen Lichter, die über dem zu seinen Füßen ausgebreiteten Gold tanzten, das Auge des jungen Grafen wie die Irrwische, die nachts in den Abgrund führen. Einen Augenblick belebte sich sein finsteres Auge von neuem, das Blut strömte heftiger in seine Wangen – aber es war nur ein Augenblick. Dann war es ihm, als ob sich die weißen Schattenbilder seiner Jugendtäuschungen, erstickt durch die unheilbare Verzweiflung, die aus der Übersättigung entspringt, in Tränen schwimmend auf diese bleichen Lichter herabneigten.
   »Nein«, sagte er zu sich selbst; »zu hoffen, wenn man leidet; zu genießen, wenn man gelitten und gearbeitet hat; das Gute zu schätzen in der Vergleichung mit dem Bösen; sich in lockende Träumereien, die sich nicht verwirklichen lassen, zu verirren – das ist das Leben, das Gott dem Menschen vorgezeichnet hat. Vielleicht sind die Reichsten die Söhne, denen er seine Liebe entzogen hat. Weiche von mir«, sagte er, »versuchender Dämon des Reichtums!«
   Und der junge Mann schloß die Augen; dann kehrte er zurück und setzte sich wieder auf seinen Platz. Er hatte seinen Entschluß unwiderruflich gefaßt. Unterdessen hatte Bois-Rosé das erste Bedürfnis nach Schlaf befriedigt und öffnete die Augen, als Fabian noch in seinen Gedanken versunken dasaß. Die Stimme des Jägers entriß ihn diesen.
   »Nichts Neues?« fragte Bois-Rosé.
   »Nichts«, antwortete Fabian; »aber warum unterbrichst du so bald deinen Schlaf?«
   »So bald? Die Sterne haben nicht weniger als vier Stunden für den Weg gebraucht, den sie zurückgelegt haben; es ist wenigstens Mitternacht.«
   »Schon? Ich dachte nicht, daß die Nacht so weit vorgerückt wäre.«
   »Schlafe nun ebenfalls, mein Kind«, sagte Bois-Rosé; »es ist nicht gut, daß die Jugend so lange wie das Alter wacht.«
   »Schlafen?« erwiderte Fabian, indem er den Finger auf den Arm des alten Jägers legte. »Ist es klug zu schlafen, wenn man solchen Lärm um sich herum hört?«
   Klagendes Geheul ertönte aus der Ebene von der Stelle, wo das Pferd Don Estévans durch die Kugel des Kanadiers gestürzt war und sich nicht wieder erhoben hatte. Schwarze Gestalten zeigten sich bei dem diffusen Licht des Mondes in undeutlichen Umrissen.
   »Diese Wölfe klagen um eine Beute, die sie in Gegenwart der Menschen nicht zu zerreißen wagen«, fuhr Fabian fort. »Vielleicht sind wir nicht die einzigen hier, sie abzuschrecken.«
   Ferne Schüsse schienen plötzlich Fabians Befürchtungen zu bestätigen. Der Jäger war ein Mann, der sich angewöhnt hatte, die sichersten Schlüsse aus den geringsten Anzeichen wie aus dem leisesten Geräusch in der Einöde zu ziehen, und brauchte darum nur eine Minute, um zu wissen, was los war. »Die Mexikaner«, sagte er, »sind zum zweitenmal mit den Apachen aneinandergeraten, und zwar sehr weit von hier. Was diese Wölfe betrifft, so schreckt sie unser Anblick allein zurück; schlafe also, mein Kind, und schlafe immer ohne Furcht, wenn ich für dich wache; du mußt den Schlaf benötigen.«
   »Ach«, sagte Fabian, »seit einiger Zeit sind meine Tage Jahre gewesen; heute habe ich wie das Alter das Vorrecht der Schlaflosigkeit. Könnte ich außerdem wohl Ruhe nach dem Tag erwarten, der eben verflossen ist?«
   »Wie schrecklich er auch gewesen sein mag – noch niemals hat der Schlaf gefehlt, wenn man mutig seine Pflicht erfüllt hat«, antwortete Bois-Rosé. »Verlaß dich auf die Erfahrung eines, dessen Urteil in der Einöde gereift ist.«
   »Ich will es versuchen«, erwiderte Fabian. Und mehr, um Bois-Rosé einen Gefallen zu tun, als um ein Bedürfnis, das er nicht fühlte, zu befriedigen, streckte er sich ebenfalls auf die Erde nieder.
   Bald aber wurden unter dem Rückschlag der schrecklichen Erschütterungen des Tages seine gebrochenen Muskeln schlaff, seine Augen schlossen sich wider seinen Willen, und ein tiefer Schlaf – ein Schlaf, wie ihn nur die Jugend kennt – hemmte plötzlich den Strom seiner Gedanken. Wie in der Kindheit Fabians beugte sich der kanadische Riese über sein Gesicht, das vom bleichen Mondlicht beleuchtet wurde.
   »Du Kind mit den blonden Haaren, das ich einst so oft bewacht habe«, sagte er zu sich, indem er sich nach der wohlgefälligen Weise des Alters in die Zeit seiner Jugend zurückversetzte; »du, der du jetzt in deiner Kraft einschlummerst, dessen Gesicht die Sonne gebräunt, dessen Haar die Zeit geschwärzt hat; du, der du mir wie der Anfang und das Ende eines ununterbrochenen Traumes erscheinst, schlafe noch einmal ruhig unter dem Auge des Jägers, der dich reich gemacht hat, wie du einst schliefst unter dem Schutz des Matrosen, der dein Leben gerettet hatte. Der Augenblick kommt heran, wo sich unsere Pfade abermals trennen werden, um sich nie wieder zu treffen; der Weg zu den Städten ist nicht der, der in die Steppe führt; die Eiche und der Palmbaum könnten nicht unter demselben Himmel gedeihen.«
   Während Bois-Rosé diese Worte mit tiefer Schwermut sprach, hob er leise das Haupt des jungen Mannes, den diese Berührung nicht aufweckte, empor, legte es auf seinen Schoß und stellte sich zwischen die Strahlen des Mondes und die geschlossenen Augen Fabians. Über ihnen strahlte der Himmel von Sternen.
   In den dreißig Jahren seines Matrosen– und Jägerlebens hatte der Kanadier niemals ohne Rührung die sich bewegende Unermeßlichkeit betrachtet, wo jeder Funke eine Welt ist und wo so viele Millionen Welten sich bewegen, ohne aneinanderzustoßen. Eine unbestimmte, melancholische Träumerei bemächtigte sich des alten Mannes, der den Harmonien der Erde, verbunden mit den stummen Harmonien der höheren Regionen, lauschte. Der Wasserfall rauschte dumpf in der Tiefe des Abgrunds, in den seine Gewässer sich stürzten; die Nadeln der Tannen rauschten zuweilen im Wind, und von den Nebelbergen schien ein geheimnisvolles Getöse herabzukommen und in der Ebene ein Echo zu finden.
   »Wie sehr«, sagte Bois-Rosé zu sich, indem er dem Strom seiner Gedanken folgte, »wie sehr gleicht doch der Ozean der Steppe! Ich höre von hier, wie das Meer sich bricht, ich höre, wie der Kanonendonner weithin widerhallt. Wie oft hat mich nicht das Krachen der Masten an das Rauschen dieser großen Bäume erinnert! Wie oft habe ich nicht geträumt, wenn ich die Bäume vom Wind erschüttert sah, daß ich das Stöhnen der Masten des ›Albatros‹ hörte! Der Ozean, die Steppe und Fabian – das sind die drei Gegenstände der Liebe in meinem Leben. Die Steppe allein hat mich das Meer vergessen lassen. Wer wird mir die Steppe ersetzen? Fabian ohne Zweifel. Wohlan, ich will es versuchen«, fuhr der Jäger seufzend fort. »Auch ist der Mensch nicht geschaffen, sein ganzes Leben in den Wäldern, fern von seinesgleichen, zuzubringen. Ja, ich will auf mein umherschweifendes Leben verzichten, und Fabian wird dieses Opfer mit Dank vergelten.«
   Nun ließ der Jäger seinen Geist sich nach einer längst vergessenen Welt verirren. Plötzlich durchzuckte ein schmerzlicher Argwohn sein Herz.
   »Damit aber Fabian mir für ein Opfer Dank weiß, das ohne Zweifel mein Leben verkürzen wird, wäre es nötig, daß er es von mir verlangte. Zweimal habe ich auf unsere bevorstehende Trennung angespielt, und zweimal hat sein Schweigen mir das Herz gebrochen. O Gott, welche letzte Prüfung sparst du mir noch auf?«
   Dann erhob der Jäger wie alle diejenigen, die die Zukunft zu ergründen suchen, seine feuchten Augen zum Firmament, wo das natürliche Gefühl den Menschen immer die Beschlüsse Gottes hat suchen lassen. Der »Wagen« neigte sich nach Norden und war im Begriff, hinter den Hügeln zu verschwinden, und wie eine traurige Vorbedeutung erstarben fallende Sterne – ähnlich der Hoffnung, die einen Augenblick glänzt und dann erlischt —, indem sie den Himmel mit feurigen Linien durchfurchten.
   Fabians Haupt ruhte immer noch auf dem Schoß des Kanadiers.


   48. Vom Becher zu den Lippen

   Indessen erhob sich ein unbestimmtes Geräusch an der Einfassung des Val d`Or und vom Fuß der Pyramide her. Der Jäger legte das Haupt des jungen Mannes sanft auf die Erde und näherte sich, die Büchse in der Hand, kriechend dem Rand der Plattform. Seine Augen bestätigten, was seine Ohren gehört hatten, und er wollte eben seinen Platz wieder einnehmen, als er Fabian aufrecht stehend fand.
   »Was gibt es?« fragte der junge Mann.
   »Nichts, wenn nicht ein halbes Dutzend Schakale, die, vom Geruch des Blutes herbeigelockt, die Erde unten am See aufwühlen.«
   »Ach, es ist wahr«, antwortete Fabian niedergeschlagen; »es ist Blut dort unten.«
   Beide setzten sich schweigend, und Fabian zeigte mit dem Finger auf Pepe, der, auf den Boden gestreckt, im besten Schlaf wie auf der weichsten Matratze lag.
   »Der arme Junge weiß, daß ich für ihn wache, und darum schläft er ruhig«, sagte der Kanadier. »Er hat außerdem jetzt, da sein Eid gelöst ist und er dir das wiedergegeben hat, zu dessen Beraubung er mitgeholfen hatte, eine Last weniger auf seinem Gewissen. Mach es wie er, mein Kind; du hast noch zwei Stunden, ehe es vier Uhr morgens ist.«
   »Ich habe genug geschlafen und mit dir noch, während Pepe dort schläft, wichtige Dinge zu besprechen.«
   Das Herz des Kanadiers klopfte bei dieser Erklärung Fabians heftig in seiner breiten Brust. Er wartete ängstlich darauf, daß dieser das Wort ergreifen würde.
   »Ich habe viele Nächte wie diese hier beim Schein der Sterne durchwacht«, sagte Fabian. »Erzogen in der Einöde, kenne ich jedes nächtliche Geräusch darin; aber es ist mir vorgekommen, als ob heute abend Stimmen seufzten … Stimmen, die ich noch niemals gehört habe!«
   »Das ist wohl möglich«, unterbrach ihn der von solcher Einleitung erstaunte Jäger; »man hört in der Steppe Dinge, die man in den Städten nicht hören kann; in der Steppe ist man Gott näher.«
   »Zwei Christen haben am eben verflossenen Tag durch unsere Hände ihr Leben verloren; die Gerechtigkeit würde ihnen Zeit gelassen haben, zu bereuen – sie haben keine dazu gehabt. Glaubst du, daß Gott ihnen vergeben hat? Sind diese Stimmen, die ich gehört habe, nicht die von zwei Seelen im Fegefeuer?«
   Der Jäger blieb einen Augenblick still. »Du kannst dir wohl denken«, sagte er zu Fabian, »daß ich im Verlauf meines Lebens, wie ich es immer geführt habe, niemals sicher war, den Untergang der Sonne zu sehen, wenn ich sie hatte aufgehen sehen, oder den Tag zu erleben, der der Nacht folgte, und oft an den Übergang aus diesem Leben in das andere gedacht habe. Wenn Pepe auch sagt, daß er immer nur aus Berechnung Schläfer gewesen sei, so habe ich doch häufiger und länger gewacht als er; ich habe darum auch viele Stunden der Nacht damit zugebracht, über diesen Gegenstand ins klare zu kommen. Wohlan, ich habe immer gesehen, daß ein guter Tod stets ein gutes Leben krönte und daß die Buße stets dem Verbrechen folgte. Ich habe daraus geschlossen, daß die Rechnungen eines jeden schon auf dieser Welt in Richtigkeit gebracht werden und daß, wenn die Seele sich vom Körper losmacht – möge sie nun die eines Gerechten oder die eines Bösen sein, das heißt, möge die Seele nun in ihrer ursprünglichen Reinheit oder durch die Büßungen des Lebens erst gereinigt sein —, sie beide doch vor Gott gleich und alle beide berufen sind, dieselbe Glückseligkeit zu teilen. Ob dies nun in der Geisterwelt geschieht, wie die Indianer es glauben, oder im Paradies der Weißen, das kann ich nicht entscheiden.
   Blicke auf den Tod dieser beiden Männer«, fuhr der Kanadier fort. »Der eine hatte nur ein Verbrechen begangen; zwanzig Jahre voller Gewissensbisse hatten es ohne Zweifel gebüßt, denn als Gott ihn zur letzten Buße verurteilt hat, ist der Tod, ohne daß er es ahnte, an ihn herangetreten. Der andere, besudelt mit allen Lastern, von seinem Gewissen niemals beunruhigt, hat in der kurzen Angst vor einem schrecklichen Tod mehr als zwanzig qualvolle Jahre durchgekämpft; einige Sekunden dieser Strafe haben hingereicht, seinen Verstand zu zerrütten.
   Nein, Fabian, du hast nicht die Stimmen zweier Seelen im Fegefeuer gehört; die Seele des Bösen ist ein Fegefeuer nur in seinem Körper.«
   »Ich muß dir glauben«, sagte Fabian; »ich habe noch wenig Lebenserfahrung, und du stehst an der Schwelle des Greisenalters; du hast viel gesehen, bist gereist, und die Lehren deiner Erfahrung haben in meiner Seele schon neue Gedankenreihen erweckt. Lassen wir also diese traurige Unterhaltung fallen.«
   »Wohlan«, sagte Bois-Rosé, »reden wir also von der Zukunft, die dir durch diesen Reichtum, dessen Herr du sein wirst, und durch den Namen, den du wiedererlangen mußt, bevorsteht. O Fabian, wirst du wohl zuweilen im Wirbel dieses neuen Lebens an den Greis zurückdenken, den Gott bestimmt hat, dir das Leben zu erhalten; in dessen Herz er für dich die Zärtlichkeit einer Mutter und die männliche Liebe eines Vaters gelegt hat und für den es eine große Freude gewesen wäre, dir Beweise davon zu geben?«
   »Beweise?« antwortete Fabian mit einer Wärme, die das Herz des Kanadiers vor Freude beben ließ. »Hast du mir nicht solche Beweise davon gegeben, daß auch die glühendste Dankbarkeit beinahe nur als Undankbarkeit erscheinen müßte?«
   »Ach«, sagte der Jäger, »als ich in dem jungen Mann, der mit einer von Schmerz und Ermüdung gebrochenen Stimme die Gastfreundschaft an meinem Feuer in Anspruch nahm; das Kind, das ich immer beweinte, wiedererkannt hatte, da wagte ich zu hoffen, irgend etwas für dich tun zu können. Ich konnte in Arizpe die Frucht einer zweijährigen Jagd in Empfang nehmen, auf der jeder Schritt eine Gefahr gewesen war; ich war in dem Gedanken glücklich, dir diese Summe zu überreichen – aber ein einziger von diesen Goldkieseln ist zehnmal mehr wert als sie! Was könnte ich jetzt ihrem Besitzer anbieten? Nichts weiter; nichts als den Tod für ihn!« fuhr der Jäger mit Bitterkeit fort. Dann, als er sah, daß Fabian immer noch schwieg, und er sein Schweigen vielleicht falsch auslegte, sagte er auf die Gefahr hin, seinen schönsten und letzten Traum zu zerstören: »Fabian, mein Kind, ist das alles, was du mir zu sagen hast?«
   In dem Augenblick, wo Fabian antworten wollte, erscholl ein fernes Getöse aus dem Nebel der Hügel und schien in der Ebene ein bestimmteres Echo zu finden. Der Wind trug zu den Ohren der beiden Sprechenden weniger dumpfe Donner als das Geräusch von unterirdischen Feuern in den Nebelbergen. Dieses ferne Getöse näherte sich zuweilen in ungleichen Zwischenräumen, als ob es von einem Gewehrfeuer herrühre. Die Nacht leiht solchen düsteren Tönen immer einen feierlichen Charakter; jeder Widerhall schien den Todeskampf eines menschlichen Wesens anzudeuten. Der Jäger vergaß einen Augenblick seine sorgenvollen Gedanken, um aufmerksam zu lauschen, und gab Fabian ein Zeichen mit der Hand, mit der Antwort noch zu warten.
   Im selben Augenblick sprang der frühere Grenzjäger auf die Füße und näherte sich Bois-Rosé. »Das ist derselbe Lärm«, sagte er, »den wir in der vorigen Nacht gehört haben; aber horcht … das Feuer verteilt sich in der Ebene. Ach, die Unglücklichen haben nicht mehr die Deckung ihres Lagers; die Befestigungen sind wahrscheinlich erstürmt; nun muß bei jedem Schuß ein Mann fallen, und die Apachen werden eine reiche Skalpernte halten! Wehe uns, wenn die Indianer sie alle vertilgen, denn bis jetzt ist die Nähe der Expedition unsere Rettung gewesen. Wir sind eine Nacht zu lange hier geblieben, Bois-Rosé.«
   Die drei Freunde lauschten wiederum und verhielten sich ganz ruhig. Pepe hatte recht, wenn er sagte, daß die ganze Aufmerksamkeit der indianischen Horden auf die Schar der Abenteurer gerichtet wäre und sie es nur dieser Dazwischenkunft zu verdanken hätten, daß die einzelnen Männer so weit in die Steppe vordringen konnten. Es war dies übrigens, wie wir schon gesagt haben, nicht die einzige tollkühne Unternehmung, die der Kanadier und Pepe zu einem guten Ende geführt hatten, und andere vor ihnen hatten ebenfalls glücklich diese gefährlichen Ebenen durchstreift. Aber so unerschrocken man auch sein mag, so hat doch die Nähe der Gefahr – in der Nacht besonders – etwas Ernstes, und es war offenbar, daß die Gefahr sich näherte.
   Stunde und Ort waren ganz dazu geeignet, traurige Gedanken einzuflößen; die Nacht, die den Hinterhalt verdeckt, die schauerlichen, rings um sie her hängenden Siegestrophäen zeugten von dem Schicksal, das die Besiegten von mitleidlosen Feinden zu erwarten hatten. Der Knall der Schüsse schien näher zu kommen, und von einem Augenblick zum anderen konnte ein Flüchtling, der die Richtung zur Pyramide, ihrem Zufluchtsort, verfolgte, etwa zwanzig Indianer zu den drei Jägern leiten.
   »Wenn es nur etwa zwanzig wären«, antwortete Bois-Rosé auf die von dem ehemaligen Grenzjäger ausgesprochene Befürchtung, »so sollte bei der Stellung, die wir einnehmen, keiner von diesen Hunden einen Fuß auf die Plattform setzen; und bei dieser Gelegenheit, Fabian, muß ich dir meinen Rat wiederholen, der nicht zu verachten ist. Dein Blut ist zu feurig, mein Kind, und die Gefahr berauscht dich noch; merke dir‘s, man läßt sich aus allzu großem Mut ebenso wie aus zuviel Feigheit töten. Ein junger Mann kann der Versuchung nicht widerstehen, sobald er eine geladene Büchse in seiner Hand fühlt, davon Gebrauch zu machen; erinnere dich aber, daß jeder von uns nur Feuer geben darf, wenn die Reihe an ihm ist – und zwar, ohne sich zu beeilen —, und daß der dritte, ehe er seinen Schuß abgibt, immer warten muß, bis die beiden anderen wieder geladen haben. Das ist eine Taktik, deren Vortrefflichkeit Freund Pepe ebenso wie du kennengelernt hat, und auf diese Weise haben sechs Mann für jeden von uns nichts Schreckliches, obgleich sie zusammen achtzehn ausmachen. Nur – wenn es mehr sind, wird die Sache bedenklich, weil nach sechs Schüssen der Lauf heiß und schmutzig wird, auch die Kugel nicht mehr so gerade fliegt. Ich habe es bei mir selbst gesehen, wie ich so nach dem rechten oder linken Auge eines solchen Schelms gezielt habe und nachher sehr erstaunt war, ihn an den Augenbrauen getroffen zu haben. Was dich betrifft, so laß dich nicht von der Eigenliebe verleiten, und ziele nur auf die ganze Brust; das ist zwar weniger rühmlich, aber sicherer.«
   Während Bois-Rosé diese Ratschläge mit dem kalten Blut und der Klarheit eines Professors am Katheder erteilte, hatte sich das Knattern des Gewehrfeuers abermals entfernt, und noch war keine Viertelstunde verflossen, als es ganz aufgehört hatte.
   »Die Luft wird frischer«, nahm der Kanadier wieder das Wort; »der Wind führt uns den Geruch des Laubes zu, und die Schakale haben aufgehört zu heulen. Das ist ein Zeichen, daß die Morgendämmerung naht. Noch eine halbe Stunde, und wir müssen uns auf den Weg machen; der Tag wird uns zeigen, welchen Weg wir einschlagen müssen, um nicht mehr gerade mitten unter die Indianer zu geraten; die Spuren können uns nicht entgehen. Die Stunde, die dem Anbruch des Tages folgt, ist vortrefflich dazu geeignet, sie zu entdecken, denn der vom Tau weiche Boden bewahrt alle Eindrücke. Doch vorher können wir noch essen, um Kräfte zu gewinnen.«
   Und kaum waren einige Augenblicke verflossen, so war auch durch die Macht der Gewohnheit bei den Männern, die nur die gegenwärtige Gefahr für etwas Beachtenswertes halten, die vollständigste Sicherheit an die Stelle der Befürchtungen getreten. Während das einfache Mahl, das in einer Handvoll Pinole für jeden bestand, in aller Eile eingenommen wurde, fühlte Fabian, daß endlich der Augenblick gekommen sei, seine Pläne für die Zukunft demjenigen zu eröffnen, den die Dankbarkeit ihn wie einen Vater ansehen ließ. In den republikanischen Sitten eines Landes, das er für sein Vaterland gehalten hatte, bestand die Ehrfurcht vor der Familie und dem väterlichen Ansehen noch in ihrer ganzen Heiligkeit, und der junge Graf von Mediana folgte unwillkürlich den Eindrücken seiner Erziehung.
   »Bois-Rosé, mein Vater!« sagte Fabian.
   Bei dieser Anrede erbebte der Jäger, denn er erkannte an der feierlichen Haltung und an der Erregung in der Stimme des jungen Mannes, daß er vor einem der wichtigsten Augenblicke seines Lebens stünde, und sein Herz schlug noch heftiger als bei der Nähe der Gefahr, die sie eben bedroht hatte. Pepe fühlte ebenfalls, daß er vielleicht zuviel sein könnte, und entfernte sich rücksichtsvoll einige Schritte weit.
   »Mein Vater«, wiederholte Fabian, » – denn diesen Namen auszusprechen, wird mir immer eine süße Pflicht sein —, du hast in den großen Städten Europas und in unseren Steppen gelebt, und du bist gerade darum imstande, den Unterschied beider zu würdigen.«
   »Ja«, antwortete Bois-Rosé, »in den fünfzig Jahren meines Lebens habe ich den Prunk der Städte mit der Großartigkeit der Steppe vergleichen können.«
   »Diese großen Städte, in denen sich Tausende von Menschen drängen; diese hohen Paläste, einer neben dem anderen, müssen ein schöner Anblick sein. Man ist glücklich, in ihnen zu leben, nicht wahr? Denn dort muß ja kein Tag dem vorhergehenden gleichen!«
   »Es ist wirklich etwas sehr Schönes«, erwiderte der alte Jäger spöttisch, »diese großen Straßen, in denen eine geschäftige Menge dich stets im Vorbeigehen anrennt und wo das Rollen der Wagen dich betäubt; diese Häuser, in denen Luft und Licht, die Gott in der Steppe so verschwenderisch ausgeteilt hat, dir spärlich zugemessen sind; wo der Arme auf seinem harten Lager vor Elend stirbt, während der Lärm von den Festen der Reichen zu ihm herüberschallt; wo …«
   Bois-Rosé hielt plötzlich inne; er begriff auf einmal, daß er auf falschem Weg sei, daß eine solche Schilderung hieß, auf Fabians Lippen das erwartete Anerbieten ersticken, das Leben in den Städten mit ihm zu teilen. Es ist so natürlich zu hoffen, was man so glühend wünscht!
   Der Jäger unterbrach sich also und fügte ohne Übergang hinzu: »Ich meinesteils würde sehr glücklich sein, dort mein Leben zu beschließen.«
   Bei den letzten Worten Bois-Rosés bekam Pepe einen schalkhaften Hustenanfall.
   Fabian glaubte, ihn falsch verstanden zu haben. »Dann hat also«, fuhr er fort, »das Steppenleben den Reiz für dich verloren, den du so sehr an ihm rühmtest?«
   »Hm«, erwiderte Bois-Rosé, »es würde ein sehr schönes Leben sein, wenn man nicht der Gefahr ausgesetzt wäre, heute vor Durst, morgen vor Hunger zu sterben, ohne die Gefahren zu rechnen, sein Leben und seine Kopfhaut an die Indianer zu verlieren.«
   Pepes Husten schien einen krampfhaften Charakter anzunehmen.
   »Das ist jedoch nicht das, was ich dich so oft habe sagen hören«, antwortete Fabian erstaunt.
   »Glaubt ihm nicht«, unterbrach ihn plötzlich herantretend der frühere Grenzjäger. »Der Matrose, der Ottern– und Biberjäger sollte den Aufenthalt in den Städten der freien Bewegung in der Steppe vorziehen? Weg damit! Seht Ihr denn nicht, daß der arme Bois-Rosé hier eine erbärmliche Komödie spielt? Weil er nicht ohne Euch leben kann, so bildet er sich ein, ein junger, glänzender Señor, wie Ihr es in Madrid sein werdet, könnte ein außerordentlich großes Vergnügen darin finden, sein Leben in Gesellschaft eines alten Graubarts, wie er ist, hinzubringen.«
   »Pepe!« rief der Koloß mit donnernder Stimme, indem er sich wie eine Eiche vom Boden aufrichtete.
   »Ich werde trotzdem sprechen«, sagte der Spanier. Dann wandte er sich an Fabian. »Bois-Rosé sollte sich in eine Stadt einschließen, in einem solch steinernen Käfig von einem Haus? Das ist unmöglich! Er will Euch täuschen, ohne sich selbst täuschen zu können! Der Arme! Er weiß recht gut, daß er darüber sterben würde! Wißt Ihr, was er haben muß? Die Unermeßlichkeit vor sich, einen Pfad wie die Sonne zu verfolgen, das heißt, ohne daß ihn etwas aufhält. Er muß für seine weiten Lungen die mit dem Duft der Wildnis erfüllte Luft der Steppe haben, und das Geheul der Indianer muß diese Luft zuweilen durchzittern. Nein, nein«, fuhr der Spanier fort, »der alte Löwe könnte nicht auf der Streu sterben wie ein verschlafenes Murmeltier!«
   »Das ist wahr, das ist wahr!« murmelte seufzend der Kanadier. »Aber seine Hand würde mir doch wenigstens die Augen zudrücken!« Und der Greis ließ in der Bekümmernis seines Herzens das Haupt auf die Brust sinken.
   »Und ich?« rief Pepe aus, von einem stillen Schmerz erfaßt. »Bin ich nicht da? Ich, der ich seit zehn Jahren nicht aufgehört habe, dich wie einen Bruder zu lieben; ich, der ich seit zehn Jahren deine Kämpfe und deine Beschwerden geteilt habe?« Und er schüttelte mit rauhem Druck die Hand des Jägers, die schlaff an seinem Körper herabhing.
   Fabian kam ihm zu Hilfe: »Hört«, sagte er; »hört alle beide! Ich habe meine moralische Kraft zu hoch angeschlagen; ich habe geglaubt, meine Rache und meinen Ehrgeiz nebeneinander befriedigen zu können. Meine Rache ist gestillt, mein Ehrgeiz ist erloschen. Die Nacht und die Einöde haben mir Rat erteilt, und ich habe von einem schrecklichen Beispiel gelernt. Der vornehme Señor ist gekommen, um hier eines ruhmlosen Todes zu sterben; der habgierige Bandit hat sein Grab bei den Schätzen gefunden, nach denen er lüstern strebte. Was ist beiden übriggeblieben?«
   Der Greis richtete die Augen auf Fabian, in denen sich Rührung und angenehme Überraschung spiegelten. Er fing an zu begreifen, ohne daß er doch schon zu hoffen wagte. »Fahre fort!« sagte er mit zitternder Stimme.
   »Der Reichtum«, nahm Fabian das Wort, »hat nur Wert – ich fühle es recht gut – durch den Schweiß, den er gekostet hat; aber um welchen Preis hätte ich ihn wohl erkauft? Ich habe mit dir nicht gelebt, ohne ganz die Weisheit deiner Lehren zu begreifen; dieses Gold könnte ich verabscheuen, denn ich müßte mir sagen, daß ich Blut vergossen habe, um aus dem Nachlaß der Toten Vorteil zu ziehen; ich werde es also nicht anrühren. Meine Kindheit, sagt ihr, ist vom Luxus umgeben gewesen – ich habe es vergessen; ich erinnere mich nur an die Tage meiner harten, an Arbeit reichen Jugend. Ich bin der einzige meines Geschlechts, habe die Freiheit, zu handeln, wie ich will, und habe schon, so jung ich auch noch bin, Tote und Lebende vergessen. Ach, mein Vater, mein Freund, ich bitte euch darum wie um eine Gunst, bei euch in diesen Steppen bleiben zu dürfen, eure Gefahren zu teilen und mich diesem unabhängigen Leben anzuschließen, das kein anderes mir ersetzen könnte. Sage, Bois-Rosé; sage, Pepe – wollt ihr das?«
   »Bei Gott! Ob ich es will?« antwortete der Grenzjäger mit einer Stimme, die er schrecklich zu machen sich bemühte, um seine Aufregung zu verbergen.
   »Und du, mein Vater, du sagst nichts?« fragte sanft der junge Mann.
   Der alte Jäger blieb in der Tat unbeweglich und stumm; unter dem Eindruck einer tief ergreifenden Freude konnte er nur seine Arme öffnen und mit gebrochener Stimme sprechen: »Mein Sohn, mein Fabian! Komm an mein Herz!«
   Und der junge Mann fühlte sich von den Armen des Riesen krampfhaft umschlungen.
   Für Bois-Rosé ging nun ein neues Leben auf. In diesem Augenblick allein fand er das Kind seiner Liebe wieder, um es nicht mehr zu verlassen. Dann hob er ihn von seiner Brust langsam auf seinen nervigen Armen gen Himmel wie einen Neugeborenen, den ein Vater Gott darbietet, und sagte: »O Herr, verzeih mir, aber ich habe nicht die Kraft, ihm abzuraten!«
   »Das ist ein Entschluß, den Ihr einst bereuen könnt«, sagte Pepe zu dem jungen Mann, den der Kanadier eben sanft auf die Erde gesetzt hatte, noch ganz benommen von der rauhen Umarmung; »bedenkt das wohl, während es noch Zeit ist!«
   »Ich habe reiflich darüber nachgedacht! Was soll ich in einer Welt tun, die ich nicht kenne?« antwortete Fabian. »Ich habe einen Augenblick nach Reichtümern und Ehren gestrebt – nicht für mich, sondern um sie mit jemand zu teilen. Noch vor wenigen Tagen hoffte ich; heute hoffe ich nicht mehr, und ich würde erröten, nur meiner neuen Stellung das verdanken zu müssen, was ›sie‹ dem verweigert hat, der ihr damals nur eine glühende Liebe zu bieten hatte.«
   Bois-Rosé und Fabian waren in Gedanken versunken und achteten nicht darauf, daß der frühere Grenzjäger, nachdem er einige Augenblicke hinter dem Stamm der beiden Tannen, die auf der Plattform wuchsen, gesessen hatte, mit langsamen Schritten in die Ebene hinabgestiegen war, indem er einem jener plötzlichen Antriebe zu gehorchen schien, auf die man hört, ohne sich Rechenschaft davon zu geben; deren Resultate jedoch zuweilen einen so mächtigen Einfluß auf das Leben eines Menschen haben. Der Mond wollte eben untergehen, und warf seine letzten zauberischen Strahlen auf das Val d‘Or, als Pepe sich leise durch die Hecke von Baumwollstauden und Weiden hindurchwand.
   Der Grenzjäger betrachtete einige Augenblicke lang mit schwermütiger Aufmerksamkeit den regenbogenfarbigen Schein, den die Goldkiesel, deren erster Anblick für ihn die Quelle so schrecklicher Gedanken gewesen war, ausstrahlten. Pepe konnte sich immer noch nicht solche Gedanken verzeihen, obgleich er mit Recht stolz darauf sein konnte, sie gebändigt zu haben. »Wieviel auch Fabian von diesen Reichtümern mitnehmen mag«, sagte er zu sich, »es wird immer noch genug davon übrigbleiben, um viele Seelen ins Verderben zu stürzen, die weniger stark sind als die meinige. Da ich aber dieses Tal seiner Schätze nicht berauben kann, so will ich wenigstens deren Glanz denen verbergen, die der Zufall hierher führen wird. Der Reisende wird künftig an diesem Gold vorübergehen, ohne sein Dasein zu ahnen. Vielleicht verhüte ich dadurch viele Verbrechen; vielleicht rette ich viele Seelen vom Verderben.«
   Mit diesen Worten stieß Pepe mit dem Fuß den Goldhaufen auseinander, den Cuchillo auf seine Zara zusammengetragen hatte, und als er verächtlich die Oberfläche des Tals geebnet hatte, warf er den Mantel des Banditen über die Hecke. Dann zog er sein Messer, schnitt einige Arme voll Gras, Lianen und Binsen ab und bedeckte damit sorgfältig den Schatz. Nichts verriet nun mehr dem Auge das Dasein des Goldes unter diesem grünen Schleier. Der geringste Widerschein davon war verschwunden, und als ob der Mond bedauert hätte, nicht mehr mit seinen Strahlen dieses Wunder des Schöpfers liebkosen zu können, so verschwand er in dem Augenblick, als Pepe seine Arbeit beendet hatte, ebenfalls hinter den Hügeln.
   Pepe kehrte nach Beendigung dieses Werkes zurück und setzte sich schweigend hinter die Tannen auf der Plattform, wo der Kanadier und Fabian miteinander sprachen.
   »Du wählst den rechten Weg, mein Kind«, sagte der alte Jäger. »Die Stirn, die Gott dem Menschen gegeben hat, um sie hoch zu tragen, soll sich weder über Bücher noch auf die Erde neigen; nicht einmal, um seinen Lebensunterhalt von dieser zu verlangen. Der Reichtum vertrocknet das Herz; der Aufenthalt in den Städten macht den Körper schwach und kränklich. Du gehörst auch zum Löwengeschlecht, Fabian; sein Reich ist in der Wüste. Ein wildes Pferd zu bändigen; an den Flüssen und Wasserfällen zu fischen; in den Wäldern und Ebenen, die weder Grenzen noch Herren haben, zu jagen; an List mit seinen Feinden zu wetteifern, sie durch Kraft zu bezwingen; dann des Abends träumend unter dem Gewölbe des Himmels beim Schein des Feuers, beim Glanz der Sterne, dem Rauschen des Windes und der Bäume, dem Murmeln des Wassers zu lauschen dieser ewigen Melodie, die die Natur dem Menschen singt und die man vor dem Geräusch der Städte nicht hören kann – das ist das Los, das Gott ihm bestimmt. O mein Sohn, ist dieses Los nicht des Abkömmlings der Mediana würdig?«
   »Ihr hört es, Pepe!« rief der junge Mann. »Habt Ihr mir ein höheres Ziel vorzuschlagen?«
   »Meiner Treu, nein!« sagte der Spanier. »Nicht einmal den Rang eines Capitans der königlichen Jäger, den ich früher so sehr beneidet habe.«
   »Wahrlich, Fabian«, fuhr der Jäger fort, »das erste Otternfell, das du verkaufen wirst, wird dir mehr Vergnügen machen als Säcke mit Gold, die du dir einsammeln könntest. Ich werde aus dir einen Schützen machen, wie ich einen aus Pepe gemacht habe, und wir drei zusammen werden ausgezeichnete Geschäfte machen. Es fehlt dir jetzt weiter nichts mehr als eine gute Kentuckybüchse, und es wird sich wohl irgendeine gute Seele finden, die uns eine auf Kredit gibt«, fügte der Jäger humorvoll zum Schluß hinzu.
   »Warum warten wir dann mit dem Abmarsch?« fragte Fabian mit einem Lächeln, das seinem aufgeregten Herzen die Treuherzigkeit des Kanadiers entlockt hatte, der gar nicht daran dachte, daß er einen Schatz von unermeßlichem Wert unberührt zurückließ.
   »Laßt ihn nur sprechen, Don Fabian!« sagte Pepe, indem er ihn mit dem Ellbogen stieß. »Ich habe von dort unten etwas mitgenommen, um Eure Büchse bar zu bezahlen.« Und Pepe zeigte Fabian mit triumphierender Miene ein Stück, so groß wie eine Nuß – die einzige Anleihe, die er sich bei dieser wunderbaren Goldmasse zu machen erlaubt hatte, als er sie zu seinen Füßen hatte, um sie jedem menschlichen Auge zu entziehen.
   In dem Augenblick, als die drei edelherzigen Männer vom Hügel in der Richtung hinabsteigen wollten, wo sie Gayferos an dem bekannten Ort zurückgelassen hatten, hörten sie in der Stille der Nacht den Galopp eines Pferdes auf dem dröhnenden Boden der Ebene widerhallen.
   Eine schmerzliche Aufregung ergriff das Herz des Kanadiers, aber er verbarg die Unruhe, die er innerlich fühlte. »Es ist ohne Zweifel«, sagte er, ohne daß er es selbst zu glauben wagte, »irgendein Flüchtling aus dem mexikanischen Lager, der diese Richtung eingeschlagen hat.«
   »Wolle Gott, daß es nicht noch etwas Schlimmeres ist!« erwiderte Pepe. »Ich wundere mich nur darüber, daß die Nacht so ruhig vergangen ist, während es doch gar nicht weit von hier umherstreifende Indianer und Weiße gibt, die noch beutegieriger sind als die Rothäute, und diese verdammten Schätze sich ganz in unserer Nähe befinden.«
   »Ach, ich sehe den Reiter!« sagte Fabian mit leiser Stimme. »Aber die Nacht ist seit dem Untergang des Mondes so dunkel, daß ich nicht unterscheiden kann, ob es ein Freund oder ein Unbekannter ist. Daß es aber ein Weißer ist, davon bin ich überzeugt.«
   Der Reiter sprengte weiter und schien auf seinem Weg weit von der Pyramide vorüberkommen zu müssen, als er plötzlich eine Wendung machte und dem indianischen Grabmal zusprengte.
   »Heda, Freund! Wer seid Ihr?« rief Bois-Rosé spanisch.
   »Ein Freund, wie Ihr sagt!« antwortete der Reiter, dessen Stimme jeder der drei Jäger wiedererkannte. Es war Pedro Diaz‘ Stimme. »Hört mich alle drei, und benützt, was ich euch sagen werde!«
   »Sollen wir zu Euch hinunterkommen?« fragte der Kanadier.
   »Nein; ihr würdet vielleicht nicht mehr Zeit genug haben, wieder auf eure Festung hinaufzusteigen. Die Indianer sind Herren der Ebene; meine Gefährten sind fast alle ermordet; ich habe kaum dem Blutbad entrinnen können.«
   »Wir haben das Gewehrfeuer gehört«, sagte Pepe.
   »Unterbrecht mich bitte nicht«, sagte Diaz; »die Zeit drängt. Durch Zufall bin ich eben einem Schelm begegnet, den ihr besser nicht hättet entkommen lassen: nämlich Baraja. Er führt zwei Piraten dieser Steppen und Apachen gegen euch, die ich nicht Zeit gehabt habe zu zählen. Ich habe nur einige Minuten Vorsprung vor ihnen gewinnen können. Sie sind mir auf den Fersen. Lebt wohl! Ihr habt mich geschont, als ich euer Gefangener war; möge die Warnung, die ich euch zukommen lasse, meine Schuld gegen euch quitt machen. Was mich anlangt, so will ich nicht weit von hier Freunde benachrichtigen, die ebenfalls in Gefahr sind, denn die Freibeuter, die mir folgen, verbergen ihre Pläne nicht. Wenn ihr ihnen entkommt, so sucht die Gabel des Red River zu erreichen, dort werdet ihr Tapfere finden, die …«
   Ein von unsichtbarer Hand abgeschossener Pfeil pfiff dicht an Diaz vorbei und unterbrach ihn. Die Zeit drängte wirklich; und der Abenteurer gab, nachdem er diese unvollständige Warnung hingeworfen hatte, seinem Pferd beide Sporen, wobei er als letzte Warnung für seine Freunde und als letzten Hohn für seine ihn verfolgenden Feinde mit schallender Stimme rief: »Schildwache! Nimm dich in acht!«
   Und das Echo wiederholte noch diesen Alarmruf, als Diaz schon in der Finsternis mitten in der unermeßlichen Einöde verschwunden war. Zur selben Zeit heulten Wölfe auf verschiedenen Seiten der Ebene.
   »Das sind die Indianer«, sagte Bois-Rosé; »sie haben die Wölfe beschäftigt gesehen, Reste des Pferdes dort unten zu zerreißen, und ahmen ihre Stimme nach, um einander Nachricht zu geben! Aber diese Teufel können alte Jäger, wie wir sind, nicht täuschen!«


   49. Baraja kommt aus dem Regen in die Traufe

   Um die Ursache und die Beschaffenheit der Gefahr, die die drei Jäger bedrohte, zu erklären, müssen wir auf den Augenblick zurückkommen, wo der unglückliche Oroche, über dem Abgrund schwebend, den eben dem Felsen entrissenen Goldblock an sich preßte und die Furcht, eines schrecklichen Todes zu sterben oder auf die Beute in seinen Händen verzichten zu müssen, ihn fast besinnungslos machte. Baraja seinen Schatz zu übergeben, hieß, ihm sein Leben zu geben; sein eigenes Herz sagte ihm, daß er an seiner Stelle das Gold genommen und den Mann hätte fallen lassen; er zog es darum vor, den Gegenstand der wilden Gier seines Gefährten mit sich in den Abgrund hinabzunehmen.
   Dieser hatte unerbittlich die Schnüre des Seils nacheinander zerschnitten, indem er sein schreckliches Geschäft nur mit wütendem Begehren und flehentlichen Verwünschungen unterbrach. Die letzte Schnur, die den Gambusino noch schwebend erhielt, war von selbst gerissen; es war also wohl der Körper Oroches, den die Jäger in dem durchsichtigen Schleier des Wasserfalls wie eine schwarze Wolke hatten herabstürzen sehen.
   Ganz entsetzt von dem, was er eben selbst getan hatte – nicht so sehr über den Mord, den er begangen hatte, als über den Verlust des Goldblocks —, warf Baraja einen bestürzten Blick in die Tiefe des Abgrunds. Aber es war zu spät; der Abgrund gab den Raub nicht zurück, den er verschlungen hatte. Er grollte wie ein unersättliches Ungeheuer, und das Auge des Elenden erblickte nur dichte Finsternis.
   Zum erstenmal empfand Baraja schmerzlich die vollständige Einsamkeit, in der ihn Oroche zurückließ. Mit ihm verschwand alle Hoffnung auf einen günstigen Ausgang des Kampfes mit den wirklichen Besitzern des Val d‘Or. Er hatte wohl den Gedanken gehabt, ihren Abmarsch abzuwarten; aber außer daß nichts vom nahen Zeitpunkt dieses Abmarsches zeugte, ließ ihn auch der unersättliche Durst nach Reichtum, der sich seiner bemächtigt hatte, nicht mehr länger warten. Eine dumpfe Wut mischte sich in seine Ungeduld; die drei Jäger waren deren Gegenstand, und er beschloß – selbst auf Kosten seiner Habgier —, diejenigen aus ihrer Stellung zu vertreiben, die sich so anmaßend zu alleinigen Herren des Val d‘Or erklärt hatten.
   Die wechselnde Heftigkeit der seelischen Leidenschaften dieser beiden Taugenichtse haben wir verfolgen müssen, denn sie allein hatten für die Hauptpersonen dieser Erzählung die größten Gefahren heraufbeschworen, in denen sie jemals schwebten.
   Bis zu diesem Augenblick war Baraja in so hohem Grad verblendet gewesen, daß er Oroches Gegenwart als seinen Interessen nachteilig angesehen hatte; nun jedoch beschloß er endlich, besser von seiner Habgier beraten, das Lager aufzusuchen und Verstärkung zu holen. In dieser Beziehung hatte er einen Mittelweg eingeschlagen. Er wollte nämlich seine Entdeckung höchstens fünf oder sechs Abenteurern mitteilen und sich mit ihnen heimlich entfernen; die anderen mochten sich dann, so gut sie konnten, selbst aus der Verlegenheit ziehen.
   Zwei Hindernisse, an die er nicht gedacht hatte, sollten diesen Entschluß unausführbar machen: zuerst die Zerstörung des mexikanischen Lagers und dann Diaz‘ Gegenwart, dessen Tod er schon beweint zu haben hoffte, der aber, wie wir gesehen haben, wieder zu Pferd gestiegen war, um an der Stelle Don Estévans das Kommando der Expedition zu übernehmen.
   Es war schon ziemlich spät, als Baraja sich entschlossen hatte, das Val d‘Or für einen Augenblick zu verlassen. Er verfolgte ganz nachdenklich den Weg, den er am Morgen mit Don Estévan, Oroche und Diaz gekommen war, ohne auch nur im entferntesten zu ahnen, daß der letztere dicht hinter ihm galoppierte.
   Wir haben wohl kaum hinzuzufügen, daß es ihm auf einem neuen Umweg durch die Nebelberge leicht gewesen war, die Ebene zu erreichen, ohne von den beiden Jägern oder von Diaz bemerkt zu werden. Dies trug sich fast zur gleichen Zeit zu, wo der Vernichtungskampf der Mexikaner begann. Die Nacht war schon angebrochen, als er, ungefähr eine Meile vom Lager entfernt, das Knattern eines Gewehrfeuers hörte. Baraja horchte unruhig und fühlte, wie kalter Schweiß plötzlich seine Stirn bedeckte. Bald verdoppelte sich das Gewehrfeuer.
   Baraja hielt voll Bestürzung an. Vorgehen oder Zurückweichen war gleich gefährlich; da es aber nach Lage der Sache vielleicht gefährlicher war, vorzugehen, so wählte Baraja den Rückzug. Er stand eben im Begriff, seinen Entschluß auszuführen, als er zu seiner Bestürzung den widerhallenden Galopp eines Pferdes hinter sich vernahm, was seine Befürchtungen verdoppelte. Ein Anruf, der aus der Finsternis zu ihm drang, den abgemessenen Schritt des Pferdes übertönend, steigerte seine Befürchtung bis zum Schrecken.
   Diese Stimme war Pedro Diaz‘ Stimme. Er konnte sich gar nicht mehr darin täuschen; sie scholl in sein Ohr: »Wenn ich mich nicht täusche, so ist das Oroche?«
   Für Baraja war das die Stimme eines Toten, der einen anderen rief. Der Elende dachte in seiner Verwirrung gar nicht daran, daß Diaz ihn in der Dunkelheit für Oroche ansah, und sprengte vorwärts.
   Darauf wurde der Galopp des Pferdes hinter ihm schneller und die Stimme drohender. Baraja floh nun trotz des Gewehrfeuers noch eiliger in der Richtung zum Lager. Es kam indessen ein Augenblick, wo die Verfolger, die die dem Blutbad im Lager entronnenen Flüchtlinge ringsum niedermetzelten, einen so schreckenerregenden Anblick darboten, daß Baraja keine Furcht mehr vor den Toten hatte und sein Pferd umwandte.
   Übrigens haben wir schon gesagt, daß die Mexikaner nicht lange abergläubisch sind. Das zufällige Zusammentreffen mit Diaz, den er schon seit dem Morgen getötet glaubte, hatte seine schon durch den Mord an Oroche erschütterten Geisteskräfte hart getroffen. Der Anblick der Indianer hatte ihn wieder an die Wirklichkeit dieser Welt erinnert.
   Unglücklicherweise befand sich Baraja, als er kehrtmachte, Diaz gerade gegenüber, den seine Flucht am Morgen nicht gerade günstig für ihn gestimmt hatte. »Feigling!« rief Diaz, indem er ihm den Weg versperrte, »du wirst nicht zweimal in meiner Gegenwart fliehen!« Im selben Augenblick umringten die Apachen die beiden Reiter, und Baraja wurde sehr gegen seinen Willen gezwungen, an dem tödlichen Kampf teilzunehmen, den er gerade vermeiden wollte.
   Das waren die beiden Reiter, deren heldenmütige Verteidigung die noch im Lager kämpfenden Mexikaner gesehen hatten. Diaz hatte den Händen eines Indianers die Streitaxt entrissen und bediente sich dieser mit schrecklichem Erfolg. Er war es auch, den wir zuletzt den Feinden entkommen sahen, die zu zahlreich waren, als daß er die Flucht nicht hätte versuchen sollen; und der Gefangene, der mit Triumphgeschrei begrüßt worden war; der Weiße, der am Baum festgebunden den Tod erwartete, war Baraja, gegen den die Vorsehung sich wahrlich nicht ungerecht erwies. So weit also hatten die schlauen Berechnungen Barajas endlich geführt, daß er sich eng an den dornigen Stamm eines Eisenholzbaumes gefesselt und mitten in einer Art von höllischem Rundtanz erblickte, der dem Martertod vorangeht.
   Eine schreckliche Buße sollte nun für den Mörder Oroches beginnen. Der Unglückliche, dem die düsteren Erzählungen des alten Benito wieder einfielen, begriff nun, daß er in die Hände von Feinden gefallen war, die noch unbarmherziger waren, als er selbst sich gegen den Gambusino gezeigt hatte, und daß jegliche Gnade – sogar ein Tropfen Wasser, um seinen Durst mitten in den Martern zu löschen – ihm verweigert werden würde.
   Baraja beneidete in der Angst seines Herzens das Schicksal seines Gefährten, den er so unmenschlich seiner unersättlichen Habgier geopfert hatte. Oroche, schwebend über dem Abgrund, die verstörten Augen auf das Seil gerichtet, das sich bei jedem Schnitt seines Messers krachend dehnte, erschien dem Elenden jetzt im Vergleich mit ihm auf Rosen gebettet, während er schaudernd bedachte, daß sein eigener qualvoller Tod ebenso viele Stunden dauern würde, als der Oroches Minuten gewährt hatte. Oroche lag wenigstens nach seinem Tod wie ein orientalischer König mit seinem Schatz in der Tiefe seines feuchten Grabes, während Baraja nicht einmal den kleinsten Teil von all dem Gold bei seinem Tod liebkosen konnte. Der Abenteurer mußte die Richtigkeit jener unerbittlichen Logik anerkennen, die im Leben hier auf Erden bestimmend wirkt und die will, daß aus dem Bösen immer das Böse entsteht, während sie ebenfalls aus dem Guten immer das Gute hervorgehen läßt.
   Vielleicht würde es weniger Verbrecher unter den Menschen geben, wenn sich mit der Furcht vor den menschlichen Gesetzen, deren Wachsamkeit man immer zu betrügen hofft, die Furcht vor der Strafe in einer anderen Welt verbände und die Lehre von der durch die Vorsehung zuerkannten Strafe der sicher treffenden Vergeltung und worüber Leichtgläubige sich lustig machen können, als Ergänzung der religiösen Erziehung Aufnahme fände. Wieviel Unglück trifft uns in der Tat, dessen Quelle uns unerklärlich erscheint, das aber nur eine Buße ist! Heißt es nicht: »Es soll dir geschehen, wie du anderen getan hast?« —
   Der Feuerschein der verbrannten Wagen erleuchtete die Ebene, und man konnte dabei den in seinen Banden zusammengesunkenen, von Todesangst ergriffenen Gefangenen erblicken, dessen zitternde Füße nur der Fesseln halber nicht unter der Last seines Körpers zusammenbrachen. Seine Buße begann schon vor der Marter, und er litt ein ebensolches moralisches Märtyrertum wie sein Schlachtopfer. Es befand sich nicht eine einzige Fiber an seinem ganzen Leib, die nicht beim Anblick der wilden Gesichter, die über den Todeskampf des Bleichgesichts frohlockten, schmerzlich erzitterte.
   In diesem schrecklichen Augenblick hätte Baraja gern mit allen Reichtümern des Val d‘Or die Kenntnis einiger vorhergegangener Tatsachen bezahlt: nämlich die Kenntnis vom Haß des indianischen Häuptlings mit der zerschmetterten Schulter, der eben den Befehl zu seiner Todesmarter geben wollte, gegen die drei Jäger, deren Zufluchtsort er kannte. Aber er wußte nichts davon, und auch der Schwarze Falke ahnte ebensowenig als der Läufer, daß der Gefangene ihre Krieger zu denen hätte führen können, deren Spur sie verloren hatten. Unterdessen verwandelte sich, in der Erwartung, daß der Schwarze Falke seinen Kriegern das Zeichen zum Beginn des Festes geben sollte, das von den Wagen abgerissene und im Feuer rotgeglühte Eisenwerk in Folterwerkzeuge. Diejenigen, die sich nicht dergleichen hatten verschaffen können, spitzten Pfähle zu oder schliffen ihre Messer.
   Nach dem vollständigen Sieg, den die Indianer eben erfochten hatten, mußte die Todesmarter eines Gefangenen den Freuden des Tages die Krone aufsetzen; die dem alten Benito am Tage vorher entfallenen Worte klangen wie eine schreckliche Prophezeiung in den Ohren Barajas: »Wenn das Unglück wollte«, hatte er zu ihm gesagt, »daß Ihr in ihre Hände fielt, so bittet Gott nur, daß die Apachen an diesem Tag lustiger Laune sind, und Ihr werdet dann eines zwar schrecklichen, aber wenigstens sehr kurzen Todes sterben.« Auch konnte der traurige Baraja sich nicht verhehlen, daß die Indianer an diesem Abend erschreckend lustig waren; ebensowenig, wie er vergessen konnte, daß diese kurze Todesmarter fünf oder sechs Stunden – zuweilen länger, niemals aber kürzere Zeit – dauerte.
   Ein Indianer mit wildem Gesicht näherte sich zuerst dem Schlachtopfer und sagte: »Die Bleichgesichter sind geschwätzig wie der Papagei, sobald sie in großer Anzahl beieinander sind; und wenn sie am Marterpfahl stehen, sind sie stumm wie die Salme in den Wasserfällen. Wird der Weiße es wagen, seinen Todesgesang anzustimmen?«
   Baraja verstand ihn nicht, und ein dumpfer Seufzer war seine einzige Antwort.
   Ein anderer Indianer näherte sich dem Banditen. Eine breite, vom Dolch eines Weißen herrührende Wunde lief quer über seine Brust von einer Schulter zur anderen; das Blut strömte noch reichlich trotz des angelegten Verbandes aus Baumrinde. Der Apache tauchte seinen Finger in sein eigenes Blut, bezeichnete auf dem Gesicht Barajas die Grenzlinien von der Stirn bis zum Kinn und sagte: »Diese ganze Seite des Gesichts – die Hälfte der Stirn, das Auge und die Wange – gehören mir! Ich bezeichne sie im voraus für mich; ich allein werde das Recht haben, sie dem Weißen lebendig abzureißen.«
   Und da Baraja diese schreckliche Drohung ebensowenig verstand, so machte sie ihm der Indianer mit Hilfe einiger spanischer Worte und mit einem ausdrucksvollen Zeichen seines Messers vollständig klar.
   Das Blut erstarrte in den Adern des Unglücklichen.
   Von dem Beispiel angespornt, trat ein dritter Indianer aus dem furchterregenden Kreis hervor, der sich um den Gefangenen gebildet hatte. »Der Skalp soll mir gehören!« sagte er.
   »Dann werde ich allein das Recht haben«, fügte ein vierter hinzu, »auf den skalplosen Schädel das siedende Fett zu gießen, das wir von den Leichen seiner Brüder erhalten werden.«
   Baraja konnte all diese schrecklichen Einzelheiten fast nicht mißverstehen, denn ausdrucksvolle Gebärden gaben ihm die Erklärung davon. Dann trat für Baraja ein Augenblick der Ruhe ein, da die Indianer den Skalptanz wiederaufnahmen, der sich von einem Tanz in der Auvergne dadurch unterschied, daß er nur von Dämonen ausgeführt zu sein schien. Geheul anderer Art als dasjenige, das die Freuden und die Schmerzen der Indianer zu begleiten pflegt – denn der Wilde, das grausamste Tier der Steppe, kann in der Freude wie im Schmerz nur heulen —, ließ sich bald vernehmen. Es war dies ein Geheul der Ungeduld, das diese brüllenden Tiger ausstießen.
   Darauf stand der verwundete Häuptling, der mit Antilope auf dem Gipfel der Anhöhe geblieben war, langsam auf, um seinen Kriegern zu verkünden, daß der Augenblick gekommen sei, wo sie anfangen könnten, ihre Beute zu zerreißen.
   Aber Barajas Stunde war noch nicht gekommen; er hatte bis jetzt nur eine moralische Buße erduldet. Gerade als der Schwarze Falke das schreckliche Schauspiel beginnen lassen wollte, trat ein unerwartetes Ereignis ein, das das Zeichen dazu verschob.
   Ein Krieger, dessen Anzug, obgleich indianisch, doch in keinem Punkt dem der Apachen glich, erschien plötzlich im Lichtkreis, den das Feuer der Wagen bildete. Sein Erscheinen überraschte jedoch niemand; nur der Name El Mestizo ging von Mund zu Mund. Der Unbekannte grüßte die versammelten Indianer ernst mit der Hand und ging auf den Gefangenen zu. Die Flamme erleuchtete Barajas Züge hell genug, um dem Neuangekommenen die tiefe Blässe, die sie bedeckte, zu zeigen. Sein Gesicht drückte eine große Verachtung ohne die geringste Mischung von Mitleid aus; Baraja jedoch machte eine Bewegung des Erstaunens. Er hatte die geheimnisvolle Person wiedererkannt, die er im Lauf des Tages schweigend in ihrem Rindenkanu auf dem Strom in den Nebelbergen entlangrudern gesehen hatte.
   El Mestizo redete Baraja englisch an – was dieser aber nicht verstand —, dann auf französisch, endlich auf spanisch.
   Nun stieß Baraja einen Freudenruf aus. »Oh«, rief er, »wenn Ihr mich rettet, so will ich Euch so viel Gold geben, wie Ihr tragen könnt!«
   Baraja hatte diese Worte mit einem so überzeugenden Ausdruck gesprochen, daß der Fremde – wir können sagen der Indianer, denn er schien mehr der indianischen als der weißen Rasse anzugehören – davon lebhaft getroffen schien. Sein düsterer Gesichtsausdruck leuchtete von einem Widerschein gieriger Freude. »Wahrhaftig?« sagte er, während seine Augen funkelten.
   »O Señor«, fuhr Baraja, die Hand ringend, fort, »so gewiß, als ich hier unter schrecklicher Todesmarter sterben werde, wenn Eure Dazwischenkunft mich nicht retten kann. Hört! Ihr werdet mit mir kommen; Ihr werdet zehn, zwanzig, dreißig Krieger, wenn Ihr wollt, mitnehmen, und wenn ich Euch morgen beim ersten Tageslicht nicht vor das reichste Goldlager der Welt stelle – wohlan, so sollt Ihr mich mit den schrecklichsten Martern quälen; noch schrecklicher womöglich als diejenigen, die mich hier erwarten!«
   »Ich will es versuchen«, sagte der Unbekannte mit leiser Stimme. »Sagt nichts weiter, denn die Indianer – wenn sie sich auch nicht viel aus dem Gold der Weißen machen – dürfen doch nicht wissen, welchen Vorschlag Ihr mir macht. Still! Man hört uns!«
   Der Kreis der Wilden, die ungeduldig waren, ihr Fest zu beginnen, schloß sich in der Tat mit dumpfem Murren enger um sie herum.
   »Gut«, fügte der Unbekannte mit lauter Stimme in indianischer Sprache hinzu, »ich werde dem Häuptling die Worte des Gefangenen mit weißer Haut ins Ohr sagen.« Mit diesen Worten warf der geheimnisvolle Unbekannte einen gebieterischen Blick im Kreis umher, der die Blutgierigen zurückweichen ließ, und näherte sich dem Schwarzen Falken. Als er den Gipfel der Anhöhe, wo der Häuptling saß, erstiegen hatte, rief er: »Daß kein Indianer den Gefangenen anrührt, bis die beiden Häuptlinge ihre Besprechung miteinander beendet haben!«
   Ein Strahl von Hoffnung leuchtete in den Augen Barajas, und während seine Henker einen Blick blutgieriger Ungeduld auf ihn warfen, fühlte der Unglückliche, der das Antlitz dem Mann zugewandt hatte, von dem er eine Rettung erwartete, wie sein Herz bald vor Freude klopfte, bald vor Furcht stillstand. Mitten in einer Flut von Ängsten empfand Baraja all jene verzehrenden Gefühle, die im Lauf einiger Stunden das Haupt eines Mannes bleichen können. Der Mörder hatte schon mehr gelitten als sein Opfer.
   Die Beratung der beiden Häuptlinge dauerte lange. Der Schwarze Falke schien schwer überzeugbar zu sein. Übrigens gelangte kein Wort zu den Ohren der Indianer, und ihre Gebärden waren nicht leicht zu verstehen. El Mestizo zeigte mit ausgestrecktem Arm nach der Kette der Nebelberge. Er beschrieb mit seinem Finger eine krumme Linie – was ohne Zweifel bedeutete, daß man sie übersteigen müsse —, dann bezeichnete er mit seinen beiden Armen eine Art von Kreis, um vielleicht eine weite Ebene darzustellen; er zeigte auf die im Lager getöteten Pferde und ahmte den Galopp springender Pferde nach.
   Nichtsdestoweniger zögerte der indianische Häuptling, als Baraja, dessen Augen die beiden Sprechenden verschlangen, denjenigen, der seine Sache führte, eine traurige und nachdenkliche Miene annehmen und ganz leise einige Worte dem Schwarzen Falken ins Ohr flüstern sah. Ungeachtet seiner Selbstbeherrschung konnte der Indianer weder ein Auffahren noch einen Blitz der Wut unterdrücken, den seine Augen in ebensolchen Funken sprühten wie das rotglühende Eisen unter dem Hammer.
   Endlich fügte El Mestizo ganz laut, so daß es jeder hören konnte, hinzu: »Was ist denn dieser furchtsame Hase« – er zeigte dabei auf den zitternden Gefangenen – »im Vergleich zu dem Indianer mit dem starken Herzen und den Muskeln von Stahl, den ich Euch überliefern werde? Sobald die Sonne, die der morgigen folgt, dreimal geleuchtet haben wird, werden Main-Rouge und Sang-Mêlé den Schwarzen Falken an der Stelle treffen, wo der Gila sich mit dem Red River in der Nähe des Büffelsees verbindet. Dort werden die Apachen die Pferde wiederfinden, die die weißen Jäger für sie zu fangen sich die Mühe genommen haben. Sie werden ihre Pferde durch diese ersetzen. Dort befindet sich noch derjenige, der …«
   Der Schwarze Falke unterbrach den Fremdling, indem er den Handel mit einem Handschlag abschloß. Darauf stieg der Fremde langsam von der Anhöhe herab, warf auf die getäuschten Indianer einen festen, sicheren Blick, zog sein Messer und zerschnitt damit Barajas Fesseln.
   Ohne auf die freudetrunkenen Danksagungen des Abenteurers zu hören, führte er ihn beiseite und sagte im Ton stolzer Drohung: »Spielt nicht mit meiner Leichtgläubigkeit; dort unten erwartet mich ein Begleiter« – er zeigte auf die dunklen Hügel —; »ich werde noch elf Apachenkrieger mit mir nehmen!«
   »Ach«, sagte Baraja, »das sind sehr wenig. Der Schatz wird von drei Männern verteidigt, von denen zwei schrecklich sind. Ihre Büchsen haben niemals das Ziel verfehlt, das ihnen geboten wurde.«
   Ein Lächeln unheilverkündenden Stolzes kräuselte die Lippen des Fremden. »Main-Rouge und ich haben niemals vergeblich einen Feind aufs Korn genommen, sobald man nur von seinem Körper soviel wie die Größe eines Maiskorns sehen konnte«, sagte er, auf seine schwere Büchse zeigend. »Der Schwarze Falke ist blind und langsam im Vergleich mit uns beiden.«
   Die Indianer verließen hierauf das brennende Lager der Goldsucher. Der Schwarze Falke nahm trotz seiner Verwundung mit dem Hauptteil seiner Truppe die Richtung zum Büffelsee. Die beiden Boten seiner Rache schlugen einen anderen Weg ein.
   Antilope wandte sich mit zehn Kriegern nach der Gabel des Flusses, um dort die Spuren der drei Jäger zu suchen.
   El Mestizo und Baraja folgten mit elf anderen Indianern dem Weg, der zum Val d‘Or führte, während die letzten Trümmer der Wagen in einem Feuerregen zusammenstürzten und zischend in dem Blut erloschen, das die Erde noch nicht ganz aufgesogen hatte.


   50. Zwei Piraten der Steppe

   Am Anfang dieser Erzählung ist schon erwähnt worden, wie sich durch das Suchen nach Pelzwerk und kostbaren Metallen in den Wäldern und Steppen Amerikas von Kanada bis an die Küste des Stillen Ozeans – d. h. bis zu dem von Nordamerika eroberten unermeßlichen Gebiet Oregons – eine neue und seltsame Klasse von Menschen gebildet hatte. Wir haben nach unseren besten Kräften die Waldläufer und die Gambusinos zu schildern versucht.
   Die Vorfahren dieser Abenteurer, deren Sitten und Charaktere sich in dem Kanadier und dem spanischen Jäger ausgeprägt finden, hatten ebenso wie die Väter der Goldsucher ursprünglich nur mit den rechtmäßigen Besitzern der Wälder und Steppen, die sie durchforschten, zu kämpfen. Heutigentags haben ihre Nachkommen noch gegen schrecklichere Feinde als die Indianer zu streiten.
   Die Weißen, die das wilde Leben liebgewonnen und sich zu Renegaten der Zivilisation gemacht hatten, schlossen mit den indianischen Rassen häufig vorübergehende Verbindungen, und diese Abenteurer waren die Väter eines Geschlechts, das gemischtes Blut in den Adern hatte. Diese Mestizen erbten, wie es fast immer der Fall ist, die Laster der weißen Rasse und behielten die der indianischen. Unverbesserliche Räuber wie die Indianer, furchtbar wie ihre Väter im Gebrauch der Feuerwaffen, zugleich zivilisiert und wild, verstanden sie die Sprache ihrer Väter und die ihrer Mütter und waren immer bereit, diese Kenntnisse zu mißbrauchen, um Indianer und Weiße zugleich zu betrügen. So sind die Mestizen die Schrecken der Steppen und die furchtbarsten Feinde, denen man darin begegnen kann.
   Zu diesen schrecklichen Bundesgenossen der Indianer muß man noch die Weißen zählen, die ihrer Verbrechen halber aus den Städten verbannt sind und die mit der Straflosigkeit in den Steppen zugleich die Gelegenheit finden, ihren schrecklichen Leidenschaften nachzugehen. Das sind die neuen Feinde, die von den Jägern, den Trappern und den Goldsuchern heutigentags bekämpft werden müssen. —
   Ein träumender Dichter, der sich in eine lachende und ruhige Einöde verirrt hat und die flüchtige Wolke am Himmel, den Windhauch beobachtet, der die Oberfläche eines Sees kräuselt; der auf die Stimme der Natur rings um ihn lauscht und deren Harmonien in sich aufzunehmen sucht, wird nicht rauher aus seinen Betrachtungen herausgerissen, wenn er plötzlich im Dickicht die blutigen Augen eines wilden Tieres blitzen sieht, als Bois-Rosé aus seinen Träumen vom Glück. Diaz‘ Warnung überraschte den Waldläufer mitten in seinen Zukunftsplänen wie eine traurige Vorhersage, daß seine Pläne sich niemals verwirklichen sollten. Er schwieg wie Fabian und Pepe, welch letzterer einen kriegerischen Marsch pfiff.
   Gewiß wären die Ahnungen des Kanadiers womöglich noch viel düsterer gewesen, und Pepe hätte die Nachricht von einer bevorstehenden Gefahr nicht so gleichgültig aufgenommen, wenn Diaz ihnen hätte sagen können, daß sich unter den herankommenden Feinden zwei von jenen schrecklichen Gegnern befanden, die wir eben erwähnt haben.
   Schon hatten die beiden Freibeuter, die Baraja bewachten, ohne daß sie es geahnt hatten, ihr Rindenkanu vor aller Nachstellung sicher im unterirdischen Kanal verborgen, der aus dem See des Val d‘Or in die Nebelberge führt.
   Diese beiden Piraten der Steppe waren Vater und Sohn. Wir haben den letzteren unter dem Namen El Mestizo eingeführt. So bezeichneten ihn nämlich die Mexikaner und die Apachen. Die Jäger von französischem Ursprung – mochten sie nun aus Kanada oder aus der Ebene des Mississippi sein – gaben ihm den Namen Sang-Mêlé, und die Amerikaner sagten Half-Breed; denn so groß war der Ruf dieses Mannes, daß er in den von allen diesen verschiedenen Rassen besuchten Steppen bekannt war.
   Was den ersteren anlangt, der nach den verschiedenen Sprachen der in diesen Einöden umherstreifenden Abenteurer Main-Rouge, Red Hand und Mari Sangriento genannt wurde, so konnte sein schrecklicher Ruf nur von dem seines Sohnes verdunkelt werden.
   Mit einem mitleidlosen Herzen und einer unzähmbaren Wildheit, einer teuflischen Geschicklichkeit, einem Mut, den nichts einschüchterte, vereinigten Vater und Sohn noch den Vorteil, daß sie Englisch, Französisch, Spanisch und den größten Teil der an den Grenzen gebräuchlichen indianischen Dialekte geläufig sprachen. Im Verlauf der Erzählung werden wir übrigens diese beiden Persönlichkeiten, die bald Feinde, bald Freunde der Weißen und Indianer waren, die beide ihren zügellosen Leidenschaften dienen mußten, genauer kennenlernen. Sie waren der Verbindungen halber, die sie mit beiden Rassen unterhielten, ebenso gefürchtet von den Indianern als von den Weißen.
   Obgleich die Aufnahme beim Schwarzen Falken und bei seinen Kriegern ziemlich kalt war, so können doch schon die stolze Haltung des Mestizen und das Opfer eines Kriegsgefangenen, das der rote Häuptling ihm gebracht hatte, keine Idee von dem verborgenen und mächtigen Einfluß geben, den dieser Mann auf die indianischen Stämme ausübte.
   »Wohlan«, sagte Pepe, indem er aufhörte zu pfeifen, während seine beiden Gefährten keine Zeit verloren, die Verschanzungen, die sie beim Einbruch der Dämmerung zu bauen angefangen hatten, ganz zu vollenden, »hatte ich nun recht mit der Behauptung, daß es eine gefährliche Laune sei, hier die Nacht zuzubringen? Da haben wir jetzt eine mißliche Sache auf dem Hals.«
   »Bah!« antwortete Fabian mit der männlichen Ergebung, die der Ungewißheit gefolgt war. »Muß unser Leben nicht eine fast ununterbrochene Folge von Kämpfen sein? Und was liegt daran, ob wir uns hier oder anderswo schlagen?«
   »Das war gut für Pepe und für mich«, sagte der Kanadier traurig; »aber um deinetwegen, mein Kind, möchte ich, ohne auf das Leben in der Steppe zu verzichten, doch diesem einsamen Dasein entsagen, das deren Gefahren verdoppelt. Mein Plan war der, uns den Reisenden meiner Nation anzuschließen, die auf den oberen Gewässern des Missouri schiffen, oder alle drei unter den Trappern und Gebirgsjägern Oregons Dienste zu nehmen. Dort ist man immer in einer Anzahl von Hunderten zusammen, und wenn auch fern von den Städten, so hat man doch nichts zu fürchten, weil man unter einem wachsamen und fähigen Chef dient, wie es deren so viele in den westlichen Staaten gibt.«
   »Ich fürchte«, fügte Pepe nach einem kurzen Schweigen seiner Begleiter hinzu, »daß dieser Ort sich weniger zu einer guten Verteidigung eignet, als ich anfangs geglaubt hatte. Vom Gipfel des Kammes, wo der Wasserfall herabstürzt, kann man uns nach Gefallen beschießen.«
   »Der Wasserfall stürzt mitten durch den Nebel«, sagte Bois-Rosé, »und Schelme, die sich im Hinterhalt an der Stelle befänden, wo er in diesen Abgrund hinabstürzt, würden unsichtbar für uns sein, wie wir es für sie sein würden. Seht, wir sind hier sogar von einem dichten Nebel eingehüllt; die Sonne wird ihn sogleich zerstreuen, aber sie hat nicht den Nebel auf jenen Bergen zerstreuen können.«
   »Das ist wahr«, erwiderte Pepe auf den Einwurf des Kanadiers; »aber wenn es nur einige Minuten lang hell ist, so schießt man auf uns wie auf eine Scheibe.«
   »Wir stehen unter dem Schutz Gottes«, sagte Fabian, »und unter dem der Apachen, sonst auch rote Teufel genannt.«
   Die drei Jäger konnten sich nicht verhehlen, daß ihr Leben von einem Windhauch abhängen könnte, der einen Augenblick die Nebelhülle verscheuchte, die die Höhen bedeckte; aber bei der Möglichkeit eines nahen Angriffs konnten sie keinen anderen Ort wählen.
   »Ah«, sagte Pepe, »ich habe einen Gedanken und gehe … Aber still – ich glaube Schritte dort oben zu hören!«
   Ein von den Höhen losgerissener Stein fiel in diesem Augenblick tosend in den Abgrund.
   »Die Hunde sind dort oben, das ist sicher!« sagte der Kanadier. »Horchen wir!«
   Das überwältigend wirkende Rauschen des Wasserfalls ließ sich nur allein in der Tiefe des Abgrunds hören, der ihn verschlang.
   »Die Teufel sind auf den Höhen und auf der Ebene«, sagte Pepe; »aber ich muß hinabsteigen, um meinen Gedanken zur Ausführung zu bringen. Ich gehe unter dem Schutz eures Feuers; also aufgepaßt!«
   Der Kanadier war gewöhnt, sich ohne Widerspruch auf den so oftmals erprobten Mut und auf die Geschicklichkeit seines Gefährten in der Gefahr zu verlassen – ebenso wie dieser sich auf Bois-Rosé verließ – und verlangte darum auch keine Erklärung von ihm. Bois-Rosé und Fabian knieten nieder, die Büchse im Anschlag, und hielten sich bereit, im Notfall Feuer zu geben.
   Der Spanier ließ sich, mit seiner Büchse quer über den Knien, auf seinen Hacken am steilen Abhang des Hügels hinabgleiten und verschwand einen Augenblick in der Dunkelheit. Bois-Rosé und Fabian waren nur kurze Zeit besorgt und sahen bald, wie der frühere Grenzjäger zum Fuß der Pyramide zurückkehrte und sie erstieg, um wieder mit ihnen zusammenzutreffen. Pepe hatte die dicke wollene Zarapa in der Hand, die Cuchillo als Mantel gebraucht hatte.
   »Ach, das ist ein guter Gedanke«, sagte Bois-Rosé, dem Pepes Absicht nicht entging. »Ja, ja, hinter diesem mit der Decke Don Fabians doppelt starken Wall geborgen, kenne ich kein Gewehr, das uns erreichen könnte.«
   Die oberen Ecken der beiden Zarapes wurden schnell in Mannshöhe an die Stämme der Tannen gebunden, die die Plattform überwachten, und ihre dicken wallenden Falten bildeten eine Wand, an der die Kugel einer Büchse unfehlbar matt werden mußte.
   »Von dieser Seite haben wir nichts zu fürchten«, sagte Pepe, indem er sich freudig die Hände rieb; »und auf jener decken uns die flachen Steine hinreichend, die wir heraufgetragen haben. Wir können also den Feind festen Fußes erwarten und, wenn er es für wünschenswert hält, mit ihm in Unterhandlung treten. Ach, mein Gott, ich könnte euch ihren ganzen Angriffsplan entwickeln«, fügte der Spanier mit der ganzen Sicherheit eines großen Feldherrn hinzu, der die strategischen Bewegungen des Feindes, den er schlagen will, im voraus errät.
   »Laßt hören!« sagte Fabian, über die Kaltblütigkeit des früheren Grenzjägers lächelnd, der sich eben unter dem Schutz des Walls von Decken auf den Rücken gelegt hatte und ruhig die im Nebel funkelnden Sterne betrachtete.
   »Sehr gern, aber legt Euch erst nieder wie ich; und du auch, Bois-Rosé, denn du bietest ein Ziel dar wie der Stamm dieser Tannen.«
   Beide gehorchten schweigend dem Rat ihres Gefährten, und bald konnte man von der Ebene aus nur noch den phantastischen Schattenriß des durchsichtigen Pferdeskeletts, die menschlichen Skalpe an der Spitze der Stangen und die langen Zweige der Tannen mit ihren dunkelgrünen Nadeln bemerken, die diese grauenhaften Sinnbilder beschatteten.
   Zuerst nahm der spanische Jäger das Wort: »Da die mexikanischen Abenteurer, von denen gewiß mehr als einer da ist, und diese herumstreifenden Indianer durch den Schelm, den Ihr Baraja nennt, geführt sind, so ist es natürlich, daß er sie denselben Weg nehmen ließ, den er eingeschlagen hat, um uns zu entwischen; und das ist der Grund, warum sie die Höhen erstiegen haben. Aber der Taugenichts, der sie führt, hat außerdem gewiß noch einen zweiten Grund gehabt, um sie nicht durch die Ebene hierher zu bringen. Wenn es wahr ist, daß er seinen Busenfreund vom Gipfel dieses Felsens hinabgestürzt hat, um einen reicheren Anteil bei der Plünderung des Val d‘Or zu erhalten, so ist das nicht geschehen, um seinen neuen Verbündeten sein Geheimnis zu entdecken. Er hatte also, wenn er den Weg durch die Ebene nahm, Furcht, daß sie seinen Schatz entdecken möchten. Man sollte fast glauben«, fügte Pepe nach kurzer Unterbrechung hinzu, »daß die Vorsehung mir den Gedanken, die Oberfläche des Tals mit Zweigen und Gras zu bedecken, eingeflößt hat.
   Aber ich komme auf den Angriffsplan zurück. Die Schelme werden also die Felsen gegenüber zu ersteigen und uns von dort, einen nach dem anderen, zu töten suchen; später werden sie sich gegenseitig ermorden, um unsere Erbschaft zu teilen. Halt! Seht ihr?« schloß Pepe lebhaft. »Im Fall, daß die Feindseligkeiten beginnen, muß diesem Hund Baraja der Kopf zuerst zerschmettert werden.«
   Es war unter den drei Jägern einer, der weit davon entfernt war, die Ruhe und das Vertrauen des ehemaligen Grenzjägers zu teilen. Das war Bois-Rosé. Seitdem der Augenblick vorüber war, wo der kanadische Waldläufer sich einen schönen Lebensabend mitten in den Steppen und mit dem Sohn geträumt hatte, der das Versprechen gegeben hatte, ihn nicht mehr zu verlassen, hatte eine plötzliche Umwälzung ohne sein Wissen in seiner Seele stattgefunden. Die Gefahren jeglicher Art, die die Steppen denjenigen bieten, die aus ihnen ihr Vaterland gemacht haben, hatten bis jetzt nach Pepes Worten auf Bois-Rosé einen gewaltigen Einfluß gehabt; aber jetzt bemächtigte sich seiner zum erstenmal ein unbestimmter Schrecken.
   Auf dem Eiland des Rio Gila hatte sein Mut nicht gewankt, obgleich sein Herz bei dem Gedanken an die Gefahr, die Fabian bedrohte, schmerzlich bewegt gewesen war. Auf der Plattform der Pyramide bemächtigte sich seiner ein geheimes Unbehagen. Seine Augen schienen nicht mehr den blitzschnellen Blick zu haben, der ihm in der Not immer einen Ausweg zeigte, der Gefahr zu entgehen; seine Fruchtbarkeit an Hilfsmitteln schien eine plötzlich vertrocknete Quelle geworden zu sein.
   Während Pepe seine Freude darin fand, den Feldzugsplan ihrer Feinde zu entschleiern, hatte der Kanadier mehrmals den Mund geöffnet und ebensooft – selbst verwundert über die Gefühle, die sein Mund aussprechen sollte – seine Worte verschluckt. Pepes Schlußfolgerung machte ihn kühner.
   »Aber von zwei Dingen eines«, warf Bois-Rosé ein, der einen tröstlichen Gedanken in den Worten seines Gefährten aufgriff: »Diese Banditen, die über uns herfallen wollen, wissen mit Ausnahme eines einzigen unter ihnen entweder gar nichts von dieser Goldmine oder kennen allesamt das Geheimnis; und da Fabian ebensowenig wie wir noch etwas davon haben will, so wollen wir ihnen das Dasein dieser Mine entdecken. In diesem Fall wie in dem, wo wir ihnen nichts zu entdecken hätten, wollen wir ihnen das Feld überlassen und uns, ohne einen Schuß zu wechseln, davonmachen.«
   Pepe bewahrte ein eisiges Schweigen.
   »Das ist das einzige Mittel, das wir anwenden können!« sagte der Kanadier, der sich trotz des Schweigens seines ruhigen Gefährten, dessen Ursache er selbst recht gut an der Röte erkannte, von der er seine Stirn bedeckt fühlte, in seinen Entschluß hineinzureden suchte.
   Pepe fing wieder an, den Marsch zu pfeifen, den er unterbrochen hatte.
   Fabian schwieg ebenfalls, und der unerschrockene Kanadier, dem seine Liebe zu Fabian zu einer Feigheit riet, wandte sich seufzend ab, um trotz der Nacht die Scham zu verbergen, die das Blut in seine Wangen trieb.
   »Es würde vielleicht auch passend sein«, sagte endlich der frühere Grenzjäger mit einem Spott, den der Veteran der Steppen wie einen Dolchstoß fühlte, »wenn wir ihnen das Anerbieten machten, ihre Lasttiere zu werden, um ihnen die Mühe zu ersparen, ihre Beute selbst fortzutragen. Nicht wahr, das wird hübsch aussehen, wenn zwei weiße Krieger, die sonst ganz allein ihr Kriegsgeschrei, ohne zu erbleichen, einem ganzen Indianerstamm gegenüber ausgestoßen haben, die Stirn vor dem Abschaum der Steppen neigen? Ach, Don Fabian«, fügte der spanische Jäger in der Bitterkeit seines Herzens hinzu, »was habt Ihr aus meinem starken, ritterlichen Bois-Rosé gemacht?«
   »O mein Fabian, du bist der strahlende Stern, der am Abend meiner Tage aufgegangen ist; du hast mir das Leben so teuer, seine Last so süß gemacht; höre nicht auf diesen Mann mit dem Felsenherzen – er hat niemals geliebt!« Bei diesen Worten bewegte sich der auf dem Boden ausgestreckte Riese wie Enceladus unter dem Vulkan Ätna; seine wachsende Liebe im Herzen kämpfte mit seinem unzähmbaren Mut, den er immer schwächer werden fühlte.
   »Bois-Rosé«, sagte Pepe mit schmerzlichem Ton, »wir haben einen Tag zuviel miteinander verlebt, da du schon vergessen hast, daß …«
   »Ich habe nichts vergessen, Pepe, ich schwöre es dir!« unterbrach ihn der Kanadier. »Ich habe nicht vergessen, wie das Skalpiermesser schon eine blutige Furche um meinen Kopf gezogen hatte, als du mich mit Gefahr deines Lebens gerettet hast; es gibt keine Stunde der Angst oder der Freude, die wir zusammen seit zehn Jahren durchlebt haben, die nicht meinem Gedächtnis gegenwärtig wäre! Entschuldige die Bitterkeit meiner Sprache; du kannst nicht wissen, was die Liebe eines Vaters bedeutet, denn ich … ich … der alte Waldläufer … ich wollte, um meinem Alter eine Stütze zu bewahren … Flieht nicht selbst der Löwe des Atlas mit seinen Jungen?« schloß der alte Jäger mutig, ohne einen Versuch zu machen, noch länger seine heldenmütige Schwäche zu verbergen.
   Fabian ergriff die Hand dessen, der ihn mehr als seine Ehre liebte, obgleich er ein alter Veteran auf dem Kriegspfad war. »Bois-Rosé, mein Vater«, rief er aus, »habe ich dir gestern nicht gesagt, daß wir zusammen sterben würden, wenn es sein müßte? Aber Pepe und ich, wir werden tun, was dir gut scheint!«
   »Hm«, sagte Pepe, den Fabians und des Kanadiers Aufregung ebenfalls ergriff, »die Sache … hm … könnte sich machen lassen … hm … Bei allen Teufeln! Das ist hart… doch … da, wie du sagst, die Löwen des Atlas … Caramba! Sie machen da ein trauriges Gesicht, sofern sie nicht etwa vor der Flucht ein halbes Dutzend Jäger zerrissen haben. Nun denn! Beenden wir die Sache; rufen wir dieses Geschmeiß, und kapitulieren wir!« Und der frühere Grenzjäger erhob sich bei diesen Worten von der Plattform mit jener Schnelligkeit des Entschlusses, die ihn charakterisierte und aus ihm einen so trefflichen Gefährten in der Gefahr machte.
   Bois-Rosé dachte nicht daran, sich diesem plötzlichen Entschluß zu widersetzen, als Fabian ihn zurückhielt. »Ihr könnt beide ohne Schande fliehen oder kapitulieren, das ist meine Ansicht«, nahm der junge Mann das Wort; »in jedem Fall aber ist es nötig, daß man zuerst die Kapitulation anbietet, wenn sie ehrenvoller und leichter sein soll. Wollen wir nicht warten, bis es Tag wird, um zu sehen, mit wie vielen und mit welcher Art von Feinden wir zu tun haben?«
   »Mit einigen mexikanischen Banditen und einigen indianischen Räubern ohne Zweifel, die ebenso erstaunt darüber sein werden, daß sie uns zur Flucht genötigt haben, als wir, daß wir vor ihnen geflohen sind«, sagte Pepe mit verächtlicher Miene. »Aber die Schelme brauchen sehr lange, wie es mir scheint, um die Vorbereitungen zum Angriff zu treffen.« Er näherte sich kriechend dem Rand der Plattform, um einen raschen Blick in die Ebene und auf den Gipfel der Felsen zu werfen.
   Die ersten unbestimmten Strahlen der Morgendämmerung erleuchteten eine anscheinend ebenso tiefe Einsamkeit wie vierundzwanzig Stunden zuvor, als die drei Jäger das Val d`Or betreten hatten. Die Steppe war ebenso öde und ebenso düster wie am vorhergehenden Tag, und nichts hätte in den Augen der Bewohner der Plattform den Anschein einer Veränderung an sich getragen, ohne den Erdhügel, der sich über der Leiche des Herzogs von Armada wölbte; ohne das ferne, aber von der Leiche des Pferdes entfernte Geheul der Wölfe und wenn nicht die Erinnerung an das herzzerreißende Geschrei der beiden Banditen, die vom Wasserfall verschlungen worden waren, lebhaft vor die Seele getreten wäre.
   »Die Ebene ist öde«, sagte der Grenzjäger, »und wenn ihr mir Glauben schenkt, so bin ich jetzt, da wir uns einmal entschieden haben, es wie die Löwen des Atlas zu machen, der Ansicht, den Rückzug anzutreten, solange wir es noch können. Noch länger den guten Willen dieser Schelme abzuwarten, scheint mir gefährlich. Eine Kapitulation ist in der Steppe nicht Brauch, wie du weißt.«
   Der Kanadier näherte sich, ehe er auf den Vorschlag Pepes antwortete, ebenfalls dem äußersten Rand der Plattform, um einen Versuch zu machen, den grauen Schleier, der auf der Ebene lag, zu durchdringen. Die Unebenheit des Bodens und die Steine, mit denen er besät war, ließen das Auge jetzt nur langgestreckte Linien und ungewisse Umrisse erblicken; aber es konnten sich an der Seite dieser Steine und in den Erdspalten unbemerkt Feinde hinschleichen und in Sicherheit die Bewegungen der drei Jäger belauern.
   Bois-Rosé wurde von der anscheinenden Ruhe, die weithin herrschte, getäuscht und hätte vielleicht die Ansicht seines Gefährten, sogleich zu fliehen, angenommen, wenn nicht sein Gehör das Urteil seiner Augen berichtigt hätte. Wölfe heulten noch nach dem Leichnam des Pferdes, als ein mehr klagender Ton sich in das Kläffen mischte, das sich hören ließ. Dieses Zeichen wurde vom Waldläufer verstanden. Er kam zurück und setzte sich wieder an seinen Platz.
   »Es ist eine Tollheit, zu denken, daß die Ebene frei ist«, nahm Bois-Rosé das Wort. »Hört, ich vernehme von hier aus das Knurren der Wölfe nach einer Leiche, der sie sich nicht zu nähern wagen. Ich erkenne das an ihrem besonderen Kläffen; ich wette, daß zwei oder drei Indianer sich hinter diesem Aas befinden.«
   Als der Kanadier seine Ansicht ausgesprochen hatte, kehrte Pepe zum Beobachtungspunkt zurück, den er vorher verlassen hatte. »Du hast recht«, sagte er, noch einmal hinblickend. »Ja, ich sehe sie platt auf der Erde liegen. Ach, wenn wir nur meinem Rat gefolgt wären … Aber am Ende ist es doch einerlei; ich bin immer noch der Meinung, die ich ausgesprochen habe«, fuhr der Spanier fort, »nämlich, daß wir für den Fall, daß Feindseligkeiten eintreten, uns zuerst Barajas entledigen.«
   »Feindseligkeiten können nicht stattfinden!« warf der Kanadier abermals ein. »Ganz gewiß will man nicht an unser Leben, sondern an den Schatz.«
   »Ich sage nicht nein; und doch haben die Weißen überall, wo es Indianer gibt, Feinde, die durstiger nach Blut als nach Gold sind.«
   Da es nichtsdestoweniger wahrscheinlich war, daß Baraja, dessen unvorhergesehenes Bündnis mit den Apachen er sich nicht erklären konnte, diese nur dadurch, daß er ihnen den Schatz in Aussicht stellte, zum Angriff bewogen hätte, so dachte Bois-Rosé, daß ihre Habgier befriedigt werden würde, wenn eine Kapitulation sie zu Herren des Goldlagers machte. Der ehrliche Kanadier erwartete also ziemlich ruhig, daß ihre Feinde endlich auf andere Weise als durch Heulen ihre Gegenwart kundtun würden.
   Es entstand eine lange Stille, in der Bois-Rosé endlich auf den Punkt gelangte, die letzten Bedenken seines nach unserer Meinung zu weit gehenden Ehrgefühls zu ersticken. Pepe seinerseits suchte sich über das Zugeständnis, das er seinem alten Gefährten machte, resigniert hinwegzusetzen, und Fabian sehnte sich sehr nach einer Gefahr, um den stürmischen Gedanken, die sich dicht am Grab Medianas und so fern von der Hacienda del Venado in seinem Herzen bewegten, für den Augenblick Stillstand zu gebieten. Machten diese beiden Namen nicht sein ganzes Leben aus? —
   Wir wollen diese Frist benützen, um an die Stelle von Pepes Schlüssen die tatsächlichen Vorgänge treten zu lassen oder vielmehr, um sie teilweise zu bestätigen, denn sein Scharfsinn hatte beinahe das Wahre getroffen. Wir wollen auch den Beweggrund zum Zögern der Angreifenden anführen, die bald nicht mehr zögern werden, zu erscheinen.
   Barajas erste Absicht bei dem Gedanken, sein Leben zu retten, war gewesen, den Mestizen offen in das Val d‘Or zu führen und ihm alle Reichtümer zu überliefern; er war glücklich, für einen so hohen Preis die Freiheit wiederzuerlangen. Als sich aber der erste Freudenrausch, den er über seine Befreiung von einer schrecklichen Todesmarter fühlte, ein wenig gelegt hatte, stieg der Wunsch in Baraja auf, seinen Anteil am Schatz zu bekommen, so klein er auch sein möchte. Dann hatte sich während des Marsches bis zum geheimnisvollen Tal die Gier des Abenteurers unverhältnismäßig vergrößert; da es unmöglich war, alles für sich zu behalten, so war er wenigstens bedacht, sich den größten Teil aufzubewahren. Es blieb nur noch übrig, ein Mittel zu finden, die furchtbaren Verbündeten, denen er sich angeschlossen hatte, zu täuschen.
   El Mestizo war anfänglich ungläubig gewesen, hatte dann jedoch nur auf die Stimme seiner Habgier gehört, und bald war volle, gänzliche Überzeugung dem Mißtrauen gefolgt. Wenn man sich einmal auf diesem Weg befindet, so wird das Vertrauen unerschütterlich.
   Baraja fühlte das und beschloß, es zu nützen. Baraja versetzte daher in den Erklärungen, die er dem Mestizen gab, den Schatz auf eine andere Stelle und brachte ihn auf den Gipfel der Pyramide. Er versicherte, daß die Jäger, die man aus ihrer Stellung vertreiben müsse, die Goldhaufen im Grab des indianischen Häuptlings verscharrt hätten. Übrigens genügten Sang-Mêlé diese Mitteilungen, und er verlangte keine weiteren. Für Baraja jedoch war es notwendig, mit List zu verfahren, um nicht das Val d‘Or den profanen Blicken und unreinen Händen derer zu überliefern, die er führte.
   Der Abenteurer war gerade mit diesen Gedanken beschäftigt, als die Abteilung, die mit ihm marschierte, einen neuen Zuwachs erhielt. Das war der wilde weiße Jäger Main-Rouge, der Vater des Mestizen, der das Ende der Unterredung seines Sohnes mit dem Indianer abwartete.
   Wir wollen nun, ohne die Leser länger hinzuhalten, sogleich erklären, was deren geheimer Zweck war. Der Zug hatte einen Augenblick haltgemacht, um sich unter einem dichten Hain von Steineichen auszuruhen, hinter dem Diaz ebenfalls hatte anhalten müssen, um seinem leicht verwundeten Pferd einen Augenblick der Erholung zu gönnen. Es war der einzige Ort, wo man mit einiger Sicherheit mitten in diesen offenen Ebenen haltmachen konnte. Obgleich die Piraten der Steppe mitten in ihrem unbestrittenen Reich ohne Mißtrauen waren, so wählten sie doch gerade diesen Ort zu ihrem Haltepunkt.
   Diaz also, der an den Grenzen wohnte und zu lange mit den Amerikanern zusammengelebt hatte, um das Englische nicht zu verstehen, befand sich sehr gegen seinen Willen in ihrer Nähe und erriet die folgende Unterhaltung mehr, als daß er sie hörte:
   »Wohlan«, sagte eine Stimme, »warum hast du nicht dem indianischen Häuptling unmittelbar die Gabel des Red River zum Ort der Zusammenkunft bestimmt, da diese doch in der Nähe der Gegend liegt, wo das weiße Mädchen ist, das du zu deiner Frau machen willst?«
   »Meine Frau für einen Monat, willst du sagen. Warum ich dem Apachen erst nach drei Tagen eine Zusammenkunft bewilligt habe? Weil der weiße Hund, der uns führt, mir einen Schatz hier in der Nähe versprochen hat, am Fuß des indianischen Grabmals; und weil ich zuerst das Gold haben will und nachher das Mädchen vom Büffelsee. Bist du damit zufrieden?«
   Diaz verstand nicht, was Main-Rouge seinem Sohn antwortete.
   Dieser letztere fuhr fort: »Geh doch, alter Mann; ich sage dir, daß es ein glücklicher Feldzug ist, den wir eben eröffnet haben! Und wem verdanken wir das? Willst du mir das nicht sagen? Du, der du, bevor ich in dem Alter war, dir beistehen zu können, nur auf ganz gewöhnliche Weise irgendeinen einzelnen Trapper ermorden konntest, um ihm elende Häute und noch elendere Fallen zu stehlen?«
   Main-Rouge knurrte einige Worte wie ein Tiger, den sein Wächter gezähmt hat.
   »Ja«, fuhr der Mestize fort, indem er seine schrecklichen Taten weiter besang, »diese zehn Pferde, dieses Gepäck und die Waren dieses Handelsmannes aus dem Presidio; dieses schöne junge Mädchen, das wir zufällig auf unserer Rückkehr angetroffen haben und dessen Vater zu glücklich sein wird, das Lösegeld zu bezahlen, nachdem …«
   »Ja«, unterbrach ihn der Renegat hohnlachend, »zwei ehrliche und friedliche Papagos, die ihre Spur bis zum Büffelsee verfolgt haben …«
   Hier ließen sich die Stimmen nicht mehr deutlich verstehen.
   »Und wie hast du den indianischen Häuptling bewogen, an deinem Entführungsplan teilzunehmen?« fragte Main-Rouge. »Hast du ihm vielleicht gesagt, daß sich zweiunddreißig Jäger an den Ufern des Sees befinden?«
   »Ganz gewiß! Und ich habe ihm die Pferde versprochen, die die Weißen für ihn fangen werden.« »Und er hat eingewilligt?«
   »Noch unter einer anderen Bedingung: daß ich ihm nämlich den Komantschen, der in der Umgebung des Red River umherstreift, ausliefere.« Diaz verstand weiter nichts mehr als noch einige zusammenhanglose Worte wie »Rayon-Brûlant«, das Versteck auf der Büffelinsel. Dann setzten die Indianer und die beiden Piraten der Steppe ihren Weg zum Val d`Or fort.
   Nun hatte der Abenteurer, der genug von ihrem Plan gehört hatte, um ihn ganz zu erraten, sich beeilt, zu jenen von den Banditen bedrohten Männern zu stoßen, die wilde Pferde jagten; er hatte aber geglaubt, im Vorbeireiten den drei Jägern eine Warnung vor der Gefahr, die ihnen drohte, zurufen zu müssen.
   Was Baraja anlangt, so hatte er seinen Plan gefaßt. Nach einem vierstündigen Marsch gelangte man an eine Stelle, die dem Val d`Or nahe genug lag, um die Pyramide des Grabmals in der Dunkelheit sehen zu können. Diesen Ort hatte er als Haltepunkt bezeichnet. Er hütete sich wohl, seine Begleiter auf der Felsenkette aufzustellen, die auf einer Seite das Val d`Or umgrenzte. Er fürchtete mit Recht, daß ein rasch herabgeworfener Blick dem Mestizen die wirkliche Lage des Schatzes zeigen möchte. »Kommt nach dieser Seite hin«, sagte er zu Sang-Mêlé; »von der Höhe dieser Berge aus werden wir die Pyramide bestreichen, wo die Jäger das Gold, das ich Euch als Lösegeld versprach, vergraben haben.« Er zeigte auf einen engen Pfad, auf dem er selbst von den Nebelbergen in die Ebene herabgestiegen war.
   »Nimm dich in acht, uns zu betrügen«, sagte der alte Main-Rouge mit einer Miene finsterer Drohung, »denn ich würde dir keinen einzigen Streifen Haut auf deinem Körper lassen!«
   »Seid ohne Furcht!« antwortete der Mexikaner. »Aber von welcher Seite wollt Ihr die Wächter des Schatzes angreifen, wenn nicht vom Gipfel dieser Hügel?«
   »In der Tat«, sagte Sang-Mêlé; »wenn der Tag anbrechen und diese Nebel zerstreuen wird, dann werden wir über ihnen schweben wie der Adler über seinem Raub.«
   Die ganze Schar wollte eben den engen, von Baraja bezeichneten Weg einschlagen, als einer der Apachen, der sich auf die Erde gebückt hatte, um Spuren im Sand zu untersuchen, einen Ausruf ausstieß und zwei von seinen Gefährten zu sich rief. »Was ist das für eine Spur?« sagte er.
   »Die des Adlers der Schneegebirge«, antworteten zu gleicher Zeit die beiden Indianer, indem sie damit den kanadischen Jäger bezeichneten.
   »Und diese hier?«
   »Die des Spottvogels und die des jüngeren Kriegers aus dem Süden!«
   Dies waren die Namen, die während der Belagerung der Insel Fabian und Pepe gegeben worden waren. »Gut«, sagte der Apache, »ich war dessen ebenfalls gewiß!« Dann wandte er sich an Sang-Mêlé: »El Mestizo«, fuhr der Apache fort, »wird die Goldkiesel für sich behalten; die Apachen werden kämpfen, um sie ihm zu erobern, und er wird ebenfalls für seine Brüder kämpfen. Das Blut unserer Krieger schreit um Rache. Ihre Mörder sind dort oben, und wir müssen ihren Skalp haben. Elf Krieger werden sich nur unter dieser Bedingung schlagen.«
   »Ist es nur das?« antwortete Main-Rouge mit schrecklichem Lächeln. »Die Apachen werden die Skalpe bekommen, die sie verlangen!«
   Nachdem dieser Handel abgeschlossen war, gaben die beiden Steppenräuber Baraja ein Zeichen, ihnen voranzugehen, und begannen den Fußsteig emporzuklimmen, während die Indianer sich in der Ebene zerstreuten, um die Jäger zu überraschen, wenn sie die Unklugheit begehen sollten, ihre Festung zu verlassen.
   »Wir befinden uns jetzt der Pyramide gegenüber«, sagte Baraja, als sie nach ungefähr einem halbstündigen Marsch an eine Art von Öffnung gekommen waren, aus der der Wasserfall hervorstürzte; aber Wellen dicken Nebels verbargen den Zufluchtsort der drei Jäger, und die Augen der Indianer strengten sich ebenso wie die des Vaters und seines Sohnes vergebens an, diese Wolke zu durchdringen.
   »Der Nebel, der diese Berge einhüllt, zerstreut sich niemals – selbst nicht bei Tag —, und du weißt es ebensogut wie ich«, sagte Main-Rouge zu Sang-Mêlé. »Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn wir nach einer Stunde dort klarer sehen. Da jedoch diese Hunde von Indianern Skalpe haben müssen …«
   »Greis«, unterbrach ihn der Mestize mit drohendem Ton, »vergiß nicht, daß ich indianisches Blut in den Adern habe, oder ich werde dich daran erinnern!«
   »Es ist gut«, antwortete der Vater rauh, ohne sonst am Ton seines Sohnes, an den er gewöhnt war, ein Ärgernis zu nehmen. »Ich meinte, da diese Indianer Skalpe haben müssen, so ist es nötig, daß wir eine andere Stelle aufsuchen, um sie ihnen zu geben.«
   Diese Unterredung fand in englischer Sprache statt – der Muttersprache des Jägers, der aus Illinois gebürtig war, wo seine Verbrechen ihn zur Flucht genötigt hatten —, und weder die Indianer noch Baraja hatten ein Wort davon verstanden.
   »Ich werde einen finden«, nahm Sang-Mêlé das Wort; »habe nur ein Auge auf diesen Schelm!« fügte er, mit der Hand auf den Mexikaner zeigend, hinzu. Hierauf erstieg er das Gewölbe des Wasserfalls.
   »Der Sohn einer indianischen Wölfin wird ohne Zweifel einen passenderen Ort als diesen hier finden, um uns das Gold zu verschaffen, das Ihr uns versprecht, Freund«, sagte der Amerikaner in schlechtem Spanisch und ließ seine schwere Hand auf die Schulter Barajas fallen, als der Mestize sich entfernt hatte. »Bis dahin wollen wir Feuer auf dieser Höhe anzünden; auf diese Weise werden die drei Füchse, die wir umzingeln wollen, sobald sie den Glanz des Feuers mitten im Nebel bemerken, glauben, daß da noch eine andere Abteilung zu ihrer Überwachung aufgestellt ist.«
   Ohne den Mexikaner, dem er nicht traute, aus dem Gesicht zu verlieren, entfernte er sich einen Augenblick von ihm, um in der Nähe des Wasserfalls ein Feuer anzuzünden, und ließ Baraja sehr von dem Gedanken beunruhigt zurück, daß der Mestize, um den Angriff zu beginnen, die Felsen wählen könnte, die das Val d`Or beherrschten.
   Das war die Ursache der Verzögerung, worüber sich die drei unbeweglichen und schweigenden Jäger auf dem Gipfel ihrer Festung wunderten.
   Gerade als die Gefahr rings um ihn und seine beiden Gefährten größer wurde, schmeichelte sich Bois-Rosé, wie es beinahe immer der Fall ist, am meisten mit der Hoffnung, seine Vorahnung, die ihn einen Augenblick erschreckt hatte, beschwichtigen zu können.
   »Anstatt uns für eine Kapitulation zu entscheiden«, sagte Pepe, indem er zuerst das Schweigen brach, »wäre es besser gewesen, sogleich die Flucht zu ergreifen oder eine Kugel in das Gehirn eines jeden der beiden Indianer zu senden, die hinter dem Gerippe des Pferdes verborgen liegen. Dies hätte den Knoten zerhauen; denn die Mittelwege sind immer gefährlich!«
   »Kann man denn einen Posten wie den unsrigen verlassen, um sich aufs Geratewohl mitten in der Finsternis an einen Ort zu werfen, wo jede Erdfalte, jedes Gesträuch einen Feind verbergen kann; wohin die Indianer auf den Flügeln des Windes getragen zu sein scheinen?« antwortete Bois-Rosé. »Das hätte geheißen, einem gewissen Tod entgegenzulaufen! Unsere Stellung ist dadurch nur noch klarer geworden. Entweder wir kapitulieren ehrenvoll, oder wir verteidigen uns bis auf den Tod. Wir werden jedoch bald wissen, woran wir sind; die Schelme denken nicht mehr daran, ihre Gegenwart zu verbergen. Sieh nur das Feuer dort oben!« Pepe folgte dem Finger des Kanadiers – auf dem Gipfel des Wasserfalls funkelte im Nebel ein bleiches Licht: Es war das Feuer, das Main-Rouge mit Barajas Hilfe eben auf dem Felsenkamm angezündet hatte.
   »Oh«, rief Pepe verächtlich aus, »was diejenigen anlangt, die sich dort oben festsetzen, so kümmere ich mich gerade soviel darum als über eine Schar Seemöwen auf einem Felsen am Strand; ihre Pfeile werden so wenig wie ihre Kugeln die wallende Befestigung durchdringen, die ich ihnen entgegengestellt habe. Was jene dort betrifft«, fuhr der Spanier fort, indem seine Blicke nach der Ebene zurückkehrten, »so sind das ausdauernde Schelme, die sich nach und nach immer mehr und mehr nähern.«
   Bei diesen Worten brachte Pepe den Lauf seiner Büchse in Richtung des toten Pferdes und zeigte Bois-Rosé in einiger Entfernung diesseits vom Pferd zwei schwarze, kugelartig zusammengerollte Körper, die unbeweglich wie indianische Götzenbilder dalagen.
   »Diese Leute verachten uns, und sie haben recht! Ach, Bois-Rosé, warum mußt du …« Pepe vollendete nicht; ein bitterer Blick seines alten Gefährten ließen den Vorwurf auf seinen Lippen ersterben.
   »Möchte ich doch für ihn oder für dich sterben müssen, und du wirst es sehen, Pepe!« rief Bois-Rosé aus. »Ich weiß es, wahrhaftig, ich weiß es!« murmelte Pepe. »Das verhindert jedoch nicht, daß die beiden Körper, die wir zusammengerollt sahen, eben noch hinter dem Pferd lagen und daß sie jetzt vor ihm sind. Ich kann sie jedoch nicht so vergeblich sich anstrengen lassen; aber sei ruhig, ich will mit ihnen freundlich reden, um sie nicht zu erzürnen.«
   »Du würdest vielleicht besser daran tun, zu schweigen«, sagte der Kanadier; »ich traue deiner Zunge nicht, wenn sie sich gegen irgendeinen Feind wendet, namentlich wenn dies ein Indianer ist.« Pepe nahm den versöhnlichsten Ton an, der ihm möglich war, und rief mit einer Stimme, die das Brausen des Wasserfalls übertönte: »Das Auge eines weißen Kriegers wünschte nur ein Aas in der Ebene zu sehen, und er sieht deren drei – das sind zwei zuviel!«
   Die versöhnlichen Worte des Spaniers machten auf die beiden Indianer den Eindruck eines Pfeils mit scharfer Spitze. Alle beide erhoben sich mit einem Sprung auf ihre Füße, richteten sich in ihrer ganzen Höhe empor und stießen zusammen das Geheul eines wilden Tieres aus. Dann verschwanden sie in zwei anderen Sprüngen hinter der Felsenkette.
   »Das sind Teufel, die ich mit Weihwasser besprengt habe«, sagte der frühere Grenzjäger mit einem schallenden Gelächter, in dem sich Verachtung und Wut mischten.
   »Im ganzen hast du recht getan«, sagte Bois-Rosé, bei dem der Anblick seiner verhaßten Feinde das Blut durch die Adern peitschte und der durch die Nähe des Kampfes jenen Mut wiedererhielt, den seine Liebe für Fabian allein dämpfen konnte.
   »Hurra, ich finde endlich meinen alten Waldläufer wieder!« rief Pepe mit Begeisterung und streckte eine Hand dem Kanadier hin, die andere Fabian. »Frischauf denn! Wir haben zwar weder Hörn noch Trompete; so wollen wir denn unser Kriegsgeschrei wie sonst ausstoßen, wie es drei furchtlosen Kriegern diesen Hunden gegenüber geziemt! Macht es wie wir, Fabian, Ihr habt ja schon die Feuertaufe empfangen.«
   Und diese drei unerschrockenen Männer stießen, ebenfalls aufrecht stehend und Hand in Hand, ein dreifaches Geheul aus, das weder an wilder Energie noch an ohrenzerreißendem Klang in irgendeiner Weise dem der Söhne der Steppe nachstand.
   Ähnliches Geheul erscholl von der Höhe des Wasserfalls herab und tönte vom Gipfel der Felsen über dem Val d‘Or in die Ohren der Freunde auf der Pyramide. Die in der Ebene umherschweifenden Wölfe ergriffen beim Ertönen der menschlichen Stimmen die Flucht, und die ganze weite Steppe versank wieder nach dem letzten Donner des Echos in tiefes Schweigen– der Tag war angebrochen.
   Die ersten roten Strahlen der Sonne erloschen im Dunst der Nebelberge wie das glühende Eisen im Wasser; aber der Sand der Ebenen funkelte von goldigem Schimmer, purpurner Widerschein erstrahlte an den Seiten der Felsen, und wie die Taucher ihr triefendes Haar schütteln, so schüttelten die Gipfel der Tannen im Morgenwind die letzten Flocken des nächtlichen Nebels ab.


