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| Waldröschen IX. Erkämpftes Glück. Teil 2
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Karl May
WALDRÖSCHEN IX. ERKÄMPFTES GLÜCK. TEIL 2
1. Kapitel
Endlich, nach so langer Zeit, wandert der freundliche Leser wieder einmal nach Spanien, und zwar nach jenem Dorf, wo unsere vielbewegte Erzählung begonnen hat.
Dort, im Wald von Rodriganda, lagerte eine Zigeunerbande, alt und jung bunt durcheinander. Die Älteste aber lag unter einer Art von Zelt, damit sie am Tag von der Sonnenglut und des Nachts von der fühlbaren Kühle nicht so viel zu leiden habe, eine Zartheit, die bei Zigeunern selten zu sein pflegt.
Diese Alte war Zarba, die Königin der Gitanos, die einstige, blühende Schönheit, die Rose Zingarita, die Cortejo vom Stamm gebrochen und dann fortgeworfen hatte.
Es war gegen Abend. Die Altmutter lag in tiefem Schlummer. Daher beobachtete man im Lager eine ungewöhnliche Ruhe. Infolge dieser Stille waren die Tritte eines Pferdes, das den Weg durch den Wald suchte, leichter zu vernehmen.
Alle lauschten. Die Tritte näherten sich. Bald wurde ein Reiter sichtbar, der auf ungesatteltem Pferd ohne Bügel saß und einen einfachen Strick als Zügel hatte. Alle sprangen auf. Sie kannten ihn.
»Jarko«, rief es rundum so laut, daß die Ältermutter erwachte. Sie erhob sich vom Lager und steckte den Kopf zum Zelt heraus. Sofort wurde es im Kreis der anderen ruhig.
Welch eigentümliches Gesicht war es doch, dem solche Ehrerbietung erwiesen wurde! War das wirklich jene Zarba, deren berauschende Schönheit solches Aufsehen erregt hatte? Falte legte sich an Falte, tief und breit, lederfarben und auch lederhart. Die Nase bog sich weit nach unten, die Zähne waren verschwunden, daher war die Mundgegend tief eingefallen, und so schien es, als ob das Kinn eine sehr energische Anstrengung machte, mit der Nasenspitze zusammenzustoßen.
Aber die Augen waren nicht alt geworden. Sie besaßen noch die ganze Glut und Schärfe der Jugend; in ihnen konnte es noch leuchtend aufflammen, in Liebe oder in Haß, ganz wie es kam.
»Jarko!« rief sie.
Der soeben Angekommene, der inzwischen vom Pferd gesprungen war, trat näher zu ihr heran.
»Setze dich, mein Sohn!« sagte sie. »Du bist sehr lange fern gewesen. Jetzt endlich bringst du mir Nachricht. Ich werde fragen, und du sollst mir antworten. Oder bist du müde? Hast du Hunger oder Durst, mein Sohn?«
Der Zigeuner schüttelte verächtlich den Kopf.
»Müdigkeit? Hunger oder Durst?« fragte er. »Was ficht das den Gitano an! Frage, Mutter, damit ich dir antworten kann!« – »So sage mir, ob du Deutschland glücklich erreicht hast.« – »Ich war in diesem Land.« – »Auch an dem Ort, nach dem ich dich sandte?« – »Auf dem Schloß Rheinswalden? Ja, da war ich auch.« – »So ist mein Wunsch erfüllt. Lebt Tombi noch?« – »Er lebt noch, ist gesund und freut sich seines Lebens.« – »Hast du nicht gesehen einen alten Mann, der krank in seinem Geist ist?« – »Ich habe ihn gesehen. Er spricht stets, daß er der gute, treue Alimpo sei. Man sagt, dieser Mann sei der eigentliche Graf de Rodriganda.« – »Was er ist, das geht dich nichts an. Welche Personen hast du noch dort gefunden?« – »Den Herzog von Olsunna.« – »Ich kenne ihn.« – »Die Herzogin, seine Frau.« – »Sie war meine Freundin.« – »Frau Rosa Sternau, die Tochter der Rodriganda.« – »Sie war die Wonne ihres Gatten. Gott hat ihn sterben lassen.« – »Ihr Töchterlein Rosa, genannt Waldröschen.« – »Ich habe sie als Kind gesehen und ihr die Hände auf das Haupt gelegt. Ist sie schön geworden?« – »Schöner als die Röte des Morgens.« – »Und gut?« – »Ihr Herz kennt nichts als Güte allein.« – »Gott wird sie segnen. Wen hast du noch gesehen?« – »Einen Offizier, der Kurt genannt wird. Er ist jung, aber er wird schnell ein großer Mann werden.« – »Er ist der Sohn des Steuermannes. Ich habe in den Sternen gelesen, daß ihm keine seiner Leuchten untergehen wird.« – »Sodann habe ich gesehen den alten Rodenstein.« – »Der Rodensteiner ist wie der Stein, der aus dem Feld gerodet wird. Er hat keinen Glanz und keine Politur und verwittert langsam.« – »Seinen Sohn, den Maler, und seines Sohnes Frau, die Herzogstochter.« – »Es sind zwei Herzen, die fest zusammenwuchsen, sie werden sich niemals fremd werden.« – »Sodann bekam ich von Tombi, deinem Sohn, einen Brief für dich.« – »Einen Brief? Gib ihn her! Der Gitano versteht nicht, einen Brief zu schreiben. Aber was er einmal schreibt, das wird von seinen Brüdern und Schwestern gelesen. Meine Augen sind noch scharf genug, die Worte zu sehen, die mir mein Sohn sendet, der der Sohn meines größten Feindes ist.«
Der Zigeuner gab Zarba ein Blatt Papier, worauf mehrere Zeilen mit schlechter Feder und noch schlechterer Tinte geschrieben waren. Dieses Blatt war in einen Leinwandlappen gewickelt gewesen. Sie verstand dennoch das undeutlich Geschriebene und las folgende Apostrophen:
Mutter.
Brief von Frau Sternau. Lebt noch. Auch Steuermann. Graf Ferdinando. Auch alle anderen. Sind in Mexiko. Ferdinando von Cortejo Pablo Gift. Scheintot. Schiff geschafft. Sklave geworden. Landola getan. Die anderen von Landola auf Schiff. Gefangen. Sollte sie töten. Schaffte sie auf eine wüste Insel. Sechzehn Jahre. Gerettet. Kommen bald nach Hause. Große Freude in Rheinswalden und Rodriganda. Rache bald und groß.
Sohn Tombi.«
Man sieht, daß dieser Brief ein früheres Datum hatte. Er war vor Geierschnabels Ankunft geschrieben, also zu einer Zeit, in der man noch nicht wußte, daß die Geretteten wieder verschwunden seien.
Zarba saß lange Zeit in tiefe Gedanken versunken. Dann barg sie den Brief in der Tasche des alten Gewandes und kam aus dem Zelt hervor. Sie steckte einen Dolch zu sich und entfernte sich aus dem Lager, ohne den Ihrigen ein Wort der Erklärung zu geben.
Ihre Schritte waren zwar langsam, aber fest und sicher. Sie schien, trotzdem es Winter war, nicht im geringsten zu frieren. War es vielleicht eine seelische Potenz, die ihr diese Wärme, diese Kraft erteilte?
Sie schritt geradewegs auf Schloß Rodriganda zu. Als sie das Portal erreichte, stand ein Diener unter demselben.
»Was willst du, Hexe?« fragte er.
Zarba antwortete nicht, sondern schritt an ihm vorüber. Da erfaßte er sie beim Arm und wiederholte:
»Was du willst, Hexe, habe ich gefragt!«
Sie blickte ihn ruhig an und antwortete:
»Weißt du nicht, daß ich hier stets Zutritt habe?« – »Ich weiß es. Aber sage mir, zu wem du willst.« – »Ist Graf Alfonzo da?« – »Nein.« – »Señor Cortejo?« – »Ja.« – »Schwester Clarissa?« – »Ja.« – »Wo befinden sich diese beiden?« – »Im Zimmer Cortejos.«
Zarba wußte sehr gut Bescheid im Schloß. Sie stieg also die beiden Treppen empor, horchte an der betreffenden Tür, und als sie hinter derselben eine männliche und eine weibliche Stimme vernahm, klopfte sie an. Drin erscholl der Ruf, und sie trat ein.
Cortejo saß mit Schwester Clarissa auf dem Sofa. Sie hatten auf dem Tisch vor sich ein höchst splendides Abendmahl stehen. Beider Züge verfinsterten sich, als sie bemerkten, daß Zarba die Eintretende sei.
»Was willst du?« fragte Cortejo barsch. – »Mich an deinem Feuer wärmen«, antwortete sie, indem sie die Achseln zusammenzog, wie jemand, den sehr friert, und sich an den prächtigen Marmorkamin kuschelte. – »Dich wärmen? Geh in den Wald zu den Deinen! Brenne dir dort ein Feuer an!« – »Im Schloß bei den Meinen ist es besser als im Wald.«
Cortejo blickte Zarba erstaunt an. Was hatte sie nur? Diese Zigeunerin besaß eine Macht, der er nicht gewachsen war. Sie wußte einiges aus seinem Leben. Daß sie noch mehr, daß sie alles wußte, ahnte er gar nicht. Wie oft hatte er ihren Tod gewünscht! Er hätte sich kein Gewissen daraus gemacht, sie zu töten, aber ein geheimnisvolles Etwas hatte ihn immer von der Ausführung dieses Gedankens abgehalten.
»Wen hättest du im Schloß, die du ›die Deinen‹ nennen könntest?« fragte Schwester Clarissa in stolzem, höhnischem Ton. – »Dich nicht«, antwortete die Gefragte.
Da brauste die Schwester auf.
»Weib!« rief sie. »Wagst du, mich du zu heißen! Mißbrauche unsere Geduld nicht auf solche Weise!« – »Was bist du anderes als ich?« fragte die Zigeunerin.
Clarissa antwortete nicht, aber sie wandte sich an Cortejo und rief:
»Schaffe diese Vagabundin fort! Auf der Stelle!«
Cortejo mußte gehorchen; er gebot der Zigeunerin:
»Gehe hinab und wärme dich beim Gesinde! Bei uns ist kein Raum für dich!«
Da war es, als ob der Körper Zarbas höher und breiter werde. Sie richtete sich empor, lehnte sich an den Kamin, verschränkte die Arme über der Brust und erwiderte mit Nachdruck:
»Zarba wird sich da wärmen, wo es ihr beliebt. Dieses Weib hat dir einen Sohn geboren, der noch lebt. Auch ich gab dir einen Sohn, der lebt. Wer ist mehr, sie oder ich? Freilich ist mein Sohn ein armer Gitano, während der ihrige jetzt Graf von Rodriganda ist.«
Die beiden erschraken so, daß ihnen das Blut in den Adern stockte. Erst nach längerer Pause sagte Cortejo:
»Zarba, um Gottes willen, was fällt dir ein! Du phantasierst!«
Sie zuckte die Achsel und antwortete:
»Wohl wäre es kein Wunder, wenn mir die Sinne verlorengegangen wären, aber Gott hat sie mir erhalten, damit es eine Anklägerin gebe, wenn die Zeit des Gerichtes über euch gekommen ist.«
Schwester Clarissa fuhr sich mit dem Riechfläschchen an die Nase.
»Dieses Weib ist wirklich wahnsinnig, oder es träumt ihm nur!« rief sie aus. – »Frevle nicht!« gebot Zarba. »Es wird für euch die Stunde kommen, wo der Wahnsinn für euch eine Wohltat wäre. Ihr werdet heulen und mit den Zähnen klappern, daß die Teufel gezwungen sein werden, Mitleid mit euch zu haben!«
Cortejo wußte nicht, was er denken und sagen sollte. Zarba, seine einstige Geliebte, seine Mitschuldige in so vielen Fällen, trat jetzt in dieser Weise gegen ihn auf? Was hatte das zu bedeuten? Er starrte sie lange an, und endlich fragte er:
»Was willst du denn eigentlich von uns?« – »Nur mich wärmen«, antwortete sie. »Wenn aber dieses Weib mich hinausweist, weil es denkt, mehr zu sein als ich, so zeige ich ihm, daß ich gleiche Rechte mit ihm habe. Ich verlange von dir für meinen Sohn eine Grafschaft, ebenso wie der ihrige eine erhalten hat.« – »Was redest du von meinen Söhnen?« – »Schweige!« erwiderte Zarba gebieterisch. »Wir beleidigen uns nicht, wenn wir gegenseitig die Wahrheit gestehen. Zarba ist mächtiger als du. Sie kann erretten und verderben.« – »Du irrst«, antwortete er. »Es kostet mich ein Wort, so bist du verloren!«
Cortejo hatte sich zusammengerafft. Er wollte nun diese Vagabundin loswerden. Vor Clarissa hatte er kein Geheimnis, er konnte mit der Zigeunerin ganz ohne Furcht sprechen.
»Sprich dieses Wort!« gebot sie ihm. – »Ich will dich nicht sehen, nicht hören; es soll sein, als ob du gestorben seiest. Gehst du mit darauf ein, so werde ich schweigen. Fährst du aber fort, Schloß Rodriganda zu besuchen, als ob du hereingehörtest, so übergebe ich dich der Gerechtigkeit.« – »Du?« fragte Zarba, indem sie leise in sich hineinkicherte. »Sage nur ein Wort von mir, so geht dein Kopf verloren!« – »Oho!« meinte er. »Denkst du der Nacht, als Graf Emanuel verschwand? Er lag krank. Da kamen Zigeuner durch die hintere Tür. Sie würgten ihn, trugen ihn fort, und am anderen Morgen fand man ihn in der Tiefe des Abgrundes. Kennst du die Zigeuner, die dies taten? Kennst du die Anführerin, die ihnen befohlen hatte, dies zu tun?« – »Ich kenne sie«, entgegnete Zarba ruhig. »Aber kennst du auch den, der dies von ihr bestellte und sie dafür bezahlte? Kennst du die fromme Schwester, mit der er den Streich beraten hatte?« – »Pah!« meinte Cortejo. »Wer kann mir etwas beweisen?« – »Und wer mir?« fragte sie. – »Ich«, antwortete er. »Ich beschwöre es. Du aber hättest gegen mich keinen Schwur. Du bist Zigeunerin.« – »Ich würde deines Schwures lachen.« – »Prahlerin! Mörderin! Das Blut Don Emanuels klebt an deinen Händen!«
Zarba lächelte wieder heimlich in sich hinein und erwiderte:
»Um zu beweisen, wer sein Mörder ist, müßte man erst nachweisen, wer ihn erblinden lassen wollte und ihm und seiner Tochter Gift eingab, um sie wahnsinnig zu machen; aber das ist nicht nötig. Ich lache eurer doch. Erinnerst du dich noch jenes deutschen Doktors Sternau, der den Grafen operierte?« – »Er war ein Scharlatan, der längst untergegangen ist.« – »Er war weder ein Scharlatan, noch ist er untergegangen. Daß er kein Scharlatan sei, bewies er, als die Leiche des Grafen aufgehoben wurde, indem er behauptete, es sei gar nicht die Leiche des Grafen.« – »Sie war es aber doch.« – »Nein, sie war es nicht. Sternau war ein gescheiter Arzt, und ich war keine Mörderin. Ich sollte den Grafen töten, aber ich holte ihn nur von euch fort, um sein Leben sicherzustellen, und ließ ihn nach einem Ort schaffen, wo er nicht zu finden war.«
Die beiden Zuhörer waren totenbleich geworden. Cortejo war vor Schreck emporgefahren, Clarissa aber niedergesunken.
»Lüge, Lüge!« rief der erstere. »Man fand ja die Leiche!« – »Das war der Körper eines am Tag vorher begrabenen Mannes. Ich ließ ihn ausgraben, zog ihm die Kleidung des Grafen an und stürzte ihn zum Felsen hinab; er wurde so zerschmettert, daß eine Täuschung sehr wahrscheinlich war.« – »Weib, Teufel, du lügst!« rief Cortejo. – »Glaube das immerhin. Aber Graf Emanuel lebt noch.« – »Wo hättest du ihn?« – »Da, wohin du nicht kommen kannst. Ferner nanntest du jenen Sternau untergegangen. Auch darin irrst du. Sternau lebt.«
Cortejo blickte Zarba überlegen an und antwortete:
»Er ist tot. Das weiß ich sehr genau.« – »Meinst du?« fragte sie, abermals in sich hineinlachend. »So ist wohl auch Graf Ferdinando tot?« – »Ja.« – »Und Mariano, der echte Rodriganda?« – »Den kenne ich nicht. Sie alle sind tot, während eines Schiffbruchs untergegangen.«
Zarba trat einen Schritt näher und meinte:
»Gasparino Cortejo, du irrst abermals. Henrico Landola hat euch ebenso schlecht bedient wie ich.« – »Was sagst du? Ich verstehe dich nicht.« – »Du sollst mich sogleich verstehen. Landola traute dir niemals. Er wollte eine Waffe gegen dich behalten, darum tötete er diejenigen nicht, die er töten sollte, sondern setzte sie auf einer wüsten Insel aus. Sechzehn Jahre waren sie dort, bis es ihnen kürzlich gelang, zu entkommen.«
Cortejo wußte nicht, was er denken sollte. Selbst wenn Zarba jetzt log, mußte sie sich doch im Besitz von Geheimnissen befinden, die er bisher für sein ausschließliches Eigentum gehalten hatte. Und was sie erzählte, das war diesem Landola zuzutrauen. Wie nun, wenn sie die Wahrheit sagte?
Es wurde ihm ganz schwindlig, und auch Clarissa ließ ein leises Stöhnen hören, das sie nicht zu unterdrücken vermochte. Sie schien also ganz seine eigenen Gedanken und Gefühle zu haben. Cortejo raffte sich jedoch zusammen und sagte in höhnischem Ton:
»Du erfindest sehr gut, Alte! Werde Kinderwärterin, es wird dir da nicht schwer werden, Ammenmärchen zu ersinnen.«
Zarba lachte überlegen auf und antwortete:
»Das spricht nur deine Angst, ich höre und sehe es dir an! Ich will dir aber noch mehr sagen. Ihr hielt Don Emanuel für tot, nun sollte auch Don Ferdinando sterben, damit dein Sohn das ganze Erbe empfange. Es wurde ihm ein Gift eingegeben, aber dieses Gift tötete nicht, sondern machte nur starrkrämpfig. Don Ferdinando starb, wurde beerdigt, aber bald wieder ausgegraben und von Landola in die Sklaverei geschafft. Auch er hat sich gerettet und lebt. Sie alle, Sternau, Ferdinando und Mariano sind in Mexiko.« – »Beweise es!« – »Meine Boten und Quellen brauchst du nicht zu kennen. Aber ich sage dir, daß es wahr ist.« – »Und wenn es wahr ist, warum sagst du mir es, Hexe?« fragte Cortejo wütend. »Etwa um mich zur Vorsicht zu mahnen, etwa um mir Zeit zu geben, mich zu retten?« – »Nein, denn zu retten bist du nicht«, hohnlachte Zarba. »Ich sage es dir nur, um mich an deiner Qual zu weiden. Du sollst das alles eher erfahren, um die Angst desto länger zu tragen.« – »Satan!« rief er. – »Teufel« antwortete sie. – »Es ist doch alles erlogen. Ich glaube dir kein Wort.«
Da klopfte es leise an, und der Diener, der vorhin am Portal gestanden hatte, trat ein. Er brachte mehrere Briefe, die vom Boten abgegeben worden waren. Als er sich entfernt hatte, betrachtete Cortejo die Kuverts.
»Aus Mexiko!« entfuhr es ihm beim Anblick eines der Briefe. – »Lies ihn!« gebot Zarba. »Vielleicht weißt du dann, ob ich dich belogen habe oder ob ich die Wahrheit sagte.«
Cortejo öffnete halb vorsätzlich und halb unwillkürlich das Kuvert und faltete das innenliegende Papier auseinander. Er las es. Seine Blicke wurden starr, er stieß einen tiefen, schweren Seufzer aus und sank auf das Kissen des Sofas zurück.
Schwester Clarissa konnte ihre Neugierde nicht besiegen. Sie nahm den Brief aus seiner Hand und las nun folgende Zeilen:
»Lieber Oheim!
In aller Eile schreibe ich Dir von der Hacienda del Erina aus, denn es hat sich Wichtiges oder vielmehr Schreckliches zugetragen. Landola hat uns betrogen. Die, die er töten sollte, leben alle. Auch die Nebenpersonen kennst Du aus unseren Briefen. Er hat sie auf einer einsamen Insel ausgesetzt, von der sie nun entkommen sind. Sie befinden sich in Fort Guadeloupe bei unserem Feind Juarez. Ich nenne Dir Sternau, Mariano, zwei Helmers, Büffelstirn, Bärenherz, Emma Arbellez und Karja. Auch Don Ferdinando ist bei ihnen; er ist nicht tot, sondern er lebt. Vater ist nicht da, und ich bin krank. Ich sandte ihm diese Nachricht nach, damit er Maßregeln ergreifen könne. Gelingt es uns nicht, die Genannten abermals in unsere Hände zu bringen, so sind wir unbedingt verloren. In größter Sorge Deine Nichte
Josefa.«
Der frommen Schwester sank die Hand mit dem Brief nieder. Zarba aber hustete herausfordernd und sagte:
»Nicht wahr, meine Nachricht bestätigt sich? Ich sehe es euch an!«
Da fuhr Cortejo empor.
»Schweig, Weib, sonst stopfe ich dir den Mund. Setze dir noch so viele Unwahrheiten zusammen, aber niemals wirst du deine Behauptung beweisen können, daß Graf Alfonzo ein falscher Rodriganda sei.« – »Meinst du?« lachte sie höhnisch. »Du irrst gewaltig, Gasparino Cortejo! Zunächst kann man dir beweisen, daß Mariano der echte Rodriganda ist. Der Räuber hat ihn nicht getötet. Und frage doch einmal deinen Sohn, den falschen Grafen, was ihm in Paris von einem Garotteur abgenommen wurde.« – »In Paris? Von einem Garotteur? Davon weiß ich nichts. Was sollte das gewesen sein?« – »Ich will es dir sagen. Es gibt Leute, die aus Gedächtnisschwäche oder anderen Ursachen alles aufschreiben, was sie tun oder was mit ihnen passiert. Diese Unvorsichtigen denken nie daran, daß ihre Aufzeichnungen in falsche Hände kommen können; ein solcher Schwachkopf ist dein Sohn. Er hat alle eure Geheimnisse notiert, und dieses Notizbuch wurde ihm von einem Garotteur abgenommen. Ich kenne den Inhalt Wort für Wort.« – »Himmel und Hölle, wer hat dieses Buch?« rief Cortejo, von dem Sofa auffahrend und auf die Zigeunerin zutretend. – »Das brauchst du nicht zu wissen.« – »Ah, du wirst es mir dennoch sagen! Ich lasse dich nicht eher fort, als bis du es gestanden hast.« – »Warte, ob es mir beliebt.« – »Nein, ich warte keinen Augenblick. Heraus damit.«
Cortejo faßte die Zigeunerin am Arm, stieß aber im nächsten Augenblick einen Schmerzensschrei aus. Zarba hatte ihren kleinen Dolch gezogen und ihm in die Hand gestoßen. Zugleich hatte sie mit der Geschwindigkeit eines Wiesels das Zimmer verlassen. Ehe Cortejo sie erreichen konnte, hatte sie hinter den Bäumen des Parks Schutz gefunden.