   51. Main-Rouge und Sang-Mêlé

   Die drei Belagerten verloren keine Zeit, ihre letzten Vorbereitungen zum Kampf zu treffen. Jeden Gedanken an eine Kapitulation ließen sie von nun an für immer fallen.
   »Sieg oder Tod! Du weißt ebensogut wie ich, Bois-Rosé«, sagte Pepe, indem er frisches Pulver auf die Pfanne seiner Büchse schüttete – und seine Freunde wandten dieselbe Vorsicht an —, »daß eine Kapitulation mit diesen unreinen Banditen um ein gutes Teil gefährlicher ist als ein Kampf gegen sie. Man verläßt im Glauben auf die Heiligkeit der Verträge eine ausgezeichnete Stellung – wir etwa würden in die Ebene hinabsteigen —, und da könnten wir gerade in dem Augenblick, in dem wir es am wenigsten erwarten, im Nu umringt, ermordet und skalpiert werden.«
   »Für den Fall, daß der Mangel an Lebensmitteln uns dazu zwingen sollte, machen wir einen Ausfall!« rief der Kanadier. »Es darf aber erst geschehen, wenn wir ihre Zahl so weit gelichtet haben, daß es mit dem Teufel zugehen müßte, wenn ihrer noch genug sind, um uns zu umringen.«
   »Es ist wahr, wir haben wenig Lebensmittel«, sagte Pepe mit stoischem Stirnrunzeln; »und ich muß gestehen, daß ich es immer hart gefunden habe, mich einen ganzen Tag lang zu schlagen, ohne am Abend einen Mundvoll Speise zum Nachtmahl zu haben. Jedenfalls habe ich im Dienste Seiner katholischen Majestät rauhe Lehrjahre im Hungern durchgemacht, und seitdem habe ich meine Studien in diesem Punkt fortgesetzt – und du ebenfalls; Don Fabian allein ist nicht daran gewöhnt.«
   »Ich gebe es zu«, sagte Bois-Rosé lebhaft, der immer noch seinem System treu blieb, dieses schreckliche Leben in der Steppe seinem Fabian trotz der damit verbundenen vielseitigen Gefahren als ein überaus beneidenswertes darzustellen; »aber es gibt auch Tage des Überflusses, in denen die Tafel der Mächtigen auf der Erde nicht wie die unsrige besetzt ist. Ist es uns nicht hundertmal vorgekommen, daß wir von der kleinen Brut in den Bächen der Ebene bis zu den gewaltigen Salmen der Wasserfälle des Gebirges; von der Feldlerche bis zum großen Truthahn; vom kleinsten vierfüßigen Tier, das für den Tisch des Menschen bestimmt ist, bis zum kolossalsten Büffel der Prärien die Auswahl gehabt haben? Du wirst es sehen, du wirst es sehen, wenn …« – der Kanadier wurde plötzlich in der Höhe seines Enthusiasmus an die Wirklichkeit und ihre bedrängte Lage erinnert —, »wenn Gott diese neue Gefahr von uns abgewandt haben wird!« schloß er mit bewegter Stimme.
   Fabian erwiderte darauf: »Der letzte Mediana, der jetzt noch einen so reichen Teil dieser Erfahrungen mitnehmen konnte, hat mehr als einmal im Schoß des Elends, in das man ihn gestoßen hatte, das Wühlen des Hungers in seinen Eingeweiden vernommen. Ich habe keine angenehmeren Lehrjahre in meinem Leben gehabt als ihr.«
   »Armes Kind«, sagte Bois-Rosé.
   »Und Gayferos?« rief Pepe. »Was soll während dieser ganzen Zeit aus ihm werden?«
   »Er steht wie wir unter Gottes Schutz«, sagte der Kanadier ruhig; »jetzt dürfen wir nur an uns denken. Sobald sich nur unter diesen Indianern irgendein Freund oder ganz einfach nur einige Krieger des Schwarzen Falken befinden, so wird der Kampf ein Kampf auf Leben und Tod sein. Nach hundert Jahren würden deren Nachkommen noch von den unsrigen Rechenschaft für das indianische Blut fordern, das wir an den Ufern des Rio Gila vergossen haben; es ist also gut, keine Vorsichtsmaßnahmen zu unterlassen.« Die drei Jäger legten nun hinter den nach der Seite des Wasserfalls hin zu ihrem Schutz ausgespannten Decken ihre Pulverhörner nieder, da sie fürchteten, daß eine Kugel ihnen das einzige Verteidigungsmittel rauben könnte. Ihre Ledertaschen, die die Kugeln und die Lebensmittel enthielten, wurden am selben Ort niedergelegt und mit Steinen bedeckt, um sie noch mehr vor dem Feuer des Feindes in Sicherheit zu bringen.
   Nachdem diese Vorsichtsmaßnahmen getroffen waren, legten sich der Kanadier und Fabian, indem sie stets die Augen auf den Gipfel der der Plattform der Pyramide gegenüberliegenden Felsen richteten, hinter die breiten Steine, die sie vor sich aufgerichtet hatten, die Büchse zur Seite, und Pepe kniete hinter den Stämmen der beiden Tannen nieder. Dann erwarteten alle drei den Beginn der Feindseligkeiten.
   Dieser Augenblick war um so feierlicher, als die Belagerten noch nicht wissen konnten, mit welchen Feinden sie zu tun hatten, noch wie groß ihre Anzahl war. Alles, was sie – aber nur undeutlich durch die Felsenschießscharten, hinter denen sie gedeckt lagen – unterscheiden konnten, war eine fast unaufhörliche Bewegung der Gebüsche, die auf dem gegenüberliegenden, einer Verschanzung ähnlichen Gipfel hin und her wogten. Man errät wohl, daß es den Mestizen keine Mühe gekostet hatte, diesen für den Angriff so vorteilhaften Posten zu finden, obgleich er nicht so hoch lag als die Pyramide. Er hatte darauf zum großen Schrecken Barajas, dessen unruhige Sorge für seinen Schatz immer wach blieb, noch vor Tagesanbruch seine Stellung über dem Val d‘Or eingenommen. Der Abenteurer hatte sich beeilt, einen bestürzten Blick hinabzuwerfen. Aber wie groß war sein Erstaunen, als er sah, daß eine unbekannte Hand – die Hand eines eifersüchtigen Liebhabers, der allen Augen den Gegenstand seiner Liebe verbirgt – unter einem Schleier von Zweigen den berauschenden Glanz des Goldes, den das Tal widerstrahlte, verborgen hatte! Baraja dankte abermals seinem Schutzengel für diese ganz besondere Gunst und suchte in seinem Geist nach einem Mittel, in das Val d‘Or hinabzuschleichen, um dem Mestizen den für seine Befreiung bedungenen Preis heraufzuholen, ohne die fast unerschöpfliche Quelle zu verraten.
   Main-Rouge und Sang-Mêlé hatten im Vertrauen auf ihre Kraft und Geschicklichkeit mit Ungeduld und Verachtung all die umständlichen Vorbereitungen eines indianischen Angriffs mit angesehen. Als endlich diejenigen der Apachen, die aus den bisherigen Kämpfen die Kaltblütigkeit und den Mut ihrer furchtbaren Gegner kannten, sich hinter den Reisigbündeln, die sie aufgehäuft hatten, und hinter dem dichten Gebüsch, mit dem die Felsen auf dem Gipfel bedeckt waren, in Sicherheit glaubten, um das Feuer zu eröffnen, stieß Main-Rouge den Kolben seiner Büchse heftig auf den Boden.
   »Ach was«, sagte er mit einem schrecklichen Fluch, »es ist Zeit, dem ein Ende zu machen. Ohne diese Hunde – ohne diese Indianer, wollt‘ ich sagen – mit ihrer lächerlichen Liebe für die Skalpe, die nichts einbringen, würden wir diese Räuber dort oben auffordern, uns ihren Schatz auszuliefern; mit der Nennung unserer Namen würde alles beendet sein. Wir würden sehen, daß sie sich aus dem Staub machten wie Präriehunde, deren Bau man aufgräbt.«
   »Ach, du alter Schelm«, sagte der Mestize mit einem Lieblingsfluch, der an Energie dem seines schrecklichen Vaters nichts nachgab, und spielte damit auf ein Gerücht an, das über Main-Rouge von den indianischen Stämmen erzählt wurde, »du mußt gewinnbringendere Skalpe haben wie diejenigen, die die Befehlshaber an den Grenzen dir, wie man sagt, einst mit Gold aufwogen. Diese Indianer wollen drei Skalpe, und sie sollen sie erhalten, verstehst du?«
   Vater und Sohn warfen einen jener unheilverkündenden Blicke aufeinander, die zwischen diesen zügel– und gesetzlosen Schelmen so oft in blutigen Streit ausgeartet waren; für diesmal jedoch blieb es ohne Folge. Jeder von ihnen fühlte, daß der Augenblick, ihren abscheulichen Leidenschaften freien Spielraum zu lassen, schlecht gewählt war; der Vater verschluckte darum seinen Zorn und nahm wieder das Wort: »Nun denn! Was ist jetzt zu tun?«
   »Was ist jetzt zu tun?« wiederholte Sang-Mêlé, indem er sich an denjenigen unter den Indianern wandte, der am einflußreichsten unter ihnen zu sein schien. »Der Schwarze Falke will seine Feinde lebendig haben; der Wunsch eines solchen Häuptlings wie er ist Gesetz für seine Krieger!«
   »Gut«, sagte Main-Rouge; »das ist noch viel schwieriger, als drei Leichen den Skalp zu entreißen.« Dann warf er auf Baraja einen Blick, der diesen erzittern ließ. »Hund!« sagte er zu ihm. »Hast du uns nur darum hierher geführt?«
   »Habe ich es Euer Gnaden nicht gesagt«, antwortete Baraja, »daß der Schatz von drei furchtbaren Jägern bewacht würde?«
   »Was liegt daran?« sagte Sang-Mêlé. »Der Mexikaner wird sein Gold hergeben oder, wenn er uns betrogen hat, seine Haut bis auf den kleinsten Fetzen; Main-Rouge und Sang-Mêlé werden die drei Weißen den Indianern lebendig überliefern oder selbst das Leben dabei verlieren. Sie haben es versprochen, und sie werden ihr Wort einlösen.«
   Der treulose Mestize hatte diese Worte halb spanisch – damit Baraja sie verstünde – und halb indianisch gesprochen, um vom Festhalten an seinem Wort eine Idee zu geben. Seine Verbündeten schenkten ihm kein Vertrauen.
   »Ist der Name meines Bruders«, wandte er sich an den Indianer, »nicht die Gemse?« »Ja; er springt wie diese auf den Felsen.« »Wohlan; ist die Gemse entschlossen, ihr Leben und das ihrer Krieger zu opfern, um die Weißen gefangenzunehmen?«
   »So sei es! Vorausgesetzt, daß drei von ihnen übrigbleiben, um die Gefangenen zur Hütte des Schwarzen Falken zu führen, willigt die Gemse ein, sich unter der Zahl derer zu befinden, die ihr Dorf nicht wiedersehen werden.«
   »Gut«, sagte der Mestize. Dann wandte er sich an Baraja und sagte: »Und du, Schelm; welche Rolle wirst du spielen, um dein Versprechen zu halten?«
   Baraja war wegen der Antwort sehr verlegen. Er wußte nur, daß er die Rolle des Schakals spielte, der sich zur Jagd einer Bande von Jaguaren angeschlossen hat. Er hielt sich deshalb im Hintergrund, da er sich erinnerte, daß in den Augen des wilden Amerikaners wie in denen des Mestizen sein Leben wenigstens bis zu dem Augenblick einigen Wert haben mußte, wo er sein Lösegeld bezahlt haben würde. »Euer Gnaden«, sagte er, »sollten in Betracht ziehen, daß ich allein weiß, wo der Schatz vergraben ist und darum mein Leben nicht leicht aufs Spiel setzen darf.«
   »Bleibt darum hinter diesen Felsen versteckt!« sagte der Mestize und wandte Baraja verächtlich den Rücken.
   Er unterhielt sich nun einige Minuten mit seinem Vater in einem Dialekt, den niemand von den Zuhörern verstehen konnte. Die kurze Besprechung fand auf einem von den Felsen gebildeten, sanft abfallenden Abhang statt. Auf diesem Abhang, der mit einer Art terrassenförmiger und mit Gebüsch bedeckter Anhöhe schloß, standen die Indianer fast aufrecht; ihr Kopf war in gleicher Höhe mit den ersten Schößlingen, und obgleich sie eine weniger hohe Stellung einnahmen als ihre Gegner, so konnten sie doch, selbst gedeckt, die leichteste Bewegung benützen, die etwas von ihnen erblicken ließ.
   »Wenn wir ihnen das Leben versprechen würden, so würden sie sich ergeben«, sagte der Mestize zum Schluß.
   »Und wir werden unser Wort halten, da wir sie den Indianern lebendig überliefern sollen«, fügte der Vater mit wildem Lächeln hinzu.
   Zu gleicher Zeit stiegen Vater und Sohn die Böschung halb hinauf und hoben die Hand empor, ohne sich selbst oberhalb der Gebüsche zu zeigen.
   »Aufgepaßt!« sagte Pepe, der hinter den beiden Tannen auf den Knien lag. »Die Feindseligkeiten oder die Unterhandlungen werden ihren Anfang nehmen; ich sehe zwei Hände, die den Felsenkamm überragen und das Zeichen des Friedens geben. Aber … diese Hände halten nicht das Kalumet … und die Kleider, die die Arme bedecken, sind nicht diejenigen der Apachen … Mit wem haben wir es denn zu tun?«
   Pepe hatte mit außerordentlicher Schnelligkeit diese Worte gesprochen und diese Beobachtungen angestellt, als eine starke Stimme sie unterbrach: »Wer ist derjenige«, sagte die Stimme, »den die Indianer den Adler der Schneegebirge nennen?«
   »Was ist das?« murmelte Bois-Rosé bestürzt. »Wer von diesen Schelmen spricht englisch?«
   Und da Bois-Rosé nicht antwortete, fuhr die Stimme fort: »Vielleicht versteht der Adler der Schneeberge nur die Sprache, die man im Land redet?« Und die Stimme wiederholte ihre Frage französisch.
   Bois-Rosé erbebte. »Das ist noch schlimmer, als ich dachte«, sagte er so leise, daß nur Pepe ihn verstehen konnte. »Es ist irgendein Renegat unserer Farbe dabei!«
   »Ein von den Weißen zu den Roten übergelaufener Schelm«, sagte Pepe in spruchreichen Worten; »das sind die Wütendsten.«
   »Was will man vom Adler?« fragte nun auch Bois-Rosé französisch, da er sich des Namens erinnerte, den ihm der Schwarze Falke gegeben hatte.
   »Er möge sich zeigen; oder wenn er Furcht hat, sich sehen zu lassen, so möge er hören!«
   »Und wenn ich mich zeige – wer bürgt mir dafür, daß ich es nicht zu bereuen habe?«
   »Wir werden ihm mit Vertrauen vorangehen«, antwortete die Stimme.
   »Was sagt er?« fragte Pepe.
   »Ich soll mich zeigen und …«
   Bois-Rosé blieb stumm vor Bestürzung beim Anblick der beiden seltsamen Gestalten, die plötzlich über der Brüstung ihm gegenüber auftauchten. Er hatte zwei Männer erkannt, deren Ruf als hinterlistige Mordgesellen nicht bloß bis zu seinen Ohren gelangt war, sondern die der Zufall zum zweitenmal ihm in den Weg führte. Schon das erstemal war ihm die Begegnung verderbenbringend genug gewesen.
   Beim Anblick dieser beiden Männer, mit denen er hier wieder zusammentraf, durchzuckte ein fremdartiges, schmerzliches, bis dahin unbekanntes Gefühl das Herz des unerschrockenen Waldläufers: Fabian war bei ihm, und zum erstenmal in seinem Leben fürchtete sich Bois-Rosé beinahe! Seine stählernen Muskeln spannten sich wie die starken Lianen der amerikanischen Wälder.
   »Main-Rouge und Sang-Mêlé! Erkennst du sie?« sagte er zu Pepe.
   Pepe machte eine bejahende Gebärde. Eine ähnliche Erschütterung wie die, die Bois-Rosé gefühlt hatte, hatte sein Herz getroffen. »Zeige dich nicht!« sagte er. »Für alle, die mit ihnen zusammentreffen, ist der Tag ein Tag der Trauer.«
   »Ich werde mich zeigen«, erwiderte Bois-Rosé; »es würde sonst scheinen, als ob ich Furcht hätte. Beobachte nur genau jedes Blatt an den Gesträuchen, und verliere keine einzige Gebärde dieser beiden Teufel, die es mit beiden Parteien halten, aus den Augen.« Bei diesen Worten richtete der Kanadier auf der Plattform seine hohe Gestalt gerade und fest wie der Lauf seiner Büchse empor, und sein klarer, offener und ruhiger Blick bewies, daß die Furcht im Herzen des Kanadiers keine Stätte hatte.
   Main-Rouges Anblick war abstoßend. Er war ein großer, dürrer alter Mann mit lohbrauner, backsteinfarbiger Haut und wildem Blick; seine Augensterne von ungleicher Größe und stechendem Blick und seine sich auf einem eckigen Gesicht schief erhebende Nase bezeichneten ihn als vollendeten Bösewicht. Seine langen weißen, früher brandroten Haare waren auf dem Scheitel des Kopfes nach indianischer Sitte aufgebunden und wurden von Riemen aus Otternhaut zusammengehalten. Eine Art Jagdkittel aus Hirschleder, mit Stickereien von verschiedener Farbe verziert, reichte ihm bis ans Knie und ließ lederne Gamaschen erblicken, die verschwenderisch mit Fransen und Troddeln besetzt waren. Seine Füße waren mit olivengrünen Mokassins bekleidet und mit Glasperlen jeder Art geschmückt. Eine buntfarbige Decke war über die Schulter geworfen, während ein lediger Gurt eng seine hageren Seiten umschloß. An einem roten Wehrgehänge befanden sich eine Streitaxt, ein langes Messer ohne Scheide und das Futteral einer indianischen Pfeife.
   In einem solchen Aufzug hätte niemand in dem amerikanischen Renegaten Züge der weißen Rasse zu erkennen vermocht.
   Sang-Mêlé hatte einige Ähnlichkeit mit seinem Vater, und wenn seine Augen auch von ebenso großer Wildheit zeugten, so deutete das indianische Gepräge seines Gesichts doch wenigstens nicht auf die bei Main-Rouge so sichtbare Gemeinheit der Seele. Der Mestize war ebenso groß, aber viel kräftiger gebaut als sein Vater. Er hatte die wunderbare Stärke geerbt, die das Alter bei dem alten Renegaten noch nicht verringert hatte. Mit einem Wort: der Mestize hatte zugleich etwas vom Tiger und vom Löwen an sich. Der Weiße jedoch war wie der bengalische Tiger, der die Natur des amerikanischen Schakals angenommen hat. Die dicken schwarzen Haare El Mestizos waren ebenso aufgebunden wie die seines Vaters, jedoch nicht durch Lederriemen, sondern durch scharlachrote Bänder, wie man sie zuweilen in die Mähne der Pferde geflochten findet. Seine Jagdkleidung, vom selben Schnitt wie die des Amerikaners, bestand aus rotem Tuch und unterschied sich übrigens von der seines Vaters nur durch die reichliche Verwendung von Zierat, mit dem ein junger indianischer Fant so gern seine Person herausputzt. Auf seiner Schulter ruhte eine lange Büchse, deren Kolben und Schaft mit Messingnägeln übersät waren, deren Köpfe wie Gold glänzten; außerdem war sie noch sorgfältig mit Verzierungen von Zinnober bemalt.
   Obgleich diese beiden Banditen die feierliche Haltung der Indianer anzunehmen suchten, so fand sich doch ein großer Unterschied zwischen ihrer abstoßenden Gesichtsbildung und dem Antlitz und der Haltung Bois-Rosé, dessen athletische Gestalt ebenso wie die Züge seines Gesichtes das schönste Bild eines ehrenfesten Mannes darboten, der sich seines Wertes bewußt ist.
   »Was will man vom Adler der Schneeberge, da dies doch einmal der Name ist, mit dem man mich bezeichnet hat?« fragte der Kanadier mit ruhiger Stimme.
   »Ei«, sagte der Räuber von Illinois mit häßlichem Lächeln; »wir haben uns schon gesehen, wie mir scheint, und wenn ich mich recht erinnere, so hätte der kanadische Waldläufer seinen Skalp nicht behalten, ohne …«
   »… einen Kolbenschlag, an den Euer ausgezeichnetes Gedächtnis Euren Schädel erinnern sollte!« fügte Pepe hinzu, der nun auch an der Besprechung teilnahm, die in englischer Sprache stattfand.
   »Ah, da seid Ihr ja ebenfalls!« fuhr der Amerikaner fort.
   »Wie Ihr seht«, antwortete der Spanier mit einer Kaltblütigkeit, die seine vor Haß glühenden Augen Lügen straften.
   »Derjenige, den meine indianischen Brüder den Spottvogel nennen«, sagte Sang-Mêlé. Die Augen des Spaniers, dessen glühende, fast wilde Leidenschaften gewaltsam durchzubrechen drohten, schleuderten einen blitzartigen Blick auf den Mestizen; er öffnete den Mund, um eine jener Antworten zu erteilen, nach denen die friedlichen Unterhandlungen sich gewöhnlich in erbitterte Kriegserklärung verwandeln, als Bois-Rosé ihn bat, doch ruhig zu sein.
   Bois-Rosé fühlte ebenfalls schnell seine Geduld verfliegen, und der furchtbare Indianertöter vermochte kaum noch die Flut des aufsteigenden Hasses länger zurückzuhalten; er wollte jedoch noch ruhig genug bleiben, um die Vorschläge, zu denen er nicht die Hand zuerst geboten hatte, für den zweifelhaften Fall anzuhören, daß sein leicht erregtes Ehrgefühl ihm erlauben würde, sie zugunsten Fabians anzunehmen.
   »Ich bin gekommen, um Worte des Friedens zu vernehmen, und da verirrt sich nun die Sprache von Main-Rouge und Sang-Mêlé sehr weit vom Ziel«, sagte er ernst.
   »Es wird nicht lange dauern«, erwiderte der Amerikaner. »Sprich, Sang-Mêlé!«
   »Ihr steht mit den Füßen auf einem reichen Schatz«. sagte der Mestize; »ihr seid nur zu dritt – wir sind fünfmal zahlreicher als ihr und müssen diesen Schatz haben. Das ist es.«
   Bestimmt, klar und unverschämt, dachte Pepe. Ich will doch sehen, wie Bois-Rosé das verdauen wird. Ein Mann, der weniger Vertrauen auf die Überlegenheit, die ihm die Zahl seiner Verbündeten gab, auf seine Geschicklichkeit und Körperkraft gesetzt hätte, wäre vor dem augenblicklichen Ausdruck des Gesichtes des athletischen Waldläufers zurückgebebt. Trotz seiner zärtlichen Liebe für Fabian fühlte doch Bois-Rosé nur noch das glühende Verlangen, die Unverschämtheit des Banditen zu bestrafen.
   »Hm«, machte der Kanadier mit einer Anstrengung, die ihm beim Anblick des anmaßend auf den Lauf seiner Büchse gestützten Mestizen schwer genug werden mußte; »und unter welchen Bedingungen müßt ihr diesen Schatz haben?«
   »Unter der Bedingung, daß ihr euch alle drei so schnell wie möglich aus dem Staub macht.«
   »Mit Waffen und Gepäck?«
   »Mit Gepäck, aber ohne Waffen!« erwiderte El Mestizo, der wohl wußte, daß es ihm dann ein leichtes sein würde, trotz seines Eides die drei Jäger seinen wilden Verbündeten zu überliefern.
   »Wenn die beiden Bösewichter nicht an unser Leben wollten, so würde ihnen so zahlreich, wie sie sein müssen – wenig daran liegen, ob wir unsere Waffen behielten«, flüsterte Pepe dem Kanadier ins Ohr.
   »Das ist klar wie der Tag; aber laß mich nur diese Schelme entlarven«, erwiderte Bois-Rosé ganz leise. Dann sagte er laut zum Mestizen: »Sind die Schätze, die wir zurücklassen, nicht hinreichend? Was sollten euch drei Büchsen unter fünfzehn Kriegern nützen?«
   »Um euch außerstande zu setzen, uns zu schaden.«
   Der Kanadier zuckte die Schultern. »Das ist keine Antwort!« sagte er. »Ihr habt es hier mit Männern zu tun, die alles hören können, ohne sich durch Drohung beunruhigen, durch trügerische Redensarten täuschen zu lassen. Wir müssen bestimmt wissen, woran wir uns zu halten haben«, fuhr er fort, sich an Pepe wendend.
   Der alte Renegat nahm hierauf das Wort. »Wohlan«, sagte er höhnisch lachend, »Sang-Mêlé vergißt in seiner Gnade für euch eine Bedingung.«
   »Welche?«
   »Daß ihr euch auf Gnade und Ungnade ergeben müßt«, begann der Mestize.
   »Laß mich doch diesem Vipernpaar mit weißem Schwanz und indianischem Kopf antworten!« sagte Pepe, indem er Bois-Rosé mit dem Ellbogen stieß.
   »Pepe«, sagte der Kanadier ernst, »seitdem mir die Sorge für das Leben eines Sohnes obliegt, habe ich eine heilige Pflicht zu erfüllen und will im Fall eines Unglücks ohne Vorwürfe vor Gott erscheinen. Laß es uns also bis zu Ende abwarten.«
   Und Bois-Rosé warf auf Fabian, der aufmerksam alles, was sich ereignete, beobachtete, einen Blick, der seine ganze väterliche Liebe zeigte. Ein ruhiges Lächeln des jungen Mannes war der Lohn für seine heroische Geduld.
   »Wohlan, Sang-Mêlé«, nahm er wieder das Wort, »sucht einen Augenblick die Einflüsterungen des indianischen Blutes zu vergessen, und sprecht offen, wie es einem furchtlosen Krieger und einem Christen zukommt! Was wollt ihr von uns? Was werdet ihr mit euren Gefangenen beginnen?«
   Aber die Ehrlichkeit appellierte vergeblich an die Treulosigkeit. Sang-Mêlé wollte nur die Hälfte seiner Gedanken enthüllen. Obgleich er gewiß war, seinen Zweck zu erreichen, so wollte er doch nicht gerade Blut, wohl aber Zeit sparen, und schmeichelte sich törichterweise mit dem Gedanken, daß die drei Jäger das ungewisse Los der Gefangenschaft einem Tod vorziehen würden, vor dem nichts sie retten konnte. »Ich würde sehr in Verlegenheit mit euch dreien kommen«, sagte er; »aber da ist ein gewisser Schwarzer Falke, dessen Krieger mich begleiten und euch durchaus haben wollen, und – wahrhaftig! – ich habe es ihnen versprochen.«
   Der Mestize hatte sich bei seiner Antwort des indianischen und spanischen Dialektes bedient, und die Jäger sahen bei diesen Worten, wie hinter den niederen Zweigen der Gebüsche blitzende Augen wie die eines lauernden Tigers auftauchten und ein Antlitz sich blicken ließ, das durch die Kriegsmalerei noch schrecklicher und abscheulicher war als der Tiger selbst.
   »Aha; ich ahnte es!« sagte Bois-Rosé. »Nun, was wird denn der Schwarze Falke mit uns machen?«
   »Ich will es euch sagen«, antwortete der Mestize, der sich nach den schrecklichen Bundesgenossen umwandte. »Was wird der Schwarze Falke mit dem Adler, dem Spottvogel und dem Krieger aus dem Süden machen?
   Mein Bruder möge leise antworten!«
   »Dreierlei«, antwortete der Apache mit schrecklicher Bestimmtheit: »Sie werden zuerst die Hunde in seiner Hütte sein, dann wird er ihren Skalp an seinem Feuer trocknen, und zuletzt wird er ihr Herz seinen Kriegern zu essen geben, denn es sind drei Tapfere, und ihr Mut wird in die Herzen derer übergehen, die von den ihrigen gekostet haben.«
   Das sind heute noch, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, die indianischen Sitten in den Prärien, und das war auch das Los, das den drei Jägern bevorstand, wenn sie dem Wort des Mestizen Vertrauen geschenkt hätten. Und dennoch sind heute noch, wo wir diese Geschichte wiedererzählen, die Prärien voll von nach Abenteuern lüsternen Jägern, die, nachdem sie dieses gefahrvolle Leben einmal gekostet haben, nicht wieder darauf verzichten können. Wir begreifen es sehr wohl. Was sind die kleinlichen Aufregungen des zivilisierten Lebens gegen diese mächtigen Gemütsbewegungen des Lebens in der Wildnis? Wir dürfen das wohl sagen – wir, die wir oft eingeschlummert sind, ohne zu wissen, ob wir wieder aufwachen würden. Sie verhalten sich gerade wie die kostbaren flammenden Gewürze der Antillen und Indiens zu den zarten Kastanien und der schaumigen Milch der Hirten Virgils.
   »Gut«, sagte der Mestize, nachdem er aufmerksam auf die Worte seines Bundesgenossen gehört hatte; »El Mestizo wird die Vorschriften seines Bruders getreu übersetzen.« Er wandte sich wieder an Bois-Rosé und suchte seinem wilden Gesicht durch ein trügerisches Lächeln einen sanfteren Ausdruck zu geben. »Der große indianische Häuptling«, sagte er, indem er diesmal sich der englischen Sprache bediente, die nur Fabian nicht verstand, »verspricht seinen Gefangenen die Freundschaft, die er für die drei Tapferen hegt, das Beste von seinen Jagden und die schönsten von seinen Weibern.«
   »Und das ewige Leben. Amen«, erwiderte Pepe, der nicht mehr an sich zu halten vermochte. »Pfui, Bois-Rosé«, fuhr er fort; »es ist eine Schande, noch länger dieses Ungeheuer, diesen Auswurf der Weißen und Roten anzuhören. Siehst du denn nicht, daß er sich über deine Ehrlichkeit lustig macht?«
   »Was sagt der Spottvogel?« fragte der alte Renegat unverschämt.
   »Er sagt«, antwortete Pepe, dessen Wut keine Grenzen mehr kannte, »er sagt, daß er nicht weniger edelmütig sein will als ihr beide und daß er euch dreierlei verspricht: Euch einen zweiten Kolbenschlag auf den Schädel, Eurem Sohn einen Messerstoß mitten ins Herz und seine lügnerische Zunge den Raben vorgeworfen … wenn sie nicht fürchten, sich daran zu vergiften!«
   »Ah!« rief Sang-Mêlé und legte, mit den Zähnen knirschend, mit der Schnelligkeit des Gedankens seine schon im voraus gespannte Büchse an.
   Der Spanier und der Kanadier hatten sich nicht zu rechter Zeit niederbücken können, und es wäre, da sie die Büchsen außer dem Bereich ihrer Hand niedergelegt hatten, um einen von ihnen geschehen gewesen, wenn nicht nach einem hinter ihnen fallenden Schuß der Mestize auf dem Gipfel der Böschung gewankt hätte. Fabian kannte Pepes Heftigkeit, die Unzähmbarkeit seiner Zunge in gewissen Augenblicken, und er wachte deshalb, platt auf der Erde liegend, die Büchse im Anschlag. Dieser glückliche Umstand konnte allein den einen von den Jägern retten.
   Unglücklicherweise hatte Fabians Büchse nicht die weite Tragkraft derjenigen der beiden Waldläufer, und die Kugel wurde durch die wollene Decke, die die Schulter des Mestizen umwallte, und durch seinen ledernen Beutel aufgehalten und matt. Nichtsdestoweniger verlor Sang-Mêlé durch den Aufschlag der Kugel den Atem, und obgleich er stark war wie eine Eiche, die ein einziger Axthieb nicht zu fällen vermag, so wankte er doch und wäre in das Val d‘Or hinabgestürzt, wenn der Vater nicht seinen Sohn aufgehalten hätte. Mit kräftigem Arm hob er ihn von der Böschung herab.
   Der Indianer hinter seinem Gesträuch und die beiden Piraten der Steppe, die bis jetzt aufrecht gestanden hatten, verschwanden zu gleicher Zeit; dann folgte dem Gespräch das tiefste Schweigen, das nur durch das Tosen des Wasserfalls und das Rauschen des grünen Vorhangs unterbrochen wurde, den der Wind an Seite der Felsen bewegte.


   52. Das Gold ist eine Chimäre

   Eine Nebeldecke umhüllte immer noch den Gipfel der Berge, obgleich die Sonne schon hoch am Himmel stand und die Steppe mit ihren Feuerstrahlen durchglühte. Das Feuer, das während der Nacht auf dem Gipfel der Felsen angezündet worden war, strahlte noch durch den Dunst, ohne daß die Belagerten hätten wissen können, ob einige von ihren Feinden sich dort befänden, um es zu unterhalten.
   »Mein Gott, du siehst es – ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand, um den Kampf zu vermeiden«, sagte der Kanadier, der mit leiser Stimme betete, indem er jetzt wieder durch die Anwesenheit Fabians daran erinnert wurde, daß alle Kraft und aller Schutz von oben komme; »aber dein Wille geschehe!« Dann wandte er sich an Pepe mit mehr Ruhe, als er bis jetzt gefühlt hatte, und sagte: »Da du die klaren und entschiedenen Stellungen liebst, so mußt du zufrieden sein. Es ist klar, daß die Schelme außer dem Schatz auch uns selbst noch haben wollen, und du weißt wahrscheinlich, zu welchem Zweck.«
   »Ja, um die Freundschaft des Häuptlings mit dem schwarzen Gefieder, das Beste von seinen Jagden und die schönsten von seinen Frauen zu erhalten; anders ausgedrückt heißt das, um lebendig skalpiert, ermordet und verbrannt zu werden. Es ist wahr, das Schicksal ist gar nicht zweifelhaft.«
   »Der Kampf wird lang und erbittert sein; Fabian, mein Sohn, der Haß des Feindes, der seinen Feind lebendig haben will, ist viel schrecklicher als der, der ihn zu töten sucht; wir haben es erprobt.«
   In der Tat schlief wie eine traurige Vorbedeutung der Zukunft ein Mann neben ihnen in seinem Grab, den sie auch nur lebendig hatten gefangennehmen wollen. Jetzt drohte den Jägern dasselbe Schicksal, das Don Antonio von ihnen bereitet worden war und das ihnen zwei Tage zuvor auf dem Eiland gedroht hatte.
   »Wir müssen also unsere Vorsicht und unsere Kaltblütigkeit verdoppeln«, fuhr der Kanadier fort; »jeder von uns darf nur dann schießen, wenn er seiner Sache sicher ist; und besonders mußt du, Fabian, um so weniger dein Leben aufs Spiel setzen, als du es ganz und gar einem Greis gewidmet hast, der sich deiner Gegenwart freut und dir für die Zukunft seinen Segen gibt. Dein Leben gehört dir nicht mehr; das ist mein Eigentum! Versprichst du es mir?«
   »Aber unser Leben ist ja für den Augenblick nicht bedroht, da du sagst, daß man uns nur lebendig haben will!« erwiderte Fabian.
   »Lebendig? Darüber mache ich mir keine Sorge«, sagte Bois-Rosé. »Wären wir auch alle drei tödlich verwundet, so würde uns doch noch Kraft genug übrigbleiben, uns in diesen Abgrund zu stürzen, um dort ein Los zu finden, das im Vergleich mit dem, das uns als Gefangene erwartet, sehr süß sein würde. Die Schelme haben daran nicht gedacht.«
   »Es ist dabei noch etwas anderes zu bedenken«, fügte Pepe hinzu: »Diese Räuber der Prärien haben nicht dasselbe Interesse als ihre Verbündeten. Sie wollen vor allem Gold, und sobald die Ungeduld sie ergreift, haben sie nur noch einen Gedanken, nämlich uns so schnell wie möglich zu töten, um der Sache ein Ende zu machen. Gott gebe übrigens, daß ich mich nicht täusche, denn beim Versuch, uns zu töten, müssen sie sich bloßstellen; sonst könnte, wenn sie bei der Absicht, die sie kundgeben, beharren, ein so schrecklicher Umstand eintreten, wo wir trotz der gesicherten Zuflucht, die uns dieser Abgrund bietet, doch mit den Waffen in der Hand gefangengenommen würden, ohne daß uns die Möglichkeit bliebe, uns in die Tiefe zu stürzen oder uns gegenseitig zu erdolchen.«
   Diese entsetzliche Wahrscheinlichkeit, neben der eine nicht minder schreckliche bestand – daß nämlich einer von ihnen allein den mitleidlosen Feinden in die Hände fallen könnte —, erschütterte die Jäger einen Augenblick. Eine heilige, unauflösliche Freundschaft, zehn Jahre gemeinschaftlich durchlebter Gefahren und Kämpfe verknüpften Bois-Rosé und Pepe. Vom Atlantischen Ozean bis an die Küsten des Stillen Ozeans hatten die Büchsen der beiden Jäger zusammen geknallt; sie hatten einander die Hände in vielen verzweifelten Kämpfen gedrückt, die Freuden des einen waren die Freuden des anderen gewesen. Hunger und Durst, die Vater und Sohn entzweien, hatten das Band, das sie zusammenfesselte, nicht zerreißen können; sie hatten ihren letzten Tropfen Wasser, ihren letzten Bissen Nahrung miteinander geteilt. Mit einem Wort: es war eine Freundschaft, wie man sie in der Steppe schließt, wo Haß, Rache, Liebe – kurz, alle Leidenschaften so groß werden wie die Unermeßlichkeit, der sie ihre Entstehung verdanken.
   Nachdem sie einen Augenblick dieser Schwäche nachgegeben hatten, die auch die stärksten Gemüter ergreift, ermannten sich die drei Gefahren gewohnten, unerschrockenen Abenteurer – wenn auch nicht ganz ohne Tadel, doch ganz ohne Furcht – und richteten sich ähnlich den geschmeidigen, kräftigen Toledoklingen bald wieder von selbst gerade auf. Sobald dieser kurze Augenblick vorüber war, suchte jeder mit ruhigen, aufmerksamen Augen die Gefahr zu ermessen, die sie bedrohte.
   Das Feuer funkelte immer noch mitten im Nebel der Berge und zog zuerst die Blicke des Kanadiers auf sich. »Ich liebe diesen Schein dort oben nicht«, sagte er. »Obgleich die Decken uns hinreichend von dieser Seite schützen, so ist doch das Gefühl beunruhigend, von hinten beschossen zu werden. Die Schelme werden es bei ihren feindlichen Absichten gewiß bald versuchen, unsere Aufmerksamkeit vom Hauptpunkt ihres Angriffs uns gegenüber abzuziehen. Der Nebel, der die Höhen bedeckt, hindert die Indianer nicht daran, nach Gutdünken auf uns zu schießen.«
   »Du hast recht«, sagte Pepe. »Ich glaube nicht, daß der alte Bandit und sein würdiger Sohn sich durch ihren Kontrakt mit dem Schwarzen Falken verbindlich gemacht haben, uns mit allen unseren Gliedern abzuliefern, und wenn wir, durch das Feuer dort oben verführt, in unserer Aufmerksamkeit nachlassen, so werden sie bei ihrer teuflischen Geschicklichkeit jedem von uns eine Schulter oder zwei auszurenken oder einen Arm oder einen Schenkel zu zerschmettern suchen.«
   »Hier, Fabian«, fuhr der Kanadier fort, »ist dein Posten. Du mußt immer das Feuer beobachten und den Lauf deiner Büchse darauf gerichtet halten. Sobald du durch den Nebel hindurch den Blitz eines Gewehrs siehst, so gib kühn und ohne zu zittern Feuer auf das Licht, das von der Zündpfanne aufblitzt.«
   Fabian legte sich nach Bois-Roés Anweisung hinter der Verschanzung auf die Lauer, den Lauf seiner Büchse auf die Felsen gerichtet. Die anderen Jäger lagen mit dem Gesicht zu ihren Feinden, ohne daß die Mündung ihrer Büchse eine Linie weit die Plattform der Pyramide überragte, und lauerten so mit den Augen auf die Bewegungen der Belagerer.
   Die Taktik der Indianer ist nicht so ungestüm wie die der Europäer. So zahlreich sie auch sein mögen, so werden sie doch niemals das Leben ihrer Krieger beim Sturm auf eine wohlverteidigte Stellung opfern. Die Wilden haben mit der Grausamkeit des Tigers auch seine unermüdliche Geduld. Ganze Tage gehen, wenn es sein muß, damit vorüber, daß sie ihren Feind bis zu dem Augenblick belauern, wo Müdigkeit, Hunger, Mangel an Munition oder irgendeine Unbesonnenheit ihnen diesen überliefert. Es sind Vertilgungskriege im kleinen; wenn aber von beiden Seiten dieselbe Geduld, dieselbe Schlauheit, mit einem Wort derselbe Kriegsplan befolgt wird, so begreift man, daß diese Kriege lange Zeit dauern müssen.
   Unglücklicherweise hatten die Belagerten kaum für mehr als vierundzwanzig Stunden Lebensmittel, und die Taktik der Belagerer mußte ihnen darum verderbenbringend werden, während diese ihrerseits leicht einen von ihren Jägern absenden konnten, um Wild in der Ebene oder in den Bergen zu schießen.
   »Wie wird das alles enden?« fragte der Kanadier Pepe mit leiser Stimme.
   »Ich weiß es wirklich nicht; nicht einmal, wann es anfangen wird. Ich kann dir jedoch sagen, daß ich mich viel wohler fühle, wenn ich eine oder zwei Patronen abgeschossen habe und wenn ich die Schüsse und das Kriegsgeschrei rings um mich widerhallen höre.«
   »In der Tat – so angenehm das Schweigen der Einöden ist, sobald man weiß, daß man sich allein darin befindet, so beunruhigend ist es, wenn man sich von Feinden umgeben fühlt.«
   Pepes Wünsche wurden bald erhört. Zwei Schüsse hintereinander störten die Ruhe der Luft. Der eine kam von den Bergen, der andere von der Plattform, wo Fabian – aber vergeblich – Feuer auf einen Feind gegeben hatte, der auf der Höhe des Wasserfalls stand.
   Dreimal hintereinander wiederholten sich diese Doppelschüsse ohne Erfolg auf beiden Seiten. Stücke von Baumrinde und ein Regen von Tannennadeln fielen auf die drei Jäger nieder, und Fabians Kugeln hatten dem Feind ohne Zweifel nicht mehr Schaden zugefügt.
   »Tritt mir deinen Platz ab, Fabian«, sagte Bois-Rosé, »und nimm den meinigen ein. Pepe, zeig ihm doch, wie er den Lauf seiner Büchse legen muß, um sich ihrer zu bedienen, ohne sie sehen zu lassen.«
   Mit diesen Worten zog sich der Kanadier kriechend zurück und tauschte den Platz mit dem jungen Mann, der sich zu Pepe verfügte. Bois-Rosé durchforschte auf seinem neuen Posten mit seiner gewöhnlichen Schnelligkeit Höhen und Ebenen zugleich mit raschem Blick. Er wunderte sich, jenseits des Sees, der sich am Fuß der Pyramide, auf der entgegengesetzten Seite der Bergkette, ausdehnte und dessen Wasser den steilen Abhang der Nebelberge bespülte, einige flache Steine auf die hohe Kante gerichtet zu sehen, und zwar in nicht großer Entfernung voneinander. Der Waldläufer zählte vier solcher aufgerichteter platter Steine und zweifelte nicht, daß hinter dieser Deckung ebenso viele Feinde im Hinterhalt lägen, um ihre Flucht nach dieser Seite hin zu verhindern.
   Von da wandte der Kanadier wieder seine ganze Aufmerksamkeit den Höhen zu, wo das Feuer immer noch mit schwachem Schein durch den Nebel glänzte; dann wartete er geduldig wie ein Indianer.
   Während dieser Zeit lagen Pepe und Fabian nach dem Beispiel Bois-Rosés bewegungslos nebeneinander und wechselten einige Worte mit leiser Stimme.
   »Ihr habt unrecht daran getan, Pepe«, sagte Fabian, »diese beiden Männer durch nutzlose und vielleicht unverdiente Beleidigung zu reizen.«
   »Sie waren ebensowenig nutzlos als unverdient, Don Fabian; zuerst, weil sie mich von einer großen Last befreit haben, und dann, weil diese beiden Männer die größten Schelme sind, die jemals die Prärien, in denen es doch eine große Anzahl von ihnen gibt, betreten haben. Ihr kennt noch nicht diese lasterhafte Rasse von weißen Renegaten und roten Mestizen. Diese beiden Räuber haben nur die Laster der Weißen und der Wilden in sich vereinigt. Bois-Rosé und ich sind schon Gefangene dieser Taugenichtse gewesen, und ich habe bei ihnen gesehen, was ich niemals vergessen werde. Ich habe den Vater und den Sohn, trunken vom Feuerwasser, mit der Streitaxt in der Hand und jeder begierig nach dem Blut des anderen aufeinander losstürzen gesehen.«
   Fabian schauderte bei dieser schrecklichen Erzählung. »Ich habe gesehen«, fuhr der ehemalige Grenzjäger fort, »wie diese beiden Ungeheuer wie Löwen miteinander kämpften, deren Stärke sie beinahe besitzen; wie sie sich zusammen im Staub wälzten und einander zu zerreißen suchten … Ich habe gesehen … Ach«, sagte Pepe, sich unterbrechend, »seht den Schelm dort, der mir Gelegenheit geben wird, meine Hand wieder zu üben … Er tut sehr unrecht daran, sich einzubilden, daß ich die stolze Malerei seines Gesichts für Blätter halten würde, die der Herbst rot gefärbt hat, und seine Augen …«
   Pepe sprach noch, als seine Büchse plötzlich vor Fabians Ohren knallte. Ein wilder Schrei antwortete dem Schuß.
   »Der ist es nicht, der schreit, das versichere ich Euch; ich wette darauf, daß die Kugel ihm durch die Augenhöhle in den Schädel gedrungen ist, in welchem Fall man keinen Atemzug mehr tut. Ja, Don Fabian«, fuhr der Jäger fort, indem er seine Büchse wieder lud, »ich habe gesehen, wie Vater und Sohn einander das Leben zu entreißen suchten; der eine dem, von dem er es bekommen hat, der andere dem, dem er es gegeben hat!
   Ich habe gesehen, wie der Sohn seine Knie auf die Brust seines um Erbarmen flehenden Vaters gesetzt hatte; wie er sein Skalpiermesser zog, um den Skalp seines Vaters zu nehmen, als ein Indianer hinzutrat und mit Gefahr seines Lebens diese verabscheuenswürdige Schandtat verhinderte. Puh«, fügte der Jäger energisch hinzu; »was könnt Ihr von solchem Ungeheuer erwarten? Heda, Bois-Rosé, wir haben einen Feind weniger!«
   »Ich weiß es, da du eben geschossen hast«, erwiderte der Kanadier, ohne sich umzuwenden, um den Feind, den er belauerte, nicht aus den Augen zu verlieren.
   Ein tiefes Schweigen folgte der grauenvollen Erzählung Pepes, während die drei auf der Plattform Liegenden ebenso unbeweglich blieben als das Skelett des Tieres, das auf dem Gipfel thronte, und die Toten, die unter ihnen ruhten.
   So verflossen zwei Stunden; zwei lange Stunden. Die Sonne stand beinahe senkrecht am Himmel und warf auf die Höhe der Pyramide feurige Strahlen, deren Glut der Schatten der beiden Tannen nicht vermindern konnte. Der Wind wehte aus der Steppe gleich den Ausdünstungen eines Glutofens, und Durst und Hunger machten sich bei den drei Jägern fühlbar.
   »He, Bois-Rosé, du machtest ja vor einigen Stunden so schöne Beschreibungen von unseren Tagen des Überflusses – was meinst du von dem niedrigsten Gericht, womit deine Erinnerung unsere Tafel belud?«
   »Bah, Pepe, sind wir nicht schon vierundzwanzig Stunden ohne Speise und Trank geblieben und haben von einem Morgen bis zum anderen gekämpft? Wenn du hungrig bist, so kau einige Tannennadeln, die die Kugel des Indianers auf uns hat niederregnen lassen, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn der bittere Geschmack des Harzes dir nicht den Appetit auf vierzehn Tage raubte.«
   »Danke schön; ich habe ein einfaches Stück von einem Rehbraten oder einem Büffelrücken lieber«, antwortete Pepe, der wieder guter Laune geworden war. »Aber du liegst dort hinten so ruhig wie ein Heiliger aus Stein in seiner Nische; ist denn auf deiner Seite irgendein Individuum in der Ebene im Bereich deiner Büchse?«
   »Es sind vier da; aber sie liegen in Löchern hinter platten Steinen, wodurch auch wir uns decken«, erwiderte der Kanadier, indem er einen raschen Blick nach der Stelle warf, wo er die auf die Kanten gesetzten Platten gesehen hatte; aber diese hatten ihre horizontale Lage wieder angenommen. »Ach«, fuhr Bois-Rosé fort, »die Schelme haben die Steine auf ihren Schlupfwinkel niederfallen lassen. Merk dir das, und wenn die Nacht hereingebrochen ist und die Füchse ihren Bau nicht verlassen haben, so können wir beide hingehen und dieses Gezücht zertreten.«
   Der Kanadier verlor während dieser Unterredung keineswegs die Stelle aus den Augen, wo das Feuer auf der Höhe angezündet war. Nur ein etwas dunklerer Streifen, den der Rauch des ausgehenden Feuers durch den Nebelschleier zog, machte es sichtbar. Seinerseits konnte Pepe durch die schmale Schießscharte der sie beschützenden Steine seine Blicke, ohne die Stellung zu ändern, auf das Val d‘Or fallen lassen.
   Gewiß zum erstenmal seit Jahrhunderten mischte die Sonne nicht ihre goldenen Strahlen mit dem Gold in dem engen Tal, das unter den schon verwelkten Zweigen verborgen lag.
   »Ich hatte mich nicht getäuscht, wie Ihr seht«, sagte Pepe zu Fabian, »wenn ich behauptete, daß dieser erbärmliche Schuft Baraja seinen Verbündeten das wirkliche Lager des Schatzes nicht entdeckt hätte; sonst würden wir diesen Mestizen und den Renegaten einen Versuch machen sehen, sich in das Tal hinabzuschleichen oder wenigstens neugierige Blicke hineinzuwerfen. Das wäre eine herrliche Gelegenheit, ihnen etwas Blei in den Kopf zu schicken. Ich kann wohl sagen, daß ehrlichere Leute als sie diesem Zauber des Goldes, das dort haufenweise ausgebreitet liegt, nicht entgangen sind. Ich habe ganz entschieden unrecht daran getan, es ihren Blicken zu entziehen. Was zum Teufel aber können denn diese Dämonen der Hölle so lange vorhaben?
   »Ich möchte es wohl erraten können«, fuhr der Spanier nicht ohne Unruhe fort.
   »Vielleicht entschließen sie sich, zu stürmen, und warten die Nacht dazu ab.«
   »Obgleich wir ihre Zahl nicht kennen, so wäre es doch zu wünschen.«
   Ein Ereignis unterbrach die Betrachtung Pepes. Zwei Feuerstrahlen durchfurchten die vor den Augen des alten Jägers ausgebreitete Nebelhülle, und der doppelte Knall hatte seine Ohren noch nicht erreicht, als auch seine Büchse einen gleichen Blitz schleuderte. Die drei Schüsse wurden fast zu einem einzigen, aber mit verschiedenem Erfolg. Durch die beiden zugleich abgeschossenen Kugeln von ihren Stricken abgerissen, fielen die Wolldecken auf die Plattform nieder, während das Blei Bois-Rosés, der nach dem Licht, das dem Schuß vorausgegangen war, gezielt hatte, einen von den Schützen traf.
   »Ach, Don Fabian«, rief Pepe, »welch einen köstlichen Anblick verliert Ihr da! Nur Bois-Rosé kann Euch ähnliche Überraschungen bereiten.«
   Ein Indianer stürzte von der Höhe des Berges herab und machte vergebliche Anstrengungen, sich an den scharfen Felsenspitzen festzuhalten, an denen er in seinem Sturz zerschmetterte; nachdem er grauenerregende Sprünge im Fall gemacht hatte, fiel seine Leiche neben dem Schlund des Wasserfalls in den See, der unter seiner grünen Decke rauschte.
   »Das ist unser Ende!« fuhr der Spanier philosophierend fort und heftete seine Augen auf die Wasserfläche. Die Kreise auf dieser wurden immer größer und verschwanden endlich am Ufer; dann wurde das Wasser wieder so ruhig wie vorher und spiegelte wieder friedlich den Himmel und die Felsen ab. Bald hörten die Jäger nur noch die von den Seiten des Berges losgerissenen Steine langsam in den See gleiten; es klang wie der Sand einer Totenuhr, wie die Schaufel voll Erde, die man in die Gruft wirft, um sie zu füllen, sobald sie in sich aufgenommen hat, was sie nicht zurückgeben soll.
   »Jetzt sind es schon zwei Schelme weniger und ein Einschnitt auf unserer Büchse mehr«, sagte Pepe in der Art einer Leichenrede; »es war ein teurer Schuß!«
   Aber Bois-Rosé dachte an alles andere als daran, ein Siegeszeichen mehr in einen Kolben einzugraben, wo es bald an Platz zu fehlen drohte. Er dachte zuerst, daß sie durch das Herabstürzen der beiden Decken nach der Seite des Wasserfalls hin ohne Schutz blieben; daß die Tannenstämme sie nicht mehr so wirksam deckten und es unmöglich war, auch nur daran zu denken, ihre herabgeworfene Verschanzung wieder aufzurichten.
   Ein Umstand, aus dem er einen Vorteil zu ziehen suchte, nahm ebenfalls seine Augen und seine Gedanken ganz in Anspruch. Der Indianer, der von der Höhe des Felsens in den See hinabgestürzt war, hatte in seinem Fallen Büschel langen Grases, die an seinen Vorsprüngen fast in gleicher Höhe mit dem Wasser wuchsen, herausgerissen und das dichte Schilf geknickt, dessen schwärzliche Kronen und grüne Stengel sich mit dem herabhängenden Gras mischten. Das zerknitterte und auseinandergerissene Schilf ließ einen gähnenden Schlund wie die Öffnung eines Kellergewölbes erblicken. Dieses Gewölbe schien der Eingang zu einem ziemlich breiten, jedoch sehr dunklen Kanal zu sein.
   Man erinnert sich vielleicht, daß dies die Öffnung des unterirdischen Kanals war, in den Baraja am Tag vorher Main-Rouge und Sang-Mêlé auf ihrem Rindenkanu hatte hineinfahren sehen. Der Kanadier wußte diesen Umstand nicht; aber er dachte mit dem Scharfsinn, den seine lange Erfahrung bei ihm entwickelt hatte, an den Vorteil, den er daraus ziehen könnte, wenn der Hunger mehr als der Feind ihn zur Flucht zwingen würde. Beim Nachdenken über diese Entdeckung verlor jedoch Bois-Rosé den Verbindungspunkt nicht aus den Augen, wo die Felsenkette, die die Festung der Belagerer bildete, sich mit den Nebelbergen vereinigte, deren Verlängerung sie durch eine Laune der Natur zu sein schien.
   Allem Anschein nach mußte der Gefährte des Indianers, den seine Büchse niedergestreckt hatte, überzeugt, daß es wegen der Gefahr unmöglich sei, den von ihm eingenommenen hohen Posten zu behaupten, sich zu den übrigen Belagerern zurückziehen. Der enge Pfad, der die Felsen mit den Bergen verband, war nicht so geschützt, daß nicht noch Raum genug dagewesen wäre, um den Mann aufs Korn zu nehmen, der ihn verfolgte.
   Bois-Rosé hatte sich nicht getäuscht. Sein durchdringender Blick unterschied bald den flatternden Kopfschmuck eines indianischen Kriegers, der sich bald hob, bald senkte, dann verschwand und bald wieder erschien. Einen Augenblick blieb der Busch von Adlerfedern unbeweglich. Da der Kanadier gewiß wußte, daß sein Feind ihn beobachtete, so rührte er sich nicht und schien den Kopf nach einer anderen Richtung zu wenden. Der wilde Krieger wollte vielleicht bequemer auf seinen Feind zielen, der nicht auf der Hut zu sein schien; vielleicht wollte er auch – was noch wahrscheinlicher war – eine von den albernen Prahlereien begehen, die die Indianer trotz ihres scheinbar unerschütterlichen Ernstes zuweilen gern ausüben, da sie ihrem Mut schmeicheln – kurz, er zeigte sich ganz und gar auf dem Gipfel des Felsens. In der Tat schwenkte der Apache seine Büchse, ohne zu zielen, und stieß ein beleidigendes und herausforderndes Geheul aus.
   Das Geheul hatte aber kaum begonnen, als es schon mit einem Schrei des Todeskampfes endigte. Die Kugel des Jägers hatte den Indianer erreicht. Seine Büchse entschlüpfte seinen Händen, und der Indianer selbst gehorchte einem jener seltsamen Antriebe des menschlichen Körpers, wenn der Tod ihn mitten in seiner Kraft überrascht: Er machte zwei Sprünge vorwärts und rollte dann in das Val d‘Or hinab, wo er sich nicht mehr rührte.
   »Frischauf«, sagte Pepe; »das geht gut! Bois-Rosé vergeudet sein Pulver nicht.«
   Während der Zeit hatte sich Bois-Rosé kriechend seinen beiden Gefährten genähert, und jeder drückte ihm die Hand als Zeichen schweigenden Triumphes und stummer Freundschaft.
   »Der Steppenräuber da unten«, sagte Bois-Rosé, »ahnt nicht, daß er auf Goldhaufen ruht.«
   »Ach, Bois-Rosé«, erwiderte Pepe, »es ist sehr schmerzlich, zu denken, daß dieses Gold uns ebensowenig als ihm dienen kann und daß es uns nicht einmal einen Bissen zwischen die Zähne zu bringen vermag. Es ist auch betrübend, mitten in einer so kritischen Lage, wie die unsrige ist, noch einen Appetit zu haben, den man nicht befriedigen kann.«
   »Laß uns zuerst daran denken, unser Leben zu retten«. sagte Bois-Rosé ernst. »Was schadet der Hunger, solange er nicht unsere Augen trübt und unsere Arme zittern macht? Vielleicht ist unsere Lage doch nicht ohne Ausweg.«
   Der Kanadier teilte nun in einigen Worten seinen beiden Gefährten die Umstände vom Fall des Indianers mit; er sagte ihnen, wie die Öffnung eines unterirdischen Ganges, der wahrscheinlich eine Verbindung zwischen dem See und dem Innern der Nebelberge bilde, plötzlich vor seinen Augen erschienen sei. Bois-Rosé verhehlte sich ebensowenig als seine Zuhörer, daß diese Entdeckung, so glücklich sie auch sein könnte, doch nur erst unter ganz verzweifelten Umständen benützt werden dürfe. Der See war tief, und wenn sie schwimmend den Ausgang des unterirdischen Kanals erreichen wollten – in der Voraussetzung, daß es weiterhin noch einen Ausgang gebe und daß auch die Indianer, die die Ebene auf der anderen Seite der Wasserfläche überwachten, sie nicht bemerkten —, so setzten sie sich doch der Gefahr aus, ihr Pulver zu durchnässen und so sich jedes Verteidigungsmittels zu berauben.
   Jäger ohne Waffen sind in der Steppe nicht nur der unbarmherzigen Willkür umherstreifender Indianer preisgegeben, sondern auch im voraus zu einem schrecklichen Tod, nämlich zum Hungertod verdammt. Das tiefe Schweigen, das immer noch auf der Seite der Belagerer herrschte, schien anzudeuten, daß Sang-Mêlé nicht länger das Leben seiner wilden Bundesgenossen, von denen schon drei gefallen waren, aufs Spiel setzen, sondern sich wie der Schwarze Falke vor ihm darauf beschränken wollte, die Belagerung fortzusetzen und sie auszuhungern.
   Was diesen Felsen mit unerschütterlicher Grundlage anbelangte, so war nicht zu hoffen, daß er jemals wie die schwimmende Insel aus dem Grund herausgerissen werden könnte.


   53. Baraia, der Wind gesät hat, erntet auch weiterhin Sturm

   Nach dieser Beratung, die den Augen der drei Belagerten kein neues Licht brachte und ihnen keine Aussicht auf Rettung eröffnete, gab sich ein jeder von ihnen wieder still seinen geheimen Gedanken hin. Alle drei lauschten dem dumpfen Rauschen des Wasserfalls in der Tiefe des Abgrunds, dessen ehrfurchtgebietende Stimme ihnen wenigstens sagte, daß ihnen noch zwischen der Gefangenschaft, die schrecklicher war als der Hunger, der Abgrund als letzter Zufluchtsort übrigbliebe.
   Lassen wir nun für einen Augenblick die Belagerten all das energisch in Anspruch nehmen, was die Gewöhnung an Gefahren in ihnen an unerschütterlicher Ausdauer, an moralischem Mut und an erfindungsreicher Fruchtbarkeit des Geistes entwickelt hatte, und blicken wir erst einmal genauer auf die Gefahren, die ihnen drohten und die mitten in dem hartnäckigen Schweigen, das die Belagerer hinter den sie deckenden Felsen beachteten, immer größer wurden.
   Fünf Indianer – denn bis auf diese Zahl hatten die Büchsen der Jäger und der Hinterhalt in der Ebene sie verringert – lagen hinter ihrer Verschanzung. Sie hatten ihren Kopfputz aus Federn und ihre wallenden Mäntel aus Büffelhaut abgelegt; ihre Körper waren halb nackt; mit racheglühenden Blicken beobachteten sie durch die Zweige der Gesträuche hindurch gierig die geringste Bewegung des Feindes.
   Ihnen gegenüber erhebt sich das indianische Grabmal mit seinen düsteren Zieraten und seinen Felsenzinnen, deren Zwischenräume nichts erblicken lassen. Der Wind bewegt das trockene Gras auf dem Gipfel der Anhöhe, wo die drei Christen niedergekauert liegen. Die Zweige der Tannen schwanken langsam über ihren Häuptern. Keine Spur eines menschlichen Körpers ist sichtbar, kein Büchsenlauf glänzt in der Sonne – und doch wissen die Apachen, daß bei der geringsten Unvorsichtigkeit von ihrer Seite die düstere Plattform einen jähen Blitz und zugleich den Tod entsendet. Unter ihnen sitzen der alte weiße Renegat und Sang-Mêlé; ihre langen schweren Büchsen liegen an ihrer Seite; beide rauchen aus einer indianischen Pfeife mit einem Kopf aus roter Erde und werfen von Zeit zu Zeit einen unheimlichen Blick auf den bleichen und unruhigen Baraja.
   Zu dem Schrecken, den diesem seine entsetzlichen Bundesgenossen einflößten, gesellt sich noch die Unruhe über die wahrscheinliche Entdeckung des wunderbaren Goldlagers. Er hatte den letzten von der Kugel des alten Waldläufers getroffenen Indianer mitten in das Tal hinabstürzen sehen und zitterte, daß der Apache durch seine krampfhaften Bewegungen im Todeskampf die Zweige, die dessen Oberfläche bedeckten, verschoben haben könnte. Er dachte, daß sein Leben sicher wäre, solange sein Geheimnis noch ihm gehörte, weil er ein unentbehrlicher Bundesgenosse war; aber sobald ein Blick von der Höhe des Felsens dem wilden Mestizen die wirkliche Lage des Schatzes entdeckte, wurde seine Betrügerei offenbar, und vielleicht würde sich dann Sang-Mêlé einen grausamen Scherz daraus machen, den Indianern das Opfer, das sie nur schwer aufgegeben hatten und dessen Leben ihm fernerhin nutzlos wäre, zu überantworten. Der Unglückliche zitterte zugleich für sein Leben und für seinen Schatz.
   »Höre, Blaßgesicht«, sagte endlich der Mestize mit dem ganzen Stolz der indianischen Rasse, »Main-Rouge und ich haben bis jetzt die Indianer ihren eigenen Hilfsmitteln überlassen, um ihnen fühlbar zu machen, daß sie weder geistig noch körperlich stark genug sind, gegen diese drei Weißen zu kämpfen; aber der Augenblick naht, wo wir diesen Schelmen den Unterschied zeigen werden, der zwischen Weihen und Adlern besteht. Ist es nicht wahr, was ich da sage?« fügte Sang-Mêlé hinzu, indem er für Main-Rouge englisch das wiederholte, was er eben Baraja gesagt hatte.
   »Gewiß!« antwortete der alte weiße Renegat mit einem grausamen Lächeln. »Mein Sohn und ich, wir werden uns bei der Todesmarter des unverschämten Taugenichts befinden, der unsere Zungen den Raben vorwerfen will.«
   Sang-Mêlé fuhr auf die Sonne deutend fort: »Noch lange vor Sonnenuntergang werden diese drei Jäger entwaffnet mein Erbarmen anflehen; aber meine Ohren werden taub sein. Vergiß das nicht, Freund!«
   Baraja verbeugte sich schweigend mit beklommenem Herzen.
   Der Mestize warf auf den Mexikaner einen wilden Blick und sagte, sich zu ihm wendend: »Wenn ich dann also bemerke, daß du mich betrogen hast; wenn ich dort oben nicht den Schatz finde, den du mir versprochen hast, so werden die Qualen, vor denen ich dich gerettet habe, und die Martern, die diese Jäger erdulden müssen, süß sein wie der Tau des Himmels nach einem glühenden Tag im Vergleich mit der Todesmarter, die ich dir bestimme … ich selbst!«
   »Wie?« schrie der unglückliche Mexikaner, dessen Nerven bei der bloßen Erinnerung an das Schicksal erbebten, das ihn einen Augenblick unter den Händen der Indianer bedroht hatte. »Wenn nun zufällig … er nicht dort oben wäre … Wenn sich der Schatz … wenn ich mich in bezug auf den Ort getäuscht hätte …«
   Main-Rouge hatte Baraja falsch verstanden, und seine Augen funkelten vor Wut. Er entblößte sein Messer. »Also«, sagte er mit dumpfer Stimme, »gestehst du ein, uns wissentlich getäuscht zu haben … Ah, es gibt keine Schätze mehr!«
   »Ruhig, du Hausierer mit indianischen Skalpen!« rief nun ebenfalls der Mestize mit donnernder Stimme. »Das Alter verdunkelt deinen Verstand. Dieser Mensch sagt nicht, daß es keinen Schatz gibt; und dann, was geht es dich an?« fügte er hinzu. »Wer sagt dir, daß ich einwilligen werde, ihn mit dir zu teilen?«
   »Ah«, brüllte der Renegat, »du willst nicht mit mir teilen, du Sohn einer indianischen Wölfin? Wohlan …« Die beiden Scheusale maßen sich einen Augenblick mit den Augen, als ob der verbrecherische Kampf, von dem Pepe erzählt hatte, sich erneuern sollte.
   »Gemach! Gemach!« sagte der Mestize, der vielleicht der einzige Mensch auf der Welt war, der einigen Einfluß auf den wilden Amerikaner gewonnen hatte. »Wenn ich zufrieden mit dir bin, so werde ich dir einige Knochen zum Abnagen hinwerfen; aber ich werde den Löwenanteil für mich behalten, verstehst du?«
   Der alte Renegat murrte dumpf und sagte nichts weiter; dann legte sich Sang-Mêlé wieder nieder und sog behaglich den Rauch seines Kalumets ein.
   Als der Mestize die letzte Asche aus seiner Pfeife geschüttet hatte, erhob er sich langsam wie der Tiger, der sich nach seinem Schlaf beim ersten Erscheinen der nächtlichen Dämmerung streckt, gegen den Wind wittert und bereit ist, die Jagd zu beginnen. »Es ist Zeit, dem ein Ende zu machen«, sagte er zu dem alten Main-Rouge, der nach der Szene zwischen ihm und seinem Sohn in eine gänzliche Teilnahmslosigkeit verfallen war. »Wir wollen nun sehen, ob der Tod von drei der Ihrigen den Durst nach Rache in der Seele unserer Bundesgenossen erstickt oder aufs neue belebt hat.«
   »Sie werden nur um so hartnäckiger darauf bestehen, ihre drei Feinde lebendig haben zu wollen«, antwortete der Amerikaner; »du weißt es so gut wie ich. Und wer kann vorhersagen, wann wir uns ihrer bemächtigt haben werden? Die Zeit drängt, und meine Ansicht ist, daß wir uns ohne viele Umstände bemühen, sie so schnell wie möglich zu töten.«
   »Wahrhaftig«, sagte Sang-Mêlé mit spöttischem Ton, »der Durst nach Gold drängt dich gar sehr. Das ist recht gut, aber wie würdest du es anfangen, diese Fische aus ihrem Bad zu locken und sie ohne viele Umstände zu töten?«
   Der Renegat suchte einige Augenblicke eine befriedigende Antwort auf die Frage seines Sohnes, und da er keine fand, so schwieg er.
   »Du siehst«, fuhr Sang-Mêlé fort, »daß du ohne die Hilfe dieser Indianer nicht leicht zum Ziel kommen wirst; und gerade darum will ich wissen, ob sie noch auf ihrem Plan bestehen, ihrem Häuptling seine drei Feinde an Händen und Füßen gefesselt zuzuführen. Obgleich ich meinesteils das kleinste Stückchen von dem Gold, das uns dieser weiße Luchs verspricht, allem Blut vorziehen würde, das in den Adern der drei Jäger fließt …«
   »Sang-Mêlé hat einen seiner Gnadentage«, unterbrach ihn spöttisch der amerikanische Räuber. »Meinetwegen geschehe, was deine Laune und die dieser … Indianer will; aber machen wir jetzt ein Ende damit!«
   Ohne länger zu zögern berührte der Mestize mit dem Finger einen der wilden Krieger, die auf einer Felserhöhung lagerten, denn diese Unterhaltung fand am Fuß der Felsenabdachung statt. Der Indianer wandte sich um und kam zu ihm herab; es war derjenige, der sich selbst mit dem Namen Gemse bezeichnet hatte. Er heftete auf Sang-Mêlé einen glühenden Blick, in dem man einen düsteren Groll lesen konnte. Man wäre in Verlegenheit gewesen, ob man ihn mehr der Unzufriedenheit oder dem Mißtrauen zuschreiben sollte – vielleicht drückte er beides aus.
   »Was will El Mestizo von dem Indianer, der drei seiner Brüder betrauert?« fragte der Krieger.
   »Etwas wissen, was mich in Verlegenheit setzt«, sagte Sang-Mêlé: »Nämlich das Mittel entdecken, diese drei weißen Krieger, deren Hände von indianischem Blut gerötet sind, lebendig zu fangen. Eine Wolke verdunkelt den Geist Sang-Mêlés und hindert ihn, eines zu entdecken. Wir müssen die drei Weißen töten.«
   »Es gibt ein Mittel: Während wir in der Ebene jagen und das Fleisch der Springböcke und Damhirsche verzehren; während der Duft unseres Wildbrets bis auf den Gipfel des Felsens steigen wird, wo sich die drei Weißen befinden, wird sich der Hunger bei ihnen niederlassen.«
   »Das ist sehr langwierig«, erwiderte der Mestize; »die Apachen werden mehrere Tage und mehrere Nächte zählen müssen.«
   »Sie werden diese vorübergehen lassen.«
   »Die Stunden Sang-Mêlés und Main-Rouges sind kostbar; ihre Geschäfte rufen sie jenseits der Berge. Sie können nur bis zur nächsten Sonne bleiben. Findet die Gemse kein besseres Mittel als den Hunger?«
   »Mein indianischer Bruder wird eines finden, weil er mit den Gaben des Indianers den Scharfsinn der Weißen verbindet, denen nichts unmöglich ist. El Mestizo hat es versprochen; er hat nur ein Wort!«
   »Die Gemse«, erwiderte der listige Mestize, »hat auch nur ein Wort und hat gesagt: »Die Gemse willigt ein, ihr Leben und das ihrer Krieger zu opfern, um die drei Weißen zu fangen.‹«
   »Die Gemse hat nur ein Wort!« erwiderte der Indianer hochherzig.
   Sang-Mêlé schien einige Minuten nachzudenken, obgleich sein Plan schon im voraus gefaßt war. Er hatte einen Augenblick gefürchtet, trotz der prahlerischen Worte der Gemse mit schwachherzigen Bundesgenossen zu tun zu haben, und wünschte sich im Grund des Herzens Glück zu dem wirklichen, nicht prahlerischen Mut, den er bei einem von ihnen fand. Der Gedanke, daß nur indianisches Blut fließen sollte, um seine Habgier zu befriedigen, war auch weit davon entfernt, ihm zu mißfallen. »Mein Geist ist jetzt wolkenlos wie der Himmel; meine Augen sehen deutlich die drei Jäger in den Händen ihrer Feinde; aber drei Krieger unter meinen Brüdern werden sie nicht sehen, denn der Tod wird über sie gekommen sein.«
   »Sang-Mêlé, dessen Verstand so scharf ist, hätte nicht schon drei andere töten lassen sollen!« sagte der Indianer mit vorwurfsvollem Ton.
   »Sang-Mêlé kann seinem Verstand nicht befehlen; er wartet auf seine Eingebungen, wenn sie gerade kommen. Ich sage noch einmal: Drei Krieger müssen ihre Gebeine hier zurücklassen, aber die Hand ihres Bundesgenossen wird sie bewachen.«
   »Was hilft es?« sagte der Indianer heldenmütig. »Der Mensch ist geboren, um zu sterben. Welche sind diejenigen unter uns, die ihr Dorf nicht wiedersehen werden?«
   »Das Los wird es entscheiden«, antwortete der Mestize. »Gut! Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, oder der Schwarze Falke möchte finden, daß seine Krieger lange Zeit zu dem Entschluß gebraucht haben, zu sterben.« Darauf teilte die Gemse ihren Begleitern die Absichten des Mestizen mit, und alle nahmen mit mehr oder weniger Eifer – doch ohne Ausnahme – den schrecklichen Vorschlag an, der ihnen gemacht worden war. Es blieb nur noch übrig, den Plan des Mestizen kennenzulernen, den dieser auch sogleich entwickelte. Als die Indianer ihn vernahmen, stießen sie ein Freudengeschrei aus, das eine ganze Minute dauerte.
   Die drei unerschrockenen Jäger ließen nicht lange auf Antwort warten.
   Über den Plan, den der Heldenmut ihrer Verbündeten und die mit Recht berühmte Schlauheit von Main-Rouge und Sang-Mêlé zur Ausführung ebenso leicht als schrecklich machten, wird der Leser später urteilen; jetzt sagen wir nur, daß der Mestize, nachdem er ihn mitgeteilt hatte, sich mit theatralischer Miene auf den Lauf seiner mit Messingnägeln beschlagenen Büchse stützte und den Ausbruch der Freude der Wilden abwartete.
   Diese ließen es nicht daran fehlen und nahmen mit neuem Freudengeschrei eines befriedigten Rachegefühls die letzten Worte El Mestizos auf. Auch diesmal blieben die drei Jäger die Antwort nicht schuldig. Dann schritt man zur Ziehung der Todeslotterie.
   Die Leidenschaft des Spiels ist bei den wilden Völkerschaften Amerikas viel allgemeiner verbreitet, als man denkt. Sie ist zuweilen so heftig, daß sie – trotz des Eifers der Indianer für die Jagd auf Tiere oder auf Menschen – oft den Sieg über den Blutdurst bei ihnen davonträgt. Es ist mehr als einmal der Fall gewesen, daß wilde Krieger, die im Hinterhalt lagen und im Begriff standen, ihren Feind zu überraschen, diesen entschlüpfen oder sich selbst mitten in einer Knöchelpartie – ihrem Lieblingsspiel – überraschen ließen.
   Ein solches Spiel zog jetzt einer der Indianer aus seiner Weidtasche. Die Knöchel dienen auch bei den Indianern statt der Würfel, und man kam überein, daß die drei, die die wenigsten Augen würfen, sich für die allgemeine Sache opfern sollten.
   Der Fatalismus der Indianer weicht in keinem Punkt dem der Orientalen, und der Tod hat nur sehr selten etwas Schreckliches für sie. Bei dieser außerordentlichen Rasse ist Feigheit nur selten zu finden. Dies war eine jener feierlichen Gelegenheiten, bei denen die Indianer den größten Ruhm darein setzen, vollkommenen Gleichmut zu zeigen. Hier besonders war noch ein Weißer gegenwärtig, denn sie gefielen sich darin, den Mestizen als einen von ihrer Rasse zu betrachten.
   Man würde sich indessen täuschen, wenn man glaubte, daß die Indianer trotz ihrer gewöhnlich düsteren und verschlossenen Stimmung immer mit ihrem stolzen Ernst gewappnet wären. Diese Söhne der Natur haben ebenfalls ihre Augenblicke der Freude und der Mitteilung, in denen die Kinder unserer Städte nicht lärmender sind als die Krieger der Steppe. Aber hier blickte ein Weißer auf die roten Krieger.
   Der Mestize und Rothand saßen mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Boden. Auf ihren Knien lagen die furchtbaren Büchsen, die die letzte Szene in diesem Einzeldrama spielen sollten, wo es sich um das Leben von drei Indianern handelte; sie schickten sich an, die Augen zu zählen.
   Der erste, der die Laune des Glücks versuchte, war Gemse. Seine Hand schüttelte die Knöchel und ließ sie dann auf den Sand rollen. Seine schwarzen Augen folgten leidenschaftlich ihren Bewegungen, aber kein Muskel seines Gesichtes hatte gebebt.
   »Vierundzwanzig!« sagte der Mestize, nachdem er gezählt hatte, während der Renegat, der etwas mehr von einem Schreiber an sich hatte als seine wilden Gefährten, diese Ziffer in den Sand schrieb.
   Da es unmöglich war, die vier Indianer, die die Ebene bewachten, zurückkommen zu lassen, ohne sie einem gewissen und nutzlosen Tod auszusetzen, so waren sie natürlich von der Ziehung ausgeschlossen.
   Ein zweiter Krieger folgte der Gemse. Seine Hand berührte kaum die Knöchel; sie rollten zum zweitenmal auf den Sand.
   »Sieben!« rief Sang-Mêlé.
   »Die Krieger werden den Tod von Felsenherz beweinen«, sagte der Indianer, der seine Leichenrede hielt; »sie werden sagen, daß er ein Tapferer war.«
   Jeder von den Knöcheln hatte nur ein Auge gezählt, und sein Schicksal war deshalb nicht zweifelhaft; nachdem jedoch der Indianer so gesprochen hatte, unterdrückte er durch eine gewaltige Anstrengung seines Willens das stürmische Klopfen seines Herzens, das nicht mehr lang in der Brust eines Kriegers schlagen sollte.
   Während der Indianer, dessen Schicksal soeben unzweifelhaft entschieden war, mit bewunderungswürdigem Mut eine Gleichgültigkeit zeigte, die seinem Herzen sehr fern lag, mußten sich die anderen derselben Förmlichkeit unterziehen. Das geschah mit demselben Ernst, mit demselben Schweigen. Jeder von den Kriegern suchte etwas darin, dem anderen nicht an Ergebung nachzustehen, und es bedurfte der ganzen unbarmherzigen Hartherzigkeit der beiden Zeugen dieses Heldenmutes, um nicht mit dem Schicksal dieser Tapferen Mitleid zu fühlen, die dem Tod entgegengingen: Opfer der Willkür eines Häuptlings und der Habgier seiner Bundesgenossen.
   Die beiden Freibeuter der Prärien waren aber weit vom Mitleid entfernt und nahmen an diesem Schauspiel das ganze Interesse, mit dem die Römer einst den blutigen Festen im Zirkus zuschauten. Sieben und zwölf waren die beiden niedrigsten Würfe, die man bis jetzt gemeldet hatte, und es war nur noch ein Indianer übrig, der nicht um Leben oder Tod gewürfelt hatte. Es war nicht wahrscheinlich, daß seine Hand ebenso unglücklich sein würde als die von Felsenherz. Die höchste Zahl nach zwölf war siebzehn; man konnte also hoffen, daß eine höhere Nummer als die letztere geworfen würde. Auch konnte sich der Apache trotz seiner Anstrengungen nicht enthalten, durch ein nervöses Erbeben jene Liebe zum Leben zu verraten, die niemals erlöschen will. Der Amerikaner zog die Augenbrauen zusammen: der Mestize warf verächtlich die Lippen auf; die Indianer ließen ein dumpfes Murren vernehmen.
   Der Krieger ließ die Hand ruhen, die eben die Knöchel hinwerfen wollte, warf einen traurigen, nachdenklichen Blick umher und sagte, um seine Schwäche zu entschuldigen: »In der Hütte von Lufthauch befinden sich eine junge Frau, die erst seit neun Monden darin wohnt, und der Sohn eines Kriegers, der heut erst seine dritte Sonne erblickt.«
   Und der Indianer warf die Knöchel hin.
   »Elf!« rief der alte Räuber beinahe freudig aus, der es ganz staunenswert fand, daß man sein Weib und seinen Sohn lieben könne.
   »Schmerz und Hunger werden die Gäste in der Hütte von Lufthauch sein«, fügte der Indianer mit sanfter, wohlklingender Stimme hinzu, von der er auch seinen Namen erhalten hatte. Sein letzter Gedanke galt den beiden schwachen Wesen, denen die Liebe und der Schutz eines Kriegers zugleich fehlen sollte. Er setzte sich schwermütig abseits, und man beschäftigte sich nicht mehr mit ihm.
   Sang-Mêlé warf auf seinen Vater einen triumphierenden Blick der Überlegenheit, worauf dieser mit einem Lächeln wie ein Jäger in guter Laune antwortete, denn das Blut sollte ja unter seinen Augen fließen.
   Da nach dem Plan des Mestizen die Krieger nur einer nach dem anderen geopfert werden durften, so kam man überein, zum zweitenmal das Los zu ziehen, wem die schreckliche Ehre zufallen würde, zuerst vorzugehen. Der alte Freibeuter schien begierig, die Aufregung zu verlängern, die ihm dieses Spiel verursachte, denn er hatte diese neue Lotterieziehung veranlaßt.
   Dem Lufthauch verblieb der Vorteil oder, wenn man lieber will, der Nachteil, der letzte zu sein.
   »Seid ruhig, Kinder«, sagte der Amerikaner mit einer stolzen Gebärde, die seine Farbe ihm einflößte, und der sich keine Mühe gab, die beredte, blumenreiche Sprache der Indianer zu gebrauchen; »ich werde mir eine Pflicht daraus machen, eure Leichen in den Schlund des Wasserfalls zu werfen, und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn man den Versuch machen wollte, dort eure Skalpe zu holen.«
   Baraja war ein stummer Zuschauer all dessen geblieben, was sich eben, ohne daß er davon wußte, zugetragen hatte. Der indianische Dialekt war unverständlich für ihn, und er suchte vergeblich das Interesse zu erraten, das die Indianer an dieser mitten unter den Vorbereitungen zur Belagerung der Pyramide plötzlich begonnenen Knöchelpartie nehmen konnten. Zwei Gefühle kämpften in seinem Herzen und nahmen ihn ganz in Anspruch.
   Furcht und Habgier schienen um die Wette seine geistigen Kräfte zu verdunkeln. Zwanzigmal riet ihm die Furcht, dem Mestizen zu gestehen, daß der Schatz, nach dem er so gierig strebte, beinahe im Bereich seiner Hand sei, und ebensooft erstickte die Habgier das Wort auf seinen Lippen; endlich entschloß er sich, nichts zu sagen. Ein Gedanke, der alles in sich vereinigte, glänzte vor seinen Augen. Wenn die Indianer sich der Pyramide des Grabmals bemächtigten – wie ihre Zahl es recht wohl voraussetzen ließ —, so müßte es ihm ein leichtes sein, während der Mestize und der Amerikaner den Gipfel durchsuchten, in das Val d‘Or unter dem Anschein, ebenfalls zu suchen, einzudringen und dort im voraus zur Entschädigung für seine Unternehmungskosten einen hinreichenden Zehnten zu erheben. Er mußte jedoch erst darüber Gewißheit haben, ob die auf der Oberfläche des Tales liegenden Zweige immer noch sein Geheimnis verbargen, und obgleich dies eine gefährliche Unternehmung war, so entschloß er sich doch, sie ins Werk zu setzen.


   54. Barajas Schicksal

   Man kennt nun die Ursache des langen Schweigens, das auf der Felsenkette herrschte, und die hinterlistigen Ratschlüsse, die es verbarg; es war ein schreckliches Schweigen, da diejenigen, die von unbarmherzigen Feinden angegriffen werden sollten, alles darunter fürchten und voraussetzen konnten. Unterdessen fing die Sonne an, sich nach Westen zu neigen; ein drückender, glühender Wind erhob sich in ungleichen Stößen und peitschte große weiße, am Horizont aufgehäufte Wolken vor sich her. Diese Dunststreifen dehnten sich aus und wurden schwärzer, und die Zweige der Tannen zitterten, wenn der Wind schwieg, und die schwarzen Geier, die die Steppe durchstreiften, suchten Schutz in den Felsen. Das waren die Vorboten eines nahenden Sturms.
   »Kannst du nach dem zweimaligen Geheul, das diese Indianer ausgestoßen haben, ihre Zahl berechnen?« fragte Bois-Rosé den spanischen Jäger.
   »Nein; und ich stelle mir außerdem unruhig die Frage, welche teuflische Kriegslist Sang-Mêlés Schlauheit und Main-Rouges Grausamkeit ihnen haben einflüstern können. Du hast ihre Stimmen ebenso gehört wie ich, sie haben irgend etwas gefunden, das ist gewiß. Dieses triumphierende Geheul ist der Beweis dafür.«
   »Wir haben alle Vorkehrungen getroffen, die tapfere und vorsichtige Männer nur erdenken können«, sagte Fabian. »Wenn man seine Pflicht getan hat, muß man sich mit Ergebung auf alles gefaßt machen.«
   »Wir wollen uns also nur darein ergeben«, erwiderte Pepe. »Inzwischen jedoch verzehrt mich der Durst; Ihr seid dort der nächste am Wasserfall, Don Fabian, seht doch also einmal zu, ob Ihr nicht mit meiner Kürbisflasche, wenn wir sie an das Ende meines Ladestocks binden, ohne Gefahr für Euch einige Tropfen Wasser auffangen könnt.«
   »Gebt her«, erwiderte Fabian; »das ist leicht, und ich bin auch froh, den Durst löschen zu können.«
   Fabian näherte sich kriechend dem Wasserfall und füllte mit ausgestreckten Armen die Kürbisflasche, die nun unter ihnen herumging; darauf nahmen die Jäger, für den Augenblick gestärkt, so bequem wie möglich ihre liegende Stellung wieder ein, das Auge immer auf die Schießscharten ihrer Verschanzungen gerichtet.
   Als aber der Durst gelöscht war, machte sich der Hunger von neuem fühlbar, denn es war beinahe vier Uhr, und ungefähr zwölf Stunden waren vergangen, seitdem die Belagerten ihre einfache, unzureichende Mahlzeit von Maismehl zu sich genommen hatten. Abgesehen davon, daß die Notwendigkeit den Belagerten das Sparen ihrer Lebensmittel zu einem gebieterischen Gesetz machte, mußten sie auch die Nacht abwarten, um in Sicherheit und gedeckt gegen die Kugeln die Vorbereitungen – so einfach sie auch waren – dazu zu treffen, was Pepe ein Abendessen zu nennen geruhte. Die Zinnen ihrer Verschanzungen boten ihnen nur so lange vollkommene Sicherheit, als sie hinter ihnen lagen; die geringste Abweichung jedoch von der horizontalen Linie setzte ihre Glieder den Kugeln des Feindes aus.
   Nach einem langen abermaligen Warten bemerkten die Augen der Jäger auf dem Gipfel der ihnen gegenüberliegenden Felsen, die bekanntlich um einige Fuß niedriger waren als ihr Standpunkt auf der Plattform, endlich eine Bewegung. Die Gesträuche, die deren Firste bekränzten, bewegten sich rasch, und bald entfaltete sich ein Mantel aus Büffelhaut über den Zweigen, auf denen er ausgebreitet und im Wind flatternd liegenblieb.
   »Ach, da fängt die Ausführung irgendeines Plans an«, sagte Bois-Rosé; »das geschieht vielleicht nur, um unsere Aufmerksamkeit von der wahren Seite, wo sich die Gefahr befinden wird, abzulenken.«
   »Sie wird von dorther kommen, glaube es nur«, erwiderte Pepe. »Wenn noch fünf oder sechs andere Büffelhäute jener dort hinzugefügt sind, können zwei Männer hinter diesem Wall niederknien, der für die Kugeln unserer Büchsen undurchdringlich ist, so kurz auch die Entfernung sein mag, die uns davon trennt.«
   Pepe hatte das kaum ausgesprochen, als ein zweiter Mantel von unsichtbarer Hand über den ersten geworfen wurde und seine Behauptung bestätigte.
   »Was auch geschehen möge«, fügte der Kanadier hinzu, »ich überwache aufmerksam die ganze Linie der Gebüsche, und nicht ein Auge soll sich im Zwischenraum der Blätter zeigen, ohne daß ich es sehe.«
   Eine dritte Büffelhaut kam bald zu den anderen hinzu. Dann konnten die Jäger noch fünf andere übereinandergelegte Büffelhäute zählen, die bald mit dem Haar nach innen, bald nach außen zusammengelegt wurden. Von nun an bildeten diese Mäntel mit ihrem langen Pelzwerk eine ebenso undurchdringliche Verschanzung wie eine Mauer von sechs Fuß Dicke.
   »Das ist ohne Zweifel das Werk dieses Mestizen«, murmelte Pepe. »Wir werden an allen unseren Augen nicht zuviel haben, um nichts von dem zu verlieren, was sich hinter dieser Masse von Häuten zutragen kann. Sieh, ein Mann könnte jetzt beinahe aufrecht dahinter stehen, und ein aufrecht stehender Mann würde beinahe einen höheren Standpunkt haben als wir.«
   »Ach«, sagte der Kanadier, »ich sehe dort links die Gesträuche sich bewegen, obgleich so unmerklich, daß der Indianer, der sie bewegt, denken muß, daß wir es für den Wind statt für die Hand eines Menschen halten. – Die Stelle, die Bois-Rosé bezeichnete, war das äußerste dem Wall von Büffelhäuten gegenüberliegende Ende der Felsen. Ein Felsvorsprung deckte eine Öffnung der ein Mann sich nähern und fast ohne Gefahr einen Blick hinunterwerfen konnte.
   »Bah«, sagte Pepe; »laß den Schelm laufen, und nimm dich vielmehr vor dem Mestizen und seinem abscheulichen Vater in acht!«
   »Nein, sage ich dir; der Himmel selbst überliefert uns den Anstifter dieses höllischen Hinterhalts!« erwiderte Bois-Rosé mit dem Ausdruck unterdrückter Wut. »Siehst du ihn?«
   Im Schutz des Felsvorsprungs – fast unsichtbar durch einen dichten grünen Saum – lag ein Mann, dessen Stellung das Auge des Kanadiers mehr erriet als wirklich sah, auf dem Felsen. Unbeweglich, wagte er es nicht, den Laubvorhang gänzlich beiseite zu schieben. »Leg den Lauf deiner Büchse schräg!« sagte der Kanadier zu Pepe. »So … gut… Laß den Lauf nicht den Stein, der dich deckt, überragen … und nun …« Der Büchsenschuß des Spaniers unterbrach den Kanadier, der Pepe die Sorge, sich zu rächen, abgetreten hatte, da seine Stellung sich nicht so gut dazu eignete.
   Baraja war am Kopf getroffen; er wand sich wie eine verwundete Schlange, und da er keinen Stützpunkt hatte, so glitt er an der Seite des Felsens hinab, riß eine Ecke von deren grüner Bekleidung mit hinunter und stürzte in das Val d‘Or. Dort rissen die letzten krampfhaften Bewegungen seiner geballten Hände eine lange Furche mitten durch das Gold, für das er sein Leben ließ. Durch einen Zufall, den man fast der Vorsehung zuschreiben mußte, verhüllte der Teil der grünen Einfassung, den er mit sich hinabgenommen hatte, abermals den Schatz vor den Augen eines jeden, der sein Dasein nicht kannte. Mit Ausnahme von Diaz und den drei Jägern hatte dieses verderbenbringende Geheimnis alle seine Besitzer das Leben gekostet.
   Barajas Schicksal war wohlverdient. Die Strafe der Wiedervergeltung hatte ihn mit unerbittlicher Strenge getroffen; die moralischen Qualen, die er an dem unheilbringenden Pfahl erlitten hatte, wogen die Martern Oroches in reichlichem Maße auf, und wie der Gambusino sein Gold mit sich in den Abgrund nahm, so hatte auch Baraja seinen letzten Seufzer auf dem Schatz ausgehaucht, nach dem er mit so großer Gier und Habsucht gestrebt hatte.
   »Der Schelm liegt im Gold bis an den Hals«, sagte Pepe mit philosophischer Ruhe.
   Gott ist gerecht«, fügte der Kanadier hinzu.
   »Suche jetzt, wo der Schatz ist, den man dir versprochen hat, du teuflischer Mestize!« sagte der Spanier. »Ich habe gut daran getan, die Oberfläche des Tals mit einem Schleier zu bedecken.«
   Der Himmel hatte sich nach und nach während dieses neuen Ereignisses mit Wolken bedeckt, und das Echo wiederholte das erste und dumpfe Grollen des fernen Donners; dann folgte dem Anzeichen des nahen Sturms ein tiefes, majestätisches Schweigen.
   »Eine schreckliche Nacht steht uns bevor«, sagte Bois-Rosé, »in der wir gegen die Menschen und gegen die entfesselten Elemente werden kämpfen müssen. Schleiche dich jedoch kriechend zum gegenüberliegenden Rand der Plattform, Fabian, und sieh zu, ob unser Pulver für den Fall, daß der Sturm noch vor dem Eintritt der Nacht losbrechen sollte, gut verwahrt liegt; wirf zugleich einen raschen Blick auf die Ebene unter dir, und überzeuge dich, ob die vier Schelme dort unten ihre Höhle nicht verlassen haben.«
   Während der junge Mann sich ohne ein Wort entfernte, um den Befehlen des Kanadiers Folge zu leisten, stieß dieser einen Seufzer aus und sagte zum Spanier: »Meine Seele ist düster wie diese Wolken, die Regen und Donner mit sich führen; ich fühle, daß mein Herz schwach ist wie das eines Weibes; schwarze Ahnungen, die ich meinem Sohn nicht verraten möchte, haben jenen Mut gebrochen, auf den ich bis heute so stolz gewesen bin. Pepe, weißt du keinen Trost für deinen alten Gefährten in der Gefahr?«
   »Ich weiß keinen, mein armer Bois-Rosé«, antwortete der Grenzjäger, »wenn nicht den, wovor Gott mich bewahren wolle, daß nämlich eine Kugel dieser Teufel dich träfe …«
   »Ich spreche nicht von mir«, unterbrach ihn der Waldläufer. »Wenn ich jetzt einigen Wert auf mein Leben lege, so geschieht das ein wenig deinetwegen und besonders Fabians halber. Laß dich nicht durch meine Offenherzigkeit kränken, denn ich füge hinzu, daß sich nach meiner Ansicht meine Tage zwischen euch zu Ende neigen werden wie auf einem jener schönen, breiten Ströme mit wilden, blumenreichen Ufern, deren Lauf wir so oft zusammen in unserem Rindenkanu gefolgt sind; an dem wir hier das Feuer unseres Nachtlagers im Schatten der Sumachs und Magnolien anzündeten, weiter unten anhielten, um Biberfallen zu stellen oder die Hirsche zu jagen, die zur Tränke kamen. Ich habe vor etwas anderem Furcht, als das Leben zu verlieren.«
   »Ich verstehe dich«, sagte Pepe. »Du fürchtest dich davor, von ihm getrennt zu werden, wie es schon einmal der Fall war, ohne jedoch zu sterben.«
   »Das ist es, Pepe; du hast die schmerzliche Seite, die in mir erzittert, mit dem Finger berührt. Wenn ich also in die Hände dieser Indianer fallen sollte, so setz dich nicht der Gefahr aus, meiner Spur ganze Wochen lang zu folgen, wie du es schon getan hast! Überlaß einen unnützen Greis seinem Schicksal, bring Fabian nach Spanien zurück, und hilf ihm, das wiederzuerlangen, was er verloren hat; nur laß ihn nicht vergessen – denn die Jugend ist vergeßlich, Pepe —, laß ihn nicht vergessen, daß es einen Mann auf der Welt gab, für den sein Anblick das war, was der Schatten des Mesquite dem Reisenden in der sandigen Steppe ist, oder wie die Rauchsäule, die den verirrten Jäger wieder zurechtführt, oder wie der Polarstern, der den Nebel durchstrahlt und ihm den Weg zeigt.« Er schwieg und verschloß seine düsteren Gedanken tief in seinem Herzen.
   Fabian nahm schweigend seinen Platz wieder ein. »Unsere Munition ist in Sicherheit; in der Ebene jedoch habe ich nichts gesehen.«
   »Die Schelme sind in ihrem Loch geblieben, um nur wie Fischadler des Nachts herauszukommen«, sagte Pepe; »dann werden wir sehen, wie sie sich bis zum Fuß dieses Hügels hinschleichen, denn sie erwarten ohne Zweifel jetzt weiter nichts als das Dunkel der Nacht, um uns anzugreifen.«
   »Ich glaube es nicht«, erwiderte der Kanadier; »wenn aber der Tag vorüber ist, ohne daß sie den Plan, den sie gefaßt haben, in Ausführung gebracht haben, so weiß ich jemand, der ihnen mit Hilfe des Sturms die Hälfte des Weges ersparen wird. Wir wollen beide einen Ausfall machen, Pepe, wie in jener Nacht am Ufer des Arkansas, wo wir diese Indianer mit dem Messer töteten, die sich in den Biberhöhlen, in denen sie verborgen lagen, so sehr in Sicherheit glaubten.«
   »Ja«, antwortete Pepe; »wenn man uns jemals an den Marterpfahl bindet und uns artig bittet, unseren Todesgesang anzustimmen, so werden wir ihnen eine lange Litanei erzählen können.«
   Dennoch schien sich trotz der Behauptung des Kanadiers der Angriff immer noch verzögern zu wollen. Seit einiger Zeit hatte sich eine Rauchwolke in dichten Kreisen hinter der Felsenkette erhoben. Die Jäger hatten anfangs einige Mühe, sich zu erklären, aus welchem Beweggrund die Belagerer das Feuer, von dem sie den Rauch aufsteigen sahen, wohl angezündet hätten; aber ausgehungert, wie sie waren, errieten sie bald den Grund davon. Der Wind führte einen Geruch bis zu ihnen, über den ihr Geruchssinn sich nicht täuschen konnte.
   »Seht, die Hunde«, sagte Pepe, »haben irgendein Rehviertel mitgebracht, und da beschäftigen sie sich nun, es braten zu lassen, während Christen wie wir darauf beschränkt sind, sich mit dem Duft des Bratens zu begnügen. Das will sagen, sie sind entschlossen, uns hier zu belagern, um durch den Hunger zu erreichen, was sie durch Gewalt nicht erzwingen können. Caramba, ich hatte von dem Mestizen und dem Ungeheuer, das er seinen Vater nennt, eine bessere Meinung! Sosehr sie auch Räuber sind, so mangelt es ihnen doch durchaus nicht an Mut!«
   Bald erhob sich der Rauch nicht mehr über die Felsen, und ein so wildes Geheul, daß man starke Nerven haben mußte, um nicht davor zu schaudern, erhob sich mit einem Mal und mischte sich in das Rollen des Donners, der sich allmählich näherte. Man hätte glauben können, es seien Äußerungen des Dankes einer Schar Dämonen nach einem Festmahl des Hexensabbats.
   Die drei Jäger hörten jedoch ohne Schauder diese schrecklichen Töne an wie jene Tierbändiger, die vor dem Gebrüll der wilden Bestien nicht erbleichen. Sie fürchteten einen Angriff weniger als eine Belagerung.
   »Sollen wir antworten?« fragte Pepe.
   »Nein«, sagte der Kanadier, »unsere Büchsen werden diesmal für uns antworten. Aber durchforsche mit aufmerksamem Auge jeden Stamm in den Gebüschen, jeden Grashalm, als ob wir ein ganzes Nest voll Klapperschlangen vor uns hätten. Dieses Gewürm will mit uns fertig werden, ehe die Nacht beginnt und der Sturm ausbricht.«
   »Gott gebe, daß du dich nicht täuschst, denn der morgige Tag wird, ohne die Dunkelheit zu rechnen, uns neue Gefahren bringen. Dieser Schelm, den wir eben auf sein goldenes Bett gestreckt haben, hat diese beiden wilden Tiere Main-Rouge und Sang-Mêlé ebenso wie ihre Bundesgenossen zu dem einzigen Zweck gegen uns geführt, sich des Schatzes zu bemächtigen, ohne zu wissen, daß er von den drei Kriegern der Rio-Gila-Insel bewacht wurde. Es ist wahrscheinlich, daß der Schwarze Falke zu dieser Stunde die Spuren derer entdeckt hat, die ihm so viele Krieger getötet haben; ohne Zweifel werden sie sich hier morgen alle gegen uns vereinigen.«
   »Der Wall von Büffelhäuten hat sich bewegt«, sagte Fabian, Pepes wahrscheinliche Schlüsse unterbrechend (wahrscheinlich, da wir wissen, daß die Antilope vom Schwarzen Falken beauftragt war, die Spuren der drei Jäger wieder zu suchen). »Ich habe hinter dieser Masse von Mänteln auch die roten Bänder flattern sehen, die Sang-Mêlés Kopf schmücken.«
   Von der Seite des Felsens an, die sich an die Nebelberge anlehnte und wo Main-Rouge und Sang-Mêlé im Schutz ihres Schildes von Mänteln sich auf die Knie geworfen hatten, bis zu der Stelle, wo der Abhang der Felsen die Ebene berührte, ließ das Auge der Belagerten keinen Zollbreit undurchforscht. Aber um einen Feind in diesem letzten Teil der Felsen treffen zu können, mußte die Büchse der Jäger notwendigerweise eine schräge Richtung annehmen und der Schütze den Lauf über die äußere Seite der Schießscharten hinausstrecken, ohne daß er sich jedoch selbst bloßzugeben brauchte.
   »Bei Gott!« sagte Pepe plötzlich mit leiser Stimme. »Da ist ein Indianer, der des Lebens müde ist oder der ebenfalls seine Erkundung bis mitten in das Val d‘Or ausdehnen will.« Er deutete zugleich mit dem Kopf auf die Hand eines Indianers, die vorsichtig das Gesträuch am äußersten Teil der Felsenkette auseinanderbog, wo sie mit der Ebene zusammentraf.
   »Zieh dich ein wenig nach der rechten Seite zurück!« sagte schnell der Kanadier zu Fabian. »Pepe liegt ihr zu gerade gegenüber, um ihn mit Leichtigkeit treffen zu können, ohne sich eine Blöße zu geben.«
   Fabian zog sich sogleich zum äußersten Rand der Plattform nach der Seite des Wasserfalls hin zurück, um Bois-Rosé nicht an freier Bewegung zu hindern.
   »Dieser Indianer ist wahnsinnig!« fügte der Kanadier hinzu. »Sieh nur – er scheint fast einen Büchsenschuß herauszufordern, um seine Gegenwart anzukündigen.« In der Tat bewegte der Feind, von dem man nur die Hand erblickte, das Gesträuch entweder mit einer sehr ungeschickten oder sehr hinterlistigen Hartnäckigkeit, denn es war unmöglich, diese Bewegung nicht zu bemerken.
   »Es ist vielleicht irgendeine Kriegslist, um unsere Aufmerksamkeit nach dieser Seite hinzulenken«, sagte Pepe. »Aber sei ruhig, ich habe das Auge überall.«
   »Kriegslist oder nicht«, erwiderte der Kanadier; »ich habe ihn da vor der Mündung meines Laufes und könnte ihm von hier aus den Arm zwischen dem Daumen und dem Faustgelenk zerschmettern. Geh noch ein wenig zurück, Fabian, wenn es möglich ist; ich muß noch etwas schräger nach links halten, denn wenn seine Hand da ist, so ist sein Körper weiter entfernt. Gut! Jetzt habe ich die richtige Lage.«
   Als der Kanadier diese Worte gesprochen hatte, schien der schrille Ruf eines Raubvogels oben aus der Luft bis zu den Ohren der Jäger zu dringen, und plötzlich ließ der Indianer die Gebüsche los, und seine Hand verschwand. Raubvögel schwebten dicht unter den Wolken, die immer dunkler wurden und sich tiefer auf die Erde niedersenkten; es war somit Pepe und Bois-Rosé unmöglich, sich bestimmte Rechenschaft von dem Schrei zu geben, den sie gehört hatten. Sie wußten nicht, ob es ein Signal sei oder die Stimme einer Weihe, wie sie über ihren Häuptern in der Luft kreisten.
   Ein Donnerschlag, dessen Rollen in den Nebelbergen widerhallte, jagte die Weihen in die Flucht. Alle lebenden Wesen schienen vor dem schrecklichen Sturm, der bald ausbrechen mußte, einen Zufluchtsort zu suchen. Die Erde selbst schien ihr Antlitz vor der Stimme, die aus den Wolken klang, zu verhüllen. Nur die Menschen blieben unberührt und lauerten auf die Gelegenheit, sich gegenseitig zu ermorden.
   »Der rote Teufel wird bald wiederkommen«, sagte der Kanadier, »denn niemand rührt sich vor uns, und in der Tat können sie ja auch nur von der Ebene und nicht vom Gipfel dieser Berge aus zu uns emporsteigen.«
   Bereit, auf den ersten Feuer zu geben, der es wagen sollte, den Raum zwischen der Felsenkette und dem Fuß der Pyramide zu durchlaufen, lag Bois-Rosés Büchse unbeweglich, die Mündung nach dem Gesträuch gerichtet, das nicht einmal mehr der Wind bewegte.
   »Ah«, sagte der Kanadier, »der Schelm erneuert den Versuch; er hat Mut bekommen, da er ungestraft geblieben ist. Aber, bei allen Teufeln, ich habe niemals einen Indianer sich auf diese Art benehmen sehen! Das ist irgendein Verzweifelter aus den Prärien, der das Gelübde getan haben muß, sich bei der ersten Gelegenheit den Schädel zerschmettern zu lassen.«
   Die Haltung des Indianers schien auch in der Tat die Voraussetzung zu rechtfertigen, daß er einer von denen wäre, die noch heute unter den Indianern ebenso unbesonnen abgelegte Gelübde erfüllen, als diejenigen waren, die einst unsere gallischen Vorfahren taten, die an Wildheit den Indianern nichts nachgaben.
   Der rote Krieger war mit einem Satz bis in die Umzäunung der Baumwollstauden und Weiden des Val d‘Or gesprungen, und obgleich er hier gänzlich durch das undurchdringliche Grün verdeckt war, so ragte doch sein Kopf ganz darüber hinaus, und in seinem bemalten Antlitz funkelten die Augen mit einem Feuer, das die Gewißheit des Todes nicht zu dämpfen vermochte. Sie hefteten sich starr auf Bois-Rosés Büchse, die langsam durch die Spalte von Steinen vorrückte, als ob er den Schützen hätte bezaubern wollen.
   »Es ist sein Wille gewesen!« sagte der Kanadier, der durch die Stellung des Indianers genötigt war, von oben nach unten Feuer zu geben, und deshalb den Lauf seiner Büchse vorstrecken mußte, so daß sie etwa einen halben Fuß über den Felsen hinausragte.
   Drei Schüsse und ein zweifacher Schrei des Schmerzes erschollen fast zu gleicher Zeit. Der erste Schuß kam aus der Waffe des Waldläufers; der erste Schrei bezeichnete den Todeskampf des Indianers, der sein Todesgeheul ausstieß.
   Die beiden fast augenblicklich folgenden Schüsse waren von Main-Rouge und Sang-Mêlé abgefeuert. Der zweite Schrei des Schmerzes war von Bois-Rosé ausgestoßen. Zwei Kugeln hatten zu gleicher Zeit den Lauf seiner Büchse getroffen, die ihm aus der Hand gerissen wurde, auf den Felsen schlug und dann dicht zu dem sterbenden Indianer hinrollte.
   Felsenherz hatte noch Kraft genug, sich ihrer zu bemächtigen, und seine wankende Hand schleuderte sie an den Fuß der Felsen; dann rührte er sich nicht mehr. Ein Geheul wilder Freude begleitete diese letzte Heldentat, während der entwaffnete Kanadier auf Pepe und Fabian einen Blick tödlicher Angst warf.
   Während dieser Zeit wurde der Himmel immer finsterer.


   55. Der Ausfall

   Mitten in den Steppen des fernen Westens, in den weiten Prärien des westlichen Amerikas sind drei Dinge vor allem nötig: ein der Furcht unzugängliches Herz, dann ein schneller und kräftiger Renner, endlich eine erprobte Büchse.
   Ein unter allen Umständen bewährter Mut, wie die drei Jäger ihn besaßen, macht oft ein Pferd entbehrlich; aber ohne sein Gewehr ist der Mann mit starkem Herzen nichts weiter als ein gebrechliches Spielzeug, das Hunger und wilde Tiere einander streitig machen oder das die Willkür eines herumstreifenden Indianers vernichten kann.
   Beim Anblick seiner bewährten Waffe, der treuen Gefährtin in so vielen Gefahren, die, seinen Händen entschlüpft, in denen sie von den Wäldern Kanadas bis zu den Nebelbergen so oft ihr Krachen hatte ertönen lassen, dort unten auf dem Sand lag, wurde das Herz des alten Waldläufers wie durch den Anblick des leblosen Körpers eines teuren Freundes tief erschüttert. Man hatte eben dem Kanadier nicht bloß seine eigene Kraft und sein Leben, sondern auch das Leben und die Kraft seines Kindes geraubt. Der rauhe Krieger der Prärien fühlte seine Augen feucht werden wie der Araber, der seinen Renner beweint. Eine Träne rollte aus den Augen über seine Wangen.
   »Ihr seid von jetzt an nur zu zweit auf dem Felsen; der alte Bois-Rosé zählt nicht mehr!« sagte er endlich, indem er eine Anstrengung machte, seine Schwäche zu verbergen. »Ich bin nur noch ein Kind in den Händen seiner Feinde. Fabian, mein Sohn, du hast keinen Vater mehr, um dich zu verteidigen …« Dann verfiel er in ein düsteres, trauriges Schweigen wie ein besiegter Indianer.
   Seine beiden Kameraden machten es nicht anders. Beide fühlten das Unglück, das sie alle drei getroffen hatte, in seiner ganzen Ausdehnung. Der Versuch, eine Waffe wiederzuerlangen, die durch den Anprall der Kugeln verbogen sein konnte, war eine nutzlose Tollkühnheit. Das hieß, sich der Gefahr aussetzen, in einem Augenblick von Feinden umzingelt zu sein, deren Anzahl den Jägern ganz unbekannt war; das hieß, sich den Indianern lebendig überliefern, während auf dem Gipfel der Pyramide wenigstens noch Rettung – das heißt, ein der Gefangenschaft vorzuziehender Tod in der Tiefe des nahen Abgrundes – zu finden war.
   »Ich verstehe dich, Bois-Rosé«, sagte Pepe, der die Augen des Kanadiers überraschte, wie sie sich auf den Wasserfall hefteten, der einen Augenblick glänzte, um im Abgrund zu verschwinden; »aber soweit sind wir bei Gott noch nicht; du bist ein viel besserer Schütze als ich, und meine Büchse wird in deinen Händen besser aufgehoben sein als in den meinigen.« Mit diesen Worten schob Pepe seine Waffe auf dem Boden bis zu dem Kanadier hin.
   »Solange noch ein Gewehr unter uns dreien übrigbleibt, muß es dir gehören, Bois-Rosé!« fügte Fabian hinzu. »Ich denke wie Pepe; welch besseren Händen könnten wir je unsere letzte Zuflucht anvertrauen?«
   »Nein, ich danke, mein Kind; ich danke, mein alter Gefährte. Ich schlage euer Anerbieten aus, denn das Unglück ruht auf mir.« Und Bois-Rosé verweigerte die Annahme der Büchse, die Pepe in seine Hand legte. »Aber Gott sei Dank«, begann er abermals, und seine schmerzliche Niedergeschlagenheit machte nach und nach einem solchen löwenhaften Zorn Platz, wie ihn der Riese zuweilen fühlte, »habe ich noch ein Messer, um damit so vielen den Bauch aufzuschlitzen, als herankommen werden, und Arme, die stark genug sind, sie zu ersticken oder ihre Köpfe an den Felsen zu zerschmettern!«
   Pepe hatte seine Büchse nicht wieder genommen.
   »Nun, du Hund von Mestize, du Auswurf der weißen Rasse, ihr indianischen Landstreicher – werdet ihr es denn wagen, aus eurer Höhle hervorzukriechen und hier heraufzukommen?« rief der Kanadier, der sich einem Ausbruch der Wut überließ und Main-Rouge, Sang-Méle und ihre Bundesgenossen zugleich anredete. »Nur zwei sind noch hier, die euch erwarten. Was ist ein Krieger ohne Gewehr?«
   Ein mahnender rollender Donner brach plötzlich am dunklen Gewölbe des Himmels los und übertönte Bois-Rosés Stimme. Ein anderer Indianer, der beinahe denselben Weg eingeschlagen hatte wie sein Vorgänger, war hinter der grünen Einfassung des Val d‘Or angelangt; nur verbarg er sich so sorgfältig, daß man nur seine Augen und den oberen Teil seines Kopfes mit den roten Bändern sah, die seine Skalplocke schmückten.
   »Ah! Er ist es; es ist dieser Hund von Mestize!« sagte Pepe, ohne die Augen von den Merkmalen abzuwenden, die in der Tat den Sohn des Renegaten kennzeichneten, und suchte dabei nach seiner Büchse.
   Bois-Rosé war ihm zuvorgekommen. Blind vor Wut gegen Sang-Méle, aufgeregt durch den Verlust seiner Büchse, hatte der Kanadier die Pepes ergriffen, und in einem Augenblick, wo der Zorn, der wie der Donner am Himmel in seiner Brust grollte, ihm alle Kaltblütigkeit raubte, legte er auf den Mestizen an. Der Feind hatte dieselbe Stellung eingenommen wie der Indianer vor ihm und hatte den Jäger genötigt, sich wie das erstemal eine Blöße zu geben, um ihn treffen zu können; der Indianer stürzte auch tödlich getroffen hinter der Hecke nieder; aber zwei Schüsse knallten abermals zugleich mit dem Bois-Rosés.
   »Verflucht!« rief der Jäger mit Donnerstimme, indem er sich fast gerade aufrichtete und wütend den nutzlosen Kolben, der in seinen Händen zurückgeblieben war, nach dem Leichnam des eben von ihm getöteten Feindes schleuderte. So groß war die Kraft gewesen, mit der der Koloß seine Waffe umschlungen hielt, daß der Lauf sich vom Schaft gelöst hatte, ohne diesen den fest umspannenden Fingern entreißen zu können. »Die Hölle bekomme deine Seele bei lebendigem Leib, verdammter Mestize!« fuhr der Kanadier fort und zeigte mit der Faust nach dem regungslosen Leichnam.
   Ein schallendes Gelächter, das ein Teufel, der mit der Erfüllung des Fluches des Kanadiers beauftragt war, ausgestoßen zu haben schien, erscholl auf den Felsen gegenüber, und der Mestize erschien einen Augenblick schnell wie der Blitz und voll Lebenskraft über dem Wall von Büffelhäuten. Sein Kopf war mit aufgelösten, wallenden Haaren bedeckt, und sein Gesicht strahlte von einem teuflischen Spott; dann verschwand die Erscheinung ebenso rasch, als sie sich gezeigt hatte.
   Der Indianer, der zum letztenmal seine treulose Rolle spielte, hatte sich schlau genug den Kopfputz des Mestizen geliehen, um desto sicherer den Haß seiner Feinde zu reizen, und es war ihm nur zu gut geglückt. »Der Adler der Schneegebirge ist nur eine Eule am hellen Tag. Seine Augen können nicht in der Sonne das Gesicht eines Häuptlings von dem eines Kriegers unterscheiden!« rief die Stimme Sang-Mêlés nach der Prahlerei, die er eben durch sein Hervortreten bekundet hatte.
   »Ach, Pepe! Dieser Mensch ist verderbenbringend für uns; aber von jetzt an soll zwischen ihm und uns ein Krieg auf Leben und Tod geführt werden«, sagte Bois-Rosé; »und die Prärien, so groß sie auch sind, sollen doch nicht mehr Raum genug für uns beide haben.« Er hatte seine Stellung mechanisch wieder eingenommen, dann murmelte er mit leiser Stimme: »›Wehe über den‹, hat der Herr gesagt, ›der in meinen Händen die Rute meines Zorns und der Stab meiner Gerechtigkeit sein wird!‹ Pepe, nachdem der Herr sich unserer zu seiner Rache bedient, hat er das Werkzeug, dessen er sich hat bedienen wollen, zerbrochen; er hat die Kraft in unseren Händen zerschmettert!«
   »Ich fange an, es zu glauben«, antwortete Pepe; »aber ich schwöre bei der Seele meiner Mutter, daß ich, wenn Gott mich am Leben erhält, noch einmal seinem Zorn dadurch dienen werde, daß ich meinen Dolch bis an das Heft in das Herz dieses halb roten, halb weißen Teufels tauche!«
   Als ob der Himmel diesen Schwur angenommen hätte, bedeckte eine plötzliche Dunkelheit die Ebene, Blitze durchfurchten gleich Flammenströmen den Horizont von einer Seite zur anderen, und der Donner brach wie eine Batterie von hundert Kanonen los. Die Berge und die Ebene wiederholten in klagenden Echos die gewaltige Stimme des Sturms, die in den Prärien wie mitten auf dem unermeßlichen Ozean erscholl. Das bleiche Licht der Blitze, das durch die fleischlosen Seiten des Pferdeskeletts sprühte, gab der Gruppe der Jäger einen fremdartigen, unheimlichen Ausdruck. Wie die Augen zweier in die Enge getriebener Löwen, so leuchteten die Augen des Kanadiers und Pepes von einem wilden Feuer.
   Der schreckliche Verlust, den sie eben erlitten hatten, hatte ihren Mut nicht zu Boden geworfen, aber ihn für den Augenblick in eine düstere, passive Resignation verwandelt. Es war jedoch klar, daß diese beiden Männer, die sich eine Zeitlang beugten wie zwei Eichen, die der Wind bis in ihre Wurzeln erbeben läßt, sich bald ebenso wie diese wieder aufrichten mußten. Schon machte in Bois-Rosés Seele der ungestüme Zorn der Demütigung eines alten Soldaten Platz, der sich von Neulingen entwaffnet sah. Pepe bekam nach und nach seinen angreifenden, spottenden Mut wieder.
   Was Fabian anbelangt, so hatte er die Ruhe eines Mannes bewahrt, für den das Leben, ohne gerade eine schwere Last zu sein, doch unbequem genug ist, um ohne Schwäche den Augenblick zu erwarten, wo er davon befreit wird.
   »Fabian«, sagte der Kanadier traurig, »ich habe bis jetzt zuviel Vertrauen auf meine Kraft und meine Erfahrung gehabt; was haben mir diese Erfahrung und diese Kraft, auf die ich so stolz war, geholfen? Durch meine Unbesonnenheit seid ihr verloren. Fabian, Pepe, werdet ihr mir verzeihen?«
   »Wir wollen später davon sprechen«, antwortete der frühere Grenzjäger. »Deine Waffen sind in deinen Händen zerschmettert worden, wie es in den meinigen ebenfalls geschehen sein würde, und das ist alles. Aber glaubst du denn, daß wir nichts Besseres tun können, als wie Weiber uns etwas vorzujammern oder den Tod wie zwei verwundete Büffel zu erwarten?«
   »Was willst du von einem Jäger hören, dessen Hände jetzt ein Hirsch ohne Gefahr lecken könnte?« antwortete der gedemütigte Kanadier.
   »Es ist offenbar, daß wir von hier nicht vor Einbruch der Nacht entfliehen können; wir werden einen Ausfall auf die Belagerer machen. Fabian wird uns von diesem hohen Posten aus mit seiner Büchse decken. Siehst du, gerade diese kühnen Streiche gelingen immer. Wohlan denn; dort unten, unter diesen Steinen, sind vier Schelme, die wir in ihren Löchern töten müssen. Der Tag ist beinahe ebenso dunkel als die Nacht; wir sind zwei gegen vier, und das ist gewiß hinreichend.«
   Dann wandte er sich an Fabian, der den kühnen Plan Pepes billigte: »Ihr werdet«, fuhr der Spanier fort, »ohne die Schelme auf den Felsen allzusehr aus den Augen zu verlieren und besonders, ohne Euch eine Blöße zu geben, die Taugenichtse in der Ebene überwachen. Wenn diese letzteren uns bemerken und einer von ihnen sich rührt, so schießt auf ihn – wenn nicht… das übrige geht uns an … Nun Bois-Rosé, das ist ohne Zweifel auch deine Meinung. Wohlan, vorwärts! Wenn der Streich gelungen ist, Don Fabian, so werde ich Euch abholen, und wir wollen dann aufbrechen.«
   Der Kanadier folgte einem Rat, der ihm gerade wegen seiner Tollkühnheit gefiel und den die Dunkelheit nicht unausführbar machte; dann hatte auch Bois-Rosé außer der Rettung seines Sohnes, die er bewerkstelligen mußte, eine bittere Demütigung zu rächen. Ein rascher Blick, den sie zuerst auf die den Felsen gegenüberliegende Ebene warfen, zeigte ihnen, daß nichts um sie her sich verändert hatte; nun ließen sich die beiden Jäger, das Messer zwischen den Zähnen, so rasch vom Gipfel der Pyramide hinabgleiten, daß Fabian glaubte, sie wären eben erst aufgebrochen, während sie doch schon alle beide längs des Schilfs am See hinschlichen.
   Fabian war mehr beschäftigt, ihren Bewegungen zu folgen, und suchte ihr Leben mehr zu decken als sein eigenes; er ließ sich ganz von dem Schauspiel voll schrecklichen Interesses fesseln, das die beiden unerschrockenen Waffengefährten ausführten. Die breiten Steinplatten, die die Indianer bedeckten, blieben so gänzlich ohne Bewegung, als ob sie Leichensteine gewesen wären, die die Toten in ihrem Grab bedeckten. Fabian wurde durch die tiefe Ruhe, die auf dieser Seite herrschte, beruhigt und begleitete mit weniger ängstlichen Augen die Bewegungen des Kanadiers und des Spaniers.
   Beide hatten haltgemacht und schienen sich eine Sekunde lang zu beraten, dann sah er sie leise in das Schilf gehen, mit dem die Ufer des Sees bedeckt waren, und darin verschwinden. Der Sturmwind warf dieses bewegliche Dickicht so heftig hin und her, daß die Bewegung, die durch den Marsch der beiden Jäger hervorgebracht wurde, den Indianern nicht zur Warnung dienen konnte.
   Von der Sorge befreit, seine beiden nun unsichtbar gewordenen Freunde zu überwachen, da die Dunkelheit und die Dichte der Binsen und des Schilfs sie hinreichend beschützten, beruhigte sich Fabian über den Erfolg ihrer kühnen Unternehmung und beeilte sich, seinen Posten am entgegengesetzten Rand der Plattform wieder einzunehmen.
   Es war Zeit.
   Damit wir jedoch nicht Verwirrung in die Erzählung der beiden gleichzeitigen Handlungen bringen, wollen wir uns einen einzigen Augenblick lang nur mit dem Waldläufer und dem spanischen Jäger beschäftigen.
   Nachdem Fabian sie in dem mit Schilf bedeckten Schlammgrund hatte verschwinden sehen, hatten sie abermals haltgemacht. Ihre Augen konnten den Vorhang von Wasserpflanzen, der sie verbarg, nicht durchdringen, aber sie wußten, daß Fabian vom Gipfel der Anhöhe aus viel weiter sehen konnte. Bei der Dunkelheit des Himmels und unter dem hohen Schilf, dessen grüne Büsche der Wind niederbeugte, schienen die Ufer des Sees gänzlich verlassen.
   »Wenn wir nicht in einer Minute«, sagte der Kanadier, »Fabians Büchse knallen hören, so ist das ein Zeichen, daß die Indianer uns nicht vom Hügel haben herabsteigen sehen; dann werden wir, da sie sich in gleicher Entfernung voneinander und in derselben Linie versteckt haben, uns jeder auf eines ihrer Enden werfen. Erdolche du den letzten, ich werde den ersten unter seinem Stein zerschmettern; was die beiden anderen anlangt, so werden sie, von beiden Seiten angegriffen und über den Tod ihrer Begleiter bestürzt, uns keine große Mühe verursachen.«
   »Ich rechne darauf, caramba!« sagte Pepe.
   Dieser Plan war von schrecklicher Einfachheit. Während einer Minute jedoch, wo der Donner rollte und die Blitze wie feurige Schlangen über die Ebene fuhren und in langen Strahlen durch das Schilf sprühten, waren die beiden Jäger jeden Augenblick darauf gefaßt, den Knall von Fabians Büchse zu hören. Die Ungeduld verzehrte sie, und mit der nervösen, von der Aufregung der Gefahr verursachten Ungeduld verband sich bei Bois-Rosé noch die Beunruhigung, den Schatz seines Lebens, seinen vielgeliebten Fabian, der allein einer schrecklichen Gefahr ausgesetzt war, verlassen zu haben, selbst wo es sich darum handelte, ihn zu retten.
   Vergeblich hatte dieser seit dem kurzen Zeitraum, in dem er seinem Ziehvater Bois-Rosé zurückgegeben war, Proben von einem Mut abgelegt, der in keinem Punkt dem seinigen nachstand; Bois-Rosé sah immer noch, mitten in seinem Leben voll Gefahr, in dem energischen, kräftigen, jungen Mann nur das Kind mit den langen, lockigen Haaren, dessen Schwäche er zwei Jahre hindurch beschützt hatte. Er schauderte bei dem Gedanken, daß der Angstruf Fabians, mit dem er seine Hilfe forderte, vom Gipfel des Hügels bis zu ihm dringen könnte.
   Ein seltsames Getöse hallte wirklich in der Ebene wider. Der Wind pfiff durch die Prärie mit einem Ton, der so traurig war, als ob die Einöde weinte. »Es ist Zeit«, sagte Bois-Rosé, »denn Fabian ist allein … Vorwärts, Pepe! Du weißt… den ersten und den letzten!«
   Das Schilf bog sich in einem breiten Raum wie unter einem ungestümen Stoß des Südwinds, und die beiden Jäger stürzten wie bengalische Tiger, die sich, ohne zu brüllen, aber ebenso schnell wie schweigsam, mitten aus den Dschungeln auf ihre Beute werfen, in die Ebene hinaus. Mit einer wunderbaren Genauigkeit eines unwillkürlichen Instinkts lief ein jeder der schrecklichen Kämpfer gerade auf seinen Feind zu; Bois-Rosé auf den ersten, Pepe auf den letzten.
   In diesem Augenblick erscholl der wohlbekannte Knall von Fabians Büchse weithin. Bois-Rosé bebte, aber er konnte nicht anhalten; der Knall von Fabians Büchse war allein erschollen, und sie mußten mit ihren Feinden ein Ende machen.
   Der Kanadier verließ sich auf die Kraft seiner Arme und preßte in dem Augenblick, wo der zu spät durch den Widerhall des Bodens gewarnte Indianer einen Versuch machte, durch die enge, freie Spalte herauszuspringen, mit einem Fuß, so schwer wie ein Granitblock, den Körper des Apachen. Den breiten Stein vom Boden aufheben und ihn auf den Wilden niederschmettern lassen, war für Bois-Rosé das Werk eines Augenblicks; dann sprang er auf den zweiten los.
   Pepe hatte seinen Gegner auf andere Weise angegriffen; er hatte sich mit seinem ganzen Leib auf ihn geworfen, und sein mit dem Dolch bewaffneter Arm wühlte eine Sekunde lang unter dem Stein, dann erhob sich der Spanier mit einem Sprung und traf wieder mit Bois-Rosé zusammen.
   »Zertritt das Gewürm, bevor es zischt!« rief Bois-Rosé in dem Augenblick, wo einer von den Indianern sein Bärengeheul ausstieß und zurückweichend von einem Bogen, den er in der Hand hielt, Gebrauch zu machen suchte, während der andere ebenfalls heulend auf Pepe losstürzte.
   Die beiden von einem entgegengesetzten Antrieb fortgerissenen Feinde stießen mächtig aufeinander, aber nicht mit gleichem Erfolg. Der Indianer fiel schwer zu Boden; Pepe stürzte sich auf ihn. Der Apache hatte kaum die Kraft, sich einen Augenblick lang hin und her zu werfen, dann blieb er unbeweglich liegen.
   Während dieser Zeit bückte sich Bois-Rosé, um dem Pfeil auszuweichen, der einige Linien über ihm zischend vorüberflog, und als er sich wieder aufrichtete, war der Indianer schon weit; aber die Schlange hatte, wie er es befürchtet hatte, gezischt. Sein Geheul widerhallte in der Ebene.
   »Schnell, schnell, Pepe; zur Pyramide!« rief Bois-Rosé. Beide nahmen laufend wieder die Richtung nach der Stelle, wo Fabian kaum zehn Minuten lang allein zurückgeblieben war – so rasch hatten die beiden Jäger ihre Tat ausgeführt. Als sie, sich mit den Händen am Gesträuch haltend, fast atemlos die steilen Seiten des Hügels erstiegen, erschreckte sie das unheimliche Schweigen, das auf dem Gipfel herrschte.
   »Fabian! Fabian!« rief der Kanadier außer sich, während seine nervigen Beine vor Angst unter ihm zusammenzuknicken schienen. »Fabian, lebst du noch?« Niemand antwortete; der Sturmwind allein brauste wütender durch die klirrenden Zweige der Tannen auf der Plattform.


   56. Die Stimme Rahels

   In dem Augenblick, wo Fabian mit aufmerksamen Augen die geringste Bewegung seiner Gefährten überwachte, schlich sich der letzte von den Indianern, die durch das Los bestimmt waren, das Feuer der Belagerten auszuhalten, vorsichtig an der Einfassung des Val d‘Or entlang. Es war Lufthauch. Sein Verhalten war ihm vom Mestizen bestimmt vorgeschrieben. Da das Mißtrauen der drei Jäger wach geworden sein mußte, so hatte der Indianer, um nicht die Kriegslist, die bisher so gut geglückt war, merken zu lassen, Befehl erhalten, anscheinend seine Vorsicht zu verdoppeln, um den Gipfel der Pyramide zu erreichen. Auf seinem Weg im Schutz des Gürtels von Weiden und Baumwollstauden sollte Lufthauch jedoch eine gewisse Grenze nicht überschreiten; er sollte an dem Ort stehenbleiben, wo die Büchse eines Jägers ihn nur noch treffen konnte, wenn der Schütze seine Arme oder seinen Kopf über die Zinnen hervorstreckte. Sang-Mêlé begann seine Toten mit einer gewissen Unruhe zu zählen; ohne Baraja und die drei Indianer zu rechnen, die Pepe und der Kanadier außer Gefecht gesetzt hatten, waren von elf Kriegern, die er hergeführt hatte, sechs gefallen. Lufthauch sollte der siebente sein, und der wilde Mestize wollte wenigstens, daß er der letzte und sein Tod ihm von Nutzen sei. Sang-Mêlé ahnte nicht im entferntesten, daß nur ein einziger von den Belagerten auf dem Gipfel des Hügels zurückgeblieben war; er wußte aber recht gut, daß keiner von den Jägern die Unvorsichtigkeit begangen hatte, seine Glieder dem Feuer des Feindes auszusetzen.
   In der Tat ist die Vorsicht das einfachste Element der Kriegskunst in den Steppen. In diesen Kriegen an der Grenze muß man kriechen wie ein Tiger, sich winden wie eine Schlange, den Tod senden, ohne daß man auch nur das Gewehrfeuer sieht, das ihn aussprüht; man darf sich keine Blöße geben, so verführerisch auch die Gelegenheit zu einem guten Schuß sein mag.
   Lufthauch staunte nicht wenig, daß er schon seit einigen Augenblicken frisch und gesund an dem Ort stand, wo die beiden Krieger, seine Vorgänger, den Tod gefunden hatten. Er blieb stehen, wie er den Befehl dazu erhalten hatte.
   Obgleich es infolge der dichten Bewölkung des Himmels düster geworden war, so unterschieden die stets wachsamen Augen des Indianers doch vollständig selbst die geringsten Felsenspalten, und er konnte leicht sehen, daß diesmal nicht – wie die beiden vorhergehenden Male – der Lauf einer Büchse seinen leichtesten Bewegungen folgte. Der Grund davon war einfach der, daß Fabian, anderswo in Anspruch genommen, die Gegenwart von Lufthauch nicht ahnte, während dieser das Schweigen und diese Untätigkeit dem Feind gegenüber irgendeiner Kriegslist zuschrieb, die er nicht begriff. Er war darum auch nicht weniger darauf gefaßt, jeden Augenblick von einer unsichtbaren Waffe getroffen zu werden.
   Für einen roten Krieger war dies ein langer und schrecklicher Augenblick, und er hatte Zeit, eine ganze Welt von Gedanken den beiden Wesen zuzusenden, die er ohne Hilfe in seiner Hütte zurücklassen sollte: sein junges Weib und das Kind, das erst so wenige Sonnen zählte. Während das Schweigen auf dem Gipfel der Pyramide herrschte, kämpfte der todesmutige Indianer, unbeweglich an die verhängnisvolle Grenze gefesselt, die er nicht überschreiten durfte, gegen die gebieterische Pflicht, die ihn an seinen Platz band, und gegen den ebenso gebieterischen Instinkt der eigenen Rettung, der ihm zurief, vorwärts zu gehen, da er ja der Gefahr getrotzt hatte, ohne daß die Gefahr anscheinend mit ihm zu tun haben wollte.
   Gewiß, der Krieger der Steppe hatte genug für sein Gewissen getan; der Instinkt der Selbsterhaltung trug den Sieg davon, und er überschritt die durch die Befehle Sang-Mêlés gesetzte Grenze. Dasselbe Schweigen dauerte noch über seinem Haupt, und der Apache hatte schon den Fuß der Pyramide erreicht, ohne daß ihn irgend etwas beunruhigt hätte. Ermutigt durch diesen unerwarteten Erfolg wagte der Indianer die Hoffnung zu fassen, mit seinen eigenen Händen den Feinden die letzte Waffe, die ihnen noch blieb, zu entreißen, ohne diese Heldentat mit seinem Leben zu bezahlen. Übrigens war dieses ja zum voraus schon als Opfer bestimmt, und sein Los konnte nicht schlimmer ausfallen als das, zu dem er bestimmt war.
   Er wußte, daß die Augen der beiden Häuptlinge seinen Bewegungen folgten, und nachdem er einen Augenblick stehengeblieben war, machte er den beiden hinter der Masse von Büffelhäuten im Hinterhalt liegenden Freibeutern, die ebenso wie er über die unerklärliche Bewegungslosigkeit der Belagerten erstaunt waren, ein Zeichen mit der Hand und begann langsam den steilen Abhang des abgestumpften Hügels zu erklimmen. Er stieg so vorsichtig und leicht hinauf, daß auch nicht ein losgerissener Stein, auch nicht ein von seinen Füßen abgetretenes Stückchen Erde herabrollend die Gegenwart eines Feindes verriet.
   In dem Augenblick, als er den Kopf über die Fläche der Plattform hinausstrecken wollte, lauschte der Indianer unbeweglich. Nicht ein Hauch, nicht ein Wort ließ sich vernehmen. Nun wagte es der Indianer, einen Blick über einen von den Steinen zu werfen, die die Belagerten deckten.
   Das war der Augenblick, wo Fabian, auf dem Gipfel der Pyramide liegend, mit aufmerksamen Augen die Bewegungen seiner beiden Gefährten verfolgte und sie vom Schilf des Sees bedeckt verschwinden sah.
   Bevor der junge Mann, der durch das gewaltige Interesse, das er am Gelingen des kühnen Plans des Spaniers und des Kanadiers nahm, sich umwandte, um nun auch die Feinde auf der entgegengesetzten Seite zu überwachen, hätte der Indianer Zeit gehabt, ihm den Kopf mit einem Axthieb zu zerschmettern. Aber es war einer von denen, die bestimmt waren, der Rache des großen Häuptlings lebendig überliefert zu werden, und sein Leben war darum geheiligt für den Apachen. Nur die Büchse des weißen Jägers wollte er haben, und anstatt den Arm auszustrecken und ihm einen Hieb zu versetzen, näherte sich der Indianer kriechend, um ihm die Waffe, nach der er so gierig war, zu entreißen.
   Beim Anblick dieses bemalten Gesichtes, in dem zwei Augen wie die einer wilden Katze funkelten, fühlte Fabian, der nicht wußte, ob dies der einzige Feind auf der Plattform sei, ein Schaudern des Schreckens; das dauerte jedoch nur eine Sekunde lang. Er unterdrückte einen Hilferuf an seine Gefährten, wodurch diese hätten verraten oder ihnen der Rückzug hätte abgeschnitten werden können, und da er sich seiner Büchse nicht bedienen konnte, die der Indianer eben beim Lauf ergriffen hatte, so umschlang der unerschrockene junge Mann schweigend mit seinen Armen den Leib des roten Kriegers.
   Ein erbitterter Kampf begann.
   Bei der Verteilung ihrer Gaben zwischen den verschiedenen menschlichen Rassen hat die Natur dem Indianer so geschmeidige und nervige Fersen gegeben, daß sehr wenige Weiße mit ihm an Schnelligkeit wetteifern können, aber sie hat bei weitem nicht die Arme des Indianers mit einer Kraft begabt, die der des Weißen gleichkäme. Lufthauch machte eine rauhe Erfahrung darin. Zweimal rollten die beiden eng miteinander verschlungenen Gegner auf der Plattform mit zweifelhaftem Vorteil herum, und in der Hitze des Kampfes ging die heftig gestoßene Büchse los, ohne daß die Kugel einen von den Kämpfern traf.
   Das war der Schuß, der bis zu den Ohren der beiden Jäger gelangte, die selbst in einen nicht weniger schrecklichen Kampf verwickelt waren.
   Endlich behielt Fabian, der viel kräftiger war als der Indianer, die Oberhand und hielt seinen Feind unter sich nieder; dann vergrub der junge Spanier mit einer Hand, deren Stoß Lufthauch nicht schnell genug ausweichen konnte, da er entschlossen war, die Büchse, die er ergriffen hatte, nicht wieder loszulassen, sein Messer in der Brust des Apachen. Der Weiße und der Indianer waren durch das heftige Ringen bis zum äußersten Rand der Plattform gekommen. Unter ihnen grollte dumpf der Abgrund; der Sprühregen des in der Tiefe der Schlucht gebrochenen Wasserfalls mischte sich mit ihrem Atem, und der sterbende Indianer setzte alle Kraft daran, Fabian mit sich hinabzureißen. Dieser strebte vergebens, sich von der verzweifelten Umschlingung des roten Kriegers frei zu machen.
   Einen Augenblick fühlte der junge Mann, wie seine erstarrten Muskeln nachgaben und ihm den Dienst versagten; aber die Furcht vor einem schrecklichen Tod rief bald seine schwindende Kraft zurück, und er konnte den Abgrund zwar vermeiden, aber nicht den Indianer daran hindern, ihn mit sich nicht weit von der Tiefe des Wassersturzes hinabzuziehen. Fabian, der Indianer und die Büchse, die von dessen Hand nicht losgelassen worden war, rollten übereinander den fast senkrechten Abhang der Pyramide hinunter. Ein schrecklicher Stoß traf die beiden immer noch verschlungenen Feinde, als sie den Grund der Schlucht erreichten; Fabian fühlte, wie die Arme des Indianers, vom Tod gelähmt, losließen; dann fühlte er nichts weiter. Er war mit dem Kopf auf die spitze Ecke eines Steines geschlagen, wie solche die Ebene bedeckten, und der junge Graf wurde ohnmächtig und blieb ebenso unbeweglich liegen wie der Indianer.
   Lange Minuten waren seit dem Büchsenschuß Fabians bis zu dem Augenblick verflossen, wo der Kanadier, ohne auf seinen Ruf eine andere Antwort als das Pfeifen des Windes in den Tannen zu erhalten, mit dem Kopf die Plattform erreichte. Ein herzzerreißender Ausdruck der Angst entstellte die Züge des alten Jägers. Als sein Gesicht den Gipfel der Pyramide überragte, als seine Augen auf dem noch frischen Grab Don Antonios die tiefen Spuren eines verzweifelten Kampfes, die Verschanzungen zerstört und deren Steine auf dem Boden zerstreut sah, stieß er einen schrecklichen Schrei aus: Fabian befand sich nicht mehr auf der Plattform.
   In diesem Augenblick brach der Sturm in seiner ganzen Heftigkeit los. Der grollende Donner ertönte in lautem Echo, rasch und dicht wie der Hagel folgten die Blitze ohne Unterbrechung aufeinander. Die Erde erbebte unter dem den Blitzen folgenden Donner, die an dem schwarzen, mit Elektrizität geschwellten Gewölk aufzuckten. Dann ließen diese dunklen Wolkenmassen den Regen stromweise hervorbrechen, als ob alle Wasserfälle des Himmels sich mit einem Mal geöffnet hätten. Bois-Rosé rief Fabian mit donnernder, zuweilen gebrochener Stimme, indem er mit verstörten Augen mitten im dichtesten Regenguß alle Ecken der Plattform durchsuchte. Sie war verlassen.
   »Bück dich, Bois-Rosé! Bück dich!« schrie Pepe, der ebenfalls endlich die Pyramide erstiegen hatte.
   Der Kanadier hörte ihn nicht, und doch richtete sich eben plötzlich auf dem Felsen ihnen gegenüber der Mestize empor wie ein böser Geist, den die krampfhaften Bewegungen der Elemente aus der Erde hatten heraufsteigen lassen.
   »Aber um Gottes willen, so bück dich doch!« wiederholte Pepe. »Bist du denn des Lebens müde?«
   Ohne die Gegenwart Sang-Mêlés zu ahnen, dessen Büchse gegen ihn gerichtet war, neigte sich Bois-Rosé vornüber und suchte mit den Augen sein Kind am Fuß der Pyramide. Selbst der Leichnam des Indianers war nicht mehr da.
   Als der Kanadier den Kopf wieder emporhob, bemerkte er zum erstenmal den Mestizen. Beim Anblick des Mannes, den er mit Fug und Recht als den Urheber allen Unglücks, das ihn eben getroffen hatte, ansah, fühlte der Waldläufer, wie eine Flut von Haß sich gegen ihn wälzte; aber er fühlte auch, daß das Schicksal Fabians in seinen Händen lag, und er befahl der Wut, die in seinem Inneren grollte, zu schweigen.
   »Sang-Mêlé«, rief der Kanadier, dessen Angst den Stolz zum Schweigen gebracht hatte, mit flehentlicher Stimme, »ich demütige mich vor Euch bis zur Bitte! Wenn Ihr noch irgend Mitleid im Herzen habt, so gebt Ihr mir das Kind zurück, das Ihr mir genommen habt!« Bei diesen Worten blieb Bois-Rosé, den Schüssen des Banditen ausgesetzt, aufrecht stehen, während Pepe, hinter dem Stamm der Tannen in Sicherheit, ihm vergeblich zurief, sich in acht zu nehmen.
   Ein schallendes, verächtliches Gelächter war die einzige Antwort des Piraten der Prärie. »Du Sohn einer tollen Hündin«, schrie Pepe, der sich nun ebenfalls mit entblößter Stirn dem Mestizen näherte, voller Wut über die Demütigung und den Schmerz seines alten Gefährten. »Willst du wohl antworten, wenn ein Weißer mit ungemischtem Blut dir die Ehre erzeigt, mit dir zu sprechen?«
   »Sei ruhig, ich bitte dich darum, Pepe!« unterbrach ihn Bois-Rosé. »Erzürne den Menschen nicht, der das Leben meines Fabian in seiner Hand hat. – Hört nicht auf ihn, Sang-Mêlé; der Schmerz hat meinen Gefährten erbittert.«
   »Aufs Knie!« rief der Bandit. »Vielleicht willige ich dann ein, Euch anzuhören.«
   Das Blut färbte die entblößte Stirn Bois-Rosés noch dunkler; diese unverschämte Sprache ließ ihn erbeben wie eine von den Tannen, deren mächtige Zweige der Sturm über ihm beugte.
   »Der Löwe wird sich nicht vor dem Schakal neigen«, flüsterte Pepe lebhaft ins Ohr des Kanadiers, »denn der Schakal würde über den kriechenden Löwen spotten.«
   »Was schadet es?« antwortete Bois-Rosé schmerzerfüllt.
   Der Stolz des Kriegers, der die Hand nicht erhoben haben würde, um sein Leben zu retten, wurde von der Liebe des Vaters besiegt, und der rauhe Waldläufer kniete nieder!
   »Ach, das ist zuviel, du Bastard von einem Räuber und einer indianischen Herumstreicherin!« brüllte Pepe mit glühendem Gesicht, während seine Augen feucht wurden, als er den Kanadier mit gebeugtem Haupt und gebogenem Knie vor dem Piraten der Steppe sah. »Das heißt sich zu sehr demütigen vor einem Banditen ohne Wort und Herz. Komm, Bois-Rosé, wir werden uns Genugtuung dafür verschaffen; sollten auch hunderttausend Teufel …«
   Bei diesen Worten sprang der ungestüme Jäger, von der Liebe zu Fabian, besonders aber von der glühenden Freundschaft für den Kanadier fortgerissen, wie eine Gemse auf den Abhang der Höhe.
   »Ah, ist es so gemeint?« rief der Mestize und gab Feuer auf Bois-Rosé, der für seinen Sohn um Erbarmen flehte. Aber der Regen stürzte immer noch in so dichten Strömen vom Himmel, daß der Hahn des Gewehres zweimal vergeblich gegen die Pfanne schlug, ohne das Pulver zu entflammen. Zweimal sprühte der Stein nutzlos Funken.
   Bois-Rosé war durch diesen grausamen und mörderischen Versuch gegen einen bittenden und waffenlosen Feind ganz empört. Er hoffte nichts mehr von seinem Mitleid und folgte der Spur Pepes, ohne mehr als er die Zahl der Feinde, die die Felsen noch verbergen konnten, zu berechnen; Bois-Rosé stieg noch den Hügel hinunter, als Pepe schon mit dem Dolch in der Hand um die Einfassung des Val d‘Or bog.
   »Rasch herbei, Bois-Rosé!« rief die Stimme des Spaniers, der eben hinter der Felsenkette verschwunden war. »Die Schelme haben den Platz geräumt und sind entflohen!«
   So war es auch; aber in demselben Augenblick begann der Mestize, der allein zurückgeblieben war, sich nach dem Gipfel der Nebelberge zurückzuziehen.
   »Steh, wenn du nicht ebenso feig als grausam bist!« rief der Kanadier, der schaudernd den Räuber Fabians entschlüpfen sah.
   »Sang-Mêlé ist kein Feigling«, antwortete der Mestize, seine indianischen Gewohnheiten wieder annehmend. »Der Adler der Schneegebirge und der Spottvogel werden ihm zum drittenmal begegnen, und dann werden sie das Schicksal des jungen Kriegers aus dem Süden teilen, um den die Indianer tanzen und dessen Fleisch sie den herumstreifenden Hunden der Prärien vorwerfen werden.«
   Der Kanadier setzte seinen verzweifelten Lauf fort; er holte den Spanier bald wieder ein. Die beiden Jäger schienen auf ihrer hoffnungslosen Verfolgung gar nicht auf die Schwierigkeiten des Terrains und auf die schlüpfrigen Felsen zu achten, die sie ersteigen mußten. Sang-Mêlé war immer noch durch den dichten Regen hindurch sichtbar. Aber bald sahen sie ihn den Kamm der Berge überschreiten, und er verschwand bald unter dem ewigen Nebel, der sie bedeckte.
   »Ach, kein Gewehr zu haben!« rief Pepe, indem er mit dem Fuß wütend auf den vom Regen aufgeweichten Boden stampfte.
   »Die Hoffnung meines Lebens ist erloschen!« sagte der alte Waldläufer mit gebrochener Stimme, indem er einen Augenblick Atem schöpfte, während der Regen des Himmels seine Stirn näßte, auf der sich ein düsterer, heftiger Schmerz ausprägte.
   Beide begannen wieder die Felsen zu ersteigen und überall die Spuren ihrer Feinde zu suchen; aber der strömende Regen traf heftig auf die Erde und verwischte den kaum hinterlassenen Eindruck ihrer Schritte; die Dunkelheit verdoppelte sich, denn die Nacht brach schnell herein, und die Felsen verrieten keine menschlichen Spuren. Der Spanier und der Kanadier verschwanden bald selbst unter der Nebeldecke der Berge; unter ihnen brüllte der Orkan in der Ebene; die Erde schien von den plötzlich entfesselten Geistern der Finsternis bedeckt zu sein. Bald rollte der Donner mit entsetzlichem Krachen, bald sprühte der Blitz wie die Funken ausbrennenden Holzes; er traf den Gipfel der Felsen, der in Staub zusammenfiel, und lange Blitze umhüllten mit ihren blendenden Strahlen das verlassene Goldtal und die Pyramide des Grabmals. Bei diesem Schein sah man, wie das Pferdeskelett erbebte, als ob Leben in ihm sei; wie die beiden Tannen unter der Gewalt des Windes wie anmutsvolle Veilchen in der Felsenspalte zitterten.
   Bei einem solchen leuchtenden Blitz hätte man die beiden Jäger traurig auf der Spitze des Felsens sitzen sehen können; der eine von ihnen versuchte vergeblich den anderen zu trösten. Beide warfen einen trostlosen Blick auf die tiefen Abgründe, in die der Wind stürmisch hineinwehte, oder auf die altersgrauen Felsspitzen, die wie die Pfeifen einer gigantischen Orgel unter dem Hauch des Ewigen zu brausen schienen.
   Wenn nach dem Einbruch der Nacht irgendein Reisender sich in die Nebelberge verirrt hätte, so würde er gehört haben, wie sich mit dem Rauschen des Sturms bald ein Gebrüll vermischte wie das des Löwen, dem man sein Junges geraubt hat; bald klagendes Geschrei wie das der Rahel, die in den Einöden Ramas weinte und sich nicht mehr trösten lassen wollte, weil ihre Söhne nicht mehr waren.
   Als endlich der Sturm zu brüllen aufhörte, gingen Pepe und Bois-Rosé immer noch auf gut Glück in den Bergen umher – ohne ihren jungen tapferen Gefährten, ohne Waffen, ohne Lebensmittel – und begannen nun einen von jenen schrecklichen Abschnitten des Lebens in der Steppe, wo der Jäger kein Mittel mehr hat, gegen den Hunger zu kämpfen, und ebensowenig imstande ist, sich gegen herumstreifende Indianer oder gegen die Raubgier der wilden Tiere zu schützen.
   Diese beiden unerschrockenen Männer hatten sich indessen entschieden, ihre Verfolgung fortzusetzen, denn die Sonne mußte bald noch einmal diese traurige Einöde erleuchten, und schon erloschen wie die sterbenden Kerzen eines nächtlichen Festes die Sterne am erleuchteten Himmelsgewölbe im Nebel des sich ankündigenden Morgens.


   57. Erinnerungen und Klagen

   Es gibt zuweilen scheinbar bedeutungslose Ereignisse, die dennoch den raschen Gang der Tatsachen zu hemmen scheinen und den Wolken unter den Wendekreisen in gewissen Breiten gleichen. Diese Wolken schweben in der Luft über dem Ozean, weiß und leicht wie eine dem Flügel einer Möwe entfallene Feder; das Auge des Reisenden hält es nicht der Mühe wert, sich mit ihr zu beschäftigen; aber aufmerksam folgt ihnen das Auge des Seemanns, denn oft wächst die verachtete Wolke, dehnt sich aus und bedeckt den blauen Himmel mit einem dunklen Schleier. Und diese schrecklichen Stürme, die das Meer bis zum Grund aufwühlen, den Schiffen Takelwerk und Segel zerstören, haben ihren Ursprung nur in diesen anfangs unmerklichen Dünsten.
   Die Geschichte dieser Stürme ist auch die Geschichte des Lebens.
   Wie viele bedeutungslose Umstände gibt es doch, die so furchtbar und folgenschwer für uns sind! Der Mensch hält es nur nicht der Mühe wert, sich darum zu kümmern, oder beschäftigt sich nur einen Augenblick mit ihnen, um sie sogleich zu vergessen; gerade wie die drei Jäger es mit dem Rindenkanu gemacht hatten, das für sie die sturmbringende Wolke der Wendekreise geworden war.
   In dem Augenblick, wo wir die Szenen, die die Entwicklung unserer Erzählung bezeichnen werden, auf einen entfernten Schauplatz verlegen, bitten wir den Leser, sich an einige Ereignisse zu erinnern, weil sie die Vergangenheit eng mit der Zukunft verbinden.
   Man wird vielleicht nicht vergessen haben, daß in der Unterhaltung des Mestizen mit dem Schwarzen Falken der Pirat einige Worte in das Ohr des indianischen Häuptlings geflüstert hatte und daß die Augen des Apachenkriegers bei diesen Worten Blitze des Zorns sprühten. Der Mestize hatte damit geschlossen, daß er den Schwarzen Falken hoffen ließ, er werde seinen Händen für seinen Gefangenen Baraja einen Indianer mit starkem Herzen und stählernen Fersen überliefern; er werde seine im Kampf getöteten Pferde wieder ersetzen; und er hatte ihm endlich den dritten Tag bezeichnet, an dem er mit ihm bei der Vereinigung des Red River am Büffelsee zusammentreffen wolle.
   Nachdem wir dies in Erinnerung gebracht haben, wollen wir kurz auf die Ereignisse zurückkommen, die sich in der Hacienda del Venado zugetragen hatten. Dieser Rückblick ist für das Verständnis der Tatsachen, deren Erzählung folgen wird, durchaus notwendig; er ist außerdem auch noch notwendig, um der Einheit des Ganzen willen. Vielleicht haben wir uns auch zu lange und zu gern bei den wilden Szenen des Steppenlebens aufgehalten, das auch wir zuweilen geführt haben.
   Eine Landschaft wird nach unserer Meinung nur durch gewisse Kontraste vervollständigt. Die Einbildungskraft ermüdet bald bei der Betrachtung von Gegenden, die nur zerrissene Felsen, senkrechte Berge und düstere Wälder darstellen. Das Auge fühlt bald ebenso wie die Einbildungskraft das Bedürfnis, sich in fernen Horizonten, im Nebel unabsehbarer Ebenen zu verlieren. Der Blick ruht gern auf einer mitten in die Landschaft hinein versetzten Wasserfläche, die den Himmel widerstrahlt, wo die Sonne Wolkengruppen, die das Luftreich über den Gegenständen auf der Erde durchschiffen, goldig besäumt. Der Mensch läßt sich gern an den Himmel erinnern. Ist die Frau nicht in der Schilderung der gewalttätigen Sitten der Steppen gerade dasselbe, was in der rauhen Landschaft das schattige Tal und der Horizont sind, die uns Träume ins Herz schicken; dasselbe, was unter Felsen und Wäldern der durchsichtige Wasserspiegel ist, der die Harmonie dort oben hier unten widerstrahlt?
   Nach der plötzlichen Abreise Don Estévans de Arechiza und seines Gefolges und nach der Flucht Tiburcios war die Hacienda del Venado, noch so lärmend am Abend vorher, in ihre gewöhnliche Ruhe zurückgesunken. Wie an dem Tag, wo der Spanier und seine Gefährten, die nun schon im ewigen Schlaf bei den Nebelbergen ruhten, bei Sonnenuntergang angekommen waren, so bot die Hacienda beim Sonnenaufgang in dem Augenblick, wo wir zu ihr zurückkehren, einen Anblick ruhigen Glücks dar. Die Herden sprangen wie gewöhnlich in der weiten Ebene umher, in deren Mitte sich die Wohnung Don Agustins erhob. Nur grünten auf diesem fruchtbaren Boden neue Ernten anstelle der alten, und der Wind schüttelte von den Olivenbäumen neue Blüten herab. Die Arbeiter verließen ihre Hütten, um die Tätigkeit des vergangenen Tages wiederaufzunehmen; im Hof der Hacienda jedoch deuteten gesattelte Pferde und beladene Maultiere auf die Vorbereitung zu einer Reise.
   Man hat vielleicht die Jagd auf wilde Pferde noch nicht vergessen, mit der der Eigentümer der Hacienda seine Gäste belustigen wollte; sie hatten die Einladung dazu wie Leute angenommen, die glauben, daß der folgende Tag ihnen gehört.
   Die so rasch einander folgenden Ereignisse hatten ihnen das Gegenteil bewiesen. Don Agustin jedoch war voll Vertrauen auf das Gelingen der Pläne Don Estévans, und wenn auch seine plötzliche Abreise ihn betrübte, so hatte er doch für den Senator, seinen künftigen Schwiegersohn, und auch für sich nicht auf die Vergnügungen, die er sich vorgenommen hatte, verzichten wollen. Alles war bereit, und er beschloß, daß die Jagd stattfinden solle.
   Die Pferde warteten auf ihre Reiter; das Pferd Doña Rosaritas ebenso wie die der anderen. Der Senator strahlte vor Lust, da er von der Gegenwart eines gefürchteten Nebenbuhlers und auch von der Don Estévans befreit war, dessen scheinbare Bevormundung ihm Zwang auferlegte.
   Die Tochter des Hacenderos jedoch befand sich nicht im gleichen Zustand. Ihr bleiches Gesicht trug noch die Spuren ihrer Tränen und einer schlaflosen Nacht. Vergebens zwang sie sich zu einer Heiterkeit wie die Sonne, die den im Osten vom Sturm des vergangenen Tages zurückgebliebenen feuchten Nebel zu durchdringen suchte; aber ihre Augen hatten wie die vom Nebel überwältigte Sonne nicht mehr den Glanz des vorigen Tages.
   In dem Augenblick, als man auf die Pferde stieg und Don Agustin das Zeichen zum Aufbruch gab, klagte Rosarita auf einmal über ein plötzliches Unwohlsein das von ihrer Blässe nur zu sehr bestätigt wurde, und bat ihren Vater um die Erlaubnis, allein zurückbleiben zu dürfen. Dieses neue Hindernis kreuzte die Pläne des Hacenderos; er wollte jedoch, innerlich die Krankheiten der Frauen verwünschend, nichtsdestoweniger in Tragaduros Begleitung zur Jagd aufbrechen, als ein anderes Ereignis seine schlechte Laune noch verdoppelte.
   In dem Augenblick, wo er aufs Pferd steigen wollte, sprengte ein Vaquero mit verhängtem Zügel herbei, um Don Agustin zu benachrichtigen, daß die Treiber die Tränke ausgetrocknet gefunden hätten; daß es darum nötig wäre, eine andere zu suchen, und die Jagd erst acht Tage später beginnen könne.
   Don Agustin fühlte, daß er seine Tochter nicht den Beschwerden einer solchen Suche aussetzen könne; er schickte den Vaquero mit dem Befehl zurück, ihn zu benachrichtigen, sobald sie irgendeinen Teich gefunden haben würden, wo die wilden Pferde ihren Durst zu löschen pflegten, und somit war die Partie verschoben.
   Der Senator wurde durchaus nicht unangenehm von diesem Zufall berührt, der, so einfach er auch war, doch folgenschwer für die Zukunft werden sollte. Die Ermahnungen Don Estévans, sich durch irgendeine glänzende Tat vor Doña Rosaritas Augen auszuzeichnen, hatten es in der Tat dahin gebracht, daß er einen sehr kriegerischen Schlaf gehabt hatte. Der Senator, der nach der Abreise des spanischen Señors wieder eingeschlafen war, hatte im Traum die Zentauren in allen Reiterkünsten verdunkelt; aber sein Erwachen hatte ihm die unangenehme Wirklichkeit gezeigt, und er war entschlossen, sich mit der Rolle des zu den Füßen der Omphale spinnenden Herkules als weniger bloßstellend und leichter ausführbar zu begnügen.
   Was Rosarita anlangt, so war ihr Unwohlsein nur das gebieterische Bedürfnis, in träumerischer Einsamkeit allein zu bleiben, und sie hatte sich erst im Augenblick der Abreise nur darum so plötzlich unwohl gefühlt, damit eine Partie nicht verschoben würde, die ihr die so ersehnte Einsamkeit verschaffen sollte.
   Wenn sich im Herzen einer Frau eine plötzliche Liebe Bahn bricht, die sie schon lange Zeit, ohne ihre Macht zu ahnen, gefühlt hat, so liegt im ungestümen Klopfen ihres Herzens etwas von der Bestürzung, die ein Gott empfinden würde, der die Strahlen seiner Göttlichkeit von sich abfallen sähe; es liegt etwas von jenem Neuen darin, das man beim Anblick der Blitze an einem heiteren Himmel oder beim Anblick der Flamme fühlt, die der Vulkan unter dem blendendweißen Schnee hervorsprüht, den bis jetzt die untergehende Sonne allein mit Purpur bedeckte. Hat das Herz der Jungfrau, die sich selbst noch nicht kennt, nicht den Glanz der göttlichen Strahlen? Ist es nicht wie der Azur des Himmels und wie der weiße und unbefleckte Schnee auf den hohen Bergen?
   Rosarita befragte sich abermals im Schweigen der Einsamkeit; Stimmen, die sie bis jetzt nicht gekannt hatte, sangen ihr die keuschen Melodien der keimenden Liebe ins Ohr; dann fühlte sie in der Seele eine unermeßliche Leere, denn der, dessen Name von diesen Stimmen genannt wurde, war nicht mehr da. Wo war er? Und die Tage verflossen, ohne daß es ihr jemand hätte sagen können.
   Während dieser ganzen Zeit hatte der Senator geschickt genug – man muß es anerkennen – den Platz bestürmt, den er zur Übergabe bringen sollte. Dank des ausgedehnten Kredits, den ihm Don Estévan auf die Kasse des Hacenderos eröffnet hatte und den Tragaduros nicht mehr schonte, als ob er sich niemals hätte erschöpfen können, war es gelungen, den tiefen Kummer des jungen Mädchens durch Zerstreuungen nach und nach ein wenig zu lindern.
   Geschenke, Überraschungen, die von einer stets bereiten Artigkeit und von einem sehr verliebten Herzen zeugen, üben immer auf die Frauen einen mächtigen Reiz aus, der ihre Eigenliebe kitzelt und endlich nach und nach den Weg zu ihrem Herzen bahnt. Der Senator besaß außerdem ein unerschütterliches Vertrauen auf seine eigenen Verdienste. Es ist gerade keine schlechte Taktik bei den Frauen, sich unaufhörlich selbst zu rühmen. Sie kommen endlich dadurch, daß ein Mann Loblieder auf seine eigenen Vorzüge singt, zu dem Punkt, etwas davon zu glauben – denn jede Überzeugung ist ansteckend.
   Tragaduros besaß also die Kunst, sich selbst Lobreden zu halten, indem er die außergewöhnlichen Eigenschaften, die er sich wohlgefällig beilegte, der Liebe zuschrieb, die er für Rosarita fühlte. Für eine Tochter Evas ist aber die Weigerung, sich davon überzeugen zu lassen, soviel wie eine Verkennung ihrer Gewalt, und wenige unter ihnen sind gegen sich selbst bis zu diesem Punkt ungerecht. Dann ist man auch immer etwas parteiisch für die Frucht seiner Werke, und die Frau, die anfängt, sich in ihrem Werk zu gefallen, ist zuletzt nahe dran, es anderen nicht abtreten zu wollen. Wohin gelangt man nicht Schritt für Schritt?
   Die Abwesenheit hat gewiß ihre Vorteile. Sie verleiht dem Abwesenden wie das ferne, tiefe Blau des Himmels der Landschaft einen unendlichen Reiz; aber das ist nur unter der Bedingung der Fall, daß sie nicht zu lange dauert; und die Abwesenheit des armen Fabian drohte sich maßlos zu verlängern. Wir wollen jedoch für diejenigen, die sich etwa für den Abwesenden interessieren, sagen, daß er noch mit Vorteil gegen die Bewerbungen seines zurückgebliebenen Nebenbuhlers kämpfte.
   Das war die Lage der Dinge in der Hacienda del Venado ungefähr vierzehn Tage nach der Abreise Don Estévans, das heißt, kurz vor dem Zeitpunkt, wo wir die Expedition, die der spanische Señor befehligte, beim Aufschlagen ihres Lagers in der Steppe wiedergefunden haben.
   Don Agustin hatte nur der Einsamkeit, in der seine Tochter lebte, die Schwermut zugeschrieben, die sich auf ihrem Gesicht ausdrückte. Er fühlte selbst das ganze Gewicht einer mit einem glühenden Charakter unvereinbaren Untätigkeit. Die Rückkehr eines Vaqueros mit der Nachricht, daß eine Tränke und eine zahlreiche Schar von wilden Pferden entdeckt worden sei, war demnach eine Gelegenheit, die er eifrig ergriff, um Dona Rosarita Zerstreuung zu verschaffen und seine Jagdlust zu befriedigen. Die Gelegenheit war um so günstiger, als die Tränke sich entfernter von der Hacienda befand. Es war kein Ausflug in die Umgebung mehr – es war eine Reise von vier Tagen.
   Seit Jahren hatte man in dieser Gegend keine Spur von Indianern bemerkt. Man hatte also nur einige ermüdende Tagemärsche zu bestehen, die reichlich durch das aufregende Schauspiel vergolten wurden, das sich die Mexikaner dieser entfernten Landstriche mit ebenso großer Begier zu verschaffen suchen wie das eines Stierkampfes.
   Wir befinden uns also am Morgen dieses Aufbruchs zur Jagd in der Hacienda del Venado. Die Pferde sind gesattelt und paradieren auf dem Hof neben der Freitreppe. Die mit Matratzen, Gepäck und Flaschen beladenen Maultiere waren ebenso wie die zum Wechseln bestimmten Pferde vorausgegangen. Die beiden Diener, die allein für den persönlichen Dienst bei ihren Herren zurückgeblieben waren, warteten auf diese, um aufzubrechen.
   Die Sonne warf kaum ihre ersten Strahlen auf die Erde, als der Hacendero, der Senator und Dona Rosarita in Reitkleidern oben auf der Freitreppe im Hof erschienen.
   Das junge Mädchen hatte nicht mehr jene frischen Farben, die mit dem Glanz der halbgeöffneten Granate wetteiferten; aber die Blässe ihres Gesichts, in dem sich die Schwermut ihres Herzens abspiegelte, war ein süßer Anblick wie der erste Lichtschimmer des Morgens, der der nächtlichen Finsternis folgt und dem glänzenden Azur des amerikanischen Himmels zur Mittagsstunde vorausgeht.
   Der Reiterzug setzte sich in Bewegung. Als er bei der Öffnung der Ringmauer vorüberkam, die derjenige überstiegen hatte, den Rosarita immer noch Tiburcio Arellanos nannte und der nicht mehr der Gast ihres Vaters sein wollte, zog sie ihren Schleier vor das Gesicht, um eine Träne, die aus ihren Augen perlte, zu verbergen. Sehr oft jedoch hatte die Nacht sie in ihren Träumen an diesem Ort überrascht; als sie aber die Hacienda verließ, schien es ihr, als ob sie ihrer teuersten und schmerzlichsten Erinnerung auf ewig Lebewohl sagte. War es nicht hier, wo sie eines Abends, ohne daß sie es ahnte, plötzlich die Liebe hatte durch ihre Adern strömen fühlen? War es nicht diese Erinnerung, von der sich sozusagen ihr Leben erst datierte? Weiterhin sollte sie nichts mehr an Tiburcio erinnern. Sie ritt durch den dichten Wald und über die roh gemachte Brücke des Waldstroms, ohne die Gefahr zu kennen, der derjenige in diesem Wald und im Salto de Agua ausgesetzt war, der ihre Tränen fließen machte.
   Trotz der Bemühungen des Senators verfloß doch der erste Tag der Reise traurig bis zum Abend.
   Ein oder zwei Meilen, bevor man an den Ort gekommen war, wo der Reiterzug übernachten sollte, war der Schatten größer geworden, und die Reisenden versanken in tiefes Schweigen, denn der Einbruch der Nacht in der Steppe ist feierlich und ruft immer Träumereien hervor.
   Plötzlich begegneten ihnen zwei Reiter.
   Der Anblick dieser beiden Reiter war ebenso fremdartig als unheimlich. Der eine war ein Greis, der andere ein junger Mann. Der erstere hatte weißes Haar, das wie das schwarze Haar des anderen hinter dem Kopf durch Riemen von weißlichem Leder so zusammengebunden war, daß es einen dicken Zopf bildete. Eine Art enger Kappe von grobem Netz, mit einer Quaste von Federn geschmückt, bedeckte ihren Kopf und wurde durch ein ledernes Kinnband festgehalten. Beide hatten nackte Füße, aber der obere Teil ihres Körpers war in eine wollene Decke von gröbstem Schlag gehüllt.
   Das war der Anzug der Papago-Indianer mit einem einzigen Unterschied: Die beiden Reiter trugen statt der Bogen und Pfeile quer über ihren Sätteln je eine lange, schwere Büchse, deren Kolben und Schaft mit messingenen Nägeln besät waren; auch war der wilde Ausdruck ihres Gesichts weit von dem sanftmütigen Aussehen entfernt, durch das sich die friedliche Indianerrasse auszeichnet, deren Kleidung sie trugen.
   Insofern hatte dieses Zusammentreffen nichts Beunruhigendes dargeboten: die Indianer vom Stamm der Papagos sind durch ihre Sanftmut und ihren geraden Sinn bekannt; aber diese beiden Gesichter gehörten zu denen, die man nicht anblicken kann, ohne von ihnen abgestoßen zu werden.
   Doña Rosarita lenkte ihr Pferd nach dem ihres Vaters, während der jüngste der beiden Reiter das seinige anhielt, um einen Flammenblick auf das Antlitz des jungen Mädchens zu werfen, von dessen Schönheit er lebhaft betroffen schien.
   Die beiden Reiter wechselten einige Worte in einer Sprache, die die Mexikaner nicht verstanden, und ritten vorüber, jedoch nicht, ohne daß sich der jüngere mehrmals umwandte, um mit den Augen dem wallenden Schleier und der geschmeidigen Gestalt der Tochter Don Agustins zu folgen; dann verschwanden sie beide im Schatten des Abends.
   »Ich habe niemals zwei Papagos gesehen«, sagte Rosarita mit einem Gefühl der Unruhe, »die ein solches Gesicht gehabt hätten.«
   »Oder die auf solche Art bewaffnet gewesen wären.« fügte der Senator hinzu: »Sie sehen aus wie zwei Wölfe in Schafskleidern.«
   »Bah«, erwiderte Don Agustin, »es gibt überall Schelmengesichter; selbst unter den Papagos. Was liegt uns zuletzt daran, zu wissen, was diese beiden Indianer sein könnten? Wir sind hier zahlreich genug und ebensogut bewaffnet wie sie.«
   Die Reisenden setzten ihren Weg fort; nichtsdestoweniger aber schienen diese beiden Unbekannten einen Hauch von unheilverkündender Vorbedeutung in der Luft zurückgelassen zu haben. Während der Zeit, in der man das Nachtlager erreichte, mischte sich der abgemessene Schritt der Pferde auf dem trockenen, dröhnenden Boden mit dem letzten Zirpen der Grillen, die erst mit der Dunkelheit schwiegen.
   Bald kündigte ein im Feld brennendes Feuer den Reisenden den Ort an, den die vorausgegangenen Diener gewählt hatten, um dort bis zum folgenden Tag haltzumachen.
   Ein kleines seidenes Zelt, das Tragaduros‘ Galanterie gerade für diese Reise von Arizpe hatte kommen lassen, wurde für Doña Rosarita unter einer Baumgruppe aufgeschlagen. Als die Abendmahlzeit eingenommen war, zog sie sich unter ihr Zelt zurück, aber sie suchte vergebens den Schlaf auf ihrem mit Spitzen besetzten Kissen. Sie dachte an die Nacht, wo Tiburcio, als sie ihn zum erstenmal sah, nicht weit von ihr schlief, und sie lauschte – wie es Tiburcio selbst in jener Nacht getan hatte – mit einer Träne und einem Lächeln dem Bach, der neben ihr murmelte, dem Glöckchen der Capitana-Stute, dem fernen Geheul des Schakals, dem Geschrei des Nachtvogels – mit allen jenen unbestimmten Klängen der Steppe, die so viele Echos in einem zwanzigjährigen Herzen erwecken.
   Was hätte Fabian wohl gegeben, um am folgenden Tag, als die Tochter Don Agustins des Morgens aus ihrer seidenen Wohnung trat, um aufs Pferd zu steigen, die bezaubernde Blässe ihres Gesichts zu sehen, die die Schlaflosigkeit, deren Ursache er gewesen war, darauf zurückgelassen hatte.
   Der Reiterzug setzte sich in Marsch wie am vorhergehenden Tag; Rosarita war heute noch zerstreuter als gestern. Jene Erinnerungen, die sie in der Hacienda zurückgelassen glaubte, tauchten überall auf, rings um sie her; denn die Liebe ist erfinderisch, in jedem Augenblick überraschende Ähnlichkeiten – auch in den fernsten Anklängen – zu finden. Was auch gewisse mürrische Geister sagen mögen – die menschliche Einbildungskraft ist ebenso geschickt, sich süße Traumbilder zu schaffen, als sich mit trostlosen Trugbildern zu beschäftigen.
   Auf der ganzen Reise von der Hacienda bis zum Büffelsee – denn so hieß der Ort, wohin sich der Reiterzug begab – schien die Wirklichkeit Fabian zu begünstigen und der Einbildungskraft nur wenig übrigzulassen.
   Nachdem man mehrere Stunden auf dem Marsch gewesen war, blieb der Senator einige Augenblicke zurück und holte dann den Zug wieder ein. Tragaduros brachte Rosarita im Triumph einen Strauß von Lianenblüten, den er schnell gepflückt hatte. Der Anblick dieser Glockenblumen mit prächtigen Farben entriß dem jungen Mädchen einen leisen Schrei der Überraschung, der als eine Belohnung für den galanten Senator gelten konnte; in dem Augenblick aber, wo ihm Rosarita danken wollte, fühlte sie, wie die Stimme ihr versagte, und sie wandte sich plötzlich um, damit man nicht auf ihrem Antlitz eine schmerzliche Bewegung lesen könne, während ihre Hand die vom Senator überreichten Blumen einzeln zur Erde fallen ließ.
   »Großer Gott – was fehlt Ihnen?« fragte Tragaduros überrascht und zugleich schmerzlich von dieser unerwarteten Bewegung berührt.
   »Nichts, nichts«, erwiderte das junge Mädchen und machte eine Anstrengung, um den so plötzlich verschmähten Strauß festzuhalten.
   Rosarita gab bei diesen Worten ihrem Pferd die Reitpeitsche, das wie ein Pfeil davonflog. Sie mußte dem durch ihr Haar sausenden Wind einen schmerzlichen Seufzer anvertrauen, der sie fast erstickte. Rosarita hatte sich eben erinnert, daß auch Tiburcio einst Lianenblüten auf ihrem Weg für sie pflückte, und darum erschienen ihr diese hassenswert; sie zerknickte sie krampfhaft und warf sie weit weg.
   »Es war wohl irgendein giftiges Insekt in diesen Blüten?« fragte sie der Senator, als er wieder mit ihr zusammentraf.
   »Ja«, sagte Rosarita mit Aufregung und fühlte, daß ihre Wangen sich purpurn färbten wie die Blumen, die sie eben weggeworfen hatte. —
   Wir wissen jetzt genug von den geheimen Gefühlen Doña Rosaritas, so daß wir ihr nicht mehr Schritt für Schritt auf ihrer Reise folgen müssen. Wir lassen also den Reiterzug am Morgen des vierten Tages dicht beim Büffelsee anlangen, wohin wir ihm jedoch vorausgehen müssen.


   58. Der Büffeljäger

   Wenn der Gila die Kette der Nebelberge durchbrochen hat, so vereinigt sich einer seiner Arme mit dem Red River, der sich, nachdem er Texas und das Jagdgebiet der Cayugas und der Komantschen durchströmt hat, nach einem Lauf von ungefähr 120 Meilen in den Golf von Mexiko ergießt.
   Sechzig Meilen von der Hacienda del Venado – man erstaune nicht über solche Entfernungen in einer Gegend, wo man sich auf zwanzig und dreißig Meilen als Nachbarn behandelt – und beinahe eine halbe Meile von dem Ort, der die Red Fork genannt wird, breitet sich ein ungeheurer Wald von Zedern, Korkeichen, Eichen, Sumachs und Wurzelträgern aus.
   Vom Saum dieses Waldes bis zur Gabel des Flusses bietet die Gegend nur eine Ebene mit so langem und dichtem Gras dar, daß ein Reiter auf seinem Pferd kaum mit dem Kopf über dieses wogende Meer von Grün hervorragt. An einer der geheimsten Stellen des Waldes, unter den dunkelsten, von den Gipfeln seiner großen Bäume gebildeten Laubgängen, an den Ufern eines so großen Teiches, daß man ihn wohl einen See nennen konnte, lagerten ein Dutzend Männer; die einen lehnten mit dem Rücken an den Stämmen vielhundertjähriger Eichen, die anderen schliefen ausgestreckt in dem dichten Gras, das die Ufer des Teiches bedeckte. Es war eine große, durchsichtige Wasserfläche von regelloser Form, etwa eine Art unregelmäßiger Vierecke. Dem Ufer gegenüber, wo sich diese Personen befanden, unter einem durch verschlungene Zweige gebildeten Gewölbe, verlor sich ein enger Kanal mitten unter einem Netz von Grün.
   Die Sonne war noch im Anfang ihres Laufes und warf Strahlen durch die dichte Decke dieses Kanals, deren Purpur sich schnell in ein bleicheres Goldgelb verwandelte. Das Morgenlicht schien strahlenweise auf die Oberfläche des Sees herab, auf der sich das Grün der Bäume und das Blau des Himmels gemeinsam widerspiegelten.
   Wasserpflanzen mit breiten Blättern und Seerosen entfalteten ihre glänzende Fläche und ihre einsamen Blumen mit goldenen und silbernen Kelchen, lange Girlanden von grünem Moos schwankten an den Zweigen der großen Zedern und hingen bis in das Wasser hinab, dessen kristallene Oberfläche sie spalteten. Das alles verlieh dem Teich den wildesten und malerischsten Anblick. Das war der Büffelsee. Diesen Namen hat er von den Tieren erhalten, deren Lieblingstränke er einst war. Die Büffel jedoch waren nach und nach von der Nähe der Menschen vertrieben worden; sie hatten ihn verlassen, um sich in einsamere Gegenden zurückzuziehen. Die vereinzelte Lage dieses Sees zog nichtsdestoweniger noch Herden wilder Pferde an seine Ufer, die seine unter tiefem Schatten verborgenen Gewässer dem offenen Ufer des benachbarten Flusses vorzogen, um ihren Durst zu löschen.
   Die Vaqueros Don Agustins hatten die Spuren einer zahlreichen Cavalcada bis hierher verfolgt, und sie erwarteten nur noch die für den Abend des Tages, wo wir sie am Ufer des Büffelsees finden, angezeigte Ankunft ihres Herrn, um die Jagd zu beginnen.
   Auf der einen Seite der Wasserfläche war ein breiter Raum erst kürzlich durch die Axt von den Bäumen gesäubert worden, die ihn bedeckten, und mit einer dicken, festen Umpfählung aus umgehauenen Baumstämmen versehen. Diese Stämme waren tief genug in die Erde gerammt, um eine unerschütterliche Einfriedung zu bilden; außerdem waren sie noch festgehalten und miteinander mittels lederner Büffelriemen verbunden, die man aus den noch frischen Häuten geschnitten hatte, die, durch die Sonne getrocknet und zusammengezogen, ebenso fest zusammenhielten wie eiserne Nägel oder Klammern. Dieses Pfahlwerk war beinahe eiförmig wie der römische Zirkus und bot nur an dem einen Ufer des Sees eine einzige schmale Öffnung dar. Um die wilden Pferde nicht durch den Anblick des Menschen zu erschrecken, hatten die jagenden Vaqueros die Umpfählung mit Hilfe von Gras und grünen Zweigen so gut wie möglich verdeckt. Man begreift leicht, daß solche Vorbereitungen den Vaqueros Don Agustins die vierzehn Tage weggenommen hatten, die seit der gezwungenen Verschiebung dieser Jagdpartie verflossen waren.
   Unter den zwölf Männern, die am Ufer oder in der Umgebung des Büffelsees lagerten, waren vier, die nicht zur Hacienda del Venado gehörten, was man schon beim ersten Blick behaupten konnte. Statt des volkstümlichen Anzugs, den die Vaqueros Don Agustins trugen, hatten die vier Personen nach der Gewohnheit der Leute, die ihr Leben an den zwischen der indianischen und der weißen Rasse streitigen Grenzen zubringen, ihre Kleider von diesen beiden einander feindseligen Rassen entnommen. Die Sonne hatte die Gesichtsfarbe so gebräunt und dadurch die Mischung so vollständig gemacht, daß es nicht möglich gewesen wäre, zu bestimmen, ob diese mit Mokassins und ledernen Gewändern bedeckten Männer zivilisierte Indianer waren oder Weiße mit wilden Gewohnheiten.
   Jedenfalls aber war die Sonderbarkeit ihres Anzuges bald nicht mehr spaßhaft, denn nur wenige Teile davon waren nicht mit Spuren getrockneten Bluts besudelt. Man hätte sie für Metzger halten können, die eben aus dem Schlachthaus kommen, wenn der verwegene Ausdruck ihrer Haltung und die ernsten Züge ihres sonnenverbrannten Gesichts nicht etwas Schlimmeres als Metzger angedeutet hätten.
   Wir wollen uns jedoch beeilen zu sagen, daß ein mit den Sitten der Steppen bekannter Reisender sie trotz dieser unheimlichen äußeren Erscheinung auf den ersten Blick als das erkannt hätte, was sie wirklich waren: nämlich Büffeljäger, die sich von den Beschwerden ihres Gewerbes am Ufer des Teiches ausruhten, an dem einst diese Tiere gewöhnlich zur Tränke kamen und von denen er den Namen erhalten hat.
   Noch ganz frische Büffelhäute trockneten, von Pfählen festgehalten, auf einer kleinen Lichtung in einiger Entfernung vom Teich und bewiesen, daß die Tiere, die sie jagten, sich noch von Zeit zu Zeit in der Gegend sehen ließen. Was die Jäger selbst anlangt, so sahen sie ganz aus, als ob sie sich sehr wenig um die stinkenden Dünste kümmerten, die diese Felle ausströmten, die nach und nach in der Morgensonne hart wurden.
   Das tiefe Schweigen, das in der Umgebung und unter den düsteren Gewölben des Waldes herrschte, wurde nur von Zeit zu Zeit durch das klagende Geheul einer großen Dogge unterbrochen, die fast unter dichtem Gras vergraben lag und die zuweilen den Kopf emporhob, um ein schmerzliches Bellen hören zu lassen.
   Um nun endlich noch ein Gemälde zu beenden, dessen malerischen Gesamteindruck der Pinsel besser als die Feder hervorbringen könnte, stand in dem vom Alter ausgehöhlten Stamm einer dicken Eiche, deren kräftige Zweige noch über den See hinragten, eine kleine hölzerne Statue einer Madonna. Die kleine Statue war mit frischen Blumen geschmückt, die eine fromme Hand jeden Tag zu erneuern schien. Einer der Jäger kniete davor und sprach andächtig sein Morgengebet. Er war ein Mann von hohem Wuchs und besaß dem Anschein nach dieselbe Kraft wie die Tiere, deren Jagd sein Gewerbe war. Er schien mit größerer Inbrunst zu beten, als man es gewöhnlich bei dieser täglichen Handlung zu tun pflegt. Es war dies in der Tat von seiten des Büffeljägers nur die Erfüllung eines Gelübdes, das er in einer großen Gefahr getan hatte.
   In dem Augenblick, wo der kräftige, wilde Jäger sein inbrünstiges Gebet beendete, ließ die große, auf dem Gras liegende Dogge ein neues schmerzliches Geheul vernehmen.
   »Der Teufel soll mich holen!« sagte der Jäger, indem er seine andächtige Stellung verließ und zu seiner gewöhnlichen Sprache zurückkehrte. »Ich glaube beinahe, Oho« – das war der Name der Dogge – »hat durch sein langes Leben unter den Indianern auch ihre Gewohnheiten angenommen. Sollte man nicht meinen, eine von diesen Rothäuten heulte auf dem Grab eines Toten?«
   »Bei Gott, Encinas«, sagte ein anderer Jäger, der sich im Teich wusch, »Ihr redet von den Hunden nicht in schmeichelhaften Ausdrücken. Ich möchte zu ihrer Ehre lieber glauben, daß im Gegenteil die Indianer dieses Geheul von den Hunden entlehnt haben.« »Laßt es gut sein«, erwiderte Encinas. »Oho beweint seinen Gefährten, den einer von diesen Apachenschelmen mit einem Lanzenstoß an den Boden genagelt hat. Freilich hatte er auch schon zwei von ihnen niedergemacht. Ach, mein armer Pasqual, damals glaubte ich gewiß, daß ich in meinem Leben keine Büffel wieder – weder mit Euch noch mit anderen – jagen würde.«
   Der Büffeljäger, den man Encinas nannte, wurde von seinem Gefährten unterbrochen, der eine Erzählung, von der er schon die geringsten Umstände von Grund aus kannte, noch einmal zu hören fürchtete.
   »Auf, Encinas!« sagte er. »Da Ihr nun Euer Gelübde, barfuß zur Madonna am See zu wallen und zu ihren Füßen zu beten, erfüllt habt und diese Vaqueros unsere Dienste nicht mehr brauchen, so dächte ich, es wäre Zeit, uns wieder auf die Jagd zu begeben; wir haben schon drei Tage verloren, und unsere blutigen Häute werden die wilden Pferde hindern, sich ihrer Tränke zu nähern – ein doppelter Grund, um uns nicht länger hier aufzuhalten.«
   »Wir haben bis zum Sonnenuntergang nichts zu tun!« antwortete Encinas. »Laßt uns nur hier bleiben.«
   »Oh, Ihr seid uns durchaus nicht im Weg!« rief der jüngste Vaquero der Hacienda, der die durch Pasqual bewirkte Unterbrechung der Erzählung nicht gern zu sehen schien.
   Es war dies ein junger Mann, aus dem Presidio gebürtig, den sein Vater mitschickte, um eine rauhe Lehrzeit im abenteuerlichen Leben mit seinen alten Gefährten durchzumachen. Er war erst vor einigen Wochen zu denen gekommen, die seine Lehrmeister sein sollten, und wie alle Neulinge in einem Gewerbe – welcher Art es auch sein mag – war er begierig, die Erzählungen von Leuten zu hören, die das Gewerbe, dem er sich auch widmete, schon länger betrieben hatten.
   »Señor Encinas«, sagte er und näherte sich den beiden Jägern in der Hoffnung, durch Fragen die Ereignisse des letzten Zuges kennenzulernen, auf dem Encinas beinahe das Leben verloren hatte, »ich höre es nicht gern, wenn Euer Hund so heult, ich …«
   Ein neues Geheul der Dogge unterbrach den jungen Mann, der nicht ohne einige Besorgnis fragte, ob Oho nicht etwa zufällig einen Indianer wittere und darum so seine Stimme erhebe.
   »Nein, mein Junge«, antwortete Encinas, »er spricht nach seiner Weise nur seinen Kummer aus. Wenn irgendein Indianer hier herumstreifte, so würdet Ihr sehen, daß sein Haar sich sträubte und seine Augen rot würden wie glühende Kohlen; er wäre dann nicht ruhig und unbeweglich wie jetzt. Also beruhigt Euch.«
   »Gut!« sagte der junge Mann und streckte sich aufs Gras neben Encinas nieder. »Ich habe nur noch eine Frage an Euch zu richten: Habt Ihr auf Euren Streifzügen jenseits Tubacs nichts vom Schicksal einer Expedition gehört, die heute vor vierzehn Tagen aufgebrochen ist? Ich hatte einen Onkel dabei, Don Manuel Baraja, um den wir sehr besorgt sind.«
   »Den wenigen Worten nach, die ich von drei Biberjägern vernommen habe, die der Expedition in der Nähe folgten, muß ich glauben, daß die Spuren einer größeren Abteilung Indianer, die Pasqual und ich bei unserer Trennung von den drei Jägern, die auf einer kleinen Insel Posten fassen wollten, wohl erkannt haben, dieser Expedition nichts Gutes prophezeiten. Ich fürchte, daß Ihr in diesen Tagen werdet sagen können: Mein seliger Onkel.«
   »Ach, glaubt Ihr, daß er – selig ist?« antwortete der Neuling mit der naivsten und vollständigsten Kaltblütigkeit.
   »Es war nicht lange her«, erwiderte Encinas, »daß der junge Komantsche …«
   Der angehende Vaquero unterbrach abermals den Büffeljäger: »Wißt Ihr wohl, Señor Encinas, daß Ihr viel besser daran tun würdet, mir dies alles gehörig von Anfang an zu erzählen, als mit dem Ende zu beginnen? Was wolltet Ihr denn im Land der Wilden?«
   »Was ich dort wollte?« antwortete Encinas, der wie alle Veteranen der Steppe nichts lieber sah als einen aufmerksamen, stets fragenden Zuhörer wie diesen Vaquero und wie wir es selbst gelegentlich so oft gewesen sind. »Ich will es Euch sagen. Während ich mich im Presidio befand, war ein Abgesandter der Komantschen, die, wie Ihr wißt, die Todfeinde der Apachen sind, dort angekommen. Der Indianer schlug uns im Namen des Häuptlings des Stammes einen Handel mit Büffelhäuten gegen Glaswaren, Messer und Wolldecken vor; und es befand sich gerade in Tubac ein reisender Handelsmann aus Arizpe, der ein Bündel von den Gegenständen mitgebracht hatte, die der Indianer suchte.«
   »Und er machte Euch den Vorschlag, ihn zu begleiten?«
   »Indem er mich an seinem Gewinn teilnehmen ließ. Anderseits war auch mein Gevatter Don Mariano dabei, dem die Apachen eine Herde prächtiger Pferde geraubt hatten und der neun von seinen Vaqueros mit sich nahm, um einen Versuch zu machen, mit Hilfe der Komantschen einen Teil der Beute den Apachen wieder abzunehmen. Zusammen waren wir zwölf entschlossene Männer, ohne den von Seiten des Stammes zum Presidio geschickten Abgesandten mitzurechnen.«
   »Dreizehn?« unterbrach ihn der Anfänger. »Das war eine böse Zahl!«
   »Wir hatten nur acht oder zehn Meilen zu machen, um das Lager der Komantschen zu erreichen«, fuhr Encinas fort, »und waren darum nicht sehr besorgt; erst später dachte ich an die unheilvolle Zahl. Wir zogen also ruhig unseres Weges und begleiteten die Lasttiere des reisenden Handelsmanns; der Komantsche ritt voraus …«
   »Wahrlich«, unterbrach ihn abermals der Neuling trotz seiner Neugierde, die Erzählung weiter zu hören, »das Vertrauen dieses Kaufmanns, sich mit seinen Waren auf das Wort eines Indianers fortzuwagen, war doch zu groß!«
   »Bei Euch, mein Junge, darf man, wie es scheint, auch den Punkt über dem ›i‹ nicht vergessen. Ich vergaß aber, Euch zu sagen, daß der oberste Häuptling zwei Krieger als Bürgschaft gesandt hatte. Wir waren also über diesen Punkt beruhigt, denn die Komantschen sind eine redliche Nation; der Abgesandte selbst flößte uns großes Vertrauen ein. Es war ein junger, ebenso schöner wie tapferer Krieger, wie Ihr es sogleich sehen werdet; ein erbitterter Feind der Apachen, obgleich selbst Apache von Geburt.«
   »Nun, wahrhaftig, ich hätte mich ihm nicht anvertraut!«
   »Weil Ihr seine Geschichte nicht kennt. Es scheint, daß ein Häuptling seiner Nation ihm ein junges Weib, das er liebte, geraubt hatte …«
   »Wie? Diese Wilden lieben also auch?«
   »Wie Ihr und ich, mein Junge, und oft noch inniger. Kurz und gut, er entfloh eines schönen Tages mit seiner Geliebten, die gezwungen die Frau des Häuptlings geworden war, und flüchtete zu den Komantschen, die ihn adoptierten. Er hatte also dem Stamm, der ihn adoptierte, einen kräftigen Arm und ein Herz mitgebracht, das ebenso unerschrocken als voll Haß gegen die Apachen war, wovon er auch oft schon den Beweis geliefert hat.
   Nachdem man einige Zeit – der Führer an der Spitze – marschiert war, hörte ich ihn zu meinem Gevatter sagen: ›Ich habe die Spuren von El Mestizo und Main-Rouge in der Ebene gesehen; aufgepaßt!‹
   Wer waren Main-Rouge und El Mestizo? Ich wußte es nicht. Der Komantsche ritt also auf einem Pferd von großer Schönheit vorwärts und durchforschte die Ebene mit Nase und Augen.
   Ich war genötigt gewesen, mit meinen beiden Hunden Oho und Tiger, denen ich einen Koppelriemen und einen Maulkorb angelegt hatte, etwas hinter ihm zurückzubleiben, denn diese Tiere waren von mir zum Kampf mit Indianern abgerichtet und wollten jeden Augenblick über unseren Bundesgenossen herfallen. Wir zogen durch die große Ebene von Baumwollstauden, wo diese Bäume fast einen Wald bilden, als ich plötzlich den Indianer ein schreckliches Geheul ausstoßen hörte und sah, wie er, mit dem Fuß an den Sattelknopf geklammert, zur Seite seines Pferdes niederglitt und dieses in Galopp setzte. Im selben Augenblick hörte ich auch ein Zischen wie von hundert Schlangen …«
   »Es war also alles voll Klapperschlangen?« rief der Neuling mit weit aufgerissenen Augen.
   Der kräftige Büffeljäger brach bei dieser Frage des Anfängers in ein schallendes Gelächter aus. »Es war eine Wolke von Pfeilen!« erwiderte er. »Einige Büchsenschüsse mischten sich dazwischen wie der Donner in den Hagel, und ich sah, wie mein Gevatter Don Mariano, der reisende Handelsmann und die neun Vaqueros von den Pferden sanken.«
   »Das läßt sich begreifen«, sagte der Anfänger.
   »Ah, Ihr begreift das. Nun gut! Ich stand eine Sekunde lang da und begriff nichts; ich glaubte, in einem bösen Traum zu liegen, doch befreite ich auf alle Fälle meine beiden Doggen, die vor Wut heulten, von ihrem Maulkorb! Aber ich behielt sie am Koppelriemen, und als das geschehen war, sah ich geradeaus. Mit Ausnahme der Pferde, die in der Ebene wild durch die Baumwollstauden galoppierten, befand sich niemand auf der Straße; keine Spur von denen, die von den Pferden gestürzt waren. Ich schloß daraus, daß die im Dickicht verborgenen Indianer sie sogleich hineingezogen hatten.«
   »War es so?«
   »Ich habe sie nicht wiedergesehen. Was mich betrifft, so blieb ich unbeweglich stehen, ungewiß, ob ich vorwärts gehen oder zurückweichen sollte; ich fühlte, daß ich von unsichtbaren Feinden umgeben war, die überall zugleich sein konnten. Aber meine Ungewißheit dauerte nicht lange. Sieben oder acht Indianer brachen aus dem Dickicht am Weg und kamen im Galopp auf mich zu. Nun – Ihr, der Ihr so gut begreift, werdet es vielleicht nicht begreifen, aber ich fühlte mitten im Schweigen des Todes, das in der Ebene herrschte, eine so heftige Angst, daß ich fast glücklich war, endlich meine Feinde zählen zu können.«
   »Ich glaube jedoch, daß ich lieber nichts zu zählen gehabt hätte«, sagte der Anfänger zögernd.
   »Ich ließ meine beiden Doggen los, die wie Löwen gegen die Indianer ansprangen, und – wahrhaftig! – ich entschloß mich, es ebenso zu machen. In jenem Augenblick schien mir das viel leichter als die Flucht. Ich zog also rasch den Degen, und während Oho und Tiger die ersten angriffen, drückte ich meinem Pferd die Sporen in die Weichen und hielt es fest am Zügel, um ganz gewiß zu sein, daß es nicht kehrtmachen würde, denn der Anblick dieser Indianer ist schrecklich; ich versetzte ihm auch außerdem noch zwei oder drei Hiebe mit meiner Reitpeitsche, worin sich Blei befand, über den Kopf. Wiehernd unter den scharfen Spitzen, die seine Weichen stachelten, wütend von den Schlägen, die es fühlte, stürzte sich denn auch das Tier, dem ich den Zügel schießen ließ, wie toll vorwärts, auf die Gefahr hin, uns beide gegen die Indianer zu zerschmettern. Ich weiß nicht genau, was sich zutrug: alles, was ich sagen kann, ist, daß sich etwas wie eine rote Wolke vor meinen Augen befand, in der ich wilde Gesichter neben dem meinigen erblickte; daß Tiger von einem Lanzenstoß über den Leichen zweier Indianer, die er erdrosselt hatte, auf den Boden genagelt war, daß ich sah, wie Oho mit blutigem Rachen einen anderen zu Boden warf – und nach einigen Minuten war ich befreit.«
   »Demonio!« rief der Anfänger ganz verblüfft. »Ihr hattet sie alle getötet, Meister Encinas?«
   »Caramba! Man sieht, daß Euch das keine Mühe macht«, sagte der Büffeljäger lächelnd. »Wahrhaftig nein. Meine beiden Doggen hatten mehr ausgerichtet als ich, und die Wahrheit ist, daß ich meine Streifzüge an diesem Tag beendet haben würde, wenn sich nicht, während ich mit den Indianern im Handgemenge war, ein wenig weiter andere Dinge zugetragen hätten, die ich erst in dem Augenblick sehen konnte, wo ich allein blieb.
   Ich warf nun einen Blick um mich her: Zwei Apachen lagen auf dem Boden bei meinem armen Tiger, und einen dritten würgte Oho. Ihr fühlt wohl, mein Junge, daß ich meine Zeit nicht damit verlor, ihn zu fragen, wie er sich befände; ich hatte wahrlich ganz andere Dinge zu tun.
   Zehn Schritte von mir fand ein schrecklicher Kampf statt; eine Staubwolke erhob sich über einer Pyramide von durchbohrten Pferden und ineinander verschlungenen menschlichen Körpern. Mitten in diesem Gemetzel unterschied ich wallende Federbüsche, funkelnde Lanzen, Gesichter, die mit Ocker, Zinnober und Blut besudelt waren, und flammensprühende Augen. Dann sah ich bald darauf, wie diese Pyramide sich auflöste und ein Krieger sich wie ein Löwe schüttelte, der einen Haufen Wölfe zerschmettert hat. In dem Augenblick, wo dieser Mann sich befreit sah, machte er nur einen Sprung rückwärts, um den Kampf wieder zu beginnen, und ich stürzte an seine Seite.«
   »Aber wie?« unterbrach ihn noch einmal der angehende Vaquero. »Mußte Euch da nicht jener Indianer, den Ihr im Kampf mit Eurer Dogge zurückgelassen hattet, sehr hinderlich sein?«
   »Teufel! Ihr seid spitzfindig, mein Freund!« antwortete der Jäger. »Aber habe ich denn noch nötig, Euch zu sagen, daß ich ihn gleich anfangs getötet hatte? Ich stürzte also mit dem Krieger vorwärts; aber diesmal dauerte der Kampf nicht mehr lange, alle Indianer flohen wie eine Wolke von Fledermäusen vor einem Sonnenstrahl – wohl verstanden, die Toten ausgenommen; denn bei Euch muß man sich genau ausdrücken. Ich kann Euch übrigens versichern, daß mehr zurückblieben, als sich retteten. Nun sah ich denjenigen vor mir, dem ich es verdankte, Euch eines Tages diese Geschichte erzählen zu können, mein Junge.«
   »Das war also wohl der Teufel?«
   »Es war der Komantsche, der nach Beendigung des Kampfes unbeweglich vor mir stand und vergeblich den indianischen Stolz zu unterdrücken suchte, der seine Nasenflügel schwellte und seine Augen wider seinen Willen funkeln ließ.
   ›Main-Rouge und Sang-Mêlê haben den Streich ausgeübt, um mit den Apachen, ihren Verbündeten, die Waren der Weißen wegzunehmen‹, sagte der Indianer endlich.
   ›Wer sind Main-Rouge und Sang-Mêlê?‹ fragte ich den Komantschen.
   ›Zwei Piraten der Steppe; der eine weiß, ohne Mischung, der andere der Sohn des Weißen und einer roten Hündin aus den Prärien des Westens. Heute abend wird Rayon-Brûlant‹ – der Zündende Strahl, das war sein wahrhaftig wohlverdienter Name«, fügte Encinas hinzu —, »›wenn Ihr im Presidio gesagt haben werdet, was er für die Weißen getan hat, die sich seinem Wort anvertraut hatten, mit den beiden Komantschen, die er wieder mitnehmen will, auf der Spur der Piraten sein.‹
   ›Gewiß‹, sagte ich, ›werde ich Eurer Ehrlichkeit wie Eurem Mut Gerechtigkeit widerfahren lassen.‹
   Nachdem ich Oho, der immer noch knurrte, den Maulkorb angelegt hatte«, schloß der Büffeljäger, »kehrten wir zum Presidio zurück, da ich daran dachte, das Gelübde, das ich getan hatte, zu erfüllen; der Indianer war stumm wie ein Fisch. Ich ließ seinem Verhalten Gerechtigkeit widerfahren; die beiden Geiseln wurden ihm zurückgegeben, und ich ging meinem Versprechen gemäß hierher und habe Rayon-Brûlant nicht wiedergesehen.«
   »Das ist schade«, sagte der Neuling; »ich hätte wohl zu wissen gewünscht, was aus diesem jungen, kecken Mann geworden ist. Und wie viele Tage sind seit Eurem Abenteuer verflossen?«
   »Fünf«, antwortete Encinas.
   In diesem Augenblick kamen die Diener des Hacenderos und seines Gefolges an, um das Nachtlager für die Reisenden zu bereiten; sie meldeten zugleich, daß sie ihrem Herrn nur eine halbe Meile voraus seien.


   59. Der Weiße Renner der Prärien

   Zur großen Zufriedenheit des angehenden Vaqueros ließen sich die Büffeljäger, die im Begriff standen aufzubrechen, durch die Neugierde zurückhalten; er hoffte, daß Encinas bis zur Ankunft der Reisenden noch irgendeine Geschichte von Indianern aus den Erinnerungen seines abenteuerlichen Lebens für ihn hervorholen würde. Vielleicht wollte aber dieser nicht mehr von der Vergangenheit reden; vielleicht war auch das Gedächtnis des Büffeljägers auf dem trockenen – kurz, Encinas, der durch eine mühevolle Nacht schläfrig geworden war, schloß bald die Augen und schlief fest ein. —
   Wir wollen diesen Augenblick benützen, um über die Jagd auf wilde Pferde im Nordwesten Mexikos einige noch unbekannte Einzelheiten mitzuteilen, die durch ihre Neuheit vielleicht nicht ohne Interesse sind und ganz passend ihre Stelle in einer Erzählung finden, deren Zweck die Schilderung der fremdartigen Sitten an den amerikanischen Grenzen ist.
   Diese Jagden gehören zu den merkwürdigsten und anziehendsten Schauspielen in diesen fernen Gegenden, und auch die feurigste Schilderung ist nicht imstande, ein vollständiges Bild davon zu geben. Sie finden gewöhnlich in den Monaten November oder Dezember statt, das heißt zu der Zeit, wo die strömenden Regengüsse und das Schmelzen des Schnees auf den Bergen die Tränken wieder gefüllt haben und in den Ebenen und am Fuß der Mesquite wächst, eine Grasart, die die Pferde sehr gern fressen.
   List, Geduld und jene Art wilden Instinkts, die man die Wissenschaft der Steppe nennen könnte, sind drei unentbehrliche Eigenschaften für die Jäger, wenn sie nicht nutzlos Zeit und Mühe verlieren wollen. Sechzig bis hundert entschlossene, gut berittene, mit gezähmten Pferden versehene Männer mit hinreichenden Lebensmitteln für zwanzig Tage oder einen Monat vereinigen sich für diese Art von Expeditionen, deren Schauplatz notwendigerweise von bewohnten Gegenden fern sein muß. Die Jäger brechen in kleinen Abteilungen auf – etwa sieben bis acht – und durchstreifen zehn bis zwölf Tage hindurch die unermeßlichen Ebenen und Einöden der Steppe, bis sie die Spuren einer Cavalcada mestena gefunden haben, Spuren, die übrigens leicht an der Verwüstung zu erkennen sind, die die Flucht dieser Tiere in den Wäldern anrichtet. Nachdem man einmal die Querencia – so heißt die Gegend, wo die Pferde sich am liebsten aufhalten – ausgewittert hat, suchen die Jäger nach der Tränke, die sich natürlich in der Umgebung befinden muß, denn die wilde Herde kann nicht lange Zeit in Gegenden verweilen, wo das Wasser fehlt; nicht nur, um ihren Durst zu löschen, sondern auch zur Heilung einer Anzahl von Krankheiten, gegen die diese Gewässer für sie ein Hauptheilmittel sind. Das Auffinden der Tränke ist noch eine Schwierigkeit, und der Europäer könnte mitten in diesen dürren Ebenen und undurchdringlichen Wäldern vielleicht vor Durst sterben, ehe er eine solche entdeckte. Die Pferde werden hierbei von dem wunderbaren Instinkt geleitet, mit dem sie begabt sind, und wählen gewöhnlich irgendeinen fast unzugänglichen Teich; aber eine ständige Beobachtung der Natur gibt den Bewohnern der Grenzen einen ebenso wunderbaren Instinkt, wie ihn die Tiere, auf die sie Jagd machen, besitzen.
   Sobald eine Jägerabteilung die Stelle gefunden hat, wo die Pferde ihren Durst löschen, so werden schon vorher verabredete Zeichen an gewissen Orten gegeben, und die verschiedenen Abteilungen treffen sich in der Nähe der Tränke. Man weiß, daß die Pferde jeden Tag bei Sonnenuntergang hierherkommen, und die Vorbereitungen zur Jagd nehmen ihren Anfang.
   Die Jäger fällen, wie wir im vorhergehenden Kapitel erwähnt haben, zuerst dicke Baumstämme, aus denen sie eine feste Einfriedung machen, die man Corral nennt, worin eine Öffnung, dem Estero oder der Lagune gegenüber, die die Tränke bildet, gelassen wird. Die Vollendung eines solchen Werkes dauert, je nach der Zahl und der Tätigkeit der Jäger, zehn bis zwölf Tage, in welcher Zeit sie unter dem dichten Blätterdach der Bäume lagern.
   Glücklich ist dann der durch die Erzählungen aus der Steppe neugierige Reisende, den sein guter Stern zu diesen wilden Jägern in ein solches Lager führt. Der Reisende teilt ihre Mahlzeiten von Pinole und Cecina und wird immer die Abende, die er an dem flammenden Feuer zubringt, zu kurz finden; denn man wird nicht müde, aus dem Mund dieser Jäger die aufregenden Erzählungen von ihren Jagden, ihren Kämpfen und ihre abergläubischen Ansichten zu hören.
   Wir schließen diese Einzelheiten über den Bau eines Corrals, um durch die folgenden Tatsachen eine vollkommene Idee von einer Reihe von Szenen zu geben, die an Zauber und Wahrheit nichts von der Dichtkunst zu entlehnen brauchen. Wir wollen nur noch sagen, daß die Pferde nach Entdeckung ihrer Tränke bald die Gegenwart des Menschen am ungewohnten Aussehen der Landschaft merken, wo er seine Spuren zurückgelassen hat. Die Jäger teilen sich nun, nach Errichtung der Einfriedung, abermals in kleine getrennte Trupps, durchstreifen auf mehrere Meilen hin die Gegend und zwingen die erschreckten Tiere, sich nach ihrer Querencia zurückzuziehen.—
   Außer den acht Vaqueros, die die Ankunft Don Agustins erwarteten, waren zwanzig andere – je fünf an den vier Hauptpunkten – aufgestellt, so daß sie einen weiten Kreisbogen bildeten, dessen Sehne der Red River war. Zu dieser Aufstellung gehörten ebenfalls noch einige Tage; die zurückgebliebenen Vaqueros hielten sich während dieser Zeit in der Nähe des Corrals versteckt und lauerten Tag für Tag auf die Stunde, wo die Manadas zur Tränke kommen würden.
   Während Encinas zum großen Mißvergnügen des Neulings schlief, hatten die Diener Don Agustins die Lagerzelte unter den dichten Eichenzweigen am dunkelsten Ort aufgeschlagen, um die Pferde weniger zu erschrecken, und kaum war dieses ganze Werk beendet, als einer von den zwei Dienern im Gefolge des Hacenderos im Galopp heransprengte und die Ankunft der Herrschaft meldete.
   Einige Minuten nachher kam der Reiterzug in der Richtung an, die den See vom dichten Saum des Waldes trennte. Es war ungefähr ein Uhr, und die Sonne warf Garben glühenden Lichtes senkrecht auf die Wasserfläche herab. Es war die Stunde, wo nur die Grillen – ebenso zahlreich als die Grashalme – die Luft mit ihrem Zirpen erfüllen; sonst schwieg alles unter der Glut des Tages; alles schlummerte in Wäldern und Ebenen.
   Der Senator beeilte sich trotz seiner Müdigkeit, vom Pferd zu steigen, um Doña Rosarita die Hand zu reichen, deren Wangen – sei es wegen der heißen Luft des Mittags oder aus irgendeiner anderen Ursache – wie Purpur strahlten. Sie glitt halb traurig, halb lächelnd aus dem Sattel in Tragaduros Arme und sprang von dort leicht auf die Erde.
   Während sie sich, auf den Arm des Senators gestützt, zu dem für sie aufgeschlagenen seidenen Zelt begab, sprach der Hacendero mit den Vaqueros. Er musterte das Pfahlwerk und die Lage des Sees mit Kennerblicken; dann ging er, befriedigt von den Antworten, die er erhalten hatte, ebenfalls in sein Zelt, um Siesta zu halten.
   Als Doña Rosarita den Raum bis zu ihrem Zelt durchschritt, konnte sie sich nicht enthalten, einen erstaunten, fast erschrockenen Blick auf den sonderbaren Anzug und das wilde Aussehen der Büffeljäger zu werfen; aber die Tochter der Steppe war mit den Sitten und den verschiedenen Bewohnern der Gegend zu vertraut, um nicht sogleich das Gewerbe Encinas‘ und seiner rauhen Begleiter zu erkennen; sie lächelte über ihren Schrecken, hob den blauen Vorhang ihres Zeltes auf und verschwand vor den Augen aller wie der Vogel, der sich im Azur des Himmels verliert.
   »Nun, was meint Ihr zu unserer jungen Gebieterin, Señor Encinas?« fragte der angehende Vaquero den Büffeljäger, der die Tochter Don Agustins zum erstenmal sah.
   »Eine wahre Steppenblume«, antwortete Encinas. »Alle, die die Prärie durchstreifen, werden sich mit mehr Eifer bemühen, sie zu pflücken, als irgendeine Blume der Städte; sie ist eine Blume, die der Indianer gern in seine Hütte, der Jäger gern in sein Zelt verpflanzen möchte.«
   »Nun, dieser junge Señor wird sie ohne Zweifel in seinen Palast führen«, sagte der Anfänger lachend und deutete auf den Senator Tragaduros.
   »Wer weiß?« erwiderte Encinas. »Ich habe schon mehr als einen Büffel, den ich sicher zu haben glaubte, tödlich verwundet, und doch haben ihn Indianer und Wölfe fern von mir zerrissen.«
   In diesem Augenblick ließ Oho ein ganz besonderes Knurren vernehmen. Es war nicht mehr jenes klagende Geheul, das, nach dem Ausdruck des Jägers, eine Erinnerung an den abwesenden Gefährten bedeutete. In dem Anschlagen der Dogge lag etwas wie ein dumpfer Zorn.
   »Was soll das bedeuten, Meister Encinas?« fragte der beunruhigte Anfänger.
   »Nichts«, antwortete der Jäger, nachdem er einen Blick auf Oho geworfen hatte, dessen Auge einen Augenblick funkelte und dann wieder erlosch. »Oho wird wohl von irgendeinem Indianer geträumt haben und sendet ihm eine Verwünschung in seiner Sprache zu.« —
   Es war ungefähr fünf Uhr nachmittags, als die Reisenden nach ihrer Siesta aus dem Zelt traten. Der Büffelsee bot jetzt einen nicht so wilden, aber nicht weniger malerischen Anblick dar. An seinen Ufern erhob sich das seidene Zelt Rosaritas in einiger Entfernung von dem des Senators und des Hacenderos. Seine himmelblauen Falten strahlten von der durchsichtigen Oberfläche des Sees zurück, mitten unter den Wasserpflanzen und den zurückgeworfenen Bildern der Eichen mit knorrigen Stämmen und einer Ecke des blauen Himmels.
   Die zum Wechseln bestimmt gewesenen Pferde schweiften frei unter dem dichten Gewölbe des Waldes umher; die Tiere der so sonderbar gekleideten Büffeljäger streckten die Köpfe über die Palisaden, in denen sie eingeschlossen waren; endlich hatte auch Doña Rosarita ihren Reitanzug durch ein weißes Kleid ersetzt und glich darin einer weißen Blüte der Seerose. Alles bildete an den Ufern ein Gemälde, das ein Maler mit Vergnügen gezeichnet hätte.
   Die Büffeljäger standen im Begriff, ihr mühevolles Tagwerk in dem Augenblick zu beginnen, wo die Reisenden damit zu Ende waren; sie wollten ihre Pferde satteln, um weit vom Büffelsee die Ufer des Flusses nach ihrem gewaltigen Wild abzutreiben.
   »Nun, was gibt es, Oho?« sagte Encinas zu seiner Dogge, die abermals heulte. »Ist irgendein Indianer in der Nähe?«
   »Indianer?« rief Rosarita erschrocken. »Sind sie denn bis in diese Gegend gekommen?«
   »Nein, Señorita«, sagte Encinas, »es gibt keine Spur von ihnen in der Nähe, sofern sie nicht wie die Eichhörnchen oder die wilden Katzen von einem Gipfel eines Baumes auf den anderen gesprungen sind; aber dieser Hund …« Und der Büffeljäger verfolgte mit den Augen die Bewegungen Ohos, dessen Augen einen Augenblick rot wurden und dessen Haare sich sträubten; er machte wütend zwei oder drei Sprünge vorwärts, kehrte dann ruhiger zurück und legte sich immer noch knurrend ins Gras.
   Die Dogge heulte also nicht ohne Grund. Encinas beeilte sich nichtsdestoweniger, seine Zuhörer zu beruhigen. »Dieser Hund«, sagte er, »ist abgerichtet, mit den wilden Indianern zu kämpfen, und er wittert sie von weitem; er ist aber ruhig geworden, und das ist ein Zeichen, daß er einen Augenblick von seinem Instinkt getäuscht worden ist. Es bleibt uns jetzt nur noch übrig, von Euer Gnaden Abschied zu nehmen und Ihnen eine gute, glückliche Jagd zu wünschen.«
   Encinas schüttelte dem angehenden Vaquero die Hand, der ganz stolz darauf war, eine für die Indianer so unheilbringende Hand zu drücken, gürtete sein Pferd und war im Begriff, sich ebenso wie seine drei Gefährten in den Sattel zu schwingen. Unterdessen flüsterte Rosarita lebhaft ihrem Vater ins Ohr. Don Agustin zuckte anfänglich mit den Schultern; dann warf er auf das bittende Antlitz seiner Tochter einen zärtlichen Blick, lächelte und schien überzeugt.
   »Sagt mir, mein Freund«, sprach er laut zu Encinas als dem angesehensten Büffeljäger, »ich denke, Ihr habt schon manchen Kampf mit den wilden Indianern bestanden und kennt ihre Kriegslisten.«
   Der angehende Vaquero machte einen Sprung, der eine Menge von Dingen bezeichnete; unter anderem auch die Tatsache, daß sein Herr sich an niemand besser wenden könnte.
   »Es sind kaum fünf Tage her«, antwortete Encinas, »daß ich einen Kampf auf Leben und Tod mit diesen unversöhnlichen Feinden der Weißen bestanden habe.«
   »Du siehst, lieber Vater!« sagte Rosarita.
   »Und wo war das?« fragte Don Agustin.
   »Nicht weit vom Presidio von Tubac.«
   »Kaum zwanzig Meilen von hier!« fiel das erschrockene junge Mädchen ein.
   »Hier ist ein Kind«, sagte der Hacendero, dabei auf Doña Rosarita zeigend, »das seit acht Tagen, wo es im Wald zwei Indianern vom Stamm der Papagos begegnet ist …«
   »Oh, mein Vater«, unterbrach ihn das junge Mädchen, »zwei Papagos hätten niemals ein so unheimliches Gesicht gehabt; es war gewiß irgendeine Verkleidung; es waren Wölfe im Schafspelz, wie Don Vicente sagt.«
   »Don Vicente ist eine Memme wie du«, sagte der Hacendero lächelnd.
   »Wenn man den kostbarsten Schatz der Welt bei sich hat«, erwiderte der Senator galant, »so kann man wohl nie zu vorsichtig sein.«
   »Nun, meinetwegen«, sagte Don Agustin. Dann wandte er sich an den kräftigen Büffeljäger und sagte: »Wieviel verdient Ihr, alles in allem gerechnet, täglich bei Eurem gefährlichen Gewerbe?«
   »Das kommt darauf an«, antwortete Encinas. »Wir verdienen zuweilen viel an einem Tag; geht es schlecht, so gewinnen wir aber auch lange Tage hindurch gar nichts.«
   »So daß Ihr zuletzt …?«
   »Wir können täglich zwei Piaster verdienen, wenn wir eine Büffelhaut mit tadellosem Fell fünf Piaster rechnen.«
   »Wohlan! Wenn ich nun Euch und Euren drei Begleitern drei Piaster täglich gäbe, würdet Ihr dann einwilligen, die ganze Zeit über, die wir hier zubringen werden, bis zur Beendigung der Jagd bei uns zu bleiben?«
   Alle von Encinas‘ Gefährten waren dafür, den Vorschlag des Hacenderos anzunehmen.
   »Ich werde außerdem noch«, fügte er hinzu, »jedem von euch ein prächtiges Pferd unter denen auswählen lassen, die wir fangen werden.«
   »Bei Gott! Es ist ein Vergnügen, einem so freigebigen Señor, wie Ihr seid, zu dienen«, sagte Encinas.
   »Ich hoffe, mein Kind«, sagte Peña, »daß die Furcht dir nun die Freude nicht mehr vergiften wird, da wir achtundzwanzig Vaqueros und vier Jäger wie diese braven Männer hier, im ganzen also zweiunddreißig Verteidiger bei uns haben.«
   Statt aller Antwort umarmte Rosarita ihren Vater, und der Handel war zu jedermanns Zufriedenheit geschlossen. Da die Sonne jedoch nur noch eine kurze Strecke zu durchlaufen hatte, um hinter den hohen Wipfeln der Bäume zu verschwinden, so beschäftigte man sich mit den Vorbereitungen zur Jagd. Sie waren für diesen Tag noch sehr einfach und bestanden einzig und allein darin, die Pferde der Büffeljäger abzusatteln, die zum Wechseln bestimmten Pferde zusammenzuholen, sie im Corral einzupferchen und – mit Ausnahme der beiden Zelte – alles von den Zugängen zum See zu entfernen, was die wilden Pferde erschrecken konnte. Die Stunde rückte immer näher heran, wo die seit langer Zeit von ihrer Tränke und auch soviel wie möglich vom Ufer des Flusses zurückgehaltenen Tiere den Teich wahrscheinlich wieder aufsuchen würden.
   Don Agustin erkundigte sich bei seinen Vaqueros, ob seit den drei Tagen, wo die Umpfählung vollendet war, schon einige Pferde zur Tränke gekommen wären.
   »Nein, Señor«, antwortete einer von ihnen; »und doch durchstreift Jimenez mit fünf Mann schon die Ufer des Flusses, um sie von diesem fernzuhalten.«
   »Dann ist es wahrscheinlich«, sagte der Hacendero. »daß sich einige von diesen Tieren heute abend an ihre Tränke wagen werden.«
   Die halbgetrockneten Büffelhäute wurden von den Pfählen, auf denen sie hingen, herabgenommen; Zügel und Sättel, Packsättel und Flaschenfutter wurden an einen abgelegenen Ort getragen; dann wurden frische Zweige abgehauen, um mit ihrem saftigen Laub diejenigen zu bedecken, die die Sonne schon verwelkt hatte. Nur zwei Pferde wurden gesattelt; es waren die schnellsten, und sie wurden von denjenigen Vaqueros Don Agustins geritten, die durch ihre Geschicklichkeit im Werfen des Lassos mit dem fliegenden Knoten den größten Ruf hatten.
   Nun setzten sich der Senator, Don Agustin und seine Tochter auf die Schwelle des Zeltes, dessen Vorhang so niedergelassen wurde, daß sie von den unruhigen Augen der wilden Pferde nicht gesehen wurden, ohne doch selbst den See aus den Blicken zu verlieren. Die Vaqueros und die Büffeljäger stellten sich der Seite gegenüber, wo die Tiere, den zurückgelassenen Spuren nach zu urteilen, gewöhnlich zur Tränke gingen. Nur die beiden anderen Vaqueros bargen sich mit ihren Pferden im Corral in der Nähe der frei gebliebenen Öffnung, die nötigenfalls durch lange bewegliche Querstangen verschlossen werden konnte; so warteten die Jäger.
   Mit Ausnahme der Zelte der drei Reisenden schienen der See und seine Umgebung öde. Die Sonne war eben hinter den Bäumen verschwunden; lange purpurne Strahlen glänzten schon durch ihr Laub und röteten das Wasser des Sees. Die weißen Kelche der Seelilien färbten sich rosig, und die Vögel des Waldes begannen, als ob jede menschliche Spur verwischt wäre, überall ihre Abendlieder zu singen.
   Während solchen Wartens färbte die Ungeduld die bleichen Wangen Rosaritas wie die untergehende Sonne die Wasserlilien; plötzlich ließ sich fern im Wald ein dumpfes Krachen vernehmen. Anstatt aber wie der Donner der Lawine immer lauter zu werden – wie es der Fall ist, wenn zwei– bis dreihundert durstige Pferde zu ihrer Tränke stürzen, die jungen Bäume zertreten und die Erde unter ihren Hufen erzittern lassen —, hörte das ferne Geräusch plötzlich auf. Die wilde Herde hatte ohne Zweifel den fremdartigen Anblick der vom Fuß des Menschen betretenen Gegend bemerkt und stand von Schrecken ergriffen still. Nur einige wiehernde Laute klangen wie Trompetenstöße herüber in die Ohren der im Hinterhalt liegenden Jäger.
   Bald jedoch krachten die Gebüsche abermals, und ein halbes Dutzend Pferde zeigte kühner als die anderen am Saum der Lichtung die emporgerichteten Köpfe, die roten, offenen Nüstern und die blitzenden Augen. Die Mähnen wallten einen Augenblick unter den ungestümen Bewegungen hin und her, dann stürzten im Nu fünf von ihnen wieder zurück und verschwanden wie Blitze mitten im grünen Gürtel des Waldes.
   Ein einziger von den Rennern war, auf seinen Füßen zitternd, den Hals nach dem See hin ausgestreckt, stehengeblieben. Das Pferd war weiß wie der Schnee, mit glänzendem Schwanenhals; sein Rücken war rund, seine Brust breit. Ein Büschel von weißen Haaren lag auf seiner Stirn zwischen zwei wilden Augen; der Schweif fegte seine nervigen Fersen. Der Ausdruck wilder Majestät lag in seiner ganzen zugleich furchtsamen und stolzen Haltung.
   »Gott verzeihe mir«, sagte Encinas ganz leise dem Neuling ins Ohr, der seine Gründe gehabt hatte, seinen Beobachtungsposten an der Seite des Büffeljägers einzunehmen; »das ist der Weiße Renner der Prärien!«
   »Der Weiße Renner der Prärien?« wiederholte der angehende Vaquero. »Was ist das?«
   »Ein weißes Pferd wie das da«, antwortete Encinas, »dem man sich nur selten nähern kann; von dem diejenigen, die es zu weit verfolgen, nicht mehr reden können und das man noch niemals zu fangen vermocht hat.«
   »Bah, Ihr werdet mir doch das erzählen?«
   »Still! Erschreckt es nicht, aber schaut es mit Euren beiden Augen an; Ihr werdet niemals ein solches Tier wiedersehen.«
   Es war in der Tat schwer, ein schöneres Muster jener prächtigen, wilden Rasse zu sehen, die in gewissen Gegenden Mexikos so allgemein verbreitet ist. Kraft und eleganter Bau vereinigten sich bei ihm so vollständig, daß das Herz eines Reiters vor wilder Lust, es zu besitzen, klopfte.
   Einige Sätze brachten es in die Nähe des Sees, und diese Sprünge waren so geschmeidig, so leichtfüßig, daß es über das Gras wie eine weiße Nebelwolke hinzuschweben schien. Mit einem weiteren Satz sprang das edle Tier auf das steile Ufer und blieb hier in dem Augenblick bebend stehen, als der kristallene See wie ein Spiegel seinen stolzen, feinen Kopf und seine kleinen vorgestreckten Ohren zurückstrahlte; dann verlängerte es mit der ganzen Koketterie einer Nymphe, die sich allein glaubt, seinen Hals, um sich besser sehen zu können, und setzte vorsichtig seine beiden Vorderfüße ins Wasser. Diese Bewegung war noch so leicht, daß kein Schlamm die Durchsichtigkeit der Wasserfläche trübte, die ganz die stolze und wilde Schönheit seiner Formen zurückwarf.
   »Ah, Señor Encinas«, sagte der Neuling ganz leise, »jetzt oder niemals ist der Augenblick da, den Lasso nach ihm zu werfen.«
   »Ich bezweifle es, ich bezweifle es; demjenigen, der das Präriepferd fangen will, begegnet immer ein Unglück; denn, seht Ihr, es ist ganz gewiß, nur dieses allein ist so schön unter allen Pferden der Wälder.«
   Der Renner mit dem weißen Schwanenhals kniete im Wasser nieder, schnaubte dumpf über die Oberfläche hin und begann zu trinken, indem er von Zeit zu Zeit den Kopf emporhob und mit ängstlichen Augen die Tiefen des Waldes durchforschte.
   Die Jäger konnten bemerken, wie sich der Körper eines Vaqueros über die Palisaden erhob und dann auf den Hals seines Pferdes niederbog. Sein Gefährte machte es ebenso.
   Plötzlich machte das scheue Tier einen Sprung des Schreckens, wodurch eine Schaumwolke in die Luft geschleudert wurde; es schien aus dieser herauszuspringen und stürzte dann zum Ufer. Im selben Augenblick sprengte einer der Vaqueros darauf zu und ließ seinen Lasso um den Kopf kreisen. Der geflochtene Riemen pfiff durch die Luft– aber nicht, ohne daß das Pferd des Reiters bei einem zu raschen Sprung längs des steilen Abhangs ausgeglitten wäre. Reiter und Pferd überschlugen sich und rollten in den See.
   »Ich hatte es Euch gesagt!« rief der Büffeljäger, den dieses unvorhergesehene Ereignis in seinen abergläubischen Ansichten bestärkte. »Seht nur, wie der unnahbare Renner sich von der Schlinge losmacht.«
   Das Pferd schüttelte in der Tat seinen edlen Kopf und ließ seine lange Mähne auf der Flucht herabwallen. Der wilde Stolz des kühnen Tieres empörte sich bei der unreinen Berührung des durch die Hand des Menschen auf ihn geschleuderten Lassos, und bald hatte es ihn weit von sich geworfen und verließ den See auf dem entgegengesetzten Ufer.
   Aber schon war der zweite Vaquero ebenfalls den Spuren des Flüchtlings nachgesprengt. Einige Augenblicke hindurch fand ein wunderbarer Kampf an Gewandtheit und Geschicklichkeit zwischen dem wilden Pferd und dem ungestümen Reiter statt, der es mit dem Lasso in der Hand verfolgte. Nichts schien ihn aufhalten zu können; weder Baumstämme, an denen er sich scheinbar zerschmettern mußte, noch niedere Zweige, die ihm den Schädel zu spalten drohten. Wie ein gewandter Zentaur beseitigte der Vaquero alle diese anscheinend unüberwindlichen Hindernisse. Der Reiter legte sich bald ganz auf seinen Sattel, bald schwebte er an den Flanken seines Pferdes, bald hing er ganz unter dessen Bauch, während seine langen Sporen ihm wieder in Sattel halfen und er sich wie eine Schlange unter den Zweigen und durch die Baumstämme hindurchwand. Bald verschwanden das weiße Pferd und der Vaquero aus aller Augen.
   Alle Jäger sprangen mit einem Mal aus ihrem Hinterhalt hervor und stießen ermutigende und freudige Hurrarufe aus. Das Schauspiel, dem sie eben beigewohnt hatten, war für sich allein beinahe ebensoviel wert als der Fang von zwanzig wilden Pferden.
   Als der Vaquero, vom Wasser triefend und mit schlammbesudelten Kleidern, aus dem See herauskam, näherte sich ihm Encinas, um ihn zu trösten. »Ihr seid noch glücklich genug«, sagte er, »so wohlfeilen Kaufes davongekommen zu sein. Ich wollte, ich könnte das auch von Eurem Gefährten sagen; denn man sieht diejenigen nicht wieder zurückkommen, die den Weißen Renner der Prärien zu eifrig verfolgen.«