»Verdammte Schlange! Sticht wie eine Natter!« zürnte Cortejo, die Hand betrachtend. – »Bist du schwer verwundet, mein Lieber?« fragte Clarissa. – »Nein, der Stich ging zwischen zwei Fingern hindurch. Nicht der Rede wert. Aber desto mehr Stiche hat sie uns mit ihrer Zunge versetzt.« – »Es gilt uns vorzusehen, lieber Gasparino. Laß uns die einzelnen Punkte überlegen. Vorher aber sage einmal aufrichtig, ob es wirklich wahr ist von dem – Sohn.«
Der Gefragte zögerte mit der Antwort, endlich erwiderte er, sich ein Herz fassend:
»Hm, mag sein. Warum aber jetzt an solche Kleinigkeiten denken? Wir haben jetzt ganz andere Sachen zu überlegen. Zunächst Graf Ferdinando; er ist nicht gestorben.« – »Er wurde also nicht vergiftet, nicht getötet.« – »Hm. Wer trägt die Schuld?« – »Dein unvorsichtiger Bruder Pablo. Ich bin nicht klug oder schlecht genug, den Grund zu finden.« – »Ich glaube, ihn zu wissen.« – »Nun?« – »Er hat eine Tochter, und ich habe einen Sohn. Mein Sohn ist Erbe der Grafschaft; er sollte Josefa heiraten, damit das Mädchen teilnehmen könne an unserem Gewinn. Alfonzo mochte nicht. Jetzt fühlten sie sich zurückgesetzt und beschlossen, mir die Daumenschrauben anzulegen. Das war aber nur dann möglich, wenn sie Don Ferdinando nicht töteten, sondern zwar leben ließen, dabei aber unschädlich machten.« – »Das ist allerdings einleuchtend. Man wird sich zu revanchieren wissen. Was denkst du vom Wiedererscheinen der Verschwundenen?« – »Ich glaube es.« – »Ich halte es für einen Kunstgriff der Josefa.« – »Nein. Woher hätte Zarba denselben Gedanken?« – »Können die beiden nicht in Übereinstimmung handeln?« – »Nein. Ich bin überzeugt, daß Landola die ganze Sippschaft hat leben lassen.« – »Aber wozu? Doch zu seinem eigenen Schaden.« – Jetzt, ja, nicht aber sobald es ihnen nicht gelang, zu entkommen. Ich habe ihm seine Dienste reichlich bezahlt; er aber ist ein Mensch und nimmt also so viel wie möglich. Er hatte es in der Hand, die Gefangenen freizugeben; dies war das Rohr, mit dessen Hilfe er mich auspumpen konnte. Ich begreife nur nicht recht, warum er noch nicht damit begonnen hat.« – »Was aber nun tun? Die Wiedererschienenen müssen unbedingt so bald wie möglich verschwinden.« – »Das überlasse ich meinem Bruder. Für mich gibt es zwei Personen, die mir wichtiger sind als alle Sternaus und Marianos.« – »Wer?« – »Zarba und Landola. Ohne das Zeugnis dieser beiden kann uns kein Mensch etwas beweisen.« – »So mußt du diese beiden töten.« – »Die Zigeunerin jedenfalls.« – »Wann?« – »Noch heute. Sie weiß zu viel.« – »Und Landola?« – »Mit ihm müßte ich vorher Rücksprache nehmen. Vielleicht ist es besser, ihn noch so lange leben zu lassen, bis man ihn ausgenützt hat.« – »Befindet er sich noch in Barcelona?« – »Ja, er muß damals in Deutschland eine Unvorsichtigkeit begangen haben, da er sich sogar vor den spanischen Agenten verstecken muß. Dieser Bismarck beginnt den anderen Mächten zu imponieren. Schreiben wir übrigens Alfonzo, daß er uns von Madrid aus besuche. Auch er muß wissen, was geschehen ist und mit darüber verhandeln. Jetzt will ich mich vorbereiten.« – »Wegen Zarba?« – »Ja, und auch wegen Landola. Ich fahre noch in dieser Nacht nach Barcelona. In solchen Dingen kann man nicht schnell genug sein.« – »Aber auch nicht vorsichtig genug. Ich hoffe nicht, daß du dich in irgendeine Gefahr begibst.« – »Fällt mir gar nicht ein. Habe keine Angst.« – »Aber es liegt Schnee. Man wird deine Spur entdecken.« – »Man wird vielleicht eine Spur entdecken, aber die meinige nicht.« Sie trennten sich.
2. Kapitel
Eine Stunde später verließ Cortejo aus einer Seitentür das Schloß. Er hatte sich von einem der Bediensteten eine Flinte heimlich weggenommen und ebenso von zwei anderen die Stiefel. Wechselte er die letzteren, so entstanden zweierlei Fährten. Auf jeden Fall aber paßten später seine eigenen Stiefel nicht in die Spuren.
Er machte einen Umweg und gelangte an den Platz, wo sich das Lager befand. Das Gewehr schußfertig, schlich er zwischen den Büschen heran. Er kannte das Leben in Zarbas Lager genau und wußte, daß man jetzt noch wach sei. Um die jetzige Zeit pflegte die Alte, eine Pfeife rauchend, noch vor ihrem Zelt zu sitzen, um den Erzählungen ihrer Horde zu lauschen.
Er nahte sich von der Seite, von der aus ihm Zarba gerade gegenübersitzen mußte. Ein Druck seines Fingers, und sie war für immer unschädlich gemacht.
So kroch er weiter und weiter, bis er die Randbüsche der Lichtung erreichte. Er blickte hindurch und stieß einen leisen Ruf der Überraschung aus. Das Lager war verschwunden.
Weshalb sind sie fort? Warum hatte die Alte nichts davon gesagt? Hatte sie etwa Angst ihres Dolchstiches wegen? Diese Fragen legte sich Cortejo vor. Aber sollte er zwecklos nach Hause zurückkehren? Nein. Die Gitanos konnten den Platz erst vor kurzer Zeit verlassen haben. Er konnte sie sehr bald erreichen und dann die Alte erschießen.
Er untersuchte also den Platz, um aus den Spuren zu ersehen, wohin sie sich gewandt hatten. Es wurde Cortejo sehr leicht, dies zu finden, und eben schickte er sich an, der breiten Fährte zu folgen, als er auf ein unvorhergesehenes Hindernis stieß.
»Halt!« rief es ihm entgegen.
Als er aufblickte, sah er vier Zigeunerburschen vor sich stehen.
»Was wollt ihr?« fragte er. – »Ah, Ihr seid es, Señor Cortejo. Was sucht Ihr hier?« – »Was geht euch das an?« – »Sehr viel. Wir hatten Euch hier erwartet.« – »Mich? Weshalb? Wozu?« fragte er erstaunt. – »Unsere Königin hat es uns befohlen.« – »Ah! Unglaublich! Wie konnte sie wissen, daß ich in den Forst mußte?« – »Als sie vom Schloß kam, befahl sie den schnellsten Aufbruch …« – »Weshalb?« – »Wir wissen es nicht. Uns gebot sie, hier zurückzubleiben. Sie sagte uns, daß Señor Cortejo leise durch die Büsche komme und daß er die Spuren suchen werde, um uns zu folgen; das sollten wir nicht dulden.«
Cortejo begann zu ahnen, daß sein gegenwärtiges Unternehmen vollständig mißglückt sei.
»Warum solltet ihr das nicht dulden?« fragte er. – »Auch das wissen wir nicht.« – »Und wenn ich dann doch den Spuren folge?« – »Dann, verzeiht, Señor, haben wir den strengen Befehl, Euch ein wenig totzuschießen.« – »Donnerwetter! Das hat Zarba befohlen?« – Ja.« – »Und ihr würdet es auch tun?« – »Wir sind gewöhnt, ihr zu gehorchen, selbst wenn es uns das Leben kosten würde. Darum ist es am besten, Señor, Ihr erlaubt uns, Euch nach dem Schloß zurückzubegleiten.« – »Ich werde den Weg selbst finden.« – »Jawohl, aber wir wollen uns auch überzeugen, daß Ihr ihn wirklich gefunden habt. Kommt, Señor, es ist besser, Ihr geht freiwillig mit uns, als daß wir Euch zwingen müssen.« – »Gewalt wollt ihr anwenden, ihr Schurken?« – »Unter Umständen, ja, denn wir müssen gehorchen.« – »So kommt. Aber laßt euch um Gottes willen nicht in der Nähe des Schlosses erblicken.« – »Oh, Señor, wir sind im Gegenteil fest überzeugt, daß Ihr Euch außerordentlich freuen werdet, unsere Altmutter Zarba gesund und unbeschädigt in Rodriganda wiederzusehen.«
Bei diesen Worten nahmen die Zigeuner Cortejo in ihre Mitte und führten ihn von dannen. Er mußte sich darein fügen und konnte seinem Zorn nicht einmal durch Grobheiten Luft machen. Dieser Ärger wiederholte sich, als er Schwester Clarissa dieses Abenteuer erzählte.
»O weh«, meinte diese. »So ist sie entkommen?« – »Noch nicht. Ich forsche ihr nach. Mein muß sie werden.« – »So willst du die Zigeuner verfolgen?« – »Ja.« – »Doch sofort morgen früh?« – »Nein. Die Fahrt nach Barcelona ist notwendiger. Die Zigeuner entgehen mir nicht.«
Es war noch während der Nacht, als Cortejo sich unterwegs nach der genannten Stadt befand. Dort angekommen, ließ er seinen Wagen im Gasthof halten und begab sich zu Fuß nach einer der unscheinbarsten Seitenstraßen: Dort trat er bei einem armen Flickschuster ein, der von seiner an und für sich engen Wohnung ein Stübchen vermietet hatte. Der Inhaber desselben war kein anderer als Kapitän Henrico Landola, der allerdings unter einem anderen Namen hier wohnte.
Als Cortejo bei ihm eintrat, fand er ihn von Langeweile geplagt.
»Habt keine Sorge«, meinte er. »Ich bringe Euch ein Thema, das Euch sehr viel Kurzweil machen wird.« – »Mir sehr recht und lieb. Übrigens werde ich es nicht mehr lange hier aushalten. Die Nachforschungen nach mir sind eingeschlafen, und ich liebe Kampf und Arbeit mehr als Frieden und Faulheit.« – »Schön! Da könnte ich Euch gleich Arbeit geben.« – »Was für welche?« – »Eine Fahrt nach Mexiko.« – »Hm! Als Passagier oder mit eigenem Schiff?« – »Ganz nach Belieben. Man hat sich nämlich höheren Ortes sehr unzufrieden darüber ausgesprochen, daß die Überreste des Grafen Ferdinando drüben in Mexiko liegenbleiben, anstatt in der Familiengruft der Rodriganda beigesetzt zu werden. Um weitere Vorwürfe zu vermeiden, soll ein Mann hinübergeschickt werden, um den Sarg nebst Inhalt herüberzubringen. Wollt Ihr das übernehmen?« – »Hole Euch der Teufel!« antwortete Landola. – »Nicht! Warum nicht?« – »Eine Leiche an Bord bringt stets Unglück.« – »Aberglaube! Das habe ich doch bei Euch noch gar nicht bemerkt.« – »Meinetwegen. Laßt den alten Kerl ruhen, wo er ruht.« – »Wo denn?« – »Na, drüben in Mexiko. Wo denn sonst?« – »Oder in der Sklaverei?«
Landola erschrak, er fuhr zurück, blickte Cortejo starr an und fragte:
»Sklaverei? Wie meint Ihr das?« – »Na, daß Ihr den Grafen an Bord genommen und fortgeschafft habt.« – »Donnerwetter! So hat Euer Bruder den Mund doch nicht gehalten.« – »Also auf seinen Befehl mußtet Ihr das tun?« – »Ja.« – »Er galt also mehr als ich?« – »Pah; er war drüben, wo die Geschichte vorgenommen wurde. Da mußte ich mich natürlich nach ihm richten.« – »Soso! Habt Ihr Euch auch später in solcher Weise nach ihm gerichtet?« – »Daß ich nicht wüßte.« – »Zum Beispiel mit Sternau und Konsorten?« – »Die sind ja tot!« – »Oder auch in der Sklaverei?« – »Unsinn!« – »Oder auf einer Insel ausgesetzt?«
Bei dieser Frage zeigte sich Landolas Gesicht fast zinnoberrot. Woher hatte Cortejo das erfahren? Es gab keinen Zeugen seiner damaligen Taten und Handlungen. Schlug Cortejo vielleicht nur auf den Strauch? Das war doch möglich, darum antwortete Landola:
»Erlaubt Señor, daß ich Euch frage, ob Ihr gerade jetzt träumt.« – »Ja, mir hat geträumt. Wißt Ihr was?« – »Ich werde es wohl hören.« – »Ich will es Euch sagen. Mir träumte nämlich, daß Ihr um gewisser Gründe willen, die ich hier nicht des näheren zu erörtern brauche, jene Gefangenen damals nicht habt ertrinken lassen.« – »Alle Teufel! Was hätte ich denn sonst mit ihnen tun sollen?« – »Ihr habt sie eben auf irgendeine Insel gebracht, um sie gleich bei der Hand zu haben, wenn es einmal einen Streich gegen mich galt.«
Jetzt hatte die Verlegenheit des Kapitäns einen hohen Grad erreicht. Er sah ein, daß Cortejo wußte, was er sagte, aber dennoch fiel es ihm nicht ein, so ohne weiteres ein Geständnis abzulegen.
»Sagt doch einmal, Señor, was ich von Euch halten soll«, meinte er. – »Sagt Ihr das lieber mir. Ich habe Euch Eure Dienste zu jeder Zeit prompt und reichlich bezahlt, und nun muß ich in Erfahrung bringen, daß Ihr Unehrlichkeiten gegen mich begangen habt, die geradezu haarsträubend sind und mich in die schauderhafteste Verlegenheit bringen können.« – »Ich bitte euch, mir eine einzige Unehrlichkeit zu nennen.« – »Nun, eben die, daß Sternau und Konsorten nicht gestorben, sondern ausgesetzt worden sind.« – »Donnerwetter! Wie wolltet Ihr das beweisen?« – »Damit, daß sie alle, alle gerade jetzt drüben in Mexiko lebendig herumlaufen, und zwar im Hauptquartier des Präsidenten Juarez.«
Landola fuhr abermals erschrocken zurück.
»Das müßten ja Gespenster sein.« – »Dann wäre Don Ferdinando ebenfalls ein Gespenst, von dem Ihr doch zugebt, daß er lebt.« – »Der? Der wäre auch dabei?« – »Ja. Sie sind alle beisammen.«
Cortejo sprach diese Worte im höchsten Zorn. Landola konnte vor Schreck und Verlegenheit kaum ein Wort hervorbringen.
»Don Ferdinando soll dabeisein?« fragte er endlich. »Welch eine Fabel oder was für ein Märchen hat man Euch denn da aufgehängt?« – »Eine Fabel? Ein Märchen?« rief Cortejo. »Das wagt Ihr, mich zu fragen? Ihr, der doch am besten weiß, ob es eine Fabel oder ein Märchen ist! Wißt Ihr, daß dies eine Frechheit ist, die ihresgleichen sucht? Glaubt Ihr, daß ich anspannen lasse und von Rodriganda nach Barcelona komme, nur um Euch eine Fabel zu erzählen?«
Landola faßte sich. Er sah ein, daß er auf irgendeine Weise durchschaut worden sei, und nahm sich vor, durch ein forciertes Auftreten dem Gegner die Spitze zu bieten.
»Ihr sprecht von Frechheit«, sagte er in jenem kalten Ton, der vermuten ließ, daß in seinem Innern ein Vulkan in Tätigkeit sei. »Ich muß Euch ersuchen, auf dergleichen Ausdrücke sofort zu verzichten, wenn Ihr überhaupt wollt, daß ich Euch weiterhin Rede stehe. Ich bin kein Halunke.«
Ein drohender Blitz traf ihn aus Cortejos Augen. Derselbe zuckte verächtlich die Achseln und fragte:
»Wollt Ihr einen Menschen, der von der Polizei gesucht wird, etwa anders nennen?« – »Señor«, zürnte Landola in erhobenem Ton, »die gegen mich gerichteten Recherchen sind nur eine Folge meiner letzten politischen Tätigkeit.« – »Ah! Wirklich?« – »Ja. Ihr wißt, daß ich als Spaniens Emissär die Mittelstaaten Europas bereiste. Preußen will mich ausgeliefert haben.« – »Nur weil Ihr als Emissär agitiert habt?« – »Ja.« – »Lüge!« – »Señor Cortejo!« – »Ich wiederhole es: Lüge! Es wird Preußens erstem Minister nicht einfallen, Eure Auslieferung von Spanien zu verlangen, von Spanien, das ihn ganz einfach auslachen würde. Nach den bestehenden Gesetzen hat er kein Recht zu dieser Forderung.« – »O doch!« – »Nein, Politiker werden nicht ausgeliefert. Ihr seid für Spanien tätig gewesen, es würde Euch beschützen. Aber anstatt dies zu tun, fahndet es nach Euch. Sagt mir doch, warum?« – »Es tut nur zum Schein so, um Preußen zu beruhigen.« – »Pah, ich weiß es besser.« – »Wirklich? So redet doch.« – »Glaubt Ihr denn, daß ich mit den Kreisen, um welche es sich hier handelt, keine Verbindung unterhalte? Es sind Euch zur Ausführung Eurer Aufträge und zur Auszahlung an gewisse andere Agenten bedeutende Summen anvertraut worden. Ihr habt alles für Euch behalten. Ihr habt diese Summen einfach unterschlagen.« – »Señor, wollt Ihr diese Behauptung wohl sofort zurücknehmen?« – »Fällt mir nicht ein. Dieser Unterschleife wegen werdet Ihr nun auch noch von den hiesigen Behörden gesucht. Man will Euch nicht an Preußen ausliefern, aber man will Euch unschädlich machen auf irgendeine Weise.« – »Das soll man doch nur versuchen, ich würde reden.« – »Pah! Wenn man Euch erwischt, werdet Ihr spurlos verschwinden. Man wird Euch gar nicht Gelegenheit geben, zu sprechen.« – »Aber man wird mich auch nicht erwischen.« – »Traut Euch nicht zu viel zu. Wie nun, wenn ich den ersten besten Polizisten herbeirufe und ihm sage, daß Ihr Landola seid?« – »So würde ich als Arrestant einen Kollegen haben.« – »Wen denn? Etwa mich?« – »Ja. Ich würde Euch als Räuber und Mörder anzeigen. Ich würde alles erzählen, was ich von Euch weiß.« – »Ich würde darüber lachen.« – »Lange nicht.« – »Ihr würdet es gar nicht wagen, mich zu denunzieren.« – »So? Warum nicht?« – »Weil Ihr als Mitschuldiger, als der Ausführer meiner Pläne und Entwürfe eine wenigstens ebenso strenge Strafe finden würdet wie ich.« – »Glaubt Ihr wirklich, daß mich das abhalten könnte, Euch anzuzeigen?« – »Ja«, antwortete Cortejo im Ton der Sicherheit. – »Nun, da irrt Ihr Euch gewaltig.« – »Ihr würdet Euch dennoch hüten, Euch mit bestrafen zu lassen.« – »Ihr vergeßt Eure eigenen Reden. Ihr habt ja vorhin gesagt, daß man mich suche, um mich verschwinden zu lassen. Das heißt doch, daß ich durch Tod oder lebenslängliche Gefangenschaft unschädlich gemacht werden soll. Ist dies einmal der Fall, zeigt Ihr mich an, und ich werde infolgedessen gefangen, so kann mein Schicksal dadurch, daß ich Eure Taten verrate, kein schlimmeres werden.« – »Meinetwegen; ich würde mich den Teufel um das scheren, was Ihr von mir sagt.« – »Man würde Euch zwingen, Euch darum zu scheren.« – »Oh, im Gegenteil. Man würde Euch kein Wort glauben.« – »Ich würde Beweise bringen.« – »Woher wolltet Ihr diese nehmen?« – »Oh, es stehen mir ihrer genug zur Verfügung. Ich erwähne da zum Beispiel die verschiedenen Briefe und Instruktionen, die Ihr mir geschrieben und zugesandt habt.« – »Das macht mich nicht bange. Diese Sachen sind vernichtet.« – »Glaubt Ihr das wirklich?« fragte Landola verächtlich. – »Wir haben ja das Übereinkommen getroffen, gegenseitig alle diese Skripturen zu vernichten.« – »Das ist wahr. Auch bin ich vollständig überzeugt, daß Ihr alle meine Schreibereien verbrannt habt.« – »Natürlich!« – »Wirklich?« fragte Landola, einen forschenden Blick in sein Gesicht werfend. – »Es ist nichts mehr vorhanden. Ich habe mein Wort gehalten.« – »Das war sehr ehrlich, aber auch sehr dumm von Euch«, rief Landola, dem bei Cortejos Versicherung sichtlich leichter geworden war. »Dumm? Ich begreife das nicht ganz.« – »Nicht? Wirklich nicht? Diese Sachen könnten Euch doch als Beweise gegen mich dienen.«
Cortejo stieß ein höhnisches Lachen aus.