   60. Der Versicherer und der Versicherte

   Als sich die erste Verwirrung gelegt hatte, schickte Don Agustin vier von den am Büffelsee lagernden Vaqueros mit dem Befehl an die vier Wald und Ebene abtreibenden Trupps ab, den Kreis, den sie um die Tränke gezogen hatten, in der nächsten Nacht zu verengen. Man zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß sich die Herde von Pferden, die man fangen wollte, in der Nähe befinde, und morgen um dieselbe Stunde glaubte man zum Ziel zu gelangen.
   Als die vier Reiter aufgebrochen waren, um den erhaltenen Befehl auszuführen, beschäftigten sich die bei Don Agustin zurückgebliebenen Diener damit, das zum Feuer nötige Holz abzuhauen, mit dem man die Abendmahlzeit bereitete und das die Nacht hindurch das Lager erleuchten sollte. Die Büffeljäger halfen den Vaqueros Don Agustins – Encinas ausgenommen, mit dem sich Doña Rosarita einen Augenblick zu unterhalten wünschte, während ihr Vater und der Senator allein auf und ab gingen und ohne Zweifel ihre Pläne für die Zukunft besprachen.
   Das junge Mädchen saß am Ufer des Sees und entblätterte mit zerstreuter Hand die Blüten der Wasserlilien, die der Senator für sie gepflückt hatte. Ein frischer Wind kräuselte die ruhige Fläche des Sees, auf den sie träumerisch ihre Blicke warf. Weiß und geschmeidig wie eine Undine träumte Rosarita, während ihr der Büffeljäger von den Gefahren erzählte, die den einsamen Reisenden in der Steppe umringen. Sie dachte aber nicht an ihre eigenen; alle ihre Gedanken waren vielmehr auf den jungen Mann gerichtet, der sich in der Nacht so plötzlich entfernt hatte und von dem sie seit vierzehn Tagen nicht hatte reden hören. Auf einige schüchterne Erkundigungen, die sie einzog, hatte sie die Antwort erhalten, daß weder auf der Straße nach Guaymas noch auf der nach Arizpe der Adoptivsohn von Arellanos gesehen worden sei. Ein Vaquero hatte seine Hütte verlassen gefunden und keine Spur seiner Rückkehr an dem Ort gesehen, wo seine Jugend verflossen war. Er hatte also nur den Weg nach Tubac einschlagen können; und gerade bei Tubac begannen die Gefahren, von denen sie für Tiburcio fürchtete. Encinas kam vom Presidio, und das junge Mädchen hoffte, durch ihn vielleicht einige Nachrichten von dem zu erhalten, mit dem ihre Erinnerung sich unaufhörlich beschäftigt hatte.
   Die Dämmerung breitete sich schon düster über die Oberfläche des Sees, der den von der untergehenden Sonne rotgefärbten Himmel zurückstrahlte. Es war die Stunde, wo die feuchten Dünste des Sees sich über dem Wald verdichten und die Vögel aufhören, dem Tag Abschiedslieder zuzusingen. Der Abendwind murmelte unbestimmte Klänge in Rosaritas Ohr, die bis zu ihrem Herzen drangen, und das Herz sandte dem Ohr Melodien zurück, die so sanft und schwermütig waren wie der Abendwind. Sie hörte die Stimme des Windes, ohne zu zittern, aber sie fühlte sich verwirrt und zitterte bei den Antworten, die ihr Herz dem sanften Hauch der Abendluft gab. Rosarita liebte, und die plötzlich erwachten Gefühle der Tochter des tropischen Himmels vereinigten ihr erstes, geheimnisvolles Flüstern mit der Aufregung ihres Herzens. So hörte sie kaum auf die Erzählungen des Büffeljägers, der von seinen Kämpfen mit den Indianern sprach – als sie ihn plötzlich mit dem Ruf des Schreckens unterbrach, worauf Don Agustin, der Senator und einige der Leute herbeieilten. Rosarita blickte bleichen Antlitzes nach einer Richtung, die sie gleichzeitig mit dem Finger andeutete, und die Figur, auf die sie wies, war wirklich derart, daß ihr Schrecken gerechtfertigt war. Unter dem Laubdach, das sich über dem düsteren Kanal wölbte, in den sich die Gewässer des Sees verloren, näherte sich vorsichtig ein menschliches Wesen. An seinem schrecklichen und sonderbaren Kopfputz, an den Malereien seines Gesichts und seines Körpers, an den Tätowierungen konnte man den Indianer nicht verkennen.
   Selbst Encinas teilte einen Augenblick die mit Schrecken gemischte Bestürzung der Zeugen dieser fremdartigen Erscheinung. Bald aber beruhigte er mit einem Wink Don Agustin, der sich schon den am Eingang des Zeltes aufgehängten Waffen näherte, den Senator, den der Schrecken an seinen Platz fesselte, und das junge Mädchen selbst. »Es ist nichts!« sagte der Büffeljäger. »Es ist ein Freund von einem in der Tat schrecklichen Aussehen; es ist derjenige, dem ich so sehr zu Dank verpflichtet bin, wie ich es eben der Señorita erzählte.« Um einen letzten Rest von Mißtrauen bei seinen Zuhörern vollends zu verscheuchen, näherte sich Encinas ruhig dem Indianer. Dieser hatte übrigens beim Anblick der am Ufer sitzenden Personen die Büchse, die er in der Hand hatte, über die Schulter geworfen. Er ging um den Teich herum, um bis zu dem Büffeljäger zu gelangen.
   Er war ein junger Krieger mit eleganten, nervigen Körperformen und elastischem, stolzem Schritt. Seine breiten Schultern und die starke Brust waren nackt; um seine engen, gerundeten Hüften schlang sich eine feine Zarapa aus »Santillo« in glänzenden, verschiedenartigen Farben. Gamaschen aus scharlachrotem Tuch bedeckten seine Unterschenkel; aus Pferdehaar gestickte Kniebänder und merkwürdig aus Borsten des Stachelschweins gearbeitete Eicheln umschlossen diese Gamaschen über den Knöcheln; endlich waren die Füße des Indianers noch mit Halbstiefeln von einer nicht weniger kunstreichen Arbeit als die Kniebänder bekleidet. Sein Kopf war – mit Ausnahme eines Büschels kurzer Haare, der wie ein Helmbusch aussah – ganz geschoren und mit einem sonderbaren Schmuck bedeckt. Es war dies eine Art schmalen Turbans, aus zwei malerisch um seine Stirn gewundenen Tüchern bestehend. Die trockene, glänzende Haut einer ungeheuren Klapperschlange wand sich durch die Falten des Turbans, und der noch mit den Klappern versehene Schwanz und der Kopf mit seinen spitzen Zähnen hingen an jeder Seite seiner Schultern herab.
   Wenn man sein Gesicht von den Malereien, die dessen Regelmäßigkeit und Anmut arg entstellten, befreit hätte, so würde es vollständig Encinas Lob gerechtfertigt haben. Die römische Nase des jungen Kriegers, seine hohe Stirn, auf der Mut und Biederkeit thronten, sein feiner und kühn geschnittener Mund, endlich seine Wangen, deren fast unmerkliches Hervortreten die Harmonie der Züge nicht störte – dies alles schien in florentinischer Lage nach irgendeinem antiken Brustbild von tadellosen Umrissen von der Natur geschaffen zu sein.
   Der junge Krieger näherte sich, selbst sorglos und ruhig, und schien den Schrecken nicht sehen zu wollen, den er einflößte; doch heftete er einen Augenblick lang einen erstaunten und zugleich bewundernden Blick auf Rosaritas Gesicht, das bleich war wie der weiße Musselin ihres Kleides.
   Die Turteltaube, die keinen Anstand nimmt, sich unter die spitzen Dornen des Nopals zu flüchten, um dem auf sie herabstürzenden Habicht zu entgehen, zittert nicht mehr als Rosarita, die sich vor Schrecken an den Büffeljäger drängte. Die Turteltaube ist aber auch nicht anmutiger als sie; und der bezauberte Indianer ließ seine glühenden Augen auf der Tochter Don Agustins ruhen und antwortete auf Encinas fragende Blicke nur durch die beiden folgenden Fragen, die die ganze orientalische Übertreibung der indianischen Sprache an sich trugen. »Ist heute morgen Schnee gefallen an den Ufern des Sees?« sagte er. »Oder wachsen die Wasserlilien jetzt im Gras der Wälder?«
   Wir wissen nicht, ob der junge Krieger in den Augen des jungen Mädchens immer noch so häßlich schien; so viel können wir indessen mit Gewißheit sagen, daß sie sich nicht mehr an den Büffeljäger drängte.
   Indessen waren die Besorgnisse dieses letzteren noch nicht ganz und gar beseitigt, und er antwortete auf die galanten, übertreibenden Fragen seinerseits nur dadurch, daß er Fragen anderer Art an ihn richtete. »Was heißt das?« fragte ihn Encinas auf spanisch. »Bringt der Komantsche mir eine böse Nachricht, und glaubte er sich in Feindesland zu befinden, daß er sich mit der Büchse in der Hand nähert, als wäre er auf den Spuren eines Apachen?« Diese Frage hatte Encinas auch zu dem Zweck gestellt, Rosarita über die Absichten des Indianers – besonders über die eigenartige Weise, in der er sich vorgestellt hatte – dadurch zu beruhigen, daß er ihn nötigte, eine bestimmte Erklärung zu geben. Rayon-Brûlant lächelte mit Verachtung. »Ein Komantschenkrieger verfolgt die Apachen nur mit der Peitsche in der Hand!« sagte er. »Nein; der Komantsche hat nicht weit von hier die Spuren von Büffeln gesehen, und er hoffte, sie hier zu überraschen, wenn sie am Wasser dieses Sees ihren Durst löschten.« Encinas hatte nicht vergessen, daß der Indianer ihm versprochen hatte, die Spuren der beiden Piraten der Prärien zu verfolgen, und er wußte auch, daß der junge Krieger nicht der Mann war, auf seinen Plan zu verzichten.
   »Habt Ihr nichts weiter gesehen?« fügte der Büffeljäger hinzu.
   »Unter den Spuren der Weißen habe ich auch die von Main-Rouge und von Sang-Mélé unterschieden und bin gekommen, Freunde zu warnen, damit sie auf ihrer Hut sind.«
   »Wie? Diese Schelme sind noch hier?« rief der Jäger mit Besorgnis.
   »Was sagte er?« fragte der Hacendero.
   »Nichts Besonderes, Señor Peña«, antwortete Encinas. – »Erratet Ihr wohl«, fragte er den Komantschen. »in welcher Absicht Main-Rouge und Sang-Mélé in diese Gegend gekommen sind?«
   Der junge Komantschenkrieger musterte schweigend alle um den See gruppierten Personen. Seine Augen blieben abermals wohlgefällig auf Dona Rosarita haften, die am Arm ihres Vaters hing. »Die Blume des Sees, die weiß ist wie der erste Schnee«, sagte er ernst. »Glaubt Ihr?« fragte Encinas.
   »Wenn die Augen Rayon-Brûlants«, antwortete der junge Wilde, »nicht voll von dem Bild der Frau wären, die seine Hütte bewacht, so würden sie von dem Glanz derjenigen geblendet werden, die eine Wohnung besitzt, die aus einem Stück Himmel besteht. Es ist eine ihrer würdige Wohnung; Sang-Mélé will die Blume des Sees für sich.« Diese poetische Anspielung auf die Schönheit Rosaritas und auf die blaue Farbe ihres seidenen Zelts waren mit der Leichtigkeit und Ungezwungenheit eines Hofmannes mit vornehmer Haltung gesprochen, und die Tochter Don Agustins errötete schweigend unter dem Flammenblick des Sohnes der Wälder.
   »Habt Ihr nicht zwei Krieger bei Euch?« fragte Encinas.
   »Alle beide sind wieder zu ihrem Stamm zurückgekehrt; Rayon-Brûlant ist allein, aber er hat geschworen, den Tod derer zu rächen, die sich seinem Wort anvertraut hatten; er wird auch über die Blume des Sees wachen – ebenso mein Bruder.«
   Nun kehrte Rayon-Brûlant, zufrieden damit, seine Freunde gewarnt zu haben, allein auf die Spuren zurück, die er einen Augenblick verlassen hatte. Der junge Komantsche sprach diese Worte mit einem Ausdruck voller Einfachheit, reichte dem Büffeljäger die Hand und entfernte sich, nachdem er abermals einen Blick naiver Bewunderung auf Rosarita geworfen hatte, und ebenso schweigsam, wie er gekommen war, ohne daß er anscheinend eine besondere Heldentat dadurch zu verrichten glaubte, daß er allein der Spur der beiden furchtbaren Banditen folgte. Der Leser weiß jedoch, ob einiger Mut dazu gehörte, sich an sie zu wagen.
   Als der Indianer hinter den Bäumen am äußersten Ende des Sees verschwunden war, fragte der Senator nicht ohne ein geheimes Gefühl von Eifersucht: »Was meinte der junge Wilde mit seiner blumenreichen Rede?«
   »Euer Gnaden wissen, daß die Indianer nur in Gleichnissen sprechen«, antwortete Encinas; »er hat uns jedoch damit nicht weniger treu die Anwesenheit zweier Taugenichtse angezeigt, die für zwei oder drei einzelne Reisende eine ernstliche Gefahr sein würden, die aber dreißig Männer, die sich hier oben in der Umgebung befinden, nicht erreichen können.«
   Darauf erklärte er dem Hacendero das wenige, was er über die beiden Piraten der Steppe wußte.
   Don Agustin war ein Mann, dessen Jugend im Kampf mit Indianern verflossen war, und sein kriegerischer Stolz hatte mit den Jahren nicht abgenommen. »Und wären es auch zehn«, sagte er; »es wäre eine Schande, sich wegen solcher Schelme Sorgen zu machen oder seine Vergnügungen ihretwegen zu unterbrechen. Übrigens sind wir, wie Ihr richtig bemerkt habt, zu zahlreich, um etwas fürchten zu müssen.«
   »Ich erkläre mir jetzt Ohos Bellen«, erwiderte der Büffeljäger. »Er hatte die Feinde und die Freunde gewittert. Seht, er hat bei der Annäherung dieses jungen edlen Kriegers keinen Laut von sich gegeben. Ihr könnt Euch auf seinen Instinkt verlassen!«
   Ehe jedoch die Nacht gänzlich einbrach, nahm Encinas seine Büchse, pfiff seiner treuen, tapferen Dogge und entfernte sich mit ihr, die Umgebung des Büffelsees zu durchstreifen. Don Agustin war trotzdem nicht ohne Besorgnis und ließ das Zelt seiner Tochter und sein eigenes mitten in der Lichtung unter den für das Nachtlager angezündeten Feuern aufschlagen.
   Encinas‘ Gefährten und die Vaqueros hatten ihre Abendmahlzeit beinahe beendet, als dieser zurückkehrte; er hatte nichts gesehen, was irgend Unruhe hätte erregen können, und sein Bericht stellte eine vollständige Sicherheit bei den Herren und den Dienern wieder her. Während die ersteren ein kaltes Abendessen aus den Reisevorräten zu sich nahmen, lagerten die anderen in einiger Entfernung in Gruppen um ihr Feuer und unterhielten sich mit leiser Stimme von den Ereignissen des Tages. Der kräftige Büffeljäger setzte sich zu ihnen. Die Feuer warfen einen langen Schein unter die ersten Bäume des Waldes und strahlten von der Wasserfläche zurück. Der rötliche Schimmer verlieh dem malerischen Anzug der Vaqueros und der Büffeljäger einen seltsamen Reiz.
   »Ich habe Euch etwas zum Abendessen aufbewahrt«, sagte der Neuling zu Encinas; »denn es ist doch gerecht, daß jeder seinen Teil bekommt, und besonders Ihr, der Ihr so prächtige Geschichten erzählt.«
   Encinas dankte dem angehenden Vaquero für seine zuvorkommende Aufmerksamkeit und fing tüchtig an zu essen, jedoch mit ebensoviel Schweigsamkeit wie Appetit, so daß der letztere dabei nicht auf seine Kosten kam.
   »Ihr habt also nichts Neues in der Umgebung gesehen?« fragte er, um ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen.
   Der Jäger machte ein verneinendes Zeichen, aber er öffnete den Mund nur zum Essen.
   »All dies verhindert nicht«, sagte der junge Mann abermals, »daß Francisco noch nicht von seiner Jagd auf den Weißen Renner der Prärien zurück ist.«
   »Der Weiße Renner der Prärien?« fragte einer der Vaqueros. »Was ist das für ein Tier?«
   »Ein prächtiges Tier!« antwortete der Anfänger. »Aber wahrhaftig, ich weiß nichts weiter von ihm, Señor Encinas wird es Euch erzählen.«
   »Ihr habt es doch wahrlich gesehen!« erwiderte der Büffeljäger. »Ihr habt es verfolgen wollen und Euch beinahe den Hals dabei gebrochen. Das geht immer so; ich habe es Euch gesagt!«
   »Wenn mein Pferd nicht zu hitzig gewesen wäre, so würde es nicht ausgeglitten sein, und wäre es nicht ausgeglitten …«
   »So wärt Ihr nicht gestürzt. Aber Euer Tier ist ausgeglitten, und so mußte es kommen.«
   »Bah, das ist mir wohl schon mit anderen auch begegnet. Das Wichtigste für die Ehre eines Vaqueros ist, nur mit seinem Pferd zu stürzen.«
   »Das ist wahr; wenn Ihr aber wie ich die Prärien des Westens kennengelernt hättet«, fuhr Encinas ernst fort, »so würdet Ihr auch wissen, daß man dort von Zeit zu Zeit einem weißen Pferd begegnet, das so schön ist, daß man seinesgleichen nicht sieht, und so schnell, daß es im Trab rascher vorwärts kommt als ein anderes im vollen Lauf. Ich fordere Euch auf, mir zu sagen, ob Ihr jemals ein prachtvolleres und leichtfüßigeres Tier gesehen habt als das weiße Pferd heute abend?«
   »Nein, ich gebe es zu«, antwortete der Vaquero.
   »Nun gut; dieses Pferd ist ohne Zweifel dasjenige, das man den Weißen Renner der Prärien nennt.«
   »Ich für meine Person glaube es gewiß!« rief der Neuling mit tiefer Überzeugung.
   »Nun, was ist denn Besonderes an diesem Pferd?« fragte der Vaquero.
   »Zuerst seine unvergleichliche Schönheit, dann seine Schnelligkeit ohnegleichen und zuletzt … Laßt doch sehen; wie alt meint Ihr wohl, daß es ist?«
   »Dieses Pferd muß noch sehr jung sein!« riefen alle einstimmig aus.
   »Darin täuscht ihr euch eben«, erwiderte Encinas ernst. »Dieses weiße Pferd ist etwa fünfhundert Jahre alt.« Ein allgemeiner Ausruf erscholl auf diese Behauptung des Büffeljägers.
   »Es ist so, wie ich die Ehre habe, euch zu sagen«, erwiderte er mit einer Sicherheit, die seine Zuhörer fast überzeugte.
   »Aber ich habe, glaube ich, sagen hören«, warf ein Vaquero ein, »daß es noch keine dreihundert Jahre her ist, daß die Spanier Pferde nach Amerika gebracht haben.«
   »Bah«, sagte der Neuling, »zweihundert Jahre mehr oder weniger, was tut das? Dreihundert Jahre, das ist schon ganz artig.«
   »Und dann«, fuhr Encinas fort, den der Einwurf des Vaqueros nicht außer Fassung gebracht hatte: »Glaubt ihr denn, daß dieses Pferd von einer Stute abstammt? Es gibt sich selbst nicht mit den Stuten ab, weil es das einzige seiner Art ist und sich nicht wieder fortpflanzen kann!«
   Die Menschen in allen Ländern sind von Natur dazu geneigt, an das Wunderbare zu glauben – und besonders diejenigen, die in der Einöde leben, wo die menschliche Schwachheit der Natur gegenüber sich lebhafter fühlbar macht als in den Städten —, und Encinas‘ Zuhörer baten diesen, ihnen doch alle Einzelheiten von dem Weißen Renner der Prärien, die etwa zu seiner Kenntnis gekommen sein möchten, zu erzählen. »Alles, was ich euch sagen kann«, fuhr der Büffeljäger fort, »ist, daß seit langen Jahren alle Vaqueros in Mexiko vergebliche Versuche gemacht haben, es zu fangen; daß die Hufe dieses Tieres härter sind als Feuerstein; daß man es bald aus den Augen verliert, wenn man es von weitem verfolgt, und daß, wenn man es zu nahe verfolgt, man niemand wiedersieht, was gerade so viel ist, als daß niemand euch wiedersieht. Ich weiß etwas davon.«
   »Habt Ihr es etwa selbst verfolgt?« rief der Anfänger aus.
   »Ich nicht; wohl aber ein Jäger aus Texas, der es mir erzählt hat.«
   »Und Ihr werdet es uns ebenfalls erzählen!« rief eiligst der Neuling, indem er sich die Hände rieb. »Heda, Sanchez, reicht doch Senor Encinas einen Schluck Branntwein her! Es geht nichts darüber, um das Gedächtnis aufzufrischen!«
   »Dieser junge Mann hat ganz prächtige Einfälle!« rief der Jäger aus. »Ich will euch also erzählen, was ich weiß.
   Ein wahrhaftig merkwürdiges Original von einem Engländer reiste mit einer Art von Vormund, der nicht weniger Sonderling war als er, durch Mexiko und hatte diesem Jäger tausend Piaster geboten, wenn er ihm den Weißen Renner, von dem er hatte reden hören, herbeischaffen könnte. Man wollte dem Texaner von einem in der Ausführung so gefährlichen Plan abreden; aber er bestand dessenungeachtet auf seinem Vorsatz und suchte das schnellste und kräftigste Pferd unter denen, die er kannte, zu bekommen. Als er es hatte, erkundigte er sich nach dem Weg, den er einschlagen mußte, um den Lieblingsaufenthalt des Weißen Renners zu finden. Ihr müßt nun wissen, daß dieser mehrere hat: gegen alle Gewohnheit der Pferde, die in der Gegend, die sie besonders lieb haben, leben und sterben. Der Jäger brach auf und bemerkte, nachdem er einige Tage gesucht hatte, das Tier, von dem wir sprechen – ich muß euch noch sagen, daß es so leichtfüßig ist, daß man es am folgenden Tag hundert Meilen von dem Ort entfernt sieht, wo man es am Tag vorher gesehen hat. Der Texaner hatte ein Pferd von außerordentlicher Schnelligkeit; er glaubte, wie ich euch eben gesagt habe, wenig an die Furcht, die man ihm vor dem Weißen Renner hatte einflößen wollen, und hoffte, die versprochene Summe zu verdienen. Sobald er also das Tier, nach dem er suchte, bemerkt hatte, verfolgte er es mit geschwungenem Lasso, setzte über Abgründe, sprang über Felsen, flog durch die weite Ebene, denn sein Pferd war schnell wie der Wind, und der Weiße Renner verlor mit jedem Augenblick ein wenig von seinem Vorsprung. Dies geschah aber nicht deshalb, weil seine Kraft nachzulassen schien, versicherte mir der Texaner, sondern es kam daher, daß der Weiße Renner jeden Augenblick den Kopf nach ihm umwandte und so eine Zeit verlor, die der Reiter nur zu seiner Verfolgung benützte. Seine Kräfte waren weit davon entfernt, abzunehmen, sie schienen sich vielmehr zu verdoppeln. In der Tat: In dem Maße, als sein Pferd müde wird, erlischt sein Auge, und hier schienen sich die Augen des Weißen Renners, die unter dem Büschel auf der Stirn und der weißen Mähne funkelten, von Minute zu Minute immer mehr zu entflammen. Demnach wurde die Entfernung immer geringer, obgleich seine Augen lebhaftere Blitze schleuderten und im Verhältnis, als der Tag sich neigte und der Raum zwischen dem Weißen Renner und dem Jäger sich verminderte, die Augensterne des Tieres immer blitzender wurden. Das war jedoch nicht die einzige beunruhigende Tatsache, die der Texaner bemerkte, der, um Mut zu bekommen, sich einen hübschen Beutel mit tausend Piastern vorstellen mußte, die ebenfalls in tausendfachem Feuer erglänzten. Die Nacht war angebrochen, ohne daß er dem Renner so nahe gekommen wäre, um den Lasso nach ihm zu werfen, und der Texaner war sehr erstaunt, als er sah, daß die Hufe des weißen Pferdes – das jedoch nicht beschlagen war – im Galopp auf einem steinigen Boden bei jedem Schritt lange Streifen von Funken sprühen ließen, so daß, als die Nacht noch dunkler wurde, es nur mit Hilfe dieses sonderbaren Lichtschimmers möglich war, das Pferd nicht aus den Augen zu verlieren. Obgleich der Texaner es sich nicht erklären konnte, wie die Hufe aus Horn Funken hervorbringen könnten, wie die Augen des Pferdes einen so sonderbaren Glanz verbreiten …«
   Ohos Bellen unterbrach in diesem Augenblick die Erzählung des Büffeljägers zum großen Mißbehagen seiner Zuhörer. Die Dogge legte sich jedoch bald wieder beim Feuer nieder, wo sie ebenso aufmerksam auf Encinas‘ Erzählung zu lauschen schien wie die Vaqueros selbst; und da Oho gewiß nicht die Nähe eines Indianers andeutete, so fuhr Encinas in seiner Erzählung fort.
   »Der Texaner konnte sich also die Ursache dieser Funken und dieses Glanzes nicht erklären; da er aber zu gut bezahlt wurde, um sich lange zu fürchten, so verfolgte er den Weißen Renner nur um so eifriger und hatte die Genugtuung, zu bemerken, daß dessen Schnelligkeit merklich abnahm. Dann sah er ihn plötzlich stillstehen, schnauben, wiehern und den Hals nach dem Horizont ausstrecken. Der Texaner ließ sein Pferd die Sporen fühlen, das auch anfing, langsamer zu werden, und stürzte sich mit dem Lasso in der Hand auf den Weißen Renner.
   Plötzlich löste sich die Schleife des fliegenden Knotens in der Luft auf, und der Texaner ließ nur noch eine gerade Schnur, die nichts mehr umschlingen konnte, um seinen Kopf kreisen. Nichtsdestoweniger war sein Pferd vorwärts gespornt, ohne daß er daran gedacht hätte, es zurückzuhalten; dann befand er sich so nahe bei dem Weißen Renner, daß er ihn fast hätte berühren können, wenn er die Hand ausstreckte.
   Der Texaner fluchte wie ein Heide, als er fühlte, daß der Lasso in seinen Händen nutzlos sei; seine Klagen dauerten nicht lange. Der Weiße Renner schlug aus und traf das Pferd des Reiters mit solcher Gewalt mitten auf die Brust, daß beide sich überschlugen und übereinanderrollten – wie Ihr eben in den See«, fügte Encinas hinzu, indem er sich an den Vaquero wandte, der seine Kleider trocknen ließ. »Und als der Texaner sich wieder erhob, war der Weiße Renner verschwunden. Was das Pferd des Vaqueros anbelangt, so erhob es sich nicht wieder – die ehernen Hufe des plötzlich unsichtbar gewordenen Tieres hatten ihm die Brust eingeschlagen, und das war ein Glück für den Texaner, denn ein Schritt weiter, und er wäre in eine bodenlose Schlucht gestürzt, an deren Rand der Weiße Renner stehengeblieben war. Ich begegnete dem Mann, als er zu Fuß von seiner Jagd zurückkehrte«, schloß der Erzähler, »und er erzählte mir, was ihr eben gehört habt.«
   Diese Geschichte, die in einem gewissen Teil eine unbestreitbare Wahrscheinlichkeit an sich trug, fand keinen einzigen Ungläubigen in dem ganzen Kreis der noch halbwilden Männer, die sich um Encinas gruppiert hatten.
   »Ihr seht also«, sagte der Neuling, indem er als erster ein Schweigen unterbrach, das mehrere Minuten gedauert hatte und in dem das Knistern des Feuers sich allein in der Stille des Waldes hören ließ, »daß den armen Francisco ein Unglück treffen wird, weil er diesen wunderbaren Renner verfolgt, der mit seinen fünfhundert Jahren noch so jung erscheint!«
   »Ich fürchte es«, antwortete der Büffeljäger, den Kopf schüttelnd; »sofern ich mich nicht getäuscht habe und das prächtige Pferd, das wir alle gesehen haben, nicht wirklich der Weiße Renner der Prärien ist.«
   »Gewiß; nur er kann es sein!« antworteten alle Vaqueros, die ganz entzückt waren, später einmal versichern zu können, daß sie in ihrem Leben einst dieses wunderbare Tier, das in den Prärien schon märchenhaft geworden war, getroffen hatten.
   Encinas‘ Zuhörer wollten sich eben nach seinem Beispiel um das Feuer herum ausstrecken und schlafen – denn ihre Herrschaften hatten sich schon seit langer Zeit in ihre Zelte zurückgezogen —, als die Stimme der Dogge sich abermals hören ließ.
   »Gewiß irgendein Reisender«, sagte Encinas, indem er sich auf seinem Ellbogen erhob und gleichgültig genug um sich blickte, um glauben zu machen, daß er seiner Sache ganz sicher sei.
   Wenige Minuten nachher kamen an der Stelle, wo das Licht des Feuers nicht mehr hindrang, zwei Männer zu Pferd aus dem Wald in die Lichtung.
   Derjenige von den Reisenden, der vorausritt, hielt sein Pferd an und schien mit Überraschung das sonderbare Gemälde zu betrachten, das der Büffelsee, die an seinen Ufern errichteten Zelte, der Widerschein der auf der schwarzen Wasseroberfläche zitternden Feuer und die wilden Reiter darboten, die an den Feuern lagen, halb auf der einen Seite im Schatten begraben, auf der anderen Seite von einem roten Glanz umgeben.
   Der zweite Reisende trug in der Hand eine lange Büchse und hielt mit der anderen ein Pferd am Zügel, das mit einigem leichten Gepäck beladen war, auch zwei kleine lederne Felleisen an jeder Seite des Packsattels, ein Reisezelt und eine Schachtel trug, die ebensogut zur Aufbewahrung von Pflanzen dienen oder auch einen Farbenkasten darstellen konnte.
   Während der erste Reisende sich nur damit zu beschäftigen schien, die malerische Seite der Szene, die er plötzlich vor sich sah, zu betrachten, schien der zweite den Auftrag zu haben, dessen wirkliche Seite ins Auge zu fassen.
   »Tut Eure Pflicht!« sagte der erste zum zweiten in englischer Sprache.
   »Meine Pflicht ist vollkommen getan«, erwiderte dieser letztere; Euer Gnaden sind hier in vollkommener Sicherheit.« Mit diesen Worten lenkte er sein Pferd zu den Schläfern, nachdem er seine Büchse wieder auf die Schulter geworfen hatte, und bat nach dem in der Steppe herrschenden Brauch in ziemlich schlechtem Spanisch die Besitzer der Lagerstelle um Erlaubnis, am gemeinschaftlichen Feuer Platz nehmen zu dürfen. Dies wurde ihm mit der bei den Mexikanern aller Klassen gewöhnlichen Höflichkeit bewilligt.
   Während er abstieg und sich damit beschäftigte, das Packpferd abzuladen, näherte sich schweigend der bis jetzt zurückgebliebene Reisende, nickte den Vaqueros und den Büffeljägern, die ihn ihrerseits aufmerksam betrachteten, einen flüchtigen Gruß zu und stieg vom Pferd, ohne den Mund zu öffnen. Seine ausgezeichnete Haltung ausgenommen, hatte er sonst nichts Auffallendes in seiner Persönlichkeit. Sein Anzug war derjenige der Mexikaner in seiner ganzen Vollständigkeit, und die Dunkelheit verbarg seine Züge. Erst als er sich seines Hutes bediente, um sich Kühlung zuzufächeln, konnte man sein Gesicht sehen, das einen stark ausgeprägten englischen Charakter hatte.
   Der Anzug seines Begleiters war gänzlich von dem seinigen verschieden, und die jetzt in Texas so zahlreichen amerikanischen Jäger hatten allein darin eine vollständige Ähnlichkeit mit ihm. Er war mit einem olivenfarbigen Jagdkittel aus ziemlich roh gegerbter Hirschhaut und mit langen Gamaschen aus gelbem Leder bekleidet. Er war von mittlerer Größe, etwa fünfzig Jahre alt, wie sein halb kahler Kopf und einige Büschel Haare, die auf seinen Hemdkragen herabfielen, andeuteten. Seine Glieder schienen die Kraft des Eisens zu besitzen, und seine Haare hatten die graue Farbe des Alters. Ein Hirschfänger hing in einem Wehrgehänge, ein Pulverhorn und ein breiter, sonderbar gefalteter Filzhut vervollständigten einen Anzug, den die anderen – mit Ausnahme der Büffeljäger – zum erstenmal sahen. Obgleich er offenbar unter den Befehlen seines Reisegefährten zu stehen schien, so beschäftigte sich doch der Amerikaner durchaus nicht mit dem Pferd des letzteren, das dieser selbst absattelte und abzäumte.
   Als der Engländer dieses Geschäft, das er mit der unerschütterlichsten Schweigsamkeit vollzog, beendet hatte, hob er einen neben seiner Reisetasche auf die Erde geworfenen Gegenstand auf, zeigte ihn den Vaqueros und sagte: »Sollte dieser Hut etwa zufällig einem von euch gehören?«
   »Ja«, antwortete einer von den Mexikanern bestürzt; »es ist der Hut, den Francisco noch vor einigen Stunden trug!«
   Der Hut ging von Hand zu Hand, und alle erkannten ihn als den Hut des Vaqueros, dessen Rückkehr sie erwarteten oder vielmehr nicht mehr erwarteten.
   »Habe ich es euch nicht gesagt?« rief Encinas. »Ergreift das Verhängnis nicht den, der den Weißen Renner der Prärien zu nahe verfolgt?«
   Dieses letztere Ereignis hätte allein schon im Geist der Zuhörer des Büffeljägers vollends einen starken und unerschütterlichen Glauben an seine Erzählung geweckt, wenn nicht noch der Engländer beim Namen des Weißen Renners ausgerufen hätte: »Den gerade verfolge ich von Texas an bis hierher! Habt ihr ihn gesehen?«
   »Er ist heute abend an den See, den Ihr ganz in der Nähe seht, zur Tränke gekommen. Seid Ihr es etwa, der einem texanischen Vaquero tausend Piaster geboten hat, wenn er ihn herbeischafft?« fragte Encinas.
   »Ganz recht; und ich biete sie noch jetzt demjenigen an, der ihn fangen wird; denn ich habe geschworen, nicht ohne diesen wunderbaren Renner in mein Vaterland zurückzukehren. Laßt hören – ist jemand unter euch, der Lust hat, die versprochene Belohnung zu verdienen?«
   Die Vaqueros schüttelten den Kopf, und nicht einer von ihnen erhob sich, um seinen Namen zu nennen.
   »Man weiß zu gut, was es besagen will, um den Versuch zu machen, ein Pferd einzufangen, dessen unbeschlagene Hufe aus den Kieseln der Ebene Funken schlagen«, warf der Neuling ein.
   Der Engländer zuckte die Schultern und antwortete nichts.
   »Senor Fremder«, sagte Encinas, »es gibt keinen unter uns, der nicht täglich sein Leben für einige Piaster bei Unternehmungen aufs Spiel setzen würde, die der Mensch zu einem guten Ende führen kann; nicht aber bei solchen, wo Kühnheit an einer übernatürlichen Macht scheitert.«
   »Gut!« sagte der Engländer kaltblütig. »Morgen mit Tagesanbruch werdet ihr mir die Spur des Weißen Renners zeigen, und ich werde ihn dann allein verfolgen.«
   »Vielleicht werdet Ihr besser daran tun, auf eine Verfolgung zu verzichten, bei der Euch unaufhörlich Gefahren jeder Art umringen.«
   »Gefahren?« sagte der Engländer lächelnd. »Ich habe diesen Jäger aus Kentucky bezahlt, damit er sie von meinem Weg entferne; ihn allein gehen die Gefahren an.«
   »Ja, ja«, fügte der Kentuckyer phlegmatisch hinzu, »ich habe die Gefahren dieses Reisenden auf Akkord übernommen.«
   »Und Ihr fürchtet nichts mit ihm?«
   »Habe ich nicht bezahlt, um nichts zu fürchten?«
   Diese Worte beendeten die Unterhaltung, und die beiden wunderlichen Gefährten, von denen der eine in seiner Tollheit tapfer genug war, um sich gänzlich auf die Bedingungen seines Versicherungskontraktes zu verlassen, streckten sich auf das Gras, ohne es der Mühe für wert zu halten, ihr Zelt aufzuschlagen; die Vaqueros hatten sich auch wieder niedergelegt, und das tiefste Schweigen herrschte bald in den Wäldern und auf den grasreichen Ufern des Büffelsees.


   61. Die Jagd auf wilde Pferde

   Beim ersten Schimmer des Tages waren die Büffeljäger, die Vaqueros und die Reisenden schon auf den Füßen. Der Engländer saß auf einem tragbaren Feldstuhl, demjenigen ähnlich, den die Maler auf dem Land bei sich haben; er hatte sich schon die von dem weißen Pferd auf der Flucht eingeschlagene Richtung zeigen lassen. Encinas war hartnäckig genug, dieses weiße Pferd mit dem wunderbaren Renner der Prärie zu verwechseln, während der Engländer in seinem Album die Hauptzüge der vor ihm ausgebreiteten malerischen Szenen entwarf. Einige Schritte davon ging der Kentuckyer schweigend mit der Büchse auf der Schulter auf und ab wie eine Schildwache, die auf die Ausführung ihres Befehls bedacht ist.
   Plötzlich fiel der Stift aus den Händen des Zeichners, und eine Wolke bedeckte seine Augen. Rosarita erschien auf der Schwelle ihres Zeltes, weiß und leicht wie die Flocke einer Morgenwolke am blauen Himmel. Die Falten ihres seidenen Vorhangs bedeckten sie noch halb, ihre aufgelösten Flechten fielen auf die nackten Schultern wie eine Garbe von wallendem schwarzem Haar. Der Anblick des Fremden, der bewunderungsvolle Blicke auf sie warf, ließ sie schnell wieder hinter ihrem blauseidenen Vorhang verschwinden.
   Diese reizende Erscheinung schwebte darum aber nicht weniger vor den geblendeten Augen des jungen Engländers. Er schloß sein Album, steckte seine Stifte ein und rief seinen Leibgardisten. »Wilson!« sagte er.
   »Sir?« antwortete Wilson, sich nähernd.
   »Hier in der Nähe bedroht mich eine Gefahr!«
   »Ist sie in unserem Kontrakt mit einbegriffen?« antwortete der umständliche Amerikaner.
   Der Engländer zeigte mit dem Finger auf Doña Rosaritas Zelt.
   »Die schönen Augen dieses jungen Mädchens?« fragte Wilson.
   »Ja.«
   »Bei Jesus Christ und dem General Jackson!« rief der Jäger. »Ich zweifle, ob das in unserem Vertrag steht.«
   »Seht zu!«
   Der Amerikaner zog aus einer seiner zahlreichen Taschen ein zerknittertes, beschmutztes, zerriebenes Papier, und nachdem er das Protokoll des Kontraktes gemurmelt hatte, las er laut: »Vermittels dessen, was oben steht, verpflichtet sich der obengenannte William Wilson, den Sir Frederick Wanderer vor den Gefahren der Reise zu beschützen, als da sind: feindliche Indianer, Panther, Jaguare, Bären von allen Arten und allen Größen, Klapperschlangen und andere Schlangen, Alligatoren, Durst, Hunger, Wald– und Savannenbrände usw. usw. und vor allen Gefahren im allgemeinen, wie sie auch heißen mögen, die die Reisenden in den Steppen Amerikas bedrohen können.«
   »Ihr seht«, sagte Sir Frederick, den Amerikaner unterbrechend: »›vor allen Gefahren der Steppe im allgemeinen, wie sie auch heißen mögen‹!«
   »Dies ist eine Gefahr der Städte.«
   »Aber in der Steppe noch hundertmal gefährlicher. Wenn Ihr ein einziges Mal in Eurem Leben auf einem Ball gewesen wärt, so würdet Ihr wissen, daß hundert entblößte Frauen unendlich weniger zu fürchten sind als eine einzige unter ihnen in der Tiefe eines einsamen Waldes, wäre sie auch züchtig bis zu den Augen verschleiert.«
   »Das ist möglich; es geht mich aber nichts an.« Und der unempfindliche Amerikaner ging wieder schweigend auf und ab.
   »Dann muß ich mich selbst schützen«, sagte Sir Frederick. »Seid so gut und sattelt die Pferde; wir wollen aufbrechen und den Weißen Renner der Prärien verfolgen; und da es nicht in unseren Bedingungen steht, daß Ihr mein Pferd satteln müßt…«
   »Ich bin Euer Leibgardist und nicht Euer Diener; das ist ausgemacht.«
   »… so werde ich es selbst satteln. Ach, ich möchte Euch bitten, Euch zu erinnern, daß ich heute abend irgendeinen Wildbraten für mein Abendessen haben muß.«
   Die Pferde waren bald fertig, und Sir Frederick dankte dem Hacendero für seine Gastfreundschaft, als Rosarita sich ihrem Vater näherte. Nun verneigte sich der Engländer, wie es der junge Komantsche mit der dem Wilden natürlichen Würde getan hatte, mit all dem feinen Anstand eines Mannes auf der höchsten Stufe der Bildung, der der besten Gesellschaft angehört, vor dem jungen Mädchen und sagte zu ihm: »Señorita, ich hatte den Entschluß gefaßt, mich durch keine von den Gefahren, die so oft den Reisenden aufhalten, von meinem Weg abbringen zu lassen; aber es gibt eine Gefahr, wie ich seit heute morgen bemerkte, der ich mich nur durch die Flucht entziehen kann.«
   Rosaritas Schönheit hatte denselben Eindruck auf zwei Männer hervorgebracht, von denen der eine auf der ersten, der andere auf der letzten Stufe der menschlichen Gesellschaft stand. Sie lächelte bei diesen Worten, deren verborgener, aber leicht erkennbarer Sinn ihr nicht entging. Sie begriff, daß dies eine ihrer Schönheit dargebrachte Huldigung sei; dann mußte sie lächelnd erröten, denn in der Tiefe ihrer Einsamkeit war sie noch nicht abgestumpft gegen die süßen Befriedigungen der weiblichen Eigenliebe.
   Der Engländer und sein Leibgardist setzten sich auf ihre Pferde und entfernten sich.
   Nach dieser kurzen Schilderung der englischen und der amerikanischen Originalität wollen wir mit einem Sprung den Rest des Tages übergehen und sogleich bei dem Augenblick wiederbeginnen, wo die Sonne sich abermals nach dem westlichen Horizont neigte. Gerade in dem Augenblick näherte sich ein Reiter mit verhängten Zügeln dem Büffelsee; er war mit bloßem Kopf, sein Gesicht war zerrissen von den Dornen, und seine Lederbekleidung trug ebenfalls die Spur der Gesträuche, die er auf seinem schnellen Ritt hatte durcheilen müssen.
   Es war Francisco, der Vaquero, den seine Gefährten schon als Opfer seiner Unternehmung gegen den wunderbaren Weißen Renner der Prärien gefallen glaubten. Im Grunde des Herzens fühlten sich alle getäuscht, als sie ihn gesund zurückkehren sahen. Das menschliche Schicksal ist sonderbar! Den Mann, den sie in ihrem ferneren Leben als den Helden einer phantastischen Sage hätten anführen können; von dem sie an ihren Abenden, des Nachts und um ihr Lagerfeuer hätten erzählen können, den umringten jetzt eifrig die Vaqueros und die Büffeljäger. Man befragte ihn über seine Abenteuer auf der Verfolgung.
   Seine Erzählung bot durchaus nichts von den bemerkenswerten Umständen dar, die man zu hören hoffte. Durch einen sehr gewöhnlichen Zufall – nämlich durch einen Ast, dem er nicht beizeiten hatte ausweichen können – war ihm sein Hut vom Kopf gerissen. Der Vaquero hatte sich nicht Zeit genommen, ihn wieder aufzunehmen, sondern war weitergeritten. Es war ihm auch ebenso natürlich unmöglich gewesen, von seinem Lasso mitten im Wald Gebrauch zu machen.
   Zwanzigmal hatte Francisco die Spur des weißen Pferdes verloren und wiedergefunden, und seine hitzige Verfolgung hatte ihn so weit geführt, daß er, als endlich das Tier gänzlich verschwunden war, sich genötigt gesehen hatte, seinem eigenen Pferd einige Stunden Ruhe zu gönnen; Reiter und Pferd hatten die Nacht fern vom See zugebracht. Was den Tag anlangt, so hatte er ihn dazu angewandt, mit seinen anderen Gefährten die wilden Pferde einzuschließen, die nicht mehr weit vom Büffelsee entfernt waren.
   Diese Erzählung verminderte nicht die allgemeine Täuschung. Da jedoch der Mensch sich nicht leicht dazu entschließt, das Wunderbare durch die Wirklichkeit zu ersetzen, so stand es nichtsdestoweniger für die Vaqueros fest, daß Francisco eine Wachskerze seinem Schutzheiligen dafür schuldig sei, daß dieser ihn vor den Schlingen des Satans bewahrt hatte. »Das ist ganz gleich«, sagte der angehende Vaquero; »alles hierin beweist, daß es wirklich der Weiße Renner von Texas ist.«
   »Dieser Vaquero, der ins Wasser stürzt, und sich zuerst beinahe den Hals bricht!«
   »Francisco, ein so geschickter Lassowerfer, hat ihn nicht erreichen können!« fügte ein anderer hinzu.
   »Und dieser ketzerische Engländer mit den tausend Piastern, die er uns immer noch anbot!« fuhr Encinas fort. »All dies ist nicht natürlich.«
   Diese Überzeugung gewann endlich Francisco selbst, als seine Kameraden ihm Encinas‘ abergläubische Sage erzählten. Der Vaquero bekreuzigte sich mehrmals; er dankte dem Himmel, nicht der Gefahr unterlegen zu sein, die, ohne daß er es wußte, über ihm geschwebt hatte.
   Die Nachrichten, die der Vaquero Don Agustin mitbrachte, waren die, daß der Kreis derer, die den Wald abtrieben, während der Nacht enger gezogen worden sei, daß der Tag ebenso wie die Nacht angewandt worden wäre und daß man sich bereithalten müßte. Man ließ also jegliche Unterhaltung beiseite, um die Vorbereitungen vom vorigen Abend wiederaufzunehmen.
   Die Zelte wurden abermals abgebrochen, die Pferde vom See und vom Corral entfernt. Die anwesenden Vaqueros verteilten sich unter die Baumstämme, und die vier Büffeljäger nahmen ihren Platz hinter den Pfählen der Einfriedung ein und hielten sich bereit, den Zugang in diese mit Hilfe der schweren, aber handlichen Stangen zu verschließen, sobald die wilde Herde sich in den Corral geflüchtet haben würde. Die Gefahr, von den erschreckten Pferden unter die Füße getreten zu werden – die einzige übrigens, der man bei dieser mehr malerischen als gefahrvollen Jagd ausgesetzt war —, fiel deshalb diesen letzteren zu.
   Eine Art grob gearbeitete Brücke war über den Kanal, durch den der Büffelsee abfloß, geschlagen worden, und der Hacendero, seine Tochter und der Senator konnten sich unter dem grünen Bogengang, den die Zweige der Bäume bildeten, in Sicherheit niederlassen, ohne nur einen Blick von dem verführerischen Schauspiel, das man sich versprach, zu verlieren. Als jeder seinen Posten eingenommen hatte, warteten alle unbeweglich und schweigend auf die Ankunft der Kavalkade.
   Das Geschrei einer Weihe, die über die Lichtung flog, hatte die Vögel unter dem Blätterdach zum Schweigen gebracht, und die vollständigste Ruhe herrschte in der Umgebung des Sees.
   Bald erscholl mitten in dieser tiefen Stille ein schrilles Pfeifen wie dasjenige, das die Vaqueros und die Pferdetreiber hören lassen, bis zu den Ohren der Jäger. Das war ein Zeichen, daß die Treiber sich eben in Bewegung gesetzt hatten, um die Kavalkade nach ihrer Seite wegzujagen. Darauf mischte sich Geschrei in das Pfeifen, das sich von rechts und von links und von allen Seiten her näherte. Kurze Zeit darauf widerhallte noch fernes Wiehern in der Tiefe des Waldes, aber so zahlreich, daß es auf eine beträchtliche Zahl wilder Pferde schließen ließ.
   Dieses Wiehern ließ sich auch in der Richtung vom Red River her vernehmen, d. h. in gerader Linie von seinen Ufern nach der Stelle, wo der Hacendero, seine Tochter und der Senator auf ihrer fliegenden Brücke standen, um die Jagd anzusehen. Es war ein Unglück zu fürchten, wenn die wilde Herde auf dieser Seite hervorbrach. Das junge Holz wäre nicht imstande gewesen, den wütenden Anlauf dieser Tiere aufzuhalten, die auf ihrer Flucht im Wald ähnliche Verheerungen wie der Orkan hervorbringen.
   Don Agustin sah die Gefahr voraus und rief drei Vaqueros, die ihre Posten verließen und zu ihm kamen. »Glaubt ihr«, fragte der Hacendero einen von ihnen, »daß die Kavalkade hierher kommen könnte?«
   »Das ist wohl möglich«, antwortete einer der Vaqueros, »und ich dachte schon an die Gefahr, die Ihr laufen könntet, wenn man nicht Ordnung hineinbrächte. Wenn es Euch deshalb also genehm ist, so wollen wir, meine beiden Kameraden und ich, den Platz, den Ihr uns bezeichnet hattet, verlassen und uns hinter Euch längs dieses Kanals in den Hinterhalt legen.«
   »Ich würde lieber«, erwiderte Don Agustin, »unsere Stellung verlassen, als euch einer nutzlosen Gefahr aussetzen.«
   Die drei Vaqueros waren gewohnt, allen Gefahren, die ihr Gewerbe mit sich brachte, zu trotzen. Sie antworteten also auf die Rücksicht, die ihr Herr auf sie nahm, nur dadurch, daß sie sich einer nach dem anderen unbemerkt längs der steilen Ufer des schmalen Zugangs zum See hinschlichen und sich etwa hundert Schritt von da in der Richtung nach dem Fluß hin als vorgeschobene Schildwachen aufstellten. Das war die letzte Maßnahme, die man noch zu treffen Zeit hatte, denn der Augenblick nahte, der über das Schicksal der edlen Tiere entscheiden sollte, die von den Jägern zu der unheilbringenden Einfriedung getrieben wurden, wo Sklaverei und Gefangenschaft auf sie warteten.
   Das Getöse jeder Art vermehrte sich bald überall. Zuerst war es das durchdringende Geschrei und das schrille Pfeifen der Vaqueros, die durch den Wald sprengten und einander zuriefen und antworteten. In den seltenen und kurzen Zwischenräumen des Schweigens – wenn man so den Klang der zahlreichen Echos der Einöden nennen darf, die die menschlichen Stimmen wiederholten – erklangen das Wiehern der erschreckten Pferde und das dumpfe Schnauben ihrer Nüstern wie das noch unterdrückte Wehen des Ungewitters. Alle Bewohner des Waldes wurden unruhig vor Schrecken; Scharen von Vögeln flogen kreischend aus den Gipfeln der Bäume, Eulen flatterten verstört im Licht des Tages, und die Hirsche erschraken selbst in den Tiefen ihrer Zufluchtsorte und entflohen vom Ort des Getümmels.
   Bald krachten die Gesträuche, die jungen Bäume stöhnten unter dem Anlauf der Pferde, und deren hellklingendes Gewieher und das Geschrei der Jäger wurden immer lauter, je näher sie kamen, und mischte sich mit dem Dröhnen der Erde, das wie Donner aus deren Tiefen hervortönte. Einige Augenblicke hindurch hätten das Geschrei, das Geheul der Vaqueros, das Wiehern der Pferde und das Krachen der Bäume, das alles vom Echo wiederholt wurde, zu dem Glauben verleiten können, daß eine Legion von Dämonen ihr Geheul ausstieß und unter den düsteren Gewölben des Waldes hingaloppierte.
   Wir bedauern lebhaft, daß wir nicht imstande sind, die folgenden Szenen würdig zu schildern. Die Lawine, die donnernd herabrollt, das Wasser, das durch die zerrissenen Schleusen bricht, der Waldstrom, der plötzlich anschwillt, wenn er von den Bergen in sein trockenes Bett herabstürzt, vermöchten keinen vollständigen Begriff von dem furchtbaren Lärm zu geben, der aus den Tiefen des Waldes in dem Augenblick hervorklang, als der grüne Vorhang, der die Lichtung einschloß, sich an hundert Stellen zugleich öffnete. Durch jede dieser Öffnungen sah man eine Woge von wilden Köpfen mit vor Schrecken flammenden Augen, mit roten Nüstern und flatternden Mähnen herausstürzen. Dann vereinigten sich diese Wogen, um ein stürmisches, vielfarbiges Meer zu bilden, auf dem wie sich brechende Wellen, deren Rücken mit Schaum bedeckt ist, wallende Mähnen und flatternde Schweife hin und her flogen und gleich der hohen See übereinanderstürzten.
   Bald drangen auch die Vaqueros mit feurigen Augen und berauscht von dem Geschrei, das sie ausstießen, durch die weiten, von der Brust der Pferde gemachten Öffnungen im Galopp hervor und sprengten, ihre Lassos durch die Luft schwingend, herbei.
   Einen Augenblick lang teilte sich das brausende Meer der Pferde, die nicht wußten, welche Richtung sie einschlagen sollten.
   Nun stürzten aber die zwölf Männer zu Fuß herbei, schwangen ihre Hüte mit der Hand und warfen sich pfeifend und mit wildem Geschrei auf die einen Augenblick lang aufgelöste Kolonne, auf die Gefahr hin, von zweihundert Pferden unter die Hufe getreten zu werden. Die Tiere waren nun von vorn und von hinten durch zahlreiche und lärmende Feinde bedrängt; sie standen einen Augenblick still, während welcher Zeit die Erde zu zittern aufhörte und die Oberfläche des Büffelsees sich nicht mehr kräuselte und nicht mehr gegen die Ufer schlug.
   Dies war ein Augenblick schrecklicher Verzögerung; die Kolonne brauchte nur rechts oder links auszubrechen, und die Vaqueros zu Pferd wie zu Fuß waren zermalmt wie die Kornähre unter dem Dreschflegel. »Laßt nicht nach, Kinder!« rief Don Agustin, der, von seinem Eifer fortgerissen, auf das Ufer des Sees sprang und ein gewaltiges Geschrei ausstieß.
   Wütendes Geschrei antwortete dem seinigen; dann stürzte das Pferd, das die Kolonne führte und seit einiger Zeit seine blitzenden Augen auf das mit Zweigen bedeckte Pfahlwerk und auf die in der Einfriedung angebrachte Öffnung richtete, mit gesenktem Kopf hinein; die ganze Herde folgte ihm und stürzte sich hinein wie das Wasser in das zu seiner Aufnahme bestimmte Bassin.
   »Hurra! Hurra!« rief der Hacendero. »Wir haben sie!«
   Freudengeschrei erhob sich von allen Seiten in dem Augenblick, wo Encinas und seine Gefährten, die einen Augenblick von dieser lebendigen Lawine verschüttet waren, sich aus dem Corral durch den Zwischenraum zwischen den Stangen schlichen, die sie fest in ihre Fugen hineingestoßen hatten.
   Einige Sekunden verflossen, ohne daß diese stolzen Kinder des Waldes ihre Gefangenschaft bemerkt hätten; als sie aber zum erstenmal in ihrem Leben fühlten, daß sie von einer Mauer von Baumstämmen umgeben seien, die der Kopf auch des größten unter ihnen kaum überragte, so erscholl ein Gewieher rasenden Schmerzes wie das Schmettern von hundert Trompeten. Dieses Meer von wütenden Tieren, die wieherten und vor Zorn schnaubten – ähnlich dem Getöse des Windes, der durch die Wälder braust —, war ein prachtvolles Schauspiel. Hier zeigten sich ganze Gruppen von erschreckten Köpfen, deren blitzende Augen nach allen Seiten spähten und die ganze Wogen von Schaum von sich schleuderten; dort sah man ineinander verschlungene Körper, die sich kreuzten und umwälzten. Das wütende Geschrei der Pferde wurde von einem Triumphgeschrei der Vaqueros beantwortet. »Ah! Er ist dabei! Er ist dabei!« rief Encinas aus.
   »Wer?« riefen zwanzig andere Stimmen.
   »Der Weiße Renner der Prärien!« antwortete der Büffeljäger.
   In der Tat war der schönste und edelste von diesen edlen und schönen Rennern der Steppe, das feurigste unter diesen feurigen Tieren dabei. Das aufgeregteste und schnellste von allen war ein Pferd von fleckenlosem Weiß wie die Blüte der Wasserlilie; es war dasjenige, das man am Tag vorher vergeblich verfolgt hatte. Das stolze Tier stürzte mit feurigen Augen von dem einen Ende des Corrals zum anderen und warf diejenigen von seinen Unglücksgefährten in seinem Zorn zu Boden, die dem Stoß seiner Brust nicht ausweichen konnten. Ein weiter Raum bildete sich um das springende Tier, das seine weiße Mähne schüttelte und ein Gewieher klagender Wut ausstieß.
   »Dorthin! Dorthin!« rief Encinas aus und stürzte zu der Stelle hin, wo der Weiße Renner sich anschickte, hinüberzuspringen.
   Aber es war schon zu spät. Der Kreis, der sich um ihn geöffnet hatte, gestattete ihm, seinen Körper auf seinen Sprungfesseln zusammenzunehmen. Die Jäger sahen, wie eine weiße Linie die Luft wie ein Pfeil durchschnitt; das Pferd fiel jenseits der Einfriedung auf seine biegsamen, sprungkräftigen Füße, und dann verschwand es abermals unter dem Gewölbe der Bäume.
   Ein wütendes Geschrei der Männer begleitete die Flucht des Pferdes; es blieben jedoch noch ungefähr zweihundert andere in dem Pfahlwerk zurück, und das war genug, um die Jäger für den Verlust des schönsten unter ihnen zu entschädigen.
   »Nun, zweifelt ihr jetzt noch daran, daß dieses Pferd der Teufel ist?« rief Encinas.
   Niemand antwortete; alle waren davon überzeugt.
   Der kurz vorher leere Kreis füllte sich sogleich wieder, und die gefangenen Pferde, die selbst einander hinderlich waren, konnten nur noch eine Woge bilden, die stets von einem Ende des Corrals zum anderen rollte. Einen Augenblick stürzte sich diese Welle gegen die Einfriedung; aber die starken Pfähle, aus denen sie bestand, stöhnten und krachten, ohne nachzugeben.
   Ein feuchter Dunst schwebte wirbelnd über all diesen keuchenden Tieren. Die einen bissen wütend in die unerschütterlichen Palisaden, andere scharrten die Erde mit ihren Hufen auf, und noch andere unterlagen den in ihnen tobenden Leidenschaften und stürzten wie vom Blitz getroffen auf die Erde, von der sie sich nicht wieder erhoben. Dann hörte die Kavalkade wie ein Meer siedender Lava, die endlich kalt wird, nach und nach auf, gegen ihre Dämme zu wüten; die Bestürzung folgte der Wut und eine düstere Regungslosigkeit auf die unsinnigen Sprünge.
   Die wilden Bewohner des Waldes waren besiegt. —
   Wir haben nur noch einige Worte über diesen Gegenstand zu sagen. Es kommt zuweilen vor, daß ein schlecht errichtetes Pfahlwerk der wütenden Anstrengung von einigen hundert Pferden, die mit einem Mal dagegenrennen, nachgibt. Dann ist es wie ein Waldstrom, den nichts aufhalten kann – weder das Geschrei noch die Anstrengungen, noch die Lassos von tausend Jägern. Die Pferde werfen alles nieder, was ihnen in den Weg kommt: Menschen und Bäume. Die wütenden Tiere fliehen wie der Wind, und ein Krachen folgt ihnen wie das eines Waldes, der von der Erde verschlungen wird, oder wie das zweier Berge, die gegeneinanderstoßen. Eine dicke Staubwolke bedeckt die fliehenden Pferde, und das Schweigen, das bald dem Krachen folgt, beweist, daß sie in kurzer Zeit Meilen zwischen sich und ihre Verfolger gelegt haben.
   Das sind die Ereignisse, die oft alle Vorsicht und alle Anstrengungen der Jäger vereiteln; glücklich genug, wenn nicht eine große Anzahl von ihnen unter den Hufen der Pferde zermalmt oder wenigstens schwer verwundet ist!
   Jetzt kennt der Leser die gewöhnliche Entwicklung dieser Art von Jagd! —
   Die wilden Bewohner des Waldes waren besiegt, sagten wir; sie mußten aber auch noch durch Hunger gebändigt werden, ehe man sie zu den Agostaderos, den Weideplätzen, mit Hilfe dazu abgerichteter Stuten führen konnte. Dazu brauchten die Jäger noch fünf oder sechs Tage, in denen sie Schritt für Schritt den Wirkungen des Hungers folgen mußten; dieser allein nur vermag die Tiere, die vielleicht am meisten auf ihre Freiheit eifersüchtig sind, zu bändigen und sie an die Gegenwart des Menschen zu gewöhnen.
   Die Nacht breitete abermals ihren dunklen Mantel über die Natur.
   Es war eine festliche Nacht für die triumphierenden Vaqueros, die eine von jenen Heldentaten der Jagd vollbracht hatten, von denen man noch lange Zeit in den Nächten spricht, die man wachend in den Savannen zubringt. Don Agustin hatte eine reichliche Menge katalonischen Branntwein unter seine Leute verteilen lassen, und die Jäger saßen nun um ein großes Feuer, an dem sie ein ganzes Reh brieten, und unterhielten sich von ihren Heldentaten, als die Sterne schon Mitternacht verkündeten.
   Wir dürfen jedoch jetzt nicht vergessen, daß noch viele andere Personen dieser Erzählung unsere Teilnahme in Anspruch nehmen; daß Diaz noch in der Steppe umherirrt, daß der Komantsche der Spur der beiden Freibeuter folgt und daß endlich Bois-Rosé den in seiner Abwesenheit geraubten Fabian beweint. Ehe wir jedoch der Persönlichkeit folgen, durch die wir die anderen wiederfinden werden, wollen wir noch einen letzten Blick auf den Büffelsee werfen.
   Noch lange widerhallte der Wald von dem lustigen Gelächter der Jäger, das sich in das klagende Gewieher der wilden Pferde im Corral mischte.
   Als die Flaschen geleert und von dem Reh nur noch die Knochen übrig waren, die die Dogge des Büffeljägers unter ihren furchtbaren Kinnbacken erkrachen ließ, stockte die Unterhaltung und ging allmählich ganz aus. Dann warfen die Vaqueros neues Holz in das Feuer, hüllten sich in ihre Wolldecken, streckten sich auf das dichte Gras der Lichtung und überließen sich dem Schlaf, den sie so wohl verdient hatten, ohne daran zu denken, daß verdächtige Spuren im Wald gesehen worden waren. Das Schweigen der Nacht wurde nur von den Tieren unterbrochen, die dazu bestimmt waren, bald das demütigende Joch der Peitsche und der Sporen zu tragen. Der Mond vereinigte später auf dem ruhigen Wasserspiegel des Büffelsees seinen bleichen Schein mit dem rötlichen Glanz des Feuers. Seine Strahlen und der Schein der Glut fielen auf die für die Herrschaft errichteten Zelte und auf die zahlreichen im Gras um sie her lagernden Diener.
   Niemals hatte der See einen zugleich malerischeren und ruhigeren Anblick dargeboten als in dieser Nacht.


   62. Das Versteck

   Am zweiten Abend nach den letzten Szenen aus der Jagd auf wilde Pferde gingen fünf Männer in getrennten Gruppen am Red River hinauf.
   Von dem Ort, wo sich diese verschiedenen Personen auf einem Raum von einer halben Meile zerstreut befanden, war es beinahe noch einen Tagesmarsch bis zum Val d‘Or und bis zum Büffelsee etwa noch so weit entfernt, daß ein guter Fußgänger in zwei Tagen den Weg zurücklegen konnte. Der Rio Gila durchströmt in dem Lauf, den wir schon angegeben haben – d.h. von seinem Austritt aus den Nebelbergen bis zur Gabel des Red River —, einen sehr verschiedenartig gestalteten Boden. Bald wallen und brausen seine Gewässer zwischen senkrechten Felsenufern auf einem steinigen Grund, wo sie Stromschnellen oder Wasserfälle bilden, über die der Jäger und der Indianer allein in ihren Kanus aus Baumrinde oder Büffelhaut hinwegfahren können, bald fließen sie ruhig und tief zwischen zwei niedrigen Ufern, die mit so hohem Gras besetzt sind, daß man die Anwesenheit des Büffels und des Grauen Bären nur an den wellenförmigen Bewegungen errät, in die diese Tiere die langen Halme versetzen.
   An anderen Stellen berührt der Fluß zwischen sandigen Ufern liebkosend grüne Inseln – eine Art undurchdringlicher Oasen, so dicht haben wilder Wein und spanisches Moos sich um die Bäume geschlungen, die mitten in den Gewässern eine Zuflucht gefunden zu haben scheinen —; weiterhin fließen seine ruhigen Wasser langsam unter den Wölbungen hin, die von den über seine Ufer hängenden Bäumen gebildet werden. Diese Bogenlauben verbreiten in der Tat auf dem Fluß einen dichten, kühlen Schatten, der die glühende Hitze, mit der die Sonne die weiten Ebenen versengt, vergessen läßt.
   Die vom Büffelsee entferntesten Personen waren nur zwei, und sie fuhren den Fluß in einem leichten Kanu aus Birkenrinde hinauf, das durch Nähte von Tannenfasern befestigt und mit dem Harz derselben Bäume ausgepicht war. Dieses Kanu, so zerbrechlich es zu sein schien, war nichtsdestoweniger so schwer beladen, daß seine obersten Ränder beinahe in gleicher Höhe mit dem Wasser waren, das an seinen Seiten entlangbrauste. Die Last, mit der das zerbrechliche Fahrzeug beladen war, verhinderte jedoch nicht, daß es durch die Anstrengung der Ruderer ziemlich rasch stromauf lief. Die Ladung des Kanus gehörte zu den verschiedenartigsten; da waren Pferdesättel, verschiedene Kleidungsstücke, Decken von jeder Farbe, Ballen und kleine Kisten von europäischer Fabrikation und endlich Säbel, Messer und ungefähr ein halbes Dutzend Büchsen von verschiedener Länge.
   Ohne den besonderen Anzug und das unheimliche Gesicht der beiden Ruderer, die der Leser nach einigen Worten bald wiedererkennen wird, hätte man sie für zwei ehrlich wandernde Handelsleute halten können, die im Vertrauen auf ein sicheres Geleit mit den indianischen Stämmen in der Steppe Handel zu treiben wagen. Der eine war ein Greis mit grauen, der andere ein junger Mann mit langen schwarzen Haaren. Wenn wir sagen, daß sie den die Papagos-Indianer bezeichnenden Kopfputz trugen, so wird man an die Namen Main-Rouge und Sang-Mêlé denken, deren Verkleidung man ohne Zweifel seit ihrem plötzlichen Erscheinen im Wald an dem Abend, wo Don Agustin Peña sich mit seiner Tochter und dem Senator nach der Jagd auf wilde Pferde begab, wiedererkannt hat. Nach dem kühnen Streich, dessen Erfolg die Beraubung und der Tod des Kaufmanns aus dem Presidio gewesen war, wie es der Büffeljäger erzählt hat, hatte sich das Gerücht davon in der Gegend verbreitet. Um den Nachforschungen zu entgehen, hatten die beiden Banditen die Verkleidung angelegt, unter der sie dem Reiterzug begegneten. Der Zufall also, der die Abreise des Hacenderos vierzehn Tage aufgeschoben hatte, war somit die einzige Ursache dieses traurigen Zusammentreffens.
   Übrigens ist die Zukunft vor den Augen des Menschen mit Wolken bedeckt. Weiß er denn, worüber er sich freuen oder betrüben soll? Über wie viele unvorhergesehene Stürme nach einem schönen Morgen; wie viele Stürme beim Anbruch eines Tages, an dem die Sonne abends an einem heiteren Himmel strahlend untergeht? Jedenfalls hatte der Mestize – der Leser wird sich dessen erinnern – Rosarita nicht sehen können, ohne dem Eindruck zu unterliegen, den ihre Schönheit gewöhnlich hervorbrachte, und ohne den Wunsch zu hegen, sie wiederzusehen. Er war ihr bis zum Büffelsee gefolgt, und nur um sie – trotz ihrer zahlreichen Begleiter – zu entführen, finden wir ihn in den Nebelbergen, in deren Nähe, wie ihm wohl bekannt war, sich eine zahlreiche Abteilung Apachenkrieger befand.
   Die beiden Piraten der Steppe waren nicht allein wegen ihres Mutes und ihrer Geschicklichkeit furchtbar. Man hat indessen gesehen, wie sie in einigen Stunden das ausführten, was die Indianer bei der schwimmenden Insel einen Tag und eine ganze Nacht hindurch vergeblich versucht hatten, d. h. sie hatten die beiden besten Büchsen in der Steppe nach den ihrigen durchaus machtlos gemacht. Sie waren auch furchtbar durch ihre unablässige Tätigkeit und durch die Schnelligkeit ihrer Bewegungen, die man mit denen der Raubvögel hätte vergleichen können, die ihr Flug in einem Nu von einem Teil des Horizonts zum anderen trägt.
   Während beide sich auf die Ruder niederbeugten, schwamm das Kanu rasch bis zu einer Strecke hinauf, wo der Fluß zwischen einer fast ununterbrochenen Reihe von grünen Hügeln dahinströmt, die man bei uns in Europa für Heuschober nach der Heuernte gehalten haben würde. Die wilden, unruhigen Augen des alten weißen Renegaten schweiften von einem Ufer des Flusses zum anderen, durchforschten sorgfältig auch die kleinste Verschiedenheit des Bodens und kehrten dann mit einer gierigen Zärtlichkeit auf die Ladung ihres Kanus zurück. »Nun, du alter Schelm«, sagte der Mestize in einem Augenblick, wo Main-Rouge allein ruderte, um den Lauf des Kanus wieder in gerade Richtung zu bringen, »bemerkst du am Horizont irgendein verdächtiges Zeichen?«
   »Ich sehe nichts als deine Torheit!« antwortete der Amerikaner in ärgerlichem Ton. »Und was den Namen anlangt, den du mir zu geben geruhst, so sehe ich darin lediglich deinen dummen Stolz. Was ist denn der Sohn eines Hundes? Ein Hund! Und der Sohn eines Schelms?«
   »Das Ebenbild seines Vaters!« erwiderte Sang-Mêlé.«
   »Aber du bist viel mehr ein Schelm als dein Sohn, weil du schon lange vor ihm angefangen hast, ein solcher zu sein.«
   »Davon weiß ich nichts, du Sohn eines weißen Renegaten und einer indianischen Wölfin!« rief Main-Rouge zornig aus. »Wenn du in meinem Alter stehen wirst … Aber du wirst es niemals so weit bringen.« Sang-Mêlé war an diesem Tag guter Laune, darum lächelte er nur über die Beleidigungen und die düstere Prophezeiung seines Vaters.
   »Ja«, sagte der letztere, »wenn Pferd und Hirsch verliebt sind, so verläßt sie die Vorsicht.«
   »Könntest du nicht deinen Sohn mit irgendeinem edleren Tier vergleichen?« fragte der Mestize mit hochmütigem Lächeln.
   »Was liegt daran? Wir haben die Spuren des Komantschen schon zweimal in der Nähe der unsrigen gefunden, und anstatt nun ebenfalls den seinigen zu folgen, vernachlässigst du vor Ungeduld, dich eines Spielzeugs, dieser kleinen weißen Taube, zu bemächtigen, jegliche Vorsicht. Ich sage dir, daß diejenigen, die in der Steppe nicht auf die Warnung hören, die sie im Boden eingeprägt finden, niemals zu einem hohen Alter gelangen.«
   »Zeugen davon sind alle Trapper, Reisenden und Indianer, die deine Spur nicht gesehen oder nicht darauf geachtet haben. Aber still nun von diesem Gegenstand, alter Mann; merke dir: Alles, was den Zweck hat, mich deshalb zu tadeln, daß ich so schnell wie möglich den Liebesdurst zu stillen suche, den mir diese weiße Wolke, diese Schneeflocke, diese Lilie des Sees einflößt, klingt schlecht in meinen Ohren!«
   Bei diesen Worten sprühten die Augen des Mestizen Flammen wie die eines Tigers, wenn die Luft ihm ihren heißen Schwingen die geheimnisvolle Witterung der Tigerin zuführt.
   Der Vater schwieg, und beide ruderten schweigend weiter. Eine der Inseln, die verstreut mitten im Fluß lagen, erstreckte sich langhin auf dem Wasser wie ein schlafender Seevogel. Es war diejenige, die man die Büffelinsel nannte. —
   In einiger Entfernung von den beiden Piraten und verdeckt von den grünen, wellenförmigen Erhöhungen auf dem rechten Ufer marschierte ein Mann allein mit jenem elastischen, nervigen Schritt, der nur dem Indianer eigen ist und den man mit unserem gymnastischen, zur höchsten Vollkommenheit gebrachten Schritt vergleichen kann. Dies war der junge Komantsche Rayon-Brûlant, der allein dem Kriegspfad folgte. Dem biederen jungen Mann lag es am Herzen, seine Ehre zu rächen, die er seit der Ermordung der Weißen, die sich seinem Wort anvertraut hatten, für befleckt hielt, und er unternahm allein eine von jenen abenteuerlichen Heldentaten, die an die irrenden Ritter der Steppe in alter Zeit erinnern.
   An der Stelle, die er erreicht hatte, verbarg ihm eine Krümmung des Flusses das Kanu, das stromauf fuhr. Der Indianer näherte sich dem Ufer und machte aus seinen Vorräten einen Packen, den er in seinen Mantel aus Büffelhaut wickelte. Mit Hilfe von Riemen, die unter dem Kinn befestigt waren, band er diesen Packen, auf den er seine Büchse gebunden hatte, fest auf seinen Kopf, trat leise in den Fluß und teilte ihn mit kräftigem Arm; einige Minuten nachher stieg er an das linke Ufer. Er benützte nun mit unendlicher Geschicklichkeit jede Deckung und Unebenheit des Bodens, ohne von den Schiffern im Kanu gesehen werden zu können. Der Komantsche war bald in gerader Linie mit ihnen, dann überholte er sie und erreichte die Stelle am Ufer, die der Büffelinsel gegenüberlag.
   Die Furten des Red River schienen ihm ganz bekannt, denn ohne zu zögern, ohne nur einen Augenblick zu suchen, fand er die Furt, die vom Ufer zur Insel führte. Bald war die Furt durchwatet, und der Indianer faßte festen Fuß unter den Weiden, die die Ufer beschatteten. Hier verschwand er, und das geübteste Auge hätte vergebens die ganze Oberfläche der Insel durchforscht, ohne den Indianer zu bemerken, der auf der Spitze, an der sich der Strom des Flusses brach, verborgen war.
   Main-Rouge und Sang-Mêlé steuerten offenbar ihr Kanu zur Büffelinsel, und sie hielten auch bald fast in deren Mitte an. Rayon-Brûlant hatte nicht eine ihrer Bewegungen aus den Augen verloren. Er sah, wie sie ihr Kanu befestigten und an Land stiegen, nachdem sie die Vorsicht gebraucht hatten, eine wollene Decke über die Stelle zu breiten, die ihre Füße betreten sollten. Eine kleine Lichtung öffnete sich vor ihnen, und mit Hilfe anderer Decken, die sie im Überfluß bei sich hatten, belegten sie fast deren ganze Oberfläche mit einem großen, weichen Teppich.
   Jemand, der nicht alle Vorfälle im Steppenleben gekannt hätte, würde nicht gewußt haben, was er von diesen geheimnisvollen Vorbereitungen denken sollte. Der Indianer wußte, was die beiden Piraten tun wollten, und er hörte auf, sie zu beobachten, um an ein besseres Versteck für sich selbst bis zum Augenblick ihrer Abfahrt zu denken.
   Da wir voraussetzen, daß der Leser weniger als der Indianer in die Geheimnisse des wilden Lebens eingeweiht ist, so wollen wir zu seiner Belehrung alle Vorbereitungen im einzelnen durchgehen, die Main-Rouge und Sang-Mêlé treffen wollten. Es ist dies abermals eine von jenen Einzelheiten, die wir zuerst, wie wir uns schmeicheln, denen erzählen, die uns lesen wollen.
   Die Büffelinsel schien so vollständig öde, daß es die beiden Banditen kaum der Mühe für wert hielten, einen Blick um sich her zu werfen; nur infolge des Mißtrauens, das in der Steppe zur zweiten Natur wird, oder um ihr Gewissen zu beruhigen, schienen sie diese einfache Vorsichtsmaßnahme zu treffen. Die Gesträuche, die die kleine, mit feinem, dichtem Gras bedeckte Lichtung umgaben, wurden ebenfalls mit anderen Decken behängt, um auch das Zerbrechen eines einzigen Zweiges bei ihrem Hin– und Hergehen zu vermeiden. Nun beschrieb Main-Rouge mit seinem Messer einen Kreis von ungefähr drei Fuß im Durchmesser und hob mit Hilfe einer aus dem Kanu genommenen Schaufel geschickt den Kreis von Rasen samt einer ziemlich dicken Erdlage empor, die noch an den Wurzeln hing, die sich darin nährten, und legte ihn sorgsam auf eine von den zu ihren Füßen ausgebreiteten Decken.
   Sang-Mêlé half darauf seinem Vater, nachdem er sich mit einer Hacke versehen hatte, und beide gruben nun die Erde aus, die sie bloßgelegt hatten, und jede Schaufel voll, die sie herausnahmen, warfen sie auf eine Büffelhaut an ihrer Seite. Als sie eine Tiefe von ungefähr drei Fuß erreicht hatten, fingen sie allmählich an, das Loch kreisförmig auszurunden und eine Höhlung in Form einer unterirdischen Kuppel zu bilden. Diese Arbeit nahm ihnen einige Stunden weg, nach deren Verlauf sie eine Art Silo ausgehöhlt hatten.
   Während dieser Zeit war die Ladung des Kanus sorgfältig der Sonne ausgesetzt worden, um jede Feuchtigkeit daraus zu entfernen. Die beiden Banditen brachten nun sogleich nach und nach alle Gegenstände vom Ufer in dieses in der Erde angebrachte Versteck. Das Ganze wurde dann mit einem dicken Leder, darauf mit Zweigen und trockenem Gras zugedeckt. Nachdem dies geschehen war, machten sich Main-Rouge und sein Sohn daran, den offen gebliebenen leeren Raum anzufüllen wie Totengräber, die die Erde wieder auf den Sarg werfen.
   Allmählich stieg die festgetretene Erde bis zur Höhe der kreisrunden Öffnung. Der eine von den beiden Piraten benetzte diese Erde mit dem Wasser des Flusses, um den Geruch zu vertreiben, den die wilden Tiere hätten wittern können; darauf legten sie mit der größten Sorgfalt das Rasenstück wieder auf die Stelle, die es einige Stunden vorher einnahm.
   »Nun, Sang-Mêlé«, sagte der alte Renegat, indem er sorgfältig mit seinen beiden Händen auch den kleinsten im Lauf ihres Werkes zertretenen oder zerknickten Grashalm wieder aufrichtete, »glaubst du, daß dieses Versteck gut angelegt und somit unsere Beute in Sicherheit ist?«
   »Ich hoffe es wenigstens«, sagte der Mestize, indem er die Decken, sobald sie darüber hingegangen waren, um ihr Kanu zu erreichen, wieder aufnahm.
   Es war nur noch eine Vorsichtsmaßnahme übrig, um ihr Werk ganz vollständig zu machen, nämlich den Abraum der Erde wegzuschaffen, an deren Stelle die Kaufmannsgüter niedergelegt waren. Der Schutt wurde in das Kanu getragen, in die Decke gewickelt, auf die sie ihn geworfen hatten, und als die Ruderer die Mitte des Stromes erreichten, verschlang das Wasser mit diesen Überresten die letzten Spuren, die das Vorübergehen eines Menschen hätten verraten können. Kein Anzeichen blieb auf den Ufern oder in der Lichtung zurück.
   Das sind die Vorratsorte, die die Trapper, die Indianer und die Kaufleute in der Steppe unter der Erde einrichten, um ihre Güter, ihre Beute oder ihre Waren in Sicherheit zu bringen.
   Das Kanu der beiden Piraten war nun frei von aller Last, mit der diese es überladen hatten, und schwamm bald den Strom mit Schnelligkeit in der Richtung der Nebelberge hinauf. Dort sollte drei Tage später Bois-Rosé ihr Erscheinen bemerken und Baraja sie in ihrem Kanu erblicken; der letztere fand sie am Abend dieses dritten Tages wieder, wo sein Tod dank des Mestizen um einige Stunden verzögert worden war. »Gut«, sagte der junge Komantsche, als sein Luchsauge die beiden Schiffer nicht mehr erblickte, »ihre Seele ist dort begraben; sie werden in kurzer Zeit dahin zurückkehren.«
   Darauf setzte der indianische Krieger abermals über den Fluß, schlug den Weg wieder ein, dem er gefolgt war, und gelangte nach einem Marsch von ungefähr einer halben Stunde in eine Schlucht, in der ein behender, kräftiger Renner angebunden war, der bei der Annäherung seines Herrn wieherte. Rayon-Brülant streichelte ihn mit der Hand, schwang sich auf seinen Rücken und sprengte im Galopp davon. Plötzlich hielten Pferd und Reiter an; beide begannen wie zwei gut abgerichtete Spürhunde zu wittern. Es war nichts; nur zwei einzelne Männer waren in der Ferne sichtbar.
   Wir haben am Anfang dieses Kapitels von fünf Personen gesprochen; dieses sind die beiden letzten, die wir an dessen Ende wiederfinden. Die beiden Männer hatten ebenfalls den Indianer zu Pferd bemerkt. »Wilson!« sagte der eine von ihnen, der zeichnete. »Sir?« antwortete der Amerikaner. »Diesmal ist dort etwas, das Euch angeht, wenn ich nicht irre.« Und Sir Frederick, der dafür bezahlte, um sich nicht mit all den kleinen Gefahren der Steppe beschäftigen zu müssen, dachte nur noch an die Skizze, die er zu zeichnen im Begriff stand. Die Bewegungen des Amerikaners und des Komantschen, um sich gegenseitig anzureden, zeigten von dem Grad des Vertrauens, der im Verkehr des wilden Lebens vorherrschend ist. Wilson machte ein Zeichen mit der Hand, daß er eine freundliche Unterredung eingehen wolle, warf sich aber dabei in eine Höhlung des Bodens, so daß sein Kopf allein darüber hervorragte.
   Der Indianer wurde von diesem Verfahren betroffen, stieg vom Pferd und verbarg sich fast ganz hinter diesem. Dann ließ er es vorwärts gehen, ohne daß man mehr von seiner Person als den Scheitel seines Kopfes und seine über den Sattel hinweg wie eine Kanone auf dem Wall gerichtete Büchse hätte bemerken können. So näherte er sich dem Amerikaner. Der Engländer zeichnete immer noch. Als endlich der Indianer und der Weiße einige Worte gewechselt hatten und gegenseitig überzeugt waren, daß der eine den anderen nicht ermorden wollte, warfen sie ihre Büchsen wieder über die Schulter; der erstere stieg aus seinem Loch, der zweite wieder auf sein Pferd, und beide reichten einander die Hand. »Zu welchem Stamm gehört mein junger Freund?« fragte Wilson.
   »Zur Nation der Komantschen; er will sich wieder mit seinen Brüdern vereinigen, um sie auf die Spur eines Feindes zu führen. Was macht mein weißer Bruder in der Steppe?« »Ich weiß es nicht.«
   Und als der Indianer mit ungläubiger Miene lächelte, sagte Sir Frederick: »Wir gehen spazieren, mein Lieber.«
   »Die Jagdgebiete von Main-Rouge und Sang-Mêlé und die der Apachen sind voll von Gefahren«, sagte der Indianer ernst.
   »Das geht mich nichts an; sprecht darüber mit Wilson!«
   »Diese oder andere!« erwiderte der Yankee phlegmatisch.
   »Meine weißen Brüder sind gewarnt.« Als der Indianer dies gesagt hatte, brach er die Unterhaltung ab und sprengte im Galopp davon.
   Wanderer folgte mit den Augen dem jungen, auf einem wilden, ungestümen Renner durch die Steppe dahinstürmenden Krieger; Pferd und Reiter waren berauscht von dem Luftzug, der – frei wie sie – um ihre Ohren sauste. Es war ein imposanter poetischer Anblick, der nur mit dem eines mit vollen Segeln dahinfahrenden Schiffes, das den unermeßlichen Ozean durchfurcht, verglichen werden kann.
   Nachdem wir nun die Lücken der Vergangenheit ausgefüllt haben, ist es Zeit, ins Val d‘Or zu Pepe und dem Kanadier zurückzukehren.


   63. Zwei Seelen im Fegefeuer

   Am Himmel war keine Spur von dem Sturm zurückgeblieben, der die ganze Nacht hindurch nach dem Verschwinden Fabians gewütet hatte, aber die Erde trug noch deren Eindrücke. Der Regen hatte den Boden gepeitscht, zerrissen und ihn wieder geebnet; jede menschliche Spur war verschwunden, und Stimmen ließen sich in den Bergen vernehmen, die am Tag vorher noch stumm waren; es waren dies schlammige Wasserfälle, schmutzige Bergströme, die in die Ebene den Morast des trockenen Grases und die von der Seite der Felsen abgerissenen, besudelten Gebüsche hinabtrugen. Über diesen Szenen der Verwüstung – denn die gelblichen Fluten bespülten die Leichname der auf der Erde liegenden Indianer – glänzte die Sonne wie gewöhnlich an einem heiteren Himmel.
   Ein Mann saß mit gebeugtem Haupt allein auf einem Felsblock dicht bei der Pyramide des Grabmals. Der Schmerz schien auf seinem energischen Antlitz in einer Nacht tiefe Furchen gezogen zu haben wie die von der Sturmflut am Fuß der Nebelberge aufgerissenen Spalten. Seine grauen Haare flatterten um seine Wangen, deren sonnenverbrannte Farbe gebleicht war; er schien die glühenden Strahlen nicht zu bemerken, die auf seine entblößte Stirn fielen.
   Das war der arme kanadische Jäger.
   Seine gewöhnliche, aber schon durch unaufhörliche Angst um Fabian erschütterte Seelenstärke schien unter diesem letzten Schlag ganz vernichtet zu sein. Er war unbeweglich, sein Blick ausdruckslos; die Verzweiflung hatte bei ihm den höchsten Punkt erreicht – den, wo sie stumm wird. In einem starken Herzen aber ist dies der Augenblick, der dem Erwachen der Energie vorangeht.
   Er blieb lange Zeit in dieser schrecklichen Krisis, denn die augenblicklich durch den nächtlichen Regen entstandenen Gießbäche hatten zuerst aufgehört zu rauschen, dann hatten sie nur noch sanft gemurmelt und waren endlich ganz still geworden, ohne daß Bois-Rosé seine Stellung geändert hätte. Endlich jedoch hob der alte Waldläufer langsam das Haupt wie ein Mann, der von einem todähnlichen Schlaf befallen ist und bei dem der einzige Lebensfunke, der sich nach dem Herzen als der letzten Festung einer mit Sturm genommenen Stadt geflüchtet hatte, nach und nach wieder erwacht, das Blut wieder in Umlauf setzt und den Gliedern wieder Leben einhaucht. Sein Arm streckte sich unwillkürlich aus; seine Hand öffnete sich, als wollte sie seine gewöhnliche Waffe suchen und ergreifen, aber seine Finger begegneten nur dem leeren Raum. Das war der erste Stoß, der ihn zum äußeren Leben zurückrief; er besann sich, dann streckte er beide entwaffnete Arme gen Himmel.
   In diesem Augenblick kam ein Mann um die Felsenkette, die wir so oft erwähnt haben; Bois-Rosé sah ihn, bebte, und sein Gesicht erglänzte von einem bleichen Strahl der Freude. Das war Pepe. Ist das Gesicht eines Freundes nicht immer gleich dem Widerschein der wachenden Vorsehung? Eine dunkle Wolke lagerte noch auf der Stirn des sorglosen spanischen Jägers. Ein rascher, auf seinen alten Gefährten geworfener Blick beruhigte ihn, denn Bois-Rosé kam ihm entgegen. Pepes Stirn klärte sich auf; er fühlte, daß die Eiche zu tiefe Wurzeln in die Erde geschlagen hatte, um schon zu fallen, und er freute sich, sie wieder feststehend zu finden. In alter Zeit hatte wohl ein kräftiger, tapferer Ritter, der durch den Fall einer Zinne oder durch den Schlag einer Streitaxt in seiner Rüstung fast zerschmettert worden war, solche Augenblicke von Betäubung und Schwäche, wie sie den Kanadier befallen hatten; Bois-Rosé erwachte ebenso aus seiner Betäubung. »Nichts?« fragte er mit gebrochener Stimme. »Nichts!« antwortete mit festem Ton der ehemalige Grenzjäger, der bei der wiedergewonnenen Fassung des Jägers jede gewöhnliche Tröstung entschlossen beiseite ließ. »Aber wir werden finden.« »Das habe ich mir auch schon gesagt. Laß uns also suchen!«
   Fabians Name wurde weder von dem einen noch von dem anderen ausgesprochen, ihr Herz war zu voll von der Erinnerung an ihn; jeder dachte daran, ohne es sich zu sagen.
   Pepe wollte jedoch die Rückkehr seines Gefährten zur Energie erproben. Nur dadurch, daß sie kaltblütig ihre Aussichten berechneten, daß sie beide ihre durch den Schmerz nicht mehr verdunkelte Verstandeskraft vereinigten, konnten sie auf einen glücklichen Erfolg rechnen. Und Pepe legte unerbittlich den Finger auf die noch nicht vernarbte Wunde, um sich von der Kraft des Kranken zu überzeugen. »Er ist entweder tot oder lebendig«, sagte er und sah dabei den Kanadier fest an; »in dem einen wie in dem anderen Fall müssen wir ihn wiederfinden.«
   Der Kranke bebte nicht. »Das ist meine Ansicht«, erwiderte er kaltblütig, so vollständig war der Rückschlag gewesen. »Wenn ich ihn tot wiederfinde, werde ich mich töten; wenn ich ihn lebend wieder antreffe, so werde ich leben. In dem einen wie in dem anderen Fall werden meine Leiden nicht lange dauern.« »Gut«, sagte Pepe, der im geheimen seine Pläne machte und auf den wohltätigen Einfluß der Zeit rechnete, die alle schmerzlichen Stunden vernarbt, was auch die Dichter darüber sagen mögen – wohlverstanden die englischen Dichter, die allein die unheilbaren Schmerzen besingen. »Laß sehen«, fügte er hinzu; »wir müssen nun abermals die Richtung einschlagen, in der dieser Schelm Sang-Mêlé entflohen ist, der sich dem Augenblick viel näher befindet, als er denkt, wo er mein oder dein Messer mitten in der Brust hat; denn ich denke mehr als jemals daran, diesen Einfall zur Wahrheit zu machen.«
   »Laß uns lieber erst versuchen, irgendeine Spur hier wiederzufinden, die uns Aufklärung darüber geben kann, wie Fabian in die Hände der Indianer gefallen ist«, erwiderte Bois-Rosé. »Sieh, Pepe, du erkennst gewiß wie ich diesen flachen Stein für einen von denjenigen, die uns dort oben zur Deckung gedient haben. Er muß also in einem Kampf Leib an Leib hinabgestürzt und die beiden Kämpfer, aufrecht oder liegend, müssen mit ihm hinabgerollt sein.«
   »Das ist fast gewiß, und ich will auf die Plattform steigen und sehen, ob es möglich ist, uns über die Stellung zu vergewissern, in der der Kampf stattfand. Du begreifst, daß dies von Wichtigkeit ist. Wenn sie mit dem Kopf zuerst hinabgestürzt sind – wie es normal der Fall sein muß, wenn man aufrecht steht und der Fuß keinen Stützpunkt mehr findet —, so müßte Fabian sich den Schädel zerschmettern; rollte er jedoch im Liegen und von seinem Feind umschlungen hinab, so ist er mit einigen Quetschungen davongekommen.«
   Pepe wollte schon die Seiten der Pyramide erklimmen, als Bois-Rosé ihn zurückhielt. »Sachte, sachte!« sprach er zu ihm. »Wir wollen beide hinaufsteigen, ohne uns, wenn es möglich ist, an die Gebüsche anzuklammern; ich habe in dieser Beziehung meine Gedanken, und wir müssen sorgfältig die Zweige und die Stengel untersuchen.«
   Die beiden Jäger fingen also damit an, hinaufzusteigen, und beobachteten aufmerksam die geringsten Anzeichen. Sie hatten nicht nötig, höher als einige Fuß zu steigen. Wie Bois-Rosé es gehofft hatte, sagte ihnen die Untersuchung der Gesträuche, was sie zu wissen wünschten.
   »Siehst du«, sagte der Kanadier und zeigte auf zwei Gebüsche, die in derselben Höhe auf der Seite der Anhöhe wuchsen und etwa drei Fuß voneinander entfernt waren, »diese kleinen, zerknitterten Zweige beweisen, daß es wenigstens ein Körper von solcher Länge gewesen ist, der sie in seinem Fall zerquetscht hat. Es ist klar, daß die beiden Kämpfer der Länge nach quer herabgerollt sind. Halt! Da ist ein Loch, in dem vor vierundzwanzig Stunden ein Stein gesessen hat, seine Spitze ragte ohne Zweifel hervor, und die beiden Körper werden ihn, auf seine äußerste Spitze fallend, aus der Erde gerissen haben. Ich wette darauf, wir finden diesen Stein wieder.«
   »Das ist nicht nötig!« antwortete Pepe. »Es ist gewiß für mich und für dich, daß Fabian nicht mit dem Kopf zuerst herabgestürzt ist; also lebt er.«
   »Ja, aber er ist Gefangener – und bei welchen Feinden!«
   »Das Wesentliche ist, daß er lebt! Sind wir nicht da?«
   »Oh«, rief Bois-Rosé aus und unterdrückte einen Seufzer schaudernder Angst, »an welchem Ort wird sich wohl der Marterpfahl für ihn erheben?«
   »Du standest eines Tages auch daran, Bois-Rosé und …«
   »… du hast mich davon befreit. Ich verstehe; wir werden ihn auch davon befreien.«
   »Das Wesentliche ist, daß er lebt, sage ich dir!«
   Bois-Rosé begnügte sich mit diesem Trost, denn es gab nichts, wozu er sich nicht fähig fühlte, um Fabian zu befreien.
   »Nachdem wir diesen Punkt festgestellt haben, werden wir sehen …«
   Der Kanadier unterbrach Pepe, indem er seinen Arm mit einer Kraft preßte, als wollte er ihn zerbrechen. »Der Punkt ist zweifelhaft!« rief er aus, als ob ein Lichtstrahl ihn plötzlich berührt hätte. »Wo sind die Leichname der Indianer, die wir getötet haben? In diesem Abgrund ohne Zweifel. Wer sagt dir nun, daß Fabians Leiche nicht bei den ihrigen liegt?«
   »Und seit wann hätten diese Hunde von Indianern und besonders dieser verdammte Mestize soviel Sorgfalt für die Leichname ihrer Feinde bewiesen? Die Schelme haben ihre Toten offenbar den Entweihungen durch die Lebenden entzogen, wie es bei ihnen gewöhnlich der Fall ist. – Nein, nein; wenn Don Fabian tot wäre, so hätten wir ihn hier – nur ohne seinen Skalp – wiedergefunden. Sei versichert, daß der Mestize seine Absicht dabei hat, so plötzlich die Belagerung aufzuheben. Er weiß, daß Don Fabian die Lage des Schatzes kennt, den ich so glücklich verborgen hatte, und sein Leben wird dem Banditen bis zu dem Augenblick kostbar sein, wo er ihm diese Stelle entdeckt hat.«
   Pepes Ansicht war durchaus nicht ohne Wahrscheinlichkeit, und der Kanadier fühlte sich glücklich, sie für unfehlbar annehmen zu können. Aber ein beunruhigendes Anzeichen enttäuschte ihn plötzlich.
   Bois-Rosé hatte sich dem Schlund genähert, in den der Wasserfall hinabstürzte. Er suchte vergeblich am Rand nach menschlichen Spuren, denn der Regen hatte den Boden gepeitscht und sie verwischt. Plötzlich zog ein Gegenstand seine Blicke auf sich. Er bückte sich eilig und zeigte ihn dem Spanier mit düsterer Miene. Es war Fabians Messer. Das Wasser des Himmels hatte es nicht so rein gewaschen, daß nicht noch einige Spuren geronnenen Blutes an den messingenen Nägeln geblieben wären, die den hornenen Griff verzierten.
   »Wie befand sich Fabians Messer so nahe beim Abgrund?«
   Pepe antwortete nicht auf diese Frage seines Gefährten. Die Erfindungskraft seines Geistes war einen Augenblick lang nicht imstande, eine natürliche Erklärung zu finden, und die beiden Jäger verharrten unter dem Gewicht einer schrecklichen Ungewißheit. Der ehemalige Grenzjäger hielt sich jedoch noch nicht für geschlagen; er näherte sich dem Ort, wo sie beide an den zerknickten Gesträuchen die Richtung erkannt hatten, in der die Kämpfer von der Höhe der Pyramide herabrollen mußten. Von hier aus zog er mit ausgestreckter Hand in Gedanken eine Linie im Mittelpunkt des Raumes, der die beiden Gesträuche voneinander trennte. Diese Linie endete am Fuß des abgestumpften Hügels, nicht weit von der Öffnung des Abgrunds.
   »Das Messer Fabians wird beim Sturz seiner Hand entfallen und bis an die Stelle gerollt sein, wo du es gefunden hast. Wenn du nun – was wahrscheinlich ist – annimmst, daß bei dem Kampf, der am Fuß der Pyramiden fortgesetzt wurde, zwei oder drei von diesen Schelmen ihrem Gefährten zu Hilfe gekommen sind, so mußte Don Fabian in einem Nu umringt und gefangengenommen worden sein, ehe er sein Messer wieder aufraffen konnte.«
   Bois-Rosé mußte sich abermals mit dieser Erklärung begnügen, denn er war zu dem Punkt gekommen, glühend zu hoffen, nachdem er einmal über die geistige Niedergeschlagenheit, die ihn beherrschte, triumphiert hatte. Große Schmerzen beruhigen sich zuweilen mit noch weniger guten Gründen, als der war, den Pepe mit einer Überzeugungskraft angeführt hatte, die der Kanadier zu teilen nicht umhin konnte. Die beiden Jäger verließen darauf diesen Teil des Tals, den sie untersucht hatten, und stiegen auf den Gipfel der Felsenkette.
   »Ich kehre wieder zu meiner Meinung zurück«, fuhr Pepe fort, während beide versuchten, ein geheimnisvolles Ereignis zu durchdringen, wobei der von den Sturzbächen durchwühlte Boden ihnen jede genügende Erklärung verweigerte. »Don Fabian wird ein Gefangener in der Gewalt dieses abscheulichen Sang-Mêlé sein; man wird versuchen, ihn durch Furcht und durch Versprechungen zu gewinnen; und da der kühne junge Mann über die ersten spotten und die anderen verachten wird, so wird er uns damit auf die eine oder die andere Weise Zeit geben, bis zu ihm zu dringen.«
   »Ach«, rief Bois-Rosé mit Bitterkeit aus, »ein alter Fuchs wie ich, und sich so fangen lassen!«
   »Es gibt noch Waffen, die man uns nicht nehmen kann: nämlich ein gutes Messer für jeden von uns, ein unerschrockenes Herz und – ich darf es wohl sagen – das Vertrauen auf Gott, der dich nicht so wunderbar auf Fabians Weg geführt hat, um ihn dir so für immer zu nehmen. Du wirst mir darauf erwidern, daß der Hunger uns bedroht. Das ist freilich wahr …«
   »Was liegt daran! Wir werden es machen wie diese armen Teufel von Indianern, die Wurzelesser, die uns im vorigen Jahr in den Felsengebirgen beherbergten und die sich nur von wilden Früchten oder Wurzeln nähren.«
   »So sehe ich dich gern, Bois-Rosé, wie an dem Tag, wo ich dich in einer wahrhaftig sehr kritischen Stellung ruhig rauchen sah, obgleich du an jenem verdammten Pfahl, wie du weißt, angebunden warst, und als du beim Ton einer gewissen Büchse, den du so gut kanntest, den Kopf ohne Erstaunen in dem Augenblick umwandtest, wo der Indianer, der schon in die Haut deiner Stirn geschnitten hatte, wie ein von einer tödlichen Ohnmacht getroffener Hund niederstürzte …«
   »Ich war in der Tat nicht erstaunt, Pepe, denn ich erwartete dich!« erwiderte der Kanadier einfach.
   »Ich sage dir das nicht, um dich an diesen kleinen Dienst zu erinnern, sondern weil es dir beweisen muß, daß man in dieser irdischen Welt nie an irgend etwas verzweifeln darf.«
   Die beiden Jäger waren an dieselbe Stelle gekommen, wo sich die Indianer am vorigen Tag befunden hatten. Bois-Rosé stand aufrecht auf der Böschung des Abhangs und konnte sich nicht enthalten, einen schwermütigen Blick auf die Plattform der gegenüberliegenden Pyramide zu werfen, auf der sie sich selbst – stark durch ihre Einheit, durch ihre Kraft und ihren Mut – verschanzt hatten. Ihre Einheit war zerrissen, ihre Kraft zerbrochen; der Mut allein blieb ihnen noch übrig.
   »Ah«, rief der Kanadier aus, »das ist die erste freudige Bewegung seit gestern abend, die mein Herz klopfen läßt!«
   »Was gibt es?« fragte Pepe, indem er sich seinem Gefährten näherte.
   »Sieh nur!« Bois-Rosé zeigte ihm einen Fetzen von Fabians kattunener Jacke, die die Kraft des Windes ohne Zweifel zwischen den Stengeln der Gesträuche festgehalten hatte. »Er ist bis hierher gekommen«, fuhr er mit trauriger Freude fort; »und dieser Fetzen Zeug wird ihm bei seiner Verteidigung vom Leib gerissen sein.«
   »Die Jacke dieses armen Jungen war sehr mürbe, so reich er auch hätte sein können«, sagte Pepe lächelnd. »Das beweist aber auch, daß ich mich nicht täusche, wenn ich sage, er lebt. Hierbei möchte ich dich auch fragen, ob du noch glaubst, daß die Indianer so große Sorgfalt für die Leichname der Weißen haben?«
   »Das ist wahr!« antwortete Bois-Rosé. »Ich hatte nicht daran gedacht, hier den Beweis davon zu suchen.«
   Ein trauriger Anblick sprach beredt für diese letzte Behauptung Pepes: Es war die Leiche Barajas, die noch an der Stelle ausgestreckt lag, auf die die Kugel des Kanadiers ihn geworfen hatte. Der Unglückliche schien seinen Schatz immer noch nicht verlassen zu wollen. »Wenn dieser Hund von Mestize die Sorgfalt für die Toten gehabt hätte, die du bei ihm voraussetzest«, sagte der Spanier, »so würde der Besitz dieses Goldes ihn glänzend dafür belohnt haben. Ah! Don Fabian verdankt sein Leben dem Gedanken, den Gott mir eingeflößt hat: dieses Tal mit Zweigen zu bedecken, die es vor den Augen aller verborgen haben.«
   Das war die Wahrheit; denn wie oft im Leben hat man es nicht zu bereuen oder sich glücklich zu schätzen, jene plötzlichen höheren Eingebungen vernachlässigt oder befolgt zu haben, wie Pepe einer gehorcht hatte?
   »Wollen wir jetzt ein wenig von diesem Gold mitnehmen, da wir keine anderen Waffen mehr haben, Bois-Rosé?«
   »Wozu nützt das Gold in der Steppe? Werden sich bei seinem Anblick die wilden Tiere vor uns entfernen? Werden die durch die Prärien springenden Büffel und Rehe zu uns herankommen, um sich fangen zu lassen? Lassen wir dieses Val d‘Or, wie es ist; mit seinem Leichnam als einen Beweis von der Bestrafung des Bösen. Dieser Fetzen Kattun ist kostbarer für mich als all diese unnützigen Reichtümer!«
   Die beiden Jäger hatten an diesem Ort alle Geheimnisse erfahren, die sie hier zu erfahren hoffen konnten, und sie wandten sich an dem Felsenabhang nach den Nebelbergen, deren Nebeldecke unter ihren Falten noch die Enthüllung vieler Geheimnisse verbergen konnte. »Laß uns hier einen Augenblick stehenbleiben«, sagte Pepe, als sie nicht ohne Mühe die steilen Pfade erklommen hatten, die Main-Rouge und Sang-Mêlé eingeschlagen haben konnten, denn der Hunger machte sich den beiden Jägern seit langer Zeit fühlbar. Sie teilten die wenigen Vorräte, die ihnen noch übrigblieben. Es war ihre erste und einzige Mahlzeit, seitdem sie am vorigen Tag mit Fabian gegessen hatten.
   So heftig auch der Schmerz sein mag, von dem man ergriffen ist, so läßt doch Gott niemals zu, daß die Rechte der Natur über eine gewisse Zeit hinaus unbeachtet bleiben, weil das Leben des Menschen nur eine lange Reihe von vorübergehenden Schmerzen und – ebenso wie diese Schmerzen – von flüchtigen Freuden sein soll, denen sich niemand entziehen kann. Darum ist der Mensch genötigt, so sehr er auch seine eigene Schwäche verachtet, seine Verzweiflung zu ernähren.
   Nachdem dieses Mahl beendet war, ohne daß sie voraussahen, auf welche Weise sie, der Unterstützung ihrer Büchsen beraubt, am folgenden Tag Essen bekommen würden, nahmen der Kanadier und der Spanier geduldig ihre Untersuchungen des Bodens wieder auf. Hier war es noch viel schwerer, die durch den Sturm verwischten Spuren wiederzufinden. Zu den dichten Dünsten, die die magnetischen Spitzen der Nebelberge herbeizogen – eine ewige Wasserkunst, wo sich Bäche und Ströme ergießen und hervorbrechen —, schienen unaufhörlich neue Dünste aus dem Schoß der Erde emporzusteigen und erhoben sich in dichten, spiralförmigen Linien aus den tiefen Schlünden der Sierra.
   Eine aufmerksame Untersuchung auf dem Teil des Bodens, den sich jeder zugeteilt hatte, bot ihnen kein Anzeichen dar, das sie auf die Spur hätte bringen können. Beide waren von einem dichten Nebelkreis eingeschlossen, so daß sie einander nicht mehr sehen konnten, als Pepe den Kanadier zu einer Beratung herbeirufen zu müssen glaubte. Er wartete vergeblich auf eine Antwort, und als er ihn ein zweites Mal gerufen hatte antwortete wohl eine menschliche Stimme auf den Ruf des Spaniers, aber nicht die des Kanadiers. Pepe war erstaunt, sich nicht allein mit Bois-Rosé in diesen Bergen zu befinden, und rief mit demselben Ton, den er, mit der Büchse im Anschlag, angenommen haben würde »Wer, bei allen Teufeln, ist da?«
   »Wen rufst du so an?« fragte Bois-Rosés Stimme mitten aus dem Nebel.
   »Señor Bois-Rosé, Señor Don Pepe, wo seid ihr?«
   »Hierher!« antwortete Pepe, als er Gayferos‘ Stimme erkannte.
   »Gott sei Dank, ich finde euch endlich wieder und brauche doch nun in diesen verfluchten Bergen nicht vor Hunger zu sterben«, sagte der skalpierte Gambusino und trat aus dem Nebelschleier hervor, der ihn bis jetzt verborgen hatte.
   »Gut«, sagte Pepe zu sich; »da ist noch ein Kostgänger, der von Wurzeln ernährt werden muß. – Nun, mein Braver, Ihr seid schlecht angekommen!« antwortete er laut. »Jäger ohne Gewehr sind nur sehr schlechte Verbündete!«
   »Und Don Fabian?« rief Gayferos, der es nicht vergessen hatte, daß er nur der Fürsprache dieses jungen Mannes sein Leben sozusagen verdankte. »Ist das Unglück, das ich geahnt habe, wirklich eingetreten?«
   »Er ist Gefangener der Indianer, und Ihr seht uns selbst ohne Lebensmittel, ohne Munition – wie Kinder den wilden Tieren, den Indianern und, was noch schlimmer ist, dem Hunger preisgegeben. Aber ehe ich Euch alles Unglück erzähle, das uns betroffen hat, muß ich mir erst von Bois-Rosés Auskunft erbitten.«
   Der Spanier zeigte dem alten Jäger am Fuß eines dichten Strauches von hohem Wermut Spuren, die der Regen nicht vollständig unter dem Laub, das sie schützte, hatte verwischen können.
   »Waren auch Weiße unter ihnen?« fragte er.
   »Hier sind indianische Mokassins, hier Schuhsohlen eines Weißen, wenn ich nicht irre.« Der Waldläufer brauchte die Spuren, die ihm Pepe zeigte, nicht lange zu untersuchen. »Fabians Fuß hat diese letzten Spuren nicht zurückgelassen!« sagte Bois-Rosé. »Erinnerst du dich nicht der Spuren, denen wir vor wenigen Tagen folgten, als der arme Junge, eifriger als wir, auf der Fährte des letzten Rehs, das wir getötet haben, vor uns war? Ich hoffe auf Gott; aber noch ist kein Beweis da, daß Fabian noch am Leben ist.«
   »Ihr zweifelt also daran?« fragte Gayferos teilnehmend.
   Zum erstenmal, seit er wieder zu ihnen gekommen war, warf Bois-Rosé einen Blick des Willkommens auf den Gambusino. Er wurde betroffen von der Veränderung, die achtundvierzig Stunden fast gänzlicher Enthaltsamkeit und großen Leidens bei diesem hervorgebracht hatten.
   »Ob wir zweifeln, daß Don Fabian am Leben sei?« rief Pepe. »Ja, gewiß! Wir haben ihn nur kurz verlassen und ihn nicht wiedergefunden. Aber was sagtet Ihr denn eben von einem Unglück, das Ihr gefürchtet hättet?«
   »Gestern abend«, antwortete Gayferos, »als ich euch nicht, wie ihr mir versprochen hattet, zurückkommen sah, die wenigen Nahrungsmittel aber, die ihr mir zurückgelassen habt, erschöpft waren, fürchtete ich endlich, ohne Hilfe und Beistand zurückgelassen zu sein, und entschloß mich, mir selbst zu helfen. Ich folgte eine Weile euren Spuren, die ich dicht an diesen Bergen verloren habe. Ich irrte beim Anbruch der Nacht aufs Geratewohl umher, als ich an eine Stelle gelangte, von der aus ich einen breiten Strom erblicken konnte; ich sah, daß unter mir ein Strohhut schwamm, den ich als das Eigentum dessen erkannte, den ihr Fabian nennt.«
   »Wo denn?« rief Bois-Rosé und stieß einen Freudenschrei aus. »Pepe, mein alter Freund, wir sind den Räubern auf der Spur; das Kanu, das ich bemerkt hatte, gehört ohne Zweifel diesen Menschen.... Führt uns doch zu diesem Teil des Flusses.«
   Man wird bemerken, daß Bois-Rosé in der Feierlichkeit seines Schmerzes den Indianern und ihren Verbündeten nicht mehr den Beinamen Schelme und Dämonen beilegte, mit denen er sie gewöhnlich bezeichnete. Das Unglück reinigt wie das Feuer alles, was es nicht verzehrt hat. Es scheint alles größer und erhabener zu machen, was es berührt. Die Freude kehrte wieder in das Herz des alten Jägers zurück, und während sie hinter Gayferos hergingen, erkundigte sich Bois-Rosé sorgfältig nach allem, was ihm während ihrer Abwesenheit begegnet war.
   »Nichts«, antwortete der skalpierte Gambusino, »außer daß Gott es ohne Zweifel gewollt hat, daß sich rings um mich eine große Menge von dem wunderbaren Kraut befand, das man in meinem Vaterland Apachenkraut nennt und dessen Saft fast augenblicklich vernarbt. Ich machte einen Umschlag aus diesen Kräutern, nachdem ich sie zwischen zwei Steinen zerquetscht hatte, und die Erleichterung, die ich einige Stunden danach empfand, war so groß, daß ich Hunger bekam und die Vorräte aufaß, die ihr mir zurückgelassen hattet.«
   »Und habt Ihr den Hut Don Fabians auf dem Weg zu uns gesehen?«
   »Ja, und diese Entdeckung ließ mich irgendein Unglück fürchten, dessen Wirklichkeit ich sehr beklage.«
   Der Spanier erzählte dem neuen Gefährten, den der Zufall ihnen sandte, rasch von der Belagerung, die sie ausgehalten hatten, und von der traurigen Entwicklung, die deren Ende gewesen war.
   »Wer sind denn diese Männer, die tapferer und geschickter gewesen sind als ihr?« fragte Gayferos mit einem Erstaunen, das genugsam bewies, wie hoch er die Kraft seiner Befreier anschlug.
   »Schelme, die weder Gott noch den Teufel fürchten; wir haben eine schreckliche Genugtuung zu fordern!« antwortete Pepe und nannte die beiden furchtbaren Gegner, mit denen sie ihr böses Geschick zum zweitenmal hatte zusammentreffen lassen. »Wir werden es das drittemal sehen«, fügte der Spanier hinzu.
   In diesem Augenblick langten die drei Fußgänger nach vielen, durch das schlechte Gedächtnis des Gambusinos verursachten Umwegen ganz nahe bei der Stelle an, wo er sie eben getroffen hatte; dort, wo Baraja das von den beiden Piraten der Prärien bemannte Kanu in dem unterirdischen Kanal hatte verschwinden sehen.
   Nur mit der größten Mühe konnten sie alle drei die schroffen Abhänge, die diesen verlorenen Arm des Flusses überragten, hinabsteigen. An den Ufern dieses Flusses hofften die beiden Jäger solche Spuren zu finden, daß sie diejenigen, die sie schon entdeckt hatten, vervollständigen konnten.


   64. Der Hunger

   Als die beiden Jäger und der Gambusino an das Ufer des Stromes gekommen waren, bemerkten sie bald, daß es nicht weit von der Stelle, wo sie herabgestiegen waren, einen viel weniger beschwerlichen Weg gab, der sich vom Gipfel der Felsen bis zur Oberfläche des Flusses hinschlängelte.
   »Das ist ohne Zweifel der Weg, den diese Schelme mit ihrem Gefangenen eingeschlagen haben, und unten an diesem Pfad muß man ihre Spuren suchen.« »Ich wundere mich nur darüber«, antwortete Bois-Rosé und untersuchte aufmerksam den Ort, »daß Fabian, den ich doch als so ungestüm kenne, gutwillig und ruhig diesen steilen Abhang herabgestiegen ist. Dieses Gesträuch, dieser Wermut trägt keine Spur eines Widerstands von seiner Seite.«
   »Hättest du es lieber gesehen, wenn er sich von der Höhe dieser Felsen mit denen, die ihn umringten, herabgestürzt hätte?«
   »Nein, gewiß nicht, Pepe«, antwortete Bois-Rosé; »aber du hast es ebensogut wie ich gesehen, daß er damals, wo er sich beinahe im Salto de Agua zerschmettert hatte, weder auf die Zahl derjenigen, die er verfolgte, noch auf den Abgrund, über den er zu Pferd setzen mußte, Rücksicht nahm, und darum hat diese passive Unterwürfigkeit von seiner Seite etwas Beunruhigendes für mich. Der Junge war ohne Zweifel verwundet, vielleicht sogar ohnmächtig, und das erklärt mir …«
   »Ich sage nicht nein«, unterbrach ihn Pepe; »deine Meinung ist ziemlich wahrscheinlich.«
   »Mein Gott! Mein Gott!« rief Bois-Rosé kummervoll. »Warum muß dieses Ungewitter jede Blutspur weggewaschen, alle Eindrücke zerstört und verwischt haben? Es wäre ohne das so leicht gewesen, sie wiederzufinden und sich von so vielen Dingen, die wir notwendig wissen müssen, Rechenschaft zu geben. Habt Ihr nicht bemerkt, Gayferos, ob Blut an dem schwimmenden Hut gewesen ist?«
   »Nein«, sagte der Gambusino, »ich war zu weit entfernt. Jene Felsen, auf denen ich mich befand, sind zu hoch, und der Tag wurde düster.«
   »Wenn ich es für gewiß annehme, daß er keinen Widerstand geleistet hat, weil er verwundet war, würde das nicht beweisen, daß Don Fabian in den Händen dieser Schurken so gut ist wie die Hoffnung auf ein reiches Lösegeld, so daß sie sich wohl die Mühe gegeben haben, ihn in ihren Armen bis in ihr Kanu zu tragen?«
   Bois-Rosé nahm mit dankbarem Blick diese wahrscheinliche und tröstliche Voraussetzung des spanischen Jägers auf.
   In der Tat war Fabian durch den Stoß seines Kopfes gegen den flachen Stein, der mit ihm herabrollte, ohnmächtig geworden und während der langen Ohnmacht in das Kanu getragen worden. Ein Indianer hatte sich zwar seines Hutes bemächtigt, diesen aber wegen seines Alters verächtlich ins Wasser geworfen.
   Bis zu diesem Augenblick hatten sich die Jäger also in keinem ihrer Schlüsse betrogen und fuhren, obgleich sie nicht wußten, daß sie beinahe die ganze Wahrheit erraten hatten, nichtsdestoweniger in ihren Nachforschungen mit neuem Eifer fort. Sie gingen also an dem Teil des Flusses nicht stromauf, denn das Wasser in ihm schien stehend zu sein, sondern drangen bis zur Öffnung auf ihrer rechten Seite vor. An dieser Stelle war das Wasser nicht tiefer als zwei Fuß und Schilf bedeckte fast überall den Grund.
   Ein plötzlicher Gedanke fuhr Bois-Rosé durch den Kopf; er lief zu dem engen Kanal und verschwand unter dem düsteren Gewölbe.
   Während dieser Zeit untersuchten Pepe und Gayferos ihrerseits die Ufer, die Gesträuche bis zur Oberfläche des Wasser; nichts jedoch bewies, daß hier menschliche Wesen seit der Erschaffung der Welt vorübergekommen seien. Ein Hurra Bois-Rosés, dessen Stimme in dem unterirdischen Kanal wie der Donner rollte, rief sie zu ihrem Gefährten.
   Der Kanadier hatte nicht ohne Grund ein Triumphgeschrei ausgestoßen. Tiefe Spuren waren noch auf dem schlammigen Boden unverletzt geblieben; die einen halb von Wasser bedeckt, das aus der Erde hervorquoll, die anderen deutlich bestimmt und wie in die feuchte Erde hineingeformt, boten sie sich von allen Seiten den Augen der beiden Jäger und des Gambusinos dar. Das war die Stelle, wo Main-Rouge und Sang-Mêlé ihr Kanu angebunden hatten!
   »Ah«, rief Bois-Rosé aus, »wir werden jetzt nicht mehr auf gut Glück umherirren! Gott verzeihe mir – was sehe ich denn dort zwischen dem Schilf? Ist es ein trockener Schilfstengel oder ein Stück Leder? Sieh doch her, Pepe, denn die Freude trübt meine Augen.«
   Pepe nahm, einige Schritte durch das Wasser machend, einen Gegenstand auf, den er dem alten Jäger zeigte. »Es ist ein Stück von einem ledernen Riemen, mit dem das Kanu an diesen Stein angebunden war und den die Schelme zerschnitten haben, anstatt ihn aufzuknüpfen«, sagte der Spanier; »und da ich einmal hier bin, so will ich doch noch ein wenig weiter unter diesem Gewölbe vordringen, denn es ist mir, als ob ich in einiger Entfernung etwas wie einen Streifen halbdunklen Lichtes auf der Oberfläche des Flusses zittern sehe.«
   Pepe ging vorsichtig bis ans Knie im Wasser weiter zu dem Ort hin, wo in der Tat der Tag mit zweifelhaftem Glanz am äußersten Ende des unterirdischen Kanals zu leuchten schien. Wie groß war seine Überraschung, als er die Büschel von Binsen und Schilf zurückschlug und sein Blick über einen See flog, dessen Gestalt ihm bekannt war. In der Tat bildete der Kanal unter dem Felsen eine Verbindung mit dem See des Val d‘Or.
   Pepe kam zurück, um dem Kanadier seine Entdeckung mitzuteilen, obgleich sie jetzt ohne irgendwelche Wichtigkeit war. Bois-Rosé konnte jedoch sich nicht enthalten, seinem Schmerz bei dem Gedanken Luft zu machen, daß der Körper des Indianers, der vom Gipfel der Felsen unter seiner Kugel herabgestürzt war, ihm dieses dicht bei ihnen in den See mündende Gewölbe entdeckt und ihm wie durch die Macht der Vorsehung einen Weg, um mit Fabian und Pepe zu entkommen, angedeutet hatte, ohne daß er den Gedanken gehabt hatte, es zu benützen.
   »Und hier«, schloß er, sich vor die Stirn schlagend, »würden wir dieses Kanu gefunden haben, um aus diesen Bergen herauszukommen, indem wir nur ganz einfach dem Lauf des Wassers folgten!«
   »Folgen wir ihm also zu Fuß«, rief Pepe aus, »und wir werden zu gleicher Zeit in die Spuren dieses verfluchten Mestizen treten!«
   »Vorwärts! Benützen wir den Augenblick, wo der Hunger noch nicht unsere Füße erstarrt und unser Gesicht geschwächt hat. Vor Sonnenuntergang werden wir schon eine ziemliche Strecke Weges zurückgelegt haben.«
   Bei diesen Worten setzte sich Bois-Rosé mutig in Bewegung, obgleich er nur von solchen unbestimmten Anzeichen unterstützt wurde; seine beiden Gefährten folgten ihm. Ihr Marsch war anstrengend, denn sie mußten den Fluß entlang die abschüssigen Ufer ersteigen, die ihn einengten, und Felsen erklimmen, die ihn überragten. Ein einziges Ereignis war in den ersten Stunden bemerkenswert: Es war dies die Auffindung des Strohhutes des armen Fabian, den der ungestüme Wind des Ungewitters vor sich hergetrieben hatte und der, an den dornigen Zweigen eines Gebüsches hängend, unter dem Lufthauch hin und her schwankte.
   Bois-Rosé untersuchte mit tränenschweren Augen diesen ihn so schwermütig stimmenden Überrest des Kindes, das er zum zweitenmal verloren hatte. Übrigens ließ sich keine Spur von Blut daran erblicken. Der Kanadier band ihn an sein Wehrgehänge, wie es ein Pilger mit einer heiligen Reliquie gemacht hätte, und setzte schweigend seinen Marsch fort.
   »Das ist ein gutes Zeichen«, sagte Pepe, der sich seinerseits Mühe gab, die Traurigkeit, die ihn überfiel, von sich abzuschütteln; »wir haben seinen Dolch und seinen Hut gefunden – Gott wird uns auch ihn selbst finden lassen!«
   »Ja«, sagte der Kanadier mit düsterer Miene; »und außerdem, wenn wir ihn nicht wiederfinden …«
   Bois-Rosé beendete seine angefangene Rede in Gedanken. Der alte Waldläufer dachte ganz im stillen an jene unsichtbare Welt, wo sich diejenigen wiederfinden, deren gegenseitige Liebe noch jenseits des Grabes fortdauern muß, ohne daß sie sich jemals wieder trennen müßten.
   Obgleich die Sonne noch ziemlich weit vom Horizont war, hinter dem sie verschwinden sollte, so erlosch doch allmählich der Tag unter dem über den Bergen dicht angehäuften Nebel, als die drei Wanderer an einen Ort kamen, wo das Wasser eine Art von Strudel bildete, der nach des Kanadiers Versicherung ohne Zweifel dadurch gebildet wurde, daß in der Nähe ein anderer Arm sich mit dem Fluß vereinigte.
   Bois-Rosé hatte nicht ganz unrecht; aber anstatt eines Zusammenflusses waren zwei vorhanden, und der Strom, dem sie bis jetzt gefolgt waren, war nur durch einen zu hohen Wasserstand beim Zusammenfluß der Ströme entstanden und verlängerte sich rückwärts mehrere Meilen weit bis zu dem See, von dem sie aufgebrochen waren.
   Die kleine Truppe machte an dieser Stelle halt. Eine neue Ungewißheit stellte sich ihnen dar. Welche Richtung hatte das Kanu eingeschlagen? War es der Arm des Flusses, der nach Osten, oder war es derjenige, der nach Westen floß? Die drei Männer beratschlagten, ohne einen bestimmten Entschluß fassen zu können. Sie suchten überall eifrig nach einer Spur, die sie auf den rechten Weg bringen könnte. Die graue, düstere Oberfläche der Gewässer und das an den Ufern murmelnde Schilf konnten ihnen auch nicht die unbestimmteste Andeutung geben.
   Dann brach die Nacht unter einer Decke undurchsichtigen Nebels traurig und schwarz herein; selbst der Polarstern glänzte nicht mehr am Himmel, dessen Gewölbe aus Blei zu bestehen schien. Man mußte sich entschließen, die ferneren Nachforschungen bis zum Anbruch des Tages aufzuschieben und hier bis zur Morgenröte zu bleiben, um nicht möglicherweise einen falschen Weg einzuschlagen. Die Müdigkeit war auch ein Hindernis für den Marsch, und der Hunger begann, ohne daß es einer dem anderen gestanden hätte, nicht bloß, sich fühlbar zu machen, sondern auch wahrhaft unerträglich zu werden.
   Alle drei legten sich schweigend ins Gras, aber ihre geschlossenen Augenlider forderten vergeblich den Schlaf heraus.
   In dem ständigen Kampf zwischen der Zerstörung und dem Leben, dessen Schlachtfeld der menschliche Körper ist, gibt es einen schrecklichen Punkt, wo der Schlaf vor dem nagenden Hunger entflieht, wie sich der Hirsch bei der Stimme des Jaguars entsetzt und das Weite sucht. Dann macht das Leben eine letzte, äußerste Anstrengung; der Schlaf gießt endlich über den erschöpften Körper einige stärkende Tropfen aus, und von dieser Zeit an geht die Zerstörung mit raschen Schritten vorwärts, und die hinfällige menschliche Maschine unterliegt bald den Angriffen des inneren Feindes, der an ihr nagt.
   Die drei Wanderer waren nun erst bis zu jener Periode des inneren Kampfes gekommen, wo der Hunger lange den Schlaf verjagt, der der letzte sein soll; denn die Schläfrigkeit, die noch rascher eintritt, ist nichts weiter als der Todeskampf. Erst nachdem sie sich oft auf ihrem Rasenbett hin und her gewälzt hatten, konnten die drei Wanderer die Augen einige Stunden lang schließen; und trotzdem wurde das Schweigen der Nebelberge zu verschiedenen Malen durch ein Angstgeschrei gestört, das die Schläfer im Traum ausstießen.
   Ringsum war noch tiefe Nacht, als sich Bois-Rosé schweigend erhob. Trotz der Angriffe des Hungers fühlte der kanadische Riese, daß seine Kräfte sich noch nicht vermindert hatten, daß aber die Stunden kostbar wären. Er warf einen traurigen Blick auf die düstere, ihn umgebende Landschaft; auf diese öden Berge, deren Zacken keinem belebten Wesen Schutz zu bieten schienen; auf den Fluß mit schwarzen Gewässern, in deren Schoß die Bewohner tief in ihren Zufluchtsorten schliefen. Er überzeugte sich sehr bald, daß der Hunger der einzige Gast dieser Einöden wäre, und weckte den spanischen Jäger.
   »Ach, du bist es Bois-Rosé?« fragte Pepe, die Augen öffnend. »Kannst du mir irgendeine Nahrung zum Ersatz für den Traum geben, dem du mich entreißt? Ich träumte …«
   »Wenn man ein Werk vor sich hat, wie das ist, das uns zu tun noch übrigbleibt, so sind die Stunden zu kostbar, um zu schlafen!« unterbrach ihn Bois-Rosé mit feierlichem Ton. »Wir haben kein Recht, den Schlaf dieses Mannes zu stören«, fügte er, auf Gayferos deutend, hinzu; »er hat keinen Sohn zu retten. Aber wir, wir müssen Tag und Nacht marschieren.«
   »Das ist wahr; aber wohin marschieren?«
   »Jeder nach seiner Richtung. Du an den Ufern des einen Stromes, ich an denen des anderen; untersuchen, überall nach Spuren umherblicken, dann uns hier beim Anbruch des Tages wieder vereinigen – das ist es, was uns zu tun obliegt.«
   »Welche Trostlosigkeit herrscht um uns her!« sagte Pepe mit leiser Stimme und schauderte unter dem ersten Anfall von Entmutigung, die sich unmerklich in sein Herz schlich.
   Der Kanadier besaß noch seine ganze stolze, durch die Not noch nicht gezähmte Kraft und bemerkte nicht, daß die Energie seines Gefährten einen Augenblick geschwankt hatte.
   Pepe seinerseits hatte bald seinen sorglosen Mut zurückgerufen. »Hast du irgendeinen Gedanken in dieser Beziehung?« fügte er schnell hinzu.
   »Ja. Als ich zum erstenmal das Boot dieser beiden Männer, die uns so verderblich sind, für einen schwimmenden Baumstamm hielt, segelte es gerade nordwestlich um die Spitze dieser Berge. Es muß also gerade denselben Windstrich benutzt haben, um zurückzukehren. Hätte ich mitten in diesem Nebel die Stelle unterscheiden können, wo die Sonne untergegangen ist, so würde ich dich sogleich auf den rechten Weg bringen; aber nicht einmal der Polarstern glänzt am Himmel! Wenn du also nach einem einstündigen Marsch nicht die Ebene vor dir erblickst, so komm zu mir hierher zurück – ich werde sie dann ohne Zweifel gefunden haben.«
   Die beiden Jäger entfernten sich jeder nach seiner Seite und verloren einander bald aus den Augen.
   Der skalpierte Gambusino schlief noch, und als er endlich erwachte, bemerkte er, daß er allein war. Staunen und Unruhe jedoch waren bei ihm nur von kurzer Dauer; Pepe kehrte bald zu ihm zurück. Die ersten Strahlen des Tages mußten schon die Ebene erleuchten, obgleich unter dem Nebel der Berge die Morgendämmerung kaum begonnen hatte.
   Pepe war zurückgekehrt, nachdem er dem Lauf des Flusses mitten durch eine ununterbrochene Reihenfolge von steilen Felsen, drohenden Abhängen und hohen Hügeln gefolgt war; das Boot hatte also diese Richtung nicht eingeschlagen, soviel man es wenigstens aus dem Mangel jeglichen Anzeichens schließen konnte, das sicherer gewesen wäre als die Voraussetzungen des Kanadiers. Es kam jetzt nur darauf an, zu wissen, ob dieser glücklicher gewesen war.
   Eine weitere halbe Stunde war noch nicht verflossen, als Bois-Rosé ebenfalls zurückkehrte. »Vorwärts!« rief er aus der Ferne, sobald er nur seine beiden Gefährten erblickte. »Ich bin auf dem einzig richtigen Weg!«
   »Gott sei gelobt!« sagte Pepe. Und ohne den Kanadier weiter zu befragen, setzte er sich in Bereitschaft, diesem mit soviel Schnelligkeit zu folgen, als ihm die Schwäche erlaubte, die er zu fühlen anfing.
   Der Tag war in dem Augenblick angebrochen, als die kleine Schar endlich sah, wie der Fluß breiter wurde, mitten durch eine unermeßliche Ebene floß und die Strahlen der Sonne auf der Oberfläche der Gewässer funkelten. Der Kanadier ging voraus, dem Anschein nach unempfindlich gegen die Schmerzen des Hungers, die ihn nicht weniger als seine beiden Gefährten peinigten. Diese folgten ihm etwas entfernt voneinander; Pepe zuerst, indem er vergeblich versuchte, einen kriegerischen Marsch zu pfeifen, um seinen Magen auf andere Gedanken zu bringen; der Gambusino folgte zwanzig Schritt hinter dem Spanier und schleppte sich unter erstickten schmerzlichen Seufzern fort.
   Nachdem sie eine Stunde gegangen waren, rief der Kanadier, der immer vorausging, Pepe zu, an den Ort zu kommen, wo er haltgemacht hatte. Es war dies unter einer Gruppe von großen Bäumen, mitten im hohen, trockenen Gras, das der Jäger nur mit der Hälfte seines Körpers überragte. »Lauf doch!« rief Bois-Rosé mit einem Ton lustigen Vorwurfs aus. »Man sollte meinen, du hättest deine Beine in den Bergen vergessen!«
   »Sie sind in offener Empörung gegen mich, meine Beine«, antwortete Pepe. Und er sah, wie der Kanadier sich niederbückte und im Gras verschwand.
   Als er Bois-Rosé erreicht hatte, fand er ihn auf dem Boden kniend, wo er mit der größten Sorgfalt neben den Resten eines Feuers, von dem noch einige Brände rauchten, zahlreich verstreute Spuren untersuchte.
   »Der Gewitterregen«, sagte der Kanadier, »durch den die Spuren in den Bergen verwischt waren, hat diese hier bewahrt, weil sie, anstatt vor dem Regen gemacht zu sein, in den Boden gedrückt sind, den er schon erweicht hatte. Sieh diese Schritte, deren Spuren schon unter der Sonnenhitze hart wurden – sind das nicht die von Main-Rouge und Sang-Mêlé und von seinen Indianern?«
   »Wahrhaftig, dieser Räuber aus Illinois hat Büffelfüße, die man leicht unter Hunderten erkennen kann; aber ich sehe nicht die Spur des armen Fabian!«
   »Ich preise darum den Himmel nicht weniger, daß er uns hierher gebracht hat. Wir haben nirgends den Marterpfahl oder die Spuren eines Mordes bemerkt. Glaubst du, daß die Räuber, während sie hier die Nacht zubrachten, sich Vorwürfe daraus gemacht haben werden, Fabian geknebelt in ihrem Kanu liegen zu lassen? Das ist der Grund, warum keine Spur von dem armen Jungen da ist!«
   »Das ist wahr, Bois-Rosé; ich glaube fast, ja ich fühle sogar, daß der Hunger mir den Kopf verwirrt macht. Ah, die Schelme! Die Räuber!« rief Pepe plötzlich mit einem Ausbruch tobender Wut aus, die den Kanadier erbeben ließ. »Siehst du? Die Teufel«, fuhr Pepe fort; »sie haben gegessen, sie haben ihren Magen mit Hirsch– oder Rehbraten gefüllt, während ehrliche Christen wie wir nicht einmal die Knochen abnagen können, sofern wir uns nicht mit dem, was diese Hunde übriggelassen haben, begnügen wollen!«
   Während Pepe diese Verwünschungen ausstieß, trat er mit einer Mischung von Verachtung und Eßlust auf die noch mit Muskeln und Fetzen von Fleisch bedeckten Knochen. Der Gambusino holte sie in diesem Augenblick ein und fiel, weniger stolz als der Spanier und der Kanadier, gierig über diese Überreste her.
   »Wenn man alles bedenkt, so hat er recht; unser Stolz ist vielleicht nur eine Dummheit!«
   »Es ist möglich; aber ich will lieber vor Hunger sterben, als das Leben den übriggebliebenen Brocken dieses Gewürms verdanken!«
   Da die beiden Jäger nun über die Richtung, die sie einschlagen mußten, mit sich einig waren, so ließen sie Gayferos seine Rehknochen mit gewissenhaftem Enthusiasmus abnagen, um unter dem Gras nach einigen eßbaren Wurzeln zu suchen, von denen sie auch eine kleine Anzahl fanden und mit deren Hilfe sie ihren Hunger auf einige Augenblicke wenigstens täuschen konnten.
   Die kleine Schar setzte sich wieder am Fluß hinunter in Marsch. Büffelspuren zeigten sich auf allen Seiten, Scharen von Drosseln und wilden Gänsen begannen nach den kälteren Seen zu wandern und flogen durch die Luft; Fische sprangen aus dem Wasser und zeigten einen Augenblick ihre in der Sonne glänzenden Schuppen, zuweilen durchliefen auch Elentiere oder Damhirsche springend ihr wüstes Gebiet – mit einem Wort: Himmel, Erde und Wasser schienen ihre Reichtümer nur darum vor den Augen der verhungernden Wanderer auszubreiten, um sie lebhafter den Verlust ihrer Feuerwaffen fühlen zu lassen! Es war die bei jedem Schritt erneuerte Strafe des Tantalus.
   »Geh nicht so rasch, bei allen Teufeln!« rief Pepe aus, der schon seit einigen Augenblicken hinter dem Kanadier wie ein Heide fluchend herging. »Laß mich überlegen, wie wir Jagd auf diese prächtigen Büffel machen können, die wir dort unten sehen.«
   »Laß uns zuerst den Räubern Fabians ihre Waffen entreißen«, sagte Bois-Rosé. »Wir sind in einer wundervoll geeigneten Stimmung, um mit Erfolg zu kämpfen! Der Hunger wird binnen jetzt und einigen Stunden wütende Tiger aus uns machen; laß uns nicht bis zu dem Augenblick warten, wo er uns in einen Zustand versetzen kann, der so schwach ist, wie der der Lämmer, die fern von ihrer Mutter blöken.«
   In dieser Art legte der frühere Grenzjäger, der vor dem Gedanken nicht erschrak, nur mit dem Dolch in der Hand so furchtbare Feinde anzugreifen, wie diejenigen waren, die sie alle drei verfolgten, noch einen langen und beschwerlichen Tagesmarsch zurück. Er unterlag jedoch auf diesem bald einer unüberwindlichen Erstarrung, die mit jeder Stunde des Marsches wuchs. Immer wurde er vom Kanadier unterstützt und wieder vorwärts getrieben.
   Was Bois-Rosé anlangt, so schien es, als ob seine athletische Gestalt, seine Riesenkraft und vor allem das unauslöschliche Feuer seiner väterlichen Liebe einen Mann aus ihm machten, der für die physischen Schwächen der Menschheit ganz unzugänglich war. Sein Herz war indes darum nicht weniger um Fabians Schicksal besorgt, aber es schien wie die Leber des Prometheus jeden Augenblick glühender unter den Bissen des Geiers zu wachsen, der es zerfleischte.
   Die Sonne neigte sich noch nicht merklich gegen den Horizont, als Bois-Rosé mehr aus Mitleid mit Pepe als wegen seiner eigenen Ermüdung am Ufer des Red River, dem sie schon so lange folgten, haltmachte.
   Ihnen gegenüber lag eine von den Inseln mitten im Fluß, mit denen dieser bedeckt ist. Die drei Wanderer bemerkten den Schatten darauf, sahen die bis auf das Wasser herabhängenden Lianen, die sich üppig in das Laub der sich domartig über die Insel wölbenden Bäume mischten, und empfanden dabei nur noch den erhöhten Schmerz von unglücklichen Verhungerten. Es war einer von jenen Zufluchtsorten, von denen der Wanderer in der Steppe träumt, um dort das Feuer zum Mahl anzuzünden und nach befriedigtem Hunger den Schlaf zu genießen, der zuletzt seine Kräfte wiederherstellt. Nach der Handvoll Maismehl, von der die beiden Jäger vor vierundzwanzig Stunden ihren Anteil verzehrt hatten, war dies der zweite Tag auf dem Marsch, den sie fast nüchtern beschlossen. Gayferos war ein wenig durch das karge Mahl gestärkt, das er beim Feuer der Indianer gefunden hatte, und hatte darum noch nicht allen Mut verloren; der Spanier auch noch nicht, aber seine Kräfte empörten sich gegen seinen Willen.
   Bois-Rosé konnte sich nicht verhehlen, daß Pepe in jenen kritischen Zeitpunkt eintrat, wo die Zerstörung einen schrecklichen Vorsprung über das Leben gewinnt, und daß seine kräftige Leibesbeschaffenheit ihn kaum vor einem ähnlichen Schicksal bewahrte. Er machte also, nachdem sie sich ungefähr eine Stunde ausgeruht hatten, den Versuch, mit seinen beiden Gefährten den unterbrochenen Marsch fortzusetzen. Es war vergeblich; aus den leeren Eingeweiden des armen Pepe stiegen blendende Lichtbilder in seinen Kopf und machten seine Augen fast blind, die noch gestern an Schärfe mit denen des Falken wetteiferten.
   »Meine Füße haben keine Kraft mehr«, antwortete der Spanier auf die ermunternde Anrede des Kanadiers; »es scheint sich alles vor meinen Augen im Kreis herum zu drehen. Überall um mich her sehe ich Fische spottend aus dem Fluß springen, Damhirsche stehen vor mir und schauen mich an! Was soll auch«, fügte der Grenzjäger mit einem letzten Blitz seiner spöttischen Lustigkeit hinzu, »ein Jäger ohne Gewehr anderes sein als der Spott der Büffel und der Damhirsche?« Und Pepe streckte sich auf den Sand nieder wie der vom Windhund eingeholte Hase, der seinen Tod erwartet.
   Der Kanadier sah ihn an und unterdrückte einen Seufzer. »Ach«, sagte er mit Bitterkeit, »was ist doch der tatkräftigste Mann dem Hunger gegenüber?«
   »Und der Beweis davon ist«, fuhr der Spanier fort, »daß ich in der Steppe Dinge bemerke, die für dich unsichtbar sind; ich glaube nämlich in der Ferne einen Büffel zu sehen, der auf uns zukommt.«
   Der Kanadier heftete immer noch seinen schwermütigen Blick auf denjenigen, dessen Verstand unter den Angriffen des Hungers schwach zu werden begann. Er sah jedoch, wie Pepes Augen sich starr auf einen Punkt richteten.
   »Nicht wahr, du siehst ihn nicht?«
   Bois-Rosé hielt es nicht der Mühe wert, sich umzuwenden.
   »Nun, ich sehe ihn, diesen verwundeten Büffel, der auf mich zukommt und Wellen von Blut verliert, Wellen hochroten Blutes, viel schöner noch als der schönste Purpur der Abendröte. Es ist, als ob Gott ihn schickte. um mich vom Hungertod zu retten«, fuhr der ehemalige Grenzjäger fort, dessen Augensterne zu funkeln begannen. Plötzlich stieß er eine Art von Gebrüll aus. stand mit einem Sprung auf den Füßen und stürzte schnell wie der Blitz fort.
   Bois-Rosé hatte diese Bewegung Pepes – so plötzlich war sie gewesen! – nicht verhindern können. Entsetzt bei dem Gedanken, daß der frühere Grenzjäger vom Wahnsinn befallen sei, wandte er sich um, ihn mit den Augen zu verfolgen, konnte aber ein Gebrüll wie das des Spaniers nicht zurückhalten.
   Ein ungeheures, seltsames Tier, viel größer noch als der stolzeste gezähmte Stier, sprang in weiten Sätzen mitten durch die Ebene, die es mit seinem Blut rötete. Eine ungeheure schwarze Mähne wallte um seinen Kopf, und darin rollten zwei flammende Augen wie zwei Feuerkugeln, während der kräftige Schweif seine Weichen peitschte.
   Es war ein verwundeter Büffel. Und Pepe stürzte auf ihn zu wie ein ausgehungertes wildes Tier.