»Ihr nennt mich dumm?« sagte er. »Bekümmert Euch um Eure eigene Kurzsichtigkeit! Diese Sachen hätten zugleich als Beweise gegen mich gedient.« – »Ja, da sie zeigten, daß ich Eure Befehle ausgeführt habe. Und nun denkt Ihr wohl, daß ich diese letzteren auch vernichtet habe?« – »Ja. Ich sagte das bereits.« – »Ihr irrt Euch sehr. Es ist noch alles vorhanden.« – »So seid Ihr ein Verräter, ein Lügner. – »Meinetwegen.« – »Diese Schreibereien werden ja Euch selbst gefährlich.« – »Oho! Wollt Ihr die Güte haben, mir dies zu beweisen?« – »Alles das, was Ihr getan habt, ist dort verzeichnet!« – »Es ist daraus zu ersehen, was ich ausführen sollte, nicht aber, was ich wirklich ausgeführt habe. Wer kann mir beweisen, daß ich Euren Befehlen wirklich gehorsam gewesen bin?« – »Ich!« – »Das würde Euch schwerfallen.« – »Ich beschwöre es.« – »Und ich beschwöre das Gegenteil.« – »Wir stehen in einer mehr als zwanzigjährigen Verbindung. Dies würde nicht der Fall sein, wenn Ihr nicht getan hättet, was ich von Euch verlangte. Das werden die Richter annehmen.« – »Dieser Schluß ist nicht ganz sicher.« – »Nun gut. So bringe ich Zeugen.« – »Wen?« – »Don Ferdinando.« – »Der ist tot.« – »Er lebt. Ferner unseren Agenten Verdillo in Verakruz.« – »Er wird sich hüten, gegen sich selbst auszusagen.« – »Ich verrate, daß Ihr der Seeräuber Grandeprise seid.« – »Und von Euch ging das Unternehmen aus. Das Schiff gehörte Euch. Ihr strecktet das Geld dazu vor und erhieltet dafür die Hälfte des Gewinnes.« – »Die Hälfte? Oh, ich bin überzeugt, daß Ihr mich fürchterlich betrogen habt.«
Da lachte Landola auf und antwortete:
»Da könnt Ihr allerdings recht haben, mein verehrtester Señor.« – »Betrüger!« sagte Cortejo grimmig. – »Danke!« – »Schwindler!« – »Danke!« – »Ich habe mir dies längst gedacht.« – »Das konntet Ihr Euch vom ersten Augenblick an denken. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich neunzig Prozent des Ertrages für mich nahm.« – »Neunzig! Neunzig Prozent!« rief Cortejo erstaunt. – »Ja. Ihr saßt ruhig zu Hause und wartetet darauf, Euer Geld einstreichen zu können; ich aber und meine Jungens, wir hatten das Risiko. Wir mußten kämpfen, wir wagten das Leben, und für den Fall, daß wir besiegt wurden, erwartete uns der Strick um den Hals. Daher erhieltet Ihr den zehnten Teil. Es war genug, denn es belief sich auf ein ganzes Vermögen. Das übrige aber gehörte uns.« – »Alle Teufel! Zehnmal mehr als ich. Das müssen Millionen gewesen sein.« – »Natürlich.« – »Was habt Ihr um Gottes willen mit diesen Summen gemacht?« – »Verlebt, vertrunken, verspielt.« – »Alle Teufel! Welche albernen Kerle!« – »Albern? Pah! Wenn man heute nicht weiß, ob man morgen bereits aufgehängt wird, so genießt man den Augenblick. Wenn es Euch aber wohltuend berühren sollte, zu erfahren, daß doch nicht alles verjuchhet wurde, so will ich Euch aufrichtig gestehen, daß ich irgendwo an einem sehr verborgenen Platz eine Sparkasse habe.« – »Ah. Ihr habt Geld versteckt?« fragte Cortejo rasch. – »Ja.« – »Viel?« – »Es langt vollauf, um mich zur Ruhe zu setzen.« – »Wo ist der Platz?« – »Meint Ihr wirklich, daß ich Euch dies sagen werde?« – »Ich möchte nur wissen, in welchem Land es ist.« – »Auch das geht Euch nichts an!« – »Gut! Behaltet Euren Raub! Aber seid auch überzeugt, daß ich nun ganz so an Euch handeln werde, wie Ihr Euch gegen mich verhalten habt.«
Landola nickte langsam mit dem Kopf.
»Wollt Ihr mir wohl sagen, was Ihr damit meint?« fragte er. – »Ich werde nun jede Rücksicht, die ich für Euch hatte, verbannen.« – »Ich habe nichts dagegen.« – »Ich werde Rechenschaft fordern.« – »Worüber?« – »Daß Don Ferdinando noch lebt.« – »Beweist mir erst, daß er wirklich lebt.« – »Meine Nichte schreibt es mir.« – »Sie lügt.« – »Auch die Zigeunerin Zarba weiß es bereits.«
Landola entfärbte sich.
»Habt Ihr mit ihr gesprochen?« fragte er. – »Ja.« – »Über Don Ferdinando?« – »Ja.« – »Sie sagte, daß er noch lebe?« – »Sie wußte es ganz genau.« – »Nein, sie irrt sich. Er starb und wurde in Mexiko begraben.« – »Lüge! Er erhielt ein Gift, das scheintot macht!« – »Donnerwetter!« – »Ihr erschreckt jetzt? Ja, ich weiß alles! Der Graf wurde zwar begraben, aber wieder aus dem Sarg genommen und zu Schiff von Euch in die Sklaverei gebracht. Wollt Ihr das leugnen?«
Landola blickte Cortejo mit einem pfiffig-überlegenen Lächeln an und antwortete:
»Ihr meint, daß ich erschrecke? Bildet euch doch das nicht ein! Was Ihr sagt, oder was Ihr wißt, ist ganz gleichgültig. Von einem Leugnen kann gar keine Rede sein.« – »Ihr gebt also zu, daß der Graf lebt?« – »Ob er lebt, kann ich nicht wissen.« – »Aber Ihr gesteht, daß er damals nicht gestorben ist?« – »Das gebe ich zu.« – »Also doch! Ihr seid ein ganz gemeiner Betrüger!« – »Pah! Wir sind uns ebenbürtig!« – »Warum habt Ihr mich hintergangen?« – »Es geschah auf Wunsch Eures Bruders.« – »Also doch! Ganz so, wie ich es dachte! Aber welchen Grund gab mein Bruder an?« – »Keinen.« – »Er sagte Euch, warum Don Ferdinando sterben müsse?« – »Ja.« – »Nun, warum?« – »Um Alfonzo Platz zu machen.« – »Gut. So muß er Euch aber doch auch gesagt haben, warum der Don wieder auferstehen müsse.« – »Kein Wort. Ich dachte mir es selbst.« – »Da möchte ich wissen, was Ihr Euch gedacht habt.« – »Ihr könnt es erfahren. Wißt Ihr, daß Señorita Josefa in Alfonzo verliebt war?« – »Ja.« – »Sie wollte Gräfin von Rodriganda werden. Wäre sie es geworden, so brauchte der Graf nicht wieder von den Toten aufzuerstehen. Don Alfonzo aber mochte nichts von ihr wissen …« – »Ich auch nicht. Ha, diese Vogelscheuche, und eine Gräfin Rodriganda!« – »Ihr mögt recht haben, aber sie und ihr Vater ärgerten sich darüber. Ihr und Alfonzo hattet alles, sie hatten nichts. Sie wollten auch ihren Anteil haben. Sie wollten über die mexikanischen Besitzungen der Familie verfügen.« – »Das haben sie auch getan.« – »Wirklich?« – »Ja. Ich habe von dem Ertrag der drüben liegenden Güter nicht einen Dollar erhalten.« – »Auch nicht verlangt?« – »O doch; aber man hörte nicht darauf.« – »So ist es mir begreiflich, warum Euer Bruder sich nicht mehr um den alten Grafen bekümmert hat. Hättet Ihr ihn nicht im ruhigen Genuß der Güter gelassen, so hätte ich den Don holen müssen.« – »Habt Ihr das mit ihm besprochen?« – »Nein. Er war sehr zurückhaltend, aber er hat es mir angedeutet.« – »Was hätte er mit dem Don gemacht?« – »Ihn wieder in seine Besitzungen eingesetzt, so daß Ihr gezwungen gewesen wäret, zu verzichten. Jedenfalls wäret dann Ihr und Don Alfonzo verloren gewesen.« – »Das soll er mir büßen! Aber, zum Teufel, wie konntet Ihr Euch zu einem solchen Verrat gegen mich verführen lassen?« – »Pah! Ich wurde gut dafür bezahlt. Wer mir am meisten gibt, dem diene ich am eifrigsten.« – »Ihr seid ein Halunke! Nun habt Ihr die Folgen, da Don Ferdinando wieder zurückgekehrt ist.« – »Also ist das wirklich wahr?« – »Vollständig.« – »Wie ist er losgekommen?« – »Wo habt Ihr ihn gehabt?« – »In Harrar. Der Zugang zu diesem Land ist außerordentlich schwierig, und die Flucht aus demselben geradezu eine Unmöglichkeit. Ich kann sein Wiederauftauchen nicht begreifen.« – »Man wird wohl Näheres darüber erfahren. Aber wie steht es nun mit den anderen allen, von denen Ihr schriebt, daß sie ertrunken seien?«
Landola lachte.
»Ihr behauptet, daß auch diese noch leben?« fragte er. – »Ja.« – »Und diese Behauptung ist wahr?« – »Ja.« – »Nun, so ist die Sache sehr einfach. Sie sind eben damals nicht ertrunken.«
Da fuhr Cortejo zornig auf:
»Wollt Ihr Euch etwa gar noch über mich lustig machen?« – »Fällt mir nicht ein. An Euch und dieser ganzen Angelegenheit ist nicht das mindeste Lustige zu bemerken.« – »Das denke ich auch. Die Sache ist nicht lustig, sondern geradezu höchst gefährlich. Aber warum habt Ihr diese Menschen denn damals nicht umgebracht?« – »Erstens war ich von Euch zu schlecht bezahlt worden und …« – »Zu schlecht?« fiel Cortejo ein. »Seid Ihr verrückt?« – »Ich bin sehr bei Sinnen. Und sodann konnten mir diese Leute ja nichts mehr nützen, wenn sie tot waren.« – »Ah! Welchen Nutzen suchtet Ihr denn damals?« – »Das kann ich Euch aufrichtig sagen. Spitzbuben pflegen nicht immer ehrlich zu sein.« – »Das merke ich.« – »Wir beide sind Spitzbuben.« – »Donnerwetter!« – »Darum lag der Gedanke nahe, daß einmal die Zeit kommen könne, wo Ihr den Dank an mich vergessen würdet. Für diesen Fall hob ich mir meine Gefangenen auf.« – »Ihr habt sie also wirklich nach einer Insel gebracht?« – »Ja.« – »Wo liegt diese Insel?« – »Im großen Ozean.« – »Wie dumm. Wo die Schiffahrt jetzt dort so frequent ist?« – »Dumm? Ihr irrt da sehr. Die Insel war nur mir bekannt. Kein anderer Fuß hatte sie betreten.« – »Ihr seht aber jetzt, daß sie doch bekannt gewesen sein muß.« – »Nein, das sehe ich nicht.« – »Nun, die Gefangenen sind doch entkommen.« – »Vielleicht haben sie sich ein Floß gebaut.« – »Ah! Daran hattet Ihr damals gar nicht gedacht.« – »O doch. Es gab keinen einzigen Baum auf der Insel. Vielleicht ist dieses Eiland von einem anderen entdeckt worden. Er hat die Leute vorgefunden und mit nach Mexiko genommen.« – »Und das sagt Ihr so ruhig?« – »Soll ich mir eine Kugel durch den Kopf jagen?« – »Das allerdings nicht. Aber Euch selbst ohrfeigen, das könntet Ihr. Ihr habt so unverantwortlich leichtsinnig gehandelt, wie ich es gar nicht für möglich gehalten hätte. Wenn einer allein entkommen wäre! Aber alle! Aus welchen Personen bestand denn diese ganze Gesellschaft?« – »Aus Sternau …« – »Hole ihn der Teufel! Eigentlich ist er an allem schuld.« – »Mariano …« – »Der Schwindler!« – »Die beiden Häuptlinge …« – »Der Apache und der Mixteka?« – »Ja. Ferner die Gebrüder Helmers und die beiden Mädchen.« – »Ihr meint Emma Arbellez und ihre Indianerin?« – »Ja.« – »Nun, diese alle sind jetzt wieder da. Don Ferdinando ist zu ihnen gestoßen.« – »Eine verfluchte Geschichte ist es allerdings.« – »Ihr habt sie Euch selbst eingebrockt.« – »Sogar gefährlich«, meinte Landola nachdenklich. – »Ja. Aber wißt Ihr, was das Gefährlichste daran ist?« – »Nun, was?« – »Daß sie sich im Hauptquartier des Juarez befinden.« – »Da schlage allerdings der Teufel drein! Juarez läßt nicht mit sich spaßen. Wenn er sich ihrer annimmt, so haben wir alles zu befürchten.« – »Das ist es eben. Nun könnt Ihr sehen, wie Ihr Euren Fehler wieder gutmacht.« – »Hm. Haltet Ihr dies für so schwer?«
– »Was denn sonst?«
Landola schritt einige Male im Zimmer auf und ab, dann blieb er vor Cortejo stehen und sagte:
»Wie man es nimmt, es ist schwer, aber auch leicht. Schwierig ist es, aber auf die leichte Achsel muß man es nehmen.« – »Was soll das heißen?« – »Es ist ein leichtes Gewissen dazu erforderlich.« – »Ah! Ihr meint …« – »Ich meine, daß man hinübergehen muß, um das zu tun, was man früher unterlassen hat.« – »Sie aus dem Weg räumen?« – »Ja.« – »Hm. Etwa sie weder auf eine wüste Insel schaffen?« – »Alle Teufel! Diesmal sicherlich nicht.« – »Also sie wirklich töten?« – »Unbedingt.« – »Wer soll das übernehmen?« – »Ich.« – »Ihr? Das will überlegt sein.« – »Wieso?« – »Ich sehe mich gezwungen, in dieser Angelegenheit sehr vorsichtig zu handeln.« – »Ich auch.« – »Ich werde nur dann einen Handel abschließen, wenn ich überzeugt bin, nicht betrogen zu werden.« – »Ich ebenso.« – »Ihr gebt zu, daß jetzt davon die Rede ist, eine Unterlassungssünde von Euch wiedergutzumachen.« – »Es mag so sein.« – »Ihr gebt ferner zu, daß auch Euch daran liegen muß, daß diese Menschen unschädlich gemacht werden.« – »Ich will auch dies für jetzt nicht in Abrede stellen.« – »Und Ihr sagt, daß Ihr selbst dieses Unschädlichmachen übernehmen wollt?« – »Ja.« – »Nun, so werdet Ihr aus den oben angeführten zwei Gründen diese Arbeit jedenfalls unentgeltlich besorgen.« – »Fällt mir nicht ein.« – »Nicht? Warum nicht?« – »Einfach, weil ich mir dabei etwas verdienen will.« – »Ihr habt Euren Lohn bereits weg.« – »Das mag sein. Allein erstens war er zu karg, und zweitens liegen die Sachen jetzt ganz anders.« – »Das ist ganz allein Eure Schuld.« – »Die Arbeit wird schwieriger.« – »Eure Schuld.« – »Die Mitwisser haben sich vermehrt.« – »Eure Schuld.« – »Es müssen also viel mehr Personen stumm gemacht werden.« – »Allein Eure Schuld.« – »Vielleicht muß man sogar Juarez zum Schweigen bringen.« – »Eure Schuld.« – »Geht zum Satan mit diesem ›Eure Schuld‹! Es versteht sich ganz von selbst, daß es eine Riesenaufgabe ist, nach Mexiko zu gehen und so viele Personen umzubringen.« – »Das mag sein.« – »Das tut man nicht gratis.« – »Na, ich will Euch einmal fragen, wieviel Ihr verlangt.« – »Wieviel bietet Ihr?« – »Ich biete nichts. Der Verkäufer hat zu fordern.« – »Wißt Ihr noch, wieviel Ihr mir damals zahltet?« – »Ja.« – »Es waren hunderttausend Dollar.« – »Das stimmt.« – »Gebt Ihr jetzt zwei mal hunderttausend?« – »Nein.« – »Gut, so sind wir fertig.«
Landola drehte sich um und machte Miene, die Stube zu verlassen.
»Oho!« meinte Cortejo. »So rechnen wir nicht!«
Da wandte sich der Kapitän wieder zurück und fragte: »Wieso?« – »Ihr seid verpflichtet, Euren Fehler wiedergutzumachen.« – »Wollt Ihr mich etwa dazu zwingen?« – »Nein. Wir haben beide alle Veranlassung, uns nicht zu reizen, aber wir dürfen auch nicht unverständig sein.« – »Nun wohl. Warum seid denn Ihr da unverständig?«
Cortejo tat, als ob er ihn nicht verstehe, und fragte:
»Unverständig? Ich? Inwiefern denn?« – »Insofern, als Ihr mir nichts geben wollt.« – »Wer hat Euch denn dies gesagt?« – »Ich sehe es ja.« – »Pah! Ich bin zu einer Gratifikation bereit, aber zwei mal hunderttausend Dollar sind mir denn doch zu viel.« – »Nun, wieviel bietet Ihr?« – »Fünfzigtausend.« – »Unsinn!« – »Mehr kann ich nicht geben.« – »Wie? Ihr könnt nicht? Seid Ihr so arm? Ich denke, daß Euch die reiche Grafschaft Rodriganda gehört.« – »Das ist richtig. Ihr versteht mich falsch. Wenn ich sage, daß ich nicht mehr als fünfzigtausend geben kann, so meine ich nicht, daß ich arm bin, sondern daß ich überhaupt nicht mehr geben mag.« – »Warum?« – »Weil Ihr die Arbeit nicht allein machen werdet, könnt Ihr auch nicht den vollen Lohn erhalten.« – »Ah! Wer soll sich denn noch mit beteiligen?« fragte Landola sehr erstaunt. – »Ich«, antwortete Cortejo. – »Ihr?« rief Landola noch erstaunter als vorher. »Ihr wollt die Arbeit mit tun? Wie habe ich das zu verstehen?« – »Nun, sehr einfach. Ihr geht nach Mexiko, nicht wahr?« – Ja.« – »Ich gehe mit.«
Landola trat einen Schritt zurück und fragte, beinahe betroffen:
»Ihr?«
Cortejo nickte.
»Ihr wollt mitgehen?« – »Ja.« – »Nach Mexiko?« – »Ja doch!« – »Das ist unmöglich! Das kann ich gar nicht glauben!« – »Warum nicht?« – »Ihr könnt hier ja nicht abkommen. Man braucht Euch zu nötig.« – »Wer sagt Euch das?« – »Ich denke es mir.« – »Nun, so will ich Euch eines anderen und Besseren belehren. Don Alfonzo wird mir gern einen Urlaub geben, wenn es sich darum handelt, ihm seine Besitzungen zu erhalten.« – »Aber was wollt Ihr in Mexiko?«
Cortejo machte ein sehr eigentümliches Gesicht.
»Zunächst liegt mir daran, meinen lieber Bruder Pablo einmal zu besuchen«, sagte er. – »Warum jetzt?« – »Sodann«, fuhr Cortejo unbeirrt fort, »möchte ich meine liebe Nichte Josefa einmal kennenlernen.« – »Aber warum soll dies gerade jetzt sein?« – »Weil es mir so paßt! Ihr habt mich betrogen. Pablo hat mich betrogen. Glaubt Ihr, daß ich mich abermals betrügen lasse?« – »Ah! So meint Ihr es?« – »Ja, so und nicht anders.« – »Ihr wollt uns beaufsichtigen?« – »Freilich.« – »Glaubt Ihr, daß Euch das Nutzen bringt?« – »Versteht sich.« – »Und daß wir auch diejenigen sind, die sich beaufsichtigen lassen?« – »Ich habe nicht gesagt, daß ich nur beaufsichtigen will. Ich werde selbst mitarbeiten.« – »Das gibt der Sache allerdings eine kleine Wendung«, versetzte Landola nachdenklich. – »Das meine ich auch. Übrigens werdet Ihr später sehen, daß Ihr ohne Hilfe nicht auskommen könntet.« – »Hm! Ich sehe allerdings ein, daß es wirklich besser ist, wenn Ihr selbst mit dabei seid.« – »Also endlich?« – »Aber wie die Sachen stehen, gilt es, keine Zeit zu verlieren.« – »Das versteht sich von selbst. Wir reisen bei nächster Gelegenheit ab. Ich werde mich sofort erkundigen, was für Schiffe im Hafen liegen.« – »Ich weiß das bereits. Es wurde mir denn doch zu schwül.« – »Ihr habt Euch erkundigt?« – »Ja, aber es paßt verteufelt schlecht nach Mexiko.« – »Wieso?« – »Es gibt kein Schiff dorthin. Ein einziger Dampfer liegt da, der übermorgen in See sticht, aber er geht nach Rio de Janeiro.« – »Das ist ja gut.« – »Wieso?« – »Wenn wir an Bord kommen, entgeht Ihr hier den Augen der Polizei, und in Rio finden wir allemal Gelegenheit nach Mexiko.« – »Das mag sein. Aber wie an Bord kommen? Man kennt mein Signalement, besonders hier in Barcelona.« – »Nichts leichter als das. Wißt Ihr, was eine Perücke ist?« – »Eine Kopfbedeckung für Kahlköpfige«, lachte Landola. – »Und wißt Ihr, was ein falscher Bart ist?« – »Eine Gesichtsbedeckung für Spitzbuben.« – »Und wißt Ihr, was man unter colle de face versteht?« – »Ah, das ist jener berühmte französische Gesichtskleister, mit dessen Hilfe sich eine alte Frau in ein junges Mädchen verwandeln kann. Man füllte damit sogar die tiefsten Falten aus.« – »Und wißt Ihr, was ein falscher Paß ist?« – »Eine Erfindung des Teufels, zum Besten seines Familienzirkels.« – »Nun gut, das alles werde ich Euch verschaffen.« – »Eine Perücke?« – »Ja.« – »Die mir paßt?« – »Ja. Meine Auswahl ist groß genug.« – »Auch in falschen Bärten?« – »Ja.« – »Und Gesichtsschmiere?« – »Habe ich topfweise.« – »Und falsche Pässe?« – »Ein ganzes Ries.« – »Señor Cortejo, man sieht wirklich, daß Ihr ein Spitzbube seid!« – »Danke! Ich werde alle diese Sachen auch für mich brauchen.« – »Ihr wollt Euch auch verkleiden?« – »Natürlich!« – »Aber warum?« – »Könnt Ihr das nicht begreifen? Wir treffen da drüben jedenfalls Sternau und andere Bekannte, die nicht wissen dürfen, wer wir sind.« – »So hat es mit der Verkleidung Zeit, bis wir drüben sind?« – »O nein. Wir haben vielleicht gar keine Gelegenheit, Namen, Gestalt und Pässe zu wechseln. Wir können doch kein Schiff, kein Haus, keinen Ort anders verlassen, als wie wir da angekommen sind.« – »Das würde allerdings Verdacht erwecken.« – »So hört! Ich reise als Don Antonio Veridante, Advokat und Bevollmächtigter des Grafen Alfonzo de Rodriganda.« – »Donnerwetter! Ich begreife.« – »Ich habe die Verhältnisse der mexikanischen Besitzungen dieses Herrn zu inspizieren.« – »Natürlich!« – »Und bin mit ausreichenden Vollmachten versehen.« – »Die Ihr Euch selbst ausstellt.« – »Auch der Paß macht keine Schwierigkeiten. Ferner nehme ich Legitimationen auf meinen echten Namen mit, um für alle Fälle gerüstet zu sein.« – »Ihr seid sehr umsichtig.« – »Natürlich brauche ich einen Sekretario.« – »Wo werdet Ihr ihn finden?« – »Ich habe ihn bereits.« – »Ah, so ist der Plan schon längst fertig?« – »Nein, er wird im Gegenteil eben erst entworfen.« – »Sapperment! Der Sekretär oder Schreiber soll wohl ich sein?« – »Natürlich!« – »Auf diese Standeserhöhung kann ich mir viel einbilden.« – »Ihr habt recht. Ein Sekretario ist jedenfalls mehr wert als ein Spitzbube, wie Ihr Euch vorhin genannt habt.« – »Aber dieser Sekretario kann auch einer sein.« – »Möglich.« – »Und sein Herr, der Advokat, ein noch größerer.« – »Nehmt Euch in acht, sonst lasse ich Euch hier sitzen, und Ihr mögt sehen, wie Ihr mit der Polizei fertig werdet. Habt Ihr noch etwas zu fragen?« – »Nein. Es genügt mir, zu wissen, wann und wo wir uns treffen.« – »Getraut Ihr Euch, am Tag die Stadt zu verlassen?« – »Nein, zumal ich einiges Gepäck bei mir habe.« – »So bin ich gezwungen, bis zur Dunkelheit hierzubleiben. Sobald sie eingetreten ist, begebt Ihr Euch bis zum Anfang des ersten Wäldchens an der Straße nach Manresa. Kommt eine Kutsche, so pfeift Ihr den Anfang der Marseillaise, woran ich Euch erkennen werde. Ich will in den Hafen, um mich zu erkundigen. Adieu!« – »Adieu!«
Die beiden Söhne des Verbrechens gingen auseinander.
»Verdammt!« murmelte Landola, als er sich allein befand. »Sind diese Kreaturen glücklich entkommen. Welch eine Unvorsichtigkeit, mich während dieser langen Zeit nicht einmal zu erkundigen. Freilich, mir kann ihre Rückkehr weniger schaden. Ich brauche mich einfach nur zu verbergen. Aber dieser Cortejo und seine Sippe, sie sind verloren, sobald es ihm nicht gelingt, der Gefahr gleich anfangs zu begegnen. Fünfzigtausend Dollar. Ah, ich habe noch nicht ja gesagt! Er soll bluten, er soll zahlen! Und dann suche ich mir irgendeinen schönen, verborgenen Erdenwinkel, wo ich meine Reichtümer in Freude und Ruhe genießen kann.«
Cortejo fand den Dampfer, den Landola meinte. Die Falltür war herabgelassen; er stieg an Bord und traf den Kapitän auf Deck.
»Sie gehen nach Rio?« fragte er ihn. – »Ja«, antwortete der Seemann. – »Sie nehmen Passagiere auf?« – »Nur anständige.« – »Ich heiße Cortejo …«
Der Kapitän verbeugte sich.
»Bin Verwalter sämtlicher Besitzungen des Grafen Alfonzo de Rodriganda.«
Zweite, noch tiefere Verneigung des Kapitäns.
»Wir haben große, sehr weitläufige Güter drüben in Mexiko. Der Stand der Dinge nötigt uns, einen Bevollmächtigten hinüberzusenden, der unsere Interessen zu wahren hat Wollen Sie diesen Mann an Bord nehmen?« – »Mit Vergnügen. Wie heißt er?« – »Don Antonio Veridante.« – »Hat er zahlreiche Bedienung bei sich?« – »Einen einzigen Sekretario.« – »Junge Leute?« – »Nein, sondern ältere Herren, still und zurückgezogen. Sie werden Ihre Schiffsordnung nicht im mindesten stören.« – »Das ist mir lieb. Beköstigen sich die Señores selbst?« – »Nein.« – »So werde ich für das Nötige sorgen müssen. Aber mein Schiff ist kein Passagierschiff, ich habe also auch keine festen Preise. Ich richte mich ganz nach den Ansprüchen, die man macht. Wieviel soll gezahlt werden?« – »Dieser Punkt ist der einfachste. Sorgen Sie für alles, was zwei feine Señores während einer solchen Reise brauchen. Sie werden das, was Sie verlangen, sofort bezahlen, nachdem sie an Bord gestiegen sind, vorausgesetzt, daß die Forderung nicht übertrieben ist.«
Somit war die Sache abgemacht. Cortejo wartete in einem Gasthof, bis es dunkel war, und fuhr dann nach Hause.
Als er das erwähnte Gehölz erreichte, hörte er den Anfang der Marseillaise pfeifen. Er ließ anhalten. Landola stieg ein, nachdem sein Koffer auf dem Bock Platz gefunden hatte. Dann ging die Fahrt weiter.
»Fertig mit dem Kapitän?« fragte er. – »Ja.« – »Wann geht es fort?« – »Habe gar nicht zu fragen brauchen. Neben dem Fallreep hing die Ankündigung. Übermorgen früh mit eintretender Ebbe.« – »Sie wird neun Uhr eintreten.« – »So kommen wir zeitig genug, wenn wir des Nachts eintreffen.«
Dieses kurze Gespräch war das einzige, was sie bis Rodriganda führten. Dort angekommen, hütete sich Landola, in den Lichtkreis der Laternen zu treten. Es sollte niemand seine Gesichtszüge sehen – eine sehr notwendige Vorsichtsmaßregel.
Cortejo führte ihn in eines der Gastzimmer und bediente ihn selbst. Dann, nachdem er ihm geraten hatte, keinen Menschen eintreten zu lassen, begab er sich zu Schwester Clarissa.
3. Kapitel
Clarissa hatte Cortejo längst erwartet.
»Mein Gott«, klagte sie, »wie vernachlässigst du mich!« – »Inwiefern?« fragte er. – »Du bist bereits seit einer halben Stunde angekommen.« – »Ohne dich aufzusuchen! Nicht?« – »Ja. Nennst du dies Aufmerksamkeit?« – »Ich hatte vorher zu tun.« – »Vorher? Kann etwas anderes vorgehen?« – »Ja.« – »Was denn zum Beispiel?« – »Ein Gast.« – »Ah! Du hast einen Gast?« – »Ja.« – »Wer ist es?« – »Rate!« – »Wie kann ich das raten?« – »Du weißt doch, bei wem ich gewesen bin.« – »Bei Landola.« – »Nun?« – »Was? Du hast ihn doch nicht etwa als Gast mitgebracht?« – »Warum nicht?« – »Den polizeilich Verfolgten.« – »Gerade darum.« – »Gasparino!«
Clarissa schlug die Hände zusammen. Die Handlungsweise ihres alten Geliebten war ihr unbegreiflich. Er aber meinte lächelnd:
»Es ist nicht die geringste Gefahr dabei. Ich weiß, daß man ihn hier nicht suchen wird.« – »Wie lange soll er bleiben?« – »Nur bis morgen nacht.« – »Wohin geht er dann?« – »In See.« – »Hat er gestanden?« – »Ja.« – »Alles?« – »Alles!« – »Dieser Betrüger, Schurke und Verräter! Warum hat er es getan?« – »Um seines eigenen Vorteils willen. Er wollte gegen mich eine Macht in den Händen haben. Übrigens hatte mein Bruder ihn gut dafür bezahlt, daß er Don Ferdinando fortschaffte.« – »Also hat Pablo doch auch schlecht an dir gehandelt.« – »Ja. Ich werde ihn zur Rede stellen. Es soll ihm nicht den geringsten Nutzen bringen, darauf kannst du dich verlassen.« – »Was gedenkst du zu tun?«
Cortejo blickte vor sich hin und zögerte mit der Antwort. Darum fragte Clarissa:
»Jedenfalls wirst du zunächst die Zigeunerin aufsuchen?« – »Fällt mir nicht ein.« – »Wie? Nicht? Wirklich nicht?« fragte sie erstaunt. – »Nein.« – »Du sagtest das aber noch gestern, ehe du fortfuhrst!« – »Das ist richtig. Aber die Umstände haben sich geändert. Ich muß die Zigeunerin noch laufenlassen.« – »Aber sie ist uns ja so gefährlich!« – »Es gibt Personen, die uns noch gefährlicher sind.« – »Wen meinst du?« – »Sternau und Konsorten.« – »Die müssen drüben bekämpft werden. Persönlich kannst du gegen sie nicht vorgehen.« – »Ah! Warum nicht?« – »Nun einfach deshalb, weil du nicht in Mexiko bist.« – »Dem kann und wird abgeholfen werden, meine Liebe.«
Clarissa erschrak.
»Wie? Höre ich recht?« rief sie, von ihrem Sitz aufspringend. – »Freilich, liebes Kind«, antwortete er. – »Du willst doch nicht etwa hinüber nach Mexiko?« – »Gerade das will ich.« – »Heilige Madonna! Gasparino, was fällt dir ein?« – »Beruhige dich! Die Umstände machen es nötig!« – »Du kannst hier nicht entbehrt werden.« – »Drüben noch weniger!« – »Deine Kanzlei – deine Verwaltungsarbeiten …« – »Liegen in guten Händen.« – »Die Beaufsichtigung …« – »Wird Alfonzo übernehmen.« – »Er ist ja nicht hier.« – »Er wird kommen. Ich werde ihm noch schreiben, und sobald er eintrifft, teilst du ihm alles mündlich mit.« – »So willst du so rasch fort?« – »Mit Landola, morgen in der Nacht.« – »Mit diesem Mann! Kannst du dich ihm anvertrauen?« – »Pah! Frage doch lieber, ob er sich mir anvertrauen kann.«
Clarissa setzte sich langsam wieder, blickte Cortejo fragend ins Gesicht und sagte dann:
»Haben diese Worte etwas zu bedeuten?«
Cortejo lächelte sehr selbstbewußt und antwortete:
»Habe ich jemals etwas gesagt, was nichts zu bedeuten hatte?« – »Hm! Ich kenne dich. Ich lese aus deinen Mienen, daß du etwas vorhast. Ich habe mich da noch nie getäuscht.« – »Ja«, lachte er. »Du bist eine große Menschenkennerin. Was liest du denn für Buchstaben aus meinem Gesicht?« – »Keine guten, wenigstens keine freundlichen. Habe ich recht?« – »Möglich!« – »Hast du Neues von Landola gehört, was ich noch nicht weiß?« – »Eigentlich nicht. Aber Landola hat durch Wort und Verhalten Streiflichter auf das geworfen, was wir schon wissen.« – »War er nicht bereit, seine Fehler wiedergutzumachen?« – »O doch.« – »Verlangte er etwas dafür?« – »Zwei mal hunderttausend Dollar.« – »Der Unverschämte!« brauste sie auf. – »Im Grunde genommen fand ich es nicht unverschämt«, meinte er. – »Nicht? Da begreife ich dich doch einmal nicht.« – »Es sind ungefähr ein Dutzend Menschen umzubringen.« – »Was ist das weiter?« – »Aber was für Menschen! Denke an jenen Sternau!« – »Einer Kugel ist er doch nicht gewachsen.« – »Ja, aber denke an den Überfall hier im Park! Hat er da nicht alle die Kerle glänzend geschlagen?« – »Es waren Feiglinge, auch hatten sie schlecht gezielt.« – »Das kann drüben ebenso passieren. Und dazu mußt du bedenken, daß alle die Personen, auf die wir es abgesehen haben, sich in dem Hauptquartier des Juarez befinden.« – »Ändert das etwas?« – »Natürlich. Es macht das Unternehmen zehnfach schwierig, wohl gar ganz unmöglich.« – »Warum? Man geht eben ins Hauptquartier.« – »Das soll Landola tun?« – »Natürlich! Du hast ihm wohl gar die zwei mal hunderttausend Dollar versprochen, da du die Sache gar so gefährlich schilderst?« – »Nein.« – »Wieviel denn?« – »Er erinnerte mich an die Summe, die ich damals für den Tod des Betreffenden gegeben hatte.« – »Wieviel war das?« – »Einmal hunderttausend Dollar.« – »Und nun will er das Doppelte. Das ist unverschämt, zumal er uns damals betrogen hat. Was ist das Leben jener Person wert? Ich hätte ihm fünfzigtausend Dollar geboten.« – »Das habe ich auch getan.« – »Hat er akzeptiert?« – »Wir schweiften wieder ab.« – »So mußt du darauf zurückkommen. Mit einem solchen Mann kann man nicht vorsichtig genug sein. Aber weshalb mußt du denn mit? Um aufzupassen, ob er den Bart oder ein Stückchen Gesichtsfalte verliert?« – »Dieses letztere werden wir allerdings gegenseitig tun. Wir werden uns stets aufmerksam zu beobachten haben.« – »Wie?« fragte sie mit neuem Erstaunen. »Auch du willst dich verkleiden und unkenntlich machen?« – »Ja, meine Liebe«, antwortete er lächelnd. – »Aber den Grund dazu sehe ich denn doch nicht ein.« – »Ich werde dich von der Notwendigkeit, es zu tun, überzeugen. Erstens soll doch kein Mensch merken, daß ich nach Mexiko bin.« – »Ah! Warum nicht?« – »Denke an Rheinswalden. Sind wir von dort nicht stets beobachtet worden?« – »Das ist wahr. Vielleicht beobachten sie uns noch heute.« – »Ich bin davon vollständig überzeugt. Sie glauben nicht an die Echtheit unseres Alfonzos. Sie haben erfahren, daß die längst Verschollenen wieder da sind. Wer weiß, was diese geschrieben haben. Ich werde sicherlich beobachtet Erfährt man in Rheinswalden, daß ich nach Mexiko gehe, wird man den Grund vermuten und die Kerle dort warnen.« – »Das läßt sich allerdings begreifen.« – »Ferner wissen wir nicht, wie es in Mexiko steht Mein Bruder hat meinen Namen in Mißkredit gebracht. Ich darf nicht als Cortejo auftreten.« – »Auch das sehe ich ein. Die Verkleidung ist notwendig, ich brauche weiter keine Beweise zu hören. Aber was ich doch noch nicht ganz einsehe, das ist die Notwendigkeit, daß du mit über den Ozean gehen mußt.« – »Was meinst du, was Don Ferdinando tun wird, wenn er in die Hauptstadt zurückgekehrt ist?« – »Alle seine Besitzungen reklamieren.« – »Das versteht sich von selbst. Zwar würde das nun meist meinen Bruder schädigen. Aber das Grab, das Grab!« – »Ah! Es würde geöffnet« – »Auch das ist noch nicht das schlimmste!« – »Aber noch schlimmer kann doch nichts sein!« – »Er ist damals scheintot gewesen; das heißt, er hat Starrkrampf gehabt. Hast du vielleicht einmal von Starrkrampf sprechen gehört?« – »Er soll fürchterlich sein. Man soll alles hören und sehen, was um einen vorgeht.« – »Nun also. Don Ferdinando ist scheintot gewesen. Unser Alfonzo war drüben. Er hat mit meinem Bruder und Josefa bei der Leiche gesprochen, der Graf hat alles gehört. Er ist vielleicht im Besitz unseres ganzen Geheimnisses.« – »Madonna! Das wäre schlimm! Er muß sterben!« – »Sein Tod ist eine Notwendigkeit, eine beschlossene Sache. Er würde nicht nur seine Güter zurückverlangen, sondern uns auch wegen des anderen anzeigen und bestrafen lassen. Aber das ist noch nicht alles. Dieser Sternau ist uns ebenso gefährlich.« – »Er schien schon damals, als er Graf Emanuel operierte, etwas zu ahnen.« – Ja. Ich habe ihn beobachtet Er hielt Alfonzo keineswegs für den echten Nachfolger von Don Emanuel.« – »Auch er muß sterben!« – »Auch sein Tod ist beschlossen. Und ebenso steht es mit jeder anderen Person, die zu dieser Gesellschaft gehört.« – »Du meinst, daß sie alle uns gleich gefährlich sind?« – Ja.« – »Oh, es genügt wohl, nur die Hauptpersonen zu töten.« – »Nein, keineswegs. Was diese wissen, haben die anderen alle auch erfahren, Sie sind infolgedessen ebenso gefährlich.« – »Mein Gott, wie viele Personen willst du da zum Tode verurteilen, lieber Gasparino?«
Cortejo streckte sich behaglich auf dem Sofa aus und zählte:
»Don Ferdinando, Pedro Arbellez, dessen Tochter, Karja, Maria Hermoyes, Sternau, Mariano, zwei Helmers, Büffelstirn, Bärenherz, Juarez.« – »Juarez!« unterbrach Clarissa ihn, erschreckend. – »Ja«, antwortete er ruhig. – »Warum dieser?« – »Bei ihm laufen jedenfalls die Fäden zusammen. Er weiß alles genauer als jeder andere. Das sind also wie viele?« – »Zwölf. Aber Juarez – unmöglich!« – »Pah! Er ist eine Rothaut wie jeder andere Indianer! Dazu können aber noch mehrere Opfer nötig werden. Es gilt zu erfahren, wer wohl außerdem Mitwisser des Geheimnisses geworden ist. Das ist schwierig. Dazu gehört Kenntnis, Schlauheit, Energie und eine unendliche Aufopferung. Um so viele zu töten, sind ein eisenfester Charakter und ein totes Gewissen nötig. Glaubst du, daß, wenn ich Landola hinüberschicke, er eines schönen Tages wiederkommen und mir melden wird, daß er alles ausgeführt habe und daß wir ruhig sein können?« – »Nein, das glaube ich nicht.« – »Er hat mich betrogen.« – »Er würde dich wieder betrügen.« – »Oder soll ich mich auf meinen Bruder verlassen?« – »Auch er hat dich betrogen.« – »Das ist das eine. Und sodann ist er selbst geächtet und verfolgt. Er ist wohl schwerlich imstande, unserer Sache zu nützen.« – »Du hast recht, lieber Freund. Du überzeugst mich immer mehr, daß du selbst hinüber mußt.« – »Nicht wahr? Ich scheide natürlich ungern, liebe Clarissa.« – »Und ich lasse dich ungern fort. Aber um unseres Sohnes willen wollen wir die Trennung ertragen. Siegen wir, so ist das Wiedersehen ein um so fröhlicheres. Aber wenn du dich verkleidest, als was willst du reisen?« – »Als Advokat und Beauftragter des Grafen Rodriganda.« – »Und Landola?« – »Als mein Sekretär.« – »Dieser Gedanke ist gut. Aber ich bitte dich sehr, dich vor diesem Landola in acht zu nehmen. Es ist ihm in keiner Hinsicht mehr zu trauen.« – »Habe keine Angst. Ich werde vorsichtig sein.« – »Wann wirst du ihm sein Geld bezahlen? Pränumerando?«
Es war ein dämonisches Lächeln, das sich auf Cortejos Gesicht sehen ließ.
»Das Geld?« sagte er. »Er wird es niemals erhalten.«
Clarissa blickte ihn zweifelnd an.
»Du willst es ihm vorenthalten?« fragte sie. – »Ja.« – »Ihn also darum betrügen?« – »Betrügen? Hm! Kann man einen Toten betrügen?«
Da fuhr Clarissa rasch empor.
»Einen Toten? Er soll sterben?« – »Ja.« – »Von deiner Hand?« – »Von keiner anderen.« – »Und wann?« – »Wenn er seine Schuldigkeit getan hat und ich ihn nicht mehr brauche.«
Schwester Clarissa machte ein hochbeglücktes Gesicht.
»Cortejo«, rief sie, »daran erkenne ich dich! Du bist ein großer Mann. Du verfolgst deinen Gedanken durch Himmel und Hölle.« – »Es wird seine Strafe sein, daß er uns betrogen hat«, sagte er. »Übrigens ist das nicht das erste und zweite Mal.« – »Auch sonst noch?« fragte sie. – »Ja. Er gestand, daß er mir nur den zehnten Teil unseres Gewinnes gegeben hat.« – »Und wieviel hattest du zu verlangen?« – »Die Hälfte – fünfzig Prozent.«
Da schlug Clarissa die Hände über dem Kopf zusammen.
»So hat er dich um vierzig Prozent betrogen?« – »Ja.« – »Und das hat er dir gestanden?« – »Ja.« – »Doch gezwungener Weise.« – »O nein, sondern mit lachendem Mund.« – »Welche Frechheit! Welche Schändlichkeit! Welch ein Betrug! Du hast recht. Er hat den Tod verdient. Er verdient keine Schonung.« – »Er wird seine Strafe finden. Wer mich zu täuschen und zu übervorteilen wagt, der erhält seinen Lohn, selbst wenn er mein Bruder wäre.«
Clarissa blickte Cortejo abermals forschend in die Augen.
»Soll das etwa heißen …« fragte sie gedehnt. – »Was?« – »Dein Bruder hat dich ja auch getäuscht.« – »Oh, noch mehr. Er ist an allem schuld!«
Dabei ballte Cortejo die Faust und schlug auf den Tisch.
»Wieso an allem?« fragte Clarissa. – »Er hat den Landola verführt, Don Ferdinando leben zu lassen. Da dies dem Kapitän geglückt ist, hat er es später gewagt, auch den anderen das Leben zu schenken, was sicherlich nicht geschehen wäre, wenn er das erstere nicht hätte tun dürfen.« – »Du hast recht; aber er ist dein Bruder«, sagte sie, indem ihr Blick lauernd auf ihm ruhte.