   65. Eine Jagd auf Leben und Tod

   Bois-Rosé war entschlossen, diese unverhoffte Gunst der Vorsehung zu nützen, und stürzte dem früheren Grenzjäger nach, von Gayferos gefolgt, der ebenso wie sie begriff, daß ihr Leben vom glücklichen Erfolg dieser Jagd auf Leben und Tod abhing.
   Diese Jagd gehörte in der Tat nicht mehr zu denen, bei denen die Eigenliebe allein im Spiel ist; das Leben, das eben entfliehen wollte, mußte man dem Hungertod und seinem Gefolge von Qualen entreißen; man mußte jagen, wie es die reißenden Tiere tun, die Eingeweide vom Hunger zerrissen, mit blutigen Augen und keuchenden Weichen. Aber mitten in der Steppe war es, wo drei Männer ohne andere Waffen als ihre Messer ein Tier verfolgen sollten, das schnell genug war, ihrer Anstrengung zu spotten, und zu furchtbar, als daß man sich ihm ungestraft hätte nähern können.
   Beim Anblick der auf ihn zulaufenden Feinde stand der Büffel einen Augenblick still, scharrte zurückweichend mit dem Fuß die Erde auf, peitschte unter dumpfem Brüllen seine Weichen mit dem Schwanz, fegte den Boden mit den Wellen seiner langen Mähne und wartete hinter dem Wall seiner drohenden Hörner wie hinter einer Verschanzung.
   »Faß das Tier im Rücken, Pepe!« rief der Kanadier mit einer fast ebenso furchtbaren Stimme als die des brüllenden Büffels. »Gayferos, nehmt die rechte Seite; wir müssen ihn zwischen uns einschließen!«
   Pepe war von den drei Jägern am weitesten voraus, und er führte den Befehl des Kanadiers mit einer Schnelligkeit aus, die man seinen müden Beinen nicht zugetraut hätte; Gayferos lief ebenfalls schnell nach der rechten und Bois-Rosé stürzte nach der linken Seite. Alle drei hatten bald die Winkel eines Dreiecks um den verwundeten Büffel gebildet.
   »Jetzt zusammen vorwärts! Hurra! Hurra!« rief der Spanier, stürzte mit dem Messer in der Hand auf den Büffel los und trank mit den Augen schon das Blut, das von dem Tier wie ein purpurner Regen ringsum niedertropfte.
   »Im Namen Gottes, nicht so schnell!« sagte der Kanadier, erschreckt vom heißhungrigen Eifer des früheren Grenzjägers, der jeder Gefahr Trotz bot. »Laß uns doch mit dir zugleich herankommen!«
   Aber Pepe hörte nicht auf ihn; seine Augen glühten, seine Zähne waren fest zusammengebissen. Wo Bois-Rosé die Gefahr sah, erblickte Pepe nur eine zu verzehrende Beute, und er berührte fast den Büffel, als dieser aus Furcht vor den Feinden, deren Kreis sich um ihn schloß, die Flucht ergriff und in dem Augenblick fortlief, wo der Arm des Spaniers sich hob, um ihn zu treffen. Dieser letztere, von der Gewalt des Stoßes fortgerissen, traf nur die Luft, verlor das Gleichgewicht und fiel. Als er, ein wütendes Geheul ausstoßend, wieder aufstand, war der Büffel schon weit entfernt, und der Kanadier und Gayferos waren ihm voraus.
   »Schneide ihm den Weg zum Fluß ab, Bois-Rosé!« rief der Spanier, als er sah, daß der Büffel einen letzten Zufluchtsort im Wasser suchen zu wollen schien. »Fabians wegen – um unser aller Leben willen dürfen wir ihn nicht entfliehen lassen!«
   Bois-Rosé hatte Pepes Ruf nicht abgewartet, er hatte schon die Richtung des fliehenden Büffels bemerkt. In der Verzweiflung, die einzige Hoffnung ihres Lebens entschlüpfen zu sehen, lief der Kanadier in weiten Sätzen wie ein Jagdhund zum Ufer des Flusses, und als er sich mit dem Büffel fast in einer geraden Linie befand, verließ er diese plötzlich und stürzte sich mit lautem Geschrei auf ihn los. Das Tier schlug eine entgegengesetzte Richtung ein, und da es sich hier dem Gambusino gegenüber befand, der ihm den Weg abschnitt, so lief es wieder auf Pepe zu.
   Der Kanadier und Gayferos waren geschickte Jäger, und der Hunger verdoppelte noch ihren scharfen Blick; sie setzten also ihre Verfolgung fort und verdoppelten ihr Geschrei, während Pepe im Gegenteil unbeweglich und schweigend sich auf die Erde duckte und auf sein Vorüberkommen lauerte.
   Es wurde bald klar, daß der Büffel sich durch eine breite Wunde zwischen beiden Schultern und durch den Blutverlust ermattet fühlte. Seine Bewegungen hatten die nervige Spannkraft verloren, Wellen blutigen Schaums drangen aus seinen weiten schwarzen Nüstern, und sein rauhes, stoßweises Gebrüll verriet seine Erschöpfung. Eine Wolke schien vor seinen Augen zu schweben, denn in seinem Lauf mußte er den Körper des lauernden Spaniers fast berühren – und doch verließ er die gerade Linie nicht.
   Der frühere Grenzjäger ergriff mit einer Hand ein Horn des Büffels, der sich nicht umwandte, und mit der anderen stieß er ihm zweimal den Dolch bis an das Heft in die Brust, statt in die Schulter. Das Tier erhob sich aber bald wieder und riß den Spanier mit sich fort. Der ehemalige Grenzjäger hatte sich durch eins jener kühnen Manöver, die die Toreadores seines Vaterlands zuweilen in Anwendung bringen, auf dem Rücken des Tieres an die große, wallende Mähne angeklammert.
   Bois-Rosé und Gayferos liefen hinzu und konnten einen Augenblick sehen, wie der Reiter, vom Hunger verzehrt, sich wie eine Schlange um seine Beute wand, abwechselnd den Arm zum Stoß hob und dann jedesmal den Kopf bückte, um mit gierigen Lippen das Blut zu saugen, das jeder Stoß hervorspritzen ließ. Der Hunger hatte den Menschen zum wilden Tier gemacht. Von nun an war es dem Grenzjäger gleichgültig, welche Richtung der im Todeskampf dahinstürmende Büffel einschlagen mochte; er trank wieder und immer wieder von dem warmen Blut, das ihm das Leben wiedergab, heulte, stieß mit dem Dolch und ließ sich davontragen.
   »Tod und Donner!« rief der Kanadier keuchend aus, der nun auch den Qualen des Hungers, den er so lange durch seinen unerschütterlichen Willen unterdrückt hatte, nachgab. »Mach doch ein Ende mit ihm, Pepe! Willst du ihn vielleicht in den Fluß entkommen lassen?«
   Der Spanier brüllte und stieß immer wieder zu, ohne zu sehen, daß der Büffel zum Fluß stürzte, um den an seinen Weichen angeklammerten Feind abzustreifen. In dem Augenblick, wo Bois-Rosé einen zweiten Schrei der Wut ausstieß, nahm das verwundete Tier seine Kräfte zusammen und setzte mit gewaltigem Sprung wie ein verendender Hirsch ins Wasser.
   Der Mensch und der Büffel verschwanden mitten in einer Welle von Schaum und überschlugen sich einen Augenblick; aber das Leben hatte den Riesen der Prärien verlassen, der bald zusammenbrach und unbeweglich wie ein im Strom eines Flusses gestrandeter Felsblock liegenblieb.
   In dem Augenblick, wo Pepe wieder festen Fuß faßte, stürzten der Kanadier und Gayferos, blutdürstig wie der Spanier, ebenfalls in den Fluß.
   »Ungeschickter Schlächter!« rief der Kanadier aus und wandte sich an Pepe. »Sah man wohl jemals ein edles Tier so hinschlachten?«
   »La, la!« antwortete Pepe. »Ohne mich wäre euch dieses edle Tier entkommen; und da liegt es dank meiner Ungeschicklichkeit!« Mit diesen Worten hatte der Spanier seine gute Laune ganz wiedererlangt und sprang mit wilder Freude um den im Strom gestrandeten Büffel herum.
   Die Anstrengungen der drei Jäger waren kaum imstande, die ungeheure Leiche ans Ufer zu ziehen, wo sie keine Zeit verloren, ihn zu zerlegen, aber ihr Werk noch oft unterbrachen, um sich den Ausbrüchen einer trunkenen Freude zu überlassen, die sie fast überwältigte.
   »Lebensmittel für einen ganzen Feldzug!« wiederholte Pepe zum zehntenmal. »Ein Riesenmahl und dann die Ruhe unter diesen schönen Bäumen«, endete er und zeigte auf die schattige, gegenüberliegende Insel. »Ein rasches Mahl, wie es der Soldat im Feld zu sich nimmt, eine Stunde Schlaf und dann weiter auf der Spur der Indianer!« antwortete ernst der Kanadier. »Ich vergaß dies, Bois-Rosé; wir hatten soviel vom Hunger ausgestanden!«
   In der Erinnerung an das Gefühl ihrer Pflicht und ihrer Liebe setzten die drei Jäger schweigsam ihr Werk fort, als klagendes Geheul sie unterbrach. »Halt!« sagte Pepe und zeigte auf zwei Wölfe am entgegengesetzten Ufer der Insel, denen der Hunger dieses Geheul entriß und von denen sie mit gierigen Augen betrachtet wurden. »Da sind zwei arme Teufel, die auch ihren Anteil vom Büffel verlangen, und – wahrhaftig – sie sollen ihn haben!«
   Bei diesen Worten ergriff der Grenzjäger einen Vorderfuß des Büffels, schwang ihn um den Kopf und warf ihn mit kräftigem Arm über den Fluß. Die Beute der Wölfe fiel einige Schritt vor ihnen nieder, und die beiden hungrigen Tiere stürzten sich ins Wasser, um sie herauszuholen.
   »Das hier wird später für sie und ihre Gefährten sein«, sagte Bois-Rosé, als die edelsten Teile des Tieres – das heißt der Höcker, der das saftigste Stück Fleisch und mit Recht wegen seines ausgezeichneten Geschmacks gesucht ist, und das in lange, schmale Streifen geschnittene Rückenstück – beiseite gelegt waren. »Nun wollen wir uns mit der Mahlzeit beschäftigen.« »Ich denke nicht«, sagte Pepe, »daß dieser Büffel sich selbst verwundet hat, um das Vergnügen zu haben, sich von uns töten und verzehren zu lassen; er ist offenbar der Verfolgung irgendeines jagenden Indianers entronnen. Es würde also sehr vernünftig von uns sein, wenn wir uns darauf gefaßt machten, bald den Besuch eines oder mehrerer von diesen unversöhnlichen Räubern zu erhalten, die sich eine Pflicht daraus machen würden, uns wie diesen Büffel zu behandeln … Jene beiden Wölfe dort unten in der kleinen Lichtung auf der Insel scharren den Boden auf«, fügte Pepe, seine vernünftige Gedankenreise unterbrechend, hinzu, »und sie sind so eifrig damit beschäftigt, daß ich es mir nach dem Anteil, den ich ihnen zugeworfen habe, nicht erklären kann.«
   Die Warnung, die der Grenzjäger seinen beiden Gefährten eben gegeben hatte, hatte diese wieder zum Bewußtsein ihrer kritischen Lage gebracht, die sie nur durch ihr unverhofftes Glück einige Augenblicke lang hatten vergessen können. Eine krumme Linie von gelblicher Farbe zog sich durch den dunkelblauen Fluß und zeigte den Jägern die Stelle, wo man ihn durchwaten konnte. Sie entschlossen sich also, der größeren Sicherheit halber eine gedeckte Stellung auf der Insel zu nehmen, dort Feuer anzuzünden und ihr Mahl im dichten Schatten der Bäume zu bereiten. Als die kleine Schar die Furt des Red River durchwatete, flohen die beiden Wölfe bei der Annäherung der Menschen, und einer von ihnen packte das Stück, das ihnen der Jäger zugeworfen hatte. Als die drei Jäger festen Fuß auf der Insel gefaßt hatten, fanden sie beinahe mitten in der kleinen Lichtung ein Loch, das die Krallen der Wölfe einige Zoll tief aufgescharrt hatten.
   »Ohne Zweifel liegt irgendein Leichnam hier verborgen«, sagte Pepe, der gewöhnlich an einem einmal gewonnenen Eindruck zäh festhielt; »und doch scheint dieser Rasen nicht anzudeuten, daß er frisch aufgewühlt sei.«
   Nichtsdestoweniger fiel dem Spanier während seiner Untersuchung der Umstand auf, daß es an dem Ort, wo die Krallen der Wölfe den Rasen abgerissen hatten, eine Stelle gab, wo dieser Rasen so sauber wie mit einem Gartenmesser durchschnitten zu sein schien. Die Stimme Bois-Rosés, die ihn zu dem Ort rief, den er zum Haltepunkt ausersehen hatte, um hier hilfreiche Hand zu leisten, rief Pepe von seinen Nachforschungen ab, aber nicht, ohne daß er sich vorgenommen hätte, wiederzukommen und sie fortzusetzen, sobald sein verzehrender Hunger gestillt wäre.
   Obgleich das Ungewitter in der verhängnisvollen Nacht, wo Fabian ihnen entrissen war, das Pulver der beiden Jäger verdorben hatte, so war es doch noch trocken genug, um leicht ein Feuer damit anzünden zu können, an dem sie ihre Lebensmittel zubereiten wollten. Trockenes Holz war im Überfluß auf der Insel, und bald warteten die drei hungrigen Jäger auf den Augenblick, der ihren bis zum äußersten Punkt gebrachten Hunger befriedigen sollte, und atmeten unterdessen den köstlichen Duft, den der auf den Kohlen bratende Büffelhöcker verbreitete.
   Zwanzigmal mußte der Kanadier, der sich mehr beherrschen konnte als seine beiden Gefährten, sein Ansehen geltend machen, um sie davon abzuhalten, das noch blutige Büffelfleisch zu verschlingen; endlich kam der Augenblick, wo sie ihrer verzehrenden Ungeduld die Zügel schießen lassen konnten. »Sachte doch! Sachte!« rief Bois-Rosé, als Gayferos und Pepe einen wütenden Angriff auf den Büffelhöcker begannen. »Wenn das so fortgeht, so werdet ihr euch zuerst würgen und dann ersticken; dieser Braten ohne Salz ist unverdaulich wie Kieselsteine.« »Möglich«, antwortete Pepe, der mit den Worten sparsam umging; »aber er ist zart wie der Tau des Himmels.«
   Und ein gewaltiges Krachen der Kinnbacken ließ sich allein mitten unter dem Schweigen der Insel vernehmen.
   »Jene da drüben pflegen sich auch«, sagte der Kanadier und bezeichnete am Ufer des Flusses, das sie eben verlassen hatten, zwei andere Tischgenossen, die, nicht weniger gierig wie sie selbst, mit den blutigen Überresten des Büffels beschäftigt waren. Es waren die beiden Wölfe, die durch den Fluß geschwommen waren und, angezogen von der Witterung des Büffels, diesen mit einem Eifer zerrissen, der jedoch dem der beiden Jäger nicht gleichkam; diese Raubtiere würden den Vorwurf der Prahlerei verdient haben, hätten sie den Hunger der Menschen zu fühlen behauptet.
   Der Büffelrücken war gänzlich verschwunden, und Pepe warf seine Augen noch lüstern auf das in Streifen geschnittene Rückenstück, das Bois-Rosé fast verkohlen ließ, um das so getrocknete Fleisch noch einige Tage aufbewahren zu können. Dieser Vorrat wurde beiseite gelegt.
   »Jetzt eine Stunde Schlaf«, sagte der Kanadier, »und dann wieder auf den Weg; der Tod und die Indianer warten nicht.« Er streckte sich selbst aufs Gras nieder, um seinen Gefährten mit gutem Beispiel voranzugehen; eine gewaltige Anstrengung seines Willens verscheuchte die Flut von traurigen Gedanken, die ihn umlagerten, und der Riese schlief ein, um seine Kraft und seine Energie wiederzufinden, die er so nötig hatte, um seinem Jungen Hilfe zu bringen.
   Gayferos machte es wie der Kanadier; Pepe jedoch hatte sich, ehe er die Augen schloß, von dem sonderbaren Umstand Rechenschaft zu geben, der seine Aufmerksamkeit bei der Untersuchung des von den Wölfen im Mittelpunkt der kleinen Lichtung gescharrten Lochs auf sich gezogen hatte. Der Grenzjäger prüfte abermals mit der Geduld eines Indianers die Stelle, wo der Rasen so sauber durchschnitten schien. Da er jetzt ruhiger war, so überzeugte er sich sehr bald, daß die Kralle irgendeines Tieres den tonigen Boden so nicht hätte zerreißen können. Bald glaubte er auch an der Erde jene glänzenden, metallischen Spuren zu entdecken, wie sie das Pflugeisen an der Seite der von ihm aufgerissenen Furchen zurückläßt.
   Nun zog Pepe sein Messer. Er legte die flache Klinge in ihrer ganzen Länge an diesen Schnitt, von dem er sich keine Rechenschaft geben konnte, und ließ sie der geraden, im Boden befindlichen Linie folgen. Die Klinge des Messers glitt bald mit Leichtigkeit wie in eine Art von Fuge und beschrieb so einen weiten Kreis. Pepe fühlte sein Herz lebhafter in der Brust klopfen. Er ahnte eins von den in der Steppe angebrachten Verstecken und in diesem Versteck ohne Zweifel Biberfallen, Pulver, Blei und Waffen.
   Wenn wir jetzt sagen, was man ohne Zweifel schon erraten hat – daß nämlich ein glücklicher Zufall die drei Jäger auf die Büffelinsel geführt hatte, wo der Mestize seine Beute vergraben hatte —, so wird man zugeben, daß das Herz des Spaniers nicht von einer leeren Hoffnung aufgeregt war. Pepe brauchte nur noch einfach die Rasenplatte abzuheben, die einen Schatz verbarg, der für die entwaffneten Wanderer kostbarer war als das nutzlose, von ihnen verschmähte Gold.
   Pepe scharrte den Boden mit Hilfe seiner Nägel und seines Messers mit einem krampfhaften Eifer auf. Was würde er in der Tiefe dieses Verstecks finden? Waren, mit denen er nichts anzufangen wußte, oder Waffen – das heißt, das Leben und die Freiheit Fabians, ihre gebrochene Stärke und Energie?
   Nachdem Pepe einen Augenblick, von schrecklicher Ungewißheit überwältigt, innegehalten hatte, nahm er seine Arbeit wieder auf. Bald fühlte er unter der noch weichen Erde das Leder, das die versteckten Gegenstände umhüllte. Er warf das Leder weit weg; ein Sonnenstrahl drang vor den geblendeten Augen des Spaniers bis auf den Grund des Verstecks; er hatte nur eins unter den bunt durcheinandergeworfenen Gegenständen bemerkt: Feuerwaffen von allen Größen, an den Büchsen hängende Pulverhörner, die in ihrer Durchsichtigkeit das körnige, glänzende Pulver ahnen ließen, mit dem sie angefüllt waren.
   Zum erstenmal seit langer Zeit kniete Pepe nieder, sprach ein glühendes Gebet und lief wie närrisch zu Bois-Rosé.
   Der Kanadier schlief den leichten Schlaf des Soldaten vor dem Feind. »Was gibt es, Pepe?« rief er aus, durch das Geräusch der Schritte seines Gefährten geweckt.
   »Komm her, Bois-Rosé!« erwiderte Pepe freudig. »Kommt, Gayferos!« schrie er und stieß den schlafenden Gambusino mit dem Fuß. Dann lief er wieder zu dem Versteck, von seinen beiden Gefährten gefolgt, die ihn vergeblich befragten. »Waffen! Waffen zum Auswählen!« rief der Spanier. »Da! Und da! Und da!« Und bei jedem Wort tauchte Pepe, auf die Erde gebückt, seinen Arm in die gähnende Öffnung und warf dem verdutzten Kanadier eine Büchse nach der anderen vor die Füße.
   »Laß uns Gott danken, Pepe!« rief Bois-Rosé aus. »Er gibt uns die Kraft wieder, die er unseren Armen entrissen hatte.«
   Jeder von den drei Jägern wählte sich die Waffe, die ihm behagte. Bois-Rosé nahm noch eine vierte für Fabian mit, denn dieser unverhoffte Fund hatte nach dem Fang des durch die Vorsehung ihnen zugeführten Büffels sein Herz abermals der Hoffnung geöffnet.
   »Laß uns das übrige wieder hineinlegen, Pepe. Rauben wir dem Eigentümer nicht in diesen Waffen und Waren die kostbarsten Hilfsquellen, die er hier versteckt hat? Es würde undankbar gegen Gott sein.«
   Die drei Jäger hatten bald das Versteck wieder zugeworfen und sein Dasein so gut wie möglich vor aller Augen verborgen, ohne zu ahnen, daß sie so edelmütig das Interesse ihrer Todfeinde wahrnahmen.
   »Nun vorwärts!« fuhr der Kanadier fort. »Tag und Nacht vorwärts; nicht wahr, Pepe?«
   »Los, denn nun sind drei Krieger auf der Spur dieser Banditen, und Don Fabian …«
   Ein unerwarteter Anblick ließ das Wort auf seinen Lippen ersterben; eine furchtbare Wirklichkeit drohte noch einmal die Träume dieser beiden Jäger zu zerstören oder doch wenigstens die Ausführung ihrer Pläne zu verschieben. Bois-Rosé hatte ebenso wie Pepe die Ursache dieser plötzlichen Unterbrechung gesehen.
   Ein sorgfältig wie zum Kampf bemalter indianischer Krieger schien aufmerksam das am entgegengesetzten Ufer zurückgebliebene Büffelgerippe zu betrachten. Obgleich es unmöglich war, daß der Indianer die drei Weißen nicht bemerkt haben sollte, so nahm er doch scheinbar keine Notiz von ihrer Gegenwart.
   »Das ist unser Wirt«, begann Pepe; »soll ich zum Dank die Tragweite meiner neuen Büchse an ihm versuchen?«
   »Nimm dich wohl davor in acht, Pepe; so tapfer dieser Indianer auch sein mag, seine Ruhe – denn er sieht uns, ohne uns nur einmal zu betrachten – beweist, daß er nicht allein ist.«
   Der Indianer setzte in der Tat seine Untersuchung mit einer Kaltblütigkeit fort, die einen erprobten oder wenigstens einen solchen Mut bewies, der aus dem Vertrauen auf die überlegene Zahl entspringt, und seine am Riemen über die Schulter hängende Büchse schien mehr ein Schmuck als eine Angriffswaffe zu sein.
   »Ach, es ist ein Komantsche«, fuhr Bois-Rosé fort; »ich sehe es an seinem Kopfputz und an den Verzierungen seines Büffelmantels; und der Komantsche ist der unversöhnliche Feind des Apachen. Dieser junge Mann ist auf dem Kriegspfad. Ich werde ihn anrufen, denn die Augenblicke sind zu kostbar, um mit List zu handeln und nicht gerade aufs Ziel loszugehen.«
   Der Kanadier beeilte sich, seinen Plan auszuführen, der ganz seinem ehrlichen Charakter entsprach; er näherte sich also mit festem Schritt dem Ufer des Flusses – gleich bereit, den Kampf anzunehmen, wenn ihnen der Zufall einen Feind entgegenführte —, um ein Bündnis mit dem Indianer zu schließen, wenn er einen Freund in dem jungen Komantschenkrieger finden sollte.
   »Rede ihn spanisch an, Bois-Rosé«, sagte Pepe; »wir werden so viel eher erfahren, woran wir uns zu halten haben.«
   Der Kanadier hob den Kolben seiner Büchse in die Höhe, während der Indianer noch das Büffelgerippe und die Spuren dabei untersuchte.
   »Drei Krieger starben vor Hunger, als ihnen der Große Geist einen verwundeten Büffel zugesandt hat!« rief der Waldläufer. »Mein Sohn sucht zu erkennen, ob es der ist, den seine Lanze getroffen hat. Will er den Anteil davon nehmen, den wir ihm aufbewahrt haben? Er wird damit den drei weißen Kriegern beweisen, daß er ihr Freund ist.«
   Der Indianer hob endlich den Kopf. »Ein Komantsche«, antwortete er, »ist nicht der Freund aller Weißen, denen er begegnet; er will wissen, bevor er sich an ihr Feuer setzt, woher sie kommen, wohin sie gehen und wie sie heißen.
   »Caramba!« sagte Pepe halblaut. »Der junge Mann ist stolz wie ein Häuptling.«
   »Mein Sohn spricht mit dem Stolz eines Häuptlings«, erwiderte Bois-Rosé, indem er höflicher die Worte des ehemaligen Grenzjägers wiederholte. »Ohne Zweifel hat er auch dessen Mut; aber er ist noch sehr jung, um Krieger auf den Kriegspfad zu führen. Und doch will ich ihm antworten, wie ich dem Häuptling eines Stammes antworten würde. Wir haben eben das Gebiet der Apachen durchstreift und folgen bis zur Gabel des Red River der Spur zweier Banditen. Dieser hier ist Pepe der Schläfer, jener der Goldsucher, dem die Apachen den Skalp genommen haben, und ich bin der Waldläufer aus Unterkanada.«
   Der Indianer hatte die Antwort Bois-Rosés ernst angehört. »Mein Vater«, antwortete er, »hat die Klugheit eines Häuptlings, dessen Alter er hat; aber er kann nicht machen, daß die Augen eines Komantschenkriegers blind oder seine Ohren taub sein sollen. Unter den drei Kriegern mit weißer Haut sind zwei, deren Namen sein Gedächtnis behalten hat, und das sind nicht diejenigen, die er eben hörte.«
   »Halt da!« erwiderte Bois-Rosé lebhaft. »Das heißt mir auf artige Weise sagen, daß ich ein Lügner sei, und meine Zunge hat noch niemals zu lügen vermocht – weder aus Furcht noch aus Freundschaft.« Dann fuhr der Kanadier mit erzürnter Stimme fort: »Wer Bois-Rosé der Lügenhaftigkeit anklagt, wird sein Feind; also zurück, Komantsche, und mögen dich meine Augen nicht wiedersehen; die Steppe ist von nun an zu eng für uns beide!«
   Der Kanadier ließ bei diesen Worten das Schloß seiner Büchse spielen; aber der Indianer machte, ohne die Fassung zu verlieren, ein Zeichen mit der Hand.
   »Rayon-Brûlant«, rief er und schlug stolz mit der Hand auf seine Brust, »suchte längs des Red River den Adler der Schneegebirge und den Spottvogel auf der Spur des Sohnes, den die Apachenhunde ihnen geraubt haben.«
   »Den Adler, den Spötter?« rief Bois-Rosé in größtem Erstaunen. »Ach, es ist wahr; ich vergaß … Aber sagt, mein Junge, sagt«, fuhr lebhaft der alte Jäger fort, »habt Ihr meinen Fabian, den Sohn, den ich suche, gesehen?« Und er warf plötzlich seine Büchse weit von sich und stürzte sich in die Furt des Flusses, die er mit Riesenschritten durchwatete. »Ja, ja, der Adler und der Spötter, das sind wir beide; es sind die Namen, die uns die Apachen gegeben haben; ich hatte sie vergessen«, fuhr er fort und ließ das Wasser von seinen weiten Schritten gepeitscht ringsum aufspritzen. »Wartet, Rayon-Brûlant, ich gehöre Euch wie das Eisen dem Pfeil, wie die Klinge dem Griff… ein Freund … auf Leben und Tod …«
   Der junge Indianer erwartete lächelnd den Waldläufer, der bald festen Fuß auf dem Ufer faßte und ihm seine breite, ehrliche Hand hinstreckte, in der der Krieger die seinige wie in einem gespaltenen Baumstamm fühlte, der sich über ihr geschlossen hat.
   »Ihr seid also«, rief der Kanadier aus, der kaum dem Verlangen widerstand, den jungen Indianer in seinen Armen aufzuheben, »der Feind von Main-Rouge, Sang-Mêlé und von dieser ganzen … Aber wer hat unsere Namen dem Krieger gesagt, den die Seinigen wohl mit Recht Rayon-Brûlant genannt haben? Denn mein Sohn erscheint schrecklich wie die Feuerzungen, die aus den Wolken hervorbrechen!«
   »Vom Presidio von Tubac bis zum Büffelsee, wo die Blume des Sees sich im Wasser spiegelt«, antwortete der Indianer, indem er auf Doña Rosarita anspielte, deren Bild sich wider seinen Willen seinem Kopf eingeprägt hatte; »vom Büffelsee bis zu den Nebelbergen und von den düsteren Hügeln bis zu dem Versteck, das sie hier angelegt haben, ist Rayon-Brûlant den Spuren der Räuber seiner Ehre gefolgt.«
   »Ach, diesen Teufeln gewiß … Doch fahre fort, Rayon-Brûlant!«
   »Die Räuber«, fuhr der Indianer fort, »haben kein Geheimnis für ihn gehabt, und nach ihren Reden hat Rayon-Brûlant die beiden weißen Krieger auf der Büffelinsel wiedererkannt. Sind die beiden weißen Krieger so tapfer, wie man erzählt?« schloß er und heftete seine Augen auf den fernen Horizont.
   »Warum diese Frage?« antwortete Bois-Rosé mit einem ruhigen Lächeln, das mehr sagte als alle Beteuerungen.
   »Darum«, erwiderte der Indianer ruhig, »weil ich von hier aus im Osten den Rauch der Feuer des Schwarzen Falken und seiner dreißig Krieger, im Westen das Feuer der beiden Piraten der Steppe, im Norden die Feuer von zehn Apachen sehe und weil der Komantsche und die beiden Bleichgesichter sich zwischen drei feindlichen Abteilungen befinden.«
   »Das ist beim Himmel wahr!« rief der Kanadier aus und befragte mit einem Blick den Komantschen, nachdem er in der Ferne eine leichte Rauchwolke hatte aufsteigen sehen, die eine indianische Lagerstelle bezeichnete.


   66. Die Schiffer auf dem Red River

   Der junge Komantsche begriff, was der Blick Bois-Rosés bedeuten sollte, als er die Anwesenheit der einen von den drei feindlichen Abteilungen, von denen der erstere gesprochen, bemerkt hatte. »Die Gefahr ist freilich noch fern«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf die Abteilung im Osten, wo der Rauch der indianischen Lagerfeuer sich in fast unsichtbaren Schneckenlinien erhob; »der Komantsche wird seinen neuen Freunden auf die Büffelinsel folgen, und dort werden sie das Beratungsfeuer anzünden, um zu entscheiden, was zu tun ist. Gehen wir!«
   Der Waldläufer und der Indianer gingen durch die Furt des Flusses, um wieder mit Pepe und dem Gambusino zusammenzutreffen, die mit um so größerer Ungeduld den Erfolg dieser Unterhaltung abwarteten, als sie kein Wort davon verstehen konnten.
   Der Indianer berührte feierlich die Hand der beiden Weißen, und alle vier begaben sich zu dem Feuer, bei dem die drei Jäger ihre homerische Mahlzeit eingenommen hatten. Diesmal waren sie in einer ganz anderen Gemütsstimmung. Die Nahrung hatte ihren müden Gliedern wieder Kraft und Biegsamkeit und der Besitz der neuen Waffen ihren niedergeschlagenen Herzen wieder Vertrauen und Energie gegeben. Hier aß der junge Indianer in aller Eile seinen Anteil vom Büffel, der, wie er sagte, von einem Indianer aus der Bande Sang-Mêlés verwundet worden war, und Bois-Rosé nützte diesen Augenblick, um seinen beiden Gefährten mitzuteilen, was er eben selbst erfahren hatte.
   »Das sind ernste und betrübende Verwicklungen«, sagte der Kanadier am Schluß. »Einen Feind verfolgen, wenn man selbst verfolgt wird, das ist eine schwierige Lage.«
   »Ja«, erwiderte der Grenzjäger, »aber wir sind doch jetzt bewaffnet, wie es Kriegern zukommt; sollte es denn da weniger möglich sein, unseren Zweck zu erreichen, als damals, wo wir selbst durch diese Schelme von Apachen auf der Verfolgung Don Antonios de Mediana belagert wurden?«
   Der Kanadier hatte wie der Spanier jenes unerschrockene Selbstvertrauen, das diejenigen, die es besitzen, Wunder verrichten läßt; denn während unseres Lebens sind viele Pläne nur darum ausführbar, weil sie uns so erscheinen. Die beiden Jäger fanden die Unternehmung nicht über ihre Kräfte.
   »Was auch geschieht«, rief der rachsüchtige Pepe, »ich werde eiligst das Versteck dieses verdammten Mestizen, das wir mit soviel Mühe vor aller Augen verborgen haben, abermals ausleeren. Kommt, Gayferos! Während Bois-Rosé sich hier mit dem jungen Krieger berät, wollen wir den ganzen Raub dieser Natter – die Feuerwaffen ausgenommen – ins Wasser werfen!«
   Der grollende Spanier entfernte sich, vom Gambusino gefolgt, und als der Indianer gegessen und getrunken hatte, sagte der Kanadier zu Rayon-Brûlant: »Wird mir mein Sohn jetzt erzählen, was er allein so weit von seinem Stamm auf dem Jagdgebiet der Apachen tut?«
   Der Komantsche erzählte Bois-Rosé die Ereignisse, die der Leser schon kennt; nämlich den Angriff, bei dem Encinas und er beinahe als Opfer gefallen waren, das Erscheinen der beiden Piraten am Büffelsee, dann seine abenteuerlichen Züge auf ihren Spuren bis zur Büffelinsel, wo er gesehen hatte, wie sie ihren Raub im Schoß der Erde verbargen.
   In diesem Augenblick kamen Pepe und Gayferos von ihrer Untersuchung zurück. Decken, Sättel, Waren – alles hatten sie in die Strömung des Flusses geworfen, mit Ausnahme eines Bündels von Gewehren, das sie mitbrachten.
   »Gut«, sagte der Komantsche, »das sollen die Krieger meines Stammes haben, die als einzige Waffen nur Pfeil und Bogen besitzen; sie werden dadurch den Donner der Bleichgesichter in ihre Hände bekommen.«
   Rayon-Brûlant nahm nun seine Erzählung wieder auf, die die drei Jäger aufmerksam anhörten. Wir glauben davon nur kurz berichten zu müssen.
   Der Komantsche hatte die Büffelinsel in der Hoffnung verlassen, zu rechter Zeit zurückkehren zu können, um die beiden Piraten der Steppe bei dem Besuch zu überraschen, den sie gewiß in kurzer Zeit dem Ort abstatten würden, wo die Banditen – nach seinem Ausdruck – ihre Seele vergraben hatten. Aber die Zeit, die er brauchte, um das ferne Lager seines Stammes zu erreichen, und die Schnelligkeit der Bewegungen Sang-Mêlés und seines Vaters hatten seine Voraussicht getäuscht.
   Als der junge Komantsche an der Spitze von nur zehn Kriegern, die der Häuptling seines Stammes seiner Klugheit und seinem Mut anvertraut hatte, an die Ufer des Red River zurückgekehrt war, hatte er an mehreren Orten Spione aufgestellt. Diese berichteten ihm, daß die beiden Krieger, die er verfolgte, schon an der Büffelinsel, wo er sie zu überraschen gedachte, vorübergefahren seien; daß sie den Fluß verlassen hätten, dessen Lauf sie bis jetzt in ihrem Kanu gefolgt wären, und nun zu Lande am Ufer entlang die Richtung nach der Red Fork in der Nähe des Büffelsees eingeschlagen hätten.
   Der Komantsche und seine zehn Krieger waren genötigt gewesen, einen ziemlich reißenden Strom in dem Kanu, das sie von ihrem Stamm hierhergetragen hatten, hinaufzufahren; sie hatten also nicht mehr zeitig genug ankommen können, um sich mit den beiden Piraten der Prärien zu kreuzen. Das war für den jungen Häuptling vielleicht ein glücklicher Zufall; denn die Schar der beiden Banditen hatte sich unterwegs durch indianische Vagabunden, wie sich deren so viele in der Steppe finden, vermehrt.
   Dieser Bericht des einen der Spione Rayon-Brûlants wurde durch einen anderen seiner Kundschafter vervollständigt. Dieser letztere hatte sich dem Lager Sang-Mêlés zu weit zu nähern gewagt und sich überraschen lassen. Er hatte einen halben Tag bei dem Mestizen und seinem Vater zugebracht, und in dem Augenblick, wo er glaubte, daß seine letzte Stunde gekommen sei, hatte ihn Sang-Mêlé zu Rayon-Brûlant zurückgeschickt und ihm den Auftrag gegeben, Worte des Friedens und der Freundschaft für den jungen Häuptling zu überbringen und ihn außerdem wissen zu lassen, daß er in seinem Lager willkommen sein würde, was dieser sich wohl zu glauben hütete – und das mit Recht, wenn man die Absichten des Mestizen gegen ihn noch nicht vergessen hat.
   Durch den Bericht dieses Kundschafters hatte der junge Komantsche die beiden Namen erfahren, die die Indianer den weißen Jägern gegeben hatten, und er hatte sie auf der Büffelinsel nach der Beschreibung wiedererkannt, die dem zum jungen Häuptling zurückgesandten Kundschafter von ihnen gemacht worden war.
   »Rayon-Brûlant«, fügte der Indianer hinzu, seine Erzählung beendigend, »will von seinen beiden Feinden nur ihr Blut, um seine Ehre reinzuwaschen, ihren Skalp, um die Tür seiner Hütte zu schmücken, und ist außerdem der Todfeind der Apachen, die früher seine Brüder waren.«
   »Wir wollen Euch aus allen Kräften helfen«, antwortete Pepe, der in den funkelnden Augen des jungen Komantschen den unversöhnlichen Haß gegen seinen ehemaligen Stamm las. »Mein Bruder«, fügte er hinzu, »ist also nur durch Adoption ein Komantsche?«
   »Rayon-Brûlant«, erwiderte der Indianer, »erinnert sich nicht mehr, daß er als Apache geboren ist, seitdem der Schwarze Falke ihn in dem, was er Teuerstes besaß, beschimpft hat.«
   Diese letztere gemeinsame Feindschaft für den indianischen Häuptling schloß die neuen Bande der Freundschaft zwischen dem jungen Komantschen und den beiden Jägern nur noch enger. Die letzteren beschlossen nach dem Rat des Indianers, die wenigen Augenblicke des scheidenden Tages noch zu nützen, um die Insel zu verlassen und sich nach dem Ziel, dem sie alle zustrebten, in Marsch zu setzen.
   »Sind Eure Krieger weit von hier?« fragte Bois-Rosé den Indianer.
   »Der eine von ihnen bewacht mein Kanu an der Spitze der Büffelinsel; die anderen sind verstreut auf dem linken Ufer des Red River, und Main-Rouge und Sang-Mêlé sind auf dem entgegengesetzten Ufer. Zwei Büchsenschüsse von dem Weg, dem der Adler und der Spötter folgten, würden sie ihre Spuren gefunden haben.«
   »Vorwärts! Vorwärts!« rief Bois-Rosé aus. »Wir haben sie nicht gefunden; aber zur Vergeltung dafür haben wir uns Waffen, Lebensmittel und einen tapferen und ehrlichen Verbündeten verschafft. Gott sei gelobt; alles steht aufs beste!«
   Bei diesen Worten warf der Kanadier seine Büchse auf eine Schulter, nahm das aus dem Versteck gezogene Bündel Waffen auf die andere; Pepe und Gayferos beluden sich mit Lebensmitteln, Pulver und Blei, und alle folgten dem jungen Komantschen mit einem Eifer, wie ihn diese glücklichen Umstände ihnen eingeflößt hatten. Dieser führte sie zur Spitze der Insel, wo der zur Bewachung des Kanus aufgestellte Krieger verborgen lag.
   Das Kanu war eines jener unter den Indianern dieses Teils von Amerika gebräuchlichen Fahrzeuge, und sein sonderbarer Bau verlangt in einigen Worten eine nähere Beschreibung. Es war aus zwei grob gegerbten Büffelhäuten verfertigt, die zusammengenäht und über ein leichtes Gestell von Eschenholz ausgespannt waren. Die Nähte waren mit Hilfe einer Mischung hartgewordenen Talgs und Asche wasserdicht gemacht. Dieser gebrechliche Nachen konnte etwa zehn Fuß lang und dreieinhalb Fuß breit sein; Vorder– und Hinterteil liefen spitz zu, und sein runder Bauch ebenso wie seine Farbe gab ihm – aber in gigantischem Maßstab – eine Ähnlichkeit mit einer Kappe von gegerbtem Leder, wie man sich deren sonst wohl auf Reisen als tragbares Glas bediente.
   Die Indianer jedoch unternehmen mit Hilfe solcher Boote lange Fahrten auf den mit Wasserfällen, Untiefen und Felsen versperrten Flüssen; und wie gering auch die Dauerhaftigkeit dieser gebrechlichen Nußschalen sein mag, so muß man doch mit Recht darüber staunen, daß sie noch so lange Zeit den Stößen, die sie aushalten müssen, und der Gewalt des Wassers, gegen das sie zu kämpfen haben, Widerstand leisten können. Übrigens schützt gerade ihre Leichtigkeit sie vor tausend Unfällen, die ein stärkeres Fahrzeug in Stücke zertrümmern würden, und gestattet den Schiffern, sie an unpassierbaren Stellen ohne Mühe ganze Tagesmärsche hindurch auf die Schultern zu nehmen.
   In einem dieser Kanus schiffte sich nun die kleine Schar ein. Der Komantsche trieb es mit seinen Rudern mitten in den Fluß, und das gebrechliche Werkzeug folgte bald deren lebhafter Strömung. Rayon-Brûlant und der Krieger, der ihn begleitete, fuhren dann mit dem Kanu am linken Ufer entlang, dem Land so nahe wie möglich, um sich im Schatten der Bäume, der sich bereits über den Fluß hin verbreitete, zu verbergen.
   »Wie weit sind wir etwa nach Eurer Meinung von der Gabel des Red River entfernt?« fragte der Kanadier, der die Schnelligkeit ihrer Fahrt noch langsam nannte.
   »Wenn wir so die ganze Nacht fahren, so werden wir morgen an der Red Fork sein«, antwortete der Komantsche, »sobald sich die Sonne am Horizont an derselben Stelle befindet wie heute abend.«
   Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht hindurch mußte man also rudern; vorausgesetzt, daß kein Hindernis die Fahrt der kleinen Truppe aufhielt. Dies war jedoch fast wahrscheinlich, da die fünf Schiffer von Feinden aller Art umgeben waren.
   Bois-Rosé durchspähte mit den Augen ebenso wie seine Gefährten die buschigen Ufer des Flusses und das kahle Ufer auf der anderen Seite, wo er Sang-Mêlé und seine Bande vermutete; zugleich aber ging er in seinem Gedächtnis alle einzelnen Umstände in der Erzählung Rayon-Brûlants durch, um ihre Aussichten, den Mestizen einzuholen, zu berechnen. Einige von ihnen schienen ihm nicht recht klar genug, und dann war auch das Fabian bevorstehende Schicksal für ihn Gegenstand verzehrender Unruhe.
   »Welcher von Euren Kundschaftern«, fragte der Kanadier den Komantschen, »ist in Main-Rouges Lager gedrungen?«
   Der Indianer bezeichnete mit dem Kopf den Krieger, der neben ihm ruderte.
   »Ah«, rief der Waldläufer bebend aus, »warum sagtet Ihr mir das nicht früher? Komantsche«, fuhr er fort und wandte sich an den Ruderer mit einer Stimme voll Aufregung, »Ihr habt den jungen Krieger aus dem Süden, wie sie meinen armen Fabian nennen, gesehen; Ihr habt ihn gesehen und mit ihm gesprochen? Was tat er? Wie war seine Haltung? Richtet er oft die Augen nach dem Horizont, um in den Wolken den Flug des Adlers der Schneegebirge und denjenigen zu suchen, den sie besser den Spottadler nennen würden? Sprecht, Komantsche, die Ohren eines Vaters sind offen, um von einem vielgeliebten Sohn sprechen zu hören.«
   Aber der wilde Krieger antwortete nichts auf diese Flut von Fragen; er verstand kein Spanisch, und der Komantschendialekt war dem Kanadier unbekannt.
   Rayon-Brûlant übersetzte die Fragen und die Antworten. »Der junge Krieger aus dem Süden«, sagte er, »war ruhig und traurig wie die Dämmerung in den Bergen, wenn der Nachtvogel zu schreien beginnt.«
   »Hörst du, Pepe?« sagte der Kanadier mit feuchten Augen.
   »Sein Gesicht«, fuhr der Übersetzer fort, indem er getreulich wiederholte, was er vernahm, »war bleich wie der Mondstrahl auf einem See; aber seine Augensterne leuchteten wie die Feuerfliege im dunklen Gras der Prärien.«
   »Ja, ja«, sagte der Kanadier; »wenn Ihr wissen wollt, ob ein Mann tapfer ist, so seht nicht auf seine Wangen, sondern in seine Augen.«
   »Aber«, fuhr der Dolmetscher fort, »was bedeutet die Blässe der Wangen des jungen Kriegers aus dem Süden und das Feuer seiner Augen? Daß sein Körper Hunger litt, aber daß die Qualen in seinen Eingeweiden sein Herz nicht erreichten! Das Herz eines Kriegers leidet niemals unter den Qualen seines Leibes.«
   Der alte Jäger hatte zu lange unter den Indianern gelebt, um nicht einen in allen Fällen erprobten Mut allem anderen vorzuziehen, und eine wilde Freude strahlte in seinen Augen, als er aus dem Mund des Indianers das Lob seines Kindes hörte.
   »Der junge Krieger aus dem Süden«, begann der Indianer wieder und setzte vielleicht seine eigenen Empfindungen bei Fabian voraus, »suchte nicht am Horizont den Flug der Adler – seiner Freunde – zu unterscheiden; er schaute in sein eigenes Herz, und das Todesgeschrei der Feinde, die er getötet hatte, sang in seine Ohren, und er lächelte dem Tod zu.«
   »Geht doch, Komantsche, der junge Mann sagte nicht, was er dachte. Er weiß recht gut, daß sein alter Bois-Rosé … Und weiß der Komantsche«, fuhr der Kanadier mit einer Stimme fort, die er vergeblich fest zu machen sich bemühte, »für welchen Augenblick … man die Todesmarter des jungen Kriegers aus dem Süden bestimmt hatte?«
   »Für den Augenblick, wo der große Häuptling, der Schwarze Falke, Sang-Mêlé an der Red Fork treffen würde.«
   »Ihr seid beide müde; laßt Pepe und mich ebenfalls rudern«, sagte der Kanadier mit flammenden Augen.
   »Der Adler ist auf der Spur der Geier.«
   Unter dem Druck der beiden neuen Ruderer glitt das Kanu aus Büffelhaut rascher über die Oberfläche des Flusses hin.
   Bois-Rosé fand sich nichtsdestoweniger von einer ungeheuren Last befreit; er wußte, daß Fabian lebte, daß seine Todesmarter bis zum Treffen des Schwarzen Falken mit dem Mestizen aufgeschoben war; er wußte, daß die Schar des ersteren sich hinter ihnen befand und daß er vor ihnen an der Red Fork anlangen würde. Aber Sang-Mêlé konnte das Ziel seines Marsches ändern oder sich wenigstens nicht lange genug dort aufhalten, um einen Versuch zu machen, ihn mit einiger Aussicht auf Erfolg anzugreifen!
   »Ist die Red Fork weit von dem Ort, den Ihr den Büffelsee nennt?« fragte Bois-Rosé Rayon-Brûlant, um seine Zweifel aufzuklären.
   »Eine halbe Meile.«
   »Und was will Sang-Mêlé am Büffelsee, wo Ihr seine Spuren gefunden habt, unternehmen? Weiß mein Sohn das?«
   »Er will die Blume des Sees pflücken, die eine Hütte von der Farbe des Himmels bewohnt«, sagte der junge Indianer mit feurigem Blick.
   »Ich verstehe Euch nicht, Rayon-Brûlant.«
   »Die Blume des Sees«, erwiderte der Komantsche und versuchte das Feuer seiner Augen zu verhüllen, »ist eine Tochter der Weißen; sie ist selbst weiß und schön wie die des Morgens halb geöffnete Blüte der Magnolie, wenn man sie mittags erblickt; sie ist viel schöner als der ›Abendstern‹, der … bis jetzt in den Augen eines Kriegers höher gestanden hatte als alle indianischen Mädchen.«
   »Und was macht dieses junge Mädchen so weit von den Ansiedlungen?« fuhr Bois-Rosé fort, weit davon entfernt, zu ahnen, daß es diejenige war, die einen so großen Platz im Herzen Fabians einnahm.
   »Sie begleitet ihren Vater und zweiunddreißig Jäger zu einer Jagd auf wilde Pferde.«
   »Zweiunddreißig Jäger? Ach, Pepe«, rief der alte Jäger voller Freude, »gerade das wollte uns Pedro Diaz sagen. Dort werden wir ihn ohne Zweifel wiederfinden. Aber dann wird es ein gleichwertiger Kampf sein: sechzig Indianer und vierzig oder fünfzig Indianer und Weiße gegen sie!« fuhr der Jäger fort, und sein Antlitz glühte in der Erinnerung früherer Kämpfe. »Die Red Fork wird viel Blut fließen sehen. Wir werden Fabian mitten in dieser Verwirrung retten und die Schädel dieser Piraten der Steppe mit Kolbenschlägen zerschmettern.«
   »Wir werden sie kreuzigen, Bois-Rosé!« rief Pepe, der sich der wilden Leidenschaft überließ, die sein Haß gegen Main-Rouge und Sang-Mêlé in ihm erregte. »Dieses Dämonenpaar hat kein mildes Los verdient.«
   Der ehrliche Waldläufer, der mehr zu lieben als zu hassen verstand, und der unversöhnliche Grenzjäger, der ebensosehr hassen konnte, als er zu lieben verstand, beugten sich mit noch größerem Eifer auf ihre Ruder nieder.
   Das Wasser des Flusses färbte sich schwarz, als die Ufer sich verengten und hundert Schritt jenseits des Nachens einen engen Kanal bildeten, der von den Wipfeln der ineinander verschlungenen Bäume überschattet wurde. Ein letzter purpurner Strahl der untergehenden Sonne spielte noch auf den Bäumen, drang in einer leuchtenden Linie durch den grünen Dom und verschmolz mit dem dichten Schatten auf der Oberfläche des Stromes. Ehe sie in diesen düsteren Paß fuhren, gab Rayon-Brûlant dem neben ihm sitzenden Krieger ein Zeichen, und beide nahmen die Ruder wieder aus den Händen der Jäger, die wieder die Büchsen ergriffen. Bald nachher ließen die Indianer zwei Schreie gleich dem der Schwalben hören, wenn sie das Wasser im Flug streifen.
   Einige Augenblicke nachher glitt das Kanu unter das dichte Gewölbe der Bäume. Der letzte Sonnenstrahl schien im Fluß erloschen zu sein, und kaum vermochte man mitten in der Dunkelheit von einem Ende des Fahrzeugs bis zum anderen zu sehen.
   »Wenn die Finsternis nicht zuweilen sonderbare Einbildungen hervorbrächte«, sagte der Kanadier, »so möchte ich darauf schwören, daß ich dort unten an der Gabel dieser über dem Wasser hängenden Esche etwas wie eine menschliche Gestalt sähe.«
   Der junge Komantsche hielt den Kanadier zurück, der schon seine Büchse anschlug. »Der Adler und der Spötter sind hier in Freundesland«, sagte er; »Krieger durchforschen weithin den Pfad vor ihren Schritten.«
   Bei diesen Worten gab Rayon-Brûlant dem Indianer den Befehl, einen Augenblick mit dem Rudern einzuhalten, und mit entgegengesetztem Ruderschlag trieb er das Boot heftig unter den überhängenden Eschenstamm, den der Kanadier bezeichnete. Im selben Augenblick, ehe noch Pepe oder Bois-Rosé sich von ihren Eindrücken hatten Rechenschaft ablegen können, glitt ein schwarzer Körper den Baum herunter; das Boot erhielt einen Stoß, der es erbeben ließ, und ein Indianer setzte sich neben den Komantschenhäuptling. Diese neue Person stattete irgendeinen kurzen Bericht ab, den die Weißen nicht verstanden, während das Kanu seinen Lauf durch die Dunkelheit fortsetzte, und dann schwieg der Indianer wie alle anderen im Boot.
   Nach Verlauf von ungefähr einer Stunde der schweigenden Fahrt wiederholte sich derselbe Fall; noch ein anderer Indianer ließ sich in das Boot gleiten, das bald zu klein zu werden drohte, wenn die Zahl derjenigen, die hineinstiegen, sich so von Stunde zu Stunde vermehren sollte. Der zuletzt Gekommene sagte auch einige Worte zu Rayon-Brûlant im Komantschendialekt, und diesmal hoben die beiden Indianer, anstatt weiterzurudern, ihre Ruder empor und ließen einige Zeit hindurch das Kanu nur der Strömung des Flusses folgen. Ein fernes Rauschen begann sich auch unter dem hallenden Gewölbe, das den Fluß bedeckte, hören zu lassen.
   Bald nahm das Geräusch zu; man hörte das Wasser wie über eine Untiefe brausen; aber der Dunkelheit halber konnte man vorn nichts sehen. Nun begann die gebrechliche Barke sich langsam um sich selbst zu drehen, ohne daß die Indianer irgendeinen Versuch machten, sie zu lenken. Darauf schwamm sie quer, indem sie das vordere und das hintere Ende den beiden Ufern des Flusses zukehrte, und zuletzt nahm sie plötzlich ihren Lauf parallel zur Strömung des Wassers und glitt rascher dahin; bald wuchs diese Schnelligkeit in solchem Grad, daß das Kanu auf dem Wasser mit dem Ungestüm eines Pfeils dahinzufliegen schien, während es wie auf einer abschüssigen Ebene hinunterfuhr.
   Es war wirklich einer von den Wasserfällen des Flusses, bei dem die beiden Komantschen es der Dunkelheit halber ihrer Barke allein überließen, hinunterzukommen. Einen Augenblick schäumte das Wasser unter dem gebrechlichen Nachen, der auf Fluten von Schaum zu schwimmen schien; plötzlich traf ihn ein schrecklicher Stoß, als ob seine Seiten sich öffnen und das Wasser eindringen lassen wollten; dann blieb er unbeweglich stehen. Die gefährliche Stelle war ohne Unfall zurückgelegt worden, und Rayon-Brûlant und seine Gefährten, die sich während dieser Zeit ausgeruht hatten, nahmen die Ruder wieder auf und setzten ihre Arbeit fort.
   Nachdem die Schiffenden den Fall passiert hatten, gelangten sie bald aus diesem dunklen Engpaß, der sich fast ohne Unterbrechung mehrere Meilen lang erstreckt hatte, und erreichten eine offene Stelle. Hier wurde es nötig, an Land zu steigen, um das Kanu, das schon anfing, ein wenig Wasser zu ziehen, trocknen zu lassen. Mit Ausnahme einiger Baumwollstauden, die auf dem gegenüberliegenden Ufer wuchsen, befanden sich die Reisenden mitten in einer fast nackten Ebene.
   »Der Adler und der Spottvogel können einen Augenblick schlafen, während meine beiden Krieger und ich das Feuer anzünden, um das Leck des Kanus aus Büffelhaut wieder auszubessern«, sagte Rayon-Brûlant.
   »Mit Eurer Erlaubnis, mein junger Freund«, sagte Pepe, »will ich lieber mit dem Essen anfangen und dann schlafen, wenn noch Zeit dazu übrig ist.«
   Die vier Komantschen hatten bald ein Feuer angezündet, um das herum die drei weißen Jäger an ihrer Seite saßen, und die Überreste des Büffels lieferten den sieben Tischgenossen ein nicht weniger glänzendes Mahl als das Mittagessen vorher unter dem Schatten der Büffelinsel.
   Als man das Kanu umgewendet hatte, um das Leck zu finden, bemerkte der Komantsche, daß die Nähte einen Teil ihres fettigen Überzugs verloren hatten und daß an dieser Stelle das Wasser eingedrungen war; mit Hilfe einer Mischung von Büffelfett und Asche aus dem Feuer sollten eben die Nähte des Kanus abermals verpicht werden, als der Indianer auf ein fernes Geräusch horchte.
   »Hört Ihr etwa einen verdächtigen Lärm?« fragte Pepe den Indianer.
   »Rayon-Brûlant lauscht dem Geheul des Wolfs der Prophezeiung.«
   »Gut, mein Freund; Ihr habt ein feines Ohr, Ihr könnt Euch dessen rühmen. Was verkündet Euch denn das Geheul des kleinen Wolfs der Prärien, der nach meiner Meinung nur seinen Hunger anzeigt?«
   »Wenn die Indianer auf der Jagd sind«, antwortete der Komantsche, »folgen ihnen die großen Wölfe der Prärien schweigend, da sie sicher sind, bald ihren Anteil von der Beute zu bekommen; die kleinen Wölfe als die Schwächeren begleiten die Stärkeren heulend, als ob sie ihren Anteil verlangten. Ich habe die Stimme der Prophezeiung im Norden gehört; die Bande des Schwarzen Falken ist im Osten; auf der nördlichen Seite ist also die andere Bande, die unsere Kundschafter nicht gesehen haben, und die Büffel fliehen vor ihr. Mein Vater kann sie hören.«
   Ein noch unbestimmbares Getöse klang in der Tat bald aus der Ferne herüber. Der Komantsche nahm nun einen Brand vom Feuer und bediente sich seiner, um die Erde in einiger Entfernung von der Stelle, wo das Feuer angezündet war, zu beleuchten. Ein breiter Streifen Erde war zertreten und zerstampft wie die Bahn eines Zirkus und erstreckte sich vom Fluß ausgehend in die Ebene hinein, so weit nur das Auge reichte.
   »Wir sind hier auf einer Büffelfährte!« rief der Indianer aus. »Das ist eine gefährliche Stelle, die wir fliehen müssen! Wir werden kaum noch Zeit dazu haben; eine Herde wird den Spuren, die sie schon zurückgelassen hat, wieder folgen.«
   Gebrüll mischte sich bald mit dem dumpfen Dröhnen des Bodens. Rayon-Brûlant sagte einige Worte zu seinen beiden Kriegern, und diese zerstreuten und erstickten schnell das Feuer – mit Ausnahme eines Brandes, den der Häuptling zurückbehielt —; dann trugen die beiden Komantschen, von den Jägern unterstützt, Rayon-Brûlant eiligst das Kanu nach.
   Der junge Häuptling wählte als neuen Haltepunkt den Gipfel eines kleinen Hügels, wie sich diese in der Gegend so zahlreich finden. Dort wurde ein anderes Feuer angezündet, an dem die roten Krieger ihre unterbrochene Arbeit des Kalfaterns wiederaufnahmen.
   Sie waren kaum bei der Arbeit, als sich der Stelle gegenüber, die sie eben verlassen hatten – und zwar auf der entgegengesetzten Seite des Flusses —, eine lange, breite Kolonne von Büffeln zeigte, die durch die Ebene galoppierte. Man sah, wie sich unter dem unwiderstehlichen Andrang dieser gewaltigen Bewohner der Prärien das Baumwollstaudengebüsch krachend niederbog und wie ein Bündel trockenen Grases auf dem Boden lag. Betäubendes Brüllen mischte sich mit dem tosenden Schnauben der Nüstern der wilden Herde, die das Wasser witterte, durch das sie hindurch mußte; dann brauste das Wasser unter der Flut mähnenumwallter Tiere, und der Fluß überschwemmte seine Ufer, als ob ihn eine plötzliche Flut während der Tagundnachtgleiche hätte anschwellen lassen.
   Als ihn die ganze Herde durchschwommen hatte, schäumten seine bewegten Gewässer noch immer und schlugen an die überschwemmten Ufer, während sich bereits der ganze Tumult nach und nach weit in der Ebene verlor.


   67. Unbequeme Uferbewohner

   Der gigantische Maßstab, nach dem die amerikanische Natur vom Schöpfer gebildet zu sein scheint; ihre fünfzehnhundert Meilen langen Flüsse, die breit sind wie Meere; ihre Seen gleich Ozeanen; ihre ungeheuren Bäume; das baumhohe Gras in den Prärien; ihre riesenhaften Häfen —wie zum Beispiel der von San Francisco, wo sämtliche vereinigten Flotten Europas vor Anker liegen könnten —, weissagt dies alles nicht Amerika einen Grad von Glanz und Macht, der dem, den Europa jemals erreicht hat, überlegen ist? Wir gehören – mit Recht oder Unrecht – zu denen, die daran glauben, wenn es wahr ist, daß die Zukunft, für die immer die Gegenwart Bürgschaft leistet, die kühnen Anstrengungen eines Volkes glorreich krönen muß, das mit jedem Tag sich bestrebt, so groß zu werden wie die Natur, von der es umgeben ist.
   In gewissen Perioden strotzen die Flüsse und Gewässer der Prärien bis in die kleinsten Bäche hinein von ungeheuren Salmen, gedrängt wie unsere Herings– und Sardellenbänke; die Gewässer vermögen sie nicht mehr zu fassen und werfen sie aus ihrem Schoß, und hier teilen die in diesen Ebenen umherstreifenden Indianer mit fleischfressenden Tieren der Steppe das Mahl, das ihnen die Vorsehung sendet.
   In anderen Zeitabschnitten durchziehen Büffelherden– zahlreich wie die Salme in den Flüssen und von einer Größe, die ebenso mit der unserer Stiere verglichen werden kann wie der Mississippi mit dem Rhein – die Prärien und fliehen vor dem Indianer und dem Grauen Bären, die sie verfolgen.
   Mit welchem jagenden Tier könnte man wohl in der ganzen Welt den Grauen Bären vergleichen? Mit keinem, denn er ist fast so groß wie der Büffel; seine Krallen sind so lang und scharf wie die Hauer des Ebers; die Kugeln der Jäger prallen von ihm ab wie der Hagel von einem Ziegeldach; er trägt in scharfem Trab einen ganzen Büffel in seine Höhle. Der Tod eines solchen schrecklichen Kolosses ist der Sieg, auf den der rote Krieger der Prärien am meisten stolz ist.
   Eine solche wandernde Büffelherde hatten die Reiter eben über den Fluß setzen gesehen, nicht weit von dem Ort, wo sie zuerst gelagert hatten.
   »Glaubt denn mein Sohn an Träume und Prophezeiungen?« fragte Bois-Rosé den Komantschen, als man das Getöse der fliehenden Büffel nicht mehr hörte.
   »Die Stimme des Wolfs der Prophezeiungen täuscht niemals!« antwortete Rayon-Brûlant mit einer Miene der Überzeugung, über die der Kanadier lächelte. »Die Träume, die der Große Geist dem schlafenden Krieger schickt, täuschen ihn ebenfalls niemals. Glaubt denn der Adler der Schneegebirge, daß die Büffel in dieser Stunde der Nacht ihren Ruheplatz im hohen Gras verlassen, um während der nächtlichen Kühle zu wandern?«
   »Das ist nicht wahrscheinlich; Gott sendet den Tieren wie uns den Schlaf in der Nacht. Büffel sind weder Wölfe noch Jaguare, die in der Dunkelheit umherstreifen und während des Tages schlafen; und Indianer haben ohne Zweifel auf diese Herde von fliehenden Tieren, die eben vorüberkam, Jagd gemacht.«
   »Gut! Die Träume sind das für meinen Geist, was für meine Ohren das Geheul des Wolfs der Prophezeiungen, was für meine Augen die nächtliche Flucht des Büffels ist: ein Zeichen, daß uns Gefahr umgibt.«
   »Wenn Ihr recht habt, wie ich glaube«, erwiderte Bois-Rosé, »– denn obwohl Ihr kaum halb so alt seid als ich, so sprechen doch für Euch die Erfahrung Eurer Väter, die man in den Steppen nicht wie in den großen Städten verachtet, und die ersten Eindrücke Eurer Kindheit —, so bin ich der Ansicht, daß wir unsere Fahrt so schnell wie möglich wieder beginnen.«
   »Das Kanu ist bereit; aber wir haben noch einige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Wir wollen hinter diesen Hügeln sechs Feuer in einiger Entfernung voneinander anzünden. Auf der entgegengesetzten Seite des Flusses, wo die Truppe lagert, die unseren Spuren folgt, und auf dieser Seite, wo der Schwarze Falke haltgemacht hat, werden die Apachen diese Feuer sehen, ohne unterscheiden zu können, ob Krieger um diese wachen. Während sie ihre Zeit damit verlieren werden, ein Mittel ausfindig zu machen, um sich ungesehen zu nähern, werden Rayon-Brûlant, der Adler und der Spottvogel Zeit haben, den sie verfolgenden Feinden den Vorsprung abzugewinnen.«
   Dieser weise Rat überraschte Bois-Rosé und den Spanier. Die Feuer wurden hinter Gesträuchen und kleinen Hügeln, die nur den Widerschein erblicken ließen, das Feuer selbst aber verbargen, angezündet; das Kanu aus Büffelhaut, mit seinem wasserdichten Überzug versehen, wurde wieder ins Wasser gelassen, und die Schar setzte eifrig rudernd ihre fast zwei Stunden unterbrochene Fahrt wieder fort.
   Voll Vertrauen auf die vier Komantschen, die sich abwechselnd ausruhten und die Ruder wieder ergriffen, nützten die drei Jäger die Zeit, um sich auf den Boden des Kanus niederzustrecken und einige Augenblicke zu schlafen. Pepe und Bois-Rosé fühlten, daß sie bei einer solchen Tag und Nacht fortgesetzten Fahrt die Stunden wieder einholen würden, die sie einzubüßen genötigt gewesen waren, und kämpften ebenso wie Gayferos bald nicht mehr gegen die unüberwindliche Schläfrigkeit, die auf ihren Augen lastete.
   Lange schon waren die zur Täuschung des Feindes auf dem Ufer angezündeten Feuer in der Ferne verschwunden; die drei ermüdeten Jäger lagen im tiefen Schlaf. Während die beiden Indianer schweigend ruderten, saß der junge Komantsche auf dem Hinterteil des Fahrzeugs und hörte nicht auf, mit den Augen alle Punkte der Einöde zu durchspähen, die sie durchschifften.
   Rayon-Brûlant schien dem Schlaf unzugänglich, obgleich die Baumstämme und die Felsen am Ufer des Flusses nicht unbeweglicher schienen als er. Sein Gesicht mit dem energischen Profil, seinen leuchtenden Augen, die nervige Brust, die sein Mantel aus Büffelhaut in ihrer Nacktheit sehen ließ, das vollkommene Ebenmaß seines Kopfes und seiner breiten Schultern machten aus dem jungen Renegaten der Apachen ein schönes Muster des menschlichen Geschlechts im Naturzustand. Schaute der junge Krieger in sein eigenes Herz, um dort das Bild der Blume des Sees oder das des Abendsterns wiederzufinden, für den er das Land seiner Väter verlassen hatte? Wir wissen es nicht, und es liegt für den Augenblick wenig daran.
   Sosehr er aber auch von seinen Gedanken in Anspruch genommen war, so blieb doch kein Geräusch von ihm unbemerkt, das sich – mit Ausnahme des Rauschens des Kanus am Schilf des Flusses und des Hineintauchens der Ruder ins Wasser – nur von Zeit zu Zeit vernehmen ließ. Indessen folgten seiner unbeweglichen Haltung, die bewies, daß alle diese Töne der Steppe nichts anderes waren, als sie sein mußten, nach und nach einige Bewegungen des Körpers oder des Kopfes, als ob andere Zeichen sich in die Stimmen der Nacht und der Steppe mischten.
   Eine Art dumpfen, vom Lufthauch getragenen Brummens, das mitten aus dem Fluß selbst zu kommen schien, bestätigte bald die Ahnung des Komantschen. Er gab seinen beiden Ruderern einen Wink, aufzuhören, und beugte sich über den Körper des Kanadiers, der, als er fühlte, daß man seine Schulter berührte, die Augen öffnete und um sich blickte. Er sah, wie die beiden Indianer ihre Ruder regungslos in der Hand hielten, und vermutete eine noch verborgene Gefahr.
   Der Fluß, der da, wo Bois-Rosé eingeschlafen war, durch eine Ebene floß, war hier, wo er aufwachte, zwischen zwei ziemlich hohen Ufern eingeengt.
   »Soll ich Pepe rufen?« fragte der Waldläufer.
   »Laßt ihn schlafen«, erwiderte der Komantsche; »wir wollen ihn wecken, wenn es nötig ist. Ich habe sagen hören, daß die Kugel des Adlers der Berge niemals ihr Ziel verfehlt.«
   »Ja, mein Sohn, das war der Fall mit der Büchse, die ich in meinen Händen habe zerschmettern lassen; mit dieser hier könnte ich, da ich sie noch nicht versucht habe, nicht für den ersten Schuß stehen. Warum habt Ihr mich aber geweckt?«
   Ein längeres Brummen, ähnlich dem Brausen eins Blasbalges, ersparte dem Indianer die Antwort.
   »Ah«, sagte der Kanadier, »ich frage Euch nicht weiter. Was ist aber am Ende daran gelegen? Laßt uns vorüberfahren, und sofern Ihr noch nicht vom Rudern zu müde seid, laßt mich weiterschlafen.«
   »Wir können ohne seine Erlaubnis nicht vorbeikommen. Hinter dieser Krümmung ist der Fluß sehr schmal, und das Tier hält eine kleine Insel mitten in der Strömung besetzt. Was Rayon-Brûlant einmal gesehen hat, vergißt er nicht wieder. Er kennt die geringste Krümmung des Red River.«
   Unterdessen war das Boot, sich im Kreis drehend, immer weitergeschwommen, und da es dringend notwendig war, einen Entschluß zu fassen, ehe man sich in den gefährlichen Engpaß hineinwagte, ergriff Bois-Rosé die Ruder und fuhr stromauf.
   »In der Tat«, sagte er, während er es unbeweglich festhielt, nachdem er einige Klafter gewonnen hatte, »wir dürfen die Büchsenschüsse in diesen Einöden nicht verschwenden, ohne unsere Feinde, die ganz in unserer Nähe sein können, zu alarmieren. Ein einziger Schuß selbst würde dazu hinreichend sein. Wohlan, Komantsche, ich bin der Meinung, daß wir ohne weitere Umstände alle Eigenliebe beiseite setzen, an Land steigen und das Kanu auf die Schultern nehmen, um mit diesem teuflischen Tier keinen Kampf zu beginnen. Später können wir den Fluß wieder benützen.«
   »Die drei Indianer haben eine scharfe Streitaxt und kräftige Arme; die weißen Jäger haben ihre spitzen, schneidenden Messer!« erwiderte Rayon-Brûlant.
   »Die Eigenliebe eines jungen Mannes bequemt sich nicht leicht zur Flucht, ich weiß es. Wollt Ihr Euch lieber der Gefahr aussetzen, daß unser Kanu umschlägt – was keine Sache von Bedeutung wäre —, oder wollt Ihr es zerreißen lassen wie eine trockene Kürbisflasche, was nicht wiedergutzumachen wäre? Hört, Rayon-Brûlant, opfert der Liebe eines Vaters, der seinen Sohn sucht, dessen Minuten gezählt sind, die armselige Ruhmsucht eines jungen Mannes; ein Greis mit grauen Haaren und traurigem Herzen bittet Euch darum.«
   »Die Blume des Sees«, sagte der Indianer, der die Eindrücke seines jungen Herzens nicht mehr verbergen konnte, »hätte gebebt beim Anblick der Haut des ungeheuren Tieres und hätte dem Krieger zugelächelt, der sie ihr gebracht haben würde; das Herz Rayon-Brûlants würde sich gefreut haben.«
   »Ja, mein Kind, es ist etwas Süßes, ein Lächeln von derjenigen zu erhalten, die man liebt; es ist süß für einen Indianer wie für einen Weißen; aber es ist auch süß, einen Greis, der seinen Sohn beweint, zu verpflichten. Der Große Geist wird Eure Jagden segnen.«
   Der Komantsche erwiderte nichts mehr. Man weckte Pepe und Gayferos, um ihnen zu sagen, daß ein Grauer Bär aus den Prärien einen Engpaß bewache, den man nicht passieren könne, ohne mit ihm anzubinden, und daß man mit Ladung und Kanu einen Umweg zu Lande machen und so das gefährliche Getöse eines Kampfes mit dem furchtbaren Wächter vermeiden müsse.
   Die Nachricht, daß ein Grauer Bär den Fluß versperre, versetzte Pepe in sehr üble Laune. »Der Teufel drehe diesem Gezücht den Hals um!« sagte er gähnend und beschimpfte aus Groll mit einem verächtlichen Ausdruck, den die Jäger nur bei Tieren von untergeordneter Stellung anwenden, den schrecklichsten und kolossalsten Bewohner der Prärien. »Ich schlief so ruhig.«
   Der stets vorsichtige Kanadier entschloß sich, nachdem man an einem Ufer gelandet war, einen raschen Blick in die Ebene zu werfen, ehe er die ganze Schar aus dem Boot steigen ließ; er erklomm leise das steile Ufer, das den Fluß einengte. Hohes Gras stand auf dem Gipfel und bot dem Auge einen undurchdringlichen Wall dar. Der Kanadier rückte also kriechend, mit der Büchse in der Hand, durch die Halme vor und verschwand einige Minuten aus den Augen seiner Gefährten.
   Diese waren auf ihrer Hut, denn es war nicht genug, dem wilden Tier auszuweichen, um sich vor einem Angriff seinerseits sicherzustellen. Es war klar, daß der Bär den Geruch von Menschen witterte und sich in seinem öden Gebiet nicht mehr allein fühlte. Wie jene furchtbaren Burgherren, die früher von der Höhe ihres Felsens oder ihres Turms den Lauf eines Flusses beherrschten, so war auch hier zu befürchten, daß dieses am Ufer hausende Tier einen Versuch machen würde, vorher einen Jäger oder einen Indianer als Tribut zu erheben, wenn es schon in seinem Leben das Fleisch des einen oder des anderen gekostet hatte. Mit dem stoßweisen Schnauben seiner Nase mischte sich von Zeit zu Zeit das Knirschen seiner furchtbaren Zähne und der Krallen, die am Felsen der Insel scharrten.
   In diesem Augenblick kam der Kanadier eiligst zurück. »Fort! Fort!« sagte er mit leiser Stimme, sobald er die Schar wieder erreicht hatte. »Dort sind ein Dutzend Indianer zu Pferd, die die Prärien durchstreifen.«
   »Die Wölfe der Prophezeiung täuschen niemals«, antwortete der Indianer. »In welcher Richtung durchstreifen diese Apachenhunde die Ebene?«
   »Rechts und links; aber sie scheinen von der Seite zu kommen, wo wir unsere angezündeten Feuer gelassen haben. Vorwärts, Rayon-Brûlant, jetzt müssen wir ohne Zögern zu den indianischen Streitäxten und den Messern der Weißen gegen den Grauen Bären unsere Zuflucht nehmen. Was sich auch ereignen mag, wir können hier nicht eine Minute länger ohne Gefahr bleiben. Einer von den Reitern kann von einem Augenblick zum anderen ans Ufer kommen.«
   Das Kanu wurde abermals in der Richtung nach der Insel mitten in den Strom getrieben, trotz des schrecklichen Brummens, das sich hören ließ. Unter allen anderen Umständen würden sich die Schiffer trotz der Stärke und der Wildheit des Tieres, das sich nach dem Ausdruck des Indianers auf der kleinen Insel festgesetzt haben mußte, um den Engpaß, den sie nach jeder Seite des Flusses hin bildete, zu beherrschen, wenig über dieses Zusammentreffen beunruhigt haben.
   Mit Ausnahme von Gayferos hatten alle ihr Leben in der Steppe zugebracht und waren daran gewöhnt, deren Gefahren zu bekämpfen; dieser jedoch schien nicht mehr als seine Gefährten darüber zu erschrecken– aber nur darum, weil er nicht wußte, mit welchem Feind sie es zu tun hatten. Die beiden Jäger und die Indianer wußten es und konnten die Gefahr beurteilen, der sie durch die Nähe der Apachen bei einem an sich selbst schon so gefährlichen Kampf ausgesetzt waren. Nur die blanken Waffen konnten für den Fall, daß das Tier nicht in Laune war, sie passieren zu lassen, in Anwendung kommen. Der dicke Pelz des Grauen Bären machte einen solchen Kampf sehr ungewiß. Sein Brüllen, wenn er verwundet war, konnte die jagdlustigen Indianer herbeiziehen; ihr Kanu lief Gefahr, durch die geringste Berührung seiner scharfen Krallen zerrissen zu werden; fast unvermeidlich war es, damit umzuschlagen.
   Bois-Rosé bat zur größeren Sicherheit und um den Komantschen von irgendeinem Angriff abzuhalten, Rayon-Brûlant, ein Ruder in die Hand zu nehmen, während er selbst sich des zweiten bemächtigte; dann trieb er, auf die Gefahr hin, die für ihn selbst daraus entstehen konnte, das Kanu zum rechten Ufer, um auf dieser Seite durch den Paß zu fahren und dem wilden Tier so wenig nahe wie möglich zu kommen. Das Kanu folgte der ziemlich schnellen Strömung des Flusses und hatte bald den Raum wiedergewonnen, den es durch das Stromauffahren Bois-Rosés verloren hatte. Es war ein erwartungsvoller Augenblick, als es durch die Krümmung fuhr, die der Fluß beschrieb.
   Die Streitaxt in der Hand, standen die Indianer im Vorderteil des Bootes bereit, den Koloß mit dreifachem Schlag zu treffen, und Pepe und der Gambusino befanden sich, jeder sein Messer in der Hand, hinter ihnen. Die kleine Barke glitt leise dahin, und das dumpfe Brummen drang immer noch aus dem Schoß des Flusses, als ob irgendein Seeungeheuer auf der Untiefe gescheitert wäre. Bald erschien die Insel auf der düsteren Oberfläche des Stromes vor den Augen der Schiffer, und auf dem sandigen und felsigen Eiland ließ sich eine ungeheure schwarze Masse erblicken.
   »Jesus, Maria!« sagte mit leiser Stimme der entsetzte Gambusino beim Anblick des Feindes, dessen gigantische Gestalt er nicht geahnt hatte.
   »Verlaßt Euch mehr auf Euer Messer als auf ein Gebet«, sagte Pepe lebhaft.
   Das Kanu näherte sich langsam, und beim Anblick der Männer, die darin saßen, ließ der Bär ein schreckliches Brummen hören, scharrte mit einer seiner Tatzen den Boden und rollte eine wahre Sandlawine in den Fluß; dann begann er sich langsam auf seinen Hinterfüßen wie ein sich bäumender Büffel zu erheben.
   »Vorwärts, Komantsche, von einem tüchtigen Ruderschlag hängt vielleicht das Leben von sieben Männern ab!« sagte Bois-Rosé.
   Das Kanu hatte den verhängnisvollen Engpaß erreicht, und diejenigen, die darin waren, hielten sich bereit. Der unerschrockene Waldläufer tauchte mit festem Arm sein Ruder ins Wasser, um das Fahrzeug schneller vorwärts zu bringen und es so weit wie möglich von dem Tier entfernt zu halten, das aufrecht dastand und mit dem Beginn des Angriffs zu zögern schien. Der Indianer unterstützte den Jäger nicht weniger mutig und hob sein Ruder in dem Augenblick in die Luft, als die Barke wie ein Pfeil kaum einen Klafter weit von dem wilden Hüter der kleinen Insel vorüberflog.
   Dieser schien noch unentschieden, ob er sich auf das Kanu stürzen solle, und Bois-Rosé hoffte schon, glücklich diese gefährliche Stelle zurückgelegt zu haben, als einer von den Komantschen mit einer Schnelligkeit, daß ihm der alte Jäger nicht zuvorkommen konnte, seine Streitaxt weglegte und einen Pfeil in den Leib des Bären schoß, der tief in seine Eingeweide drang. Bois-Rosé konnte einen Ausruf des Zorns nicht unterdrücken und das verwundete Tier stürzte mit einem wütenden Gebrüll gleich dem eines von einem Lanzenstoß getroffenen Büffels, indem es seine ungeheuren Kinnladen mit schrecklichem Getöse krachen ließ, ins Wasser wie ein Felsblock, der von steilen Ufern herabrollt.
   Der Kanadier war nicht weniger rasch gewesen als der Komantsche, und ein zweiter Ruderschlag ließ das Fahrzeug noch schneller dahinfliegen; der Bär erreichte das Boot nicht, und seine beiden Tatzen trafen nur die Oberfläche des Stromes.
   »Hurra!« rief Pepe, halb erstickt durch die Wirbel von Schaum, die sein Gesicht peitschten. »Fest, Bois-Rosé! Fest, Komantsche! Ihr habt manövriert wie zwei brave Matrosen. Heda, ihr dort unten! Eure Streitäxte, wenn ihr nicht wollt, daß dieses Gezücht uns in den Grund bohrt.«
   Die drei Indianer waren zwischen den beiden Ruderern hindurch zum Hinterteil geschlüpft, und in dem Augenblick, wo das wütende Tier, heulend und schäumend vor Wut, mit keuchendem Atem und flammenden Augen nur noch einen halben Fuß von dem Kanu entfernt war, das in dem durch seine furchtbaren Anstrengungen hervorgebrachten Strudel auf und nieder tanzte, befanden sie sich am Hinterteil, und die geschwungenen Streitäxte glänzten in ihren Händen.
   »Schlagt doch zu!« heulte Pepe.
   Die Indianer bedurften seines Zurufs nicht – die drei Streitäxte klangen auf dem Schädel des Kolosses wie drei Hammerschläge auf dem Amboß.
   »Noch einmal! Noch einmal!« rief Pepe abermals.
   »Solches Gezücht hat ein zähes Leben!«
   »Still doch, um Gottes willen!« sagte Bois-Rosé. »Die Indianer sind nicht…«
   Plötzlich warf ein Blitz einen Flammenstrahl auf die von Blut gerötete Oberfläche des Stromes und auf den abermals verwundeten Bären. Sein wütendes Geheul mischte sich mit einem Knall, der in den Ohren der Indianer und der beiden im Hinterteil beschäftigten Jäger wie die Posaune erklang, die der Engel des Jüngsten Gerichts über ihrem Haupt erschallen ließ.
   »Demonio!« rief der Spanier aus beim Anblick eines Körpers, der vom abschüssigen Ufer herab dicht bei dem Tier ins Wasser stürzte, unter dessen Anstrengungen es immer noch brauste, während das Kanu dahinflog. »Was ist das?«
   »Das ist ein Apache, der in den Fluß stürzt! Ein heißhungriger Hund, der sich ersäuft!« antwortete der Indianer.
   Bald brach ein Geheul in der Ebene jenseits des hohen Stromufers los; die Komantschen antworteten, und ein schreckliches Getöse erhob sich – ein Gemisch von menschlichen Stimmen, seltsam moduliert von der des kolossalen Bewohners der Prärien, wie wenn eine Wasserhose über den Fluß zöge. Die Wut des Grauen Bären schien durch den Pfeil, der seinen Leib durchbohrt hatte, und durch die drei Axtschläge, von denen sein Schädel getroffen war, noch vermehrt worden zu sein.
   »Mut, Bois-Rosé, Mut!« rief Pepe aus, der im Hinterteil des Kanus kniete und mit den Indianern die beunruhigenden Fortschritte des schwimmenden Tieres beobachtete, das jeden Augenblick eine Tatze wie ein Katapult hob, um das gebrechliche Fahrzeug in den Grund zu bohren. »Bei Gott, wir sind ihm noch glücklich entkommen!« fuhr er fort, als das Wasser wieder sein Gesicht peitschte.
   Das Kanu schwamm jetzt zwischen niedrigen Ufern, die trotz der Dunkelheit einen Blick auf die Ebene zu werfen gestatteten. Schwarze Schatten von Pferden und Reitern bewegten sich im hohen Gras. Eine andere unmittelbare Gefahr drohte die mißliche Lage der Schiffer noch gefährlicher zu machen.
   Der Bär hatte, wie eben erwähnt, in seinen Anstrengungen nachgelassen – aber nur, um die Taktik zu ändern. Er hatte sich schräg zum Ufer gewandt.
   »Fahr schräg an Land, Bois-Rosé«, rief Pepe, der die Bewegungen des wütenden Ungeheuers verfolgte, »oder das Tier wird uns den Weg abschneiden und uns von vorn angreifen!«
   Rayon-Brûlant warf einen Blick seitwärts und sah in der Tat den Bären in einiger Entfernung vom Land das Wasser teilen. Der Komantsche trieb das Fahrzeug nach rechts, unterstützt von Bois-Rosé, den die Warnung des Spaniers schon bereit gefunden hatte, sich danach zu richten. Das Kanu flog ebenfalls in schräger Linie dem Ufer zu, und in dem Augenblick, wo der Bär an Land stieg, sprang der junge Komantsche, seine Büchse in der Hand, ebenfalls ans Ufer.
   »Fort!« sagte er zu Bois-Rosé. »Der Adler lasse einen furchtlosen Krieger handeln!« Der Indianer und der Bär waren etwa zwanzig Schritt voneinander auf dasselbe Ufer gesprungen.
   Die Vorbereitungen zum Kampf waren beim Komantschen zu einfach, als daß er damit mehr als einige Sekunden verloren hätte. Während sich der Bär in dem dieser Gattung eigentümlichen Trab näherte, setzte sich Rayon-Brûlant so ruhig auf den Sand wie ein ermüdeter Fußgänger, der sich ausruht. Selbst bei Bois-Rosé erregte diese Ruhe Bewunderung, denn das Leben des jungen Mannes hing von einer falschen Bewegung, von einem zu späten Losgehen seiner Büchse und von anderen Umständen ab, die auch der unerschrockenste Mann nicht in seiner Gewalt hat. Der Indianer legte rasch den Kolben seiner Büchse an die Schulter, drückte seine Wange an den Lauf und wartete unbeweglich.
   Beinahe von gleicher Größe wie ein Büffel näherte sich das gigantische, wilde Tier, der Schrecken der Prärien, und zeigte zwischen seinen blutigen Lippen die schrecklich weißen Zähne, die flammenden Augen unter seinem dicken Pelz.
   Die Büchse des Komantschen folgte langsam den Bewegungen des Bären; als die Mündung des Laufs fast die verwirrten Haarbüschel seines Kopfes berührte, ging der Schuß los. Der Koloß brach zusammen; aber von der Bewegung seines Ganges fortgerissen, hätte er den Indianer unter seiner Leiche erdrückt, wenn dieser nicht, als er kaum den Drücker berührt hatte, sich in sich selbst mit der wunderbaren Elastizität eines Clowns zusammengezogen und sechs Schritte von da mit dem Messer in der Hand auf seinen Füßen gestanden hätte. Er warf einen stolzen Blick auf seinen im blutigen Sand liegenden Feind, schnitt rasch mit der ganzen Fertigkeit eines geschickten Jägers die ungeheure Tatze des Grauen Bären beim ersten Gelenk ab und nahm seinen Platz im Kanu wieder ein.
   »Rayon-Brûlant ist tapfer wie ein Häuptling«, sagte Bois-Rosé und drückte dem Komantschen die Hand.
   »Der Adler und der Spottvogel sind stolz auf ihren jungen Freund. Die Blume des Sees wird lächeln, wenn sie die Proben seines Mutes sieht.«
   Die Augen des jungen Komantschen funkelten vor freudigem Stolz, den das Kompliment Bois-Rosés in seinem Herzen hervorrief, verbunden mit der Hoffnung, die es darin weckte. Er stieß einen kurzen Ruf aus und begann wieder zu rudern, denn die Apachen sprengten durch die Ebene und schienen – wie vor ihnen der Graue Bär – den Schiffern den Weg auf dem Fluß abschneiden zu wollen.


   68. Zwischen zwei Feuern

   Die Stelle, wohin die Indianer sich zu bewegen schienen, um das Kanu beim Vorüberfahren zu erwarten, war mit Gruppen von Weiden und Eschen besät, unter denen sie Gelegenheit finden mußten, die Schiffer ohne Gefahr für sich selbst anzugreifen. Es war also wichtig, diesen Posten vor den Apachen zu erreichen, oder – wenn diese sich zuerst festsetzten – sich gar nicht in diesen gefährlichen Strich zu wagen. Zwei Komantschen hatten den Kanadier und Rayon-Brûlant abgelöst, die ebenso wie Gayferos und Pepe mit der Büchse in der Hand die Ruderer beschützten.
   Die Apachen hatten einen ungeheuren Halbkreis zurückzulegen, wo sie sich auf allen Punkten beinahe außer dem Bereich der Kugeln befanden. Das Kanu hatte sozusagen nur eine gerade Linie – die Sehne dieses Bogens – zu beschreiben.
   »Wenn ich sage, daß diese Indianer auf den Flügeln des Windes in die Prärien getragen zu sein scheinen, wie ich es auf meinen Wanderungen an der Küste von Afrika vom Samum und den Heuschrecken gehört habe – sag, hätte ich da unrecht?« fragte der Kanadier.
   »Wenn ich mich nicht irre«, antwortete der Spanier, »so dürfen wir – obgleich ich nicht leugne, daß diese Schelme wie die Plagen Ägyptens sind – uns nicht wundern, diese hier auf unseren Spuren zu sehen. Sieh doch einmal jene Schecke, deren Farbe man trotz der Dunkelheit unterscheiden kann und die reiterlos umherspringt – kommt es dir nicht so vor, als ob du sie schon einmal um die Insel des Rio Gila hättest galoppieren sehen?«
   »Ich habe einen schrecklichen Grund, um mich dessen zu erinnern«, fügte Gayferos hinzu. »Der Indianer, der zuerst seinen Lasso um meinen Leib geworfen und mich von meinem Pferd gerissen hat, ritt genau auf einem solchen Tier wie diesem hier.«
   »Und jener andere Krieger«, fügte der Grenzjäger hinzu; »sollte man nicht beim Anblick der Büffelmähne, mit der sein Kopf geschmückt zu sein scheint, darauf schwören, es sei der Indianer, den wir als Schildwache am Ufer des Flusses sahen, als unsere schwimmende Insel langsam stromab fuhr? Ah, das ist ein Umstand in unserem abenteuerlichen Leben, dessen ich mich noch lange erinnern werde. Nach meiner Ansicht kann man hundert gegen eins wetten, daß diese Schelme dieselben sind, die uns belagert haben, und daß sie unsere Spuren an dem Ort entdeckt haben müssen, wo wir an Land gestiegen sind, um das Val d‘Or zu erreichen.«
   »Ich sage nicht nein«, erwiderte Bois-Rosé seufzend, denn die zuletzt vom Gambusino wie vom Spanier erwähnten Umstände erinnerten ihn noch bitterer an den Verlust Fabians.
   Dreiviertel der Entfernung bis zu den Baumgruppen waren beinahe zurückgelegt. Hätten die neuen Waffen der drei Weißen eine hinreichend gute Tragweite gehabt, so wäre es möglich gewesen, einen oder zwei Reiter in der Ebene aus dem Sattel zu werfen. Obgleich das Kanu kräftig unter dem Druck der Ruder vorwärts getrieben wurde, so glitt es doch stetig genug auf dem Fluß dahin, daß die Hand eines Schützen nicht durch Schwanken unsicher gemacht wurde.
   »Laßt Eure beiden Krieger das Boot nicht mit so starken Stößen rudern!« sagte Bois-Rosé zum jungen Komantschen.
   Nun streckten der Kanadier und der Spanier ihren für die Indianer so verderblichen Arm aus und gaben Feuer. »Das sind zwei, die niemandes Spuren mehr folgen werden; ich stehe dafür, daß sie keine bösen Absichten mehr gegen uns haben«, sagte der Kanadier.
   »Vielleicht sind sie nur verwundet?« sagte Gayferos, der zu seiner großen Freude und zu seiner größten Verwunderung sah, daß man Feinde in solcher Entfernung und besonders des Nachts treffen könne.
   »Ich bezweifle es«, antwortete Bois-Rosé; »aber jedenfalls sind sie außerstande, uns zu schaden. Aber«, fügte er ärgerlich hinzu, »wir können die Überlebenden nicht hindern, sich vor uns unter dem Baumdickicht festzusetzen. Genug!« fuhr er fort, indem er ein Zeichen mit der Hand gab, nicht mehr zu rudern.
   Die letzten indianischen Reiter waren in dem Wäldchen verschwunden; jedoch nicht, ohne daß die Büchse des Komantschen, die vor aller Ohren knallte, noch einen dritten zu Boden gestreckt hätte.
   Kaum waren einige Minuten verflossen, als eine Salve auf das Kanu abgegeben wurde. Glücklicherweise tat sie weiter keinen Schaden, als daß einem Ruderer der Arm von einer Kugel durchbohrt wurde und eine andere Kugel durch die Seite des Fahrzeugs über der Wasserlinie hindurchfuhr. Der Komantsche bewegte mit seinem gesunden Arm den getroffenen hin und her – der Knochen war nicht zerschmettert, nur das Fleisch war ringsum zerrissen.
   Der Kanadier ergriff an seiner Stelle das Ruder und steuerte das Kanu stromaufwärts nach einer kleinen Bucht, die mehr von einem dichten Schilfgürtel als von der Bodenerhöhung gedeckt wurde, von der sie gebildet war. Es war dies jedoch der beste Zufluchtsort in der Nähe. Die Reisenden konnten sich im ersten Augenblick nach ihrem Rückzug nicht verhehlen, daß sie, um die Indianer aus ihrer vorteilhaften Stellung, von wo sie den Fluß beherrschten, zu vertreiben, oder um die Durchfahrt zu erzwingen, der Gefahr ausgesetzt waren, kostbare Zeit zu verlieren oder ihr Leben zu wagen.
   Man mußte sich also zur Vermeidung dieser beiden Möglichkeiten entschließen, wenn nicht das Kanu aufzugeben – das heißt auf ein kostbares Hilfsmittel für eine rasche und nicht ermüdende Reise zu verzichten —, es wenigstens auf den Schultern weit über den Ort hinauszutragen, der von ihren Gegnern besetzt war.
   Sie hatten kaum angefangen, das Fahrzeug vorsichtig auf das Ufer zu ziehen, als vom Gipfel der Bäume aus, unter die sich die Indianer zurückgezogen hatten, ein lebhaftes Feuer rings um sie den Fluß und seine Ufer erhellte; im selben Augenblick fuhren einige Kugeln in geringer Entfernung vom Boot durch das Schilf. Es war ohne Zweifel ein Feuerzeichen, das die Indianer irgendeiner anderen, entfernten Abteilung gaben.
   Die Bündel trockenen Grases aus der Ebene verbreiteten nur ein vorübergehendes, glänzendes Licht. Nichtsdestoweniger traten doch einen Augenblick lang der gigantische Schattenriß des Kanadiers und der ziemlich kenntliche des spanischen Jägers mitten in dem rötlichen Schein klar hervor, der sich über eine ziemlich weite Strecke verbreitet hatte. Plötzlich zeigten die Rufe: »Der Adler der Schneegebirge! Der Spottvogel! Der blutige Schädel!« – drei Namen, womit die Indianer den Kanadier, den ehemaligen Grenzjäger und den skalpierten Gambusino bezeichneten – den drei weißen Jägern, daß sie erkannt worden waren.
   »Warum nennt sich der große Jäger mit dem bleichen Gesicht Adler«, rief eine spöttische Stimme, »da er doch seine Spur von den Nebelbergen und den Ufern des Rio Gila bis zu denen des Red River nicht hat verbergen können?«
   »Antworte ihnen nicht, Pepe!« sagte der Kanadier.
   »Ein Zungenkampf ist gut, wenn man Zeit zu verlieren hat, wie es damals auf der Insel der Fall war; hier müssen wir handeln! Der übrige Teil der Bande befindet sich ohne Zweifel hinter diesen Baumgruppen. Auf, Rayon-Brûlant! Liefert Euch Euer indianischer Scharfsinn keine Kriegslist, um uns hier herauszuziehen?«
   »Wozu ist List nötig?« erwiderte der Komantsche.
   »Was können wir Besseres und Einfacheres tun, als das Kanu auf unseren Schultern zwei Büchsenschüsse weit von dieser kleinen Bucht zu tragen?«
   Schon hatten die drei Krieger des jungen Häuptlings das leichte Fahrzeug auf ihren Schultern und schlugen auf dem linken Ufer die Richtung nach der Ebene ein, als einer von ihnen einen dumpfen Ruf ausstieß.
   Obgleich der Mond, der erst in der letzten Stunde der Nacht aufging, noch nicht leuchtete, so verbreiteten doch die Sterne am Himmel und die glänzenden Strahlen der Milchstraße Licht genug, daß man eine andere Abteilung Indianer – etwa zwanzig an der Zahl – unterscheiden konnte. Drei oder vier waren zu Pferd, aber sie richteten ihren Marsch nach dem ihrer Gefährten zu Fuß. Man durfte nicht mehr länger zögern.
   »Die Büchse Rayon-Brûlants«, sagte Bois-Rosé, »ist nicht so sicher in seiner Hand wie die meinige und die Pepes, obgleich sein Herz so stark ist; der junge Häuptling und Gayferos werden die Hilfe ihrer Arme leihen, um das Kanu so rasch, als ihre Füße es vermögen, fortzutragen. Mein Gefährte und ich werden sie, solange sie entwaffnet sind, beschützen.«
   »Gut«, sagte der Indianer; »ein Krieger ist nicht allein dadurch nützlich, daß er sich am Kampf beteiligt.«
   Nach dieser kurzen, zustimmenden Erwiderung richteten sich der junge Komantsche und Gayferos nach dem Befehl des Kanadiers. Dieser letztere trat auf die eine Seite der Träger, Pepe auf die andere, und die ganze Schar stürzte im Sturmschritt durch die Ebene.
   Nichts in der Haltung der Neuangekommenen deutete daraufhin, daß die kleine Schar von ihnen bei ihrer Bewegung bemerkt worden sei; dies war aber nicht der Fall bei den hinter den Weiden im Hinterhalt liegenden Indianern. Diese stießen ein wütendes Geheul aus. »Wenn ich doch nur das Auge eines solchen Heulers unterscheiden könnte!« sagte Pepe, der zwischen dem Fluß und den Trägern des Kanus ging.
   »Überwache lieber die zu deiner Linken!« erwiderte der Kanadier. »Ah, diese hier haben uns ebenfalls bemerkt. Hörst du ihr Geheul? Aber daß ja keiner von ihnen sich in den Bereich meiner Büchse wage – Gottes Tod! Siehst du, Pepe, man mag sagen, was man will die Infanterie ist der Kavallerie im Krieg in den Prärien wie in denen der zivilisierten Länder vorzuziehen. Ehe einer von diesen Reitern – sofern er nicht aufs Geratewohl auf uns schießen will – sein Pferd so weit gebracht hat, um mit einiger Aussicht auf Erfolg zu zielen … werde ich … stehengeblieben sein …«
   Bei diesen Worten unterbrach Bois-Rosé seinen Marsch und schien im Boden zu wurzeln.
   »Ja, ich weiß, was er sagen will«, murmelte Pepe, indem er seinen elastischen Schritt an der Seite der mit dem Kanu beladenen Indianer fortsetzte. »Ich werde stehengeblieben sein …, ich werde gezielt haben … und …«
   Der Knall der Büchse des alten Jägers unterbrach das Selbstgespräch des Spaniers.
   »… und«, begann er mit leiser Stimme wieder, »ein Indianer wird vom Pferd stürzen wie ein Bündel, dessen Band zerrissen ist… Es ist wahrhaftig so! Da ist eben einer von seinem Pferd gepurzelt.«
   »Schnell«, sagte der Kanadier, der nach dieser letzten Tat herbeilief, während aus der Tiefe der Ebene, wo seine Kugel trotz der Entfernung ein Opfer gefunden hatte, zwei Schüsse erfolglos dem seinigen antworteten.
   »Ihr seht, Rayon-Brûlant, wie auch eine gewöhnliche Büchse in den Händen eines guten Schützen doppelt so weit als die andere zu tragen scheint, obgleich die Kugeln meiner alten Büchse zu klein für diese hier sind, was ihnen viel von ihrer Kraft raubt.«
   Bis zu diesem Augenblick hatten die Senkungen des Bodens auf dem linken Ufer die kleine Schar fast gänzlich vor dem Feuer der auf dem anderen Ufer im Hinterhalt liegenden Indianer geschützt; aber die Flüchtlinge kamen an eine Stelle, wo die Ufer des Flusses eben und flach waren. Diese Strecke zurückzulegen, war am gefährlichsten, und trotz der regen Wachsamkeit des Kanadiers und des Spaniers, trotz ihrer Bemühungen, einen Zielpunkt hinter den Bäumen zu unterscheiden, empfing sie doch eine von dem unsichtbaren Feind gegebene Salve beim Vorüberkommen. Einer der Kanuträger stürzte, zu schwer verwundet, um wieder aufzustehen, wenn nicht zwei seiner Gefährten ihm zu Hilfe gekommen wären.
   Da die Indianer fürchteten, sich den furchtbaren Büchsen der beiden Jäger, deren unfehlbare Sicherheit sie schon oft erprobt hatten, bloßzustellen, so hatten sie beinahe aufs Geratewohl zwischen den Baumstämmen hervorgeschossen. Nur eine Kugel streifte Pepes Arm und riß einen Fetzen seines Ärmels mit fort, sonst verursachte das Gewehrfeuer den Flüchtlingen keinen weiteren Schaden.
   Indessen konnten die Träger des Kanus, bis auf zwei – Gayferos und den jungen Komantschen – verringert, nicht mehr so rasch marschieren. Die beiden anderen Indianer trugen ihren sterbenden Gefährten und kamen ebenfalls nur mit großer Mühe vorwärts, und so begann die andere Abteilung Apachen, die darum am meisten zu fürchten war, weil sie die zahlreichste war und das gleiche Ufer wie die Flüchtlinge besetzt hielt, ihnen merklich immer mehr Raum abzugewinnen. Zweimal machten die unerschrockenen Jäger, die den einzigen kampffähigen Teil der kleinen Schar und ihre einzige Verteidigung bildeten, halt, um sich dem Feind mit jener Kühnheit entgegenzustellen, die von der Gefahr geachtet zu werden scheint, und zweimal fiel ein Indianer unter ihren Kugeln.
   Während dieses Löwenrückzugs marschierten die beiden Waldläufer, von ihrem eigenen Pulverdampf, von den Kugeln und den Pfeilen, die um sie her pfiffen, aufgeregt, fest aneinandergeschlossen mit abgemessenen Schritten rückwärts. Ihre Gefährten waren schon fern von ihnen und gegen das Feuer vom anderen Ufer durch die Entfernung gedeckt, die sie zwischen sich und die Apachen im Hinterhalt gelegt hatten, die ihre Büchsen wieder luden; sie beschäftigten sich endlich damit, das Kanu wieder flottzumachen.
   Bois-Rosé und der Spanier, die dem Feind in der Ebene die Spitze boten und mit dem Rücken zum Fluß standen, sahen nicht, wie die indianischen Reiter ihre gedeckte Stellung unter den Bäumen verließen und ihre Pferde mitten in den Fluß trieben, um ihnen den Rückzug zum Kanu abzuschneiden. Die donnernde Stimme des Komantschen, von einem Büchsenschuß gefolgt, nach dem sich das Pferd eines Indianers, tödlich getroffen, mitten im Strom bäumte, der es mit sich fortriß, zeigte ihnen die Gefahr, in der sie schwebten.
   Pepe kehrte sich rasch um, maß die Größe der gefährlichen Lage und ließ Bois-Rosé unter dem schrecklichen Lauf seiner Büchse die von seiner Seite herandringenden Feinde Respektabstand halten. Er selbst bückte sich, die Büchse im Anschlag, nieder und schlüpfte wie eine Schlange bis zum Ufer, indem er dem Kanadier zurief: »Zieh dich zum Kanu zurück, Bois-Rosé; ich folge dir, sobald ich eine Leiche in die Strömung geworfen habe.«
   Ein Schuß übertönte die Stimme des Spaniers, der fluchend niederstürzte und mitten im Gras verschwand. Ein Schrei des Schmerzes entfuhr der Brust des Kanadiers, als er den Gefährten aller seiner Freuden und aller seiner Gefahren fallen sah; er erstarb aber auch ebenso schnell im Mund des alten Jägers, der seinen Bruder verlor, nachdem er seinen Sohn verloren hatte. In der Erschütterung, die den Kanadier überwältigte, bemerkte er nicht, wie eben ein Reiter der Apachen nicht weit von der Stelle, wo Pepe verschwunden war, festen Fuß auf dem Ufer faßte.
   Noch eine Minute, und es wäre um Bois-Rosé, der regungslos und wie vom Donner gerührt dastand, geschehen gewesen, wenn nicht plötzlich wie durch eine Art von Wunder ein Feuerstrahl aus dem Schoß der Erde hervorgeblitzt wäre, und der Knall, der dem Blitz unmittelbar folgte, donnerte noch, als ein Indianer aus dem Sattel in den Fluß stürzte. Zu gleicher Zeit erschien der Kopf Pepes – aber des Pepe voll Kraft und Leben, halb spöttisch, halb schrecklich – in gleicher Höhe mit der Ebene.
   »Lauf rasch her, Bois-Rosé«, rief der spanische Jäger, »und nimm deinen Platz in dem Loch ein, in das die Vorsehung mich hat fallen lassen. Es ist eine uneinnehmbare Stellung, und keiner von diesen Schelmen wird sich ihr mit heiler Haut nähern.«
   Der Kanadier war in zwei Sätzen bei Pepe und verschwand wie dieser in einer jener natürlichen Gruben, die, unsichtbar unter dem Gras, das sie überdeckt, sich in gleicher Höhe mit diesem befinden und die so häufig in den Prärien angetroffen werden. Wie einst in dem Talgrund der Poza, wo die beiden Jäger Rücken an Rücken den Angriff der Jaguare erwarteten, so lehnten sich Pepe und Bois-Rosé, die von ihren Feinden einige Augenblicke hindurch vergebens gesucht wurden, mit dem Rücken aneinander; der erstere überwachte die Ebene, der zweite die Zugänge des Flusses. Pepe hatte seine Büchse wieder geladen, und die beiden Waldläufer belauerten nun, den Kopf in gleicher Höhe mit dem Boden, die Bewegungen ihrer Feinde. Die Indianer suchten, entmutigt durch den Verlust der Ihrigen, die schützenden Bäume wieder zu erreichen. Die einen schwammen mit ihren Pferden, die wiehernd das Wasser durchschnitten, durch den Fluß, und der Reiter, dessen Pferd von Rayon-Brülant erschossen worden war, bemühte sich, das rettende Ufer zu gewinnen.
   »Jetzt, Bois-Rosé!« sagte der Spanier. »Das Kanu ist flott und wartet nur auf uns. Da steigen die Schelme, beschämt und durchnäßt wie gepeitschte Pudel, aus dem Wasser heraus. Von dieser Seite droht keine Gefahr mehr; vorwärts zum Fahrzeug!«
   »Sachte, Pepe!« sagte der Kanadier. »Je mehr wir heute von ihnen töten, desto weniger werden wir später zu bekämpfen haben. Wenn der Fluß gesäubert ist, dann wende dich hierher; wir werden noch zu tun bekommen.«
   Durch die Ebene zerstreut, suchten die Indianer die beiden Feinde, die sie hatten verschwinden sehen, und näherten sich der Grube, die die beiden Jäger deckte. Diese sahen, wie die einen das Gebüsch durchsuchten, die anderen das Gras mit ihren langen Lanzen durchstachen und alle sich vorsichtig näherten.
   »Werfen wir die Reiter zuerst aus dem Sattel; das ist sicherer!« sagte der Kanadier. »Und beide zugleich Feuer; wir werden keine Zeit mehr haben, wieder zu laden. Bist du fertig?«
   »Ja!«
   »Du rechts, ich links.«
   Zwei Blitze sprühten aus dem Gras, ein zweifacher Knall, der fast zu einem wurde, folgte, und noch zwei Reiter stürzten von ihren Pferden herab.
   Bois-Rosé und Pepe hatten nur Zeit, sich hinter den Rand ihres Grabens zu bücken, denn eine Salve von Kugeln bedeckte sie mit Erde; Pfeile drangen zischend dicht am Rand in den Boden.
   »Rasch vorwärts!« sagte der Spanier. »Der Augenblick ist da!«
   Er sprach noch, als er schon, von Bois-Rosé begleitet, aus dem Schoß der Erde herausgesprungen war. Ein Augenblick des Zögerns entstand unter den Feinden, die ihnen schon, das Messer und die Streitaxt in der Hand, nachstürmten. Gayferos, Rayon-Brülant und die beiden Indianer hatten sich hinter das Kanu geduckt und unterhielten gegen die unter den Weiden am anderen Ufer verborgenen Feinde ein wohlgenährtes Feuer, das sie beunruhigte.
   Das Geheul, das die Komantschen ohne Unterbrechung ausstießen, und die wiederholten Salven, die auf die Anwesenheit zahlreicher Feinde schließen lassen konnten, beunruhigten die Apachen in der Ebene nicht wenig. Die beiden Flüchtlinge nützten glücklich das augenblickliche Zögern in der Verfolgung, deren Gegenstand sie waren, und konnten unter dem Schutz des Feuers Rayon-Brülants und seiner Gefährten unversehrt an dem ungeschützten Ufer hinlaufen und das Kanu erreichen.
   Die Apachen auf dem linken Ufer sahen in dem Augenblick, wo die kleine Schar sich einschiffte, wie wenig zahlreich sie war, und nahmen die Verfolgung eifrig wieder auf; aber es war zu spät, die Komantschen ruderten schon mitten im Fluß weiter. Nur die Reiter hätten noch den Raum wiedergewinnen können, den ihre augenblickliche Unentschiedenheit sie hatte verlieren lassen; aber die Vorsicht oder richtiger die Furcht vor den beiden nie fehlenden Büchsen hielt sie davon ab, und sie parierten ihre Pferde.
   »Gib mir die Hand!« rief Bois-Rosé lebhaft, als Pepe und er wieder hinten im Fahrzeug saßen, das rasch den Strom hinabflog. »Teufel, welche Furcht hast du mir durch deinen Fall eingeflößt; ich glaubte, du wärst tot! Gott sei tausendmal gelobt, daß er mich mit diesem neuen Unglück verschont hat!«
   »Gerade durch den Fall bin ich im Gegenteil dem Tod entgangen«, antwortete Pepe und erwiderte den Händedruck des Kanadiers – wenn nicht ebenso stark, doch wenigstens ebenso feurig.
   Ein langes Schweigen folgte diesem kurzen Austausch gegenseitiger Glückwünsche, denn die beiden tapferen Jäger waren glücklich, noch einmal – während das Kanu geräuschlos dahinglitt – zusammen das nächtliche Getöse der Steppe zu hören, das ihnen so oft in ihrem Leben Freude gemacht hatte: das Wiehern des Elens, das ferne Brüllen der Büffel, die melancholischen Töne der großen Nachtvögel und zuweilen den widerhallenden Ruf des Schwans, der sich mit der Stimme des Windes und dem Murmeln des Flusses verband.
   Die Umstände waren indessen so, daß die Sicherheit nicht von langer Dauer sein konnte. Solange das Kanu zwischen zwei niedrigen, sandigen Ufern schwamm, an deren Seite sich kaum einige Gesträuche befanden oder sich dann und wann einzelne Bäume erhoben; solange nichts das Auge hinderte, tief in die Ebene hineinzublicken, ließen sich die Schiffer sanft vom Strom schaukeln. Als aber dieser zwischen zwei waldreichen Ufern dahinfloß, wo der erbitterte Feind, der sie verfolgte, im Schatten der dichten Bäume verborgen liegen konnte, folgte der Sicherheit Unruhe, und die beiden Jäger durchforschten, die Büchse in der Hand, mit mißtrauischem Blick den Wald, der seine Schatten auf den Fluß warf.
   Pepe hatte sich nicht getäuscht, wenn er behauptete, daß die hinter den Weiden im Hinterhalt liegenden Indianer, mit dem sich ein Teil der Schar des Schwarzen Falken vereinigt hatte, die gleichen Krieger seien, von denen sie auf der Insel des Gila belagert worden waren. Es war wirklich die kleine Abteilung, die wir, wie man sich erinnert, aus dem verbrannten Lager der Mexikaner haben aufbrechen sehen, um die Spuren der drei Jäger zu finden, die ihrem Groll entschlüpft waren. Eine genaue Prüfung, die durch die Zerstreuung des schwimmenden Floßes sehr schwierig gemacht wurde und die sie zwei volle Tage kostete, hatte Antilope vom Zusammenfluß der beiden Ströme zum Val d‘Or, an die Ufer des Red River und bis zu der Stelle geführt, wo Bois-Rosé, Pepe und Gayferos sich im Kanu des jungen Komantschen eingeschifft hatten. Es war also nicht wahrscheinlich, daß der Verlust, den Antilope erlitten hatte, sie aufhalten würde, da einmal ihre Vereinigung mit der zahlreichen Abteilung des Schwarzen Falken bewerkstelligt war.
   Mitten in den Wäldern, die der Fluß durchströmte, wurde die Fahrt gefährlich, langsam und qualvoll; gefährlich darum, weil der Feind im Hinterhalt an den Ufern verborgen liegen konnte; langsam und qualvoll, weil man die Blicke überallhin zugleich richten mußte: auf den dichten Wald am Ufer, auf den Lauf des Flusses, der jeden Augenblick durch untergegangene Baumstämme, deren scharfe Spitzen das Kanu zerreißen konnten, und durch schwimmende Bäume, deren Zweige seinen ungehemmten Lauf behinderten, versperrt wurde.
   Eine zweistündige Fahrt hatte das Kanu nicht weiter als eine Meile von dem Ort entfernt, wo die Ufer sich zuerst mit einem hohen, dunklen Wald bedeckten, als endlich der Mond aufging. Das war ein Zeichen, daß der Tag nahe war; nichtsdestoweniger bedeckte Dunkelheit immer noch den Fluß. Kaum ließ der Mond, der die Spitzen der Bäume versilberte, dann und wann einen bleichen, flüchtigen Strahl auf die Strömung des Flusses fallen. Oft verwickelten sich die Ruder auf der Wasseroberfläche, die von diesem flüchtigen Schein nicht erleuchtet wurde, beim Herabfallen in das Netz von Zweigen, das irgendein am Ufer hängengebliebener Baum bildete, oder sie glitten über die Blätter unter dem Wasser mit dumpfem, traurigem Ton. Die beiden Jäger sprachen leise miteinander, während sie die Schatten am Ufer und den Lauf des Flusses durchforschten.
   »Wenn die Schelme, die wir eben tüchtig gestriegelt haben«, sagte Pepe und schüttelte mit einer gewissen Unruhe den Kopf, »ihr räuberisches Handwerk verständen, so würden sie leichtes Spiel haben, wollten sie mitten in den Hindernissen dieses von schwimmenden Baumstämmen so versperrten Flusses Genugtuung nehmen. Von allen Flüssen, auf denen wir im Kanu hinabgefahren sind, ist er der einzige, den ich mit dem Arkansas vergleichen möchte. Seitdem wir in dieses Labyrinth von Wäldern eingedrungen sind, haben wir kaum eine Meile gemacht, und kaum liegt noch eine andere Meile zwischen dem Anfang dieses dichten Gehölzes und der Stelle, wo wir uns geschlagen haben; zusammen also zwei Meilen in zwei Stunden. Wenn also, wie ich dir schon sagte, diese Schelme ihr Handwerk verständen, so würde jeder Reiter einen Fußgänger hinter sich aufs Pferd genommen haben, und schon seit einer Stunde könnten sie uns in einiger Entfernung von hier erwarten.«
   »Ich kann nichts dagegen sagen, Pepe«, antwortete Bois-Rosé. »Gewiß ist, daß diese schwarzen Ufer sich sehr dazu eignen, einen Hinterhalt zu verbergen, und ich bin der Ansicht, daß wir wenigstens unsere Fahrt auf dem Fluß erleuchten müssen, um sie schneller zu machen. Ich will einige Worte darüber mit dem Komantschen sprechen.«
   Infolge einer kurzen Unterredung darüber ließen die Ruderer das Kanu landen. Die Indianer nahmen ein breites Rasenstück vom Ufer, das auf zwei starke Zweige im Vorderteil des Fahrzeugs gelegt wurde. Kleine Zweige der roten Zeder wurden auf dieses Stück wie auf den Stein eines Herdes gehäuft, dann legte man Feuer daran, und bald nachher verbreitete sich ein lebhafter Schein wie von einer Pechpfanne – weit genug leuchtend, um die ungewisse Fahrt der Schiffer zu erhellen.


   69. Der Engpaß

   Von Zeit zu Zeit untersuchte der Kanadier mit Hilfe eines flammenden Zedernzweigs aufmerksam den Fluß hinter ihnen, während der Schein der Glut vorn das Wasser erleuchtete.
   In diesem rötlichen Licht, mit dem der Fluß sich färbte, gewährte das Boot einen phantastischen Anblick. Die Indianer glichen Statuen aus rotglühender Bronze; seltsam sahen die drei weißen Jäger in einem Anzug aus, der auf dem Marsch durch die Steppe zerfetzt worden war, und auch das Ufer erschien fremdartig unter dem Widerschein des Feuers. Schwarze Schatten traten bald auf diesen Ufern hervor, bald verschwanden sie wieder in der Finsternis; es waren die gespenstischen Gestalten der Bäume, schweigende Zeugen vom Vorüberfahren der nächtlichen Schiffer. Die einen trugen Moosgirlanden, die sich im Wind schaukelten, die anderen waren von Lianen umschlungen. Das Wasser des Flusses trug in dem über seinen Lauf gebreiteten Lichtgürtel die Zweige und die untergegangenen Stämme mit sich fort, die in einem Feuermeer zu schwimmen schienen.
   Es war die Stunde, wo alles in den Wäldern schläft; wo die wilden Tiere nach der nächtlichen Jagd ausruhen und die furchtsamen den Schlaf am Morgen noch nicht abgeschüttelt haben; wo der Nachtvogel – der erste Vogel, der die Morgenröte begrüßt – zum gewohnten Schlupfwinkel im hohlen Baum eilt. Das tiefe Schweigen der schlummernden Natur wurde also nur durch das eintönige Geräusch der Ruder gestört, die den dumpf rauschenden Fluß teilten.
   Ein trauriges Ereignis erhöhte noch die Majestät dieser feierlichen Stunden. Der verwundete Komantsche war bis jetzt, auf dem Boden des Kanus ausgestreckt, regungslos liegengeblieben und fing jetzt an, von Zeit zu Zeit dumpf zu stöhnen, als ob die Seele die letzten Bande zerreißen wollte, die sie noch an den Körper fesselten.
   »Wah-hi-ta hört die Stimme seiner Väter«, murmelte der Indianer und bewegte sich schwach auf dem Boden der Barke.
   »Was sagen sie ihm?« fragte Rayon-Brûlant, indem er einen Augenblick zu rudern aufhörte.
   »Seinen Todesgesang anzustimmen«, antwortete der Komantsche. »Aber Wah-hi-ta hat nicht mehr die Kraft dazu; dann rufen ihn diese Stimmen und sagen ihm, zu kommen.«
   »Rayon-Brûlant wird für Wah-hi-ta singen«, sagte sanft der junge Häuptling, dessen Stimme doch so laut im Kampf erklang; »aber er wird singen, wie man auf dem Kriegspfad singt.«
   Nun ließ er in leisem, verschleiertem Ton eine Art von klagendem Gesang vernehmen, den das Geräusch der Ruder taktmäßig begleitete. Dieser Todesgesang, in den alle Großtaten verwebt waren, die die Klugheit und die Kühnheit eines Kriegers der Prärien – sei es bei der Jagd auf Büffel oder auf wilde Tiere, sei es in den Wechselfällen des Krieges – bezeichnen, vergrößerte noch die traurige Harmonie der schweigenden Nacht.
   Die weißen Jäger verstanden ihn nicht ganz; aber dieser Todesgesang weckte im Herzen des Kanadiers nicht weniger schwermütige Klänge. Würde Fabian wohl einen Freund finden, um so seine letzten Augenblicke zu versüßen? Mehr als einmal brachten diese bitteren Gedanken stille Tränen in Bois-Rosés Augen, und er wandte sich ab, um sie zu verbergen.
   Während dieser Zeit verbreitete das Kanu über den Lauf des Flusses und über beide Ufer immer noch den rötlichen Schein seines Feuers, das jedoch weniger hell zu strahlen begann, und der Waldläufer vergaß wie Pepe die düsteren Gewässer hinter ihnen zu untersuchen.
   Der Schein der Glut erlosch langsam, als der junge Häuptling zu singen aufhörte. Die Nacht versank wieder in ihr majestätisches Schweigen.
   Es schien, als ob der Indianer nur auf diesen Augenblick gewartet hätte, um zu sterben. Eine letzte Zuckung bewies, daß das Leben ihn bald verlassen würde. »Wah-hi-ta ist zufrieden«, murmelte er abermals; »er hat durch den Mund eines Freundes auf die Stimme seiner Väter geantwortet. Er wird nicht mehr lange ein Hindernis für den Marsch seiner Brüder sein; Rayon-Brûlant wird dorthin« – der Indianer schien die Gegend seines Dorfes zu bezeichnen– »die Nachricht bringen, daß der Tod einen Krieger auf dem Kriegspfad gefunden hat.«
   Nach diesen so leise gesprochenen Worten, daß man sie kaum verstehen konnte, starb der Indianer in den Armen des jungen Häuptlings. Das Kanu setzte seinen Lauf noch einige Augenblicke fort; dann, als man sich überzeugt hatte, daß der Lebenshauch wirklich von den Lippen Wah-hi-tas entflohen war, ließen die Ruderer das Fahrzeug an einem Ufer landen. Zwei Indianer stiegen mit der wollenen Decke des Toten an Land, und als sie mit schweren Steinen gefüllt und der Vorrat an trockenem Holz erneuert war, setzte das Kanu seine Fahrt fort. Der Mantel Wah-hi-tas wurde nun um seinen Körper gebunden, und die drei Indianer senkten den Toten in den Fluß, um ihn vor jeder Entweihung zu schützen.
   Das wieder angefachte Feuer verbreitete einen lebhafteren Schein; der Lichtkreis wurde größer, öffnete sich, und der Körper versank langsam in einer leuchtenden Wasserfläche, die sich wieder über ihm schloß.
   »Der Große Geist hat die Seele eines Tapferen zu sich genommen«, sagte Rayon-Brûlant; »seine Leiche ist vor den Beschimpfungen der Apachenhunde geschützt. Vorwärts!«
   Das Kanu schoß unter dem Druck der Ruder rascher fort, verwischte in einer breiten Furche das Strudeln des Wassers über der Leiche, und das feuchte Grab Wah-hi-tas wurde wieder eben und schwarz wie einen Augenblick vor dem Moment, wo es ihn verschlang. Als noch einige Minuten verflossen waren, sagte Bois-Rosé zu dem jungen Häuptling: »Komantsche, reicht mir doch einen brennenden Zweig her; ich muß einmal sehen, ob meine Augen mich nicht täuschen. Es scheint mir, als ob mehr Bäume hinter uns schwimmen, als wir unterwegs angetroffen haben.«
   Rayon-Brülant nahm einen Feuerbrand aus der Glut, den er dem Kanadier reichte, der sich umwandte, um einen Blick auf die Oberfläche des Stromes hinter dem Kanu zu werfen.
   Ein plötzlicher Verdacht schien dem Waldläufer aufzusteigen. »Bei allen Heiligen der Legende!« rief er aus. »Es ist unmöglich, daß wir den Wald, der hinter uns schwimmt, durchschifft haben. Ich sage euch, daß nur indianische Hände den Lauf des Flusses so haben versperren können. Diese Bäume haben sich niemals vor unserem Kanu befunden!«
   In der Tat schien in einiger Entfernung hinter dem Fahrzeug die Wasserfläche buchstäblich von schwimmenden Zweigen und Bäumen zu starren, deren schwärzliche Stämme von den Flammen erleuchtet wurden.
   »Das ist sonderbar!« sagte Gayferos.
   »Nein, es hat nichts Sonderbares für einen Mann, der alle Listen der Indianer kennt«, antwortete Bois-Rosé; »fragt nur Pepe.«
   Pepe untersuchte ebenfalls den Lauf des Red River hinter ihrem Kanu, und er hielt es wie Bois-Rosé für schlechterdings unmöglich, daß ihr gebrechliches Fahrzeug, ohne zerschmettert zu werden, durch diese schwimmende Masse von Baumstämmen und Zweigen glücklich hindurchgekommen sein könnte. »Ich bin deiner Ansicht«, sagte der Spanier; »die Hände dieser Schelme haben alle abgestorbenen Bäume, die sie an den Ufern gefunden haben, in den Strom geworfen. Gewiß haben diese Bäume uns in der Zeit, wo wir an Land gestiegen sind, auf dem Fluß treibend erreicht. Das würde beweisen, daß die roten Teufel – ohne Euch damit beleidigen zu wollen, Komantsche – die Absicht haben, uns stromabwärts anzugreifen und uns zugleich den Rückzug stromauf abzuschneiden.« Pepes Meinung war nur zu wahrscheinlich und fand weder bei Bois-Rosé noch bei dem jungen Komantschen Widerspruch. Es schien gewiß, daß die Indianer vorausgeeilt waren, um sich im Wald vor dem Boot in einen Hinterhalt zu legen, und daß somit der Weg zu Lande weniger gefährlich war als der zu Wasser. Die drei Verbündeten beschlossen also, ihre Schiffahrt eine Zeitlang auszusetzen und einen weiten Umweg durch den Wald zu machen, um den Angriff zu vermeiden, von dem sie bedroht waren, wenn sie dem Lauf des Red River weiter folgten.
   Der lederne Nachen wurde also abermals aus dem Wasser gezogen und in das größte Dickicht getragen, wo er unter den niederen Zweigen der Bäume mit aller bei den Indianern gebräuchlichen Vorsicht sorgfältig versteckt wurde. Die Reisenden nahmen nur soviel Munition und Mundvorrat heraus, als jeder ohne Beschwerde tragen konnte; das übrige wurde dem verschwiegenen Schutz des dichten Buschwerkes überlassen.
   »Da Ihr diese Einöden schon durchstreift habt«, sagte der Kanadier zu Rayon-Brülant, »so werdet Ihr unser Führer sein; Euer Kopf ist noch jung, aber er hat die ganze Erfahrung eines Mannes, dessen Haar auf dem Kriegspfad grau geworden ist, und wir verlassen uns gänzlich auf Euch.«
   »In einer Entfernung von hier, die ein Elentier durchlaufen könnte, ohne Atem zu schöpfen, werden wir eine von beiden Ufern so eingeengte Stelle finden, daß der Fluß unter einem Gewölbe hinzuströmen scheint. Wenn die Indianer uns irgendwo erwarten, so ist es an dem Engpaß.«
   Nachdem der Komantsche sich einen Augenblick orientiert hatte, ging er mit festem Schritt voraus, gefolgt von den beiden Kriegern seines Stammes und von den drei Weißen.
   Die schräg durch die Bäume fallenden Strahlen des Mondes erleuchteten den Wald hinreichend, um so schnell zu marschieren, als es die Klugheit gestattete. Es war in der Tat notwendig, zu wiederholten Malen haltzumachen und mit Auge und Ohr das Schweigen des tiefen Waldes, in dem indianische Spione liegen konnten, zu befragen. Erst nach solchem Aufenthalt nahm die kleine Schar ihren unterbrochenen Marsch wieder auf.
   Zuweilen nötigten auch undurchdringliche Gebüsche, wo die Schmarotzermoose der Zedern und die langen Ranken des wilden Weins sich kräftig um die Zweige und Baumstämme geschlungen hatten, die Flüchtlinge zu weiten Umwegen; nach diesen Umwegen mußte man sich erst wieder orientieren, um sich nicht zu weit vom Lauf des Flusses zu entfernen. Ungefähr nach Verlauf einer Stunde, in der die Flüchtlinge wegen all dieser Hindernisse noch nicht weit gekommen waren, fühlte man an einigen frischen Windstößen, die dann und wann durch die Bäume fuhren, daß der Fluß nicht mehr weit von ihnen war. Bald konnte man, aufmerksam horchend, das durch die Nähe der beiden Ufer vermehrte Rauschen seiner Gewässer vernehmen.
   Nun ließ der Indianer seine kleine Schar in gerader Linie marschieren, während er Sorge trug, seine Wange dann und wann dem feuchten Lufthauch, sein Ohr dem Rauschen der Gewässer darzubieten, um nicht von der Richtung, die er eingeschlagen hatte, abzuweichen. Als der junge Komantsche einige Zeit so vorwärts marschiert war, hörte er auf, das Moos der Bäume und den frischen Hauch des Flusses zu befragen, um mitten in den großen weißen Lichtflecken, die der Mond auf das Gras und das trockene Laub am Boden fallen ließ, nach Spuren zu suchen.
   Die drei Jäger marschierten, wenn der Führer seinen Marsch wiederaufnahm, blieben stehen, wenn er anhielt, und folgten schweigend allen seinen Bewegungen. Besonders der Kanadier betrachtete mit schwermütigem Vergnügen diesen jungen Krieger, dessen Alter und Wuchs ihn an Fabian erinnerten, wie er bald aufrecht dahinschritt, bald sich auf den Boden bückte und abwechselnd den Instinkt des Tieres und die hohe Einsicht des menschlichen Urteils zu Hilfe rief, um die zahllosen Geheimnisse des stummen Waldes zu durchdringen.
   »Dieser junge Mann wird eines Tages ein mächtiger Häuptling in seinem Stamm sein«, flüsterte Bois-Rosé Pepe ins Ohr. »Sieh nur, er ist auf dem ›blutigen Pfad‹, und doch vermöchte nichts seinen ruhigen Blick oder sein klares Urteil zu trüben. Nun, Rayon-Brülant«, fuhr der Kanadier fort, sich an den Komantschen wendend, »findet Ihr die Spuren, die Ihr sucht?« »Seht«, antwortete Rayon-Brülant und zeigte auf einige trockene, in den Strahlen des Mondes glänzende Blätter, »meine Krieger sind hier vorbeigekommen; vielleicht sind sie nicht mehr weit von uns. Dieser Fuß hat seine Spur zurückgelassen, als der Tau der Nacht den Boden schon erweicht hatte.« »Und wer sagt Euch, daß dies die Spur eines Eurer Krieger ist?«
   »Wenn der Adler sich bückt, so wird er sehen, daß an dieser Spur die große Zehe fehlt.« »Er hat wahrhaftig recht«, sagte Pepe, sich bückend, »und ich schäme mich, es nicht früher gesehen zu haben.«
   Noch andere Spuren wurden nach einigen Augenblicken entdeckt und bestätigten abermals die Ansicht des Komantschen. Bald ließ dieser seine kleine Schar haltmachen und entfernte sich mit seinen Gefährten, indem er die weißen Jäger bat, sie zu erwarten, während sie weiterhin eine letzte Rekognoszierung vornehmen würden. Die Indianer verschwanden bald hinter den Bäumen; sie traten so leicht und vorsichtig auf, daß auch nicht ein Rauschen des Laubs – selbst unhörbar wie dasjenige, das der Leguan vernehmen läßt, wenn er im Mondschein auf dem Moos spielt —, nicht ein Krachen des Gesträuchs sich in die Seufzer der Nachtluft mischte.
   Die drei Jäger warteten mitten im tiefsten Schweigen auf die Rückkehr ihrer Verbündeten. Bois-Rosé lehnte sich an den benachbarten Stamm einer Buche; sein Herz war voll schwermütiger Gedanken, und er hütete sich wohl, die Ruhe zu stören, die so sehr zu seiner Traurigkeit stimmte. Ein Mondstrahl fiel auf sein Gesicht und ließ auf seinen rauhen Zügen die Spuren der Sorgen erblicken, die seit dem Verlust Fabians an ihm genagt hatten. Der Kanadier dachte besorgt an alle unheilbringenden Zufälle, die sich unter seinen Schritten zu vervielfachen schienen.
   Der spanische Jäger näherte sich ihm und sagte mit einer Stimme gleich dem schwachen Lufthauch, von dem das Laub der Bäume sich bewegte: »Main-Rouge und Sang-Mêlé müssen sich sehr in acht nehmen, denn dieser junge, kühne Komantsche ist ein furchtbarer Feind, der – ich wage es zu sagen – ihnen viel zu schaffen machen wird, auch wenn er nicht zwei Jäger zu Verbündeten hätte, deren Erfahrung und Mut auch nicht zu verachten sind. Du wirst mir darauf entgegnen, daß die beiden fraglichen Jäger schon zweimal diesen verdammten Piraten der Steppe unterlegen sind, aber wahrlich …«
   »Das werde ich dir nicht entgegnen, Pepe; das Glück der Waffen ist veränderlich; und wie schrecklich auch die beiden Männer sein mögen, die du bezeichnest, so werde ich mich doch niemals fürchten, mich von neuem mit ihnen zu messen. Wenn wir an dem Mestizen nur persönliche Rache zu nehmen hätten, so daß es bei der Verfallzeit nicht auf eine Stunde ankäme, so würdest du sehen, wie ich ihre Spur ganze Monate hindurch folgte, ohne zu ermüden; aber die Tage Fabians … Was sage ich? Seine Tage? – seine Minuten sind gezählt, und ich fürchte zu spät zu kommen. Dieser Gedanke ist schrecklich, mein armer Pepe.«
   »Wir werden ebenso schnell bei der Red Fork sein wie diese Schelme von Indianern … Aber der Tag will anbrechen; ich höre dort unten die Eule, die die Morgendämmerung ankündet.«
   Das traurige, ferne »Hu! Hu!« des Nachtvogels klang in der Tat durch den Wald und schlug an das Ohr der Jäger.
   »Da sind noch andere, die weiter entfernt darauf antworten; es scheint sich ein ganzer Schwarm auf dieser Seite zu befinden.«
   »Es können auch Erkennungszeichen sein«, antwortete der Kanadier, der sich daran gewöhnt hatte, in allen Stimmen der Einöde die wahre Bedeutung, die sie haben können, zu lesen.
   Die Eulen haben ein wenig die Natur der Adler: sie leben selten in Gemeinschaft. Nichts gab indes eine Andeutung darüber, daß die Nachtvögel nicht einander antworteten, wie es die Hähne einer Meierei mit denen einer anderen machen, und daß dieses melancholische Geschrei ein Signal sein könnte. In allen Fällen deutete es die Vereinigung ihrer Freunde oder ihrer Feinde an.
   Ein Büchsenschuß, so weit entfernt wie das Geschrei der Eulen, ließ die Jäger erbeben, ohne jedoch ihre Zweifel aufzuklären.
   »Ich kenne den Ton dieser Büchse nicht«, sagte Bois-Rosé; »in jedem Fall ist der Feind da. Möge es nun die Büchse des Komantschen oder eines Apachen sein – es liegt wenig daran; wir dürfen nicht einem zweifachen Entschluß folgen.«
   Nach diesen Worten schritt der Kanadier, von seinen beiden Gefährten begleitet, rasch in der Richtung vorwärts, wo der Schuß sich hatte hören lassen. Sie waren kaum einige Minuten marschiert, als sie nach und nach zwölf andere Schüsse zählten, die bewiesen, daß hier ein mörderischer Kampf stattfand.
   »Sachte, Pepe«, sagte Bois-Rosé, »es ist dringend notwendig, daß unsere drei Verbündeten, wenn sie sich etwa zu uns zurückziehen sollten, uns nicht verfehlen. Wir haben keinen Erkennungsruf mit dem Komantschen; das ist ein großer Fehler, den wir soviel wie möglich wiedergutmachen müssen. Wir wollen also nicht in einer indianischen Linie hintereinander gehen, sondern nebeneinander, und zwar weit genug, um unsere Linie auszudehnen und uns doch gegenseitig beistehen zu können.«
   Die Jäger folgten der Ansicht Bois-Rosés und entfernten sich alle drei so voneinander, daß sie eine hundertfünfzig Schritt lange Linie bildeten, die ihre Verbündeten überschreiten mußten, wenn sie ihren Versammlungsort wieder erreichen wollten. Sie gingen im raschen, gleichmäßigen Schritt auf den Ort zu, wo sich noch andere Schüsse hören ließen. Gayferos bildete das Zentrum, während Bois-Rosé den linken, Pepe den rechten Flügel einnahm. Um nicht Gefahr zu laufen, sich voneinander zu weit zu entfernen, ließen Pepe und Bois-Rosé von Zeit zu Zeit ihren Erkennungsruf, das Geheul eines Schakals, ertönen, das sie gewöhnlich im Wald anwandten, wo sich diese Tiere in großer Anzahl finden.
   Es ist unter den Indianern und den weißen Jägern Sitte, ihre Signale, um keinen Verdacht zu erregen, nach dem Geschrei der Vögel oder der Tiere zu wechseln, die am häufigsten die verschiedenen Gegenden besuchen, wo sie sich gerade befinden. Der zwischen den beiden Waldläufern aufgestellte Gambusino mußte sonach stets eine parallele Richtung einschlagen.
   Bois-Rosé war der erste, der auf seiner linken Wange den frischen Hauch der Stromluft fühlte. Einige Schritte weiter bemerkte er durch das Dickicht die Wasserfläche, die schwarz und schweigend die in ihr Bett geworfenen Bäume davontrug. Er schloß daraus, daß der Kampf auf dem Fluß selbst oder wenigstens auf seinen Ufern stattfände. Ein abermaliger plötzlicher Schuß, dessen Widerschein er eine Sekunde auf der Oberfläche des Stromes bemerken konnte, bestärkte den Waldläufer in seinen Voraussetzungen.
   Nun eilte er vorwärts, ohne von der mit dem Fluß parallel laufenden Linie abzuweichen. Ein Kriegsgeheul, das vor ihm erscholl und das er für das des jungen Komantschen zu erkennen glaubte, bewog den Kanadier, den Grenzjäger und Gayferos herbeizurufen, um zu dritt Rayon-Brûlant zu Hilfe zu eilen, dessen Stellung ihm jetzt genau bekannt war.
   Ein dreimaliges Bellen, als ob es von einem erschreckten Schakal herrühre, war das im voraus verabredete Zeichen zur Vereinigung. Bois-Rosé stieß den ersten Schrei aus, den der Spanier, sich nähernd, beantwortete. Dann stieß er den zweiten Schrei aus, den die Stimme Pepes ein wenig näher bei ihm wiederholte.
   Der Kanadier konnte den dritten Ruf nicht beenden. Kaum hatte er ihn begonnen, so erstarb er in seiner Kehle. Zwei kräftige Hände preßten seine Gurgel zusammen, während mitten in einer Gruppe von schwarzen Körpern, die aus der Erde emporzusteigen schienen, funkelnde Messer vor seinen Augen blitzten. Eine augenblickliche, durch eine so plötzliche Überraschung hervorgerufene Schwäche, und es war um Bois-Rosé geschehen; der unerschrockene Waldläufer jedoch konnte wohl einen Augenblick überrascht sein, aber nicht erschrecken. Mit einem kräftigen Sprung rückwärts zog er den Indianer mit sich fort, dessen beide Hände ihn zu erdrosseln suchten.
   Mit der linken Hand seine Büchse weit von sich haltend, mit der Rechten nun ebenfalls die Gurgel seines Feindes zusammenschnüren und ihn unter dem unwiderstehlichen Druck seiner Eisenfinger leblos zu seinen Füßen niederstrecken, war für den Riesen die Sache eines Augenblicks. Bois-Rosé schöpfte Atem und rief mit seiner donnernden Stimme, Atem und Rede zugleich wiedererhaltend: »Zu Hilfe! Pepe!«
   Zugleich schmetterte der schwere Kolben seines Gewehrs auf den Kopf eines zweiten Feindes nieder, der zu Boden stürzte, um nicht wieder aufzustehen; die von einem ungestümen Anlauf zerknickten Gebüsche öffneten sich neben ihm, und der Spanier trat hervor.
   »Der Hund wird nicht mehr bellen!« sagte Pepe, als er dem Indianer, den Bois-Rosés Schlag eben zu Boden gestreckt hatte, die Gurgel abschnitt.
   »Gottes Tod! Du verlierst deine Zeit!« rief der Kanadier. »Bin ich etwa gewohnt, zu treffen, ohne zu töten?«
   Bei diesen Worten legte er auf einen der flüchtigen Indianer an; Pepe machte es ebenso. Die beiden Schüsse fielen zu gleicher Zeit, aber ohne Erfolg; die Apachen waren eben hinter dem Dickicht verschwunden. Als die beiden in ihrer Erwartung getäuschten Jäger ihnen auf gut Glück nachstürzten, sprangen drei schwarze Körper ins Wasser und verschwanden hinter den im Strom schwimmenden Baumstämmen.
   »Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn sie sich dort wieder herauswickeln«, sagte Pepe, sich tröstend.
   »Vorwärts! Dorthin!« rief der Kanadier, als Gayferos zu ihnen stieß und eine Gruppe indianischer Reiter auf dem entgegengesetzten Ufer stromauf galoppierte. »Dort unten bedarf man unser!«
   Einige Schüsse ließen sich immer noch hören, aber mit einem Kriegsgeschrei vermischt, von dem sie fast übertönt wurden.
   »Hörst du den Schlachtruf dieses unerschrockenen jungen Mannes?«
   »Ja«, erwiderte Pepe. »Wir wollen unseren ebenfalls ausstoßen, damit er sieht, daß wir ihm helfen.«
   Der Kanadier und Pepe stießen nun ebenfalls ihr Schlachtgeheul aus; dann warfen sie wie die Helden der Vorzeit ihre Namen in das Getümmel des Kampfes.
   »Der Adler des Gebirges!« rief Bois-Rosé mit Donnerstimme. »Der Spötter!« heulte Pepe ohrenbetäubend, in spöttischer Nachahmung des Vogels, dessen Namen er wegen seiner beißenden Zunge erhalten hatte.
   Gayferos allein ließ sein Kriegsgeheul und seinen schrecklichen Namen »der blutige Schädel« nicht widerhallen; der arme Gambusino vernahm bestürzt dieses Geheul, das ihn an den Verlust seines Skalps und an die schreckliche Angst erinnerte, die er einst ausgestanden hatte. Erst allmählich gewöhnt man sich an das Feuer dieser Kämpfe Mann gegen Mann.
   Andere Stimmen wiederholten nach ihnen die Namen des Adlers und des Spötters, während die drei Krieger um eine Biegung des Flusses gingen. Dort wurden sie von einem neuen Schauspiel überrascht. Der Fluß war an dieser Stelle zwischen zwei Ufern eingeengt, die sich nach und nach etwa vierzig Fuß über seine Oberfläche und kaum sechs Fuß voneinander entfernt erhoben. Die Neigung dieser beiden steilen Ufer nach ihrem Gipfel hin schien anzudeuten, daß sie einst miteinander verbunden waren und daß nur ein Erdbeben das Gewölbe geöffnet hatte, unter dem der Fluß wie durch einen unterirdischen Kanal hinströmen sollte.
   Das war der Engpaß. Der Mond beschien lebhaft den Gipfel der beiden abschüssigen Ufer, und die Neuangekommenen konnten sehen, was sich oben auf diesem Bogen zutrug, der auseinandergerissen war, als ob ein Schlußstein des Gewölbes vergessen sei. Was sich jetzt unter den Augen der beiden Jäger zutrug, ging so schnell vor sich, daß sie eben nur mit den Blicken daran teilnehmen konnten. Auf jeder Seite des zerrissenen Bogens suchte ein Krieger den Raum zu überspringen, der beide voneinander trennte.
   »Halt! Halt! Komantsche!« rief der Kanadier, der ebenso wie Pepe seine Büchse wieder lud, was bei der Schnelligkeit ihres Laufes nicht hatte geschehen können. »Überlaßt es mir! Hier bin ich!«
   Rayon-Brûlant – denn er war einer von den beiden Kriegern – blieb bei dem Zuruf seines Verbündeten einen Augenblick stehen. Dieser Augenblick war genug für den anderen Indianer, der mit dem Ausruf: »Die Antilope kann weiter springen!« mit einem Satz über den Abgrund flog, der ihn von Rayon-Brûlant trennte, und auf den Körper seines Feindes niederfiel, ihn fest umklammernd.
   Bois-Rosé war im Begriff, Feuer zu geben; aber in diesem Kampf Leib an Leib konnte man unmöglich daran denken, den Apachen aufs Korn zu nehmen, und die drei Jäger konnten nur stumme, bange Zuschauer der Anstrengungen sein, die die beiden Krieger machten, um einander in den Fluß zu stürzen. Dieser Kampf dauerte nicht lange und endete rasch so, wie er ablaufen mußte: nämlich mit dem Sturz beider Kämpfer.


   70. Ein neuer Freund und ein früherer Feind

   Der Fluß brauste noch über die Stelle, wo die beiden Feinde eben verschwunden waren, und die beiden Jäger warfen erstaunte und unruhige Blicke um sich her, ohne sich von den Ereignissen, die sich so plötzlich zugetragen hatten, Rechenschaft geben zu können. Sie wußten nicht, ob sie von Freunden oder Feinden umgeben seien, als plötzlich auf mehreren Punkten des Ufers ein halbes Dutzend schwarzer Körper fast zu gleicher Zeit in den Fluß tauchten.
   Dies war ein neuer Gegenstand der Überraschung für Pepe und den Kanadier, vor deren Augen die Finsternis bis jetzt diese Krieger verborgen hatte; aber es war eine schmerzliche Überraschung, denn sie fürchteten, daß es Feinde ihres jungen Verbündeten sein möchten, und sie wagten ihre Büchsen in diesem blutigen Kampf nicht mitsprechen zu lassen, aus Furcht, vielleicht Freunde zu treffen.
   Der Kampf war jetzt vom festen Land in den Schoß des Flusses verlegt worden. Eine unglaubliche Masse halb untergegangener Bäume, die noch zu viele Zweige hatten, um durch die schmale Öffnung dieses unheilbringenden Passes dringen zu können, wurden langsam von der Flut stromab geführt und trieben, einer nach dem anderen, an die engen, steilen Ufer. Zwischen diesen Bäumen kamen die Taucher bald wieder an die Oberfläche. Die beiden Jäger folgten, die Büchse in der Hand, das Herz von tausend verschiedenen Gefühlen aufgeregt, mit glühenden Augen den schwarzen, schweigenden Schatten der Schwimmer. Die einen suchten das Netz von Zweigen, das ihre Bewegungen hemmte, zu beseitigen; die anderen erreichten mit kräftigen Stößen eine Stelle im Fluß, wo zwei in verzweifeltem Ringen verschlungene Körper auf der finsteren Oberfläche des Red River bald erschienen, bald verschwanden.
   Die Überraschung der beiden Jäger wurde bald noch größer durch den Anblick einer neuen Person – aber dies war eine freudige Überraschung. Ein Weißer wie sie eilte plötzlich aus einem Versteck herbei, wo er bis zu diesem Augenblick verborgen gewesen war, und rief in gutem Spanisch: »Mut, Kinder, hier ist er! Seht, dort kommt er wieder an die Oberfläche!« Und er bezeichnete mit der Spitze eines langen Degens, den er in der Hand hielt, den Ort im Fluß, wo die beiden Krieger, für die er sich interessierte, nachdem sie vom brausenden Wasser verschlungen worden waren, immer noch ringend wieder auf der Oberfläche erschienen.
   »Ah, demonio! Das ist doch Pedro Diaz!« rief Pepe lebhaft.
   »Gott sei gelobt! Wir sind in Freundesland«, fügte der Kanadier mit einem tiefen Atemzug aus seinen gewaltigen Lungen hinzu.
   »Wer ruft mich?« erwiderte Pedro Diaz – denn er war es wirklich —, ohne sich umzuwenden, und zeigte fortwährend mit der Spitze seines Degens auf die beiden zusammen schwimmenden Körper.
   Niemand antwortete; die Aufmerksamkeit der beiden Jäger war durch das Schauspiel, das sich unter ihren Augen zutrug, ganz in Anspruch genommen.
   Drei Schwimmer hatten endlich die beiden wütenden Kämpfer ergriffen, und drei Messer tauchten zu gleicher Zeit in den Körper des einen von ihnen. Dieser öffnete die Arme und verschwand unter dem Wasser, während der andere einen erstickten Schrei ausstieß und ebenso unbeweglich wie der Feind, der eben leblos im Fluß untergegangen war, an das Ufer gezogen wurde.
   Es war Zeit, denn der junge Komantsche, den man einige Augenblicke nachher auf das steile Ufer legte, gab kein anderes Lebenszeichen mehr von sich als ein schwaches Erbeben. Alle neigten sich auf ihn nieder und warteten begierig auf die Rückkehr des Atems. Rayon-Brûlant war viel weniger von seinem Feind als vom Wasser erstickt worden, und nach einiger Zeit kehrte das Leben allmählich in seine Brust zurück.
   »Ah, Ihr seid es, Señor Bois-Rosé, und Ihr auch, Señor Pepe!« rief Pedro Diaz aus, als der Zustand des Komantschen ihm keine Sorge mehr machte. »Ihr seid also diesen Räubern entkommen? Und Ihr auch, Gayferos? Nun, das nenne ich einen glücklichen Tag! Aber«, fuhr der Mexikaner fort, »ich sehe bei Euch …« Und Diaz schien mit den Augen jemand zu suchen, der bei diesem Zusammentreffen fehlte.
   »Gott hat seine Hand über mich ausgestreckt«, sagte der alte Waldläufer; »er hat den Vater von seinem Sohn getrennt.«
   »Er ist tot?« rief Diaz aus.
   »Er ist Gefangener!« fügte Bois-Rosé schmerzlich hinzu.
   »Aber Gott sei Dank, wir sind auf der Spur Don Fabians von Mediana«, fuhr der Grenzjäger lebhaft fort, »und wir haben die Schelme bei der Verfolgung so geschwächt, daß wir ihn ihren Klauen entreißen werden.«
   Pepes Stimme und sein Vertrauen auf den glücklichen Ausgang ihres Unternehmens waren immer für den alten Gefährten seiner Abenteuer wie ein auf seine Wunden gegossener wohltuender Balsam, und Bois-Rosé gewann nach diesem Augenblick der Trauer bald wieder seine tatkräftige Zuversicht und seine stoische Ergebenheit in das Schicksal.
   Mit Ausnahme einer langen, aber nicht sehr tiefen Schmarre auf der Brust war der junge Komantsche jetzt frisch und gesund, obwohl noch zu schwach, um seinen Marsch wieder beginnen zu können. Von zehn Kriegern, die er mitgebracht hatte, blieben ihm noch sieben und standen abermals vereinigt unter seinem Befehl. Der junge Häuptling mit seinen Kriegern und die vier Weißen bildeten sonach eine kriegerische, entschlossene Truppe von zwölf Streitern.
   Nachdem man eine Stunde am Ufer des Flusses geschlafen hatte, fing der erste Schimmer der Morgendämmerung an, den Wald zu erleuchten. Rayon-Brûlant hatte sich vollständig erholt, und die Truppe beschloß, sich wieder auf den Weg zu machen. Da die Apachen trotz ihrer Flucht in der Umgegend verstreut liegen und einen Racheversuch machen konnten, war Bois-Rosé der Ansicht, daß man, anstatt die kleine Schar durch das Absenden einiger Mann zum Herbeischaffen des Kanus zu schwächen, den Fluß, ohne sich zu trennen, wieder hinaufgehen müsse, da man sonst leicht überfallen werden könnte.
   Obgleich das Kanu zu klein war, um zwölf Männer zu tragen – es hätte kaum zehn zu tragen vermocht —, so war es doch immer noch die schnellste und bequemste Art, vorwärts zu kommen, da man einmal keine Pferde hatte. Um lange Strecken zurückzulegen, war es freilich weniger schnell als die Beine eines flüchtigen Fußgängers; aber es bot doch wenigstens den Vorteil, daß die Reisenden abwechselnd den so notwendigen Schlaf genießen konnten, ohne anzuhalten und kostbare Zeit zu verlieren.
   Diesem unschätzbaren Vorteil verdankte es Bois-Rosé, daß er Tag und Nacht den Spuren Fabians folgen und so die Augenblicke wieder hereinbringen konnte, die verlorengegangen waren, ehe man die Verfolgung, die allem Anschein nach beim nächsten Sonnenuntergang ihr Ende erreicht haben mußte, angefangen hatte. Mit einer Mischung von inniger Freude und nicht weniger lebhafter Besorgnis sah daher der Kanadier die ersten Strahlen dieser Sonne durch den Wald brechen, die bei ihrem Untergang ohne Zweifel einen langen blutigen Kampf beleuchten mußte, dessen unschätzbarer Preis Fabians Leben sein sollte.
   Die kleine Schar folgte dem Lauf des Flusses, dessen Wellen im hellen Licht des Tages glänzten, und brauchte nicht mehr als eine halbe Stunde dazu, um denselben Weg wieder zurückzulegen, den sie in der vergangenen Nacht mit allen durch die Vorsicht gebotenen Umwegen gemacht und der sie beinahe zwei Stunden gekostet hatte.
   Das Kanu lag noch unberührt im Schutz der Gesträuche, denen man es anvertraut hatte; man brachte es wieder ins Wasser. Zwei Indianer gingen als Späher an jedem Ufer des Flusses voraus, und die acht Krieger setzten sich in das Kanu aus Büffelhaut. Pepe und der Kanadier ergriffen die Ruder, und der Nachen glitt abermals den Fluß hinunter; einige Minuten jedoch vor der Stelle, wo er den Engpaß bildete, mußte man das Kanu noch einmal aus dem Wasser ziehen. Die von den Indianern in den Fluß geworfenen Bäume wurden hier von den abschüssigen Ufern zusammengedrängt und verstopften wie ein schwimmender Wald den ganzen Strom, dessen Gewässer das plötzliche Hindernis, dem sie begegneten, umbrausten.
   Bei ihrer Ankunft am Engpaß konnten sie die Größe der Gefahr übersehen, der sie durch den Scharfsinn des alten Waldläufers entgangen waren. Das Kanu aus Büffelhäuten wäre im Rücken durch den schwimmenden Wald, der schweigend der Strömung des Flusses folgte, eingeschlossen worden und hätte unmöglich zurückweichen oder vorwärts dringen können; eine feste Barrikade aus anderen Baumstämmen war mitten durch den Engpaß gebaut, so daß man nicht hindurchfahren konnte. Die auf den beiden Seiten des zerrissenen Bogens und auf beiden Ufern versteckten Indianer hatten das Leben aller, die im Kanu fuhren, in den Händen und hätten sie bis zum letzten Mann mit Pfeil– und Büchsenschüssen aufgerieben, ohne daß diese dem Hinterhalt, in den sie gefallen waren, hätten entfliehen können.
   »Siehst du«, sagte Bois-Rosé zu Pepe, indem er einen raschen Blick auf das Netz von Zweigen und Baumstämmen warf, das den Paß versperrte, »die Indianer haben das vorgestrige Ungewitter benützt und alle durch die Gewalt des Sturms entwurzelten Bäume in den Strom geworfen. Sie brauchten sie nur herbeizuschleppen und in den Fluß zu stürzen. Wir müssen ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen, der Streich war gut ausgedacht.«
   Es blieb nur noch zu wissen übrig, wie Rayon-Brûlant seine Krieger wiedergefunden hatte und wie die Apachen selbst in die Schlinge, die sie gelegt hatten, gefallen waren. Während die Schiffer, nachdem sie das Kanu auf ihren Schultern hundert Schritt über den Engpaß hinausgetragen hatten, den Red River hinunterfuhren und die Ruder tüchtig gebrauchten, um die Red Fork zu erreichen, wo sie die beiden Piraten der Prärien zu überfallen und ihnen ihren Gefangenen lebendig zu entreißen gedenken, wollen wir eine kurze Erzählung der Ereignisse geben.
   Nachdem Rayon-Brûlant die Spuren seiner Kriegerschar wiedergefunden und sich von den drei Jägern, seinen Verbündeten, getrennt hatte, war er diesen Spuren gefolgt. Je weiter er vordrang, um so frischer und deutlicher wurden diese Spuren, deren Datum die Indianer wie die Waldläufer mit weißer Haut mit wunderbarer Genauigkeit bestimmen können. Als der junge Komantsche nicht weit von der Stelle anlangte, wo die Apachen im Hinterhalt lagen, hatte er trockene Blätter gefunden, die sozusagen noch unter dem Gewicht des Fußes, der sie niedergetreten hatte, zitterten.
   Jetzt hatte er das Geschrei der Eule ausgestoßen, das die Verbündeten für den Vorläufer der Morgenröte hielten; es lag aber in diesem Geschrei des Nachtvogels eine gewisse Abweichung, die dem Ohr Bois-Rosés entging und die nur diejenigen allein verstanden, deren Aufmerksamkeit zu wecken sie bestimmt war.
   Rayon-Brûlant hatte sich nicht in der Voraussetzung getäuscht, daß seine Krieger sich nicht weit von ihm befänden. Die Komantschen hatten die Spur der Apachen entdeckt und verfolgt, als jenes besondere Geschrei, das durch das Schweigen des Waldes zu ihnen drang, sie von der Ankunft ihres Häuptlings benachrichtigte. Die Antwort ließ nicht auf sich warten, und nach einigen Minuten hatten sich sechs Indianer bei ihrem Häuptling eingefunden. Dieser hatte seine Schar in drei Abteilungen geteilt.
   Die erste Abteilung, aus zwei Mann bestehend, war zum Ufer des Flusses gegangen. Hier hatten sich die beiden hinter einen stromabwärts schwimmenden Baumstamm geduckt und ließen sich unerschrocken von der Strömung mitten unter ihre Feinde treiben, die sie angreifen wollten.
   Während dieser Zeit setzte Rayon-Brûlant mit zwei anderen Kriegern jenseits des Engpasses über den Fluß und legte sich auf dem linken Ufer am Fuß eines hohen Abhangs in einen Hinterhalt, der dem von den beiden steilen Ufern zerrissenen Bogen gleichsam als Pfeiler diente.
   Endlich nahmen auch die zwei anderen Komantschen eine ähnliche Stellung auf dem rechten Ufer ein.
   Sobald der junge, tapfere Häuptling annehmen konnte, daß die beiden Indianer, die sich der Strömung anvertraut hatten, nicht mehr weit vom Paß entfernt oder schon wirklich bei diesem angelangt seien, hatte er zugleich mit seinen Kriegern auf der anderen Seite schweigend das steile Ufer erstiegen, auf dessen Gipfel die Apachen ohne Argwohn begierig auf die Ankunft des Kanus lauerten.
   Einige Schüsse wurden nun in solcher Nähe abgefeuert, daß jeder einen Feind getötet oder verwundet hatte; das Geheul der Stürmenden schien aus dem Mund von zwanzig Kriegern hervorzubrechen, und Schrecken ergriff die Apachen. Die Mehrzahl war überrascht, erschreckt von diesem ebenso plötzlichen als wütenden Angriff und hatte die Flucht ergreifen wollen; da sie aber ihren Rückzug durch Feinde abgeschnitten fanden, deren geringe Anzahl sie in der Nacht nicht zählen konnten, so hatten sie sich in den Fluß gestürzt. Dort hatten die beiden Indianer auf ihrem gestrandeten Baumstamm zwei oder drei von ihnen niedergemacht und den nächtlichen Schrecken der Apachen bis zum höchsten Punkt gesteigert.
   Rayon-Brûlant hatte allein, die Streitaxt in der Hand, das Ufer erstiegen, während seine Krieger sich unvorsichtig genug der Verfolgung der Flüchtlinge überlassen hatten. Ihm gegenüber war Antilope ganz allein von seinen Kriegern zurückgeblieben und hatte endlich die Feinde zählen können, mit denen sie zu tun hatten.
   Der Apache beschloß, sich wenigstens an dem Renegaten seiner Nation zu rächen, dessen Feindschaft seinem Stamm schon so unheilbringend geworden war, und es wäre ihm, wie man gesehen hat, gelungen, wenn die Komantschen nicht ihre unnütze Verfolgung aufgegeben hätten und so rasch und zu rechter Zeit ihrem Häuptling zu Hilfe gekommen wären.
   Nachdem Bois-Rosé abermals dem jungen Komantschenhäuptling zu seinem Sieg Glück gewünscht hatte, war für ihn auf dieser Seite nichts mehr zu erfahren. Er fragte nun Pedro Diaz nach den Abenteuern, infolge derer er mit den Kriegern Rayon-Brûlants zusammengetroffen war. Diaz erzählte es ihm mit wenigen Worten.
   Nachdem er den drei Jägern auf dem Gipfel ihrer Pyramide die unvollständige Warnung zugerufen hatte, wonach sie auf ihrer Hut sein sollten, war er fast aufs Geratewohl in der Richtung der Red Fork umhergeirrt. Seinen eigenen Hilfsmitteln überlassen, hatte der Abenteurer, der mehr ein unerschrockener Parteigänger als ein geschickter Jäger war, bald ebenfalls die Angriffe des Hungers gefühlt. Am Ende des zweiten Tagesmarsches hatte er die Kräfte seines Pferdes bei der Verfolgung von Büffeln und Hirschen fast erschöpft, ohne irgendeinen erreichen zu können.
   Der Abenteurer war ein Raub der schmerzlichen Qualen des Hungers, als er am Abend des zweiten Tages nicht weit vom Red River ausruhte, dessen wirkliche Richtung er verloren hatte. Das Pferd war glücklicher als sein Reiter, der vergeblich einige wilde Früchte oder Wurzeln suchte, um seinen Hunger zu täuschen; es weidete ruhig in einiger Entfernung von Diaz, als dieser zwei oder drei Büchsenschüsse weit ein Tier erblickte, das er einen Augenblick seiner Größe nach für irgendeinen fern von seiner Herde verlaufenen Büffel hielt. Die Dunkelheit fing schon wieder an, sich über die Erde auszubreiten, und der Abenteurer dankte dem Himmel für den glücklichen Zufall, der ihm eines der bis jetzt so vergeblich verfolgten Tiere zuführte, als ein schreckliches Brummen ihn enttäuschte.
   Plötzlich verwandelte sich der Büffel vor Diaz‘ erschreckten Augen in einen Grauen Bären von kolossaler Größe. Durch eine Veränderung, die nur die natürliche Folge war, war der Jäger plötzlich zum Wild geworden, das der schreckliche Bewohner der Steppe zu erreichen sich bemühte. Der Bär, der, so schwerfällig er auch zu sein schien, in Wirklichkeit nichtsdestoweniger sehr schnell war, ging auf Diaz los. Der Abenteurer zog sich zu seinem Pferd zurück, das er mit einer langen, starken Leine an einen Baum gebunden hatte. Das Tier war erschrockener als der Mensch und bemühte sich, die Leine zu zerreißen.
   Der Mexikaner schoß, ehe er sich wieder in den Sattel schwang, seine Büchse auf den ganz nahe herangekommenen Bären ab. Die Kugel, die an seinem zottigen Pelz abprallte, brachte keine andere Wirkung auf ihn hervor als ein Sporenstoß in die Flanke des Pferdes, d. h. sie vermehrte nur die Wut des Bären, die Beute, nach der er begierig war, zu verfolgen. Diaz hatte nur noch Zeit, sich auf sein Pferd zu schwingen, nachdem er die Leine, mit der es angebunden war, durchschnitten hatte, und der Jäger wurde nun von dem wilden Tier gejagt.
   Der Bär war durch diesen Triumph nicht befriedigt und folgte mit seinem anscheinend schwerfälligen, in Wirklichkeit aber schnellen Trab dem Pferd und dem Reiter auf den Fersen. Oft gewann der Reiter durch einen beschleunigten Galopp seines Pferdes einen solchen Vorsprung, daß er den Bären aus den Augen verlor, und wenn die Ermüdung ihn nötigte, langsamer zu reiten, so zeigte sich auch der Bär bald wieder, der immer seinen unablässigen, hartnäckigen Trab fortsetzte.
   Dem Tag war die Nacht gefolgt, und einen Augenblick lang war der erbitterte Verfolger des Abenteurers in der Dunkelheit verschwunden, als noch einmal auf dem weißlichen und kalkigen Boden der Ebene ein schwarzer, ungeheurer Körper erschien, dessen gleichmäßiger Gang und die rauhe Stimme dem Reiter nicht mehr zu zweifeln erlaubten. Dies war das letztemal, daß er ihn aus dem Blickfeld verlor.
   Der Bär befand sich nun immer hinter dem Reiter gleich jenen glänzenden Gestirnen, die man immer an der gleichen Stelle des Himmels bemerkt, wie groß auch die Schnelligkeit ist, die man anwendet, um an ihnen vorbeizukommen. Unterdessen wurde der Raum, der sie trennte, immer kleiner; der Bär hatte seine Schnelligkeit nicht vermehrt, die des Pferdes aber nahm ab. Schaum bedeckte seine Flanken; der Atem drängte sich mühsamer aus seinen durch die Furcht erweiterten Nüstern; seine nervigen Fesseln wurden schwach unter ihm – aber der Gang des Bären wurde immer noch nicht langsamer.
   Zwei Stunden vergingen so – zwei Stunden, in denen jede Minute selbst eine Stunde zu sein schien —, und schon seit Augenblicken mischte sich das lüsterne, furchtbare Schnüffeln des Bären in das ängstliche Schnauben des Pferdes, bis dieses, erschöpft von seiner Wunde und besonders vom Schrecken, nicht mehr weiter konnte und zusammenstürzte.
   Diaz sah diesen Fall voraus und fiel auf seine Füße. Ein glücklicher Zufall wollte es, daß dies zwei Schritt von einem Ahornbaum geschah, auf den er eiligst – mehr aus Instinkt als aus Überlegung – hinaufkletterte. Seine Fersen befanden sich in einiger Entfernung vom Boden, als der Bär, der offenbar dem Menschen den Vorzug zu geben schien, sich auf seine Hinterfüße setzte und mit seinen furchtbaren Fangzähnen, die kaum weniger lang, aber weit härter als die Sporen des Reiters selbst waren, diese letzteren berührte.
   Als Diaz mit heiler Haut diesem Angriff des ungeheuren Tieres entgangen war, erinnerte er sich plötzlich an die Gewandtheit der Bären, den Wipfel der Bäume zu erklettern, um den Honig der Bienen zu suchen, und er richtete sich darum so bequem wie möglich auf der Gabel eines Hauptastes ein. Gestiefelt und gespornt erwartete nun der Reiter in seiner so sonderbaren Stellung mit dem Degen in der Hand seinen Feind; er war nicht gerade erschreckt – denn der Abenteurer erschrak nicht mehr vor Tieren oder Menschen —, das Herz klopfte ihm jedoch mit ganz ungewöhnlicher Stärke.
   Aber Diaz kannte eine Eigentümlichkeit in den Gewohnheiten des Grauen Bären der Prärien nicht. Der Graue Bär, der wegen der wunderbaren Länge seiner scharfen Krallen der letzte von jener gigantischen Rasse der vorsintflutlichen Höhlenbewohner, deren Geschlecht untergegangen ist, zu sein scheint, kann nicht wie die Tiere derselben Familie auf die Bäume klettern. Dieser hier begnügte sich damit, einen Blick auf den Reiter und dann auf das sterbende Pferd zu werfen. Um seine Mußezeit gut auszufüllen und die Geduld nicht zu verlieren, trug der Bär, bei dem die Bewegung den Appetit gesteigert hatte, das Pferd an den Fuß des Baumes und fing an, es zu verzehren.
   Das hinderte jedoch den ungeheuren Tischgenossen nicht, die Augen von Zeit zu Zeit zu dem Abenteurer zu erheben, um diesem etwa zu verstehen zu geben, daß er das Pferd nur als eine Abschlagszahlung betrachte, von der der Mexikaner den Rest bilden sollte.
   Während eines Teils der Nacht hörte Diaz das entsetzliche Krachen der Knochen seines unglücklichen Pferdes; er sah, wie eine schwarze, ungeheure Masse sich behaglich am Fuß seines Baumes niederlegte, und fühlte, daß seine Augenlider vom Schlaf schwer wurden. Sooft er die Augen öffnete, hörte er dieselbe Musik, dasselbe Schauspiel traf seine Augen und seine Ohren, und endlich band sich der Abenteurer, von Ermüdung überwältigt, fest mit seinem Gürtel aus chinesischem Flor an den Baum, steckte sein Faustgelenk in die Quaste seines Degens und schlief endlich ein, trotz des Hungers und der Kühle der Nacht.
   Er erwachte, als es kaum Tag war, und schaute zur Erde nieder; da lag immer noch die schwarze Masse, aber so undeutlich, daß der Abenteurer meinte, ein Bild der Phantasie statt der Wirklichkeit zu sehen. Der Bär war auch in der Tat ebenso wie das Pferd nebst Sattel und Zaum verschwunden und hatte letzteres – vielleicht zum Zeitvertreib – verschlungen oder wenigstens zu seiner Höhle geschleppt.
   Ein schrecklicher Tag folgte dieser furchtbaren Nacht. Hunger und Durst, grauenhafte Erscheinungen von eingebildeten Bären hinter allen Gebüschen ließen dem Abenteurer keinen Augenblick Ruhe und Erholung; dann bemerkte er bei Sonnenuntergang den Rauch eines unsichtbaren Feuers. Sollte diese Rauchsäule von einem Mahl von Indianern herrühren, das nicht weniger zu fürchten war? Der verhungerte Mexikaner faßte den Entschluß, diese Richtung einzuschlagen.
   Sechs Indianer saßen um ein Feuer, aber ohne daß scheinbar irgendeine Mahlzeit zu ihrer Verfügung stand. Diaz erschrak über das hungrige Aussehen des Feuers und wollte sich leise wieder davonschleichen; aber das Falkenauge der wilden Genossen hatte ihn bemerkt, und der Abenteurer war gezwungen, einer Aufforderung, näher heranzukommen, zu gehorchen – einer so drohenden Aufforderung, daß er sich darein ergeben mußte.
   Es waren die sechs Komantschen Rayon-Brûlants. Für den Augenblick mit den Weißen verbündet, nahmen die indianischen Krieger ihren unfreiwilligen Gast friedlich auf, fragten in schlechtem Spanisch nach dem Ziel seiner Wanderung, und Diaz nannte den Büffelsee. Dahin wollten auch die Komantschen, und der Abenteurer setzte sich ans Feuer, wo er sich mit einer Pfeife Tabak, mit Sumachblättern vermischt, als einziger Mahlzeit begnügen mußte.
   Indessen schien – war es nun ein Phantasiegebilde seines ausgehungerten Magens, oder war es etwas Wirkliches – ein Duft von gebratenem Fleisch die Atmosphäre um den Mexikaner balsamisch zu durchdringen. Nachdem er aufgehört hatte, zu rauchen, erhob sich einer von den Indianern, entfernte sich einige Schritte von der Gruppe und kniete an einer Stelle des Bodens nieder, die erst ganz kürzlich aufgegraben schien.
   Diaz folgte seinen Bewegungen mit einem so außerordentlichen Interesse, daß er es selbst nicht recht begreifen konnte. Er sah nun, wie der Indianer die Erde mit seinem Messer aufgrub! Nun war es keine Einbildung mehr. Ein balsamischer Duft, lieblich und durchdringend zugleich, drang aus dem halbgeöffneten Boden hervor. Der Abenteurer stieß das Geheul eines hungrigen wilden Tieres in dem Augenblick aus, wo der Indianer aus der Erde eine schwarze Masse wie verkalktes Leder hervorzog und diese verkohlte Hülle aufmachte; er wurde beinahe ohnmächtig beim Anblick eines ganzen Berges von Fleisch, das so duftend, rosig und saftig war wie das rosenfarbige, saftige Fleisch der Wassermelone. Der wilde Küchenmeister legte es in seiner schwärzlichen Schale auf die Erde nieder.
   Es war ein Büffelrücken, den der Indianer eben aus dem unterirdischen Ofen herausnahm, wo zuerst seine Hautumhüllung, dann die Erde selbst dem Braten nichts von seiner Vollkommenheit und seinem Wohlgeruch entzogen hatten.Wir verweisen den Leser, der neugierig sein soll, die Zubereitung eines solchen Mahles im einzelnen kennenzulernen, auf das Werk »Voyage et aventures en Mexique 1847«.
   Während Diaz mit Vergnügen ein so dringendes Bedürfnis befriedigte, unterrichteten ihn die Indianer von dem Ziel, das sie sich gesetzt hatten – nämlich Main-Rouge und Sang-Mêlé anzugreifen —, und seit diesem Augenblick blieb er bis zu dem Scharmützel bei ihnen, das eben stattgefunden hatte.
   Wir beenden unsere Erzählung mit der Versicherung, daß Diaz nicht ohne Vergnügen die Möglichkeit als gewiß oder wenigstens als wahrscheinlich betrachtete, daß die ungeheure, rauhe, mit gewaltigen Krallen versehene Tatze, die er in einer Ecke des Kanus liegen sah, diejenige des Grauen Bären sei, der dem Abenteurer so furchtbare Gefühle eingeflößt hatte.
   In dem Augenblick, wo Diaz seine Erzählung beendete, gab der Komantsche dem Kanadier und dem Spanier ein Zeichen, mit Reden einzuhalten, und deutete auf eine Rauchsäule vor dem Kanu, die sich mitten aus einem dichten Gebüsch erhob.
   »Das ist nur ein Feuer«, sagte Bois-Rosé und ließ das Kanu sich in der Strömung wenden; »wir wollen jedoch so vorsichtig sein, Kundschafter vorauszuschicken, um Zahl und Beschaffenheit derer zu rekognoszieren, die an diesem Feuer lagern.«
   Der junge Komantsche gab den beiden Indianern die dem Kanu auf dem rechten Ufer folgten, den Befehl zur Rekognoszierung vorauszugehen, und diese beeilten sich, ihn auszuführen. Unterdessen setzte jeder seine Waffen in Bereitschaft.
   Kurz bevor man am hohen Ufer anlangte, wo die Rauchsäule sich über die Bäume erhob, wurde eine von den unsichtbaren Personen ohne Zweifel durch das Geräusch der Ruder unruhig, denn man hörte eine starke Stimme rufen: »Wilson!«
   »Sir?« rief eine zweite Stimme, nicht weit von der ersten entfernt.
   Dann fuhr die erste Stimme fort, während die drei Jäger sich erstaunt anblickten: »Es scheint, als ob Ihr glaubt, Ihr wärt bei mir in den Ruhestand versetzt! Hört Ihr nicht?«
   »Ein Kanu? Ich sehe es schon seit fast einer halben Stunde.«
   »Sehr gut! Nun beschäftige ich mich nicht mehr damit; das ist Eure Sache.«
   Als der Engländer, den man ohne Zweifel wiedererkannt hat, diese Worte gesprochen hatte, kam das Kanu gerade an der kleinen Lichtung vorüber, in deren Mitte unsere seltsamen Personen, der Engländer und sein Leibgardist, phlegmatisch auf dem Boden lagen. Nicht weit von ihnen hing das Vorderteil eines Rehs an einem kleinen Baum, und an einem flammenden Feuer briet auf Kohlen unter leichtem Zischen die Keule des Tieres.
   Ganz am Ende der Lichtung weideten drei Pferde in dem dichten Gras, das die Feuchtigkeit des Flusses wachsen ließ. Sir Frederick zeichnete ruhig, während der Amerikaner am Feuer bei dem Rehviertel aufpaßte. Mit Ausnahme eines prächtigen weißen Pferdes, dessen glänzendes Haar mit Blut besudelt und das fest an einen Baumstamm gebunden war und sich mit gefesselten Füßen in seinen Banden abarbeitete, war dieses Lager mitten in einem Land voll Gefahren friedlich wie die Kaminecke einer holländischen Hausfrau.


   71. Der Gefangene

   Die Vorbeifahrenden hielten einen Augenblick an, um dieses ruhige Gemälde zu betrachten.
   »Sir«, sagte Wilson, der schon seit einiger Zeit, wie er sagte, in dem Boot die Haltung und die Züge des jungen Komantschen, dem er zum zweitenmal begegnete, wiedererkannt hatte, »wir haben hier einen tapferen Krieger, dessen Hand schon einmal die Eurige gedrückt hat.«
   »Ich gehe zu ihm«, antwortete Sir Frederick Wanderer, ohne den Kopf zu heben. »Und wer ist dieser Freund? Denn dank Eurer Sorgfalt begegne ich niemals einem Feind, was in der Tat langweilig wird.«
   »Sir«, erwiderte der Amerikaner, »was geschrieben ist, ist geschrieben; ich weiß von nichts anderem. Und außerdem – wenn Eure Gnaden wünschen, daß ich Euch irgendeiner tüchtigen Gefahr gegenüberstelle, so müssen wir dies in einem nachträglichen Zusatz zu unserem Vertrag bemerken; außerdem … Ihr fühlt wohl, Sir Frederick, könnte ich nicht einwilligen, ohne mich einem Prozeß oder den Vorwürfen meines Gewissens auszusetzen …«
   »Wir wollen sehen«, unterbrach ihn der Engländer und stand auf. »Ah, es ist ein junger, tapferer Komantsche«, fügte Sir Frederick lebhaft hinzu; »ich freue mich, ihn wiederzusehen.«
   »Durchstreifen Eure Gnaden schon lange die Ufer des Red River?« fragte Bois-Rosé englisch.
   »Seit sechs oder sieben Tagen«, antwortete Sir Frederick, »bin ich auf der Verfolgung dieses schönen weißen Renners, den Ihr dort unten seht, und im Begriff, diesen Ufern lebewohl zu sagen, an denen man wahrlich so sicher reist als an denen der Themse.«
   »Da bin ich in diesem Punkt ganz verschiedener Ansicht«, unterbrach ihn der Grenzjäger. »Fragt Bois-Rosé!«
   »Fragt Wilson!« erwiderte Sir Frederick.
   Bois-Rosé unterbrach das Gespräch, das zur großen Freude Wilsons lebendig wurde. »Ihr seid also nicht zwei Banditen und ungefähr zehn Indianern begegnet, die einen gefangenen jungen Mann bei sich hatten?«
   »Banditen? Ihr setzt mich in Erstaunen, mein Freund«, erwiderte Wanderer; »sie existieren nur in Eurer Einbildung. Wilson, haben wir Banditen gesehen?«
   Der amerikanische Jäger blinzelte mit den Augen und sagte: »Sir Frederick, nach dem Wortlaut unserer Übereinkunft muß ich Euch nicht bloß im allgemeinen aus jeder Gefahr – wohlverstanden in der Steppe! – befreien, sondern es auch verhindern, daß Ihr dieser ausgesetzt seid. Nun ist nicht später als bei Tagesanbruch…«
   Die verzweifelten Anstrengungen des weißen Pferdes, seine Bande zu zerreißen und sich von seinen Fesseln zu befreien, zwangen den amerikanischen Jäger, hinzulaufen, um es daran zu hindern, sich zu verwunden. Während er es mit Worten zu beruhigen suchte, warf Diaz bewundernde und neidische Blicke auf den prachtvollen weißen Renner, den er zugleich beim Anblick des Blutes bedauerte, das die fleckenlose Reinheit seiner schneeigen Farbe trübte.
   »Wer ist der Barbar«, fragte der Abenteurer mit nur schlecht verhehltem Unwillen, »der es gewagt hat, Schwert oder Büchse gegen ein derart schönes Tier zu gebrauchen, das ein König zu besteigen stolz sein würde?«
   »Dieses edle Pferd«, erwiderte Sir Frederick, »ist, so wie Ihr es hier seht, dasjenige, das die Vaqueros in Texas den Weißen Renner der Prärien nennen. Von Texas her verfolgen wir es, Wilson und ich, und gestern hat er, des Krieges müde, das Mittel in Anwendung gebracht, dessen man sich in seinem Vaterland bedient, um die Pferde zu bekommen, die dem Lasso entgehen: nämlich dem Tier eine Kugel seitwärts in den Hals zu schießen. Es ist ein grausames und gewagtes Mittel, aber es ist gelungen, denn dort steht der Renner. Seine Wunde hat nichts zu bedeuten, und ich werde in London einige Ehre mit ihm einlegen.«
   »Wenn Ihr dort hinkommt«, murmelte Diaz.
   »Also«, fuhr Wilson fort, der sich der Gruppe wieder anschloß, »wie ich schon die Ehre hatte, Euch zu sagen – ich habe nicht später als gestern um vier Uhr, während Euer Gnaden arglos schliefen, ein Kanu den Fluß hinabfahren sehen, mit einer Ladung von Passagieren, die wohl die Ansichten Eurer Gnaden über die Sicherheit dieser Ufer hätten ändern können, wenn ich nicht gewisse Vorsichtsmaßnahmen getroffen hätte, um Euch ihren Augen zu entziehen.«
   Der Kanadier hörte aufmerksamer zu.
   »In diesem Kanu befanden sich ein gewisser Half-Breed und ein anderer Bandit, den ich kenne, mit Namen Red Hand.«
   »Half-Breed und Red Hand?« rief Bois Rosé aus, der Sang-Mêlé und Main-Rouge unter ihren englischen Namen wiedererkannte. »Gestern, sagt Ihr, habt Ihr sie gesehen?«
   »Gegen Abend, und sie fuhren in einem Kanu den Fluß hinab.«
   »Waren sie allein?« fragte Pepe lebhaft beim Anblick des Kanadiers, den die Aufregung erbleichen ließ.
   »Ach nein; sie hatten noch etwa zehn Indianer bei sich. Diese Schelme verstehen die Kunst, in diesen Steppen eine Menge von Banditen ihrer Art anzuwerben.«
   »Und es war kein junger Weißer dabei?« fragte der Kanadier, indem er den raschen Schlag seines Herzens unterdrückte.
   »Ich wage nicht, etwas zu behaupten – weder für noch gegen«, erwiderte Wilson.
   Diese ausweichende Antwort schmetterte Bois-Rosé ganz nieder; sein Gesicht verriet seinen Schmerz.
   »Er war dabei; er mußte dabei sein!« rief Pepe ungestüm.
   »Er war nicht dabei«, murmelte Bois-Rosé schmerzlich.
   »Er war dabei, sage ich dir!« erwiderte der Spanier. »Es war in der Dämmerung; dieser Jäger hat es nicht recht sehen können.«
   »Das ist möglich«, sagte der Yankee phlegmatisch.
   »Ihr hört es, Komantsche«, fuhr Pepe feurig fort, »gestern abend sind Sang-Mêlé und Main-Rouge, diese beiden Teufel der Hölle, in einem Kanu den Fluß hinabgefahren. Vorwärts! Binnen hier und einigen Stunden haben wir sie wieder eingeholt. Tod und Blut! Zu wissen, daß sie so nahe bei uns sind! Sir Frederick«, fuhr der Spanier fort, »wenn Ihr Lust dazu habt, so kommt mit uns, und Ihr sollt einem blutigen Kampf beiwohnen.«
   »Wenn Ihr eine heilige Sache als die Eurige ansehen wollt«, rief Bois-Rosé aus, der wieder einigermaßen Herr seiner selbst geworden war; »die Sache eines Vaters, der den Sohn, den ihm Gott, genommen hat, einem schrecklichen Tod zu entreißen sucht – so kommt mit uns, und Gott wird Euch eines Tages vergelten, was Ihr für den Vater und den Sohn getan haben werdet.«
   »Das ist wider unsere Übereinkunft«, bemerkte Wilson. »Sir Frederick, das geht Euch persönlich an, und Ihr werdet mich schriftlich entbinden.«
   »Ich tue es hier vor allen«, sagte der Engländer, den der Schmerz und die Stimme des alten Waldläufers gerührt hatten; »es soll nicht gesagt werden, daß ich einem betrübten Vater eine abschlägige Antwort gegeben hätte.«
   »Gut«, erwiderte Wilson, »denn wir haben bis jetzt ein Leben wie Tagediebe geführt.«
   Die Pferde wurden rasch gesattelt und beladen, und als man um die Nüstern des weißen Renners einen Riemen gelegt und ihn an den Schweif von Wilsons Pferd angebunden hatte, verfolgten sie alle eilig die Richtung des Flusses abwärts, und zwar die Indianer zu Fuß, die beiden neuen Reiter auf dem Ufer und der Rest der Truppe in dem Kanu aus Büffelhaut.
   Wenn man sich in Gedanken in den Augenblick zurückversetzt, wo die beiden unerschrockenen Jäger – bereit, Fabian zu folgen – allein, ohne Verteidigungsmittel und sterbend vor Hunger von Gayferos eingeholt worden waren und sich andere Waffen verschafft hatten; wenn man bedenkt, daß jetzt die drei Freunde Fabians in den Kriegern Rayon-Brûlants neun furchtbare Verbündete gewonnen hatten; daß stete Scharmützel die Apachen geschwächt hatten; daß Diaz dabei war; daß zwei andere Gefährten in der Gefahr sich eben an Pepe und den Kanadier angeschlossen hatten und daß endlich die ganze Schar sich auf fünfzehn Streiter belief, so meinen wir, diesen treu genug das Geleit gegeben zu haben, so daß es uns nun wohl erlaubt sein darf, ihnen auf diesem letzten Marsch nicht mehr zu folgen.
   Wir haben zu lange den Gefangenen – den Gegenstand so großer Sorge und so vieler Anstrengungen – in seinem Unglück vergessen; eine gebieterische Pflicht, eine Pflicht der Zuneigung führt uns zu Fabian von Mediana zurück. Wir müssen jedoch zuvor in einigen Worten das erzählen, was ihm seit dem Augenblick begegnet war, wo er in seinem Kampf mit Lufthauch samt seinem Gegner bis zum Fuß des abgestumpften Hügels hinabgerollt war.
   Die Büchse des jungen Spaniers lag zur Seite ihres bewegungslosen, scheinbar leblosen Besitzers. Die Belagerer, in der Gewißheit, daß die beiden Gegner ohne Feuerwaffen sie nicht erreichen konnten, hatten sich auf Fabian gestürzt, und wenige Augenblicke hatten genügt, sich seiner zu bemächtigen und ihn samt dem Indianer fortzutragen, der nur noch eine Leiche war. Man warf die drei gefallenen Indianer in den Schlund des Wasserfalls; was Fabian anlangt, so konnte man leicht sehen, daß er noch lebte.
   Der Mestize war zwar durch diesen Erfolg befriedigt, begann aber doch seine Toten zu überzählen. Von elf Indianern, die er bei sich gehabt hatte – die vom Los Bestimmten mit eingeschlossen —, waren sechs getötet, Baraja war das siebente Opfer. Plötzlich erscholl ein Geheul in der Ebene, und einer von den vier Kriegern, die dort im Hinterhalt lagen, lief herbei und erzählte dem Mestizen vom Tod seiner drei Begleiter. Der Mestize stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden, aber er besann sich nicht länger. Main-Rouge erhielt den Befehl, den immer noch ohnmächtigen Gefangenen in das unter dem unterirdischen Kanal des Sees angebundene Kanu zu tragen. Der alte amerikanische Renegat sowie Gemse und der Bois-Rosé entschlüpfte Indianer trugen Fabian auf ihren Armen fort und warteten auf den Mestizen, der bald nachkommen sollte.
   Gerade in dem Augenblick, wo er allein geblieben war, überraschte Bois-Rosé, der, von seiner Unternehmung zurückgekehrt, aufrecht auf der Plattform stand, den Piraten, ehe dieser es vermutete. Der Schmerz des Kanadiers machte es ihm begreiflich, daß es hieß, Bois-Rosé das Leben nehmen, wenn man Fabian seiner Liebe entriß. Der wilde Mestize versuchte indessen dem Kanadier irgendeine grausame, wenn auch nicht tödliche Wunde beizubringen und den Blutdurst zu stillen, der ihn verzehrte; da er sich jedoch bei dem vom Himmel herabströmenden Regen von der Wirkungslosigkeit der Feuerwaffen überzeugte, so dachte er an den Rückzug, oder, um es richtiger auszudrücken, er ergriff die Flucht.
   Mitten in der wachsenden Dunkelheit brauchte der Mestize sich keine Mühe zu geben, bei dem doppelten Schleier des Regens und des Ungewitters seine Spur den Nachforschungen der Jäger zu verbergen. Das Ufer des Flusses, dessen Zugänge er genau kannte, war so von den Bergen eingeschlossen, daß es unmöglich war, sogleich die richtige Stelle zu finden, und Bois-Rosé und Pepe irrten noch auf gut Glück sehr weit davon umher, als der Mestize schon seine Gefährten, die ihn ungeduldig erwarteten, eingeholt hatte.
   »Wer zuviel unternimmt, führt es schlecht aus«, sagte Main-Rouge im Ton übler Laune, während er mit seinem Sohn ruderte, um fortzukommen. »Du hast immer zwanzig Pläne im Kopf und führst niemals irgendeinen davon aus.«
   Der Mestize zeigte schweigend mit dem Finger auf den am Boden des Kanus ausgestreckten und geknebelten Fabian, um gegen die Anklage seines Vaters zu protestieren.
   Main-Rouge fuhr fort: »Und die beiden anderen, die du ausliefern solltest? Und dieser Schatz, den wir zurückgelassen haben, während wir dank der Dunkelheit und unseren Waffen uns im Handumdrehen der Männer und des Goldes bemächtigen konnten?«
   »Höre, Main-Rouge, wenn ich mich herablasse, mein Verfahren zu rechtfertigen, so geschieht es in der Absicht, daß du mir nicht mehr die Ohren mit deinen Beschuldigungen zerreißt. Wir sind nur noch vier gegen zwei. Bei einem solchen Wetter wie diesem hier ist eine Büchse nicht mehr wert als ein Messer. Abwarten, bis der Sturm vorüber ist, hieße bis zum nächsten Sonnenaufgang warten, und ich habe keine Zeit dazu. Was die Männer anlangt, so ist hier schon einer; binnen hier und drei Tagen werde ich ihn dem Schwarzen Falken ausliefern. Die beiden anderen zählen nicht mehr; in den Prärien ist ein Jäger ohne Waffen ein toter Mensch; Hunger und Bären werden uns von ihnen befreit haben, ehe wir an der Red Fork sind. Über den Schatz brauchst du dich nicht zu ärgern; es ist keine Gefahr vorhanden, daß er davonfliegt, und wir werden vor dem Ende des Mondes zu ihm zurückkehren, während ich durch eine Verzögerung von einem Tag die Gelegenheit einbüßen kann, mich eines anderen Schatzes zu bemächtigen: nämlich der weißen Taube des Büffelsees, die Flügel zum Fortfliegen hat. Hast du nun noch etwas auf diese Gründe zu erwidern, so sprich schnell, damit keine Rede mehr davon ist.«
   »Was gehen mich alle Tauben der Welt – weiße oder rote – an? Die beiden Jäger werden den Schatz mitnehmen, und bei unserer Rückkehr werden wir den Vogel ausgeflogen finden.«
   Der Mestize zuckte verächtlich die Schultern. »Gibt das Gold etwa zu essen in der Steppe?« sagte er. »Denkt man daran, Schätze zu sammeln, wenn man vor Hunger stirbt und mehr als achtzehnhundert Meilen von jeder Niederlassung entfernt ist? Für diese beiden waffenlosen Landstreicher hat das Gold gerade ebensoviel Wert wie das von den Wölfen abgenagte Skelett eines Bisons. Ich habe mehr als einen Jäger, der eine gute, nie fehlende Büchse hatte, vor Hunger in den Prärien rasend werden sehen. Was sollen diese ohne Gewehre machen? In dieser Stunde suchen sie unsere Spuren und finden sie nicht; der Tod wird sie bei ihren Nachforschungen überraschen. Was die weiße Taube anbelangt, so geht sie mich sehr viel an; und sollte ich auch deinen eigenen Leichnam mit Füßen treten, um zu ihr zu gelangen, so würde ich zu ihr gelangen. Nimm das als gesagt an!«
   »Möchtest du doch einst einen Sohn haben, der eines Tages dieselbe Sprache gegen dich führt!« rief der alte Renegat aus und senkte den Blick vor den funkelnden Augen Sang-Mêlés, während er diese fürchterlichen Worte aussprach. »Aber du wirst keinen erhalten – er könnte nur noch abscheulicher werden als du!«
   »Hast du mir sonst noch etwas anderes zu antworten?« fragte der Mestize spöttisch.
   Main-Rouge antwortete nicht, und die beiden Banditen ruderten schweigend weiter; aber der Amerikaner mußte an irgend jemand die Wut auslassen, die ihn erstickte. »Wo hast du den Schatz vergraben, du Hund?« fragte der Freibeuter und stieß Fabian mit dem Fuß, als dieser gerade die Augen zum erstenmal wieder öffnete. »Wirst du wohl antworten, du Landstreicher?« fuhr der ungeduldige Renegat fort.
   »Wer seid Ihr?« fragte Fabian, der sich seines Sturzes erinnerte und in dessen Augen seine wirkliche Lage noch nicht in ihrem ganzen schrecklichen Licht erschien.
   »Er fragt, wer ich bin!« rief Main-Rouge mit wildem Lachen aus. »An dir ist es, mir zuerst zu antworten! Wo hast du den Schatz vergraben?«
   Bei dieser zweiten Frage hatte Fabian seine ganze Besinnung wiedererlangt. Er suchte mit den Augen Bois-Rosé und den Spanier, und sein Blick fiel nur auf die Gesichter der beiden Piraten der Prärien und auf die indianischen Malereien der beiden Apachen. Was war aus den beiden Jägern geworden? Fabian wußte es nicht und wollte sich davon Gewißheit verschaffen. »Ein Schatz?« fragte er. »Ich habe niemals davon reden hören. Bois-Rosé und Pepe hatten nicht die Gewohnheit, mir ihre Geheimnisse anzuvertrauen; fragt sie selbst darum!«
   »Diese Landstreicher darum fragen?« rief der alte Renegat aus. »Frag die Wolke, die wir gestern gesehen haben und die wir nicht wiedersehen werden. Wird die Wolke dir antworten?«
   »In der Tat, die Toten reden nicht mehr«, sagte Fabian.
   »Die Landstreicher sind nicht tot, aber sie sind auch nicht mehr wert als Tote. Wozu wird ihnen die Freiheit ohne ihre Waffen nützen? Ein Raub des Hungers zu werden! Wozu nützt dir jetzt das Leben? Um ein Raub des Schwarzen Falken zu werden, dessen Krallen dir den Körper stückweise zerreißen werden.«
   Die beiden Jäger waren frei und am Leben, und ein verächtliches Lächeln flog über Fabians Lippen, als er diese Gewißheit erlangt hatte. »Es gibt Jäger ohne Waffen, die die Piraten der Prärien noch zur Flucht zwingen, obgleich diese sich den Anschein geben, als verachteten sie ihre Gegner«, sagte er und schaute dem Banditen ins Gesicht.
   »Wir fliehen nicht! Verstehst du, Hund?« sagte der Renegat, mit den Zähnen knirschend. »Sieh doch die Frechheit dieses jungen Schelms! Was mich anlangt, so weiß ich nicht, was mich zurückhält, ihm seine beleidigenden Worte in den Schlund zurückzustoßen«, schloß er und entblößte sein Messer.
   In der Aussicht auf eine schreckliche Marter zog Fabian einen raschen Tod den Qualen vor, von denen er sich bedroht wußte. »Ich will euch sagen, was euch zurückhält«, antwortete er mit Zuversicht: »Es ist die Furcht vor dem Schwarzen Falken, der seine Jagdhunde aus euch gemacht und euch drei Männern nachgehetzt hat, die ihn und zwanzig Krieger fast während eines ganzen Tages und einer ganzen Nacht mit Vorteil bekämpft haben.«
   Vielleicht wären diese Worte, die Main-Rouges Wut bis aufs äußerste brachten, die letzten gewesen, die Fabian gesprochen hatte, wenn nicht der Mestize die Hand seines Vaters, die zum Stoß bereit war, zurückgehalten hätte. »Der junge Krieger aus dem Süden hat Furcht vor dem Marterpfahl«, sagte Sang-Mêlé, »und er beleidigt seine Sieger, um sich lange Qualen zu ersparen; aber in drei Tagen wird er anders sprechen.«
   »Ein Weißer kann sterben wie ein Indianer.« Nach dieser Antwort schloß Fabian die Augen, um die greulichen Gesichter der beiden Banditen nicht mehr zu sehen, die lebhaft miteinander sprachen, ohne daß er sie verstand.
   Der Sturm brüllte in seiner ganzen Heftigkeit, der Regen fiel immer noch in dichten Strömen mitten unter dem Rollen des Donners herab. Das Rindenkanu flog leicht wie ein trockenes Blatt, das auf den Flügeln des Windes dahinschwebt, über die Oberfläche des Wassers und trug den Gefangenen weit von seinen beiden Beschützern weg. Fabian lag auf dem Boden des Kanus ausgestreckt; das Wasser des Himmels badete sein Gesicht, seine Kleider waren durchnäßt und klebten an seinem Körper. Er dachte an den Schmerz des Kanadiers, und zuweilen lächelte ihm auch in Gedanken eine unbestimmte Hoffnung zu – bis zu dem Augenblick, wo er die Augen wieder öffnete und beim unheilverkündenden Schein der Blitze die wilden Mienen der Freibeuter und die öde, düstere Gegend erblickte, durch die sie hinfuhren. Dann sagten ihm die rohe Wildheit des Vaters und die spöttische Grausamkeit, die sich in den wilden Zügen des Sohnes aussprach, daß er von ihnen keine Gnade zu erwarten habe; und die öden Schlünde erinnerten ihn daran, daß trotz des Mutes seiner beiden Waffengefährten keine Spur seines Vorüberkommens zurückbleiben konnte – ebensowenig wie die Blitze am Gewölbe des Himmels eine solche zurückließen.
   Fast die ganze Nacht verfloß unter solchen moralischen Qualen, die durch seine körperlichen Leiden noch vermehrt wurden, während die beiden Piraten und die Indianer sich ablösten und unter dem Schutz ihrer Decken schliefen, je nachdem die Reihe an sie kam, ohne daß sie das Wasser, das auf sie niederströmte, zu beachten schienen. Es war eine traurige, grauenvolle Nacht. Indessen hatte jedoch der Mestize den schmerzenden Gliedern Fabians einige Erleichterung dadurch verschafft, daß er die Bande, mit denen sie gefesselt waren, ein wenig lockerte.
   Als der Himmel sich aufgeklärt hatte, machten die beiden Piraten am Ufer des Flusses halt, und zwar an einer Stelle, wo sich eine Gruppe von großen Bäumen mitten im hohen Gras erhob. Der erste Schimmer der Morgendämmerung verbreitete eben ein unbestimmtes Licht, und einer von den Indianern benützte den Augenblick, der den Tag von der Nacht scheidet, um sich nicht weit vom Lager auf die Jagd zu begeben. Es war die günstigste Zeit, um auf den Anstand von Hirschen oder Rehen zu gehen, die zum Fluß hinabstiegen.
   Fabian wurde im Kanu in einem an Vernichtung grenzenden Zustand der Erstarrung zurückgelassen, denn der Hunger verdoppelte noch das Unwohlsein, das er fühlte, und die traurigen Gedanken, die ihn beherrschten. Währenddessen zündeten der Mestize, sein Vater und der bei ihnen zurückgebliebene Indianer ein mächtiges Feuer an, um daran ihre durchnäßten Kleider zu trocknen.
   Der Jäger kam bald wieder mit einem Damhirsch auf den Schultern, den er geschossen hatte, zu ihnen zurück, und während er die fettesten und zartesten Stücke davon zum Frühstück braten ließ, lagen seine drei Gefährten am Feuer und schliefen. Als der Braten fertig war, wachten die Schläfer auf und begannen zu essen. Die Sonne war aufgegangen und strahlte an einem Himmel, auf dem keine Spur von dem schrecklichen Sturm am Abend vorher zurückgeblieben war.
   Der alte Renegat beschäftigte sich zuerst so sorgfältig mit dem Gefangenen, daß sein wilder Groll, den er noch von Fabians Worten her bewahrte, daraus hervorleuchtete. »Was wird der Schwarze Falke denken«, sagte er zu Sang-Mêlé, »wenn du ihm einen von Hunger und Leiden jeglicher Art halbtoten Gefangenen überlieferst? Welches Gesicht, welche Haltung soll denn dieser junge Landstreicher am Pfahl zeigen, wenn er nicht die Kraft hat, sich aufrecht zu halten?« »Er wird weniger lange leiden«, antwortete der Mestize gleichgültig. »Was kümmere ich mich darum?«
   »Aber ich kümmere mich darum!« rief der wilde Amerikaner aus. »Ich will sein Fleisch beben und sein Herz schwach werden sehen; ich will hören, wie er um Gnade bittet, und ihm meinerseits sagen können, daß er nur ein Feigling ist.«
   »Mach, was du willst, und laß mich in Ruhe!« sagte der Mestize ungeduldig, bei dem die Liebe vielleicht seine unbarmherzige Seele ein wenig milder stimmte.
   Main-Rouge nahm ein Stück Wildbret und ging zu dem nicht weit vom Feuer angebundenen Kanu. »Hat der Gefangene Hunger?«
   »Ja«, antwortete Fabian fest; »aber ich will nichts essen, und binnen hier und morgen werdet ihr nur noch den Leichnam Eures Gefangenen ins Wasser zu werfen haben.«
   »Der Gefangene ist nur ein falscher Tapferer«, sagte Main-Rouge, der sich in seiner Erwartung getäuscht sah.
   »Und Ihr seid eine wirkliche Memme. Schweigt! Eure Stimme ist meinen Ohren verhaßt wie der Geruch des Iltis meiner Nase.«
   »Oh«, rief der Renegat aus, »ich will dich mit meinen eigenen Händen martern und dir mit dem Fleisch deines Körpers den Widerruf deiner Worte entreißen. Ja, der Gefangene ist nur ein falscher Tapferer; wenn er seines Mutes gewiß wäre, so würde er essen, um seine Kräfte zu erhalten.«
   »Ich werde Euch Lügen strafen«, sagte Fabian, »und will essen; es sind ja auch jetzt zwei Jäger auf meiner Spur, die wollen, daß ich lebe; aber ich esse nicht wie ein Hund an der Kette.«
   »Ah, ah, der Gefangene macht seine Bedingungen.«
   »Ja«, erwiderte Fabian kaltblütig, »ich werde nur Nahrung zu mir nehmen, wenn meine Arme sich frei bewegen können.«
   »Gut, es soll geschehen, wie du es wünschst.«
   Bei diesen Worten hob der athletische Main-Rouge den ganz gefesselten Fabian aus dem Kanu, legte ihn nicht weit vom Feuer auf das Gras und ließ die Bande seiner Arme auf seine Füße niederfallen. Zum erstenmal seit zwölf Stunden konnte der arme junge Mann seine Arme mit einem Gefühl von Wollust frei ausstrecken; darauf lehnte er sich mit dem Rücken an den Stamm eines Baumes und nahm das Stück Wildbret, das ihm sein Henker reichte.
   Sang-Mêlé gab bald das Zeichen zum Aufbruch, und Fabian wurde abermals auf den Armen des alten Renegaten ins Kanu getragen; das war auch der Grund, warum die beiden Freunde des Gefangenen, als sie am folgenden Tag fast zur selben Stunde die um das Feuer und an den Ufern des Flusses zurückgelassenen Eindrücke genau untersuchten, die Spuren Fabians nicht fanden.
   Die Absicht des Mestizen war, ihre Schiffahrt nur bis zur Höhe der Büffelinsel fortzusetzen. Der Bandit wollte sich versichern, ob das Versteck, das ihren Raub umschloß, noch unberührt geblieben wäre. Sobald er einmal Gewißheit hiervon erhalten hatte, verlangte sein wohlverstandenes Interesse, seinen Weg während des folgenden Tages zu Land fortzusetzen, um die zahlreichen Krümmungen des Flusses zu vermeiden, wodurch die Entfernung bis zur Red Fork fast verdoppelt wurde.
   Main-Rouge und Sang-Mêlé nahmen die Ruder zur Hand, und als sie nach ziemlich kurzer Zeit von weitem die wohlbekannte Gestalt der Büffelinsel erblickten, lenkten sie ihr Kanu so, daß sie sehr nahe längs der Ufer hinfuhren. Die beiden Banditen konnten also im Vorüberfahren die kleine Lichtung, die die Frucht ihrer Räubereien bedeckte, übersehen: sie war unberührt, wie sie sie drei Tage zuvor verlassen hatten. Gewiß, wenn jemand den beiden Piraten der Prärien vorhergesagt hätte, daß nach vierundzwanzig Stunden dieses geheimnisvolle Versteck ausgewittert und aufgebrochen sein würde, daß die kostbaren Güter – die Waffen, die es enthielt teils in den Fluß geworfen, teils von den beiden Jägern, die sie den Qualen des Hungers preisgegeben glaubten, weggenommen und gegen sie selbst gekehrt sein würden, so hätte dieser Unglücksprophet vielleicht eine Kugel in den Kopf oder einen Messerstich in die Gurgel bekommen; sicherlich jedoch hätte seine Prophezeiung nur Ungläubige gefunden.
   Der Mestize steuerte, sobald er die Überzeugung gewonnen hatte, daß sein Versteck unverletzt sei, nach dem gegenüberliegenden Ufer. Ein Gefühl des Mißtrauens schien ihn zu warnen, nicht durch den mit Bäumen bedeckten Engpaß zu fahren, wo, wie wir gesehen haben, Rayon-Brülant und seine Verbündeten sich unter das Laubgewölbe begeben hatten, und er landete an einer Stelle, wo dichtes Gebüsch und hohes Gras es ihm möglich machten, das Rindenkanu, das er zurückließ, zu verbergen.
   Sang-Mêlé wußte, daß er sich nun auf dem Jagdgebiet der Lipanesen,Es ist hier der Ort, zu bemerken, daß man auf der ungeheuren Strecke zwischen dem Golf von Kalifornien und der Bai von Espiritu Santo neun kriegerische Stämme zur Familie der Apachen zählt; die furchtbarsten darunter heißen: Gilenos, Mescaleros, Lipanesen und Mimbrenos; diese vier stellen ungefähr 1400 Krieger. der Verbündeten des Stammes der Gilenos, zu denen der Schwarze Falke gehörte, befand und daß er in aller Sicherheit von der Büffelinsel bis zur Red Fork wandern konnte. In der Tat: Nach einem Marsch von kaum einigen Stunden stieß er auf zehn herumstreifende Lipanesen, die sich nichts Besseres wünschten, als sich ihm anzuschließen, sobald sie wußten, daß es darauf ankam, weiße Jäger anzugreifen und ihnen die Pferde wegzunehmen, die sie unter tausenderlei Mühseligkeiten eingefangen hatten. Diese räuberische Schar war nun vierzehn Mann stark und lagerte, bis es Nacht wurde, um dann ihren Marsch unter dem Schutz der Kühle und der Dunkelheit fortzusetzen.
   Main-Rouge hatte Fabian die Fesseln von seinen Füßen abgenommen, und dieser war, die Hände auf den Rücken gebunden, nicht ohne Anstrengung seinem Entführer gefolgt. Der junge Gefangene war zwar körperlich müde, aber geistig durchaus nicht niedergeschlagen; er saß in einiger Entfernung vom Feuer des Nachtlagers im Gras und wurde von zwei Indianern, die ihn keinen Augenblick verließen, bewacht, als drei lipanesische Kundschafter einen Indianer herbeibrachten, den sie in der Nähe des Lagers überrascht hatten.
   Der Indianer war ein Komantsche und wurde in seiner Eigenschaft als ein Sohn eines feindlichen Stammes gefesselt neben Fabian geworfen. Er sollte dem jungen Weißen als abschreckendes Beispiel der Todesmarter eines Kriegsgefangenen dienen. Der Komantsche verstand einige Worte Spanisch, und die Gefangenen, von denen der eine dem anderen den blutigen Todespfad zeigen sollte, konnten einige letzte Worte miteinander wechseln. Fabian nannte die beiden Jäger mit ihren indianischen Namen Adler und Spottvogel; er rühmte ihren Mut, ihre Kraft, ihre Geschicklichkeit und besonders die grenzenlose Anhänglichkeit an seine Person.
   »Und wie nennen diese Hunde den jungen Weißen, der nach mir sterben wird?« fragte der Indianer.
   »Den jungen Krieger aus dem Süden, den Sohn des Adlers der Schneegebirge«, antwortete Fabian.
   Sang-Mêlé unterbrach das traurige Zwiegespräch. Die Stunde des Komantschen hatte geschlagen. Dieser erhob sich und folgte dem Mestizen mit festem Schritt, indem er in seinem Todesgesang, den er anstimmte, den Namen und das Lob Rayon-Brûlants mischte, der ihn rächen sollte.
   Dieser Name brachte eine Änderung im Plan Sang-Mêlés hervor. Er hatte dem Schwarzen Falken versprochen, ihm Rayon-Brûlant auszuliefern, und die Gelegenheit war günstig, um sich gegen den jungen Komantschen einen falschen Schein von Anhänglichkeit und Großmut zu geben.
   »Mein Bruder«, sagte er zum Indianer, »ist einer von den Kriegern Rayon-Brûlants; er ist frei, weil die Freunde des Komantschen die Sang-Mêlés sind.« Und er entließ den Kundschafter, indem er zu ihm sagte: »Sang-Mêlé und seine Gefährten werden den Tag hindurch bei diesem Feuer bleiben; geh und sage dem Komantschenhäuptling, daß er hier willkommen sein wird und daß es für ihn dampfendes Wildbret gibt und Herzen, die sich bei seinem Anblick freuen.«
   Der listige Mestize wußte wohl, daß Rayon-Brûlant nicht kommen würde, sich an seinem Feuer niederzusetzen; aber er hoffte wenigstens ihn durch trügerische Worte einzuschläfern und ihn dahin zu bringen, daß er in ihm nur noch einen Freund sähe, der bereit wäre, ihm zu dienen, wenn nicht gar sich ihm ganz hinzugeben.
   Der Rest des Tages verfloß, und Rayon-Brûlant hütete sich wirklich, zu kommen. Am Abend vor Sonnenuntergang bestand der Häuptling der Lipanesen darauf, daß die ganze Schar wieder den Weg auf dem Red River in seinem Kriegskanu fortsetzte. Es war dies eine aus dem Stamm einer Zeder gearbeitete Piroge, lang, schmal und mit flachem Boden. Sie konnte zwanzig Mann tragen, und ihr schneller Gang mußte die langen Krümmungen des Flusses wieder ausgleichen.
   Das Anerbieten wurde von den beiden Piraten der Steppe angenommen, und Fabian folgte ihnen mit leichtem Herzen, seitdem er wußte, daß ein Feind Sang-Mêlés ihn gesehen und seinen Namen erfahren hatte und daß er zu seinem Häuptling zurückkehrte, ohne sich von den friedlichen Worten des Mestizen täuschen zu lassen. Wenn nun – wie er nicht zweifelte – Bois-Rosé und Pepe seiner Spur folgten, so konnte der Zufall sie leicht mit dem Komantschenkrieger zusammenführen. Der Zufall diente ihm besser, als er hoffte, auf diese Weise erhielten die beiden Jäger die letzten ihn betreffenden Nachrichten und fanden in Rayon-Brûlant einen Verbündeten, ohne den sie wahrscheinlich in diesem letzten Scharmützel unterlegen wären.
   Trotz ihres schnellen Laufes legte doch die indianische Kriegspiroge die Entfernung bis zur Red Fork nicht so schnell zurück, als es hätte geschehen müssen. Einer von den lipanesischen Räubern hatte einen Schlauch mit Mescal bei sich, wie ihn die Indianer aus der Wurzel der Aloë destillieren und der davon den Namen der Mescaleros erhalten hat. Szenen der Verwirrung und der Trunkenheit machten den Lauf des Fahrzeuges langsamer und hätten mehr als einmal die Reise beinahe blutig gemacht.
   Schläfrigkeit folgte bald dem rasenden Taumel, und die Piroge fuhr während eines Teils der Nacht unter dem Druck ihrer vom Feuerwasser berauschten Ruderer mehr als einmal auf dem Fluß hin und her. Erst bei Sonnenaufgang konnte die Schar Sang-Mêlés endlich den Zusammenfluß des Red River, die Red Fork genannt, erreichen.