Cortejo bemerkte das, stieß ein zufriedenes Lachen aus und sagte:
»Also auch hierin stimmen wir überein!« – »Worin?« – »Hm. Denkst du, ich sehe es dir nicht an, was du wünschst?«
Clarissa errötete ein wenig und fragte dabei:
»Nun, was ist es, was du mir ansiehst?« – »Du möchtest, daß ich meinen Bruder auch ein wenig bestrafe?« – »Würdest du mir diesen Wunsch übelnehmen?« – »Ganz und gar nicht.« – »Ich will dir nicht vorgreifen, aber wie kommt Pablo dazu, das Eigentum unseres Sohnes an sich zu reißen!« – »Es zu vergeuden!« fügte Cortejo hinzu. – »Unsere Reichtümer in den Rachen der Revolution und des Schwarzen Panthers zu werfen.« – »Uns seine Tochter als Gräfin Rodriganda anzubieten.« – »Das war lächerlich!« – »Er steht am Ziel seiner Lächerlichkeiten.« – »Du willst ihn steuern?« – »Ja, sehr ernst. Er soll mit helfen, die Feinde zu überwinden. Ist das geschehen, dann …«
Er stockte.
»Was dann?« fragte sie gespannt. – »Er war mein Bruder, aber er ist es nicht mehr; er hat mich betrogen. Er wird das Schicksal Henrico Landolas teilen.«
Es zuckte elektrisch durch alle Glieder der Schwester Clarissa.
»Und seine Tochter Josefa?« fragte sie fast atemlos. – »Sie wird mit ihm untergehen.« – »Wirklich?« – »Ja. Es ist beschlossen; ich habe es mir geschworen, folglich wird es auch geschehen.«
Da warf Clarissa dem Geliebten vor Entzücken die Arme um den Hals, zog ihn an sich und bedeckte seinen Mund, seine Wangen und Augen mit glühenden Küssen.
»Ich danke dir!« rief sie. »Nun endlich wird Alfonzo der richtige Graf Rodriganda sein. Er wird die ganze Herrschaft ungeteilt besitzen, und wir, seine Eltern, sind die eigentlichen, wahren Herren. Gasparino, könnte ich dich doch so belohnen, wie du es verdienst!«
Sie blickte ihm zärtlich in die Augen. Cortejo aber schüttelte den Kopf und sagte:
»Ich bedarf keiner Belohnung.« – »Nicht?« meinte sie enttäuscht. – »Nein. Was ich tue, ist meine Pflicht oder wenigstens der Ausfluß meines Charakters.«
4. Kapitel
Auf der Reede von Rio de Janeiro, der Hauptstadt Brasiliens, lag ein schmucker Dampfer vor Anker. Er war nicht groß. Man sah es ihm an, daß er wohl nur zum Privatgebrauch bestimmt sei.
Gewiß wollte er in kurzer Zeit die Reede verlassen, denn leichter Rauch, der gekräuselt dem Schornstein entquoll, zeigte an, daß man eben begann den Kessel zu feuern.
Es war am späten Nachmittag. Die Sonne war gesunken, und die kurze Dämmerung brach herein.
Da kam von der Stadt her ein Boot, von vier kräftigen Jungen gerudert, so daß es wie ein Pfeil über das Wasser flog und fast nicht in den Wellen, sondern in der Luft zu fahren schien.
Der Mann, der auf der Mittelbank saß, war jedenfalls ein Seemann. Sein volles, freundliches Gesicht ließ den Kenner vermuten, daß er ein Deutscher sei. Sein blaues, helles Auge ruhte mit wohlgefälligem Blick auf dem Dampfer, und als das Boot anlegte, stand er mit einem schnellen Sprung auf dem Fallreep und stieg die Stufen hinan mit der Miene eines Mannes, der von einem anstrengenden Ausflug müde nach Hause kommt.
Als er das Deck erreichte, trat der Steuermann auf ihn zu und meldete:
»Kapitän, da sind zwei Herren, die mit Ihnen zu sprechen verlangen.« – »Was wollen sie denn?« fragte der Kapitän, indem er die beiden Männer erblickte, die auf seine Rückkehr gewartet zu haben schienen. – »Sie haben gehört, daß wir nach Verakruz gehen …« – »Und wollen etwa mit?« – »Ja.« – »Ah! Hm. Was sprechen sie für eine Sprache?« – »Spanisch.« – »Gut. Wollen sehen.«
Der Kapitän schritt auf die beiden Männer zu.
»Mein Name ist Wagner«, sagte er, »Kapitän dieses Schiffes.« – »Ich heiße Antonio Veridante, Advokat aus Barcelona. Dieser Señor ist mein Sekretär«, sagte der eine der beiden Männer. – »Sie wünschen?« – »Wir hörten, daß Sie nach Verakruz gehen.« – »Das ist allerdings wahr.« – »So wollten wir Sie fragen, ob Sie nicht die Güte hätten, uns mitzunehmen.« – »Señores, das wird wohl nicht möglich sein.«
Der ältere der beiden Männer, der Advokat, zog die Stirn kraus.
»Warum nicht?« fragte er. »Wir sind bereit, sehr gut zu zahlen.« – »Das ändert nichts. Dieser Dampfer ist weder Fracht– noch Passagierschiff, er dient zu ganz privaten Zwecken.« – »Die wir nicht erfahren dürfen?« – »Es würde Sie nicht interessieren.« – »So schlagen Sie uns unsere Bitte wirklich ab?« – »Ich bin leider gezwungen.« – »Wir müssen das um so mehr beklagen, als wir im Vertrauen auf Ihre Güte bereits unser Gepäck mitgebracht haben.« – »Sapperlot, so haben Sie wohl gar das Boot zurückgeschickt, das Sie an Boot brachte?« – »Nein. Das gab Ihr Steuermann nicht zu. Es liegt seitwärts am anderen Bord.« – »Ich hoffe, daß Sie eine baldige Gelegenheit finden.« – »Wir wünschen es auch; doch wird dieser Wunsch wohl nicht so bald in Erfüllung gehen. Ich habe bedeutende Verluste zu befürchten, die ich erleide, wenn ich nicht schleunigst eintreffe.« – »So.«
Das Auge des Kapitäns überflog noch einmal die beiden Männer. Sie hatten beide etwas an sich, was ihm nicht gefiel; aber sonst zeigten sie ein ehrbares, Achtung forderndes Äußeres. Es war übrigens so dämmerig, daß man Einzelheiten nicht mehr gut sehen konnte.
»Große Verluste?« fragte er. »Sind sie bedeutend?« – »Sehr.« – »Wohl für eine Bank, deren Vertreter Sie sind?« – »Nein. Sondern für einen Privatmann.« – »Darf ich fragen, wer das ist?« – »Ja. Ich meine den Grafen de Rodriganda.«
Kaum war dieses Wort ausgesprochen, so trat der Kapitän einen Schritt näher.
»Was?« fragte er. »Habe ich recht gehört? Rodriganda?« – »Ja.« – »Meinen Sie den Grafen, dessen Stammschloß gleichen Namens bei Manresa in Spanien liegt?« – »Ja.« – »Er hat große Besitzungen in Mexiko?« – »Ja.« – »Sie sollen mitfahren. Sie haben doch Ihre Legitimationen bei sich?« – »Das versteht sich. Wünschen Sie dieselben zu sehen?« – »Jetzt nicht. Das hat für später Zeit. Das Schiff sticht bald in See, und ich habe noch anderes zu tun. Ihr Boot kann zurückgehen. Peters!«
Auf diesen Ruf kam ein Matrose herbei.
»Führe die beiden Señores in die vorderste Kajüte. Du magst sie bedienen und bist deshalb vom übrigen frei.« – »Danke, Kapitän!« meinte der Mann. Dann drehte er sich zu den beiden Pflegebefohlenen und sagte in gebrochenem Spanisch: »Folgen Sie mir!«
Er führte sie in einen zwar kleinen, aber allerliebsten Raum, in dem sich übereinander zwei Betten befanden.
»So, das ist Ihre Koje«, sagte er. »Machen Sie es sich bequem. Ich hole Wasser und dergleichen herbei.«
Kaum war er fort, so meinte Cortejo:
»Was war das, Señor Landola?« – »Er kannte die Familie Rodriganda.« – »Ja. Wir müssen da außerordentlich vorsichtig sein.« – »Hätten wir den Namen Rodriganda nicht erwähnt, so wären wir wahrhaftig nicht mitgenommen worden.« – »Und doch wünschte ich, ich hätte lieber nichts gesagt.« – »Na, wir müssen warten, was wir erfahren. Bis dahin können wir vorsichtig lavieren, bis wir das richtige Fahrwasser finden.« – »Ja, aber da bitte ich um eins.« – »Was?« – »Daß ich die Erkundigungen einziehe. Ihr geltet für meinen Untergebenen, also bin ich derjenige, der reden muß.« – »Meinetwegen«, meinte Landola mürrisch.
Peters kam bald zurück, um Wasser und Waschrequisiten zu bringen.
»Lagt Ihr lange in Rio?« fragte Cortejo. – »Nur drei Tage«, lautete die Antwort. – »Woher kommt Ihr?« – »Um Kap Hoorn.« – »Ah! Um Südamerika herum?« – »Ja.« – »Wohl von Australien?« – »Eigentlich ja, aber zunächst von Mexiko.« – »Von einem der Westhäfen?« – »Guaymas.« – »Ladung dort genommen?« – »Nein. Passagiere dort gelandet.« – »Viele? Der Kapitän sagte doch, dies sei kein Passagierschiff.« – »Ist es auch nicht.« – »Was sonst?« – »Privateigentum.« – »Wem gehört es denn?« – »Dem Grafen Rodriganda.«
Die beiden Freunde blickten einander erschrocken an, was jedoch der Matrose nicht bemerkte.
»Rodriganda?« fragte Cortejo, indem er sich zusammennahm. »Wie ist denn der Vorname dieses Herrn?« – »Don Ferdinando.« – »Wo wohnt er?« – »In Mexiko.« – »Kennst du ihn?« – »Nein, ich habe ihn nicht gesehen.« – »Ich denke, nach deinen Reden zu schließen, ihr habt ihn in Guaymas ausgeschifft.« – »Das ist richtig, aber ich war nicht dabei.« – »Wieso?« – »Ich hatte einen schlechten Kapitän und ging daher in Valparaiso vom Schiff. Da kam Kapitän Wagner mit diesem Dampfer. Er mußte einen schwerkranken Mann ans Land geben und nahm an dessen Stelle mich auf.« – »So bist du also erst seit Valparaiso hier an Bord?« – »Ja.« – »Und weißt nichts von den früheren Schicksalen dieses Schiffes?« – »Ich weiß einiges, was ich von den anderen erfahren habe.« – »Nun?« – »Es gehörte einem Engländer und wurde in Ostindien von dem Grafen Rodriganda gekauft.« – »Wie kam der Graf nach Indien?« – »Mit Kapitän Wagner, Schiff Seejungfer aus Kiel.« – »Kiel ist wohl ein deutscher Hafen? Nicht?« – »Ja.« – »Sonderbar, daß der Graf dorther gekommen ist.« – »Oh, nicht von dort kam er.« – »Von woher sonst?« – »Er wurde an der Ostküste Afrikas aufgenommen.« – »Wo da?« – »Er war im Harrarland gewesen und da entflohen. Er traf die Seejungfer an der Küste. Der Kapitän brachte ihn nach Indien und dann nach Australien, um die anderen abzuholen!« – »Die anderen? Wer ist das?« – »Wer? Hm!«
Der Mann zögerte zu antworten. Er betrachtete sich die beiden Männer eine Sekunde lang, ohne seine Auskunft fortzusetzen.
»Warum antwortetest du nicht?« fragte Cortejo. – »Weil ich weiter nichts weiß.« – »So! Und das andere wußtest du so rasch.« – »O Señor, es kommt sehr viel auf den Frager an, ob man etwas schnell vergißt oder nicht.«
Bei diesen Worten drehte der Mann sich um und schritt zur Tür hinaus.
Cortejo blickte Landola an.
»Was war das?«
Landola zuckte anstatt der Antwort mit den Achseln.
»Ich wette meinen Kopf, daß er es wußte und es doch nicht sagte.« – »Ihr seid selbst schuld.« – »Ich? Inwiefern?« – »So eine weitfahrende Teerjacke pflegt kein Dummhut zu sein.« – »Was hat dies mit meiner Frage zu tun?« – »Sehr viel. Ihr wart zu unvorsichtig.« – »Nicht daß ich wüßte!« – »Und doch. Ihr wart ja förmlich erpicht, etwas über Rodriganda zu hören. Ihr habt den Kerl mit den Augen fast verschlungen.« – »Unsinn!« – »Ich habe Euch beobachtet, es ist so.« – »Ich weiß nichts davon.« – »Wenn Ihr Euch nicht anders beherrschen könnt, so ist es besser, Ihr überlaßt das Fragen mir. Sonst verratet Ihr Euch.« – »Das geht nicht. Aber wenn es wirklich so ist, wie Ihr sagt, so werde ich mich auch in acht nehmen.« – »Das rate ich Euch sehr an. Ihr habt ja gehört, wie die Sachen stehen. Oder nicht?« – »Hm. Dieser Kapitän hat den Grafen befreit.« – »Und nach Indien gebracht. Hier ist mir nur eins unklar.« – »Was?« – »Hier hat der Graf diesen Dampfer gekauft. Der kostet Geld.« – »Allerdings«, meinte Cortejo. »Woher hat er dasselbe?« – »In der Sklaverei erarbeitet jedenfalls nicht.« – »Vielleicht dem Sultan gestohlen?« – »Dem Sultan gestohlen und doch entkommen! Das klingt unwahrscheinlich.« – »Wir werden es erfahren.« – »Mit diesem Dampfer sind sie nach Australien gefahren, um die anderen zu holen. Wen habe ich unter diesen anderen zu verstehen?« – »Doch Sternau und die Seinen.« – »Das denke ich auch.« – »Aber wie konnte der Graf in diesem abgeschlossenen Harrar etwas von Sternau erfahren.« – »Zumal ich Sternau auf eine Insel gesetzt habe, die kein Mensch kannte. Das ist wahrlich unbegreiflich.« – »Wir werden auch das erfahren.« – »Aber ich muß bitten, sehr vorsichtig zu sein. Ihr habt dem Kapitän bereits gesagt, daß Ihr Sachwalter des Grafen Rodriganda seid. Wie wollt Ihr Euch aus dem Loch helfen, in das Ihr aus eigener Schuld gefallen?« – »Das wird nicht schwer sein.« – »Wieso?« – »Ich kann doch das Vertrauen des Grafen Alfonzo besitzen, ohne gerade ein Feind der anderen zu sein!« – »Es wird sich empfehlen lassen, wenn wir den alten Grafen Emanuel gekannt haben.« – »Gut, dieser Gedanke reicht hin. Ich hoffe, daß wir von den Plänen Sternaus so viel erfahren, als für uns nötig ist, rasch zum Ziel zu kommen.«
Als der Kessel den nötigen Dampf besaß, nahm der Dampfer die Anker auf und wandte sich der See zu. Der Kapitän stand auf der Kommandobrücke, bis man offenes Meer hatte und die Fahrt frei war, dann stieg er herab, um die Führung dem Steuermann zu überlassen.
Da trat Peters zu ihm, legte die Hand an den Hut und sagte:
»Kapt‘n!« – »Was willst du, mein Junge?« fragte Wagner, der gewohnt war, mit seinem Seevolk in der leutseligsten Weise zu verkehren. – »Die Passagiere.« – »Na, was ist mit ihnen?« – »Hm! Fürchterlich neugierig!« – »So, so! Was wollten sie wissen?« – »Alles vom Schiff.« – »Tut ja nichts.« – »Und vom Grafen Rodriganda.« – »Auch das tut nichts, mein Sohn.« – »War mir aber doch auffällig. Der eine fragte, und der andere sperrte das Maul wie ein Walfisch auf.« – »Das ist leicht erklärlich. Sie kennen beide den Grafen Rodriganda.« – »Ach so!« – »Hast du sonst noch etwas?« – »Nein.« – »So schicke sie einmal zu mir und sage dem Koch, daß sie in meiner Kajüte mit mir essen werden.«
Peters ging. Sobald ihn aber der Kapitän nicht mehr zu sehen vermochte, brummte er zwischen den Zähnen:
»Also sie kennen den Grafen. Gefallen mir aber doch nicht. Sie sehen beide gerade so aus, als wenn ein Seeräuberschiff die Kanonenluken maskiert, um für einen Kauffahrer angesehen zu werden. Kann auf keinen Fall schaden, wenn ich ein wachsames Auge auf sie habe.« Der gute Peter gehörte zu jenen Leuten, die sich unmöglich verstellen können, dafür aber auch ein instinktives Gefühl für jede Falschheit besitzen. Als er in die Kajüte trat, meinte er in einem Ton, der zwar höflich sein sollte, aber fast wie ein Befehl klang:
»Zum Käpt‘n, Señores! Aber schnell!« – »Wo ist er?« fragte Landola. – »In seiner Kajüte.« – »Gut! Werden gehen!« – »Wird gut sein, die Legitimationen mitzunehmen.«
Mit diesem Wink stieg Peters wieder davon. Dann aber stellte er sich abseits, um die beiden zu beobachten. Ein anderer Matrose kam und fragte:
»Was gibt‘s hier, Peters? Stehst doch da wie die Katze vor dem Rattenloch.« – »Ist‘s auch!« lautete die kurze Antwort. – »Lauerst wirklich auf eine Ratte?« – »Ja, auf zwei.« – »Ah! Die Landratten?« – »Hast‘s erraten. Paß auf!« – »Was denn?« – »Wirst‘s sehen und hören.«
Die beiden Männer waren beim Schein der Decklaternen deutlich zu erkennen. Landola schritt voran, und Cortejo folgte ihm.
»Siehst du es?« fragte Peters seinen Kameraden. – »Was?« – »Daß der eine ein Seemann ist?« – »Ah! Weshalb?« – »Habe es ihm am Auge angesehen. Ein Seemann hat ein anderes Auge als eine Landratte. War bei Ihnen, um sie zum Kapt‘n zu bestellen. Zwei Landratten hätten gefragt, wo die Kajüte ist.« – »Vielleicht sind sie bereits viel gefahren.« – »Tut nichts. Auf unserem Deck waren sie noch nicht. Nur ein erfahrener Seewolf findet auf einem fremden Privatdampfer und im Dunkel des Abends die Kapitänskajüte.« – »Warum aber beobachtest du das?« – »Weiß es selbst nicht. Kann die Kerle nicht leiden.«
5. Kapitel
Landola hatte nicht geahnt, daß der gute Peters einen solchen instinktiven Scharfsinn besitzen könne, sonst hätte er sich anders benommen.
Als sie in die Kajüte traten, saß Wagner bei einem Glas Wein. Er empfing sie mit freundlicher Miene und sagte:
»Noch einmal willkommen an Bord, Señores! Lassen Sie uns zunächst die unliebsamen Formalitäten erledigen. Ich habe es Ihnen nicht eigens sagen lassen, aber ich denke, daß Sie Ihre Papiere bei sich haben.« – »Wir haben daran gedacht, Señor Capitano«, meinte Cortejo, indem er die beiden Pässe hervorzog.
Wagner nahm sie, ging sie durch und gab sie wieder zurück.
»Eigentlich bin ich angehalten, die Legitimationen unter Verschluß zu nehmen«, sagte er. »Aber ich glaube, heute nicht so penibel sein zu brauchen. Hier nehmen Sie und setzen Sie sich nieder!«
Die beiden Männer nahmen mit einer Verbeugung Platz. Es entspann sich ein Gespräch, das, wie es zwischen Leuten, die sich zum ersten Male sehen, herzugehen pflegt, zunächst einen langsamen Gang hatte, dann aber, als der Koch das Abendmahl schickte und der Wein seine erheiternde Wirkung ausübte, animierter wurde.
Sowohl Cortejo als auch Landola sehnten den Augenblick herbei, da der Kapitän das Gespräch auf Rodriganda bringen werde. Er kam lange nicht, aber endlich doch.
»Sie sagten, als ich Sie empfing, Don Antonio, daß Sie der Sachwalter des Grafen Rodriganda seien«, begann Wagner. »Habe ich so recht verstanden?« – »Sie haben richtig verstanden, Señor«, antwortete der Gefragte. – »Sie kennen also die Familie des Grafen Rodriganda?« – »Sehr gut.« – »Ich habe Veranlassung, einiges Interesse an dieser Familie zu nehmen. Können Sie mir sagen, aus welchen Gliedern dieselbe jetzt besteht?« – »Ich gebe Ihnen mit großem Vergnügen Auskunft. Es sind heute leider nur noch zwei Glieder zu nennen.« – »Ah! Nicht mehr?« – »Nein, wie ich mit ›leider‹ bemerkte.« – »Wer sind diese Glieder?« – »Graf Alfonzo, der sich jetzt in Madrid aufhält, und Condesa Rosa, die in Deutschland lebt.« – »In Deutschland? Wo da?« – »Auf Schloß Rheinswalden bei Mainz.« – »Wie kommt es, daß sie nach Deutschland gegangen ist?« – »Sie ist einer Liebe dorthin gefolgt.« – »Ah! Sie ist dort verheiratet?« – »Ja.« – »Mit wem?« – »Mit einem Arzt namens Sternau.« – »Eine Mesalliance also.«
Cortejo zuckte die Achsel.
»Hm, es fragt sich, was man unter Mesalliance versteht. Die Kenntnisse und der Ruf dieses Arztes wiegen einen Fürstentitel auf.« – »So kennen Sie diesen Sternau?« fragte Wagner erfreut. – »Ja.« – »Ich habe von ihm gehört. Können Sie ihn mir beschreiben?« – »Gewiß. Er ist ein langer, breiter, athletisch gebauter, aber schöner Mann, ein wahrer Riese. Dabei besitzt er das Herz und Gemüt eines Kindes.« – »Das stimmt. Wo lernten Sie ihn kennen?« – »In Rodriganda.« – »Er war dort?« – »Ja. Er operierte den Grafen Emanuel von einem ebenso schweren wie schmerzhaften Leiden.« »So lernte er wohl damals die Condesa kennen?« – »Ja.« – »Und auch Sie kannten den Grafen Emanuel?« – »Schon seit längerer Zeit.« – »Ich denke, sein Sachwalter war damals ein gewisser Cortejo?«
Cortejo zog eine Miene, als ob er einen sehr verhaßten oder verachteten Namen gehört habe, und antwortete:
»Ja, Cortejo hatte die laufenden Geschäfte zu besorgen, die Kleinigkeiten, sozusagen. Bei wichtigeren Veranlassungen aber hatte ich die Ehre, den Grafen bei mir in Barcelona zu empfangen.« – »Ach so also! Sie kannten Cortejo ganz genau?« – »Sehr genau, genauer als mir lieb war und ist.« – »Das klingt ja recht unsympathisch!« – »Soll es auch sein.« – »Sie hatten ihn nicht lieb?« – »Ganz und gar nicht. Ich will nicht sagen, daß ich ihn haßte, aber ich verachtete ihn.« – »Warum?« – »Warum? Lassen sich Gefühle erklären? – »Wohl schwerlich, aber Veranlassungen gibt es doch.« – »Das war hier allerdings der Fall. Ich hielt und halte diesen Cortejo zu jeder Schandtat fähig.«
Der Kapitän nickte.
»Das habe ich auch gehört«, sagte er. – »Wirklich? Wo?« – »Das erzähle ich Ihnen später. Erlauben Sie mir vorher erst noch einige Fragen.« – »Mit dem größten Vergnügen.« – »Hat nicht dieser Cortejo einen Bruder?« – »Ja.« – »In Mexiko.« – »Allerdings. Der eine heißt Gasparino und der andere Pablo.« – »Was für ein Kerl ist dieser Pablo Cortejo?« – »Ein abenteuernder Schurke.« – »Wirklich?« – »Ganz gewiß. Ich reise ja gerade seinetwegen nach Mexiko.« – »Ah! Das ist mir hochinteressant!« – »Wirklich? Ich komme nämlich, ihm ein klein wenig auf die schmutzigen Finger zu sehen.« – »Ich wünsche Ihnen viel Glück dazu! Waren Sie in Rodriganda, als Graf Emanuel starb?« – »Ja. Ich habe ihn mit beigesetzt.« – »Er soll keines natürlichen Todes gestorben sein?« – »Nein. Er litt an einer Art unerklärlichen Wahnsinns. In einem Anfall desselben entwich er und stürzte sich in einen Abgrund. Natürlich war er sofort tot.« – »Zerschmettert sogar.« – »Ja.« – »Man scheint damals so allerlei gemunkelt zu haben.«
Cortejo schüttelte höchst unbefangen den Kopf und antwortete:
»Gemunkelt? O nein. Laut gesprochen hat man sogar!« – »Wer?« – »Doktor Sternau zum Beispiel. Das war der Grund, weshalb ich diesen Mann so lieb gewann.« – »Ah, gesprochen hat er? Darf ich fragen was?« – »Natürlich! Er erklärte öffentlich, daß die aufgefundene Leiche nicht diejenige des Grafen sei.« – »Was sagen Sie dazu?« – »Ich gebe ihm recht.« – »Aus welchem Grund?« – »Ich habe nur den einen Grund, daß Sternau ein großer Arzt und ein außerordentlicher Mann war. Die Aussage seiner Kollegen hat für mich kein Gewicht. Sie waren sämtlich obskure Mediziner, auf deren Ansichten ich nichts gebe.« – »Hatte diese Aussage Sternaus Erfolg?« – »Leider keinen. Die aufgefundene Leiche wurde als Graf Emanuel de Rodriganda beerdigt.« – »Er ist es doch wohl auch gewesen?« – »Es gibt Leute, die dies bezweifeln.« – »So sollte der eigentliche Graf noch leben?« – »Ja.« – »Aber wo?« – »Das ist ja eben das Geheimnis. Ich habe von meinem Leben nicht sehr viele Jahre mehr zu erwarten, aber die Hälfte würde ich hingeben, wenn ich dieses Rätsel lösen könnte!«
Der Kapitän blickte sinnend vor sich nieder. Dann nickte er langsam mit dem Kopf und sagte in seiner bedächtigen Weise:
»Es ist doch eigentümlich, daß Condesa Rosa ebenso wahnsinnig wurde wie ihr Vater.« – »Vielleicht liegt das Übel in der Familie«, meinte Landola, zum ersten Male das Wort ergreifend. – »O nein«, entgegnete Cortejo. »Ich kannte die Grafen, und meine Vorfahren kannten die Ahnen derselben. Es ist nie ein Fall von Wahnsinn vorgekommen. Man sprach von Gift.« – »Ah! Wirklich?« fragte der Kapitän. – »Ja.« – »Wer sollte wohl … hm!« – »Ich traue diesem Cortejo nicht.« – »Ist er denn ein so großer Bösewicht?« – »Ich sagte bereits, daß ich ihn zu allem fähig halte.« – »Sodann starb der mexikanische Graf so plötzlich.« – »Ja«, meinte Cortejo, »man sagte wohl, der Schlag hab ihn getroffen. Ich habe keine Lust, es zu glauben.« – »Warum nicht?« – »Es läßt sich das schwer sagen, Señor. Man macht zwar seine Kombinationen, behält sie aber für sich.« – »Sie sind ein vorsichtiger Mann. Aber wie verträgt es sich mit dieser Vorsicht, gewisse Verdachte auszusprechen und doch der Sachwalter des Grafen Alfonzo zu sein?«
Cortejo lächelte verständnisinnig und antwortete:
»Sie meinen, daß Graf Alfonzo mit diesem Verdacht in Beziehung zu bringen sei?« – »Vielleicht.« – »Sie mögen richtig vermuten. Aber ich will Ihnen Ihre Frage beantworten. Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, die Geheimnisse des Schlosses Rodriganda zu ergründen und kann sie nur lösen, wenn ich mit dem Schloß in Beziehung bleibe, deshalb bin ich willig gewesen, der Sachwalter des jungen Grafen zu sein, wie ich derjenige des guten Grafen Emanuel war.«
Der Kapitän rückte unruhig auf seinem Sessel hin und her. Dem guten, aufrichtigen Mann drückte das, was er wußte, fast das Herz ab. Aber er beherrschte sich noch und fragte nur:
»Gibt es dieser Geheimnisse so viele?« – »Gewiß. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe nennen!« – »Wirklich?« – »Ja. Da ist zum Beispiel die Zigeunerin Zarba.« – »Kennen Sie auch diese?« – »Oh, sehr gut. Ich kannte sie bereits als Mädchen.« – »Sie soll sehr schön gewesen sein.« – »Man sagt sogar, daß sie Cortejos Geliebte gewesen sei.« – »Davon weiß ich nichts«, meinte der Kapitän. —
Aber Cortejo fuhr fort, den Kapitän noch sorgloser machend: »Ein ferneres Geheimnis ist der Husarenleutnant Alfred de Lautreville.« – »Hatte er nicht einen anderen Namen?« – »Ja. Er nannte sich auch Mariano.« – »Inwiefern ist dieser ein Rätsel?« – »Infolge seiner Ähnlichkeit mit Graf Emanuel.« – »Ah! Während Graf Alfonzo Cortejo auffallend ähnlich sieht?« – »Ja.« – »Wie wäre dies Rätsel zu lösen?« fragte der Kapitän. – »Hm. Ich glaube, der Lösung auf der Spur zu sein.« – »Wirklich?« – »Ja. Meiner Ansicht nach liegt sie in Mexiko.« – »Inwiefern?« – »Weil da die meisten der Beteiligten verschwunden sind.« – »Das ist wahr. Aber es lebt vielleicht keiner mehr von ihnen.« – »Das ist möglich. Aber sollte nicht diese oder jene Person eine mündliche oder schriftliche Überlieferung überkommen haben?«
Da konnte sich der Kapitän denn doch nicht mehr halten.
»Sie glauben, daß es solche Überlieferungen gibt?« fragte er. – »Ja.« – »Und Personen, die sie besitzen?« – »Ja.« – »Sie suchen solche Papiere?« – »Ja doch! Ich würde viel dafür bieten, um eine einzige zu treffen.« – »Nun, so will ich Ihnen sagen, daß Sie heute am Ziel sind.«
Cortejo machte ein sehr erstauntes Gesicht.
»Verstehe ich recht?« fragte er. – »Ja. Sie sind am Ziel. Sie haben eine solche Person gefunden.« – »In wem?« – »In mir.« – »In Ihnen?« rief der Heuchler mit gut gespielter Freude. »Wäre das möglich? Ich bewunderte allerdings schon Ihre außerordentliche Kenntnis der Verhältnisse von Rodriganda.« – »Sagen Sie mir aufrichtig«, meinte der Kapitän, »Sie sind ein Freund des Grafen Emanuel gewesen?« – »Ja. Ich glaube, er lebt noch, aber sein Bruder, Don Ferdinando ist ermordet worden. Sternau, Mariano und andere sind verschwunden; vielleicht sind sie ermordet. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, Licht in diese Sache zu bringen. Ich will wissen, ob Alfonzo der richtige Graf ist. Ich muß das erfahren, und wenn ich Zeit meines Lebens suchen sollte. Und wehe den Schuldigen, wenn ich endlich Klarheit erlange! Ich zerschmettere und zermalme sie mit dem unnachsichtigsten Paragraphen des Gesetzes!«
Er hatte sich erhoben und mit so vortrefflich imitierter Begeisterung gesprochen, daß der Kapitän sich vollständig hingerissen fühlte. Auch er sprang auf, streckte Cortejo beide Hände entgegen und rief:
»Wohlan, so will ich aufrichtig mit Ihnen sein! Wissen Sie, wer der Eigentümer dieses Dampfers ist?« – »Nein.« – »Ich werde es Ihnen sagen.« – »Oh, bitte.« – »Graf Ferdinando de Rodriganda.« – »Unmöglich!« – »Warum unmöglich?« – »Der Graf ist ja tot!« – »Nein, er lebt!« – »Was sagen Sie? Er lebt? Graf Ferdinando lebt?« – »Ja.« – »Ist‘s wahr? Können Sie es beschwören?« – »Ja, mit allen Eiden der Welt.« – »Um Gottes willen, sagen Sie, wo er ist! Schnell, schnell!«
Frage und Antwort zwischen beiden Männern war Schlag auf Schlag gekommen. Wagner war begeistert, und Cortejo spielte seine Rolle vortrefflich.
»Nur Geduld!« sagte der Kapitän, obgleich er selbst vor Ungeduld verging. »Ich habe Ihnen noch ganz andere Dinge zu sagen. Wissen Sie, wer außer dem Grafen noch lebt?« – »Nein. Reden Sie!« – »Sternau.« – »Gott! Wäre dies wahr!« – »Ja. Und Mariano auch.« – »Sie scherzen, Señor Capitano!« – »Nein. Ich würde mir in so ernster Angelegenheit niemals einen Scherz erlauben.« – »So dürfte ich also hoffen, die zu finden, welche ich suche?« – »Ja, sie leben. Ich habe mit ihnen gesprochen und habe mit ihnen zusammen gelebt, monatelang.« – »Wo?« – »Auf den Planken dieses Dampfers!« – »Wäre es die Möglichkeit?« – »Es ist die Wirklichkeit.« – »So erzählen Sie, Señor. Erzählen Sie! Oder vielmehr, erlauben Sie mir zu fragen, und haben Sie die Güte, mir zu antworten.« – »Herzlich gern. Fragen Sie!« – »Ich kenne die Schicksale Sternaus bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland. Warum ging er nach Mexiko?« – »Um einen gewissen Landola zu suchen. Der Name wird Ihnen unbekannt sein. Nicht wahr?« – »Allerdings. Wer war dieser Mann?« – »Er hieß Henrico Landola, Seekapitän. Eigentlich aber war er der berüchtigte Grandeprise, Kapitän des Seeräuberschiffes ›Le Lion‹, von dem Sie vielleicht gehört haben werden.« – »Oh, viel, sehr viel!« rief Cortejo.
Der Kapitän hatte keine Ahnung, daß der Korsar an seinem Tisch neben ihm saß und mit Cortejo einen Blick wechselte. Er fuhrt fort:
»Die eigentlichen Macher sind die beiden Cortejos …« – »Ganz so, wie ich dachte.« – »Ihr Komplize und vornehmster Helfershelfer aber ist dieser verdammte Landola, den ich zu Brei zermalmen würde, wenn ich einmal das große Glück hätte, ihn in meine Hände zu bekommen.« – »Es gehört ihm auch nichts Besseres«, fiel Landola ein.
Der Kapitän fuhr fort:
»Kennen Sie vielleicht eine gewisse Schwester Clarissa, die sich zuweilen in Rodriganda aufhält?« – »Ja«, antwortete Cortejo. – »Nun, sie war die Geliebte von Gasparino Cortejo.« – »Was Sie sagen!« – »Ja. Sie gebar ihm einen Sohn.« – »Sollte man das denken!« – »Oh, man sollte noch vieles andere nicht denken! Die Eltern wollten diesen Sohn zum Grafen von Rodriganda machen, darum verwechselten sie ihn mit dem echten Sohn Don Emanuels.« – »Es ist kaum zu glauben!« – »Aber doch wahr.« – »Wie ging die Verwechslung vor sich?« – »Der kleine Rodriganda sollte zu seinem Oheim nach Mexiko geschafft werden. Er wurde aber gegen den kleinen Cortejo umgetauscht und einem Briganten übergeben, der ihn töten sollte. Der Räuber aber war mitleidiger als Cortejo. Er ließ das Kind leben und gut erziehen. Es wurde Mariano genannt und kam später als Husarenleutnant de Lautreville nach Rodriganda.«
Das war alles so wahr und klar, daß Cortejo am liebsten einen fürchterlichen Fluch ausgestoßen hätte; er beherrschte sich aber und rief:
»Santa Madonna! So ist dieser Mariano der echte Rodriganda?« – »Ja.« – »Und Alfonzo der falsche?« – »Ja.« – »Das kann bewiesen werden?« – »Zur völligsten Evidenz!« – »Welch ein Glück! Was geschah mit dem falschen Rodriganda?« – »Er wurde von Don Ferdinando erzogen, ohne daß dieser ahnte, daß er eine Schlange an seinem Busen trage.« – »Welch ein Verhängnis!« – »Als der falsche Alfonzo groß war, rief man ihn nach Rodriganda und machte seinen Vater verrückt, ebenso wie seine Schwester Rosa. Sternau heilte letztere; sie wurde seine Frau. Graf Emanuel starb scheinbar; aber die Zigeunerin Zarba wird ihn versteckt haben, so daß er sich wiederfindet.« – »Das gebe Gott!« sagte Cortejo. Im Innern aber dachte er: »Hole der Teufel diese Zarba mitsamt dem Grafen!«
Der Kapitän fuhr fort:
»Mariano sollte auf die Seite geräumt werden, wurde aber gerettet und kam mit Sternau nach Mexiko. Vorher aber war bereits ein zweites Verbrechen begangen worden; nämlich Graf Ferdinando starb.« – »Ah! Jetzt kommt es!« – »Er hatte Gift bekommen und war nicht tot, sondern nur starrkrämpfig. Er hörte und sah alles. Er wurde begraben, aber wieder aus dem Sarg genommen und in einem Korb nach der Küste geschafft, wo ihn Landola an Bord nahm und nach Harrar als Sklave verkaufte.« – »Welch eine Teufelei! Wie erging es ihm dort?« – »Sehr schlimm, bis er einen Menschen traf, der ihn kannte.«
Da wurde Cortejo doppelt aufmerksam. Er fragte schnell:
»Er hat in Harrar einen Bekannten getroffen? In diesem Land, das sonst keines Europäers Fuß betritt?« – Ja.« – »Wer war dieser Mann?« – »Ein gewisser Bernardo Mendosa, Gärtner aus Manresa, der sehr oft in Rodriganda gewesen war.«
Die beiden Männer erbleichten unter der Schminke, doch ließ Cortejo sich nichts merken; er fragte:
»Wie kam denn dieser Mann nach Harrar?« – »So wie der Graf. Er hatte Geheimnisse Cortejos erlauscht und wurde von diesem Landola übergeben, der ihn in Ostafrika verkaufte.« – »Wie wunderbar sind die Wege der Vorsehung!« sagte Cortejo, indem er die Hände faltete. – »Oh, es kommt noch wunderbarer!« – »Das ist fast unmöglich!« – »Sie werden es gleich hören. Eines Tages brachte ein Händler eine schöne, weiße Sklavin. Sie gefiel dem Sultan von Harrar, und er wollte sie kaufen. Da sie aber die Sprache des Landes nicht verstand und einer weißen Nation angehörte, so wurde der Graf geholt. Man wollte sehen, ob er ihre Sprache verstehe, damit er den Dolmetscher machen könne.« – »Verstand er sie?« fragte Cortejo, vor Neugierde fast zitternd.
Auch Landola konnte eine Bewegung der Ungeduld nicht verbergen.
»Ja; er verstand sie nur zu gut«, antwortete der Kapitän. »Er fragte, sie antwortete und nannte ihn sogar beim Namen.« – »Welch ein Wunder!« rief Cortejo. – Ja, ein Wunder möchte man es nennen, denn diese Sklavin war … ach, raten Sie doch einmal, Señores!« – »Dies zu erraten, ist vollständig unmöglich!« – »Nun, da Sie die Verhältnisse der Rodrigandas so gut kennen, ist Ihnen auch eine Hazienda bekannt, die den Namen del Erina führt.« – Ja«, antwortete Cortejo. – »Kennen Sie den Namen des Besitzers?« – »Er heißt, glaube ich, Pedro Arbellez.« – »Ja. Dieser Arbellez hat eine Tochter …« – »Señorita Emma?« – »Ja. Auch diese kennen Sie? Nun, sie war jene Sklavin.«
Da fuhr Cortejo empor und starrte den Sprecher an.
»Emma Arbellez?« fragte er. – »Ja.« – »Das ist die reinste Unmöglichkeit, denn dieses Mädchen wurde …«
Fast hätte er sich verraten. Nur ein vom Kapitän unbemerkter Fußtritt brachte ihn wieder zu sich. Glücklicherweise fiel Wagner rasch ein:
»Sie glauben es nicht?« – »Nein.« – »Nun, das kann ich Ihnen allerdings nicht übelnehmen, denn Sie wissen noch nicht, wie die Señorita dorthin gekommen ist.« – »Ich bin außerordentlich begierig, es zu erfahren.« – »Nun, so hören Sie.«
Wagner erzählte nun den beiden den ganzen Vorgang, der dem Leser bereits bekannt ist.
Als Wagner bei der glücklichen Auffindung der einsamen Insel angelangt war, da rief Landola:
»Alle Teufel! Da sind Sie ein ganzer Seemann.« – »Warum?« – »Aus den Angaben eines Mädchens, das auf einem elenden Floß umhergetrieben wurde, die Lage eines kleinen Inselchens im großen Weltmeer zu bestimmen, das ist viel, das ist sogar stark!!« – »Nein, das ist unmöglich«, antwortete Wagner. »Die Ehre gebührt Sternau, der ohne Instrumente die Höhe und Breite der Insel bestimmt hatte. Emma hatte sich die Grade zufälligerweise gemerkt.« – »Ach so!« meinte Landola. »Aber doch immerhin ein Meisterstück von diesem Sternau.« – »Das ist wahr. Wir kamen nach Ostindien, wo wir von einem kleinen Teil des Schatzes, den der Graf dem Sultan geraubt hatte, den Dampfer kauften. Einen anderen Teil des Schatzes verwandte der Graf zum Ankauf englischer Staatspapiere, und nur die wertvolleren Steine behielt er für sich. Wir dampften ab, fanden die Insel, nahmen die Unglücklichen auf und gingen nach Mexiko.« – »Warum dahin?« – »Weil die Mehrzahl der Betreffenden dort ihre Interessen zunächst zu verfolgen hatten, und weil sich da diejenigen befanden, die von unserer Rache getroffen werden sollten.« – »Wo landeten Sie?« – »In Guaymas. Hier erhielt ich Ordre, um Kap Hoorn zu gehen und in Verakruz einzutreffen, um Sternau und die anderen in ihre Heimat zu bringen.« – »Wann werden sie in Verakruz erscheinen?« – »Es ist kein Zeitpunkt festgestellt.« – »So müssen Sie warten?« – »Ich werde einen Boten nach Mexiko schicken. Im Palais des Grafen Rodriganda wird Don Ferdinando schon zu finden sein.« – »Ah! Wirklich?« – »Ja. Wo nicht, so sende ich nach der Hacienda del Erina. Dort erfahre ich Sicheres. Nun, Señores, bin ich fertig. Ich habe mich kurz gefaßt und könnte Ihnen weit mehr erzählen. Doch meine Zeit ist zu Ende.«
Der Kapitän blickte auf die Uhr und erhob sich.
»Wir danken Ihnen von Herzen!« meinte Cortejo. »Das Gehörte hat auf mich einen so tiefen Eindruck gemacht, daß ich mich fast nicht zu fassen weiß. Gönnen Sie uns Zeit, diesen Eindruck sich vertiefen zu lassen, dann werden wir Ihnen mitteilen, was wir zu tun gedenken.« – »Recht so, Señores! Suchen Sie Ihre Kojen auf und beschlafen Sie das Gehörte. Morgen können wir weiter darüber reden. Bis dahin aber gute Nacht!« – »Gute Nacht, Señor!«
Cortejo und Landola entfernten sich. In ihrer Kajüte angekommen, besprachen sie aufgeregt die Mitteilungen, die ihnen gemacht worden waren. Der erste klare Gedanke, den es gab, wurde von Cortejo ausgesprochen, indem er sagte:
»Also die Schätze des Sultans hat der Graf.« – »Millionen!« fügte Landola hinzu. – »Wo er sie haben mag?« – »Hm, ja! Ob bei sich, ob hier auf dem Schiff?« – »Man muß dies vom Kapitän zu erfahren suchen.« – »Aber um Gottes willen mit Vorsicht.« – »Das versteht sich von selbst!«
6. Kapitel
Während Cortejo und Landola sich auf diese Weise unterhielten, lehnte Peters in der Nähe des Schornsteins und blickte zu den Sternen. Er wußte nicht, ob er seine Gedanken dem Kapitän mitteilen solle. Da hörte er nahende Schritte und drehte sich um. Es war der Genannte, der seine gewöhnliche Runde machte. Das nahm Peters als ein Zeichen der Bejahung; er trat vor, legte die Hand an den Hut und sagte:
»Kapitän.« – »Was willst du, mein Sohn?« – »Darf ich fragen, was die beiden Passagiere sind?« – »Diese Frage solltest du eher an den Steuermann richten.« – »Weiß das wohl, Kapitän, aber mit den beiden ist es nicht richtig.« – »Warum? Der eine ist ein Advokat und der andere sein Sekretär.« – »Glaube ich nicht!« – »Weshalb?« – »Der Advokat mag immerhin ein Advokat sein, aber der Sekretär ist ein Seemann.« – »Ah! Woraus schließt du das?« – »Er fand im Dunkeln Ihre Kajüte, ohne mich nach ihr zu fragen.« – »So«, sagte der Kapitän. »Man sieht, daß dir die beiden allerdings nicht gefallen.« – »Nein, ganz und gar nicht, Kapitän.« – »So will ich dir sagen, daß es sehr gelehrte und ehrenwerte Herren sind. Deine Verdächtigungen sind grundlos, und du wirst mich nicht ähnliches wieder hören lassen.« – »Schön, Kapitän, werde gehorchen.«
Peters drehte sich unwillig ab und begab sich nach seiner Hängematte. Er hielt Wort und gehorchte, behielt aber die beiden scharf im Auge, bis der Dampfer an dem befestigten Felsen von San Juan d‘Ulloa vorüberrauschte und dann vor Verakruz Anker warf.