   72. Red Fork

   Das Tal der Red Fork bietet einen imposanten und wilden Anblick dar. Eine doppelte Kette hoher Berge umgibt es von beiden Seiten. Im Norden ist es der große Zug der Kordilleren mit ihren blauen, spitzen Zacken, die bald von Wolken, die in ihrem Lauf durch die scharfen Gipfel aufgehalten werden, umkränzt erscheinen oder je nach der Jahreszeit ein strahlendes Diadem von blendendem Schnee tragen, der den Winter hindurch liegenbleibt und unter der heißen Luft, die aus dem Tal emporsteigt, zusammenschmilzt. Im Süden erblickt das Auge eine andere niedere Bergkette, deren zerrissene Seiten gähnende Schluchten und düstere Granitfelsen sehen lassen, deren rauhe Umrisse kaum durch die blaue Ferne gemildert werden.
   Ein Flächenraum von etwa zehn Meilen liegt zwischen diesen beiden Sierren; in dessen Mitte fließen von Westen nach Osten zwei Arme des Red River; der eine ist fast immer ausgetrocknet, der andere rollt seine riesigen Gewässer mitten durch das hohe Gras, das das eine Ufer bedeckt und wie ein Ozean mit grünen Wogen aussieht, dessen Wellen sich am Saum des ungeheuren Waldes um den Büffelsee brechen.
   Der Raum zwischen den beiden Armen des Flusses wird in der Regenzeit durch das Austreten des Hauptarms des Red River unter Wasser gesetzt. In diesem Arm haben die Biber Dämme gebaut, wodurch die Gewässer aus dem engen Bett am Fuß der Kordilleren austreten.
   Hier ist ein feuchter und morastiger Boden. Schlammige tiefe Lagunen breiten ihre schlafenden Gewässer unter einer scheinbar festen Decke aus; andere, hellere Wasserflächen spiegeln sich in der Sonne, von undurchdringlichem Weidendickicht umgeben; im trockneren Teil steht Gehölz von Baumwollstauden, deren Stämme dicht zusammengedrängt sind; dazwischen haben sich Zweige geschlungen und bilden dichte Gebüsche, wo nur die Axt des Indianers oder des Jägers sich einen engen Durchgang zu öffnen vermag.
   Der Mensch erscheint nur sehr selten in diesem einsamen, schweigenden Tal. Nur zuweilen zeigt sich auf dem Felsengipfel der südlichen Sierra ein Gebirgsjäger, seine Fallen und seine lange Büchse auf der Schulter, um den Lauf des Flusses zu erkennen und einen raschen Blick auf die Biberhütten zu werfen; zuweilen gleitet auch ein Indianer in seinem Rindenkanu geräuschlos den Fluß hinab und sucht nach dem Jäger oder nach der Spur der Büffel. Mit Ausnahme des Windes, der ständig durch das hohe Gras weht oder in den Weidengebüschen seufzt, stört nur wenig Geräusch das ruhige Tal der Red Fork. Nur zuweilen stürzt in langen Zwischenräumen ein von den Zähnen des Bibers durchnagter Baum mit lautem Krachen zusammen; nur zuweilen hört man hier das Brüllen des Büffels oder sieht die Raubvögel über der schwimmenden Leiche eines im Wasser treibenden Bisons kreisen und vernimmt mitten im Schweigen des Tals ihren schaurigen, beutegierigen Schrei.
   Wir schildern gern die Gegenden genauer, um nicht den Leser aufs Geratewohl herumirren zu lassen, und wiederholen deshalb hier, was wir schon einige Kapitel früher gesagt haben: daß nämlich der Waldsaum, in dessen dichtem Schatten der Büffelsee versteckt liegt, vom rechten Ufer des Flusses, wo eben die indianische Räuberbande gelandet ist und wo der Schwarze Falke mit seinen Kriegern bald zu ihnen stoßen wird, ungefähr eine Meile entfernt liegt und daß der Boden nur eine gelbliche Oberfläche von wogendem Gras darbietet. Jenseits erstrecken sich vom linken Ufer an die morastigen Gegenden, die wir eben erwähnt haben.
   Die Jäger und die Trapper erzählen sich noch heutigentags die blutigen Szenen, die sich im Tal der Red Fork ereigneten; wir hoffen demnach, daß man uns entschuldigen wird, wenn wir deren Schauplatz so ausführlich beschrieben haben.
   Die Augen des alten amerikanischen Renegaten waren noch von den Dünsten des Mescals umnebelt, als die Piroge in einer kleinen Bucht des Flusses landete. Sang-Mêlé allein hatte in dieser Nacht eine seltene Ausnahme von seiner gewöhnlichen Unmäßigkeit gemacht. Er war sich bewußt, daß er seine ganze Kaltblütigkeit aufbieten müsse, um seine Pläne der Entführung und der Plünderung zu verwirklichen.
   Als Vater und Sohn an Land stiegen, grollte im Herzen des Mestizen noch der Zorn gegen Main-Rouge, obgleich er ihn reichlich ausgeschüttet hatte. »Wir werden sehen«, sagte Sang-Mêlé in rauhem Ton zu ihm, »ob du noch zu etwas anderem gut sein wirst als dich wie ein Anfänger im Feuerwasser zu berauschen. Geh mit dem Gefangenen wieder über den Fluß, wirf ihn bis zu meiner Rückkehr in ein dichtes Baumwollstaudengebüsch, und erinnere dich, daß du dem Schwarzen Falken für ihn verantwortlich bist!«
   »Ach ja!« antwortete Main-Rouge mit einem stumpfsinnigen, ironischen Lächeln. »Die Taube des Büffelsees …«
   Ein zorniger Blick seines Sohnes verbot dem Amerikaner, weiterzusprechen.
   »Wahrhaftig, ich nehme es an; denn meine Augenlider sind so schwer wie die ledernen Vorhänge meiner Hütte; ich werde neben dem Gefangenen schlafen und Sorge tragen, noch einen Riemen den übrigen hinzuzufügen, mit denen ich ihn schon geschmückt habe.«
   Den Befehlen des Mestizen gemäß fuhr die Piroge, auf deren Boden man Fabian mit gebundenen Händen und Füßen geworfen hatte, mit drei Ruderern zum entgegengesetzten Ufer des Flusses. Main-Rouge wankte zwar ein wenig auf seinen Beinen, trug aber doch den Körper des Gefangenen hinter eine dichte Gruppe von Bäumen und Gesträuchen, einige Schritt vom Ufer. Einer von den Indianern legte sich ebenso wie er selbst neben Fabian nieder, und als die beiden anderen Räuber abermals über den Fluß gesetzt waren, um sich wieder mit dem Mestizen zu treffen, wäre es unmöglich gewesen, zu ahnen, daß drei Männer im Schatten der Baumwollstauden verborgen lagen.
   Nachdem diese Vorsichtsmaßnahme für den Fall irgendeines Ereignisses getroffen war, wurde die Piroge ans Ufer gezogen und nicht ohne Mühe auf den Armen der ganzen Schar mitten in das Gras getragen, das man sorgfältig über das Fahrzeug deckte, um es den Augen aller zu verbergen und zu dem Glauben zu verleiten, daß die Halme dieser mächtigen Vegetation nur durch einen Windstoß so niedergebeugt worden wären. Sang-Mêlé stellte darauf zwei Indianer als Vorposten auf die Ufer des Flusses – beinahe dem Ort gegenüber, wo Fabian unter der Aussicht des Renegaten zurückgeblieben war – dann verteilte er die anderen in gewissen Entfernungen vereinzelt in der Ebene, mit dem Befehl, auf die Ankunft der Verbündeten, die er erwartete, achtzugeben. Als das Tal das Ansehen ruhiger Einsamkeit wieder angenommen hatte, dachte er an die Ausführung des Plans, den er entworfen hatte.
   Der Mestize band zuerst die roten Bänder los, die seine Haare schmückten; er tauchte sein Gesicht in das Wasser des Flusses und ließ so die Malereien verschwinden, mit denen er es nach indianischer Sitte verschönert hatte; er zog seinen Jagdkittel von scharlachrotem Tuch aus und legte seine ledernen, mit Schellen geschmückten Gamaschen ab, so daß er von seinem ersten Anzug nur seine bestickten Mokassins beibehielt, wie sie der an den Ufern des Sees bei Don Agustin zurückgebliebene Büffeljäger ebenfalls trug. Endlich zog er aus einer kleinen Reisetasche ein blau und rot kariertes Taschentuch, das er um sein langes, wallendes Haar band, Beinkleider von dunkler Leinwand und eine kattunene Jacke, womit er sich wieder bekleidete; und als er nun mit Ausnahme eines breitgeränderten mexikanischen Hutes – fast den Anzug eines Weißen angelegt hatte, warf er seine Büchse über die Schulter und wandte sich zum Büffelsee.
   Es war der siebente Tag nach seinem Aufbruch von demselben Ort, wo Don Agustin kaum angekommen war, als er ihn verlassen hatte; und Sang-Mêlé wußte recht gut, daß die letzten Vorbereitungen zu einer Jagd auf wilde Pferde – deren Herantreiben und die zu einer Bändigung durch Hunger und zur Zähmung durch andere Pferde nötige Zeit – den Jägern etwa zehn Tage weggenommen hatten. Als er demnach die Entfernung berechnete, die ihn vom See, wo sich die Mexikaner gelagert hatten, trennte, wurde er sicher, daß er sie noch dort antreffen würde. Nachdem er so die Ebene durchwandert hatte und einige Augenblicke im Wald gegangen war, schlugen das Wiehern von Pferden und ein verwirrter Lärm von menschlichen Stimmen an sein Ohr; der Mestize empfand darüber nur eine sehr lebhafte Freude ohne die geringste Mischung von Erstaunen.
   Bisher war sein Marsch vorsichtig und krumm gewesen wie der Gang einer wilden Katze, nun aber nahm er eine freiere Haltung an. Er warf seine Büchse am Riemen über die Schulter, näherte sich, ohne weiter seine Ankunft verheimlichen zu wollen, mit festem Schritt und pfeifend wie ein müßiger Jäger dem Ort, wo sich der Lärm hören ließ. Da niemand seine Annäherung bemerkt hatte, so konnte er doch – als er eine Lichtung im Wald erreichte, von wo er, ohne gesehen zu werden, alles überblicken konnte – dem Verlangen nicht widerstehen, das, was unter seinen Augen vorging, genauer zu betrachten.
   Plötzlich verdunkelte eine Wolke heftigen Unmuts das düstere Antlitz des Mestizen. Ein halbes Dutzend Pferde standen gesattelt; drei von ihnen waren reich aufgezäumt, Verzierungen von gediegenem Silber, Samt und goldene und seidene Stickereien waren so zahlreich angebracht, daß man wohl schließen konnte, sie gehörten den Herrschaften. Alles schien die Vorbereitungen zur bevorstehenden Abreise anzudeuten.
   Das Gesicht des Mestizen wurde aber bald wieder heiter. Das seidene Zelt Doña Rosaritas und das des Hacenderos standen immer noch aufrecht; die Lasttiere weideten ruhig in einiger Entfernung, und die Flaschenfutter zur Reise, die Packsättel und alles Gepäck waren sorgfältig nicht weit von den Zelten geordnet. Der Weiße wollte also wahrscheinlich nur auf einem Ausflug in die Umgebung an den Ufern des Flusses oder bei einer Hirschjagd Zerstreuung suchen. In der Tat erschien auch bald Rosarita, von ihrem Vater gerufen, der, gestiefelt und gespornt, bereit war, aufs Pferd zu steigen. Auf der Schwelle ihres kleinen Zeltes war sie noch verführerischer, als der Mestize sie sich in seinen Erinnerungen während der eben verflossenen Woche vorgestellt hatte. Das kam daher, weil sich mit den schönen Zügen des jungen Mädchens noch jene unbeschreibliche Harmonie verband, die sich dem Gedächtnis nur unvollständig eingeprägt und die jenen lieblichen Wohlgerüchen gleicht, die man mit Wollust einatmet, deren köstlichen Duft man aber nicht festzuhalten vermag. Es ist jene unfaßbare Schönheit, die zwar überall hervorleuchtet und gewisse Gesichter rings umstrahlt, die aber der Pinsel nicht wiederzugeben vermag, weil sie immer neu ist. Diese Ohnmacht des Pinsels, jenen magnetischen Reiz wiederzugeben, macht es auch erklärlich, wie wir vor den Porträts gewisser durch ihre Schönheit berühmter Frauen kalt bleiben, weil der Maler trotz seiner Geschicklichkeit wohl die Formen und die Farbe der Blume der Nachwelt hat überliefern können, nicht aber, wie sie auf ihrem Stengel erbebte und Wohlgerüche ausströmte.
   Die wilden Augen des Mestizen, die nur indianische Schönheiten zu sehen gewohnt waren, funkelten unter seinen schwarzen Brauen, und eine teuflische Freude glänzte auf seinen bronzenen Zügen: der Zufall sollte ihm den Gegenstand einer Leidenschaft überliefern, die zügellos war wie alle Wünsche, die das indianische Blut seiner Mutter in seinen Adern entzündete.
   Der Mestize beschloß nun, sich nicht zu zeigen. Er ging Schritt für Schritt rückwärts, die Augen immer auf das junge Mädchen geheftet, ohne sich umzuwenden, und nachdem so allmählich Gesträuch und Laub die Szene seinem Blick entzogen hatten, streckte er sich schweigend auf den Boden und blieb unbeweglich im Bereich der Stimme derer liegen, die er belauerte.
   »Don Francisco«, sagte Encinas zu einem der Diener des Hacenderos, »wenn Ihr einige frische Büffelspuren am Ufer des Biberteichs seht, so werdet Ihr es mir bei der Rückkehr sagen, und zur Wiedervergeltung für das Schauspiel einer Jagd auf wilde Pferde, das Ihr uns gegeben habt, werden meine Kameraden und ich Euch das einer Büffeljagd geben, die gewiß etwas Verdienstliches hat. Jetzt will ich Euch auf den Weg bringen, dem Ihr folgen müßt, um aus dem Wald zu gelangen.«
   Der Senator, Don Agustin und seine Tochter stiegen in diesem Augenblick auf ihre Pferde, und der kleine Reiterzug schlug, von dem kräftigen Büffeljäger geführt und von den drei Dienern gefolgt, einen schmalen Fußsteig ein, der in die Ebene hinausführte und sich durch das lange Gras hindurchschlängelte. Hier trennte sich Encinas von den Reitern, indem er ihnen einen angenehmen Spazierritt wünschte und ihnen eine Furt, wo sie über den Fluß setzen sollten, und dann den Weg zeigte, der zum Biberteich führte, wo das junge Mädchen die merkwürdigen Arbeiten der Tiere sehen wollte.
   »Don Agustin«, rief Francisco dem Hacendero zu, nachdem sie einige Augenblicke auf dem von den Büffeln glattgetretenen Fußpfad vorwärts geritten waren, »dort unten könnte sich wohl ein Büffel oder ein wildes Pferd befinden. Man sieht das lange Gras sich bewegen wie unter der Last eines dieser Tiere.«
   In der Tat lief nicht weit vom Zug eine wellenförmige Linie durch die hohen Halme, als ob ein Pferd oder ein Büffel sie auf der Flucht niedergedrückt hätte. Das Tier – wenn es ein solches war – mußte den Weg, den der Reiterzug verfolgte, im rechten Winkel abschneiden, denn die Linie, die es im Gras zog, beschrieb einen Halbkreis vor den Pferden, und dieser Kreis näherte sich dem Fußpfad. Plötzlich hörte die bewegliche Furche, die sich auf der Oberfläche des Grases bildete, auf, und man sah nichts weiter als dessen üppige und regelmäßige Wallungen unter dem Hauch des Windes.
   »Es ist irgendein durch unsere Gegenwart erschreckter Damhirsch«, sagte der Hacendero; »denn dieses Gras ist nicht lang genug, um die Sprünge eines wilden Pferdes oder eines Büffels ganz zu verbergen.«
   Der Reiterzug zog vorüber, und erst lange nach diesem kleinen Ereignis öffnete sich abermals eine neue Furche auf der Oberfläche des Grases und nahm ihre Richtung zu der Stelle, wo die von den Mestizen als Posten aufgestellten Indianer im Hinterhalt lagen. Die Diener Don Agustins waren zu weit entfernt, um noch Sang-Mêlé unterscheiden zu können, dessen hohe Gestalt sich wieder aufgerichtet hatte und der zuweilen das Taschentuch zeigte, mit dem sein Kopf bedeckt war.
   Der Zug bewegte sich langsam vorwärts, wie es gewöhnlich des Morgens der Fall ist, wenn das Herz sich unter einem erfrischenden Lufthauch neuen Lebens zu öffnen scheint, das in der ganzen Natur ringsum wieder erwacht. Der Aufgang und der Untergang der Sonne, das sind die Stunden der süßen Gedanken in der freien Natur – frischer des Morgens, ernster des Abends; die ersteren lächeln gern der Zukunft entgegen, die zweiten lieber der Vergangenheit zu. In der Jugend haben diese Träumereien eine gleiche Lieblichkeit, denn die Jugend hat ja kaum eine Vergangenheit, und dann hat sie auch eine so lange Zukunft vor sich!
   Doña Rosarita war vom Zauber dieser süßen Eindrücke befangen. Ihre eigene Vergangenheit bestand kaum aus wenigen Tagen. Auch zweifelte sie in diesem Augenblick nicht, ob sie eine ihr so nahe Vergangenheit oder eine weite Zukunft wählen sollte, und in dem sie ihr Pferd im Schritt gehen ließ, gefiel sie sich darin, den Augenblick vorherzusehen, wo Fabian, ebenso verliebt und vielleicht scharfsichtiger als früher, zur Hacienda zurückkehren würde. Während sie aber ihre Träume liebkoste, befand sich Fabian nicht weit von ihr, gefesselt und bestimmt, eines schrecklichen Todes zu sterben; eine furchtbare Gefahr drohte ihr selbst – und Rosarita lächelte immer noch ihren Gedanken zu.
   In dem Augenblick, als der Zug endlich vom Fußpfad an die Ufer des Flusses gelangte, schienen seine breiten Gewässer den Reitern so tief zu sein, daß ihnen der Gedanke kam, Encinas hätte sich vielleicht geirrt, wenn er versicherte, sie müßten in einiger Entfernung eine Furt finden, um über den Fluß zu setzen.
   Als Don Agustin und der Senator sich über diesen Punkt berieten, rief der erstere aus: »Gott verzeihe mir! Diese Ufer, die ich so verlassen glaubte, sind bewohnt; ich sehe einen Menschen dort unten!«
   »Ein Weißer wie wir«, sagte Rosarita, die von der Stimme ihres Vaters aus ihren Gedanken aufgeschreckt worden war; »Gott sei gelobt!«
   »Es ist ein Weißer, wenn man es aus seinem Anzug schließen darf.«
   Don Agustin gab ohne Mißtrauen Francisco den Befehl, hinzureiten und diesen Mann über die Lage der Furt zu befragen; ohne Mißtrauen, haben wir gesagt – und in der Tat: Welches Mißtrauen hätte wohl eine einzelne Person wie diese hier erregen können, die sich friedlich an den Ufern eines öden Flusses damit beschäftigte, Steine auf dem Wasser springen zu lassen?
   Als der Diener zu ihm kam, ohne daß der in Rede stehende Mann, der ein kariertes Taschentuch um den Kopf gewickelt trug, seine Gegenwart zu bemerken schien, noch auch seine Belustigungen aussetzte, befragte er ihn. Was er antwortete, gelangte nicht bis zu den Ohren der wartenden Männer. Sie sahen nur, wie der Unbekannte sich ihnen mit baumelnden Armen, linkischem Gang und teilnahmslosen Augen näherte.
   »Verzeihung, Señor«, sagte er, und wandte sich mit einem stark ausgeprägten englischen Akzent an Don Agustin, »aber ein einsamer Trapper muß wissen, an wen er sich in diesen Steppen wendet. Ihr fragt also nach der Furt des Red River?«
   »Ja, mein Freund«, erwiderte der Hacendero und prüfte mit Kennerblicken den seltsamen Ausdruck im Gesicht des Unbekannten.
   Aber dieses verlor unter dem mißtrauischen Blick Don Agustins nichts von seiner Miene gleichgültiger Gutmütigkeit. »Wäre es etwa, um zum Biberteich zu gehen?«
   »Ganz recht«, antwortete der Senator; »diese junge Dame wünscht das seltsame Schauspiel zu sehen.« »Hm«, murmelte der Unbekannte, »ich habe meine Fallen dort aufgestellt; die Fallen eines armen Jägers sind sein Leben und sein Vermögen. Am Ende jedoch«, fügte er hinzu, »wenn Euer Gnaden einfach nur sehen wollen, werde ich Euch unter einer Bedingung hinführen.«
   Der Hacendero blickte immer noch den amerikanischen Trapper fest an; sein Gesicht schien ihm nicht unbekannt.
   »Ihr habt ohne Zweifel noch keinen Trapper gesehen«, sagte der Biberjäger mit Gelächter in guter Laune, »und darum seht Ihr mich so aufmerksam an. Was den Biberteich anlangt, so will ich Euch hinführen, wenn Ihr mir versprecht, nur zu sehen und kein Gewehr abzufeuern. Die Furt ist links auf dieser Seite.«
   »Auf der linken Seite?« unterbrach ihn Don Agustin. »Man hatte sie uns auf der entgegengesetzten Seite bezeichnet.«
   »Irgendein Prahler ohne Zweifel, wie es deren so viele gibt, die sich einbilden, die Gegenden, die sie nicht gesehen haben, besser zu kennen als diejenigen, die sie oft besuchen. Wenn übrigens Euer Gnaden einen Versuch machen wollen, eine andere Furt als die einzige, die sich hier befindet, zu entdecken, so steht es Euch frei … Ich bin Euer gehorsamster Diener.« Und der Unbekannte nahm mit vollständiger Gleichgültigkeit sein unschuldiges Vergnügen wieder auf, Steine auf die Oberfläche des Flusses zu werfen, ohne sich weiter mit den Reitern zu beschäftigen.
   »Encinas wird sich geirrt haben«, sagte der Senator zu Don Agustin. »Heda, mein Freund!« rief er auf einen Wink des Hacenderos dem Trapper zu. »Wir treten Eurer Ansicht bei und wollen Euch folgen!« »Ihr tut sehr wohl daran«, sagte der Unbekannte und folgte aufmerksam mit den Augen dem vierten Sprung, den der letzte von ihm geworfene Stein eben auf dem Wasser machte; »ich stehe zu euren Diensten. Hierher!« begann er wieder, als der von seinem kräftigen Arm geworfene Stein zischend im Fluß verschwunden war.
   Der Trapper nahm nun seinen linkischen, aber raschen Schritt wieder an und ging den Fluß stromauf anstatt abwärts, wie es der Büffeljäger in seinen Anweisungen empfohlen hatte. Die Reiter folgten ihm.
   »Habt Ihr nicht irgendwo dieses Gesicht gesehen?« fragte der Hacendero leise den Senator. »Ich suche mich vergeblich zu erinnern …«
   »Wo wollt Ihr diesen Grobian gesehen haben?« erwiderte Tragaduros im selben Ton. »Es ist einer von jenen halbwilden Jägern, wie die sind, die ich eines Abends an der Poza traf.«
   »Ihr mögt sagen, was Ihr wollt; es liegt auf diesem Gesicht etwas wie eine Maske, die seinen wirklichen Ausdruck verhüllt – ich möchte darauf wetten! Aber was liegt daran?«
   Der Reiterzug folgte dem Trapper schweigend einige hundert Schritt weit; nicht, ohne daß diejenigen, die ihn bildeten, sich gewundert hätten über die Entfernung, die die Furt von dem sich durch das Gras der Ebene hinziehenden Fußpfad zu trennen schien. Rosarita sagte nichts; sie setzte ihre angefangenen Träumereien fort, die sanft vom Murmeln des Schilfs im Fluß, vom Geschrei der im Sumpf fischenden Brachschnepfen und von all den Stimmen, die des Morgens an den Ufern der großen Flüsse ihren Gesang ertönen lassen, eingewiegt wurden.
   Der Trapper schien die Ungeduld der Reisenden, die er führte, erheitern zu wollen und brach zum erstenmal seit einigen Minuten das Schweigen, indem er die Stimme erhob. »Ah, die Biber sind erfinderische Tiere«, sagte er, »und oft habe ich sie in dem einsamen und gefahrvollen Leben, das ein armer Trapper führt, lange Zeit schweigend beobachtet. Mehr als einmal hat mich das Geräusch ihrer Schwänze, mit denen sie ihr Mauerwerk aus Pfählen und Ton schlagen, in der Stille der Einöden an den wohlbekannten Ton des Schlägels der Wäscherinnen an den Ufern des Illinois erinnert, und ich habe oft seufzen müssen, wenn ich an mein Vaterland dachte.«
   »Ihr seid in der Tat fern von Eurer Heimat«, sagte Rosarita, die die Sprache des Jägers in einem jener Augenblicke gerührt hatte, wo das Herz sich so leicht dem Mitleid öffnet.
   »Ich bin aus Illinois, Señorita«, antwortete der Trapper mit ernstem Ton und setzte seinen Marsch fort. »Horch! Hört sie!« sprach er nach einem neuen Schweigen weiter. »Hört ihr das Geräusch, von dem ich sprach?«
   Die Reisenden konnten in der Tat einen entfernten Lärm vernehmen, ähnlich demjenigen, den der Schlägel auf nasse Linnen hervorbringt.
   »Aber«, fuhr der Jäger fort, nachdem er selbst aufmerksam gelauscht hatte, »wenn die Biber so arbeiten, dann denken sie nicht daran, sich zu belustigen und in meine Fallen zu gehen. Ich will sie ein wenig erschrecken, um sie zu beunruhigen!« So sprechend stieß der Jäger in kurzen Zwischenräumen voneinander drei dumpfe, laut klingende Töne aus seiner Brust hervor, die seine Hörer unwillkürlich erbeben ließen. Man hätte meinen sollen, es wären die rauhen und doch laut klingenden Töne gewesen, die der amerikanische Löwe in den Einöden ausstößt. Alles ferne Geräusch hörte auf; selbst die Stimme der Sumpfvögel schwieg.
   Der Trapper lächelte über das Erstaunen der Reiter und blieb stehen.
   Sie waren an dem spitzen Winkel angelangt, der von den beiden sich trennenden Armen des Flusses gebildet wird; zur Linken der Reiter, die am Fluß entlangritten, verbarg höheres und dichteres Gras die Ebene; zu ihrer Rechten erhob sich ein Weidendickicht auf dem entgegengesetzten Ufer.
   »Der Fluß kommt mir sehr tief vor für eine Furt an dieser Stelle«, bemerkte Don Agustin.
   »Seine Gewässer sind trüb, und man sieht nicht bis auf den Grund«, antwortete der Trapper. »Da es nicht billig sein würde«, fuhr er fort, »daß ich für den Gefallen, den ich Euer Gnaden erweise, gezwungen wäre, bis ans Knie ins Wasser zu gehen, so möchte ich einen von euch um die Erlaubnis bitten, hinten aufsitzen zu dürfen, und ich würde euch den Weg zeigen, obgleich ein Trapper ein ziemlich trauriger Reiter ist.«
   Francisco machte den Vorschlag, den Führer hinter sich aufsitzen zu lassen; der Amerikaner nahm es an und stieg nicht ohne große Anstrengungen auf den Rücken des Pferdes hinter dem Sattel. Als er sich gesetzt hatte, sagte er: »Spornt Euer Tier geradeaus.«
   Aber sei es nun, daß das Pferd Furcht hatte, sei es, daß die Fersen des Trappers unangenehm seine Weichen kitzelten – es weigerte sich zu gehen und schlug hinten aus. Nun legte der Trapper seinen linken Arm unter den Franciscos und nahm den Zügel in die Hand; das Tier weigerte sich immer noch.
   »Laßt Euer Pferd neben das unsrige kommen«, sagte der Amerikaner zu einem von den anderen Dienern; »wenn die beiden Tiere nebeneinander gehen, werden sie sich gegenseitig ermutigen.«
   Der Diener gehorchte, und die beiden Pferde traten in den Fluß, wie es der Trapper versichert hatte.
   Plötzlich ließ sich hinter den Reitern mitten im Gras ein ähnliches Gebrüll hören wie dasjenige, das der Trapper ausgestoßen hatte, um angeblich die Biber zu erschrecken. Die durch dieses unerwartete Ereignis verursachte Bestürzung verwandelte sich rasch in tiefen Schrecken.
   Der Mestize – denn wir haben wohl nicht nötig, zu sagen, wer der falsche Trapper war – antwortete durch ein ähnliches Gebrüll, und sein Messer fuhr bis ans Heft in den Rücken des unglücklichen Francisco. Die eiserne Hand Sang-Mêlés hob ihn aus dem Sattel, und der Mestize setzte sich selbst in diesem fest, während der Diener kopfüber ins Wasser stürzte. Der Mestize warf seine Büchse hinter sich in das hohe Gras am Ufer; mit einer Hand ergriff er den Zügel des Pferdes neben dem seinigen, brachte es zum Aufbäumen, und in dem Augenblick, wo der zweite Diener aus dem Sattel glitt, traf der Arm des Mestizen den Reiter, der zu seinem Kameraden hinabrollte.
   Dies alles hatte sich so rasch zugetragen, daß der Senator und der Hacendero nicht Zeit gehabt hatten, sich in Verteidigungszustand zu setzen, als schon acht Indianer, durch Sang-Mêlés Signal benachrichtigt, sich auf sie gestürzt, sie von ihren Pferden geworfen und in das hohe Gras getragen hatten, das das Ufer bedeckte.
   Beim Anblick der Wilden, die Herren des Stromufers waren, hatte der dritte Diener allein sein Pferd mitten in den Fluß getrieben, der ihn mit fortriß; denn die Furt war sehr weit von hier. Plötzlich fiel auf den Ruf des Mestizen ein Schuß aus dem Gesträuch des entgegengesetzten Ufers und warf den Diener in den Strom. Im gleichen Augenblick warf sich ein Indianer in den Fluß, um sich des reiterlosen Pferdes zu bemächtigen.
   Was Rosarita anlangt, so war sie noch bleicher als die Blüte der Wasserlilien am Büffelsee; ihre Augen blickten starr, der Mund war halb geöffnet wie der einer Alabasterstatue; kein Schrei vermochte ihre beklommene Brust zu erleichtern; sie wurde herabgerissen und so fiel sie vom Pferd in die Arme des falschen Trappers. Erst bei der abscheulichen Berührung seiner Arme, die sie gierig umschlossen, hatte sie zum erstenmal mitten unter diesen schrecklichen Ereignissen das Bewußtsein von dem Schicksal, das ihr aufbewahrt war. Jetzt erst stieß sie einen herzzerreißenden Schrei aus und schloß fast ohnmächtig die Augen.
   Während dieses raschen Übergangs vom Leben zur Bewußtlosigkeit glaubte sie jedoch einen anderen Angstschrei zu vernehmen; die Luft trug ihr etwas wie die letzten Silben ihres Namens zu. Diese Stimme war nicht die ihres Vaters; es war der bekannte Ton einer sehr treuen Stimme, die eine Sekunde in ihren Ohren wie das Echo einer fernen Welt erklang. »Habe Dank, mein Gott!« murmelte sie in der Tiefe ihres Herzens. »Du hast gewollt, daß seine Stimme das letzte ist, was ich in dieser Welt vernehme …«
   Die Gefühllosigkeit des Körpers erstickte bei Rosarita bald auch den Gedanken.
   In der Tat war der Schrei von der anderen Seite des Flusses herübergeklungen, wo der alte Renegat und ein Indianer Fabian nicht aus den Augen ließen.


   73. Ein kritischer Augenblick

   Kaum waren die drei Gefangenen mitten in das dichte Gras gebracht, das die indianische Piroge verbarg – und zwar die beiden Männer fest geknebelt wie Fabian, der durch eine kurze Entfernung von ihnen getrennt wurde —, kaum war Rosarita, noch immer ohne Besinnung, von dem Mestizen in der Nähe ihres Vaters niedergelegt worden, als einer von den Indianern eine große Staubwolke stromaufwärts anzeigte.
   Die an den Spitzen der Lanzen flatternden Skalpe, die Mäntel aus Büffelhaut, die mitten in dieser Wolke, die zuweilen von den Strahlen der Sonne durchbrochen wurde, hin und her flogen, und das Wiehern der Pferde, das der Wind herbeitrug – alles verkündete die Ankunft des Schwarzen Falken und seiner Bande. Reiter sprengten mitten durch die über ihnen schwebende Staubdecke mit wilden Schwenkungen und lautem Geschrei; alle diese mit schreienden Farben bemalten Gesichter, die phantastischen Zierate dieser plündernden Ritter der Steppe, die in der Sonne funkelnden Streitäxte, die im Takt geschlagenen Schilde – alles gab dieser regellosen Truppe das schrecklichste Aussehen.
   Die Rufe »Der Schwarze Falke!«, »Main-Rouge! Sang-Mêlé!« erhoben sich bald auf beiden Seiten, und in einem Nu stürzten die Verbündeten des Mestizen, als ob sie einen wütenden Angriff hätten ausführen wollen, im Galopp vorwärts, indem sie ein ohrenzerreißendes Geheul ausstießen; dann öffnete sich der Zug, beschrieb in vollem Lauf einen raschen Kreis um Sang-Mêlé und seine Indianer, und in einem Augenblick wurde jedes Pferd plötzlich angehalten und stand unbeweglich auf seinen zitternden Sprungfesseln.
   Ein tiefes Schweigen war dem Getümmel gefolgt. Der Mestize hatte noch seinen falschen Anzug an und erwartete aufrecht und ohne einen Schritt vorwärts zu tun, die Ankunft des Häuptlings.
   Dieser saß, obgleich sein Gesicht noch durch den Schmerz von seiner frischen Wunde zusammengezogen war, gerade und fest auf seinem Pferd. Er näherte sich dem Mestizen, den er trotz seiner Verkleidung sogleich wiedererkannte und streckte dem Sohn von Main-Rouge mit einer Miene ruhiger und stolzer Majestät die Hand entgegen.
   »Der Indianer, der Sohn eines Weißen, erwartete seine Verbündeten«, sagte der Mestize.
   »Ist es nicht heute die dritte Sonne?« erwiderte der Schwarze Falke. »El Mestizo hat seine Zeit genützt.« Er zeigte mit dem Finger auf die Gefangenen.
   »Diese hier sind nicht die einzigen; dort ist noch einer von den Weißen: der Sohn des Adlers der Schneegebirge.«
   »Und der Spottvogel und der Adler? Was ist aus ihnen geworden? Ich hatte meinem Bruder elf Krieger anvertraut; was hat er damit gemacht?« fragte der indianische Häuptling in strengem Ton, nachdem er die erste freudige Bewegung, die ihm die Gefangennahme Fabians verursachte, unterdrückt hatte.
   »Neun sind tot«, antwortete der Mestize. »Warum aber zieht der Häuptling die Augenbrauen zusammen? Er hat einen Tag und eine Nacht hindurch die drei Weißen auf der Insel des Rio Gila belagert; was hat er mit seinen Kriegern gemacht, die die Fische des Flusses verzehrt haben? Der Arm des Falken ist für lange Zeit gelähmt. El Mestizo hat in zwölf Stunden den jungen Krieger aus dem Süden gefangengenommen; er hat den Adler und den Spottvogel entwaffnet, so daß Büffel, Damhirsche und indianische Kinder jetzt ihrer spotten.«
   »Der Adler und der Spottvogel sind auf unserer Spur; sie haben neue Waffen und haben ihren Weg mit neuen Leichen unserer Krieger besät.«
   Der Häuptling erzählte dem Mestizen, was dieser noch nicht wußte: die Kämpfe, die er seit seinem Aufbruch aus dem mexikanischen Lager bestanden hatte; und diese Erzählung entriß dem Mestizen mehr als einmal ein Zähneknirschen.
   Der Schwarze Falke und Sang-Mêlé schwiegen jedoch, als die Erzählung beendet war, unter dem Eindruck gegenseitigen Mißvergnügens. Vielleicht hätte sich diese Zusammenkunft schnell in eine feindliche verwandelt, wären nicht sechs andere Krieger angekommen; es waren die der Schar von Antilope, die dem Blutbad am Engpaß entronnen waren, wobei der Läufer selbst sein Leben gelassen hatte.
   Nun wandte sich die ganze Wut der Indianer gegen Fabian: dies war der natürliche Ausweg, den sie finden mußte.
   »Wo befindet sich der Sohn des Adlers?« rief der Schwarze Falke.
   »Dort unten«, erwiderte der Mestize, indem er auf das Dickicht am anderen Ufer deutete, wo Main-Rouge seinen Gefangenen bewachte.
   »Er muß sterben!« sagte der Häuptling.
   Ein Freudengeheul folgte diesem kurzen und schrecklichen Urteilsspruch.
   Als es aufgehört hatte, nahm der Mestize abermals das Wort. »Rayon-Brûlant«, sagte er, »ist ebenfalls auf unserer Spur; dieses weiße Mädchen hier zieht ihn zum Büffelsee. Aber er wird sie nicht wiederfinden; El Mestizo führt sie in seine Hütte, während der Schwarze Falke sich einer Herde von mehr als hundert Pferden bemächtigen wird, die sich im Pfahlwerk der Weißen eingeschlossen befinden. El Mestizo überläßt seinen Anteil dem Häuptling der Apachen; die Taube des Sees ist kostbarer für ihn als alle wilden Pferde der Prärien.« Die ruhige Unverschämtheit, die bei dem Mestizen aus dem Bewußtsein seiner Kraft, seiner Geschicklichkeit und seiner unzähmbaren Kühnheit entsprang und mit der er sich jetzt seines Versprechens gegen den Schwarzen Falken entband, sobald dieser ihm nicht weiter nützlich sein konnte, brachte bei dem indianischen Häuptling eine Bewegung der Wut hervor. Er fühlte jedoch, daß seine Wunde an der Schulter ihn einesteils seiner Hilfsmittel beraubte und daß außerdem die Büchsen von Main-Rouge und Sang-Mêlé unter allen Umständen mächtige Bundesgenossen waren.
   Der Schwarze Falke verbarg also seinen Zorn wie ehemals die Könige, wenn sie gezwungen waren, in einer gefährlichen Lage mit furchtbaren Vasallen zu unterhandeln. »El Mestizo«, sagte er, »hat es so eilig, uns zu verlassen, daß er einen wichtigen Umstand vergißt. Sollte er sich fürchten vor dem Krieger, der zum Büffelsee kommen wird, daß er sich nicht seines Versprechens erinnert, meinen Händen denjenigen zu überliefern, den die Komantschen Rayon-Brûlant, den Zündenden Strahl, nennen?«
   Diese letzten Worte des indianischen Häuptlings bewirkten plötzlich, daß der Mestize, der seinen gewöhnlichen Anzug wieder angelegt hatte und im Begriff stand, sich mit seinen Gefangenen zu entfernen, seine Vorbereitungen zum Aufbruch einstellte. »Es ist gut; El Mestizo wird bleiben, weil er sich vor nichts fürchtet; nicht einmal vor den zündenden Strahlen des Großen Geistes«, erwiderte er stolz, indem er auf den Kriegsnamen dessen anspielte, den er nach jener Beschuldigung fürchten sollte und den auszuliefern er versprochen hatte.
   Die Bande des Schwarzen Falken bestand trotz der nach und nach auf dem Marsch bis zur Red Fork erlittenen Verluste noch aus ungefähr vierzig Reitern. Zehn Indianer begleiteten die beiden Piraten der Steppe, sechs andere hatten sich eben diesen fünfzig Kriegern angeschlossen – die Apachen waren also immer noch zahlreich genug, die Vaqueros, bei denen sie keinen Argwohn voraussetzten, mit Vorteil anzugreifen, sollte auch der junge Komantschenhäuptling die Krieger, die er befehligte, noch zur rechten Zeit herbeiführen.
   Die Schnelligkeit des Marsches der indianischen Reiter – denn sie hatten keinen einzigen Fußgänger mehr bei sich – war so groß gewesen, daß es beinahe gewiß war, die Jäger und ihr Verbündeter würden den Büffelsee nicht vor Einbruch der Nacht oder frühestens bei Sonnenuntergang erreichen. Die Krieger der Steppe sind so wenig vorsichtig wie die Kinder, deren ungestüme Launen sie ebenfalls besitzen. Es gab für sie ein noch anziehenderes Schauspiel als den Raub von Pferden: nämlich die Todesmarter eines Weißen.
   Die beiden Gefangenen – der Hacendero und der Senator – waren das ausschließliche Eigentum Sang-Mêlés, der durch das Lösegeld für sie eine reiche Beute zu machen hoffte; ihr Leben war geheiligt. Nur der unglückliche Fabian sollte mit seinem Leben die Kosten des grausamen Vergnügens tragen, das sich die Indianer versprachen. Es wurde also beschlossen, daß man ihn gleichsam als Sühneopfer vor dem Kampf darbringen wollte.
   Während die Streitäxte der Indianer in einiger Entfernung eine junge Weide von ihren Zweigen befreiten, um ihren Stamm in eine Art von Marterpfahl zu verwandeln, war Rosarita wieder zu sich gekommen; aber beim Anblick ihres gefesselten Vaters und des Senators, beim Anblick der funkelnden Augen des Mestizen, die sich mit unzüchtiger Glut auf sie richteten, fiel die Unglückliche trotz der Stimme ihres Vaters, der sie zu trösten suchte und seine ermutigenden Worte mit den Verwünschungen seiner Henker mischte, ein zweites Mal in Ohnmacht.
   »Ruhig, Freund!« sagte der Mestize kalt zu Don Agustin. »Seid ohne Furcht für Euer Leben; einige Beutel voll Piaster und hundert Pferde werden Euch aus meinen Händen loskaufen. Was die Taube des Sees anlangt, so wird sie zuerst das Weib eines tapferen Kriegers werden; dann werden wir später sehen, den Preis für ihre Loskaufung zu bestimmen. Ich habe sagen hören, daß die weißen Frauen gewöhnlich gegen den Willen ihrer Gatten so rebellisch sind, daß man nach einer gewissen Zeit sehr froh ist, sie selbst umsonst loszuwerden.« Hierauf betrachtete der Mestize mit gleichgültigen Augen die Vorbereitungen zur Todesmarter Fabians, ohne weiter auf die Verwünschungen des ungestümen Don Agustin oder auf die Bitten des Senators zu achten.
   Ebenso wie einige Tage vorher Don Antonio von Mediana, dessen Minuten gezählt waren, den vom Dolch Fabians geworfenen Schatten allmählich abnehmen sah, so bezeichnete auch jetzt jeder Fortschritt, den die Sonne nach Westen machte, einen Augenblick weniger im Leben Fabians.
   Wollte Gott etwa auf den Richter des spanischen Señors die Strafe der Wiedervergeltung in ihrer ganzen Strenge anwenden? Man hätte es fürchten können, denn während der kurzen Augenblicke des Schweigens mischte sich kein fernes Geräusch in die Seufzer des Schilfs am Fluß; keine Staubwolke am Horizont, kein Geräusch von Rudern, die durch die Anstrengungen seiner Freunde ins Wasser getaucht wurden, verkündete ihre Ankunft. Noch einige Augenblicke später, und diejenigen, die seit zwei Tagen und zwei Nächten seiner Spur folgten, würden nur noch seinen Tod zu rächen gehabt haben.
   Eine Handvoll trockenen Grases hatte einige abgestorbene Weidenzweige angezündet, und die von den Indianern herbeigetragenen Reisigbündel hatten die Glut vollends entflammt. Die schrecklichen Vorbereitungen zur Todesmarter waren nun beendet; am Horizont herrschte immer noch dasselbe Schweigen, dieselbe Regungslosigkeit – ausgenommen, daß die Brachschnepfe im schnellsten Flug über die Lagunen hinschwebte und der gedämpfte Schall des durch die Biber gepeitschten Wassers, die in ihre fernen Sümpfe tauchten, herüberklang.
   »Ist der Augenblick jetzt gekommen?« fragte der Mestize den Schwarzen Falken.
   »Meine Krieger warten nur noch auf den indianischen Gefangenen.«
   »Es soll nach dem Willen meines Bruders geschehen.«
   Der Mestize gab den Befehl, die Piroge ins Wasser zu lassen, um den Gefangenen und seine beiden Wächter herüberzuholen.
   »Ah, das trifft sich wahrhaftig glücklich!« rief der alte Main-Rouge auf der anderen Seite des Flusses, von wo aus er die Vorbereitungen zu dem indianischen Schauspiel gesehen hatte, und zeigte seine hohe Gestalt über den Gesträuchen. »Es fing schon an, mich schrecklich zu langweilen, den Wachhund zu spielen.« Der alte Renegat sprach diese Worte mit einem Gähnen der Langeweile und streckte seine mageren Glieder aus. »Auf, mein Tapferer«, sagte er, sich bückend; »du mußt aller dieser langweiligen Vorbereitungen doch bei allen Teufeln der Hölle ebenso müde sein wie ich!«
   Einen Augenblick nachher sah man Fabians Körper, von den kräftigen Armen des Amerikaners aufgehoben, sich ebenfalls über das Gesträuch emporrichten.
   »Steh fest da … so ist es gut«, sagte der unbarmherzige alte Mann, während der Gefangene, dessen Glieder von den Banden starr geworden waren, eine Anstrengung machte, um sein Gleichgewicht zu erhalten und gerade und fest zu stehen wie ein Krieger, der eifrig darauf bedacht ist, den letzten Augenblick stehend zu erwarten. »Wenn du jetzt«, fuhr der alte Pirat fort, »irgend etwas singen willst, um dich zu zerstreuen, so steht es dir frei!«
   Das bleiche Antlitz Fabians, dessen Augen noch blitzten, ohne daß die Nähe eines schrecklichen Todes ihren Glanz ausgelöscht hätten, zeigte sich nur einen Augenblick hindurch. Der Körper des Gefangenen schwankte auf seinen angeschwollenen Beinen, und da seine Arme ihn nicht unterstützen konnten, so knickte er zusammen und fiel wieder hinter die Gesträuche. »Bindet mir die Arme los«, sagte er zu Main-Rouge mit fester Stimme. »Was habt Ihr zu fürchten?«
   »Nicht gerade viel. Es kommt darauf nicht an; man wird Euch darum bald kein Stück weniger vom Körper abreißen!«
   Der Renegat durchschnitt den Knoten der Riemen, die seine Arme gefesselt hielten, und Fabian konnte sich erheben und aufrecht stehen. Eine letzte Hoffnung, ein letzter Gedanke schien ihn aufzuregen; viel mehr jedoch ein Gedanke als ein Schein von Hoffnung, denn seine Augen warfen nur einen Blick auf den Horizont, um die immer noch bis in die Ferne schweigende Steppe zu befragen, und richteten bald ihre ganze Aufmerksamkeit auf das gegenüberliegende Ufer, von wo der Angstschrei, auf den er geantwortet hatte, seine Ohren getroffen hatte.
   Aber das dichte Gras entzog seinem Blick die Gruppe der Gefangenen, unter denen der Senator und der Hacendero sich schaudernd fragten, wer der unglückliche Weiße sein könnte, dessen Todesmarter vorbereitet wurde. Ihrerseits konnten die beiden Gefangenen Fabian ebensowenig durch die Flut von Gras bemerken, die ihre Blicke aufhielt.
   Endlich war die Piroge im Wasser; zwei Indianer legten ihre Ruder darin zurecht – als ein schreckliches Geschrei wie das, das Achilles hören ließ, als er aus dem Zelt stürzte, um den Tod des Patroklus zu rächen, die Luft mit furchtbaren Schwingungen durchzitterte.
   Dieser Schrei hatte sich von der Seite des Biberteichs her erhoben; die Indianer konnten ihn nicht hören, ohne zu erbeben, und Fabian fühlte instinktmäßig, daß diese Laute von Freunden herrührten. Die Luft erzitterte noch unter ihrem Klang, als ein zweiter Schrei aus den gewaltigen Lungen des Waldläufers erscholl und den ersten übertönte und die Stimme des ehemaligen Grenzjägers ebenfalls heulend den Widerhall weckte. Diese beiden Stimmen hatten Fabian seinen Namen wie eine Schranke zwischen dem Tod und ihm zugerufen, und Fabian antwortete darauf, ohne zu zittern.
   »Hund!« rief Main-Rouge aus und hob sein Messer zum Stoß.
   Fabian ergriff den Arm des Renegaten, und ein kurzer Kampf entspann sich zwischen dem Gefangenen und seinem wilden Wächter, in dem der Ausgang wegen der außerordentlichen Kraft des Amerikaners nicht zweifelhaft gewesen wäre, als sich in die Rufe Bois-Rosés, des Spaniers und Rayon-Brûlants, die von drei entgegengesetzten Seiten aus erklangen, ein Geheul mischte, das auf drei Seiten – im Norden, Süden und Osten – erscholl. Das wütende Bellen einer Dogge widerhallte mitten in diesem Getümmel wie das Brüllen eines gefesselten Löwen.
   Bei einer von Fabian gemachten Anstrengung, um Main-Rouges Messer von seiner Brust zu entfernen, fiel der junge Mann, der nur sehr leicht auf seinen Füßen stand, die von den Knoten der Riemen kraftlos gemacht worden waren, schwer auf die Erde nieder. Dieser Fall rettete ihm für den Augenblick das Leben.
   Der immer noch wachsende Lärm mitten in diesem eben noch ruhigen Tal lenkte die Wut des alten Renegaten ab; er erinnerte sich, daß das Leben des Gefangenen nur dem Schwarzen Falken gehöre, und versuchte den Feind, der sie bedrohte, zu erkennen. Der vor seinen Augen schwebende Vorhang von gelblichem Laub hinderte ihn daran. Alles, was er von seinem Posten aussehen konnte, waren einige Köpfe von Indianern, die sich am schnellsten wieder in den Sattel geworfen hatten, und weiterhin ein so heftiges Wogen des langen Grases, das von den erschreckten Gesichtern der Reiter überragt wurde, daß man hätte meinen können, es wäre durch das Vorüberlaufen einer Büffelherde hervorgebracht. Zur selben Zeit kreuzten sich fünf Büchsenschüsse – die einen links, die anderen rechts hinter der Apachenschar – und warfen die fünf Krieger aus dem Sattel, die sich eben erst darin festgesetzt hatten. Der alte Renegat sah nun eine Art von »Rette-sich-wer-kann« auf dem gegenüberliegenden Ufer entstehen; er stieß tausend gräßliche Flüche aus und suchte, seine Büchse in der Hand, vergeblich einen von den Feinden, die er hörte, deren Anblick ihm aber durch das Gras entzogen wurde.
   Einige Indianer, die zu weit entfernt von ihren Pferden waren, stürzten sich in die Piroge und ruderten trotz der Rufe Main-Rouges und trotz der Befehle und Flüche Sang-Mêlés eifrig nach dem entgegengesetzten Ufer. Der größte Teil der übrigen Apachen hatte sich auf die Pferde geschwungen und trieb diese ungestüm in den Fluß, denn ein dicker Rauch erhob sich aus der Ebene hinter ihnen, und schon brachen lange Flammenstrahlen mit gespaltenen Spitzen durch das hohe Gras.
   Der Schrecken hatte die indianischen Krieger noch schneller ergriffen, als das Feuer sich in der Ebene verbreitete; die übrigen, die zu Fuß zurückgeblieben waren, warfen sich schwimmend in den Fluß.
   »Feige Krieger mit Weiberherzen! Memmen!« heulte Sang-Mêlé wütend und suchte vergebens die Flucht der Indianer aufzuhalten.
   Aber der Rauch, den der Wind vor sich hertrieb, das Knistern des brennenden Grases und besonders der panische Schrecken, den der plötzliche Angriff durch unsichtbare Feinde hervorgerufen hatte, vereitelte alle Anstrengungen des Mestizen. Er hatte selbst eine kostbare Beute in Sicherheit zu bringen, hörte deshalb bald mit unnützen Vorstellungen auf, ergriff eines von den Pferden beim Zügel, dessen Reiter eben herabgeworfen worden war, und sprang auf Rosarita in dem Augenblick zu, wo diese endlich die Augen wieder öffnete. Das Knallen der Büchsenschüsse hatte ihre todesähnliche Ohnmacht gehoben, und der erste Gegenstand, der sich ihrem Blick darbot, war immer noch der schreckliche Sang-Mêlé, den die Leidenschaften, von denen er aufgeregt war, noch furchtbarer machten.
   Vergebens wollte sie fliehen; der Mestize ergriff ihren Arm, und trotz ihres Geschreis, trotz des Rufens ihres Vaters und des Senators, die unbeweglich in ihren Banden dalagen, hob Sang-Mêlé sie empor, warf sie quer über den Sattel und sprang hinter ihr auf den Rücken des Pferdes. Einen Augenblick nachher spaltete sein Pferd mit der Brust das Wasser des Flusses, das unter vierzig anderen Pferden brauste.
   Alles, was sich eben zugetragen hatte, war so rasch vor sich gegangen, daß niemand unter den Angreifenden dieser Entwicklung hatte zuvorkommen können. Eine schwarze Rauchwolke verbarg ihnen den Feind; aus dieser Wolke drangen verwirrte Stimmen.
   »Hierher, Bois-Rosé!« rief die donnernde Stimme Pepes. »Ich höre diesen Hund von Mestizen heulen. Wo bist du, rotweiße Natter?«
   »Zu Hilfe, im Namen aller Heiligen!« riefen zu gleicher Zeit der Senator und der Hacendero, die sich in ihren Banden wanden.
   »Wilson!« sagte eine Stimme.
   »Sir?« antwortete eine andere Stimme.
   Und der Rauch erhob sich in dichten Wirbeln, und in den Augenblicken, wo die Büchsen nicht knallten, knisterte das Gras der Ebene unter den Flammen, die auf allen Seiten in glühenden Schlangenlinien vorwärts drangen. Während der vollständigen Verwirrung, die bei den Angreifenden wie bei den Flüchtigen herrschte, hätte man den Senator und Don Agustin trotz ihres Geschreis vergessen, wenn sich nicht Sir Fredericks Stimme hätte vernehmen lassen.
   »Wilson«, rief der Engländer aus, »hört auf, Euch mit meiner Person zu beschäftigen! Es sind hier irgendwo – wenigstens nicht weit von hier – zwei Unglückliche, die in großer Gefahr schweben. Hört Ihr sie? Wohlan! Nehmt an, ich sei es!«
   Zur selben Zeit machten der Engländer und der Amerikaner einen weiten Umweg, um das hin und her wogende Feuer zu vermeiden, und stürzten zu dem Ort, wo das Geschrei und der Hilferuf ertönten. Es war Zeit, denn die Flammen warfen schon einen glühenden Schein auf Don Agustin und seinen Unglücksgefährten, als die beiden Retter erschienen und ihre Bande durchschnitten.
   Kaum war der unglückliche Vater frei, so stürzte er zum Ufer des Flusses. Einen Augenblick lang sah er nur eine verwirrte Masse von Pferden und Reitern, die gegen den reißenden Strom kämpften; von heulenden und wiehernden Köpfen von Menschen und Pferden, die sich gegenseitig in ihren übereilten Bewegungen hinderten, indem die einen den anderen zuvorzukommen suchten. Einige waren in die Mitte des Flusses gerissen, andere endlich faßten festen Fuß am Ufer. Unter diesen letzteren erschien der Mestize einen Augenblick lang mit seiner Last im Arm; Don Agustin sah einen Zipfel von dem wallenden Kleid Rosaritas; aber der Reiter, der sie davontrug, verschwand plötzlich hinter den Baumwollstauden.
   In dem Augenblick, wo der Hacendero, als er seine vielgeliebte Tochter aus den Augen verloren hatte, einen Schrei der Wut und des Schmerzes ausstieß, fühlte er sich unter dem Griff einer kräftigen Hand zu Boden geworfen. Don Agustin hatte sich noch gar nicht von diesem neuen Ereignis Rechenschaft abgelegt, als eine Kugel einige Zoll über ihm mit scharfem Pfeifen vorüberflog.
   »Ihr seid ihr nur soeben entkommen«, sagte phlegmatisch eine Stimme zur Seite des Hacenderos. Es war Wilson, der hinter ihm herangekrochen war und ihn heftig gerade in dem Augenblick niedergeworfen hatte, wo Main-Rouge, ohne daß er es gewahr wurde, auf ihn zielte. »Seht«, fuhr der Amerikaner fort, »dort flieht der Schelm und schämt sich, daß er gefehlt hat! Ach, wenn ich doch Zeit gehabt hätte, meine Büchse wieder zu laden! Aber ich habe nur daran gedacht, zu verhindern, daß Ihr lebendig verbrennt und daß Euch nachher der Schädel zerschmettert würde.«
   Während dieser Zeit hatte der letzte indianische Reiter das Ufer erreicht, und Main-Rouge verschwand ebenfalls – aber er war nicht allein. Die beiden Wächter Fabians schleppten diesen, trotz seiner Anstrengungen sich frei zu machen, mit sich fort, und der alte Renegat kam ihnen dabei mit seiner unwiderstehlichen Kraft zu Hilfe.
   »Hofft auf Gott!« sagte die ernste Stimme Sir Fredericks, der sich ebenfalls dem Ufer des Flusses näherte, wo das Feuer trotz der glühenden Hitze, die es noch vor sich verbreitete, auf einem feuchten und kahlen Boden erlosch. »Dort ist jemand, der über Eure Tochter wacht. Wir schließen diese Hunde von allen Seiten ein, und nicht einer von ihnen soll entkommen!«
   Bei diesen Worten zeigte der Engländer Don Agustin auf jeder Seite des Ufers etwa zwanzig seiner längs des Flusses staffelförmig aufgestellten Vaqueros zu Pferd, und die Hoffnung drang bei diesem Anblick zum erstenmal wieder in das Herz des Hacenderos.
   »Seht noch weiter! Hier und dort«, fuhr Sir Frederick fort, »sind treue und tapfere Bundesgenossen.«
   Der Engländer zeigte zweihundert Schritt von ihnen stromaufwärts Diaz und Pepe nebeneinander zu Pferd, die den Strom spalteten und das entgegengesetzte Ufer erreichten, und in derselben Entfernung stromabwärts fünf Männer in einem Kanu, dessen sonderbare Bauart der Hacendero staunend betrachtete. Unter ihnen beugten sich zwei athletische Ruderer auf ihre Ruder nieder, während eine wütende Dogge neben ihnen heulte. Der Hacendero erkannte die vier Büffeljäger wieder; was den fünften anlangte, gegen den der kräftige Encinas nur wie ein Mann von gewöhnlichem Wuchs erschien, so kannte ihn Don Agustin nicht.
   »Das ist Bois-Rosé«, sagte Sir Frederick, »der Waldläufer aus Kanada, dem wie Euch, Don Agustin, ein Sohn – die Hoffnung und Liebe seines Lebens – entführt worden ist. Dort unten auf der Seite des Biberteichs befindet sich auch noch ein junger und tapferer Komantschenkrieger, ihr Verbündeter, und alles, was einem Mann zu tun möglich ist, werden diese Männer tun.«
   Der Waldläufer und der spanische Jäger sahen einander zu gleicher Zeit trotz der Entfernung, die sie trennte, und gaben sich einen beredten, schweigenden Wink mit der Hand wie Leute, die nicht nötig haben, Worte zu wechseln, um sich zu verstehen.
   »Ah! Derjenige, der meine Tochter retten wird, soll reich sein für den Rest seiner Tage!« rief der Hacendero, um sie anzuspornen.
   Der reiche Don Agustin wußte nicht, daß bei jeder dieser Gruppen von entschlossenen Männern, die demselben Gedanken gehorchten und in demselben Augenblick über den Fluß setzten, sich einer befand, der Schätze verschmäht hatte, neben denen sein mächtiger Reichtum fast nur Dürftigkeit war.
   Und als der Hacendero abermals sein Versprechen wiederholte, für immer denjenigen reich zu machen, der ihm Doña Rosarita wiedergeben würde, wechselten die beiden Jäger noch einen Blick und einen anderen Wink mit der Hand. Pepe spornte ungestüm sein Pferd an, das kräftig unter seinem Reiter schwamm, und Bois-Rosé gab dem Kanu noch eine schnellere Bewegung. Der Hacendero dachte, daß dies geschehe, um die versprochene Belohnung zu gewinnen; aber Gott weiß, wie groß sein Irrtum war.
   Ein Gewehrfeuer erscholl plötzlich in der Richtung des Biberteichs und bewies, daß Rayon-Brûlant und Gayferos ebenfalls nicht müßig waren. Die Stimme des jungen Häuptlings tönte bis zum Ufer, wo Wilson und Sir Frederick wachten, und Diaz, Pepe, Bois-Rosé und Encinas stießen ebenfalls ein furchtbares Geschrei aus, um Rayon-Brûlant zu zeigen, daß sie ihm zu Hilfe kämen. Bald sah Don Agustin, wie sie an Land stiegen und zu dem Ort, wohin so teure Interessen sie riefen, durch die Weiden und Baumwollstauden hinstürmten, die fast überall den sumpfigen Boden bedeckten, wo die Indianer sich verschanzen wollten.
   Als sie verschwunden waren, bewies nur das immer mehr sich entfernende Bellen von Encinas‘ Dogge, daß die tapferen Abenteurer trotz der Hindernisse des Terrains und der Gefahren, die in diesem undurchdringlichen Dickicht verborgen waren, nicht abließen, vorwärts zu dringen.


   74. Der Biberteich

   Bevor wir in unserer Erzählung weitergehen, müssen wir mit zwei Worten die plötzliche Anwesenheit der Jäger und der Indianer unter den Befehlen Rayon-Brûlants ebenso wie die der Vaqueros Don Agustins an der Red Fork rechtfertigen.
   Man hat gesehen, daß – mit Ausnahme von Main-Rouge und Sang-Mêlé, dessen Truppe weit voraus war – die drei anderen Abteilungen, die sich zu dem zum Vereinigungspunkt bestimmten Ort begaben – nämlich die des Schwarzen Falken, Rayon-Brûlants und von Antilope —, in kurzer Entfernung voneinander folgten. Der Komantsche, der sich entschlossen hatte, diejenigen an Schnelligkeit zu überholen, die er angreifen wollte, und die Hilfe der Vaqueros Don Agustins in Anspruch zu nehmen, bat Sir Frederick, ihm sein Pferd zu leihen, und nun sprengte der Indianer, nachdem er sich ausführlich mit den beiden Jägern über die Zeichen und die Erkennungsrufe sowie über den Posten, den jeder einnehmen sollte, verständigt hatte, mit verhängtem Zügel zum Büffelsee.
   Der Komantsche war seiner Sicherheit wegen gezwungen gewesen, bei seiner Ankunft an der Red Fork einen Umweg durch den Arm des Red River zu machen, den die Dämme der Biber beinahe ausgetrocknet und in ein anderes Bett geleitet hatten, und deshalb war er auch Don Agustin bei seinem Ausflug, der so verhängnisvoll für ihn werden sollte, nicht begegnet. Rayon-Brûlant setzte über den großen Arm des Flusses mittels der Furt, die Encinas dem Hacendero gezeigt hatte, und gelangte eine Stunde später an die Ufer des Büffelsees, nachdem der letztere diese verlassen hatte. Er benachrichtigte in aller Eile den Büffeljäger von den Plänen, die die Indianer und die beiden Piraten der Prärien zur Red Fork führten, und dieser hatte, als er den Vaqueros die Gefahr schilderte, in der sie alle – ihre Herren wie sie selbst – schwebten, keine Mühe gehabt, sie zu bewegen, aufs Pferd zu steigen, um die Ufer des Flusses einzuschließen, während Rayon-Brûlant zum Vereinigungspunkt des Flusses zurückkehren und die Ankunft Bois-Rosés und der ganzen Schar, die er zurückgelassen hatte, abwarten sollte. Er brauchte nicht lange zu warten.
   Darauf begaben sich der junge Komantsche, Gayferos und sechs Indianer durch den kleinen Arm des Flusses zum Tal. Pepe, Bois-Rosé und die übrigen stiegen vor dem Zusammenfluß, wo der Schwarze Falke haltgemacht hatte, an Land. Dort sollten sie zum Angriff das Signal des Komantschen erwarten. Der furchtbare Schrei, der so plötzlich den Widerhall im Tal der Red Fork geweckt hatte, war von dem Komantschen ausgestoßen, und der Angriff wurde, wie man gesehen hat, ungestüm begonnen. —
   Nachdem diese Erklärungen nun einmal gegeben sind, hindert uns jetzt nichts mehr daran, Bois-Rosé und dem spanischen Jäger in ihren letzten Versuchen zu folgen, den Händen der Indianer ihren jungen, vielgeliebten Gefährten und die Tochter Don Agustins zu entreißen. Diaz und Pepe hatten fast in demselben Augenblick auf dem Land festen Fuß gefaßt, wo Bois-Rosé und Encinas mit den drei Büffeljägern aus ihrem Kanu aus Büffelhaut ans Ufer sprangen. Als die sechs Streiter in schräger Richtung marschierten, um sich miteinander zu vereinigen, und zugleich die Gegend, durch die sie gingen, durchspähten, entschloß sich plötzlich Sir Frederick, dem sein abenteuerlicher Geist die Rolle eines Zuschauers unerträglich machte, den Jägern bei ihrem Angriff tätigen Beistand zu leisten, und er hatte keine Mühe, seinen Leibgardisten Wilson zu überreden, ihn zu begleiten.
   Don Agustin wollte ebenfalls am Kampf teilnehmen, mußte aber den dringenden Vorstellungen des Engländers nachgeben, der ihm begreiflich machte, daß seine Gegenwart unentbehrlich sei, um unter seinen Vaqueros gute Ordnung zu halten, die wenig an die Kämpfe der indianischen Kriege gewöhnt waren. Als dieser Punkt abgemacht war, beeilte sich der Amerikaner, nachdem er Sir Frederick mehrmals wiederholt hatte, daß dieser sich aus freiem Willen der Gefahr aussetze und er aufhöre, für den Augenblick für seine Person verantwortlich zu sein, ihm in der Richtung nach der Furt des Flusses zu folgen.
   Während dieser Zeit hatten Pepe und Diaz sich mit dem Waldläufer und dem Büffeljäger getroffen. Die beiden Waffengefährten waren von der Gefahr, in der Fabian schwebte, aufgeregt; der Ernst ihrer ganzen Lage, die sich jetzt entscheiden sollte, hatte sie ergriffen, und sie wechselten bei ihrem Zusammentreffen einen schweigenden, aber ausdrucksvollen Blick.
   »Er lebt noch, Bois-Rosé!« sagte Pepe, der die stumme Sprache des Waldläufers verstand. »Frage Diaz; wir haben eben hinter einem dichten Weidengebüsch neben dem Eindruck der Büffelfüße von Main-Rouge die Spuren der Füße Fabians bemerkt; ihre Richtung geht dorthin.«
   Der Spanier zeigte auf eines der ungeheuren Baumwollstaudengebüsche, mit denen die morastige Ebene besät war. Diaz bestätigte Pepes Worte.
   »Die Schurken verschanzen sich in den dichten Gebüschen, die den Biberdamm und den halbtrockenen Arm des Red River begrenzen. Still! Hört ihr sie?« sagte der Grenzjäger.
   Ein Geräusch von Beilen, die die Stämme von Bäumen trafen, erscholl in der Ferne.
   »Das ist richtig«, erwiderte der Kanadier. »Wenn ich nicht für das Leben dieses armen jungen Mannes fürchtete, so würde ich dem Himmel dafür danken, uns diese wilden Tiere so in ihrer Verschanzung überliefert zu haben; aber der Gedanke ist schrecklich, daß die Launen oder der Zorn eines Indianers seine Tage verkürzen können.«
   »Sie werden es jetzt weniger als jemals zuvor wagen, das sage ich dir«, erwiderte Pepe. »Der Tag wird nicht vorübergehen, ohne daß sie eine Kapitulation verlangt hätten.«
   Encinas hielt mit großer Mühe seine Dogge zurück, die sich zu dem Ort stürzen wollte, wo ihr feiner Geruch die Indianer witterte, als Bois-Rosé plötzlich daran dachte, ihren Instinkt zu nützen. Er zog den zerrissenen Hut Fabians unter seiner Jacke hervor und übergab ihn Encinas mit den Worten: »Macht einen Versuch, Euren Hund diesen Hut beriechen zu lassen; es ist der Hut desjenigen, den ich suche. Ich habe in ähnlichen Fällen diese Tiere den Fährten von Menschen folgen sehen, deren Spur man nicht wiederfinden konnte.«
   Der Büffeljäger nahm den Hut aus den Händen des Kanadiers und ließ Oho dessen Inneres beriechen. Das verständige Tier schien zu ahnen, was man von ihm erwartete, und nachdem es die Ausdünstungen, die dieser Teil der Kleidung Fabians behalten hatte, sanft beschnuppert hatte, stürzte es wie ein Pfeil in der Richtung fort, wo Pepe die Spuren des jungen Mannes gefunden hatte. Hinter einem schattigen Gebüsch schlug die Dogge an, um ihren Herrn nach dieser Stelle zu rufen.
   »Vorwärts jetzt!« rief Bois-Rosé mit Festigkeit. »An welchem Ort er auch sein mag – tot oder lebendig —, wir werden ihn nun überall wiederfinden können.«
   Sir Frederick und sein von ihm unzertrennlicher Wilson kamen im selben Augenblick zu ihnen, und die sieben Männer standen im Begriff, vorzudringen, um den Rückzug der Indianer auszukundschaften, als ein Bote Rayon-Brûlants eintraf mit dem Auftrag von dem jungen Häuptling, Verstärkung bei ihnen zu holen. Er sagte, daß sich gegenüber dem fast undurchdringlichen Dickicht, wo die Apachen sich verschanzten, eine ziemlich tiefe Schlucht befände, von der aus man den Feind beunruhigen könnte, deren man sich aber notwendigerweise vor diesem bemächtigen müsse.
   Als der Indianer seinen Auftrag ausgerichtet hatte, verließ er sie, um den Vaqueros die Aufforderung zu überbringen, über den Fluß zu gehen und eine Stellung auf dem gegenüberliegenden Ufer einzunehmen, damit man die Blockade, mit der man die Räuber einschließen müsse, nötigenfalls enger ziehen könne. Während diese Bewegung ausgeführt wurde und die Vaqueros auf ihren Pferden durch den Fluß schwammen oder ihn an der Furt durchschritten oder endlich auch in dem ledernen Kanu hinüberfuhren, suchte die kleine Schar, die Bois-Rosé führte, einen gedeckten Weg, um, geschützt gegen die Kugeln, das düstere Gehölz zu umgehen, wo die Indianer sich noch immer befestigten, er Klang der Äxte tönte unaufhörlich herüber. Die Belagerer benützten zu ihrer Deckung bei ihren Bewegungen um die Verschanzung der Apachen herum die Baumstämme und die Ungleichheit des Bodens. Sie schössen aufs Geratewohl mitten in diese dichten, schwarzen Gebüsche hinein, deren bloßer Anblick schon schrecklich war, so hatte sich die kräftige Vegetation der Weiden und Baumwollstauden, der wilden Reben und anderen Lianen zu dichten Netzen verschlungen, die von den Wipfeln der Bäume bis zum Moos an ihren knorrigen Wurzeln reichten.
   Einige Büchsenschüsse drangen aus dem dichten Gehölz, aber die Kugeln, die aufs Geratewohl abgeschossen waren, trafen niemand, ebenso wie diejenigen keinen Schaden unter den Belagerten anrichteten, die von den Belagerern abgefeuert worden waren. So gelangten die letzteren nahe an die Stelle, die Rayon-Brûlant mit seinen Kriegern besetzt hielt.
   »Begreifst du«, sagte Bois-Rosé zu Pepe in einem Augenblick, wo die beiden Jäger sich zusammen hinter einer Baumgruppe befanden, unter deren Schutz der Kanadier den anscheinend undurchdringlichen Saum des Gehölzes untersuchte, »wie alle diese Indianer mit ihren Pferden sich so rasch durch dieses dichte Gebüsch haben Bahn brechen können?«
   »Ich dachte gerade auch daran«, erwiderte der Grenzjäger. »Es scheint, als ob ein einzelner Mann sich nur schwer durch diese Lianen einen Weg bahnen könne – es sei denn, mit dem Beil in der Hand —, und diese Schelme sind im Nu zu Pferd hineingedrungen. Es muß irgendeinen geheimen Zugang geben, den wir finden müssen; denn auf eine andere Weise ist dieser Ort uneinnehmbar, und wir werden einer nach dem anderen unsere Gebeine hier lassen, wenn wir einen Versuch machen wollten, sie daraus zu vertreiben.«
   »Wir haben immer noch das letzte Mittel: das Gebüsch in Brand zu stecken!« antwortete Bois-Rosé. »Unglücklicherweise jedoch gibt es unter diesen Indianern kostbare Leben, die wir schonen müssen.«
   Unter diesen Worten setzten die beiden Jäger ihren raschen, sich hin und her windenden Marsch fort, und einige Augenblicke später trafen sie mit dem Komantschenhäuptling zusammen.
   »Die Blume des Sees ist dort«, sagte Rayon-Brûlant; »und der Sohn des Adlers ist nicht weit von ihr.« Die von dem jungen Krieger geschickt gewählte Stellung war der von den Bibern über den schmälsten Arm des Red River gezogene Damm.
   In jeder anderen Lage wäre es etwas Anziehendes gewesen, die Arbeit dieser erfindungsreichen Tiere, diesen Damm, zu untersuchen, von dem man hätte glauben können, daß er durch die Hand von Menschen gebaut sei. Aber der Augenblick gehört zu denjenigen, deren außerordentliche Wichtigkeit die ganze Aufmerksamkeit derer in Anspruch nimmt, die dessen Minuten zählen.
   Das Wasser war anfangs durch den Damm aus seinem Bett geleitet worden und hatte sich, bevor es endlich Lagunen in der Ebene bildete, die diese in gewissen Entfernungen bedeckten, ein anderes, aber bald trocken gebliebenes Bett gebrochen. In dieser Art von Schlucht, die ungefähr vier Fuß tief und zwanzig Fuß breit war, legten sich die neuen Hilfstruppen der Komantschen in den Hinterhalt. Von diesem Ort aus, der etwa nur einen halben Büchsenschuß von dem dichten Gürtel entfernt war, hinter dem der Feind unsichtbar stand, konnten geschickte Schützen wie der Kanadier, der Spanier und der Amerikaner Wilson einen unberechenbaren Schaden zufügen.
   »Encinas«, sagte der Kanadier zum Büffeljäger, »wenn Ihr einen Augenblick Eure Dogge loslassen würdet, so könnte uns das Tier einen großen Dienst leisten; es kann das Leben eines Christen retten helfen.«
   »Der arme Oho ist mir sehr teuer«, erwiderte Encinas, »und ihn in dieses Dickicht hineinschicken, heißt ihn der Gefahr aussetzen, seine Haut darin zu lassen. Aber am Ende ist es doch, wie Ihr sagt, und das Leben eines Christen wird vielleicht für das seinige gewonnen.« Bei diesen Worten knüpfte der Büffeljäger den Knoten auf, der den Riemen mit dem Halsband Ohos zusammenhielt. »Such, Oho, mein braver Oho!« fuhr Encinas fort und ließ seinen Hund den Hut Fabians beriechen; dann ließ er ihn los.
   Die tapfere Dogge schien auch diesesmal den Willen ihres Herrn zu verstehen, der mehr auf ihren Instinkt als auf ihren Mut rechnete, und anstatt bellend mit Wut fortzuspringen, glitt sie schweigend durch die Gebüsche.
   »Wir wollen ihm folgen, Pepe!« rief der Kanadier. »Es soll nicht gesagt werden, daß ein Tier weniger vorsichtig gewesen sei als ein Vater, der seinen Sohn, oder ein Freund, der seinen Freund sucht.«
   Der Spanier ließ es sich nicht zweimal sagen, und die beiden Jäger folgten vorsichtig der Fährte des Hundes. Aber Oho schien bald die Spur verloren zu haben. Er schnupperte vergeblich in dem dichten Gras nach der Witterung, die er suchte, und die beiden Jäger sahen ihn plötzlich in der Ferne einen Umweg machen und aus dem Gebüsch, in das er eingedrungen war, herauskommen.
   »Glaubst du, daß er verstanden hat, was man von ihm erwartet?« fragte der Kanadier Pepe leise.
   »Ohne Zweifel. Fabian ist auf dieser Seite nicht mit den Indianern in das Gehölz eingedrungen, und die Dogge geht ganz natürlich zum Anfang der Spur zurück, der sie folgt.«
   Der Hund verließ in der Tat ungestüm den Saum des Baumwollstaudengebüsches, und die beiden Jäger sahen ihn die Richtung zur Gruppe von Weiden einschlagen, unter denen sie schon die Spuren Fabians gefunden hatten. Alle beide folgten Oho so schnell wie möglich, ohne sich darüber zu beunruhigen, daß sie gesehen werden könnten, und als sie den baumlosen Raum betraten, fanden sie Encinas, der, um seinen Lieblingshund besorgt, das Dickicht umging, um ihn wieder zu treffen.
   »Lassen wir ihn gehen«, sagte er; »mein braver Oho ist ebenso geschickt wie mutig. Ihr seht, daß er sich Rechenschaft von dem Auftrag ablegt, den ich ihm gegeben habe.«
   Nachdem die Dogge wieder auf den richtigen Weg gekommen war, stürzte sie in der Richtung des Flusses fort, d. h. parallel mit den beiden großen Bergketten in der Mitte, die das Tal begrenzten, und nach einer Seite des dichten Gehölzes, das die Indianer schützte und das die zwei Jäger bei ihrem Herankommen rechts hatten liegen lassen. Nach einem langen Umweg, der nötig war, um das Feuer des Feindes zu vermeiden, gelangten sie endlich an diese Stelle, sahen aber Encinas‘ Hund nicht mehr. In diesem Teil des Holzes schien die Einfassung von Bäumen weniger dicht, soweit man dies wenigstens nach den Wipfeln der Baumwollstauden, die das hohe Gras überragten, beurteilen konnte.
   Encinas war über die Abwesenheit seines Hundes unruhig und pfiff schon einige Minuten lang nach ihm, ohne daß das Tier seinem Herrn antwortete, als sie ihn plötzlich anschlagen hörten – ohne Zweifel, um sie herbeizurufen. Das Bellen, das er ausstieß; schien eher Freude als die Nähe einer Gefahr zu bezeichnen; die drei Jäger gehorchten dem Ruf Ohos und liefen durch die Halme, die ihren Augen die niederen Zweige des Gehölzes verbargen, in das sich die Apachen geflüchtet hatten.
   Sie fanden bald einen kleinen Fußpfad, auf dem das Gras seiner ganzen Länge nach erst vor kurzem niedergetreten zu sein schien, so daß die zertretenen Halme noch nicht verwelkt waren, obgleich die Hufe der Pferde sie zerquetscht hatten, deren Spur auch ebenso sichtbar war wie auf einem sandigen Weg. Gerade am Ende dieses engen und sich krümmenden Fußpfads erscholl immer noch die Stimme Ohos. Darauf wurde das Gras seltener und spärlicher, auf den weichen Boden folgte ein härterer, und endlich standen die drei Jäger auf den Zuruf Bois-Rosés plötzlich still.
   »Bleibt, wo ihr seid!« sagte der Kanadier. »Es ist nutzlos, daß wir uns den dort hinten verborgenen Büchsen als doppelter Zielpunkt darbieten. Ah, Pepe, wir hatten uns nicht geirrt. Der Hund hat den geheimen Zugang entdeckt.«
   Während Encinas Oho, der wieder zu ihm gekommen war, streichelte und seinen Büffelriemen wieder an seinem Halsband befestigte, hatte sich Pepe, ohne die Warnung des Kanadiers zu hören, und voll Ungeduld, zu sehen, was Bois-Rosé andeutete, bis hinter diesen geschlichen.
   Das letzte Gras des Fußpfads erstarb auf einem steinigen Boden, und ungefähr fünfundzwanzig Schritt von dem dünnen, fransenartigen Saum, den es bildete, begann der Wald. Anstatt jedoch hier wie überall dem Auge einen unübersteiglichen Wall von Lianen, dicht zusammenstehenden Stämmen und ineinander verschlungenen Zweigen zu bieten, ließ der ursprünglich durch die Gewässer aufgerissene Boden einen etwa vier Fuß breiten Durchgang zwischen den Bäumen frei. Auf jeder Seite dieses Strombetts erhob sich ein Abhang mit geraden Wänden, und der Zwischenraum war mit Baumstämmen und frisch abgehauenen Zweigen angefüllt.
   »Durch diesen Gang sind die Schelme zu Pferd wie durch einen Torweg eingezogen«, sagte Pepe.
   »Laß uns unsere Zeit hier nicht verlieren, Pepe, und da du einmal hier bist, so wollen wir jeder auf einer Seite dieser Öffnung entlangschlüpfen, um zu sehen, was der Feind macht, wo Fabian ist und an welcher Stelle der Angriff begonnen werden muß. Wenn es möglich ist, Encinas, so bemüht Euch, daß Euer Hund stumm ist; seine Stimme könnte Euch wie uns ein Stück Blei im Körper zuziehen; oder – besser noch – lauft und benachrichtigt Rayon-Brûlant und Don Agustin, daß wir den Durchgang zum Feind gefunden haben; dann stürzt kühn an der Spitze der Tapfersten hervor. Mein Gefährte und ich, wir wollen euren Marsch auskundschaften.«
   Der Waldsaum war rechts und links, etwa zwanzig Schritt vom Hohlweg, ganz so dick wie überall, und die beiden Jäger zögerten nicht, sich jeder auf seiner Seite hineinzubegeben, um ihren Plan auszuführen. So dicht war der Pflanzenwuchs, daß ihre Augen kaum einige Schritt weit vor sich sehen konnten; aber so gefährlich auch dieser Versuch war – es war unerläßlich notwendig, ihn zu wagen.
   Der Kanadier rückte also immer weiter durch die Zweige vor, schweigend wie ein mitten durch Schilf und Binsen kriechender Alligator, der den Büffel überfallen will, wenn dieser seinen Durst löscht.
   Nach und nach jedoch wurde der Wald lichter, und der Jäger konnte nicht nur die undeutlichen und tausendfach gebrochenen Formen von Menschen und Pferden unterscheiden, sondern auch noch einen raschen Blick auf den von diesem Baumgürtel umgebenen Raum werfen. Der Biberteich lag an dem einen äußersten Ende dieser weiten Lichtung, wo für Pferde und Menschen Raum genug war. An den Ufern dieses Teichs erhoben sich ungefähr fünfzehn Hütten von einförmiger Gestalt.
   Der größte Teil dieser Biberhütten, die die Indianer eingenommen hatten, lag beinahe ganz im Wasser; aber zwei oder drei waren weit genug von den Ufern des Teichs entfernt, so daß sie von den Belagerten in einen festen Wall hatten verwandelt werden können, wo die Zwischenräume mit Pferdesätteln, Decken und Mänteln aus Büffelhaut gehörig ausgefüllt waren. Gerade zwischen dem Rand des Teichs und dieser Verschanzung stand die größte Abteilung der Indianer, während die anderen hin und her liefen, um die schwächsten Stellen der grünen, undurchdringlichen Schranken, die die Lichtung umgaben, zu befestigen.
   Übrigens war Fabian für die Augen des Kanadiers unsichtbar, die oft durch die Wolken der schrecklichsten Befürchtungen getrübt wurden, die er für sein Kind hegte; auch Sang-Mêlé und Main-Rouge und ebenso die Tochter des Hacenderos und der Schwarze Falke waren nicht sichtbar. Er setzte voraus, daß die Gegenstände seiner Liebe wie die seines Hasses sich zwischen dem Teich und den Biberhütten befanden, in denen die Öffnungen auf der Seite des Wassers angebracht waren.
   Pepe sah ebenfalls nicht mehr wie Bois-Rosé; die beiden Jäger mußten also ihr Verlangen, das sie anspornte – Feuer auf die verhaßten Feinde zu geben —, unterdrücken, was auch in dieser ernsten Lage nicht von Wichtigkeit war.
   Bois-Rosé lauschte ängstlich auf jedes Geräusch, das bis zu ihm dringen konnte. Er hoffte, die Stimme Fabians oder die der Tochter des Hacenderos zu vernehmen, und zählte angstvoll die Minuten, die seit der Entfernung Encinas‘, um Verstärkung herbeizuholen, verflossen waren. Es war dies in der Tat ein schrecklicher Augenblick, der einem verzweifelten Angriff vorherging, in dem das Blut so reichlich fließen sollte und wo die Rachsucht wilder Feinde Wiedervergeltung an seinem gefangenen Sohn üben konnte.
   Plötzlich erzitterte die Luft in der Richtung des Biberdamms, wo der junge Komantschenhäuptling stand, von einem Schuß, dem Geheul folgte; dann ertönten noch ein halbes Dutzend anderer Schüsse. Eine große Bewegung fand in der Lichtung vor dem Teich statt, und ein Schauspiel bot sich einige Augenblicke dem Kanadier dar, bei dessen Anblick der Waldläufer das Blut in seinen Adern erstarren fühlte.


   75. Rayon-Brûlant

   Um die Szene, die sich nun im Anschluß daran zutrug und von der Bois-Rosé in seinem Hinterhalt nur einen Teil erblickte, zu erklären, ist es nötig, uns einen Augenblick zuvor mitten in die Befestigung der Indianer zu begeben.
   Der Schwarze Falke hatte des ganzen Hasses, der ihn gegen Rayon-Brûlant beseelte, bedurft, um trotz seiner Wunde den Beschwerlichkeiten eines langen Marsches von drei Tagen und den Kämpfen zu trotzen, die seine Bande auf dem Zug dezimiert hatten. Obgleich er wenig Vertrauen auf das Wort des Mestizen setzte, so war doch der Apachenhäuptling halb aus Rachsucht, halb aus Liebe zur Plünderung und wegen des Einflusses, den der kühne Bandit auf die indianischen Stämme ausübte, seinen Einflüsterungen gefolgt.
   Der unverhoffte Angriff, der die Apachen in dem Augenblick überrascht hatte, wo sie glaubten, sie brauchten die Hand nur nach einer reichen Beute auszustrecken, um sie auch in Besitz zu nehmen; wo der Schwarze Falke seinen Nebenbuhler, wenn nicht entwaffnen, doch wenigstens unter günstigen Aussichten auf Erfolg überfallen zu können hoffte, hatte einen übertriebenen Schrecken einem fast tollen Vertrauen folgen lassen. Der Häuptling war von Schmerz und Ermüdung geschwächt; die Krieger, die sich kaum von ihrer durch stete Niederlagen hervorgebrachten Entmutigung erholt hatten, glaubten mit weit überlegenen Feinden zu tun zu haben, und alle hatten – mit Ausnahme des Mestizen, der von den übrigen mit fortgerissen wurde – einem panischen Schrecken nachgegeben, dessen Resultat man gesehen hat.
   Indessen hatte der Mestize durch eine fast genaue Angabe der Stärke der Weißen den Herzen der Krieger und des Häuptlings wieder Vertrauen einflößen können. Nichtsdestoweniger kochte im Herzen des Schwarzen Falken ein dumpfer, aus getäuschter Erwartung entstandener Zorn, und Sang-Mêlé war zu scharfsinnig, um ihn nicht zu erraten. Er beschloß also, sich in der Achtung der Apachen durch einen Plan wieder zu heben, wie er ihm eigentümlich war und bei dem seine Treulosigkeit und sein Mut sich in die Rollen teilten.
   Der Hohlweg, der die Indianer durch den Wald zum Biberteich gebracht hatte, bot zugleich Gelegenheit zu einem leichten Ausfall mitten unter ihre zerstreuten Feinde. Während Sang-Mêlé diejenigen, die ihm zunächst standen, durch scheinbare Friedensunterhandlungen täuschte, sollten die Indianer wieder auf die Pferde steigen und unversehens über die verschiedenen in der Ebene verstreuten Gruppen herfallen; es konnte nicht fehlen, daß sie leichtes Spiel mit ihnen haben würden.
   Das war der Plan, den der Mestize geltend machte, während Bois-Rosé und Pepe sich bis in den Bereich der indianischen Verschanzungen schlichen. Es war eigentlich nur ein Teil davon, denn nur seines Vorteils halber hatte er ihn vorgeschlagen. Main-Rouge sollte ihn dabei, wie man sehen wird, unterstützen. —
   Wir brechen also hier unsere Erzählung ab, um sie durch Schilderung der Vorgänge zu ersetzen.
   Ungefähr vierzig Pferde – einige abgesattelt, der größte Teil aber noch mit allem Luxus der Wilden aufgezäumt – waren an die dem Teich zunächst stehenden Bäume gebunden. In der Biberhütte, die dem Damm, wo Rayon-Brûlant stand, gegenüberlag, war Doña Rosarita noch bleicher und niedergeschlagener als Fabian, der doch wenigstens wußte, daß der Tod seine Leiden beenden würde, unter der Bewachung des alten amerikanischen Renegaten eingesperrt. Dieser saß am Eingang der Hütte, seine lange Büchse quer auf den Knien; Bois-Rosé konnte ihn wegen der zur Befestigung der Verschanzung ausgebreiteten Decken und Mäntel nicht sehen.
   In der von dieser letzteren entferntesten Ecke der Hütte sagte Fabian, der noch nicht wußte, ob er das Spielzeug eines Traums gewesen war oder ob er in der Wirklichkeit die Stimme gehört hätte, deren Klang er unter Tausenden wiedererkannt haben würde, und der durch neue Fesseln zu der vollständigsten Regungslosigkeit gezwungen war, den teuersten Erinnerungen seines Lebens ein letztes Lebewohl. Zwei Indianer bewachten ihn mit dem Befehl, ihn zu erdolchen, wenn der vorgeschlagene Ausfall nicht den Erfolg hätte, den der Apachenhäuptling erwartete. In dem Fall, daß der Sieg ihn krönen würde, wollte der Schwarze Falke die Süßigkeit einer grausamen Rache mit Lust und Behagen kosten. Fabian verdankte also die Verlängerung seiner letzten und schrecklichen Augenblicke nur der Grausamkeit seines Feindes und nicht seiner Gnade. Übrigens konnten Fabian und Rosarita in ihrer gegenseitigen Lage die Anwesenheit des einen oder des anderen in dem engen Raum nicht ahnen und noch weniger sich sehen.
   Das war der Anblick der Lichtung und der Zugänge zum Biberteich, als Sang-Mêlé sich zur Hütte wandte, an deren Tür sein Vater wachte. Ein kurzes und rasches, englisch geführtes Gespräch fand zwischen den beiden Piraten statt. Darauf erhob sich Main-Rouge, und nach einer schrecklichen Drohung gegen Rosarita, deren Sinn leicht zu erraten ist und deren ganze Bedeutung sie verstand, folgte der alte Renegat dem Mestizen. Beide näherten sich dem Ende der Lichtung, wo sie Rayon-Brûlant am nächsten und von Bois-Rosé am entferntesten waren, und bahnten sich einen Weg durch die Bäume; nach einigen Schritten standen die beiden Banditen still. Sie konnten ebensowenig von den Ihrigen als vom Feind gesehen werden.
   Die Stimme Sang-Mêlés erhob sich unter den Bäumen: »Mögen die Ohren des tapferen Kriegers, den die Apachen Nuage-Sombre und den die Komantschen Rayon-Brûlant nennen, offenstehen!« rief der Mestize.
   »Rayon-Brûlant hat niemals Nuage-Sombre gekannt!« antwortete der junge Krieger. »Was will man von ihm, und wer ruft ihn?«
   Sang-Mêlé hatte diese Worte in einem solchen Apachendialekt gesprochen, daß Rayon-Brûlant einen seiner Stammesgenossen, die er selbst in der Erinnerung verleugnete, zu hören geglaubt hatte.
   »Ich bin es, Sang-Mêlé«, antwortete der Mestize, »der die Hand eines Freundes drücken will.«
   »Wenn das alles ist, was El Mestizo will, so schweige er; seine Stimme ist mir verhaßt wie das Zischen oder das Geräusch der Klapperschlange«, antwortete die Stimme Rayon-Brûlants.
   »Es ist nicht alles: El Mestizo hat den Sohn des Adlers und die weiße Taube des Sees in seiner Gewalt, und er bietet ihre Auslieferung an.«
   Es fehlte wenig daran, daß die leidenschaftliche, freudige Bewegung, die plötzlich das Herz des jungen Komantschen ergriff, sich nicht durch ein seinem Mund entschlüpftes Triumphgeschrei Luft gemacht hätte, trotz der Herrschaft, die er über seine ungestümen Leidenschaften ausübte. Er konnte sich jedoch beherrschen, um das ungeheure Interesse, das er an der Blume des Sees nahm, zu verbergen und den Räuber dadurch nicht noch anmaßender in seinen Bedingungen zu machen.
   Erst nach einer kurzen Pause, in der er das ungestüme Schlagen seines Herzen unterdrücken und beruhigen mußte, konnte er kaltblütig antworten: »Unter welchen Bedingungen will Sang-Mêlé die Blume des Sees und den Sohn des Adlers ausliefern?«
   »Er wird sie Euch geben, wenn eine seiner Hände zum Zeichen der Freundschaft die des Adlers der Schneegebirge selbst und die andere die Rayon-Brûlants drücken wird. Die Häuptlinge sind nicht gewohnt, zu unterhandeln, ohne sich zu sehen, ohne einander in den Augen zu lesen.«
   »Der Adler ist nicht hier, und Rayon-Brûlant wird niemals die Hand El Mestizos drücken; es sei denn, um sie zu zerbrechen.«
   »Gut«, antwortete der Mestize, dessen haßentflammte Augen und dessen wuterfüllte Stimmung der Komantsche nicht sah. »Gibt es keinen anderen Häuptling hinter dem Biberdamm?«
   »Mit Eurer Erlaubnis, Komantsche, werde ich die Verhandlungen auf mich nehmen«, sagte Pedro Diaz.
   »Heda, Sang-Mêlé, hier ist der Häuptling der mexikanischen Goldsucher, der wohl ebensogut ist wie ein anderer, wenn man ihn nach einigen glänzenden Taten, die ihm niemand bestreitet, und nach dem indianischen Blut beurteilt, das er hat fließen lassen.«
   »Wir werden zusammen unterhandeln«, sagte der Mestize. »Kann ich auf sein Wort hin allein vorwärts gehen, ohne Waffen und mit einem einzigen bewaffneten Gefährten hinter mir? Ihr werdet es Eurerseits ebenso machen.«
   »Ja, ja«, erwiderte der biedere Abenteurer; »ich verpfände meine Ehre und will Euch mit gutem Beispiel vorangehen.«
   Der Mestize wandte sich zu seinem Vater um; beide wechselten ein gehässiges, wildes Lächeln. »Aufgepaßt!« sagte Sang-Mêlé zu ihm.
   »Mein Bruder hat unrecht«, sagte der Komantsche; »die giftige Schlange ist darum nur noch mehr zu fürchten, weil sie zuweilen wie die Lerche auf den Feldern singt.«
   »Wilson!«
   »Sir?«
   »Ihr schießt wie Wilhelm Tell«, sagte Sir Frederick. »Ich würde es mit großem Vergnügen sehen, wenn Ihr diesen braven Mann begleiten wolltet, um ihn nötigenfalls zu beschützen.«
   »Sehr gern«, erwiderte der Amerikaner.
   Zur selben Zeit hörte man das Gesträuch knacken, und die beiden Piraten der Prärien erschienen am Waldsaum in demselben Augenblick, in dem sich Diaz und der Amerikaner, ebenfalls allein, auf dem Biberdamm zeigten.
   Die vier Unterhändler betrachteten einander einen Augenblick schweigend. Diaz sah die beiden Banditen zum erstenmal – ein Begegnen in der Nacht nicht weit vom Val d‘Or ausgenommen —; aber wenn auch ihre Gesichtszüge etwas Unheilverkündendes für ihn hatten, so ließ er doch nichts davon merken. Wilson kannte die beiden berüchtigten Räuber, die sich vor ihm befanden, schon dem Aussehen nach.
   Sang-Mêlé ging ungefähr sechs Schritt über die letzten Bäume des Waldes hinaus, Diaz beinahe noch einmal soviel. Der Amerikaner blieb, auf seine Büchse gestützt, auf dem Damm stehen. Main-Rouge stand in derselben Stellung am Saum der dichten Gebüsche, aus denen er eben hervorgeschritten war.
   Diaz ging mit festem Schritt auf den Mestizen zu und ergriff die Hand, die dieser ihm reichte; er fühlte zu spät, daß seine Biederkeit nicht genug die Treulosigkeit des Räubers berücksichtigt hatte, dessen Finger sich über den seinigen schlössen wie die Federn einer Wolfsfalle.
   »Feuer!« rief der Mestize mit starker Stimme, indem er seine andere Hand auf die Schulter des Abenteurers legte.
   Die Büchse von Main-Rouge hob sich; der Schuß ging los; die Kugel pfiff an den Ohren Sang-Mêlés vorüber; der unglückliche Diaz wurde mitten in die Brust getroffen und wollte niederstürzen, als die kräftigen Arme des Mestizen ihn aufrecht hielten. Der Pirat deckte sich mit dem Körper des Abenteurers, der fast nur noch eine Leiche war, wie mit einem Schild und ging rückwärts, die Augen fest auf die Büchse Wilsons gerichtet, der vergeblich eine Stelle suchte, um ihn zu treffen. Der Bandit berührte schon den Saum des Waldes, als Diaz vor seinem Tod noch die Kraft hatte, sein Messer zu ziehen und es Sang-Mêlé in das Schultergelenk zu stoßen.
   Der verwundete Pirat sprang rückwärts, und als er hinter sich das Laub der Bäume fühlte, warf er den Abenteurer vor sich nieder, dessen Leben durch diesen letzten Stoß vollends ausgelöscht wurde, und rief: »Das ist die Leiche eines Häuptlings!«
   Er verschwand hinter dem dichten Gebüsch, und die Kugel Wilsons traf nur Zweige und Laub.
   Die erste Bestürzung über diesen hassenswerten Mord war noch nicht ganz vorüber, als die beiden Piraten der Prärien schon fern waren und Sang-Mêlés Stimme rief: »Wer wird wagen, heranzukommen und den Händen El Mestizos die Tochter des Weißen und den Sohn des Adlers zu entreißen?«
   »Bei Jesus Christus und dem General Jackson – das werde ich tun!« rief Wilson und stürzte dem Banditen nach.
   Aber der junge Komantsche war ihm schon mit der Schnelligkeit des Blitzes, dessen Namen er trug, zuvorgekommen und drang bereits in das Dickicht ein, als der Amerikaner, Sir Frederick und die neun Komantschenkrieger – Äxte, Büchsen und Dolche in der Hand – nach ihm hineinstürzten.
   Sang-Mêlé, der besser als sie die Pfade in dem dichten Waldgürtel kannte, kam lange Zeit vor den Angreifenden in die Lichtung. Das Blut rieselte von seiner Schulter, aber seine außerordentliche Kraft schien nicht geschwächt. Als er abermals bis ans Ufer des Teichs gelangte, schwangen sich die Apachen, die der Knall des Schusses benachrichtigt hatte, daß die Treulosigkeit ihres Verbündeten gelungen war, auf ihre Pferde, um den im voraus verabredeten Ausfall zu vollführen.
   Das war die Bewegung, die Bois-Rosé gesehen hatte, als eine in anderer Weise für ihn furchtbare Episode das Blut des Waldläufers, der nur noch die Gefahr sah, in der Fabian schwebte, fast zu Eis erstarrte.
   Während Main-Rouge, um die Befehle Sang-Mêlés auszuführen, die fast besinnungslose Rosarita ergriff und für sie das Pferd vorbereitete, auf dem er sie während des beabsichtigten Ausfalls fortbringen wollte, näherte sich der Mestize dem Schwarzen Falken, der bei der Unmöglichkeit, an dem bevorstehenden Kampf teilzunehmen, hinter der Verschanzung geblieben war. Er zeigte dem indianischen Häuptling seine blutige Schulter. »Jetzt muß der Sohn des Adlers sterben!« sagte er kurz. »Der Schwarze Falke darf seine Rache nicht aufschieben; er würde sie sonst verlieren. Mein Blut will das eines Feindes; Sang-Mêlé kann nicht für den Sieg stehen.«
   »Der Schwarze Falke wird zuerst den Skalp des Weißen nehmen«, antwortete der Apache, der für den Ausgang des Kampfes fürchtete. »Meine Krieger werden ihn hernach vollends töten.«
   »So ist es recht.« Zwei Indianer hatten dieses kurze Gespräch gehört; und ohne die Befehle, die sie schon im voraus wußten, abzuwarten, stürzten sie wie zwei wilde Tiere zu der Hütte, wo Fabian lag. Eine Minute war genug für sie, um den Körper des unglücklichen jungen Mannes bei den Füßen bis vor die Verschanzung zu ziehen.
   Nun sah Bois-Rosé, dessen Glieder unter ihm zusammenbrachen, wie der Schwarze Falke die Verschanzung verließ und sich Fabian näherte. Zweimal legte der Kanadier auf den Indianer an, aber zweimal legte sich eine dichte Wolke vor seine Augen, und seine Büchse zitterte in seiner Hand wie ein langer, vom Wind getroffener Grashalm in der Prärie.
   Der Schwarze Falke bückte sich langsam nieder; ein Messer blitzte in seiner linken Hand dicht beim Kopf Fabians. Jetzt, in diesem äußersten Moment, hörte die Hand Bois-Rosés zu zittern auf, als ein plötzlicher Knall ihn erbeben ließ. Der Schwarze Falke stürzte mit zerschmettertem Schädel schwer auf Fabian nieder, den er mit seinem Leib und dessen blutigen Überresten bedeckte, und eine Stimme rief zugleich: »Das ist mein letztes Wort, du rothäutiger Hund!«
   Es war Pepes Stimme.
   Ein zweiter Schuß streckte kurz darauf einen anderen Indianer nieder. Diesmal war es Bois-Rosés Büchse, die knallte.
   Plötzlich drangen die Apachen, wie ein Waldstrom sich zur Regenzeit in das Bett stürzt, das in der ganzen früheren Zeit trocken geblieben ist, zu Pferd durch den Ausgang des Hohlwegs. Die Lichtung und die Ufer des Biberteichs waren fast leer, als Pepe und Bois-Rosé, die Büchse in der Hand, mit ängstlich in ihrer Brust klopfenden Herzen heranstürmten, ohne zu sehen, daß auf der entgegengesetzten Seite Main-Rouge, mit der wieder ohnmächtigen Rosarita in seinen Armen, von Sang-Mêlé begleitet, in dem dichten Wald verschwand. Der treulose Mestize überließ seine Verbündeten den Wechselfällen des Kampfes und brachte seinen Raub in Sicherheit.
   Aber die beiden Jäger sahen nur Fabian. Nach ihm hinstürzen, mit rascher, zitternder Hand die Bande, die seine Glieder quetschten, durchschneiden, war für sie die Sache eines Augenblicks; dann vermochte der arme Kanadier mit gepreßtem Herzen und einer Freude, die ihn wie der Blitz getroffen hatte, nur schweigend und feurig den jungen Löwen zu liebkosen, der dem alten Löwen der Steppe endlich wiedergegeben war. Der spanische Jäger betrachtete, auf seine Büchse gelehnt, diese glückliche Gruppe, ohne ein Wort zu sagen, aus Furcht, durch seine Stimme die Tränen zu verraten, die, ohne daß er sie zurückhalten konnte, über seine sonnenverbrannten Wangen rollten.
   Unterdessen ließ sich auf beiden Seiten der Lichtung – da, wo die beiden Piraten der Prärien eben verschwunden waren, und auf der entgegengesetzten Seite, wo sich die Indianer hinausgestürzt hatten – ein furchtbares Getümmel vernehmen, und wie ein Gießbach, mit dem wir die indianische Reiterei vergleichen, auf sich selbst zurückflutet, wenn er einen unübersteiglichen Damm findet, so spie auch der Hohlweg bald die ungestüme Woge, die er fortgetragen hatte, wieder in die Lichtung aus.
   Encinas hatte seinen Auftrag ausgeführt, und die zwanzig Vaqueros Don Agustins, vom Hacendero selbst geführt, hatten die Apachen in dem Hohlweg überrascht und drängten sie in Unordnung bis in ihre verlassene Verschanzung zurück. Reisende, die sich in eine Löwenhöhle während der Abwesenheit ihrer schrecklichen Bewohner gewagt haben und plötzlich durch deren Rückkehr überrascht werden, können allein ihren stürmischen Gefühlen nach mit den beiden Jägern und Fabian verglichen werden, als sie sahen, daß die Indianer abermals die Lichtung überfluteten.
   Diese letzte Gefahr jedoch, so drohend sie auch war, konnte nur einen Augenblick größer sein als der Mut der drei Waffengefährten. Der Kanadier hatte sein Kind wiedererobert, und das war der wesentliche Punkt; er nahm darum Fabian auf seine Arme und sprang hinter die Verschanzung, die mit der Benützung der Biberhütten errichtet worden war, und Pepe stürzte ihm nach. Dort luden beide eiligst ihre Büchsen wieder, und mit dem festen Entschluß, diesmal wenigstens alle drei zusammen zu sterben, erwarteten sie den Angriff des Feindes.
   Die Lage der Dinge änderte sich jedoch bald. Auf das Getümmel des Rückzugs der Indianer folgten bald Büchsenschüsse, und ein halbes Dutzend von den Reitern, die in Unordnung, von unsichtbarer Kraft zurückgetrieben, anlangten, fielen tot oder verwundet vom Pferd.
   »Mut, Pepe!« rief der Kanadier. »Unsere Leute sind da und greifen die Indianer im Rücken an. Fabian«, fuhr er fort, »wenn du dich wieder auf den Beinen halten kannst, so schleiche dich hinter die Bäume; es ist ein Riesenkampf, den wir werden bestehen müssen.«
   Die Flut von Indianern wuchs mit jeder Minute, teilte und zerstreute sich über die ganze Oberfläche der Lichtung, und die von Don Agustin geführten Vaqueros konnten endlich durchbrechen und sich besser ausdehnen. Einige waren zu Pferd, die meisten zu Fuß; der Hacendero war unter den ersteren.
   »Feuer! Bois-Rosé, Feuer! Und das Kriegsgeschrei ausgestoßen, als ob wir hundert wären!« rief der Spanier, einem der ungestümen Eindrücke gehorchend, die er niemals beherrschen konnte.
   Diesmal gehorchte der Waldläufer augenblicklich, und in dem Moment, wo ihre beiden Büchsen abermals knallten und zwei Reiter, die sie zu Opfern ausersehen hatten, von den Pferden stürzten, stießen die drei Waffengefährten – denn Fabians Herz war von Rache erfüllt, und er war deshalb dem Rat des Kanadiers nicht gefolgt – noch einmal dicht zusammengeschlossen ein so wildes Kriegsgeschrei aus, daß man hätte glauben können, zehn andere Krieger hätten sich mit ihnen verbündet. Dann nutzten sie die Unordnung, die dieser Angriff im Rücken verdoppelte, und stürzten aus dem Schutz der Verschanzung hervor. Fabian war mit dem Messer bewaffnet, das ihm der Kanadier in die Hand gedrückt hatte; Bois-Rosé ergriff die Streitaxt, die einem von ihm getroffenen Apachen entfallen war; Pepe schwang seine schwere Büchse, und so warfen sie sich unter einem infernalischen Geheul mitten in das Handgemenge.
   Der gigantische Waldläufer glich dem Mäher, der sein Tagwerk gern beenden will, oder dem Holzhauer, dessen Axt einen jungen Holzschlag ausräumt. Er traf seine Feinde mit unwiderstehlichem Arm und schien einen unüberschreitbaren Kreis von Eisen um Fabian zu ziehen. Er suchte sich bis zu Don Agustin Bahn zu brechen, der, von Feinden umgeben, mit seinem langen Degen auf Stoß und Hieb traf, und er bahnte sich auch endlich einen blutigen Weg bis zum Hacendero, als der schreckliche Schrei einer bekannten Stimme hinter ihm erscholl.
   Es war Rayon-Brûlant, der sich, blutend und entwaffnet, aber mit der ohnmächtigen Rosarita in seinen Armen, in die von der Streitaxt des Kanadiers um Don Agustin gemachte Öffnung stürzte. Der junge Krieger hatte nur noch Zeit, mit einem Triumphgeheul die Tochter in die Arme des Vaters zu werfen, und stürzte dann unter die Hufe der Pferde. Während Bois-Rosé sich bemühte, um denjenigen, dem er soviel verdankte, zu beschützen, ließ der Hacendero seinen Degen um seine Tochter kreisen, die er quer vor sich liegen hatte, drückte die Sporen in die Flanken seines Pferdes und war bald durch den Hohlweg aus der verhängnisvollen Lichtung verschwunden.
   Schrecklich wie der Erzengel der Schlachten stand der Kanadier gleich dem Bogen einer steinernen Brücke über dem Körper Rayon-Brûlants, dessen Blut einer breiten Wunde entströmte, hielt seine bestürzten Feinde fern von ihm und sah nicht, wie neue Kämpfer sich von der Seite des Biberteichs her auf das mit Toten bedeckte Schlachtfeld stürzten. Das waren Main-Rouge und Sang-Mêlé, die auf ihrer Flucht durch Wilson, Gayferos, Sir Frederick und die Komantschen zurückgeworfen worden waren. Die beiden verwundeten Piraten waren gezwungen, ihren Weg wieder zurück einzuschlagen, und standen mit einigen wütenden Sätzen auf Schwertlänge bei dem Kanadier und dem Spanier.
   Der Amerikaner, so tapfer er auch war, Sir Frederick und die Krieger Rayon-Brûlants schienen unschlüssig, ob sie sich den beiden Banditen nähern sollten, die der junge Komantsche allein von vorn anzugreifen gewagt hatte und denen er – vielleicht auf Kosten seines Lebens – Rosarita entrissen hatte. Aber vor ihnen stand ein Mann, den kein Feind – er mochte sein, wer er wollte – lange einschüchtern konnte; das war Pepe, der zuerst die plötzliche Ankunft des amerikanischen Renegaten und seines Sohnes bemerkt hatte.
   »Kehrt, Bois-Rosé!« schrie der Spanier.
   Bois-Rosé wandte sich rasch um und befand sich seinen beiden Todfeinden gegenüber. Während dieser Zeit hatte sich das Schlachtfeld gelichtet. Der Tod des Schwarzen Falken; die wütenden Angriffe des Kanadiers, Fabians und des Spaniers; die Anstrengungen der Vaqueros, die mutig ihrem Herrn seine Tochter wiedererobern wollten – alles hatte dazu beigetragen, abermals Schrecken unter den Indianern zu verbreiten. Die unerwartete Erscheinung der beiden furchtbaren Verbündeten der Apachen, Main-Rouge und Sang-Mêlé, kam zu spät. Die meisten waren unter Zurücklassung ihrer Toten auf dem blutigen Gras der Lichtung entflohen, und die Vaqueros hatten sich, da der Hacendero einmal mit seiner kostbaren Last verschwunden war, ebenfalls in großer Anzahl auf die Verfolgung der Flüchtlinge begeben.
   Siebenundzwanzig Leichen, darunter achtzehn Indianer, lagen auf dem Boden; nur noch einige erbitterte Gruppen kämpften – etwa zwanzig an der Zahl —, als der Kanadier und Pepe zum drittenmal in ihrem Leben fast Leib an Leib den beiden Piraten der Steppe gegenüberstanden.
   Noch berauscht von der Hitze des Kampfes stürzte sich Bois-Rosé mit geschwungener Streitaxt auf den Mestizen; dieser war der jüngste und stärkste und gehörte von Rechts wegen dem Kanadier. Aber so kräftig auch der Waldläufer selbst war – Sang-Mêlé war gewandter. Der Mestize wich dem Schlag aus und wollte schon vorwärts stürzen, um Bois-Rosé mit seinen nervigen Armen zu umfassen, als er plötzlich bei Anblick Wilsons, der seine Büchse wieder lud, seinen Vorsatz aufgab und bis an das Ende der Lichtung lief.
   Ein abgestorbener Baum, wie es deren so viele gibt, lag an dieser Stelle; ein Teil seiner Zweige war abgebrochen, als ihn die Biber gefällt hatten; die trockenen Zweige, von denen er starrte, bildeten eine dichte Verschanzung; hinter diesen Stamm flüchtete sich der Mestize. Bois-Rosé wurde durch eine Gruppe von Kämpfern, die sich zwischen ihn und seinen Feind schob, verhindert, ihm den Rückzug abzuschneiden.
   Was Pepe anlangt, der gewissenhaft sein Wort zu halten pflegte, so hatte er ohne Zögern einen Kolbenschlag nach dem Schädel des alten Renegaten geführt; aber Main-Rouge hatte mit erhobener Streitaxt den Schlag pariert, und der Kolben des Spaniers war ihm in der Hand zerbrochen. Der Bandit war eine Sekunde lang unentschieden, ob er sich nicht auf seinen entwaffneten Gegner stürzen sollte, da er jedoch Fabian mit dem Messer in der Hand an des Spaniers Seite erblickte, so lief er ebenfalls zu dem Baumstamm, hinter dem Sang-Mêlé eben Zuflucht gefunden hatte. Dieser letztere lud seine lange Büchse, ohne hinter seinem Wall die Bewegungen der beiden Jäger aus dem Auge zu verlieren. Ein Blitz der Freude leuchtete in den Augen des Banditen, der in einigen Sekunden sein Opfer wählen konnte, als Pepe den liegenden Stamm eines anderen Baums erblickte. Obgleich er keinen einzigen Zweig behalten hatte, als ob die Axt ihn schon seit vielen Jahren für irgendein Bauwerk sorgsam behauen hätte, so war doch langes Gras um diesen Stamm gewachsen, der dicht genug war, um einen hinter ihm liegenden Mann zu decken.
   »Komm schnell her, Bois-Rosé! Schnell!« rief Pepe.
   Der Kanadier beeilte sich, der Stimme des Spaniers zu gehorchen, und in dem Augenblick, wo er sich an seine Seite schmiegte, suchte der im Schutz seines Baums kauernde Mestize mit den Augen denjenigen, den er zuerst aufs Korn nehmen wollte. Fabian hatte sich an Wilsons Seite hinter eine Biberhütte geworfen, und Sang-Mêlé sah keinen mehr von den Feinden, nach deren Blut er dürstete.
   Nun begannen die beiden Piraten, den Kugeln unerreichbar, gegen die noch kämpfenden Vaqueros ein andauerndes, mörderisches Feuer, ohne daß der Amerikaner und sein Schützling oder Fabian sie daran hätten hindern können.
   »Bei allen Teufeln! Diese Schelme dürfen weder dort bleiben noch uns entkommen!« sagte Pepe zu Bois-Rosé.
   »Nein, gewiß nicht; und sollte ich das Leben verlieren! Ich will diese Schelme die furchtbare Angst bezahlen lassen, die ich habe ausstehen müssen.«
   Bei diesen Worten senkte der Kanadier zum zwanzigstenmal den Lauf seiner Büchse, die gegen Feinde unnütz war, die von der Kugel nicht erreicht werden konnten. Zum zwanzigstenmal verließen seine Blicke auch den Baumstamm, der die beiden Piraten schützte, um sich voll Ruhe nach der Seite Fabians zu richten. Obgleich dieser neben Wilson in Sicherheit war, so war doch das vielgeliebte Kind Bois-Rosés für ihn stets ein Gegenstand lebhafter Besorgnis.
   »Nein, nein«, murmelte der Waldläufer. »Solange diese beiden Schelme am Leben sind, werde ich niemals ruhig sein. Man muß ein Ende mit ihnen machen«.
   Zwei von Main-Rouge und Sang-Mêlé abgefeuerte Schüsse hatten eben noch zwei Vaqueros niedergestreckt.
   » Tod und Blut! Man muß ein Ende mit ihnen machen!« wiederholte der Kanadier, und seine Wut spiegelte sich in seinen Augen. »Halt! Da ist ein ganz einfaches Mittel, bis zu den beiden Banditen zu gelangen.«
   Während Bois-Rosé so sprach, stemmte er kräftig seine Arme gegen den Baumstamm, hinter dem sie lagen, und die runde Masse wurde dem Bett entrissen, das durch ihr Gewicht im Gras gebildet worden war, und rollte einen Schritt auf der Lichtung weiter.
   »Hurra!« rief Pepe enthusiastisch. »Wilson, Sir Frederick, wenn die Schelme nur noch einen Schritt tun, um zu fliehen, während wir uns ihnen nähern, so tötet sie ohne Mitleid wie giftige Tiere! Eure Büchsenläufe dürfen nicht aufhören, ihre verdammten Schädel zu bedrohen.«
   Der Spanier vereinte seine Anstrengungen mit denen des Kanadiers, und die Zuschauer konnten nun einem der sonderbarsten Zweikämpfe beiwohnen, die die im Busch geführten Scharmützel der Indianerkriege ausmachen. Die beiden Jäger lagen hinter dem Baumstamm platt auf der Erde, stießen mit kräftigem Arm die runde Masse vor sich her, hielten hinter ihrem rollenden Schild an und überwachten mit scharfen Augen die Fortschritte, die sie gemacht hatten, ebenso wie die geringsten Bewegungen ihrer Feinde.
   »Main-Rouge, alter Schelm«, rief Pepe, der die Flut von Verwünschungen, die sich in seiner Brust beim Anblick seiner beiden Feinde angehäuft hatte, nicht länger dämmen konnte, »und du, Sang-Mêlé! Welches unreine Tier möchte wohl etwas von euren Leichen haben, die wir ihnen jetzt vorwerfen werden?«
   Es war ein sonderbares, schreckliches Schauspiel, wie diese beiden Männer, auf dem Boden kriechend, ihren beweglichen Wall vor sich herrollten, anhielten und die Entfernung, die sie noch von ihren Feinden trennte, zu messen suchten, ohne sich eine Blöße zu geben. Belagerer und Belagerte – diese vier Krieger waren ohne Widerspruch die tapfersten Männer und die besten Schützen in den Prärien.
   »Mut!« rief Wilson, um die Anstrengungen der beiden Angreifer zu beleben. »Ihr berührt beinahe den Baum dieses Gesindels! Wenn der Schädel eines von ihnen das Holz auch nur um eine Linie überragt, so habe ich es mit ihnen zu tun. Jesus Christ und der General Jackson! Ich möchte wohl an eurem Platz sein!«
   In der Tat waren die Baumstämme einander so nahe, daß die beiden Piraten mit schreckerfüllten Augen deutlich das Atmen der Jäger hörten, die unter den Anstrengungen keuchten, die sie zur Fortbewegung ihres schweren Walls machten.
   Sang-Mêlé stieß vor Wut ein Brüllen aus. »Schieß dort oben hin, Main-Rouge!« rief er. Und er bezeichnete mit den Augen einen hohen Baum, den zwei Komantschen erstiegen hatten und wo einer von ihnen sich bereit machte, auf den Räuber Feuer zu geben.
   »Kann ich denn?« rief der alte Renegat in ohnmächtiger Wut. »Ach, Sang-Mêlé, wohin hat uns deine unersättliche Habgier gebracht!«
   Ein Schuß, der plötzlich von dem hohen Posten der Komantschen ertönte, unterbrach den alten Freibeuter, der von einem Holzsplitter, der durch die Kugel vom Stamm losgerissen worden war, an der Stirn getroffen wurde. Zu gleicher Zeit verließ der Mestize, auf die Gefahr hin, sich dem Feuer der auf den Baum gekletterten Indianer bloßzugeben, seine gesicherte Stellung, warf sich auf den Rücken und schoß. Obgleich diese Stellung unbequem war, so krönte doch der vollständige Erfolg den Versuch des Mestizen, und einer von den Komantschen fiel mit zerschmettertem Rückgrat vom Baum. »Hierher!« rief Main-Rouge lebhaft. »Siehst du nicht, daß der Baum, den diese beiden Landstreicher vor sich herrollen, sogleich den unsrigen berühren wird?«
   Der bewegliche, von den Jägern fortgeschobene Wall war kaum noch so weit, als er dick war, von dem Baum, der die Piraten schützte, entfernt.
   Es war dies für die Zuschauer ein Augenblick von höchstem Interesse; wenn die Bäume wie zwei Fahrzeuge, die im Meer aneinanderstoßen, aufeinandertreffen würden, dann mußte es sich in einem Kampf Leib an Leib mit blanker Waffe entscheiden, und auf die eine oder andere Weise mußte der Tod die tödliche Feindschaft der vier Kämpfer beenden.
   Sang-Mêlé hatte keine Zeit gehabt, seine Büchse wieder zu laden. Pepe hatte die seinige eingebüßt, und von dieser Seite war also der Vorteil gleich, wie es auch der Fall war zwischen Bois-Rosé und dem alten Main-Rouge, die beide eine geladene Büchse hatten.
   Es war eine sonderbare und schreckliche Alternative, die sich auf die gegenseitige Stellung des Kanadiers und des Räubers von Illinois gründete. Derjenige von beiden, der sich zuerst eine Blöße gab, mußte die ganze Ladung der feindlichen Büchse aus der nächsten Nähe erhalten; derjenige von beiden, der zuletzt auf seine Füße sprang, war einem sicheren Tod geweiht. Die beiden Feinde verstanden in gleicher Weise, was sie zu tun hatten.
   Kaum waren durch die letzten Anstrengungen der beiden Jäger die Bäume aneinandergestoßen, als Main-Rouge und Bois-Rosé, den Gebrauch ihrer Büchse verschmähend, beide mit derselben Schnelligkeit auf ihre Füße springend, aufeinander stießen wie die beiden Baumstämme und sich gegenseitig umschlangen. Der Vulkan, in dessen Innerem die Lava brüllt, ehe sie hervorbricht und sich weithin ergießt, verbirgt kein heftigeres Feuer als die ungestümen Gefühle des Kanadiers, als er einen von denen umfaßte, die ihn entwaffnet, ihn dem schrecklichsten Schmerz, den das Herz empfinden kann, ohne zu brechen, preisgegeben und ihn wie eine Beute den Qualen des Hungers überlassen hatten. Bois-Rosé machte eine von jenen Anstrengungen, bei denen die Muskeln des Körpers zerreißen oder über das Hindernis triumphieren.
   Main-Rouge war verwundet, geschwächt durch den Blutverlust, und seine athletische Stärke mußte der des Waldläufers unterliegen. Ein dumpfes Krachen war unter den Armen Bois-Rosés zu hören, der auf den Renegaten niederstürzte, dessen Rückgrat unter der Anstrengung des kanadischen Riesen zerbrochen war.
   Pepe hatte die Notwendigkeit anders begriffen; er hatte den Mestizen sich zuerst erheben lassen, und kaum erhob sich dessen Stirn über dem Baumstamm, als er mit einer ebenso kühnen wie unerwarteten Bewegung seine Streitaxt mit allen Kräften dem Mestizen an den Kopf warf. Pepe ließ ihm nicht Zeit, von der Betäubung, die durch die Schwere und die Schärfe der Waffe hervorgebracht wurde, wieder zu sich zu kommen; er stürzte sich auf ihn, umschlang seinen Körper und erhob sich beinahe augenblicklich wieder. Der Mestize rührte sich nicht mehr.
   Vater und Sohn lagen leblos nebeneinander.
   »Sein Versprechen muß man halten!« rief Pepe und zeigte dem Kanadier seinen Dolch, dessen Griff nur noch aus der Brust des Mestizen hervorragte; dann zog er ihn mit einiger Anstrengung aus dem Körper, in dem er stak, öffnete mit der Klinge die heftig zusammengebissenen Zähne des Piraten, machte mit den Fingern eine unbeschreibliche Bewegung und warf einen blutigen, herausgerissenen Fetzen weit von sich.
   »Pfui, werden die Raben etwas von dieser verfluchten Zunge wollen?« fügte der fanatische und unversöhnliche spanische Jäger hinzu.