Die beiden Passagiere standen mit ihrem Gepäck zum Landen bereit, der Kapitän neben ihnen.
»Also Sie gehen direkt nach Mexiko?« fragte er den Advokaten. – »Ja«, antwortete dieser. – »Um zu sehen, ob Graf Ferdinando schon da ist?« – »Ja; ist er noch nicht da, so reiten wir nach der Hazienda.« – »Das ist der Weg, den auch mein Bote machen wird. Wie schade, daß er sich Ihnen nicht anschließen kann! Ich lasse ihn morgen abgehen.«
Sie wurden an das Land gerudert, ließen ihr Gepäck nach dem Zollhaus schaffen und begaben sich zu Fuß zu dem Agenten Gonsalvo Verdillo, dessen Wohnung beide kannten. Sie wurden von ihm, dem sie einfach als Fremde angemeldet worden waren, nicht mit großer Aufmerksamkeit empfangen.
»Was steht zu Diensten, Señores?« fragte er. – »Wir möchten eine kleine Erkundigung einziehen«, entgegnete Landola. – »Über wen?« – »Über einen gewissen Henrico Landola, Seeräuberkapitän.«
Der Agent wurde bleich, starrte ihn an und antwortete stockend:
»Ich verstehe Euch nicht, Señor.« – »Wirklich nicht?« – »Nein, nicht im geringsten.« – »Oh, du verstehst uns dennoch sehr gut, alter Schurke!«
Dem Agenten trat der Angstschweiß auf die Stirn.
»Señor, ich versichere Euch, daß ich ganz gewiß nicht weiß, was oder wen Ihr meint!« rief er. – »Wen ich meine? Nun, mich selbst!« – »Wie? Euch selbst?« – »Natürlich! Sage einmal, ist meine Verkleidung denn wirklich so gut, daß du mich nicht erkennst?«
Landola hatte vorher seine Stimme verstellt, nun gab er ihr den gewöhnlichen Klang. Da kehrte das Blut in die Wangen des Agenten zurück; er rief sichtlich erfreut:
»Höre ich recht? Diese Stimme!« – »Natürlich hörst du recht; ich bin es selbst!« – »Kapitän, willkommen! Verzeihung, daß ich Euch nicht gleich erkannte!«
Er streckte ihm die Hände entgegen. Landola schlug ein und meinte:
»Diese Gesichtsschmiere muß ausgezeichnet sein, da ein Mann, der zwölf Jahre mit mir gefahren ist, seinen alten Kapitän nicht erkennt.« – »Señor Capitano, Euer eigener Bruder würde Euch nicht erkannt haben«, versicherte der Mann. – »Nun, so erkennst du wohl auch diesen Señor nicht?«
Verdillo suchte vergebens, teils in seinem Gedächtnis und teils in Cortejos Zügen. Er schüttelte schließlich den Kopf und meinte:
»Habe ihn niemals gesehen.« – »Oh, hundertmal, alter Lügner«, behauptete Landola. – »Wo?« – »In Barcelona.« – »Könnte mich nicht besinnen.« – »Unser Reeder.«
Da schlug der Mann die Hände zusammen.
»Señor Cortejo? Wirklich? Nein, welch ein Gesicht! So eine Veränderung ist ein großes Meisterstück!« – »Allerdings«, meinte Landola, »wir haben es auch nötig. Aber sage, kannst du uns Auskunft über Señor Pablo geben?« – »Nein.« – »Über Señorita Josefa?« – »Nein.« – »Alle Teufel! Warum nicht?« – »Señorita sandte mir ein Schreiben, das ich an Señor Gasparino Cortejo abgehen lassen sollte. Ich habe es zur Auszeichnung mit der Ziffer 87 versehen. Ist es angekommen?« – »Ja«, antwortete Cortejo. »Zwei Tage vor unserer Abreise.« – »Seit dieser Zeit habe ich keine Nachricht.« – »Auch nicht von der Hazienda?« – »Nein.« – »Wie steht es in der Hauptstadt?« fragte Cortejo. – »Sie steckt voller Franzosen.« – »Verdammt! Da ist man seines Lebens nicht sicher.« – »Oh, sie führen keine üble Manneszucht.« – »So meinst du, daß man sich hinwagen könnte?« – »Ja, aber den Namen Cortejo dürftet Ihr nicht hören lassen.« – »Fällt mir nicht ein. Ich bin Don Antonio Veridante, Rechtsanwalt des Grafen Alfonzo de Rodriganda. Und dieser hier ist mein Sekretär. Notiere dir das zum eventuellen Gebrauch.«
Der Agent notierte sich die Namen wirklich und meinte:
»Ihr müßt entschuldigen, Señores, daß ich erschrak, als der Name Landola genannt wurde. Es befindet sich hier ein Mensch, der seit fünf Wochen täglich anfragt, ob Kapitän Landola noch nicht angekommen sei.« – »Ein Mensch, der fünf Wochen lang täglich nach mir fragt?« – »Ja.« – »Wie heißt er?« – »Er sagt es nicht.« – »Was will er?« – »Er entdeckt mir es nicht.« – »Woher ist er?« – »Das verrät er nicht.« – »Also ein höchst geheimnisvoller Mensch?« – »Ganz und gar. Ich habe ihn vergeblich abgewiesen, er kommt immer wieder.« – »Eine solche Beharrlichkeit ist unbedingt nicht ohne Grund. Zu welcher Stunde pflegt er zu kommen?« – »Er kommt außerordentlich pünktlich, um …« der Agent blickte nach der Uhr und fügte hinzu: »Es ist die Zeit. In einer Minute wird er klopfen.« – »So bin ich wirklich neugierig«, meinte Landola. – »Soll ich ihn hereinlassen?« – »Ja.« – »Und was ihm antworten?« – »Das übernehme ich.«
Landola hatte diese Worte kaum gesagt, so ertönte ein kurzes, kräftiges Klopfen, und auf das »Herein« des Agenten trat eine lange, sehnige Gestalt ein. Es war Grandeprise, unser alter Bekannter.
»Darf ich fragen, ob Señor Landola noch nicht angekommen ist?« erkundigte er sich in höflichem Ton.
Landola hielt beide Fäuste geballt; er hatte den Stiefbruder gleich erkannt und ahnte es, daß diesen nur die Rache herbeigetrieben hatte. Er bemeisterte jedoch seinen Grimm und fragte Grandeprise mit ein wenig verstellter Stimme:
»Was wollt Ihr von ihm, Señor?« – »Eine Kleinigkeit«, antwortete der Jäger. – »Worin besteht diese Kleinigkeit?« – »Das darf nur er erfahren.« – »Wer hat Euch gesagt, daß Ihr Euch hier nach ihm erkundigen könnt?« – »Das verrate ich nicht.« – »Ihr seid ein wunderbarer Kauz. Wie ist Euer Name?« – »Er gehört nur mir, nicht Euch.« – »Donnerwetter, das war grob.« – »Meinetwegen.« – »Nun, auf diese Weise kommt Ihr nicht zum Ziel.« – »Wieso?« – »Ist es denn etwas Wichtiges, was Ihr ihm mitzuteilen habt?« – »Ja, für ihn und für mich.« – »Ihr werdet ihn nicht eher treffen, als bis Ihr mir wenigstens die eine meiner Fragen beantwortet habt.« – »Welche?« – »Wer Euch hergewiesen hat.« – »Dann erfahre ich, wo er ist?« – »Ja.« – »Ganz gewiß. Ich stehe eben im Begriff, ihn aufzusuchen.« – »Ihr wißt also, wo er sich befindet?« – »Ja.«
Die Augen des Jägers leuchteten vor grimmiger Freude.
»So sollt Ihr es erfahren«, sagte er. – »Nun, wer hat Euch hergewiesen?« – »Pater Hilario im Kloster della Barbara zu Santa Jaga.«
Der Kapitän machte eine Bewegung des Erstaunens und sagte:
»Ich kenne den Pater nicht. Wer muß ihm diese Adresse verraten haben?« – »Wenn ich sicher wäre, Landola zu treffen, so würde ich Euch auch dies noch sagen«, meinte der Jäger. – »Ich gebe Euch mein Wort darauf«, erwiderte Landola. – »Nun gut! Der Pater hat die Adresse jedenfalls von Señor Pablo Cortejo erfahren.«
Dieser Name brachte eine kleine Aufregung unter den drei anderen Anwesenden hervor.
»Pablo Cortejo?« fragten alle drei zu gleicher Zeit. – »Ja.« – »Kennt Ihr ihn?« fragte Landola. – »Ja.« – »Ihr gehört wohl zu seinen Anhängern?« – »Nein.« – »Zu seinen Gegnern?« – »Nein.« – »Donnerwetter, wozu denn?« – »Zu nichts und niemand, ich treibe keine Politik.« – »Aber wie kommt Ihr da zu dem Prätendenten Cortejo?« – »Ich fand ihn verwundet am Fluß liegen und heilte ihn.« – »Alle Wetter! Wo war das denn?« – »Droben am Rio Grande del Norte.« – »Was wollte er dort?« – »Ein Engländer brachte Geld und Waffen für Juarez; Señor Cortejo wollte ihm dies wegnehmen, kam aber dabei mit Indianern in Streit. Er wurde an beiden Augen verwundet, so daß er im Schilf lag und nicht sehen konnte. Er getraute sich nicht vor. Da fand ich ihn.« – »Mein Gott«, rief Cortejo. »Er ist also blind?«
»Nicht ganz.« – »Was heißt das?« – »Das eine Auge ist ihm allerdings verloren gegangen; das andere jedoch haben wir mit Hilfe des Wunderkrautes geheilt.« – »Der Unvorsichtige! Wo befand sich denn zu jener Zeit Juarez?« – »Bereits in Coahuila.« – »Und mein – ah! Und Cortejo wagte sich bis zum Rio Grande?« – »Ja.« – »So hat er geradezu Gott versucht! Wohin ist er denn?« – »Er litt fürchterliche Schmerzen. Ich nahm ihn auf eins meiner Pferde und versuchte, ihn nach der Hacienda del Erina zu bringen.« – »Was wollte er dort?« – »Er sagte, daß seine Verwandten dort wohnten. Er hatte mir nämlich noch nicht gestanden, daß er Cortejo sei.« – »Ach so! Kam ihr durch?« – »Mit Mühe, denn die Scharen von Juarez waren nahe, und einige Truppen der Vereinigten Staaten lagen uns auch bereits im Weg. Aber mit Hilfe eines Umweges gelang es uns doch.« – »Wo war da Señorita Josefa?« – »Auf der Hazienda.« – »Ihr fandet sie dort?« – »Hm! In der Nähe, und wie! Denn die Hazienda war unterdessen erobert worden.« – »Von wem?« – »Von den Mixtekas, die sich erhoben hatten.« – »Für wen?« – »Für Juarez und gegen Cortejo.« – »Das ist Pech! Erzählt!« – »Wir langten des Nachts in der Hazienda an. Dort stießen wir auf Flüchtlinge von Cortejos Leuten, die dem Kampf entronnen waren. Die Hazienda war verloren und Señorita Josefa gefangen.« – »Und mein – ah! Und Cortejo blind!« – »Nur auf einem Auge. Das andere war bis dahin ziemlich heil geworden. Er zog die paar Flüchtlinge an sich, wobei ich erst bemerkte, wer er sei, und dann begaben wir uns des Morgens nach dem Berg El Reparo, auf dessen Höhe wir uns ausruhen und das weitere beschließen wollten. Kennen die Señores den Berg El Reparo?« – »Wir haben von ihm gehört.« – »Den Teich der Krokodile oben?« – »Ja.«
Cortejo dachte dabei mit Grauen an Alfonzo, der da oben an dem Baum gehangen hatte.
»Wir erreichten die Höhe«, fuhr der Jäger fort. »Als wir durch die Büsche brechen wollten, bemerkten wir einige Reiter, die am Teich abgestiegen waren. Es waren Mixtekas. Unter ihnen ihr Häuptling Büffelstirn und noch ein weißer Jäger, den sie Donnerpfeil nennen.« – »Ah, es ist ein Deutscher?« fragte Cortejo. – »Ja.« – »Er heißt Helmers?« – »So habe ich gehört.« – »Ich habt diese Kerle doch überfallen?« – »Das versteht sich, denn sie hatten die Absicht, Señorita Josefa den Krokodilen zu fressen zu geben.« – »Donnerwetter!« – »Ja, sie hing bereits an einem Lasso über dem Teich, und die Bestien schnappten nach ihr.« – »Gelang der Überfall?« – »Ja. Wir töteten die Mixtekas und retteten die Señorita.« – »Wurden auch der Häuptling und der Weiße getötet?« – »Nein. Sie hatten sich entfernt.« – »Jammerschade! Was tatet Ihr dann?« – »Cortejo wußte weder aus noch ein. Er durfte nicht zu den Franzosen, nicht zu den Deutschen, nicht zu den Indianern, und auch die Mexikaner waren ihm nicht freundlich gesinnt. Da schlug einer seiner Leute, der bei uns war, ihm vor, nach dem Kloster della Barbara zu gehen, wo er bei dessen Oheim ein Asyl finden werde.« – »Folgte er diesem Rat?« – »Ja.« – »So ist er noch dort?« – »Ja.« – »Warum habt Ihr ihn verlassen?« – »Um Señor Landola zu suchen.« – »Was wollt Ihr denn von ihm?« – »Ich habe Euch bereits gesagt, daß er allein das erfahren wird.« – »Es kann nichts Gutes sein, da Ihr so zurückhaltend seid.«
Grandeprise zuckte die Achseln und meinte:
»Ihr werdet nun Euer Wort halten, Señor. Ich habe Euch die geforderte Antwort gegeben und auch noch verschiedenes mehr dazu erzählt« – »Ich knüpfe eine Bedingung daran.« – »Welche?« – »Daß Ihr uns nach dem Kloster della Barbara geleitet.« – »Das geht nicht. Ich muß hierbleiben.« – »Wozu?« – »Um Landola zu sehen.« – »Ihr werdet ihn hier nicht sehen.« – »Ah! Wißt Ihr das so genau?« – »Ganz genau. Ich habe mich mit ihm bestellt. Er wird an demselben Tag im Kloster eintreffen, an dem auch wir ankommen.« – »Wirklich?« – »Wirklich.« – »Könnt Ihr das beschwören?« – »Bei allen Heiligen.« – »Gut, so werde ich Euch führen.« – »Vorher aber müssen wir einen Abstecher nach Mexiko machen.« – »Dazu habe ich keine Zeit.« – »So werdet Ihr Landola nicht treffen.«
Der Jäger betrachtete sich die beiden Fremden aufmerksam. Dann sagte er, mit dem Kolben seiner Büchse den Boden stampfend:
»Es ist möglich, daß die Señores mich hintergehen wollen; aber ich sage Ihnen, daß dies sehr zu Ihrem Schaden sein würde. Ich gehe mit nach Mexiko. Wann geht es fort?« – »In kürzester Zeit. Haben die Franzosen eine Eisenbahn in unserer Richtung gebaut?« – »Ja, um ihre Soldaten rasch aus Verakruz fortzubringen, wo stets das gelbe Fieber wütet. Gebaut eigentlich nicht, sondern mehr improvisiert.« – »Wohin geht sie?« – »Sie hat eine Fahrzeit von nur zwei Stunden und geht über La Soleda bis nach Lomalto.« – »Lomalto ist keine Fiebergegend mehr?« – »Nein, es ist dort gemäßigte Zone.« – »Gut; wir werden mit dem nächsten Zug fahren, nachdem wir unser Gepäck bei dem Zollamt versorgt haben.« – »Soll ich Euch helfen?« – »Nein. Erwartet uns am Bahnhof.« – »Ihr werdet kommen, ich traue Eurem Wort.«
Mit diesen Worten drehte Grandeprise sich um und schritt hinaus.
»Nicht wahr, Señores, ein sonderbarer Kerl?« fragte der Agent. – »Ja«, antwortete Cortejo. »Was mag er von Euch wollen, Landola?« – »Oh, ich weiß es genau.« – »Warum gabt Ihr Euch da nicht zu erkennen?« – »Pah! Ich habe wenig Lust, eine Büchsenkugel oder Messerklinge im Leib zu tragen!« – »Alle Wetter! Ist der Kerl so gefährlich?« – »Ja.« – »Ihr kennt ihn?« – »Sehr genau.« – »Wer ist es?« – »Mein Bruder.«
Cortejo öffnete vor Staunen den Mund, so weit er konnte.
»Euer Bruder?« fragte er. – »Ja.« – »Und er will Euch erschießen?« – »Ja. Er trachtet seit zwanzig Jahren danach, mich zu finden, um sich zu rächen.« – »Wofür?« – »Hm. Das gehört nicht hierher.« – »Auf wessen Seite ist denn eigentlich das Recht?« – »Auf der seinigen; das könnt Ihr Euch doch denken!« – »Jagt ihm eine Kugel durch den Kopf, so seid Ihr ihn mit einem Male los!« – »Das fällt mir nicht ein.« – »So wollt also Ihr Euch erschießen lassen?« – »Fällt mir gar nicht ein. Ich versuche nur das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Ich werde meinen geliebten Stiefbruder bei mir haben, der mir außerordentlich nützlich sein wird.« – »Stiefbruder also nur?« – Ja.« – »Na, da braucht Ihr doch keine Rücksicht zu nehmen. Kommt nach dem Zollamt, damit wir aus der Fieberluft dieses verteufelten Nestes fortkommen!«
Sie erteilten dem Agenten noch die nötigen Instruktionen und gingen dann, ihre Effekten zu versorgen. Als sie am Bahnhof ankamen, fanden sie den Jäger ihrer wartend. Es paßte mit den Zügen so gut, daß sie in kurzer Zeit bergaufwärts dampften.
7. Kapitel
Kurz nach dem Steamer des Kapitän Wagner war ein anderer Dampfer im Hafen erschienen, der aber in einiger Entfernung von dem ersteren Anker warf.
Wagner hatte seine Formalitäten jetzt erledigt und seine Befehle erteilt; er beabsichtigte an das Land zu gehen, um sich trotz des dort herrschenden Fiebers die Stadt zu besehen. Er befahl das kleine Gig, und als dasselbe klar war, begab er sich nach dem Fallreep. Es traf sich, daß er an Peters vorüber mußte. Er blieb, fast unwillkürlich, einen Augenblick bei dem Matrosen stehen und fragte:
»Nicht wahr, du hattest dich geirrt?« – »Nein, Kapt‘n.« – »In den beiden Fremden?« – »Nein.«
Das frappierte den Kapitän.
»Nicht?« fragte er, ein wenig überrascht. – »Ich hatte recht, Kapt‘n. Der eine war ein Seemann, und sie beide waren Schwindler.« – »Das würdest du schwerlich beweisen können.« – »Ich kann es beweisen,« meinte Peters phlegmatisch. – »Wieso?« – »Wer einen falschen Namen trägt, ist der nicht ein Schwindler?« – »Allerdings. Aber war denn das hier der Fall?« – »Ja.« – »Ihre Pässe waren in Ordnung.« – »Das mag sein. Aber wenn sie glaubten allein zu sein, so nannten sie sich bei ganz anderen Namen.« – »Hast du diese gehört?« – »Mehrere Male und ganz deutlich.« – »Wie hießen sie?« – »Der Advokat wurde von dem anderen Señor Cortejo genannt, und er selbst nannte den, der seinen Sekretär vorstellen sollte, entweder Kapitän oder Señor Landola.«
Wagner fuhr zurück, als hätte er einen Faustschlag vor die Brust erhalten.
»Ist das wahr?« fragte er fast schreiend. – »Ja, Kapt‘n!« – »Du hast es deutlich gehört?« – »So deutlich, als ob Sie es selbst jetzt vor meinen Ohren sagten.« – »Kerl, warum hast du mir es nicht sofort gemeldet?« – »Ich habe diese Menschen zweimal gemeldet, Kapt‘n, aber dann verboten Sie mir, wieder von ihnen zu sprechen. Ich kenne meine Pflicht.« – »Verdammt!«
Der Kapitän bog deckwärts um und ging einige Male mit großen Schritten auf und ab.
»Ah! Jetzt wird mir vieles klar!« brummte er. »Darum wußten sie so viel von Rodriganda. Ich habe mich da fürchterlich tölpelhaft benommen und mich von ihnen ausholen lassen wie ein Schuljunge. Das muß ausgebessert werden. Peters!«
Der Gerufene eilte schnell herbei.
»Kapt‘n!« sagte er, an den Hut greifend. – »Leg rasch die gute Jacke an, du gehst mit mir ans Land. Würdest du diese beiden sofort wiedererkennen?« – »Ja.« – »Auch von weitem?« – »Zehn Meilen weit, wenn nämlich keine Mauer dazwischen ist.« – »So eile! Wir müssen sie wiederfinden, und zwar um jeden Preis.«
Peters, ganz entzückt über die außerordentliche Ehre, mit dem Kapitän gehen zu können, sprang in höchster Eile davon und kehrte bereits nach wenigen Augenblicken im feinsten Putz zurück.
Sie stiegen in das Gig und gingen an das Land. Beim Landen fiel der Blick des Kapitäns auf eine große, weite Einfriedung, innerhalb welcher Grab an Grab sich aneinanderreihte.
»Das ist der Kirchhof der Franzosen«, sagte er, »welche unter dem hiesigen Gluthimmel dem fürchterlichen Fieber erliegen. Diese leichtsinnigen Kerle nennen ihn nichts anders als ›jardin d‘acclimatation‹, den Akklimatisierungsgarten.« – »Wer da liegt, der ist akklimatisiert«, brummte Peters.
Jetzt hielten die beiden nun eine Suche durch die Stadt. Alle Straßen wurden mehrere Male durchlaufen, und in jedem öffentlichen Haus kehrten sie ein. Am Zollamt hörten sie, daß ein Don Antonio Veridante hier gewesen sei, um sein Gepäck visitieren zu lassen.
So traten sie bereits zum zweiten Male in eine Restauration ein, wo sie vorher, ohne sich niederzulassen, nur die Gäste gemustert hatten. Jetzt war der Kapitän einigermaßen müde.