   76. Nach dem Sieg

   Von dem Augenblick an, der auf Main-Rouges und Sang-Mêlés Tod folgte und wo das Triumphgeschrei der Weißen und der Komantschen den Apachen, die noch Widerstand leisteten, zeigte, daß ihre beiden furchtbaren Verbündeten unterlegen waren, war es, um die Wahrheit zu sagen, kein Kampf mehr, sondern eine gänzliche und blutige Niederlage der Apachen. Wenige von ihnen konnten die Ufer des Rio Gila wiedersehen; aber der Verlust auf Seiten der Weißen war ebenfalls furchtbar. Die Hälfte der Vaqueros Don Agustins blieb auf dem Schlachtfeld, wo von ungefähr achtzig Streitern, die hier zusammentrafen, vierzig gefallen waren, ohne diejenigen zu zählen, deren Leichen in der Ebene verstreut oder im dichten Wald verborgen lagen. Unter den Toten zählte man zwei Büffeljäger und sechs unter dem Befehl Rayon-Brûlants stehende Komantschen. Rayon-Brûlant selbst war schwer verwundet. Bois-Rosé und Pepe, die durch eine lange Erfahrung die Wunden von blanken Waffen und von Feuerwaffen zu verbinden gelernt hatten, waren zuerst um den jungen Krieger beschäftigt gewesen.
   Die Beerdigung der Toten, die man in eine nicht sehr tiefe, mit der Axt im morastigen Boden ausgehöhlte Gruft legte, und die Fortschaffung der Verwundeten in die Nähe des Büffelsees nahmen lange Stunden in Anspruch. Die Sonne hatte schon zwei Drittel ihres Laufs vollendet, als die tiefste Stille in der Lichtung auf das Getümmel des Kampfes und auf den Lärm bei den Vorbereitungen zum Begräbnis folgte.
   Das waren die verschiedenen Entwicklungspunkte des Tages, dem das Tal der Red Fork seine traurige Berühmtheit verdankt.
   Wir wollen keinen Versuch machen, das Glück Bois-Rosés zu beschreiben; nicht darum, weil wir zu denen gehörten, die behaupten, daß der Schmerz mehrere Saiten im menschlichen Herzen habe, während die Freude deren nur eine hat. Nach unserer Meinung hat Gott dem Menschen ein gleiches Verständnis für die Gefühle gegeben, die sich in sein Leben teilen; nur schwingen die ersteren geräuschvoller als die zweiten, gleichsam, um das Herz durch ein weiteres Ausströmen des Schmerzes, der es zerreißt, zu erleichtern. Das Glück ist schweigsamer als der Schmerz, und seine Schwingungen haben nicht nötig, sich außerhalb des Herzens, das sie mit süßen, geheimen Melodien erfüllen, zu verbreiten. Darum kann auch der Dichter und Erzähler bei der Entwicklung der menschlichen Leidenschaften die schmerzlichen Saiten viel leichter ertönen lassen.
   Wir gestehen ganz einfach, daß es über unsere Kräfte geht, das Glück zu schildern, das der Kanadier empfand, als sein junger Fabian nach so vielen überstandenen Gefahren wieder neben ihm saß, und wir überlassen es darum der Phantasie des Lesers, sich dieses Glück vorzustellen.
   Der junge Komantsche ruhte auf einem weichen Lager von Mänteln am Biberteich, und um ihn gruppierten sich unruhig und schweigend Bois-Rosé, Fabian, Pepe, Gayferos, Wilson, Sir Frederick und die drei Indianer, die allein noch von den zehn Kriegern, die der Häuptling mitgebracht hatte, übriggeblieben waren. Seinem Mut, seiner Geistesgegenwart verdankte der Waldläufer zum Teil die Befreiung Fabians; er allein hatte um den Preis seines Blutes die Tochter Don Agustins befreit; er war die Ursache des Todes der beiden Piraten gewesen, und zwar dadurch, daß er ihre Flucht verhinderte.
   Rayon-Brûlant lag jetzt auf seinem Schmerzensbett; Gesicht und Körper waren vom Kanadier gewaschen und die häßlichen, sonderbaren Malereien vertilgt worden. Er war ganz das, was die Natur aus ihm gemacht hatte: kräftig und schön. Ein trauriges Bild bot mitten in der schweigenden Lichtung dieser junge verwundete Krieger dar, von Männern umgeben, die während des Kampfes so energisch, nach dem Sieg so niedergeschlagen waren.
   Die Blicke des Kanadiers wandten sich mit lebhaftem Interesse von Fabian auf den Komantschen, während er seinem Adoptivsohn alles erzählte, was der Krieger für sie getan hatte, der unter ihren Augen fast sterbend dalag. Fabian brauchte nicht von allen Einzelheiten, die der Erzähler ihm berichtete, unterrichtet zu werden, um für Rayon-Brûlant unermeßliche Dankbarkeit zu fühlen. Er hatte gesehen, wie der Indianer die ohnmächtige Rosarita ihrem Vater wiedergab, und das war genug für ihn, um die lebhafteste Zuneigung für den jungen Komantschen zu empfinden.
   »Sein Zustand verschlimmert sich nicht, und das ist ein gutes Zeichen«, sagte Pepe, als der Kanadier eine gedrängte Erzählung aller Ereignisse vor dem Kampf an der Red Fork gegeben hatte. »Wenn nicht irgendein edler Teil verletzt ist und Gayferos einige Stengel des indianischen Krautes, das ihn selbst so rasch geheilt hat, finden kann, werden wir ihn nach drei Tagen in sein Dorf bringen können.«
   »Ich will im Augenblick danach suchen«, antwortete der skalpierte Gambusino und erhob sich, um sein Versprechen zu erfüllen; »wir haben noch beinahe zwei Stunden Tag.«
   Indessen schien Fabian von einem geheimen Gefühl der Mißstimmung ergriffen zu sein. Dem Kanadier, der allen seinen Bewegungen mit eifrigster Zärtlichkeit folgte, konnte die Ursache dieses Mißbehagens nicht entgehen. Der Waldläufer schien zwar ebenso wie Pepe ganz damit beschäftigt, die Büchse von Main-Rouge, deren er sich durch das Recht der Eroberung wie der spanische Jäger der des Mestizen bemächtigt hatte, Stück für Stück auseinanderzunehmen und zu putzen, er verlor dabei aber Fabian nicht aus den Augen. Dieser stand leise von seinem Platz auf, als ob er seine so lange Zeit hindurch untätigen Gliedmaßen wieder geschmeidig machen wollte, entfernte sich aber unmerklich aus dem Kreis seiner Freunde und wandte sich, nachdem er einen Blick auf den Komantschen, seinen unbewußten Nebenbuhler, geworfen hatte, zu den Biberhütten.
   Fabian suchte die Spuren derjenigen wiederzufinden, mit der er einen Augenblick lang die Gefangenschaft geteilt hatte; vielleicht hoffte er mitten in dem blutbesudelten Gras unter den Eindrücken der Füße, die der erbitterte Kampf tief in den feuchten Boden geprägt hatte, die Spuren der leichteren Füße Rosaritas zu unterscheiden. Obgleich jedoch in der Hütte, in die die Tochter Don Agustins gebracht worden war, ihr Haar den Staub hatte kehren müssen, so hatten doch an deren Eingang die Füße ihrer Räuber allein Spuren zurückgelassen, die sich mit denen des Pferdes, das sie fortgetragen hatte, mischten. Nur in der Phantasie vermochte Fabian in Ermangelung jeder wirklichen Spur die Erscheinung Doña Rosaritas wieder hervorzuzaubern, deren wallendes Kleid er einen einzigen Augenblick halb gesehen hatte und die dann ebenso schnell verschwunden war wie die süßen Bilder eines Traums beim Erwachen.
   Fabian hatte den Kopf auf die Erde geneigt und war in die schwermütige Betrachtung eines Ortes, der alle seine teuersten Erinnerungen wieder ins Leben rief, so versunken, daß er nicht bemerkte, wie der Kanadier hinter ihm stand.
   »Suchst du auch nach dem indianischen Kraut?« sagte eine Stimme in Fabians Ohr, die ihn durch die plötzliche Erinnerung an die Wirklichkeit erbeben ließ.
   Er wandte sich lebhaft um und sah den Waldläufer an seiner Seite, auf dessen Lippen ein Lächeln spielte, das nicht frei von Traurigkeit war. »Nein«, antwortete der junge Mann errötend, »ich suchte mich zu erinnern; und doch würde ich vielleicht besser daran tun, zu vergessen.«
   »Das sagte ich mir gerade auch, Fabian, als ich mich auf dem Meer und im Wald immer des kleinen Knaben erinnerte, den ich verloren hatte; aber ich habe mich immer wieder erinnern müssen und niemals vergessen können; Gott hat mich für meine Standhaftigkeit belohnt. Es gibt Dinge, die das Herz nicht aus seiner Erinnerung der Vergangenheit zu streichen vermag, wie es der Wanderer auf seinem Weg tun kann, der eine zu schwer gewordene Last zurückläßt.«
   In Bois-Rosés Worten lag ein Sinn, den Fabian nicht erkannte. War es eine Ermutigung? War es ein versteckter Vorwurf? Ahnte der Kanadier die Wahrheit, und hatte er sich darein ergeben, um die zweite Stelle in seinem Herzen einzunehmen?
   Fabian konnte sich nicht darüber klarwerden; aber der klagende Abendwind, der auf seinen Flügeln die Seufzer der auf dem Schlachtfeld Sterbenden davonzutragen schien, flüsterte nicht trauriger auf der Oberfläche des Teichs als die Stimme des alten Jägers, da er Fabian anredete.
   »Es ist noch Tag«, begann Bois-Rosé wieder nach kurzem Schweigen. »Willst du, so wollen wir zusammen zum Büffelsee gehen. Vielleicht … finden wir dort …« Der Waldläufer beendete seine Rede nicht, aber diesmal hatte ihn Fabian verstanden, und ohne den schmerzlichen Schatten zu sehen – in diesem Alter ist man zu entschuldigen —, der plötzlich die Augen seines Adoptivvaters verdunkelte, rief er lebhaft: »Vorwärts!«
   Der ungeduldige junge Mann und der alte Kanadier, der einen Seufzer unterdrückte, machten sich auf den Weg.
   Die Sonne begann hinter den Bergen zu versinken, deren hohe Spitzen in goldenem Licht glänzten, als sie beide durch den Hohlweg in die Ebene traten. Das lange Gras, das sie bedeckte, wogte hin und her, während alles im tiefsten Schweigen dalag, und nichts hätte an den Kampf des Morgens erinnert, wenn nicht lange, in der riesenhaften Vegetation des Tales entstandene Lichtungen in den Lücken und mitten unter zertretenen Halmen hier den Leichnam eines Indianers, dort den eines Pferdes, weiterhin die Leichen von Reitern und Pferden nebeneinander hätte erblicken lassen.
   Die beiden Reisegefährten marschierten schweigend weiter, mehr mit der Zukunft als mit dem blutigen Gemälde der vergangenen Kämpfe beschäftigt. Der Kanadier hatte leicht aus den halben Bekenntnissen Fabians über seine verschmähte Liebe und mittels des Namens der Tochter des Hacenderos die zerstreuten Angaben sammeln und daraus zu der Gewißheit gelangen können, daß Rosarita das junge Mädchen sei, das anscheinend hoffnungslos geliebt wurde; eine Liebe, die darum nicht weniger in ihrer ganzen Glut fortbestand.
   Immer schweigend durchwateten die beiden Wanderer die Furt des Red River und schritten auf dem durch das Gras gebahnten Fußpfad weiter, der nicht weit vom Büffelsee aufhörte. Es war derselbe Fußpfad, dem wenige Stunden zuvor Doña Rosarita folgte, indem sie auch an Fabian dachte und vor dem belebenden, verschwiegenen Morgenwind ihre süßen Träume von der Zukunft und die geheimsten Gedanken ihres Herzens ausbreitete.
   Der auf dem rechten Ufer des Flusses, wo sich jetzt Fabian und Bois-Rosé befanden, angefachte Brand war einige Schritt von hier – ohne Zweifel durch einen entgegengesetzten Wind zu seinem Ursprung zurückgedrängt – erloschen, und zuweilen senkten sich noch schwarze Rauchwolken auf die beiden Wanderer nieder.
   »Laß uns schneller gehen, Fabian«, sagte endlich der Kanadier; »dieser Rauch erinnert mich zu sehr an die schreckliche Angst, die ich deinethalben empfunden habe, als ich glauben konnte, daß der Brand der Ebene auch dich vielleicht mit seinen Flammen umhüllen könnte.«
   Fabian wollte gar nichts Besseres, als seinen Marsch beschleunigen, und nachdem die Wanderer einige Minuten mit raschen Schritten durch den Wald gegangen waren, führte sie das Bellen Ohos auf den richtigen Weg zum Büffelsee.
   »Hörst du, Fabian?« rief Bois-Rosé. »Das ist die Stimme deines Befreiers! Ohne den Instinkt dieses edlen Tieres wären wir vielleicht zu spät gekommen; er hat die Öffnung und den Durchgang bis in den Mittelpunkt der Lichtung entdeckt. Dieses Willkommen eines treuen Freundes ist eine glückliche Vorbedeutung, mein Sohn.«
   Fabian nahm diese Vorbedeutung zitternd vor Aufregung an; denn ein Vorhang von Laub, ein schmaler Gürtel von Bäumen war jetzt die einzige Schranke zwischen Rosarita und ihm.
   »Wer da?« rief Encinas‘ rauhe Stimme.
   »Ein Freund!« antwortete Bois-Rosé.
   Einige Minuten nachher traten die beiden Wanderer in den Waldsaum am Büffelsee. Encinas, noch ein anderer Büffeljäger – der einzige Gefährte, der ihm geblieben war – und die Dogge befanden sich hier; sonst war die Lichtung verlassen. Das himmelblaue Zelt Rosaritas, das ihres Vaters und des Senators spiegelten sich nicht mehr im Teich. Herrschaft und Diener – alle hatten eiligst eine Gegend verlassen, die ihnen so verderbenbringend geworden war. Selbst die Schranken des Corrals standen offen, und die wilden Pferde waren der Freiheit der Wälder zurückgegeben worden.
   Fabian mußte sich mit brechendem Herzen gegen einen Baum lehnen, um die Schwäche seiner zitternden Knie zu verbergen, und Bois-Rosé wich zum erstenmal seinem Blick aus. Wir wollen hier nicht den Versuch machen, auf dem Grund der Seele des Waldläufers zu lesen; vielleicht würden wir darin eine geheime Freude finden, die er, wenn er sie empfand, sich lebhaft vorwerfen mußte.
   Der herzliche Empfang von seiten des Büffeljägers gab Fabian Zeit, die Kraft seines Willens wiederzugewinnen, ohne daß jedoch die Blässe seiner Wangen ebenso schnell verschwunden wäre. Bois-Rosé nahm es statt seiner auf sich, den Büffeljäger über die plötzliche Abreise des Hacenderos und seines Gefolges zu befragen, obgleich deren Gründe leicht zu erraten waren.
   »Als ich mit zwei oder drei Vaqueros«, antwortete Encinas, »auf inständiges Bitten Don Agustins ihn und seine Tochter bis hierher begleitet hatte, blieb er kaum lange genug, um Doña Rosarita Zeit zu lassen, sich ein wenig zu erholen. Die Nähe der Indianer flößte ihm einen so lebhaften Schrecken ein, daß er aus Furcht, seine Tochter neuen Gefahren auszusetzen, selbst ein Pferd für sie sattelte, sie so bequem wie möglich auf einen Männersattel setzte, aus dem wir mit Stricken eine Art Frauensitz gemacht hatten, und vom Senator und von seinen drei Dienern begleitet im Galopp den Weg zum Presidio einschlug. Sie müssen jetzt in dessen Nähe und außer aller Gefahr sein. Dort will er die Vaqueros erwarten, die den Indianern entkommen sind. Wie ich haben diese armen Teufel die Hälfte ihrer Kameraden verloren«, schloß Encinas traurig, »und ihre Verwundeten mitgenommen.«
   »Ach, der vergangene Tag war schrecklich, und das Andenken daran wird sich noch lange in der Gegend erhalten«, sagte der Kanadier. »Vielleicht aber hätte Don Agustin sich weniger beeilen sollen, die Nähe eines Schlachtfelds zu verlassen, auf dem sich, wenn wir es recht nehmen, tapfere Leute nur für seine Sache und die seiner Tochter haben töten lassen.«
   »Wahrhaftig, Bois-Rosé, Ihr führt da ganz dieselbe Sprache wie jenes junge Mädchen das nicht weniger Mut wie Schönheit zu besitzen scheint. Aber ihr Vater wollte nicht auf sie hören.«
   »Also hat sie den Büffelsee wider ihren Willen so eilig verlassen?«
   »Ja. Sie behauptete, man dürfe treue Diener nicht so verlassen, da sie nach der Schlacht sorgfältiger Pflege bedürften!«
   »Und hat Doña Rosarita unter diesen Leuten, die sich für sie tapfer dem Tod aussetzten – ich meine nicht ihre Diener, sondern diejenigen, deren Hilfe uneigennütziger war —, niemand … namentlich erwähnt?« fügte der Kanadier hinzu.
   »O nein!« antwortete Encinas. »Sie sprach im allgemeinen.«
   Fabian hörte dieses Gespräch mit dem dumpfen Zorn eines Mannes an, der die Gedanken einer Frau unter dem Schleier verschwiegener Zurückhaltung, womit die Schüchternheit sie umhüllt, noch nicht zu erraten vermag. Er wußte nicht, daß, hätte Rosarita auch gewußt, daß er sich unter den Kämpfenden befand; hätte sie auch die Fürsorge ihres Vaters für alle nach der Reihe aufgerufen, er – der einzige, dessen Namen sie nicht erwähnt hatte – gerade der Gegenstand ihrer Zuneigung gewesen war. Der arme Fabian liebte mit der ungestümen Glut; aber auch mit der ganzen Unerfahrenheit des jungen Komantschen, seines wilden Nebenbuhlers. Tausend bittere Gedanken drangen auf ihn ein; tausend zusammenhanglose, unsinnige, einander widersprechende Pläne tauchten in ihm auf und erstarben einer nach dem anderen in seiner Seele, ohne ihn über den einzigen Weg, den er einschlagen mußte, aufzuklären. So kreuzen sich an einem stürmischen Himmel die Blitze von den entgegengesetzten Punkten des Horizonts aus, ohne daß ihr blendendes Licht die Finsternis zerstreuen könnte, wie dies ein einziger bleicher Sonnenstrahl vermag.
   »Als ich nun«, nahm Encinas wieder das Wort, »den Büffelsee verlassen fand, habe ich den wilden Pferden, die wir eingefangen hatten, die Schranken geöffnet, und in dem Augenblick, wo ihr ankamt, wollte ich gerade zum Biberteich gehen, um etwas von dem jungen edlen Komantschenkrieger zu hören, den ich wie einen Sohn liebe.«
   Unterdessen dachte Fabian, anstatt sich ganz einfach zu entschließen, sich in der Hacienda del Venado zu zeigen, bald daran, mit der Büchse in der Faust den Senator zu verfolgen, der ihm Rosarita entführte, und dann wieder, tief in der Steppe selbst der Erinnerung zu entfliehen.
   »Laßt uns zusammen zu dem Komantschen zurückkehren, wenn es Euch recht ist«, sagte Bois-Rosé. Encinas nahm das Anerbieten des Kanadiers an, um Rayon-Brûlant ein letztes Lebewohl zu sagen, wenn das Ende seiner Tage nahe wäre, oder, in dem Fall, daß seine Wunde nicht tödlich wäre, ihn ins Leben zurückkehren zu sehen.
   Sie machten sich auf den Weg, als Ohos Stimme die Ankunft eines Fremden ankündigte, dessen Pferd den Boden des Waldes widerhallen ließ.
   »Wer da?« rief Encinas und spannte seine Büchse.
   »Ich bin es, bei Gott, Señor Encinas!« antwortete ein Reiter, der einen Mantel aus Büffelhaut nach indianischer Sitte trug, auf dem die Sonne und der Mond prächtig in glänzenden Strahlen von Ocker und Zinnober abgemalt waren.
   »Ach, Ihr seid es, mein Junge«, sagte der Büffeljäger, über den Aufputz des Reiters lachend, der kein anderer war als der Novize, der Encinas‘ Geschichten so liebte. »Und woher kommt Ihr denn so vermummt?«
   »Caramba, Señor Encinas, ich komme tief aus dem Tal, wo ich – dafür bürge ich Euch – eine anstrengende Jagd auf Indianer gemacht habe.«
   »Habt Ihr dort diesen Mantel erobert?«
   »Ja«, sagte der Neuling stolz, »und ich werde nun ebenfalls prächtige Geschichten von dem blutigen Kampf an der Red Fork erzählen können. Doch halt – wo sind denn die anderen?«
   »Diejenigen, die noch am Leben sind, befinden sich auf dem Weg zum Presidio, wo Don Agustin Euch erwartet.«
   »Gut! Ich gehe auch dorthin.«
   »Was! Habt Ihr denn keine Furcht, Indianern zu begegnen?«
   »Ich? Geht doch! Das wäre mir gerade recht.« Und mit diesen Worten drang der angehende Vaquero, nachdem er Abschied von seinen Freunden genommen hatte, im Galopp in den Wald mit der Sicherheit eines Veteranen der Steppe und ganz stolz auf die Feuertaufe, die er an diesem Tag erhalten hatte.
   Auf dem Weg vom Büffelsee zum Biberteich nahm Fabian keinen Anteil an der Unterhaltung der beiden Jäger. Eine düstere Schwermut war in seiner Seele an die Stelle der sanften Traurigkeit getreten, die er bis jetzt empfunden hatte; dies hatte seinen Grund darin, daß er wieder zu hoffen angefangen hatte und nun abermals das kräftiger als je in seinem Herzen wieder angefachte Feuer erlöschen lassen mußte. Mehr als jemals glaubte sich Fabian von Rosarita verschmäht. Er bedachte nicht, daß es dem jungen Mädchen unmöglich gewesen war, sich den Befehlen ihres Vaters zu widersetzen; er wagte nicht zu glauben, daß sie bei ihrem plötzlichen Aufbruch vom Büffelsee die süße Gewißheit mitnahm, ihn jetzt, da sie ihn am Leben wußte, fast unmittelbar nach ihnen in der Hacienda ankommen zu sehen. Fabians Herz jedoch war von einer ungerechten Überzeugung erbittert, und er beschloß abermals, seine hoffnungslose Leidenschaft mit seinen Gefährten tief in der Steppe zu vergraben.
   Die Nacht war schon angebrochen, als sich Fabian nach der traurigen, erfolglosen Wanderung, die er unternommen hatte, wieder in der Nähe des Biberteichs befand.
   Der junge Komanische war wieder ein wenig zum Bewußtsein gekommen und hatte sich auch etwas erholt. Er erkannte Encinas wieder und drückte seine Hand und verfiel dann wieder in einen ziemlich ruhigen Schlaf. Sir Frederick ließ sein Zelt über dem jungen Verwundeten aufschlagen, um ihn gegen die Kühle der Nacht zu schützen, worauf die Sieger sich bei ihrem Feuer auf dem Schlachtfeld ausstreckten.
   Die Nacht wurde durch kein anderes Ereignis unterbrochen als durch den vorübergehenden Lärm, den das von dem amerikanischen Jäger verwundete weiße Pferd machte; dieser hatte es mit dem in einem dichten Gebüsch des Tals zurückgelassenen Gepäck des Engländers herbeigeholt. Das edle Tier hatte seine Gefangenschaft nicht ertragen können, und trotz der Stärke des Strickes, mit dem es festgebunden war, hatte es auf die Gefahr hin, sich zu erdrosseln, seine Bande zerrissen. Als Wilson herbeilief, war es zu spät, und der Sohn der Wälder hatte schon seinen windschnellen Lauf zu seiner Querencia genommen.
   Encinas wurde vom Krachen der Gesträuche, die von dem sich losreißenden Pferd niedergetreten wurden, und besonders durch den Chor von Flüchen geweckt, die Sir Frederick und der Amerikaner um die Wette ausstießen. Er versuchte sie damit zu trösten, daß es geradeso wäre, als gerieten sie in Verzweiflung, daß sie nicht den Wind festhalten und die Wolken am Himmel fangen könnten; aber die beiden Ketzer, wie der Büffeljäger sie nannte, wollten sich nicht trösten lassen.
   Der Tag war kaum angebrochen, als der Amerikaner und der Engländer sich bereitmachten, in der Richtung, die der Weiße Renner der Prärien genommen hatte, aufzubrechen. Encinas schüttelte den Kopf: »Nehmt Euch in acht, Señor Engländer«, sagte er; »diejenigen, die dieses wunderbare Tier zu eifrig verfolgen, sehen ihr Vaterland und ihre Familie nicht wieder.«
   »Mein lieber Freund«, antwortete Sir Frederick, »wir sind ganz und gar verschiedener Ansicht. Ihr glaubt an den Teufel, und ich glaube nicht daran. Was die gewöhnlichen Gefahren der Steppe anlangt – sofern es nämlich andere gibt als die, die man selbst sucht —, so kümmere ich mich darum nicht mehr, da mein Kontrakt mit Wilson von heute an wieder in Kraft tritt; ich fange wieder an, mit mehr Sicherheit zu reisen als an den Ufern der Themse, wo man einer Menge von Taugenichtsen begegnet, denen man nicht immer aus dem Weg gehen kann. Wilson!«
   »Sir?«
   »Habe ich nicht recht?«
   »Eure Gnaden erweisen mir wirklich viel Ehre, daß Sie auf mich allein ein größeres Vertrauen setzen als auf alle Polizisten Londons zusammengenommen.«
   »Seid Ihr fertig?«
   Wilson fand, daß er die Antwort hätte sparen können, und seine Antwort war darum die, daß er aufs Pferd stieg. Sir Frederick Wanderer machte es schweigend ebenso wie sein Leibgardist, drückte allen Umstehenden die Hand, schwang sich in den Sattel, und die beiden schweigenden Reisegefährten waren bald im Hohlweg hinter den Bäumen verschwunden. Obgleich man nicht mehr von ihnen hat reden hören, so glauben wir doch gern, daß die finstere Prophezeiung des Büffeljägers nicht in Erfüllung ging. Wir glauben lieber, daß der Engländer, da er so wenig sprach, noch weniger schrieb; und hätte er auch geschrieben, so ist doch der Postdienst in der Steppe noch nicht vollständig geordnet.
   Der Zustand des jungen Komantschen, der am vorhergehenden Abend schon beruhigender gewesen war, hatte sich gegen Morgen noch gebessert. Als der Kanadier den ersten auf die Wunde gelegten Verband abnahm, war deren Aussehen zufriedenstellend genug, daß das Auge in Ermangelung einer Sonde daraus schließen konnte, daß kein edler Teil verletzt sei, und die allmähliche Rückkehr der Kräfte des Indianers bestätigte diese Voraussetzung. Erst am folgenden Tag jedoch durfte man hoffen, ihn zu Wasser zum Dorf der Komantschen bringen zu können, das an den Ufern des Flusses in Texas lag.
   Zu diesem Zweck gingen die drei Krieger Rayon-Brûlants suchend den Strom entlang. Das Kanu aus Büffelhaut, das sie hergetragen hatte, war von der Strömung mit fortgerissen worden und verschwunden; aber die viel schwerere indianische Piroge war im Schilf hängengeblieben, und die Komantschen bedauerten ihr gebrechliches Fahrzeug nicht, da sie dafür die feste und schnelle Barke eingetauscht hatten. Noch blieb der wichtigste Punkt zu bestimmen: Welche Richtung sollten die drei Jäger einschlagen? Sollten sie den verwundeten Krieger, dem sie für so große Dienste verpflichtet waren, zu seinem Dorf geleiten? Hatte die letzte, schreckliche Prüfung, die sie eben bestanden hatten, den Entschluß Fabians geändert? Sollte der Kanadier seinem Sohn davon abraten, dieses Leben voll steter Gefahren – ein Leben, so reich an Aufregungen jeder Art – mit ihm fortzusetzen, oder ihm das Anerbieten machen, ein ruhiges Dasein mit ihm zu teilen? Über diesen ernsten, feierlichen Gegenstand berieten sich Bois-Rosé und der spanische Jäger in geheimer Sitzung, als Fabian gerade abwesend war.
   »Wir müssen die Entscheidung des Jungen selbst abwarten.«
   Damit schloß der Waldläufer, und dieser Tag ging noch hin, ohne daß Fabian hätte erraten lassen, wofür er sich entschied. Der Grund war ganz einfach der, daß er entschlossen war, sich aus der Gegend zu entfernen, die ihn zu lebhaft an Rosarita erinnerte, und darum beschloß, an dem Entschluß festzuhalten, den sie gemeinschaftlich im Val d‘Or gefaßt hatten: nämlich ihr abenteuerndes Leben als Waldläufer fortzusetzen.
   Am anderen Morgen ganz früh, als man eben Rayon-Brûlant in die Piroge getragen hatte und die Indianer bereit waren, abzustoßen, blieben Bois-Rosé und Pepe regungslos am Ufer stehen.
   »Nun, wie denn, mein Vater?« rief Fabian erstaunt. »Wollen wir denn so denjenigen verlassen, der sein Leben für die Sache der Weißen gewagt hat? Wollen wir ihn nicht zu seinem Dorf geleiten?«
   »Willst du es, mein Sohn?« sagte der Kanadier.
   »Willst du es denn nicht auch?« fragte Fabian.
   »Ohne Zweifel, aber nachher …«
   »Das Nachher gehört uns nicht.« Dann neigte sich Fabian an das Ohr Bois-Rosés und fügte hinzu: »Ich mache gemeinschaftliche Sache mit diesem jungen, edlen Krieger; wir werden beide von der Blume des Sees sprechen.«
   Fabian hatte Rayon-Brûlant den Namen der Blume des Sees murmeln hören und hatte erraten, daß es nur Rosarita sein könne, die ein anderer ebenso wie er vergessen mußte.
   Alle drei setzten sich in die Piroge an die Seite der Indianer. Encinas und sein Gefährte nahmen Abschied von ihnen und folgten lange mit den Augen dem Fahrzeug, das den Red River hinunterflog. Der Schattenriß Fabians, der traurig hinten im Fahrzeug saß, verwischte sich nach und nach ebenso wie die gigantische Gestalt des Kanadiers; dann war in der Ferne kaum noch ein kleiner Punkt sichtbar.
   Einige Augenblicke darauf verbargen die von einem Strahl der Sonne gefärbten Nebel des Flusses den Augen der Büffeljäger die drei Abenteurer gänzlich, die sich noch einmal ohne zu zittern den Launen eines unbekannten Schicksals anvertrauten.
   Die beiden Jäger entfernten sich nun ebenfalls, überließen die Lichtung den Toten, von denen sie bedeckt war, und den Biberteich den Bibern, die wieder von ihm Besitz nehmen würden.


   77. Der Mann mit dem roten Taschentuch

   Sechs Monate sind verflossen, seitdem die drei Jäger, ohne daß sie die Schätze des Val d‘Or einer Erinnerung gewürdigt hätten, in die Steppen von Texas gegangen waren, indem sie den Red River hinabfuhren. Die Regenzeit war der trockenen Jahreszeit gefolgt, und der Sommer kehrte wieder mit seiner glühenden Hitze, ohne daß man etwas von ihrem Schicksal oder von dem Erfolg der von Don Estévan de Arechiza befehligten Expedition wußte.
   Diaz war tot und hatte die Kenntnis von dem wunderbaren Tal mit ins Grab genommen, und Gayferos war seinen drei Befreiern gefolgt. Was war aus diesen unerschrockenen Jägern geworden, die Mühseligkeiten, Entbehrungen und Gefahren gesucht hatten, statt reich und mächtig, wie sie es hätten sein können, in das zivilisierte Leben zurückzukehren? Hatte die Steppe diese drei edlen Männer verschlungen, wie es mit so vielen anderen schon der Fall gewesen war? Hatte Fabian gleich jenen Ordensbrüdern, die im Schweigen des Klosters Vergessenheit der Täuschungen dieser Welt suchen, in der erhabenen Einsamkeit diejenige vergessen, die ihn liebte und ihn immer noch erwartete, ohne daß er es wußte?
   Das Folgende wird diese Fragen beantworten. An einem heißen Nachmittag verfolgten zwei bis an die Zähne bewaffnete Männer zu Pferd die einsame Straße, die von den Grenzen des Staates Sonora zum Presidio von Tubac führt. Ihr Anzug, die plumpe Ausrüstung ihrer Pferde und deren Schönheit boten zusammen einen auffallenden Gegensatz dar und schienen zwei untergeordnete Boten zu bezeichnen, die von irgendeinem reichen Grundeigentümer abgeschickt waren, um Nachrichten zu überbringen oder zu holen.
   Der erste war vom Kopf bis zu den Füßen in Leder gekleidet wie die Vaqueros der großen Haciendas; der andere, schwarz und bärtig wie ein Mohr, obgleich weniger einfach gekleidet als sein Gefährte, schien doch nicht von viel höherem Rang zu sein. Während einer Reise von einigen Tagen – die weißen Häuser des Presidios blitzten schon aus der Ferne – hatten die beiden Reiter wahrscheinlich alle Gegenstände der Unterhaltung erschöpft, denn sie trabten schweigend nebeneinander her.
   Die geringe Vegetation, mit der sich die Ebenen, die sie durchschritten, nach dem Regen des Winters geschmückt hatten, wurde abermals gelb unter den Strahlen der Sonne, und unter dem welken Gras zerriß der Boden vor dem glühenden Hauch des Südwinds. Das Laub der Bäume neigte sich durstig auf den glühenden Sand wie die Weiden an den Ufern der Flüsse.
   Die beiden Reiter kamen an den Eingang des Presidios, als die Glocke der Kirche das Abendangelus läutete.
   Tubac war damals noch ein Dorf mit zwei Querstraßen, mit Häusern, aus gestampfter Erde gebaut, die nur wenige Fenster auf der vorderen Seite besaßen, wie es an den Orten, die plötzlichen Einfällen der Indianer ausgesetzt sind, gewöhnlich der Fall ist. Starke Schutzgatter aus beweglichen Baumstämmen verteidigten die vier Zugänge zum Presidio. Ein Feldstück lag hinter jeder dieser starken Barrikaden auf seiner Lafette.
   Ehe wir den eben Ankommenden in das Presidio folgen, müssen wir von einem Vorfall sprechen, der, so unbedeutend er auch in der Wirklichkeit war, doch darum nicht weniger mitten in einem einsamen Dorf wie Tubac die Bedeutung eines Ereignisses hatte. Seit vierzehn Tagen ungefähr hatte eine geheimnisvolle Person – und zwar dadurch geheimnisvoll, weil sie den Bewohnern des Presidios unbekannt war – häufige, aber kurze Besuche im Ort gemacht. Es war ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, mager, trocken und nervig, dessen Antlitz von vielen Gefahren zeugte, denen er getrotzt hatte, dessen Zunge jedoch ebenso schweigsam wie sein Gesicht ausdrucksvoll war. Er antwortete wenig; dagegen aber fragte er viel und schien besonders gern erfahren zu wollen, was sich in der Hacienda del Venado zutrüge. Einige Bewohner des Presidios kannten den reichen Grundeigentümer wohl dem Ruf nach, aber wenige unter ihnen oder, um uns richtiger auszudrücken, niemand kannte Don Agustin Pena gründlich genug, um die Fragen des Unbekannten befriedigend zu beantworten.
   Jedermann in Tubac erinnerte sich der Expedition der Goldsucher, die vom Presidio aus vor sechs Monaten aufgebrochen waren, und einigen unbestimmten Antworten des Unbekannten nach vermutete man, daß er darüber mehr wisse, als er sagen wollte. Er war nach seiner Behauptung in den Steppen des Apachengebietes der Schar unter den Befehlen Don Estevans in einem sehr kritischen Augenblick begegnet, und er hatte einige Gründe, anzunehmen, daß sie mit den Indianern einen letzten, schrecklichen Kampf bestanden haben müßten, über dessen Erfolg er nichts Gutes prophezeite. Schließlich hatte er am vorhergehenden Tag gefragt, welchen Weg er einschlagen müsse, um sich zu Don Agustin zu begeben, und besonders hatte er anscheinend noch lebhafter zu erfahren gewünscht, ob Doña Rosarita noch unvermählt sei.
   Dieser Mann trug stets auf seinem Kopf ein rotkariertes Taschentuch, dessen Falten bis zu seinen Augen herabhingen, und nach dieser Kopfbedeckung bezeichnete man ihn nur mit dem Namen »der Mann mit dem roten Taschentuch«.
   Nachdem wir dies erzählt haben, kehren wir zu den beiden Reisenden zurück. Die zuletzt Angekommenen, deren Ankunft Aufsehen machte, ließen sich eines von den Fallgattern öffnen und ritten zu einem Haus im Presidio, auf dessen Schwelle ein Mensch saß, der seine Mußestunden mit der Gitarre in der Hand ausfüllte.
   Einer von den Reitern wandte sich an ihn: »Santas tardes, Señor«, sagte er. »Wollt Ihr wohl zwei Fremde die Gastfreundschaft Eures Hauses für einen Tag und eine Nacht in Anspruch nehmen lassen?«
   Der Gitarrenspieler stand höflich auf. »Steigt ab, meine Herren Kavaliere«, erwiderte er; »diese Wohnung ist so lange die eurige, als es euch gefallen wird, darin zu bleiben.«
   Das ist die einfache Förmlichkeit der Gastfreundschaft, die noch jetzt in diesen Ländern gebräuchlich ist.
   Die Reiter stiegen von den Pferden mitten unter den Müßiggängern, die neugierig herbeigekommen waren, um zwei Fremde zu betrachten, die im Presidio von Tubac stets eine seltene Erscheinung sind. Der Hausbesitzer half schweigend seinen Gästen beim Absatteln ihrer Pferde; aber die Neugierigen waren nicht so bescheiden und ermangelten nicht, eine Menge von Fragen an die beiden Personen zu richten.
   »Es ist gut. Laßt uns zuerst für unsere Pferde sorgen und selbst ein wenig essen, dann wollen wir plaudern; mein Kamerad und ich sind gerade zu diesem Zweck hergekommen.«
   Mit diesen Worten schnallte der bärtige Reiter seine riesigen Sporen ab, legte sie auf den Sattel seines Pferdes, den er ebenso wie die wollenen, bereits zusammengeschlagenen Decken unter den Säulengang des Hauses legte. Die Mahlzeit der beiden Fremden dauerte nicht lange; sie kehrten bald auf die Schwelle der Tür zurück und setzten sich neben ihren Wirt. Die Neugierigen hatten ihre Posten nicht verlassen.
   »Ich bin um so mehr aufgelegt«, sagte der bärtige Reisende, »euch allen den Zweck unseres Besuchs im Presidio mitzuteilen, da wir von unserem Herrn hierher geschickt sind, um eure Fragen zu veranlassen. Ist es euch recht?«
   »Vollkommen«, sagten mehrere Stimmen. »Und darf man zuerst wohl wissen, wer der Herr ist, von dem Ihr sprecht?« »Es ist Don Agustin Peña, von dem ihr gewiß schon habt reden hören.«
   »Der Besitzer der unermeßlichen Hacienda del Venado; ein Mann, der mehrfacher Millionär ist – wer sollte ihn nicht kennen?« antwortete einer von den müßig Umherstehenden.
   »Geradeso ist es. Dieser Reiter hier ist ein Vaquero, der mit der Besorgung des Viehs in der Hacienda beauftragt ist. Was mich anlangt – ich bin Haushofmeister und um die Herrschaft selbst beschäftigt. Hättet ihr wohl die Güte, mir etwas Feuer zu geben?« fuhr der bärtige Haushofmeister fort.
   Er hörte nun auf zu sprechen, um zuerst seine Zigarre aus Maisstroh anzuzünden.
   Dann fuhr er fort: »Vor sechs oder sieben Monaten ist von hier eine Expedition zur Suche von Goldstaub aufgebrochen. Diese Expedition wurde befehligt von einem gewissen … Wartet doch, ich habe ihn bei so vielen Namen nennen hören, daß ich nicht einen einzigen davon habe behalten können.«
   »Don Estévan de Arechiza«, erwiderte einer von den Mitsprechenden; »ein Spanier, wie deren nicht viele in diese Gegenden gekommen sind, und der, seinem stolzen Blick und seiner ehrfurchtgebietenden Haltung nach zu urteilen, sein ganzes Leben hindurch befohlen hatte.«
   »Don Estévan de Arechiza! Ganz recht«, sagte der Haushofmeister. »Und außerdem war er noch freigebig wie ein Spieler, der die Bank gesprengt hat. Aber ich komme auf die Expedition zurück! Aus wie vielen Männern bestand sie etwa?«
   »Mehr als achtzig sind von hier aufgebrochen.«
   »Mehr als hundert!« sagte ein anderer dienstwilliger Zuhörer.
   »Ihr irrt Euch; es waren nicht ganz hundert!« unterbrach ihn ein dritter.
   »Damit ist Don Agustin, meinem Herrn, nur wenig gedient. Das wesentliche ist, zu erfahren, wie viele davon zurückgekehrt sind.«
   Darüber gab es auch zwei verschiedene Ansichten.
   »Nicht ein einziger!« sagte eine Stimme.
   »Ach, ein einziger«, erwiderte eine andere Stimme.
   Der Haushofmeister rieb sich die Hände mit zufriedener Miene. »Gut«, sagte er; »denn um die Wahrheit zu sagen, das ist einer mehr, als wir zu glauben wagten, wenn nämlich dieser Señor, der behauptet, daß nicht alle Goldsucher tot sind, recht hat – wie ich hoffe.«
   »Glaubt Ihr denn etwa«, sagte einer von denen, die anderer Meinung waren, um seine Ansicht zu unterstützen, »daß der Mann mit dem roten Taschentuch keiner von denen ist, die wir vor sechs Monaten haben aufbrechen sehen? Ich möchte es aufs Kreuz und aufs Evangelium beschwören!«
   »Nicht doch!« erwiderte der andere. »Dieser Mann hat mit seinem Fuß vor diesem Tag niemals das Presidio betreten.«
   »Jedenfalls«, unterbrach sie ein dritter, »ist der Mann mit dem roten Taschentuch dabei interessiert, die Abgesandten Don Agustin Peñas wohl zu beachten, da er sich so oft nach ihm erkundigt hat. Der Unbekannte wird sich gegen diese Reiter ohne Zweifel deutlicher erklären als gegen uns.«
   »Das ist vortrefflich!« erwiderte der Haushofmeister. »Ihr werdet es wohl wissen, und ich kann es Euch, ohne unbescheiden zu sein, sagen, daß Don Agustin Peña, den Gott erhalten möge, der vertraute Freund von Señor Arechiza war und daß er seit sechs Monaten keine Nachrichten von ihm erhalten hat – was sehr natürlich sein würde, wenn er von den Indianern mit den anderen niedergemacht worden ist. Nun erwartet er jedoch seine Rückkehr, um seine Tochter Doña Rosarita, eine schöne, liebenswürdige junge Person, mit dem Senator Don Vicente Tragaduros zu vermählen.
   Die Monate sind verflossen, und da die Hacienda nicht an der Heerstraße von Arizpe nach Tubac liegt und wir niemand über diese bedauernswerte Expedition fragen konnten, so hat mich endlich mein Herr abgesandt, um Nachrichten im Presidio zu erfahren. Wenn er die Gewißheit hat, daß Don Estévan nicht wieder zurückkehren kann – da die jungen Mädchen nicht immer Senatoren tief in den Steppen finden, und da die Senatoren nicht immer, sooft sie wollen, eine Mitgift von einer Million Piastern erhalten …«
   »Caramba! Das ist eine schöne Summe!«
   »Ganz recht«, erwiderte der Haushofmeister. »Die beabsichtigte Vermählung wird zur gegenseitigen Zufriedenheit beider Teile stattfinden. Das ist der Grund, warum wir nach Tubac kommen. Wenn ihr mir also denjenigen herbringen könnt, der nach Eurer Meinung der einzige Überlebende von der Expedition ist, so werden wir vielleicht von ihm erfahren, was uns alle zu wissen interessiert.«
   Die Unterhaltung war bei diesem Punkt angelangt, als in einiger Entfernung von dem Haus, wo sie stattfand, ein Mann mit gesenktem Haupt vorüberging.
   »Halt«, sagte einer der dienstfertigen Zuhörer und zeigte mit dem Finger auf den in Rede stehenden Mann; »da geht gerade Euer einziger Überlebender.«
   »In der Tat; das ist ein Mann, dessen Haltung sehr geheimnisvoll ist. Seit einigen Tagen tut er weiter nichts als von einem Ort zum anderen zu gehen, ohne jemand Zweck und Beweggrund seiner Gänge anzuvertrauen. Wenn es Euch recht ist, so wollen wir ihn rufen. Heda, Freund!« rief einer von den Neugierigen. »Kommt her; hier ist ein Kavalier, der Euch zu sehen und zu sprechen wünscht.«
   Der geheimnisvolle Fremde näherte sich.
   »Señor Kavalier«, sagte der Haushofmeister höflich zu ihm, »nicht eitle Neugier treibt mich an, Euch zu befragen, sondern die Sorge, die meinem Herrn, der mich hersendet, das Verschwinden eines Freundes einflößt, dessen Tod er beweinen zu müssen fürchtet. Was wißt Ihr von Don Estévan de Arechiza?«
   »Gar vieles. Doch wenn es Euch gefällig ist – wie heißt der Herr, von dem Ihr sprecht?«
   »Don Agustin Peña, Eigentümer der Hacienda del Venado.«
   Das Gesicht des Unbekannten verriet einen Blitz der Freude. »Ich werde Don Agustin«, sagte er, »alle Auskunft geben, die er wünschen wird. Wie viele Tagesmärsche ist die Hacienda von hier entfernt?«
   »Drei Tagereisen, aber mit einem guten Pferd.«
   »Ich habe ein ausgezeichnetes; und wenn Ihr bis morgen abend auf mich warten könnt, so werde ich Euch begleiten und Don Agustin persönlich alle Einzelheiten erzählen.«
   »Abgemacht«, antwortete der Haushofmeister.
   »Ganz prächtig«, sagte der Mann mit dem roten Taschentuch eifrig. »Also morgen um diese Stunde; dann werden wir auch in der Kühle der Nacht reisen.«
   Er entfernte sich, während der Haushofmeister ausrief: »Caramba! Ich muß gestehen, daß man nicht gefälliger sein kann als dieser Kavalier mit dem roten Taschentuch!«
   Dieses Übereinkommen befriedigte aber die Neugierigen nicht; sie mußten sich jedoch schon damit zufriedengeben, denn sie sahen, wie der Mann mit dem Taschentuch wieder vorüberritt und sich rasch in nördlicher Richtung entfernte. —
   Der Unbekannte hielt sein Wort. Am folgenden, zur Abreise bestimmten Tag war er zum Abendangelus wie am Abend vorher zurückgekommen.
   Die beiden Diener Don Agustins nahmen Abschied von ihrem Wirt und versicherten ihn der zuvorkommendsten Aufnahme, wenn seine Geschäfte ihn jemals zur Hacienda del Venado führen sollten. Der Ärmste in diesen noch im ursprünglichen Zustand befindlichen Gegenden würde erröten, eine andere Belohnung für seine Gastfreundschaft anzunehmen als einen aufrichtigen Dank und das Versprechen, ebenfalls auf eine gleiche Gastfreundschaft rechnen zu können.
   Die drei Reiter entfernten sich nun in scharfem Trab. Das Pferd des Unbekannten stand in keinem Punkt an Kraft und Feinheit denen nach, die die beiden Diener Don Agustins ritten.
   Der Weg wurde schnell zurückgelegt, und am Morgen des dritten Tages bemerkten die Reisenden schon undeutlich in der Ferne den Turm der Hacienda del Venado. Kurze Zeit darauf stiegen sie im Hof ab. Obgleich dies zu der Stunde geschah, wo die aufgehende Sonne ihre ersten, erfreuenden Strahlen herabsendet, so lag doch etwas wie ein Anstrich von Trauer über dem Gebäude und seiner Umgebung, die das Morgenlicht nicht gänzlich zerstreuen konnte. Man hätte sagen können, daß die Schwermut der Herrschaft sich aus dem Innern auch über das Äußere verbreitete.
   Der Kummer verzehrte Doña Rosarita. Unruhe nagte an dem Hacendero, der sie zugrunde gehen sah.
   Trotz der schrecklichen Lage, in der sich die Tochter Don Agustins vor sechs Monaten am Tag des Kampfes an der Red Fork befunden hatte, hatte sie doch da die Überzeugung gewonnen, daß Fabian noch lebe. Am Morgen hatte sie seine Stimme erkannt; einige Stunden später hatte sie mit dem wunderbaren Instinkt der Frauen, als sie in den Armen Rayon-Brûlants über das Schlachtfeld getragen wurde, Fabian unter dem Schutz der Streitaxt eines Unbekannten kämpfen sehen. Warum war Tiburcio, wie sie ihn immer noch nannte, nicht zur Hacienda zurückgekehrt? Weil er tot war oder sie nicht liebte; und aus dieser Alternative entstand der tiefe Gram Rosaritas.
   Eine andere Unruhe für den Hacendero war der Mangel an jeder Nachricht über den Herzog von Armada; dann mischte sich in diese Unruhe auch etwas Ungeduld. Die verabredete Vermählung seiner Tochter mit dem Senator war das Werk Don Estévans. Tragaduros drang auf Vollziehung der Hochzeit. Don Agustin sprach darüber mit Rosarita; aber nur Tränen waren die Antwort, und der Vater wartete noch.
   Indessen entschloß sich Peña doch nach sechs Monaten, dem ein Ende zu machen und zum Presidio zu schicken, um Nachrichten über die von dem spanischen Señor befehligte Expedition einzuziehen. Es war die letzte Frist, um die die arme Rosarita gebeten hatte.
   Der Senator war auf einige Tage verreist, und der Hacendero war schon lange aufgestanden, als der Haushofmeister ihn von der Ankunft eines Fremden, der seine Ungewißheit beseitigen könnte, benachrichtigte. Er gab den Befehl, ihn in den dem Leser schon bekannten Saal zu führen. Doña Rosarita wurde gerufen und fand sich bald bei ihrem Vater ein.
   Einige Augenblicke nachher stellte sich der Unbekannte vor. Ein großer Filzhut, den er beim Eintritt mit der Hand berührte, ohne ihn abzunehmen, beschattete sein Gesicht, auf dem man zahlreiche bestandene Gefahren ablesen konnte. Unter der breiten Krempe seines Hutes hing ein Taschentuch von roter Baumwolle so tief auf seine Stirn, daß es seine Augenbrauen ganz bedeckte.
   Der Fremde betrachtete neugierig die Tochter Don Agustins.


   78. Die Erzählung

   Der Kopf von Doña Rosarita war in eine seidene Schärpe gehüllt, unter der die langen Flechten ihrer schwarzen Haare über den Busen herabfielen. Ihr Gesicht trug die Spuren eines langen, geheimen Leidens. Als sie sich setzte, flog über ihr blasses Gesicht ein Schein von ängstlicher Unruhe. Sie schien das Herankommen des Augenblicks zu fürchten, in dem sie nicht mehr von der Vergangenheit träumen durfte, sondern eine Zukunft annehmen mußte, in die sie nicht hineinzublicken wagte.
   Als der Fremde ebenfalls Platz genommen hatte, sagte der Hacendero: »Großen Dank, mein Freund, daß Ihr hergekommen seid, mir Nachrichten zu überbringen – obgleich ich ahne, daß sie sehr traurig sein müssen. Aber wir müssen alles erfahren. Der Wille Gottes sei gepriesen!«
   »Sie sind in der Tat traurig; aber es ist, wie Ihr sagtet, von Bedeutung« – der Unbekannte schien sich, seine Worte betonend, besonders an Doña Rosarita zu wenden —, »daß ich Euch nichts verhehle. Ich habe gar vieles in der Steppe gesehen, und sie verbirgt vielleicht nicht so viele Geheimnisse, als man zu glauben geneigt sein könnte.«
   Das junge Mädchen erbebte unmerklich und heftete einen klaren, tiefen Blick auf den Mann mit dem roten Taschentuch. »Sprecht, mein Freund«, sagte Rosarita mit klangvoller Stimme; »wir werden Mut haben, alles zu hören.«
   »Was wißt Ihr von Don Estévan?« begann der Hacendero wieder.
   »Er ist tot, Señor Kavalier.«
   Don Agustin stieß einen schmerzlichen Seufzer aus und stützte seinen Kopf in seine Hände.
   »Wer hat ihn getötet?« fragte er.
   »Ich weiß es nicht; aber er ist tot!«
   »Und Pedro Diaz, dieser Mann mit uneigennützigem Herzen?«
   »Tot wie Don Estévan.«
   »Und seine Freunde Cuchillo, Oroche, Baraja?«
   »Tot wie Pedro Diaz! Alle tot, ausgenommen … Aber wenn es Euch gefällig ist, Señor, so werde ich etwas weiter zurückgehen. Habe ich Euch nicht gesagt, daß Ihr alles erfahren müßtet?«
   »Wir hören, mein Freund!«
   »Ich will Euch keine Erzählung geben«, begann der Fremde, »von den Gefahren jeder Art, von den Kämpfen, die wir seit dem Augenblick unseres Aufbruchs zu bestehen hatten. Unter einem Chef, der uns ein grenzenloses Vertrauen einflößte, nahmen wir fröhlich unseren Anteil davon auf uns.«
   »Armer Don Estévan!« murmelte der Hacendero.
   »Beim letzten Nachtlager, das ich noch mit erreichte, hatte sich das Gerücht im Lager verbreitet, daß wir dicht bei einem unermeßlichen Goldlager wären. Unser Führer Cuchillo war verschwunden; seit zwei Tagen war er abwesend. Gott wollte mich ohne Zweifel retten, denn er flößte Don Estévan den Gedanken ein, mir den Befehl zu geben, in der Umgebung des Lagers Nachforschungen anzustellen.
   Ich gehorchte trotz der Gefahren dieses Auftrags und machte mich daran, die Spuren unseres Führers zu suchen. Nach einiger Zeit war ich glücklich genug, sie wiederzufinden. Ich folgte ihnen, als ich plötzlich in der Ferne eine Abteilung Apachen auf der Büffeljagd entdeckte. Ich warf so rasch wie möglich mein Pferd herum; aber wildes Geheul brach auf allen Seiten aus und bewies mir, daß ich entdeckt sei.«
   Der Fremde, in dem der Leser ohne Zweifel schon Gayferos, den skalpierten Gambusino, wiedererkannt hat, hielt einen Augenblick inne, als ob ihn die schrecklichen Erinnerungen überwältigten; dann erzählte er die Art und Weise, wie er von den Indianern gefangengenommen worden war; seine Angst bei dem Gedanken an die Qualen, die sie über ihn verhängen würden; den verzweifelten Kampf, den er gegen sie in einem Wettlauf mit nackten Füßen zu bestehen hatte, und die schrecklichen Leiden, die ihm dieser verursachte.
   »Einer von ihnen«, sagte er, »holte mich ein; ein Schlag warf mich zu Boden, und ich fühlte, wie die scharfe Spitze eines Messers einen feurigen Kreis um mein Haupt zog. Ich hörte einen Büchsenschuß knallen. Eine Kugel pfiff an meinen Ohren vorüber, und ich verlor vollständig das Bewußtsein. Ich weiß nicht, wie viele Minuten so vorübergingen. Abermalige Büchsenschüsse ließen mich die Augen wieder aufschlagen, aber das Blut, das über mein Gesicht strömte, machte mich blind; ich fuhr mit der Hand nach meinem glühenden und zugleich eisigen Kopf – mein Schädel war nackt. Der Indianer hatte mein Kopfhaar mit der Haut des Schädels abgerissen. Das ist der Grund, Señor Kavalier, warum ich Tag und Nacht dieses Taschentuch auf dem Kopf trage.«
   Kalter Schweiß bedeckte während dieser Erzählung das Gesicht des Gambusinos. Die beiden Zuhörer schauderten vor Schrecken und Entsetzen.
   Nach einem Augenblick tiefen Schweigens fuhr der Erzähler fort: »Ich hätte vielleicht Euch und mir die Erzählung so trauriger Einzelheiten ersparen sollen.«
   Gayferos wiederholte nun seinen Zuhörern, was wir schon wissen: nämlich die unerwartete Hilfe, die ihm die drei auf das Eiland geflüchteten Jäger leisteten. Es war bei dem Augenblick, wo ihn der Kanadier in Gegenwart der Indianer auf die Insel trug, als diese heldenmütige Tat dem Mund Don Agustins einen Ausruf der Bewunderung entriß.
   »Aber es waren doch wohl ihrer zwanzig auf dieser Insel oder diesem Fluß?« unterbrach er ihn.
   »Wenn ich den Riesen, der mich in seinen Armen trug, dazuzähle, waren es drei«, erwiderte der Erzähler.
   »Bei Gott, dann sind es tapfere Männer! Doch fahrt fort!«
   Der Gambusino erzählte weiter: »Die Gefährten dessen, der mich auf seinen Armen getragen hatte, waren ein anderer Mann, fast von seinem Alter – das heißt fünfundvierzig bis fünfzig Jahre —, und dann ein junger Mann mit bleichem, aber stolzem Gesicht, mit funkelndem Auge und süßem Lächeln. Bei Gott, ein schöner junger Mann, Señorita, den ein Vater stolz seinen Sohn nennen würde; ein Mann, der eine Frau glücklich und stolz machen würde, wenn sie ihn zu ihren Füßen sähe. In einem kurzen, ruhigen Augenblick, den meine schrecklichen Schmerzen mir vergönnten, konnte ich meine Befreier nach ihren Namen und ihrem Stand fragen. Aber ich konnte nichts von ihnen erfahren, als daß sie Otternjäger wären und zu ihrem Vergnügen die Steppe durchstreiften. Das war nicht recht wahrscheinlich; doch machte ich keine Bemerkung darüber.«
   Doña Rosarita konnte einen Seufzer nicht ganz unterdrücken; vielleicht erwartete sie einen Namen.
   Gayferos fuhr in der Erzählung der Einzelheiten fort, die der Leser schon kennt. Als er bei der Entführung Fabians von Mediana angelangt war, vermied er es aus einem Gefühl des Anstands für das junge Mädchen, von Main-Rouge und Sang-Mêlé u sprechen. »Ja, Señorita«, rief er aus, »der arme junge Mann wurde von den Indianern gefangengenommen, und sein martervoller Tod sollte den Tod der Ihrigen sühnen.«
   An dieser Stelle der Erzählung hatten sich die Wangen Rosaritas mit einer tödlichen Blässe bedeckt.
   »Nun, und dieser junge Mann«, unterbrach ihn der Hacendero, den diese traurige Entwicklung beinahe ebensosehr wie seine Tochter aufregte; »was ist aus ihm geworden?«
   Rosarita, deren Stimme bei der Erzählung des Gambusinos erloschen war, vergalt mit einem zärtlichen, dankbaren Blick die Sorge, die ihr Vater für diesen jungen Mann zeigte, für den sie sich so lebhaft interessierte.
   Gayferos verbarg einen Blick der Freude und enthielt sich immer noch mit demselben Zartgefühl auch der geringsten Anspielung auf den blutigen Kampf im Tal der Red Fork. Er fuhr dann fort: »Drei Tage und drei Nächte vergingen in schrecklicher Angst, die nur von einem schwachen Hoffnungsschimmer gemindert wurde. Endlich am Morgen des vierten Tages konnten wir unversehens über die blutdürstigen Räuber herfallen, und nach einem erbitterten Kampf konnte der riesenhafte Krieger denjenigen frisch und gesund wieder befreien und an sein Herz drücken, den er seinen vielgeliebten Sohn nannte.«
   »Gott sei Dank!« rief der Hacendero mit einem tiefen Seufzer aus.
   Rosarita sagte nichts; aber die an die Stelle ihrer Blässe getretene belebtere Gesichtsfarbe war Zeugnis genug von ihrer Freude. Ihre Lippen waren wieder ruhig geworden und lächelten beim Schluß der Erzählung des Gambusinos.
   Wir müssen einen Augenblick Gayferos‘ Erzählung unterbrechen, um noch zu erwähnen, daß der Angriff Bois-Rosé und seiner Schar an den Ufern des Roten Flusses so ungestüm gewesen und die Flucht Don Agustins mit seiner Tochter so eilig erfolgt war, daß beide zwar die Einzelheiten des Kampfes, aber durchaus nicht die Namen derer wußten, die sich dort ausgezeichnet hatten. Allerdings hatte Rosarita Fabian im Kampf an der Seite Bois-Rosé gesehen, aber ohne zu wissen, wie der Jäger hieß; ohne zu wissen, daß Fabian der Gefangene der Piraten der Prärien gewesen war. Doch weckten gewisse übereinstimmende Punkte die Hoffnung des jungen Mädchens.
   »Fahrt fort!« sagte der Hacendero. »Aber in dieser Erzählung, die einen Mann lebhaft interessiert, der selbst vor sechs Monaten Gefangener der Indianer war, suche ich vergebens die einzelnen Umstände, die den Tod des armen Don Estévan veranlaßten.«
   »Ich kenne sie nicht«, fuhr Gayferos fort, »und kann Euch nur die Worte des jüngsten unter den drei Jägern wiederholen, den ich eines Tages darüber befragte. ›Er ist tot‹, sagte er zu mir mit ernstem Ton. ›Ihr selbst seid der letzte Rest einer größeren Expedition. Wenn Ihr nach Hause zurückgekehrt sein werdet – denn‹, fügte er seufzend hinzu, ›Ihr habt vielleicht jemand dort, der schmerzlich die Tage Eurer Abwesenheit zählt —, so wird man tausend Fragen über das Schicksal Eures Chefs und Eurer Führer an Euch richten. Antwortet darauf: Die Führer sind in der Erfüllung ihrer Pflicht getötet worden. Was Euren Chef anbelangt, so hatte ihn die Gerechtigkeit Gottes verdammt, und das Gottesurteil ist in der Steppe vollzogen worden. Don Estévan de Arechiza wird nie mehr zu seinen Freunden zurückkehren.‹
   »Armer Don Estévan!« rief der Hacendero aus.
   »Und Ihr habt die Namen dieser so liebreichen, so edelmütigen und so tapferen Männer nicht erfahren können?« fragte Rosarita.
   »Nicht für den Augenblick«, erwiderte Gayferos. »Nur kam es mir sonderbar vor, daß der jüngste unter den drei Jägern zu mir von Don Estévan, Diaz, Oroche und Baraja gesprochen hatte, als kenne er sie genau.«
   Ein ängstliches Beben überlief unmerklich den Körper Rosaritas; ihr Busen hob sich, ihre Wangen wurden purpurrot, dann wurden sie wieder bleich wie die Blume der Datura; aber ihr Mund blieb stumm.
   »Ich beendige nun meine Erzählung«, fuhr Gayferos fort. »Nachdem wir den Sohn des tapferen Kriegers den Apachen entrissen hatten, wandten wir uns zu den Prärien von Texas.
   Ich will nicht von allen Gefahren erzählen, in denen wir Ottern– und Biberjäger während der sechs Monate eines herumstreifenden Lebens, das auch seinen Reiz hat, geschwebt sind. Es war aber einer unter uns, der diese abenteuerliche Lebensweise nicht ebenso angenehm fand als wir drei. Das war der schon erwähnte junge Mann.
   Als ich ihn zum erstenmal sah, war mir der schwermütige Ausdruck von Ergebung in seinem Gesicht aufgefallen; später jedoch schien seine Ergebung abzunehmen und seine Schwermut größer zu werden. Vergebens ergriff der alte Jäger, den ich für seinen Vater hielt – ich weiß jetzt, daß er es nicht ist —, jede Gelegenheit, ihn die Pracht der großen Wälder, in denen wir lebten, die ehrfurchtgebietenden Szenerien der Steppe, den Reiz der Gefahren, denen wir trotzten, bewundern zu lassen; nur in der Gefahr vergaß der junge Mann seine Schwermut. Er rief sie herbei und schien sie eifrig zu suchen, wie es derjenige tut, dem die Last des Lebens beschwerlich zu werden anfängt.
   In ruhigen Augenblicken zeigte er eine düstere Stimmung, und ich sagte oft zu dem alten Krieger: »Die Einöde ist nur für das reife Alter da; die Jugend liebt das Geräusch und den Anblick ihresgleichen; laßt uns zu den Ansiedlungen zurückkehren!«
   Und der Riese seufzte, ohne mir zu antworten.
   Nach und nach wurde die Stirn der beiden Jäger, die den jungen Mann wie ihren Sohn liebten, auch düsterer. In einer Nacht, wo der junge Mann und ich erwachten, erinnerte ich ihn an einen Namen, den seine Lippen vor sechs Monaten im Schlaf ausgesprochen hatten; ich erfuhr nun die Ursache seines Kummers, der sein Leben langsam untergrub. Er liebte, und die Einöde hatte eine Erinnerung nur lebendiger geweckt, die er vergeblich auszulöschen gehofft hatte. Ja, der arme junge Mann liebte, und zwar unglücklich – ohne Gegenliebe.«
   Der Erzähler schwieg einen Augenblick und beobachtete mit forschenden Augen die Haltung seiner Zuhörer; besonders die Doña Rosaritas, auf die er es hauptsächlich mit der Erzählung aller Umstände, die vorzüglich dazu geeignet sind, die Fibern des Herzens einer Frau erbeben zu lassen, abgesehen zu haben schien.
   Krieger und Jäger zugleich, suchte der Hacendero das Vergnügen nicht zu verbergen, das er über die Geschichte dieser Unbekannten empfand.
   Rosarita suchte unter einer scheinbaren Kälte den Reiz zu verbergen, den sie bei diesem Roman empfand, der Herz und Sinn zugleich in Anspruch nahm und dessen rührendste Seiten der Gambusino ihr sorgfältig aufschlug. Das Feuer ihrer großen schwarzen Augen, die Farbe ihrer Wange straften jedoch ihre Anstrengungen Lügen. »Ach«, rief Don Agustin, »wenn diese drei tapferen Unbekannten unter dem Befehl des armen Don Estévan gestanden hätten, so wäre das Schicksal der Expedition ohne Zweifel ein ganz anderes gewesen.«
   »Ich glaube es auch«, antwortete Gayferos; »Gott hatte es anders beschlossen. Unterdessen«, fuhr er fort, »empfand ich lebhaft den Wunsch, mein Vaterland wiederzusehen; aber die Dankbarkeit machte es mir zur Pflicht, es ihnen zu verschweigen. Der alte Krieger schien es zu ahnen und sprach mit mir darüber. Zu edelmütig, um ihr Werk unvollendet zu lassen und mich allein den zahllosen Gefahren der Rückkehr auszusetzen, entschloß sich der riesige Jäger, mich bis Tubac zu begleiten. Sein Gefährte hatte nichts gegen diesen Entschluß einzuwenden, und wir machten uns zur Grenze hin auf den Weg. Der junge Mann allein schien uns nur widerstrebend zu folgen.
   Um das Presidio zu erreichen, war es notwendig, zum zweitenmal die Kette der Nebelberge zu überschreiten, und gerade beim Einbruch der Nacht hatten wir sie überstiegen und waren genötigt, haltzumachen. Es ist dies eine Gegend, die von den Gilenosindianern am häufigsten besucht wird, und wir konnten nur mit der größten Vorsicht hier übernachten.
   Ich gestehe es, nichts gleicht mehr der Wohnung der Geister des Abgrunds als diese Berge, in deren Mitte wir die Nacht zubrachten. Jeden Augenblick wurde unser Schlaf durch sonderbares Getöse unterbrochen, das aus den Schluchten der Felsen hervorzukommen schien. Bald war es wie das unterirdische Getöse eines grollenden Vulkans oder wie die Stimme eines fernen brausenden Wasserfalls; bald war es wie das Geheul von Wölfen oder wie klagendes Seufzen, und von Zeit zu Zeit zerrissen unheimliche Blitze den ewigen Nebelschleier, der diese Berge bedeckt.
   Ein peinlicher Traum vermehrte bei mir noch die düstere Stimmung, in die mich das unerklärliche Getöse versetzte. Ich träumte, daß ich mich noch auf der Insel befände, daß das Geheul der Indianer meine Ohren zerriß, daß Büchsenschüsse noch schmerzlich wie sechs Monate früher meine schwachen Nerven erschütterten. Dieser Traum zeigte mir im Schlaf so schreckliche Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit, daß ich mehrmals erwachte, ohne die Kraft dazu zu haben, den bleiernen Schlaf, der auf mir lastete, abzuschütteln. Endlich wachte ich auf und öffnete die Augen. Alles um uns war so ruhig, wie es bei dem übernatürlichen Getöse, das von allen Seiten erscholl, nur immer sein konnte.
   Wir hatten uns aus Furcht vor einem Überfall und ohne Feuer anzuzünden auf einem Felsen gelagert, der wie ein Tisch in ein ziemlich breites Tal hineinreichte und sich ungefähr fünfzig Fuß über dieses erhob. Die beiden älteren Jäger schliefen in einiger Entfernung von mir, der jüngste allein wachte; er war an der Reihe und war wie immer gezwungen gewesen, dieses Recht in Anspruch zu nehmen, denn seinen Gefährten schien es peinlich zu sein, ihn so ihre Beschwerden teilen zu sehen.
   »Habt Ihr nichts gehört?« fragte ich meinen wachenden Gefährten.
   »Nichts Neues«, sagte er zu mir, »als das Getöse der in diesen Bergen stets unruhigen unterirdischen Vulkane.« »Sagt lieber, daß wir uns hier an einem verfluchten Ort befinden«, erwiderte ich und erzählte dem jungen Mann meinen Traum.
   »Das ist vielleicht eine Warnung«, sagte er ernst. »Ich erinnere mich, daß ich eines Nachts einen ähnlichen Traum hatte, als …«
   Der junge Mann hielt inne. Er näherte sich dem Rand des Felsens, der das Tal beherrschte. Unwillkürlich machte ich es ebenso. Derselbe Gegenstand fiel uns zu gleicher Zeit in die Augen.
   Einer der Geister der Finsternis, die diese Gegenden bewohnen müssen, schien plötzlich eine sichtbare Gestalt angenommen zu haben. Es war eine Art von Gespenst mit dem Kopf und dem Pelz eines Wolfs, aber aufrecht auf seinen Beinen wie ein menschliches Wesen. Ich bekreuzigte mich, sagte ein Stoßgebet her, aber das Gespenst rührte sich nicht.
   »Das ist der Teufel!« murmelte ich.
   »Es ist ein Indianer« erwiderte der junge Mann; »seht dort in einiger Entfernung seine Gefährten.«
   In der Tat konnten unsere an die Dunkelheit schon gewöhnten Augen etwa zwanzig Indianer auf der Erde liegend bemerken, die uns gewiß nicht so nahe bei sich vermuteten.
   Ach, Señorita, das war eine solch gefährliche Lage, nach der der arme junge Mann, der uns begleitete, so begierig war, und Sie würden wie ich mit blutendem Herzen die traurige Freude gesehen haben, die in seinen Augen blitzte; denn je mehr wir uns den Ansiedlungen näherten, um so mehr schien seine Schwermut zuzunehmen.
   »Wir wollen unsere Freunde wecken«, sagte ich nun.
   »Nein, laßt mich allein gehen. Diese beiden Männer haben genug für mich getan; an mir ist jetzt die Reihe, mich der Gefahr auszusetzen, und wenn ich sterbe … nun, dann werde ich vergessen …«
   Mit diesen Worten ging der junge Mann von mir weg, machte einen Umweg, und ich verlor ihn aus den Augen, ohne daß ich jedoch aufhörte, das schreckliche, regungslose Wesen fünfzig Fuß unter mir zu beobachten …
   Plötzlich sah ich, wie eine andere schwarze Gestalt sich auf sie warf, wie die beiden Körper zu einem einzigen wurden, aber still genug, daß man hätte glauben können, es sei ein Kampf zweier Geister. Sie verschwanden aus meinen Augen in einer Spaltung des Bodens, und ich betete zu Gott für den edlen jungen Mann, der sein Leben mit soviel kaltem Blut und Unerschrockenheit aufs Spiel setzte. Kurze Zeit darauf sah ich ihn zurückkommen; das Blut strömte aus einer breiten Kopfwunde über sein Gesicht.
   »0 Jesus!« rief ich aus. »Ihr seid verwundet!«
   »Es ist nichts!« sagte er. »Nun will ich meine Gefährten wecken.«
   »Was soll ich noch sagen, Señorita?« fuhr der Gambusino fort. »Mein Traum war uns eine Warnung Gottes. Eine Abteilung Indianer, die wir an der Red Fo… in Texas, wollte ich sagen, vollständig in die Flucht geschlagen hatten, war wieder unseren Spuren gefolgt, um das Blut der Ihrigen, das an den Ufern des … an der Stelle, wo wir den jungen Mann befreit hatten, geflossen war, zu rächen. Aber die Indianer hatten mit furchtbaren Gegnern zu tun. Ihre Schildwache war von dem mutigen jungen Mann erdrosselt worden, ehe sie nur Zeit gehabt hatte, einen Alarmruf auszustoßen, und die anderen wurden im Schlaf von den drei vereinigten Jägern überfallen.
   Die Nacht war noch nicht vorüber, als diese neue Heldentat ausgeführt war, und ich schlief wieder ein. Ich erwachte erst nach Tagesanbruch. Die beiden Jäger standen aufrecht auf dem Felsen, der das Tal beherrschte, und beide blickten auf den Schlaf dessen, den sie so sehr liebten. Ich wollte den großen Jäger über die einzelnen Umstände der Abenteuer der Nacht befragen, als er den Finger auf den Mund legte und auf den schlafenden jungen Mann zeigte. Es war sein Sohn, dessen Schlaf er bewachte. Ich begriff, daß ich ihn nicht stören durfte, und schaute, ohne etwas zu sagen, auf seine bleichen Züge und die blutige Binde, die um seinen Kopf geschlungen war.«
   »Armes Kind!« unterbrach ihn leise Doña Rosarita. »Noch so jung und schon ein Leben voll steter Gefahren. Armer Vater auch, der in jedem Augenblick für die Tage eines vielgeliebten Sohnes zittern muß!«
   »Eines vielgeliebten, wie Ihr sagt, Señorita«, erwiderte der Erzähler. »Sechs Monate lang habe ich in jedem Augenblick die unendliche Zärtlichkeit dieses herkulischen Vaters für seinen Sohn sehen können.
   Der junge Mann schlief ruhig, und sein Mund flüsterte leise einen Namen, aber laut genug, daß ich es hören konnte, und es war der Name einer Frau.«
   Die schwarzen Augen Rosaritas schienen den Erzähler zu fragen; aber das Wort erstarb auf ihren halbgeöffneten Lippen; sie wagte nicht auszusprechen, was ihr Herz in ihr Ohr flüsterte.
   »Aber ich nehme Ihre Zeit zu lange in Anspruch«, fuhr Gayferos fort, ohne daß er die Verwirrung des jungen Mädchens zu bemerken schien; »ich komme zum Schluß meiner Erzählung.
   Der junge Mann wachte in dem Augenblick auf, wo der Riese, nachdem er mich beiseite geführt hatte, mir die verlangte Erklärung geben wollte. ›Halt!‹ sagte er. ›Geht hinunter und zählt die Toten, die diese Hunde uns zurückgelassen haben.‹
   Elf auf dem Boden ausgestreckte Leichen«, fuhr der Gambusino fort, »und zwei gefangene Pferde bezeugten den Sieg dieser unerschrockenen Indianertöter.«
   »Ehre sei diesen Unbekannten!« rief Don Agustin enthusiastisch aus.
   Seine Tochter schlug ihre zarten Hände zusammen und rief ebenfalls mit flammenden Wangen und Augen, die von einem Enthusiasmus wie die ihres Vaters blitzten, aus: »Das ist schön! So jung und so tapfer!«
   Das junge Mädchen spendete sein Lob nur dem jungen Unbekannten, dessen Namen ihm das feine Gefühl der Frauen, das zuweilen ein zweites Gesicht zu sein scheint, vielleicht offenbarte. Der Erzähler schien mit Lust die seinen Freunden gespendeten Lobeserhebungen zu hören.
   »Aber Ihr erfuhrt doch endlich ihren Namen?« fragte schüchtern Doña Rosarita.
   »Der Älteste hieß Bois-Rosé, der zweite Pepe oder Dormilon; was den jungen Mann betrifft …«
   Gayferos schien sich auf einen Namen zu besinnen, ohne daß er die ängstliche Erwartung zu bemerken schien, die sich bei dem jungen Mädchen in dem wogenden Busen, in ihrer Blässe und den geschwellten Nasenflügeln kundgab. Da die Lage Tiburcios mit der des jungen Unbekannten so ähnlich war, zweifelte sie nicht daran, daß er es auch sei, und das arme Kind raffte seine Kräfte zusammen, um seinen Namen anzuhören, ohne dabei einen Ausruf des Glücks und der Liebe auszustoßen.
   »Was den jungen Mann betrifft«, fuhr der Gambusino fort, »so hieß er … Fabian.«
   Bei diesem Namen, der Rosarita an nichts erinnerte und so ihre süßen Täuschungen vernichtete, legte sie schmerzlich die Hand auf ihr Herz, ihre Lippen erbleichten; die Farbe, die die Hoffnung auf ihre Wangen zurückgerufen hatte, erlosch wie die rosigen Wolken nach Sonnenuntergang; dann konnte sie nur unwillkürlich wiederholen: »Fabian!«
   Aber Fabian war für sie nicht Tiburcio – Fabian war ein Unbekannter!
   In diesem Augenblick wurde die Erzählung des Gambusinos durch die Ankunft eines Dieners unterbrochen. Der Kaplan bat den Hacendero, einer Angelegenheit halber, über die er mit ihm zu sprechen habe, einen Augenblick zu ihm zu kommen.
   Don Agustin verließ den Saal, indem er versprach, daß er bald zurückkehren würde.
   Der Gambusino und das junge Mädchen blieben allein. Dieser betrachtete die unter ihrem seidenen Schleier verwirrte und zitternde Rosarita einen Augenblick schweigend und mit kaum verhehlter Freude. Ein geheimes Gefühl sagte ihr, daß Gayferos seine Erzählung noch nicht beendet hatte.
   In der Tat sagte der Gambusino leise zu ihr: »Fabian hatte noch einen anderen Namen, Señorita; wollen Sie ihn wissen, während wir hier ohne Zeugen sind?«
   Rosarita erbleichte. »Einen anderen Namen? O sagt ihn!« erwiderte sie mit bebender Stimme.
   »Man hat ihn lange Tiburcio Arellanos genannt.«
   Ein Ausruf des Glücks rang sich aus der Brust des jungen Mädchens, das sich von seinem Sitz erhob, sich dem Überbringer dieser guten Nachricht näherte, seine Hand ergriff und sie mit ausbrechender Leidenschaft an die Lippen preßte. »Dank! Dank«, rief Rosarita aus; »obgleich mein Herz es mir schon gesagt hat.« Dann schritt sie wankend durch den Saal und kniete vor einer Madonna in goldenem Rahmen nieder.
   »Tiburcio Arellanos«, nahm der Gambusino das Wort, »ist jetzt nur noch Fabian, und Fabian ist der letzte der Grafen von Mediana, einer edlen Familie in Spanien.«
   Das junge Mädchen betete immer noch, ohne daß es Gayferos‘ Worte zu hören schien.
   »Unermeßliche Güter, einen großen Namen, Titel, Ehre – alles legt er zu den Füßen der Frau nieder, die die seinige werden wird.«
   Das junge Mädchen setzte sein glühendes Gebet fort, ohne den Kopf umzuwenden.
   »Und dennoch«, nahm der Gambusino wieder das Wort, »hat das Herz Don Fabians von Mediana nichts von dem vergessen, was das Herz von Tiburcio Arellanos gefühlt hat.«
   Rosarita unterbrach ihr Gebet.
   »Tiburcio Arellanos wird heute abend hier sein, wenn Sie ihn anhören wollen.«
   Diesmal betete das junge Mädchen nicht mehr. Es war Tiburcio und nicht Fabian, Graf von Mediana; Tiburcio, arm und unbekannt, den sie so sehr beweint hatte. Nur bei diesem Namen hörte sie. Ehren, Titel, Reichtümer, was kümmerte sie das? Fabian lebte und liebte sie immer noch; war das nicht genug?
   »Wenn Sie sich nach der Öffnung in der Ringmauer begeben wollen, wo er Sie verlassen hat, so werden Sie ihn heute abend dort finden. Erinnern Sie sich auch des Ortes, den ich meine?«
   »O mein Gott«, murmelte das junge Mädchen; »als ob ich nicht alle Abende hinginge!«
   Und immer noch kniete Rosarita vor dem Bild der Madonna und nahm ihr unterbrochenes Gebet wieder auf.
   Der Gambusino betrachtete einige Augenblicke dieses glühende kniende Wesen, ihren seidenen, bis auf die Hüften herabwallenden Schleier, die bloßen Schultern und die langen Flechten ihres Haares, das in geschmeidigen Ringeln auf den Boden des Saales niederfiel, dann ging er ebenfalls hinaus.


   79. Die Rückkehr

   Als Don Agustin Peña in den Saal zurückkehrte, fand er seine Tochter allein und immer noch auf den Knien liegend; er wartete, bis sie ihr Gebet beendet hatte. Die sichere Nachricht vom Tod Don Estévans nahm den Hacendero so in Anspruch, daß er natürlich der frommen Handlung Rosaritas einen ganz anderen Zweck, als sie wirklich hatte, unterlegte. Er dachte, daß sie heiße Gebete für die Ruhe desjenigen gen Himmel sandte, dessen geheimnisvolles Ende man eben erfahren hatte.
   »Jeden Tag«, sagte er, »soll der Kaplan ein ganzes Jahr lang auf meinen Befehl eine Messe für Don Estévan lesen, denn dieser Mann hat von der Gerechtigkeit Gottes gesprochen, die sich in der Steppe erfüllt hat. Das sind gewichtige Worte, und die Art, wie er sie ausgesprochen hat, läßt keinen Zweifel an deren Wahrheit zu.«
   »Gott sei seiner Seele gnädig«, erwiderte Rosarita aufstehend; »er gewähre ihr Barmherzigkeit, wenn sie deren bedarf!«
   »Gott sei seiner Seele gnädig!« wiederholte Don Agustin feierlich. »Die Seele des edlen Don Estévan de Arechiza war keine gewöhnliche Seele oder vielmehr, damit du es endlich erfährst, Rosarita, die Seele Don Antonios von Mediana, zu seinen Lebzeiten Marquis von Carsarcel und Herzog von Armada.«
   »Mediana, sagst du, Vater?« rief das junge Mädchen aus. »Wie? Dann wäre er also sein Sohn?«
   »Von wem sprichst du?« fragte Don Agustin erstaunt. »Don Antonio war niemals verheiratet. Was willst du also damit sagen?«
   »Nichts, mein Vater; wenn nicht, daß deine Tochter heute sehr glücklich ist!«
   Mit diesen Worten schlang Rosarita ihre Arme um den Hals ihres Vaters, lehnte ihren Kopf an seine Brust und begann, ihn mit Tränen überströmend, zu schluchzen. Aber ihr Schluchzen hatte nichts Bitteres; die Tränen des jungen Mädchens flossen sanft wie der Tau, den der Jasmin des Morgens aus seinen purpurnen Blütenkelchen herabträufeln läßt.
   Der Hacendero war wenig bewandert in der Kenntnis des menschlichen Herzens und wußte nicht, daß die Tränen der Frauen auch zuweilen vor Freude fließen; er begriff also auch nichts von dem Glück, das seiner Tochter dieses Seufzen entriß.
   Er fragte sie abermals; aber sie begnügte sich, ihm mit lächelndem Mund und noch feuchten Augen zu antworten: »Morgen will ich dir alles sagen, Vater.«
   Der ehrliche Hacendero bedurfte in der Tat sehr einer Erklärung dieses ganzen Geheimnisses, von dem er kein Wort begriff. »Wir haben noch eine andere Pflicht zu erfüllen«, sagte er. »Der letzte Wunsch, den mir Don Antonio bei seiner Trennung von mir aussprach, war der, dich mit dem Senator Tragaduros vermählt zu sehen. Diese Heirat nicht länger aufzuschieben, heißt dem Willen eines Toten gehorchen. Siehst du dabei irgendein Hindernis, Rosarita?«
   Diese erbebte bei den Worten, die sie an ein verhängnisvolles Versprechen erinnerten, dessen Andenken sie aus ihrem Gedächtnis zu verbannen gesucht hatte. Ihre Brust hob sich, und ihre Tränen fingen wieder an zu fließen.
   »Gut«, sagte der Hacendero lächelnd zu ihr; »das ist auch noch Glück, nicht wahr?«
   »Glück?« antwortete Rosarita mit Bitterkeit: »O nein; nein, mein Vater!«
   Don Agustin war mehr als jemals auf falschem Weg! Er hatte sich sein ganzes Leben hindurch mehr darauf verlegt, die Kriegslist der Indianer zu erraten, gegen die er lange sein Besitztum hatte verteidigen müssen, als das Herz der Frauen zu erforschen.
   »O nein, Vater«, rief Rosarita aus; »diese Heirat wäre heute das Todesurteil deines armen Kindes!«
   Bei dieser plötzlichen Erklärung, die er durchaus nicht vorhersah, blieb Don Agustin ganz verwirrt und konnte kaum die Aufregung beherrschen, die sie in ihm hervorrief. »Wie?« rief er lebhaft aus. »Hast du nicht selbst vor einem Monat in die Heirat gewilligt? Hast du nicht zu ihrer Vollziehung den Zeitpunkt bestimmt, wo wir wußten, daß Don Estévan nicht wieder zurückkehren würde? Er ist tot; was willst du also jetzt?«
   »Ja, Vater, es ist wahr, ich hatte diesen Zeitpunkt festgesetzt.«
   »Nun?«
   »Aber ich wußte damals nicht, daß er noch lebte.«
   »Don Antonio von Mediana?«
   »Nein, Don Fabian von Mediana!« erwiderte leise Rosarita.
   »Don Fabian? Wer ist denn dieser Don Fabian, von dem du sprichst?«
   »Derjenige, den wir, du und ich, Tiburcio Arellanos nennen. Als ich in diese Heirat gewilligt habe«, sagte sie, »glaubte ich, daß Don Fabian auf immer für uns verloren wäre; ich wußte nicht, daß er mich noch liebte, und dennoch … Urteile, ob ich dich liebe, mein Vater, urteile, welch ein schmerzliches Opfer ich meiner Liebe für dich brachte … Ich wußte wohl …« Bei diesen Worten näherte sich Rosarita ihrem Vater, die Augen mit dem ganzen Zauber ihres süßen, von Tränen verschleierten Blicks bewaffnet; sie lehnte sich an seine Schulter und verbarg am Kopf des Vaters ihre Wangen, die so rot waren wie die halb aufgebrochene Granate. »Ich wußte jedoch, daß ich ihn immer noch liebte«, flüsterte sie leise.
   »Aber von wem sprichst du denn?«
   »Ich spreche von Tiburcio Arellanos, vom Grafen Fabian von Mediana, die beide nur ein und dieselbe Person sind.«
   »Vom Grafen von Mediana?« wiederholte Don Agustin.
   »Ja, aber«, rief Rosarita leidenschaftlich aus, »ich liebe in ihm nur Tiburcio Arellanos, so edel, so mächtig, so reich heute Fabian von Mediana auch sein mag.«
   Edel, mächtig, reich – das sind die drei Worte, die im Ohr eines ehrgeizigen Vaters immer einen guten Klang haben, wenn sie einem jungen Mann gebühren, den er achtet, den er jedoch für arm hält. Tiburcio Arellanos hätte von Don Agustin nur eine ablehnende Antwort erhalten – freilich durch liebreiche Worte gemildert; hatte aber jetzt Fabian von Mediana nicht viele Aussichten für sich?
   »Willst du mir wohl sagen, wie Tiburcio Arellanos Fabian von Mediana sein kann?« fragte Don Agustin mit mehr Neugierde als Zorn. »Wer hat dir diese Erzählung mitgeteilt?«
   »Du bist nicht bis zum Schluß der Erzählung des Gambusinos hier geblieben«, antwortete Doña Rosarita, »sonst würdest du wissen, daß jener junge Gefährte der beiden unerschrockenen Jäger, deren Gefahren er so hochherzig geteilt hat, kein anderer war als Tiburcio Arellanos unter dem Namen Fabian. Als er allein und verwundet sich aus der Hacienda entfernte, durch welches Zusammentreffen von Umständen hat er so unverhoffte Beschützer gefunden? Welche Verwandtschaft besteht zwischen Tiburcio und dem Herzog von Armada? Ich weiß es nicht; aber dieser Mann, der es weiß, wird es dir sagen.«
   »Man rufe ihn augenblicklich!« sagte lebhaft Don Agustin. Und er rief einen Diener, dem er den Auftrag gab, ihn herbeizuholen; dann wartete er mit großer Ungeduld auf Gayferos‘ Rückkehr; aber man suchte ihn vergeblich – der Gambusino war nirgends auffindbar.
   Wir wollen sogleich den Grund dieses Verschwindens mitteilen. Fast in demselben Augenblick, wo man den Hacendero und seine Tochter von diesem Verschwinden benachrichtigte, trat ein anderer Diener ein, um zu melden, daß Tragaduros eben im Hof der Hacienda vom Pferd steige. Das Zusammentreffen der Rückkehr des Senators mit der bevorstehenden Ankunft Fabians war eines jener Ereignisse, die durch den Zufall häufiger im wirklichen Leben vorkommen, als man glauben sollte.
   Rosarita beeilte sich, um sich ihres Vaters als eines Verbündeten zu versichern, ihn zärtlich zu umarmen und ihm ihr ganzes Erstaunen über ein Wunder zu bezeigen, das aus dem Adoptivsohn eines Gambusinos den Erben einer mächtigen spanischen Familie gemacht hatte. Nachdem sie wie ein Indianer diese beiden Pfeile abgeschossen hatte, flüchtete sie aus dem Saal ebenso leicht wie der Vogel, der von einem Baum zum anderen fliegt.
   Tragaduros trat herein wie ein Mann, der fühlt, daß die Meldung seiner Gegenwart immer willkommen ist. Seine Haltung war die eines künftigen Schwiegersohns; er hatte das Wort des Vaters, die Einwilligung der Tochter, obgleich diese Einwilligung nur eine stumme gewesen war. Indessen konnte der Senator trotz seiner Zufriedenheit mit sich selbst und seiner Sicherheit über die Zukunft nicht umhin, die ernste und feierliche Miene Don Agustins zu bemerken; er glaubte ihn darüber befragen zu müssen.
   »Don Estévan de Arechiza, der Herzog von Armada, ist nicht mehr!« sagte der Hacendero. »Wir haben, Ihr und ich, einen edlen teuren Freund verloren!«
   »Wie? Tot?« rief der Senator aus und verhüllte sein Gesicht mit seinem Taschentuch von besticktem Batist.
   »Armer Don Estévan; ich weiß nicht, ob ich mich jemals darüber trösten werde.«
   Seine Zukunft jedoch sollte nicht durch eine ewige Trauer verdüstert werden, denn das Bedauern, das er aussprach, war weit davon entfernt, mit seinen geheimsten Gedanken übereinzustimmen. Er erkannte zwar die zahlreichen Verpflichtungen, die er Don Estévan schuldig war, konnte aber doch nicht umhin, zu denken, daß er, wenn er gelebt hätte, genötigt gewesen wäre, die Hälfte der Mitgift seiner Frau für politische Umtriebe zu verwenden … Eine halbe Million, die er gezwungen gewesen wäre, auf die Straße zu werfen! »Freilich«, sagte er zu sich selbst, »werde ich weder Graf noch Herzog, noch Marquis von irgend etwas sein, aber bei der Art und Weise, wie ich lebe, ist eine halbe Million angenehmer als Titel und wird meine Genüsse verdoppeln … Dieses verhängnisvolle Ereignis rückt außerdem noch den Zeitpunkt meiner Verheiratung näher heran … Am Ende ist es vielleicht gar kein Unglück, daß Don Estévan tot ist. – Armer Don Estévan«, wiederholte er laut, »welch ein unerwarteter Schlag!«
   Tragaduros sollte später erfahren, daß es viel glücklicher für ihn gewesen wäre, wenn Don Estévan gelebt hätte. Wir wollen ihn bei dem Hacendero lassen und Gayferos folgen; denn wir glauben, daß der Leser gern wieder von ihm hören wird. —
   Der Gambusino hatte sein Pferd gesattelt, ohne von jemand gesehen zu werden, war durch die Ebene geritten und hatte abermals den Weg, der zum Presidio führte, eingeschlagen. Auf dem Weg, dem er schon seit langer Zeit folgte, war er nur selten Reisenden begegnet, und wenn zufällig irgendein Reiter sich in der Ferne zeigte, so grüßte der Gambusino in dem Augenblick, wo er an ihm vorüberritt, mit ungeduldiger Miene; offenbar war es nicht derjenige, den er suchte.
   Der Tag ging hin, und es war schon spät, als Gayferos drei Reisende im Trab auf sich zukommen sah. Bei ihrem Anblick stieß er einen Freudenruf aus: es waren der Kanadier, Pepe und Fabian von Mediana. Der Riese saß auf einem kolossalen Maultier. Fabian und Pepe ritten die prächtigen Pferde, die sie den Indianern abgenommen hatten.
   Der junge Mann hatte sich sehr verändert, seit man ihn zum erstenmal in der Hacienda del Venado gesehen hat. Schmerz und Trauer hatten seine Wangen gebleicht, seine Stirn mit Runzeln durchzogen, und in seinen Augen brannte ein düsteres Feuer, entzündet von der Leidenschaft, die sein Herz erfüllte. Mußte dieses Antlitz, dessen Züge die Sonne und die Anstrengungen veredelt hatten, Doña Rosarita nicht jene Liebe ins Gedächtnis rufen, die sie glücklich und stolz gemacht hatte?
   Im übrigen sahen die Jäger ganz unverändert aus, und die sieben Monate eines tollen Abenteuerlebens hatten ihre männlichen Gestalten, ihre braunen Gesichter nicht ermüdet. Sie zeigten sich nicht im geringsten überrascht, als sie den Gambusino erblickten. Nur eine gewisse Neugier sprach aus ihren Augen, die Gayferos durch einen einzigen Blick befriedigte.
   Nur Fabian schien erstaunt, den alten Begleiter hier wiederzufinden. »Hast du uns also bei Tubac nur verlassen, um uns hier voraus zu sein?« fragte er.
   »Gewiß. Sagte ich‘s denn damals nicht?« antwortete Gayferos.
   »Ich hatte es anders aufgefaßt«, murmelte Fabian und verfiel dann wieder in das düstere Schweigen, das ihm eigentümlich geworden war.
   Gayferos wandte sein Pferd, und die vier Reisenden setzten schweigend ihren Ritt fort.
   Ungefähr noch eine Stunde, in der Gayferos und der Kanadier allein einige Worte mit leiser Stimme wechselten, ohne daß Fabian, der immer noch in Gedanken versunken war, darauf geachtet hätte, boten sich die Erinnerungen einer Vergangenheit, die noch nicht sehr fern lag, in Menge dem Gedächtnis der drei Reiter dar. Sie ritten abermals durch die Ebene, die sich jenseits des Salto de Agua ausdehnte; dann kamen sie einige Augenblicke nachher an den Waldstrom selbst, der immer noch zwischen den Steinen seiner Ufer dahinrauschte; eine ebenso plumpe Brücke als die frühere hatte diejenige ersetzt, die die Männer, die nun den ewigen Schlaf in jenem Val d‘Or, dem Gegenstand ihres ehrgeizigen Strebens, schliefen, in den Waldstrom gestürzt hatten.
   Der Kanadier war einen Augenblick vom Pferd gestiegen. »Sieh Fabian«, sagte er, »hier hielt Don Estévan; die vier Banditen – ich verstehe darunter jedoch nicht den armen Diaz, den Schrecken der Indianer – befanden sich dort. Sieh, da ist noch die Hufspur deines Pferdes, als es auf dem Felsen ausglitt und dich in seinem Fall mit hinabzog. Sieh, Fabian, mein Kind, ich sehe noch, wie das Wasser über dir schäumt; es ist mir, als ob das Echo noch einmal den Angstschrei wiederholte, den ich ausgestoßen habe. Welch ein ungestümer junger Mann warst du doch damals!«
   »Und heute«, sagte Fabian traurig lächelnd, »bin ich also nicht mehr derselbe?«
   »O nein! Heute ist deine Stirn männlich und unempfindlich wie die eines indianischen Kriegers, der bei den Martern am Pfahl lächelt; dein Gesicht ist ruhig diesen Orten gegenüber; und doch zerreißen dir diese Erinnerungen das Herz, das weiß ich gewiß. Nicht wahr, Fabian?«
   »Du irrst dich, mein Vater«, erwiderte Fabian; »mein Herz ist wie dieser Felsen, auf dem ich, was du auch darüber sagen magst, die Spur der Hufe meines Pferdes nicht mehr erblicke; und mein Gedächtnis ist stumm wie das Echo deiner eigenen Stimme, die du noch zu hören wähntest. Ich habe dir gesagt, als du mir – ehe wir zurückkehrten, um für immer fern von den Menschen in der Steppe zu leben – als letzte Prüfung die auferlegt hast, alle Orte meiner Erinnerungen wiederzusehen, daß diese Erinnerungen gar nicht mehr da sind.«
   Eine Träne benetzte die Augen des Kanadiers, aber er verbarg sie, indem er Fabian den Rücken zukehrte, um sein Maultier wieder zu besteigen. Die Reisenden ritten über die Brücke von Baumstämmen.
   »Findest du hier auf diesem Moos, auf dieser Erde die Spur der Schritte meines Pferdes wieder, als ich Don Estévan und seine Schar verfolgte?« fragte Fabian Bois-Rosé. »Nein, die von den Bäumen im letzten Winter gefallenen Blätter haben sie bedeckt; das Gras der Regenzeit ist auf ihnen gewachsen.«
   »Ach, wenn ich diese Blätter aufheben, dieses Gras entfernen wollte, so würde ich diese Spuren wiederfinden, Fabian, wie wenn ich die verborgenen Falten deines Herzens durchforschen wollte …«
   »So würdest du nichts darin finden, du, sage ich«, unterbrach ihn Fabian mit einiger Ungeduld. – »Ich irre mich; du würdest eine Erinnerung aus der Kindheit darin finden, eine von denjenigen, in der du selbst vorkommst, mein Vater.«
   »Ich glaube dir, Fabian, ich glaube dir; du bist ja die Liebe meines ganzen Lebens gewesen. Aber ich habe dir gesagt, daß ich dein Opfer nur morgen zu derselben Stunde annehmen werde, wenn du alles wiedergesehen haben wirst; selbst die Öffnung in der Ringmauer, über die du, Herz und Körper verwundet und blutend, gestiegen bist.«
   Ein Schauder gleich dem, der einen Verurteilten beim Anblick eines letzten schrecklichen Torturwerkzeugs überläuft, schüttelte Fabians Körper.
   Die Reisenden machten endlich in dem zwischen dem Salto de Agua und der Hacienda gelegenen Teil des Waldes halt, und zwar in der Lichtung, auf der Fabian den Kanadier und den Spanier wiedergefunden hatte wie Freunde, die Gott ihm vom Ende der Welt hersandte.
   Diesmal bedeckten die Schatten der Nacht noch nicht diesen Ort, wo das Schweigen der Wälder Amerikas herrschte; ein feierliches Schweigen, wenn die Sonne, im Zenit angekommen, ihre glühenden Strahlen heiß wie eine rotglühende Stahlklinge herabsendet; wenn die Lianenblüte ihren Kelch verschließt, wenn der Grashalm sich durstig der Erde zuneigt, als ob er dort Erfrischung suchte, und wenn die ganze Natur, stumm und in Erstarrung versunken, ohne Leben zu sein scheint. Das ferne Brüllen des Waldstromes, der seine Gewässer rauschend dahinrollt, war das einzige Geräusch, das um diese Stunde die ehrfurchtgebietende Ruhe des Waldes störte.
   Die Reiter zäumten und sattelten ihre Pferde ab und banden sie in einiger Entfernung an. Da sie die ganze Nacht hindurch geritten waren, um die Hitze des Tages zu vermeiden, so hatten sie beschlossen, ihre Siesta im Schatten der Bäume zu halten.
   Gayferos war der erste, der einschlief. Seine Liebe für Fabian war vor der Zukunft nicht besorgt. Pepe folgte ihm bald nach. Nur der Kanadier und Fabian schlossen kein Auge.
   »Du schläfst nicht, Fabian«, sagte Bois-Rosé mit leiser Stimme.
   »Nein; aber du, warum ruhst du dich nicht ein wenig aus wie unsere beiden Gefährten?«
   »Man schläft nicht an einem geheiligten Ort, Fabian«, antwortete der alte Jäger. »Diese Stelle ist heilig für mich geworden. Hat sich nicht hier ein Wunder zugetragen, nachdem ich dich auf dem unermeßlichen Ozean verloren hatte? Ich würde mich für undankbar gegen Gott halten, wenn ich hier, selbst um den Schlaf zu genießen, den er uns zu genießen befiehlt, alles vergäße, was er für mich getan hat.«
   »Ich denke wie du, mein Vater, und höre auf dich«, antwortete der junge Graf.
   »Dank, Fabian; Dank auch Gott, der mich dich mit einem ebenso edlen als liebenden Herzen hat wiederfinden lassen. Sieh, hier sind noch die sichtbaren Spuren des Feuers, an dem ich saß; hier sind die Feuerbrände – immer noch schwarz, obgleich sie vom Wasser einer ganzen langen Regenzeit gewaschen sind. Dies ist der Baum, an den ich mich am Abend des schönsten Tages in meinem Leben lehnte; es ist durch dich verschönert, denn seitdem du wieder mein Sohn geworden bist, ist jeder Tag meines Daseins ein Tag des Glücks für mich gewesen, bis zu dem Augenblick, wo ich einsehen mußte, daß meine Liebe für dich nicht die war, wonach das Herz der Jugend dürstet.«
   »Warum kommst du immer auf diesen Gegenstand zurück, mein Vater?« antwortete Fabian mit jener ergebenen Sanftmut, die schmerzlicher ist als die bittersten Vorwürfe.
   »Gut, sprechen wir nicht mehr von dem, was dir peinlich sein muß; wir werden nach der Prüfung, der ich dich habe unterwerfen müssen, weiter darüber sprechen.«
   Vater und Sohn – wir dürfen sie wohl so nennen – schwiegen abermals, um nur den Stimmen der Einöde zu lauschen. Wer vermöchte zu sagen, was diese Stimmen alles einem verwundeten Herzen zuflüstern?
   Die Sonne neigte sich nach Westen, ein leichter Zephyr liebkoste schon mit sanftem Wehen das Laub der Bäume; schon begannen die Vögel, von Zweig zu Zweig hüpfend ihren Gesang wieder; die Insekten eilten unter dem Gras hin und her, das Brüllen des Rindviehs ließ sich in der Ferne hören – die Bewohner des Waldes begrüßten die Rückkehr der Abendkühle.
   Die beiden Schläfer erwachten. Nach einem kurzen, kräftigen Mahl, zu dem Gayferos die einzelnen Bestandteile aus der Hacienda del Venado mitgebracht hatte, warteten die vier Reisenden ruhig und gesammelt auf die wichtigste Stunde der Prüfung.
   Mehrere Stunden verflossen, ehe der tiefblaue Himmel, der sich über der Lichtung wölbte, dunkler wurde. Nach und nach kehrte die Natur in das Schweigen der Nacht zurück. Tausende von Sternen glänzten am Firmament wie ebenso viele von der Sonne nach Vollendung ihres Laufes ausgestreute Funken, und endlich kam auch der Mond, um sein bleiches Licht auf den Gipfel der Bäume und das Moos der Lichtung zu werfen, gerade wie an jenem Abend, der so viele Erinnerungen in sich schloß, an dem Fabian verwundet zum Feuer des Kanadiers kam.
   »Werden wir Feuer anzünden?« fragte Pepe.
   »Ohne Zweifel. Was auch kommen möge, wir werden die Nacht hier zubringen«, antwortete Bois-Rosé. »Ist das nicht auch deine Meinung, Fabian?«
   »Ich kümmere mich wenig darum«, antwortete der junge Mann; »hier oder dort – sind wir nicht immer beieinander?«
   Fabian hatte, wie gesagt, schon seit langer Zeit begriffen, daß der Kanadier nicht im Schoß der Städte – selbst in seiner Gesellschaft nicht – leben könnte, ohne stets die Freiheit und die Luft der Steppe zu vermissen; er wußte auch, daß ein Leben ohne ihn noch viel weniger möglich wäre, und opferte sich edelmütig für die letzten Jahre des alten Jägers.
   Bois-Rosé hatte die ganze Größe dieses Opfers von seiten Fabians begriffen; war jene Träne, die er am Morgen verbarg, nicht eine Träne der Dankbarkeit? Wir werden sogleich noch deutlicher im Herzen des Kanadiers lesen.
   Die Sterne zeigten, daß es elf Uhr sei.
   »Geh nun, mein Kind«, sagte Bois-Rosé zu Fabian. »Wenn du an den Ort gekommen bist, wo du dich von einer Frau, die dich vielleicht liebte, getrennt hast, dann lege die Hand aufs Herz; wenn du es nicht rascher klopfen fühlst, dann kehre zurück, denn dann hast du die Vergangenheit besiegt.«
   »Ich werde zurückkehren, mein Vater«, antwortete Fabian mit festem, schwermütigem Ton; »die Erinnerungen sind für mich wie der Hauch des Windes, der ohne Aufenthalt und spurlos vorüberfährt.«
   Er machte sich langsamen Schrittes auf den Weg. Ein frischer Luftzug mäßigte die heißen Ausstrahlungen der Erde. Der Mond beleuchtete mit blendendem Licht das Feld, als Fabian, nachdem er den Wald verlassen hatte, das weite Gebiet betrat, das zwischen dem Wald und der Ringmauer der Hacienda lag.
   Bis hierher war er, wenn auch langsam, doch mit festem Schritt gegangen; als er aber mitten in dem silbernen Duft der Nacht die weiße Mauer bemerkte, in deren Mitte die immer noch offene Stelle sichtbar wurde, wurden seine Schritte langsamer, seine Füße zitterten unter ihm. War es seine bevorstehende Niederlage, die er fürchtete – denn eine innere Stimme rief ihm schon im voraus zu, daß er besiegt sei —, oder waren es etwa seine Erinnerungen, die in diesem Augenblick lebhafter und mächtiger als eine Meereswoge emporstiegen?
   Tiefes Schweigen deckte die klare, wenn auch etwas dunstige Nacht. Plötzlich stand Fabian bebend still wie ein verirrter Wanderer, der glaubt, daß ein Gespenst sich vor ihm aufrichtet. Eine schlanke, weiße Gestalt schien über der Öffnung der Ringmauer zu schweben. Sie erschien wie eine jener Feen aus den alten nordischen Sagen, die für die heidnischen Skandinavier über dem Nebel schwebten. Für einen Christen schien es der Engel der ersten und einzigen Liebe zu sein.
   Einen Augenblick lang schien diese anmutige Erscheinung vor Fabian zu versinken; allein es war nur eine Täuschung seiner Augen, die sich wider seinen Willen mit einem Schleier bedeckten. Die Erscheinung blieb immer auf derselben Stelle. Als er sich stark genug fühlte, weiterzugehen, schritt er vor – die Erscheinung verschwand nicht.
   Das Herz des jungen Mannes wollte zerspringen in seiner Brust, denn ein schrecklicher Gedanke flog durch seine Seele: er dachte, daß er nur noch den Schatten Rosaritas vor sich hätte … und er hätte es tausendmal lieber gesehen, wenn sie ihn verschmähte und unbarmherzig gegen ihn wäre, aber doch noch lebte, als zu sehen, daß sie sich ihm nach ihrem Tod als eine anmutige, wohlwollende Erscheinung zeigte.
   Eine Stimme, deren entzückender Klang sein Ohr wie ein vom Himmel fallender Ton traf, konnte seine Täuschung noch nicht zerstören, denn diese Stimme sagte: »Bist du es, Tiburcio? Ich erwarte dich!«
   Konnte ein hellsehender Geist aus der anderen Welt seine Rückkehr aus so weiter Ferne wissen?
   »Bist du es, Rosarita?« rief Fabian mit bestürzter Stimme aus. »Oder ist es nur eine trügerische Erscheinung, die wieder verschwinden wird?« Und Fabian blieb regungslos und wie festgewurzelt stehen, so sehr fürchtete er, dieses Bild verschwinden zu sehen.
   »Ich bin es wirklich«, sagte die Stimme.
   »O mein Gott! Die Prüfung wird noch schrecklicher werden, als ich es zu denken wagte«, sagte Fabian in seinem Innern.
   Und er tat einen Schritt vorwärts; doch blieb er sogleich wieder stehen – der arme junge Mann hoffte nichts mehr.
   »Durch welch ein Wunder des Himmels finde ich dich hier?« rief er aus.
   »Ich komme jeden Abend hierher, Tiburcio«, erwiderte das junge Mädchen.
   Diesmal begann Fabian viel heftiger vor Liebe und Furcht zu zittern.
   Wir haben gesehen, daß Rosarita bei ihrem Zusammentreffen mit Fabian sich lieber der Gefahr, zu sterben, ausgesetzt hatte, als ihm zu gestehen, daß sie ihn liebe. Seitdem hatte sie so viel gelitten und so viel geweint, daß die Liebe diesmal stärker war als die Scham. Die Jungfrau zeigt zuweilen eine Kühnheit, die von ihrer Züchtigkeit geheiligt wird. »Komm doch näher, Tiburcio«, sagte sie; »siehe, da ist meine Hand.«
   Mit einem Sprung lag Fabian zu ihren Füßen und drückte krampfhaft die Hand, die sie ihm reichte; aber vergebens versuchte er zu sprechen.
   Das junge Mädchen senkte einen Blick unruhiger Zärtlichkeit auf ihn. »Laß mich sehen«, sagte sie, »wie sehr du dich verändert hast, Tiburcio … O ja, der Schmerz hat seine Spur auf deiner Stirn zurückgelassen, aber der Ruhm hat sie edler gemacht. Du bist ebenso tapfer wie schön, Tiburcio; ich habe mit Stolz erfahren, daß die Gefahr dich niemals hat erbleichen lassen.«
   »Du weißt, sagst du?« rief Fabian aus. »Aber was weißt du denn?«
   »Alles, Tiburcio, bis auf deine geheimsten Gedanken. Ich habe alles gewußt, sogar dein Kommen heute abend … Begreifst du das? … Und da bin ich!«
   »Ehe ich dich zu verstehen wage, Rosarita – denn diesmal würde mich ein Mißverständnis töten«, sprach Fabian, der von den Worten und der zärtlichen Miene des jungen Mädchens bis auf den Grund seiner Seele erschüttert war, »– willst du mir eine Frage beantworten … wenn ich sie an dich zu richten wage?«
   »Wage es nur, Tiburcio«, antwortete Rosarita, deren keusche, reine Stirn vom Mond erleuchtet wurde; »ich bin hierher gekommen, um dich anzuhören.«
   »So höre denn«, sagte der junge Graf. »Vor sechs Monaten hatte ich zugleich den Tod meiner Mutter und den des Mannes zu rächen, der mein Vater gewesen war: Marcos Arellanos – denn wenn du alles weißt, so weißt du auch, daß ich nicht mehr …«
   »Du bist für mich immer nur Tiburcio«, unterbrach ihn Rosarita; »ich habe Don Fabian von Mediana nicht gekannt.«
   »Der Unglückliche, der seine Verbrechen büßen sollte, der Mörder von Marcos Arellanos – mit einem Wort Cuchillo – bat mich, ihm das Leben zu schenken. Ich konnte seine Bitte nicht gewähren, aber er rief: ›Ich fordere es im Namen Doña Rosaritas, die Euch liebt, denn ich habe gehört …‹ Der Flehende hing über einem Abgrund; ich wollte ihm aus Liebe zu dir vergeben, als einer meiner Gefährten ihn hinunterstürzte. Hundertmal habe ich mich in der Stille der Nacht dieser flehenden Stimme erinnert, ich habe mich ängstlich gefragt: ›Was hat er denn gehört?‹ Jetzt richte ich heute abend dieselbe Frage an dich, Rosarita.«
   »Einmal, ein einziges Mal hat mein Mund das Geheimnis meines Herzens verraten; es war hier an derselben Stelle, als du unsere Wohnung verlassen hattest. Ich werde dir wiederholen, was ich gesagt habe.«
   Rosarita schien ihre Kräfte zu sammeln, um einem Mann zu sagen, daß sie ihn liebe, und es ihm in klaren, leidenschaftlichen Ausdrücken zu sagen. Ihre keusche, von jener jungfräulichen Unschuld strahlende Stirn, die nichts fürchtet, weil sie nichts kennt, richtet sich auf Tiburcio. »Ich habe zuviel an einem Mißverständnis gelitten«, sagte sie, »als daß noch ein solches unter uns stattfinden dürfte; ich werde also meine Hände in deine Hände legen, meine Augen auf deine Augen richten und so dir wiederholen, was ich gesagt habe. Du flohst vor mir, Tiburcio; ich wußte, daß du fern warst; ich glaubte, daß Gott allein mich hörte, und habe ausgerufen: ›Komm zurück, Tiburcio, komm zurück! Du allein bist es, den ich liebe!‹«
   Fabian schauderte vor Liebe und Glück, er kniete fromm vor diesem heiligen jungen Mädchen nieder, wie er es vor einer Madonna, die von ihrem Altar herabgestiegen wäre, getan haben würde. In diesem Augenblick verschwand die ganze Welt vor seinen Augen: Bois-Rosé, die Vergangenheit, die Zukunft – alles verschwand wie die Erscheinungen eines Traums beim Erwachen, und er rief mit bebender Stimme: »Dein für immer! Dir gehört mein ganzes Leben!«
   Rosarita stieß einen leichten Schrei aus; Fabian wandte sich um und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Ruhig auf den Lauf seiner langen Büchse gestützt, stand Bois-Rosé zwei Schritt von ihnen und schaute mit einem Blick inniger Zärtlichkeit auf die beiden jungen Leute. Das war die Verwirklichung seines Traums auf der Insel des Rio Gila.
   »O mein Vater!« rief Fabian schmerzlich aus. »Wirst du mir verzeihen, daß ich besiegt worden bin?«
   »Wer wäre nicht besiegt an deiner Stelle, mein vielgeliebter Fabian!« sagte der Kanadier lächelnd.
   »Ich habe meinen Schwur gebrochen, mein Vater«, erwiderte Fabian; »ich hatte dir versprochen, nur dich allein noch zu lieben. Verzeihung! Verzeihung!«
   »Mein Sohn, du bittest da um Verzeihung, wo ich es tun sollte«, sagte Bois-Rosé. »Du bist viel hochherziger gewesen als ich, Fabian. Niemals hat eine Löwin, die ihr Junges den Händen der Jäger entreißt, es mit wilderer Liebe tief in ihre Höhle getragen, als ich dich den Ansiedlungen entrissen habe, um dich in die Steppe mitzunehmen. Ich war dort glücklich, weil sich alle Gefühle meines Herzens in dir vereinigten; ich habe gedacht, du mußt es auch sein. Du hast nicht gemurrt, du hast ohne Zögern die Schätze deiner Jugend, die viel kostbarer sind als die des Val d‘Or, geopfert. Ich bin es, der nicht gewollt hat, daß es so geschehe, und ich bin dabei doch nur egoistisch gewesen, anstatt hochherzig zu sein; denn wenn der Gram dich getötet hätte, so wäre ich auch gestorben.«
   »Was willst du damit sagen?« rief Fabian.
   »Was ich damit sagen will, mein Sohn? Wer hat deinen Schlaf lange Nächte hindurch belauscht, um auf deinen Lippen die geheimen Wünsche deines Herzens zu lesen? Ich habe es getan. Wer hat den Mann bis hierher begleiten wollen, den deine Vermittlung mich aus den Händen der Apachen hat retten lassen? Wer hat ihn zu diesem schönen, anmutigen jungen Mädchen gesandt, um zu erfahren, ob in seinem Herzen noch eine Erinnerung an dich lebte? Das habe ich abermals getan, mein Sohn, denn dein Glück ist mir tausendmal teurer als das meinige. Wer hat dich überredet, diese letzte Prüfung zu versuchen? Immer bin ich es gewesen, der ich wußte, daß du dabei unterliegen würdest! Morgen, sagte ich dir, würde ich dein Opfer annehmen; aber Gayferos hatte auch die letzte Seite der geheimen Gedanken in der Seele dieses keuschen Kindes gelesen. Was sprichst du also zu mir von Verzeihung, wenn ich dich doch darum bitten muß?«
   Der Kanadier streckte bei diesen Worten seine Arme gegen Fabian aus, der sich mit heißer Liebe an seine Brust warf. »O mein Vater«, rief er aus, »soviel Glück erschreckt mich, denn noch nie war ein Mensch so glücklich wie ich.«
   »Das Bittere wird auch kommen, wenn es Gottes Wille ist«, sagte der Kanadier feierlich.
   »Aber du – was wird aus dir?« fragte Fabian ängstlich.
   »Deine Entfernung würde für mich der Tropfen Galle in dem vollen Becher meines Glücks sein!«
   »Das wolle Gott nicht, mein Sohn!« rief der Kanadier aus. »Ich kann zwar nicht in den Städten leben; aber liegt denn diese Wohnung, die die deinige sein wird, nicht an der Grenze der Steppe? Habe ich nicht die Unermeßlichkeit rings um mich her? Ich werde mit Pepe … Hallo, Pepe«, rief der Jäger mit lauter Stimme, »komm her und bestätige mein Versprechen!«
   Pepe und Gayferos näherten sich auf den Ruf des alten Jägers.
   »Ich werde mit Pepe«, fuhr dieser fort, »eine Hütte aus Baumrinde und Stämmen an der Stelle bauen, wo ich dich wiedergefunden habe. Wir werden freilich nicht immer da sein; aber wenn es dir später einfallen sollte, den Namen und die Güter deiner Väter in Spanien wieder in Anspruch zu nehmen oder eines Tages in jenes Tal zu gehen, das du kennst, so wirst du dort immer Freunde finden, die bereit sind, dir bis ans Ende der Welt zu folgen. Nun, Fabian, ich wage es zu hoffen, noch glücklicher als du zu sein, denn ich werde ein doppeltes Glück genießen: das meine … und das deine.«
   Wozu soll es nützen, noch länger bei solchen Szenen zu verweilen? Das Glück ist so flüchtig, so unerfaßlich, daß man es weder auseinandersetzen noch beschreiben kann.
   »Es bleibt jetzt nur noch ein Hindernis übrig«, nahm der Jäger das Wort. »Der Vater dieses jungen Mädchens …«
   »Erwartet morgen seinen Sohn«, unterbrach ihn mit leiser Stimme Rosarita, und diesmal schien der Mond auf ihr errötendes Gesicht.
   »Nun, so laß mich den meinen segnen«, sagte der Kanadier.
   Fabian kniete vor dem Jäger nieder.
   Dieser nahm seine Pelzmütze ab, hob seine feuchten Augen zum bestirnten Himmel und sagte: »O mein Gott, segne meinen Sohn und laß seine Kinder ihn lieben, wie er seinen alten Bois-Rosé geliebt hat …«
   Am folgenden Tag kehrte der berühmte Senator ziemlich traurig nach Arizpe zurück. »Ich wußte es wohl«, sagte er zu sich, »daß ich diesen armen Don Estévan immer beweinen würde. Es würde mir doch wenigstens von der Mitgift meiner Frau immer noch ein Ehrentitel und ein halbe Million übriggeblieben sein. Seine Abwesenheit hat alles verdorben. Es ist gewiß ein großes Unglück, daß Don Estévan tot ist.«
   Einige Zeit darauf erhob sich eine Hütte aus Baumrinde und Stämmen auf einer dem Leser wohlbekannten Lichtung. Sehr oft machte Fabian von Mediana, von der jungen Frau, die nun die seinige geworden war, begleitet, eine fromme Pilgerfahrt dahin.
   Hatte etwa später – viel später – eine von diesen Pilgerfahrten den Zweck, den Arm der beiden unerschrockenen Jäger zu einem Ausflug ins Val d‘Or oder zu einer Reise nach Spanien in Anspruch zu nehmen? Wir werden es vielleicht eines Tages erzählen; aber was kümmert es uns jetzt? Für den Augenblick sagen wir nur, daß, wenn das Glück in dieser Welt kein leerer Traum ist, man es in der Wirklichkeit in der Hacienda del Venado bei Fabian und dem »Waldläufer« finden kann.
   ENDE

   »Die an den Spitzen der Lanzen flatternden Skalpe, die Mäntel aus Büffelhaut, die mitten in dieser Wolke, die zuweilen von den Strahlen der Sonne durchbrochen wurde, hin und her flogen, und das Wiehern der Pferde, das der Wind herbeitrug – alles verkündete die Ankunft des Schwarzen Falken und seiner Bande. Reiter sprengten mitten durch die über ihnen schwebende Staubdecke mit wilden Schwenkungen und lautem Geschrei; alle diese mit schreienden Farben bemalten Gesichter, die phantastischen Zierate dieser plündernden Ritter der Steppe, die in der Sonne funkelnden Streitäxte, die im Takt geschlagenen Schilde – alles gab dieser regellosen Truppe das schrecklichste Aussehen.
   Die Rufe ›Der Schwarze Falke!‹, ›Main-Rouge! Sang-Mêlé!‹ erhoben sich bald auf beiden Seiten, und im Nu stürzten die Verbündeten des Mestizen, als ob sie einen wütenden Angriff hätten ausführen wollen, im Galopp vorwärts, indem sie ein ohrenzerreißendes Geheul ausstießen; dann öffnete sich der Zug, beschrieb in vollem Lauf einen raschen Kreis um Sang-Mêlé und seine Indianer, und in einem Augenblick wurde jedes Pferd plötzlich angehalten und stand unbeweglich auf seinen zitternden Sprungfesseln.«
   Gabriel Ferry