»Hier ruhen wir uns ein Weilchen aus«, sagte er und steuerte dabei mit breiten Schritten auf das einzige Tischchen zu, das noch leer stand.
Dort angekommen, wäre er beinahe erschrocken zurückgefahren. An dem Nachbartischchen saßen zwei Männer, ein jüngerer, der ein hochelegantes und männliches Aussehen hatte, und ein älterer, vor dem Wagner ebenso – sehr erschrocken war. Dieser Mann trug die gewöhnliche Tracht eines Jägers, hatte aber eine Nase von solchen Dimensionen, daß man ganz wohl erschrecken konnte, wenn man ihm unvorbereitet zu nahe kam.
Dieser Mann hatte gesehen, daß Wagner sich frappiert gefühlt hatte. Er spitzte den Mund, spuckte einen dicken Strahl braunen Tabaksaftes aus, nahm einen riesenhaften Schluck aus seinem Glas und sagte dann:
»Fürchtet euch nicht, Señor, sie tut Euch nichts. Das ist eine wahre Seele von einer Nase.«
Wagner lachte und antwortete:
»So darf ich also ohne Besorgnis hier Platz nehmen?« – »In Gottes Namen. Ansteckend ist sie nicht«
Das Äußere des jungen Mannes war so vornehm, daß Wagner sich unwillkürlich verbeugte und kurz sagte:
»Seekapitän Wagner.«
Der andere erwiderte die Verbeugung und sagte:
»Premierleutnant Helmers.«
Da verbeugte sich auch sein Nachbar und sagte:
»Dragonerkapitän Geierschnabel.«
Wagner wußte nicht, ob das Ernst oder Scherz sein sollte, er hatte auch nicht Zeit, darüber nachzudenken; sein Blick war auf den Oberleutnant gerichtet. Diesem mußte das auffallen, und darum fragte er mit einem höflichen Lächeln:
»Wir haben uns wohl bereits einmal gesehen?« – »Wohl schwerlich, Señor. Es beschäftigt mich aber eine außerordentliche Ähnlichkeit, die Sie mit einem Kameraden von mir haben.« – »Also auch einem Seemann.« – »Ja. Vater und Sohn können sich nicht ähnlicher sehen. Und eigentümlicherweise führt mein Freund auch Ihren Namen.« – »Helmers?« – »Ja.«
Kurts Gesicht nahm sofort den Ausdruck der größten Spannung an.
»Woher ist er?« – »Aus Rheinswalden bei Mainz.«
Bis hierher war die Unterhaltung in spanischer Sprache geführt worden, aber die Freude ebensowohl wie der Schmerz bedienen sich nur der Muttersprache. Kurt sprang empor und rief deutsch:
»Mein Vater, das ist mein Vater! Gott, welch ein Glück!« – »Sie sind ein Deutscher?« fragte Wagner, nun seinerseits erstaunt, indem er sich augenblicklich auch der deutschen Sprache bediente. – »Ja, freilich bin ich ein Deutscher. Oh, Kapitän, Sie nannten meinen Vater Ihren Kameraden. Wo haben Sie ihn gesehen, wo verließen Sie ihn, wo befindet er sich?« – »Erlauben Sie vorher eine Frage, Herr Leutnant.« – »Gewiß, ich stehe zu Ihrer Verfügung.« – »Seit wann ist Ihr Herr Vater abwesend?« – »Oh, er war verschollen, wohl an die zwanzig Jahre.« – »So ist es wahr, Sie sind sein Sohn.« – »Sie wissen, daß er noch lebt?« – »Ja, sehr genau.« – »Wo?« – »Hier in Mexiko. Ich traf vorhin mit meinem Dampfer ein, um ihn und seine Gefährten nach der Heimat zu bringen.« – »Seine Gefährten? Wer ist das?« – »Oh, ich weiß gar nicht, wie viele mit hinübergehen werden, wenn auch nicht für immer, aber doch zu einem Besuch.«
Geierschnabel rieb sich seine Nase mit solcher Vehemenz, daß es schien, als ob er sie sich mit aller Gewalt abbrechen wolle. Kurts Gesicht glänzte vor Entzücken. Er streckte dem Kapitän beide Hände entgegen und sagte:
»Herr Kapitän, ich hielt meinen Vater seit einer so langen Reihe von Jahren für verloren. Ich zog jetzt aus, ihn zu suchen. Vor einer Stunde warfen wir hier Anker, und nun sagen Sie mir, daß der Vater lebt. Hier meine Hände! Ich bitte, lassen Sie sich umarmen, als ob Sie der wiedergefundene Vater seien. Ich kann meinem Herzen jetzt unmöglich Gewalt antun.«
Er hatte die Augen voller Tränen; dem Kapitän ging es ebenso. Diese beiden Männer hatten sich nie gesehen, aber sie lagen Brust an Brust und umarmten sich mit einer solchen Herzlichkeit, die nur ein Ausfluß des innigsten Verwandtschaftsgefühls zu sein pflegt.
Auch Geierschnabel schob seine Flasche und sein Glas beiseite, streckte die Arme aus, spuckte sein Primchen fort und rief:
»Heißgeliebter Seekapitän, sinken Sie auch an diese meine Brust! Meine Freude ist so groß, daß ich sie nur in glühenden Küssen auszudrücken vermag. Worte kann mein Schnabel nicht mehr finden.«
Der brave Jäger hatte das allerdings in seiner Freude sehr ernsthaft gemeint, aber Wagner fuhr doch schnell zurück.
»Danke, danke«, sagte er eilig. »Bin unendlich verbunden.« – »So mag wenigstens Ihr hochgeehrter Matrose den Ausdruck meiner überströmenden Gefühle entgegennehmen.«
Peters streckte erschrocken alle zehn Finger von sich und rief:
»Danke ebenfalls. Sehr viel Ehre! Nehmen Sie es als geschehen an. Ich schmatze nie!« – »Verdammt!« zürnte der Jäger. »Daran ist nur diese meine Nase schuld! Ich werde sie kupieren lassen!«
Trotz der soeben zum Ausdruck gekommenen Gemütserregung ertönte doch ein herzliches Gelächter, in welches die anderen Gäste, mochten sie nun die Worte verstanden haben oder nicht, im Chor mit einstimmten. Die Gestikulationen wenigstens waren verstanden oder begriffen worden.
Als die Helden dieses kleinen Intermezzos wieder Platz genommen hatten, bat Kurt:
»Herr Kapitän, bitte um Auskunft, um recht schnelle und ausführliche Auskunft über meinen Vater.« – »Die sollen Sie haben, mein Liebster, nur ersuche ich um ein wenig Geduld.« – »Geduld? Geduld, in einer solchen Angelegenheit? Wollen Sie wirklich so grausam sein?« – »Verzeihung! Ich trat hier herein, nur um einen einzigen Schluck zu trinken und dann meine Jagd fortzusetzen. Ich suche nämlich zwei Verbrecher, um sie auf der Stelle arretieren zu lassen …« – »Verbrecher? Was haben sie getan?« – »Sie haben … ah, Sie sind ja der Sohn eines der Beteiligten. Sie müssen diese Halunken auch kennen, wenigstens von ihnen gehört haben. Wissen Sie, wen ich suche und verfolge?« – »Ihre letzte Bemerkung macht mich ganz begierig, es zu hören.« – »Die beiden Kerle heißen nämlich Landola und Gasparino Cortejo.«
Kurt erbleichte, aber nicht vor Schreck, sondern vor freudiger Überraschung.
»Landola und Gasparino Cortejo! Diese Männer suchen Sie?« – »Ja.« – »Hier drüben, hier in Mexiko, hier in Verakruz?« – »Ja.« – »Befinden sie sich denn hier?« – »Ja. Ich weiß es ganz genau. Herr Leutnant, Sie haben den größten Dummkopf vor sich, den die Erde trägt. Seit Rio de Janeiro habe ich diese beiden Schurken bei mir an Deck gehabt, ohne es zu ahnen. Dieser einfache Matrose hatte Verdacht und machte mich aufmerksam auf sie, ich aber schenkte ihm keinen Glauben. Erst als sie mein Schiff verlassen hatten, erfuhr ihr ihre Namen. Nun renne ich durch alle Kneipen und Straßen, ohne sie zu finden.«
Kurt hatte ihm mit allergrößter Spannung zugehört. Jetzt fiel er ein:
»Sie sind überzeugt, daß es die beiden wirklich sind?« – »Ja. Sie sind es. Ich will es mit tausend Eiden besiegeln!« – »So sind sie herübergekommen, um einen für uns fürchterlichen Schaden anzurichten, um einen Streich auszuführen, den wir mit Todesverachtung unmöglich zu machen suchen müssen. – Sie haben recht, da ist es nicht Zeit, zu berichten und zu erzählen. Diese beiden Kerle müssen unser werden. Wie waren sie gekleidet?«
Der Kapitän gab eine genaue Beschreibung ihrer äußeren Erscheinung.
»Dies genügt einstweilen«, meinte Kurt. »Alles andere für später. Sie haben die ganze Stadt durchsucht?« – »Ja, aber nichts gefunden.« – »Auch auf dem Bahnhof?«
Der gute Kapitän machte ein etwas verlegenes Gesicht und antwortete:
»Auf dem Bahnhof? Sakkerment, an den habe ich gar nicht gedacht.« – »Nicht?« fragte Kurt erstaunt. »Ich meine, daß der Bahnhof doch der erste Ort gewesen wäre, wo man sich erkundigen mußte.«
Um seinen offenbaren Fehler einigermaßen zu entschuldigen, meinte Wagner:
»Zunächst habe ich, wie ich bereits sagte, an den Bahnhof gar nicht gedacht. Wer erinnert sich gleich daran, daß es hier eine Eisenbahn gibt, also ein Verkehrsmittel, von dem sonst in derartigen tropischen Landstrichen gar keine Rede ist. Und sodann ist doch auch schwerlich anzunehmen, daß zwei Reisende einige Viertelstunden, nachdem sie das Schiff verlassen haben, bereits ihren Weg in das Innere des Landes fortsetzen.«
Kurt schüttelte bedenklich den Kopf.
»Gründe dazu hatten die beiden genug«, meinte er. »Zunächst liegt einem jeden Fremden daran, die tiefliegende und gefährliche Fiebergegend zu verlassen, und sodann hatten Sie ja mit ihnen über alle Verhältnisse der Familie Rodriganda gesprochen. Nicht?« – »Allerdings, Herr Leutnant.« – »Sie haben gesagt, daß die von der Insel Zurückgekehrten nach Mexiko gekommen seien, um ihre Feinde aufzusuchen und der gerechten Bestrafung zu überliefern?« – »Ja.« – »Auch daß die Genannten sich bereits monatelang in Mexiko befinden?« – »Auch das habe ich gesagt.« – »Nun, ist das nicht genug, um Cortejo und Landola zur allergrößten Eile zu bewegen?«
Der Kapitän konnte nicht anders, er mußte dies zugeben.
»Und wer solche Eile hat, bedient sich natürlich nicht eines Reitpferdes oder der Diligence«, fuhrt Kurt fort, »sondern der Eisenbahn, nämlich falls eine solche vorhanden ist. Das werden Sie einsehen, Herr Kapitän!« – »Donnerwetter!« meinte dieser. »Da habe ich einen derben Pudel geschossen.« – »Möglich, sogar wahrscheinlich. Aber wir dürfen unsere Zeit nicht mit unnützen Reden versäumen, sondern wir haben es jedenfalls noch eiliger als die beiden Männer, die wir suchen. Lassen Sie uns also sofort nach dem Bahnhof aufbrechen. Die notwendigen Mitteilungen können wir uns ja später immer noch machen.«
Sie bezahlten, was sie genossen hatten, und brachen auf.
8. Kapitel
Kurt hatte ganz recht. Wie schon erwähnt, waren Cortejo und Landola mit dem Jäger Grandeprise zusammengetroffen. Dort erkundigten sie sich nach dem nächsten aufwärts gehenden Zug. Der Beamte, an den die Frage gestellt wurde, war ganz zufälligerweise der Zugführer selbst. Er betrachtete sich die drei Männer, zuckte die Achseln und antwortete:
»Der nächste Zug wird in zehn Minuten abgelassen. Wollen Sie mit?« – »Ja«, antwortete Cortejo. – »Tut mir leid! Sie werden sich wohl eine andere Gelegenheit suchen müssen.« – »Warum?« – »Wir transportieren jetzt nur Militär und solche Personen, die sich als zu uns oder der Regierung gehörig legitimieren können.« – »Unangenehm! Im höchsten Grad unangenehm«, meinte Cortejo. – »Ah, Sie haben Eile?« – »Sehr große sogar!« – »Und sind nicht im Besitz einer entsprechenden Legitimation, meine Herren?« – »Leider nein. Wir haben nur unsere Privatpässe.« – »Hm! Was für Landsleute sind Sie?« – »Wir beide sind Spanier, und dieser Señor ist ein amerikanischer Jäger.« – »Das ist allerdings sehr schlimm für Sie. Spanier dürfen wir leider nicht befördern, und Amerikaner noch weniger.«
Da langte Grandeprise in die Tasche, zog eine Brieftasche hervor und sagte:
»Señor, ich bin im Besitz einer Legitimation.« – »So? Wirklich? Ist sie gut?« – »Ich hoffe es, Señor.« – »So zeigen Sie einmal her.«
Der Jäger nahm eine Zwanzigdollarnote hervor, gab sie ihm und fragte:
»Gibt es vielleicht eine bessere Passierkarte als diese da?«
Der Beamte nickte mit dem Kopf, lächelte freundlich und antwortete:
»Es läßt sich allerdings nichts dagegen einwenden. Sie ist so gut, daß ich nur wünschen kann, daß die beiden anderen Herren sich auch im Besitz solcher Legitimationen befinden.«
Da zog Cortejo zwei Hundertfrankennoten hervor.
»So erlauben Sie«, sagte er, »daß ich mich und diesen Herren legitimiere.«
Der Mann griff zu und meinte:
»Dies Paßkarten sind allerdings gültig, doch muß man dennoch vorsichtig sein. Sind Sie im Besitz einer spanischen Legitimation?« – »Ja.« – »Wie heißen Sie?« – »Ich bin Don Antonio Veridante, Advokat aus Barcelona.« – »Und der andere Herr?« – »Ist mein Sekretario.« – »Können Sie das beweisen?« – »Durch meine Pässe.« – »Zeigen Sie!«
Cortejo gab dem Beamten die Papiere, und der Franzose betrachtete sie genau, obgleich er wohl kein Wort Spanisch verstand. Er erblickte den angegebenen Namen und die Unterschrift nebst Stempel der Behörde; daher war er überzeugt, daß die Papiere in Ordnung seien.
»Es ist gut«, sagte er. »Es stimmt alles, und Sie können mitfahren, allerdings nur in meinem Kupee. Aber dann müßten Sie sofort einsteigen, denn die Zeit drängt.« – »Wir sind bereit«, versicherte Cortejo froh, daß es so gekommen war. – »So kommen Sie!«
Er öffnete sein Kupee und schob sie hinein. Hier befanden sie sich zunächst noch einige Minuten lang unter sich allein.
»Welch ein Glück!« meinte Landola. »Es sah erst ganz so aus, als ob wir sitzen bleiben sollten.« – »Pah«, antwortete der Jäger. »Diese Herren Franzosen haben ein großes Maul, aber auch ein weites Gewissen.« – »Eigentlich war es ein Wagnis«, bemerkte Cortejo. – »Ein Wagnis?« sagte Grandeprise. »Man wagt niemals etwas, wenn man zwanzig Dollar zum Fenster hinauswirft.«
Cortejo begriff den Sinn dieser Worte. Er zog abermals eine Hundertfrankennote heraus und reichte sie ihm hin.
»Hier, nehmen Sie Ersatz«, sagte er. »Sie haben das Geld ja in meinem Interesse ausgegeben.« – »Vielleicht ebenso in dem meinigen«, antwortete Grandeprise. »Aber es fällt mir nicht ein, Sie durch Zurückweisung von lumpigen zwanzig Dollar zu beleidigen. Ich danke!«
Jetzt gab die Lokomotive das Zeichen, der Zugführer beantwortete dasselbe und stieg dann ein. Der Wagen setzte sich in Bewegung.
In Lomaldo angekommen, wurden die Wagen bereits erwartet. Der Bahnhof hatte ein höchst militärisches Aussehen. Er stand voller französischer Soldaten, die per Bahn an die See transportiert werden sollten, um nach der Heimat eingeschifft zu werden. Die angekommenen Wagen wurden mit den bereits wartenden zusammengekoppelt, sie füllten sich schnell mit den über die Rückkehr erfreuten Passagieren, dann setzte sich der Zug nach Verakruz zurück in Bewegung.
Im Anschluß an den Zug stand in Lomaldo die nach der Hauptstadt Mexiko gehende Diligence bereit. Die drei Reisenden lösten sich Billetts. Cortejo und Landola stiegen in das Innere des Wagens; Grandeprise aber liebte die Luft und die freie Aussicht; er erklomm das Verdeck und machte es sich da so bequem wie möglich.
Dies gab den beiden anderen Zeit und Gelegenheit, unbemerkt und ungehört von ihm miteinander zu verhandeln. Als der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte, fragte Cortejo:
»Also dieser Kerl ist ein Stiefbruder von Ihnen?« – »Leider ja«, antwortete Landola. – »Und er sucht Sie? Er gibt sich große Mühe, Sie zu finden?« – »Allerdings.« – »Warum?« – »Pah! Lassen wir das! Familiensachen!« brummte Landola verdrießlich. – »An denen Sie Schuld tragen?« – »Ich sagte dies bereits.« – »So vermute ich, daß er die Absicht hat, sich zu rächen.« – »Ganz meine Ansicht.« – »Welch ein Glück für Sie, daß Sie verkleidet sind. Er hätte Sie erkannt, und wer weiß, was dann geschehen wäre.« – »Geschehen? Pah! Es ist mir allerdings lieb, daß er keine Ahnung davon hat, daß ich der Gesuchte bin, aber ich bin doch keineswegs der Mann, ihn zu fürchten. Wer mit mir anbindet, den weiß ich zu bedienen, mag er ein Fremder oder mein Bruder sein.« – »Was beabsichtigen Sie, mit ihm zu tun?« – »Er will mir an die Haut, gut, so gehe ich ihm an das Fell. Zunächst können wir ihn außerordentlich gut gebrauchen; sobald dies später nicht mehr der Fall ist, lassen wir ihn abfallen.« – »Schön! Glauben Sie an seine Erzählung von dem Pater Hilario?« – »Unbedingt Ich glaube nicht, daß er jemals eine Unwahrheit sagt.« – »So würden wir also bei diesem Pater meinen Bruder oder wenigstens eine Spur von ihm finden?« – »Sicher. Darum gilt es, unsere Angelegenheiten in der Residenz so schnell wie möglich zu betreiben und uns dann schleunigst nach dem Kloster della Barbara in Santa Jaga zu begeben.« – »Unsere Angelegenheiten in der Hauptstadt? Hm? Was verstehen Sie unter denselben?« – »Nun, weiter nichts als diese verfluchte Erbbegräbnisgeschichte.« – »Darin könnten Sie sich irren.« – »Wieso?« – »Ich habe in Mexiko noch viel mehr zu tun.« – »Möchte wissen«, meinte Landola im Tone des Zweifels. – »Nun, die Güter der Rodriganda haben jetzt ja keinen Herrn.« – »Oh, die werden schon einen haben.« – »Sie vergessen, daß Graf Ferdinando scheinbar gestorben ist.« – »Das weiß ich.« – »Und daß mein Bruder, der Verwalter sämtlicher Besitzungen, des Landes verwiesen ist.« – »Auch das habe ich nicht vergessen.« – »Also befinden sich diese Besitzungen gegenwärtig ohne Herrn.« – »Sie werden erst recht einen haben.« – »Wen?« – »Die Regierung.« – »Sie meinen, daß sie konfisziert worden sind?« – »Nein, denn Graf Alfonzo, der eigentliche Besitzer, ist ja nicht des Landes verwiesen worden. Er besitzt noch alle seine Rechte.« – »So denken Sie, daß die Regierung die Verwaltung übernommen hat?« – »Ja, gerade das denke ich.« – »Ich bezweifle es.« – »Aus welchem Grund?« – »Hm! Welche Regierung ist es, von der Sie sprechen?« – »Die Kaiserliche.« – »Das ist gar keine Regierung. Kaiser Max ist in Kost und Logis bei Napoleon; er genießt das Gnadenbrot bei den Franzosen. Er darf nicht das Geringste unternehmen ohne die Erlaubnis oder die Einwilligung des Marschalls Bazaine.« – »Nun gut, so verstehe ich unter Regierung das französische Gouvernement.« – »Und dieses soll die Besitzungen der Rodriganda in Verwaltung genommen haben?« – »Jedenfalls.« – »Diese Herren Franzosen haben keine Zeit dazu!« – »Diese Herren Franzosen haben stets Zeit, wenn es gilt, Geld zu nehmen. Meinen Sie das nicht auch?« – »Sie denken, daß in dieser Angelegenheit Geld zu machen sei?« – »Natürlich. Ihr Bruder hat sich Geld gemacht; die Franzosen werden nicht dümmer sein als er.« – »Ich denke, daß sie diese Angelegenheit vollständig geriert haben werden. Mein Bruder hat seine Unterbeamten, die während seiner Abwesenheit die Verwaltung fortgeführt haben werden.« – »Welche während seiner Abwesenheit sich die Beutel gefüllt haben werden, wollen Sie wohl sagen.« – »Oho! Jede einzelne Besitzung, jede einzelne Hazienda hat ihren Verwalter.« – »So ist jede einzelne Besitzung und Hazienda von ihrem Verwalter ausgesogen worden; das ist noch schlimmer!« – »Wollen es abwarten!« – »Weiter können wir eben in unserer Lage nichts tun.« – »O doch! Habe ich nicht meine Bescheinigung in der Tasche, daß ich als Agent des Grafen Alfonzo den Auftrag habe, die Ordnung dieser Angelegenheiten zu übernehmen?« – »Allerdings. Nur fragt es sich, ob diese Bescheinigung auch genugsam respektiert werden wird.« – »Wer könnte mir hinderlich sein?« – »Dieser oder jener. Wir werden sehen.« – »Möglicherweise haben Sie recht. Auf alle Fälle aber werde ich, sobald wir nach Mexiko kommen, mich nach dem Palast Rodriganda verfügen, um zu rekognoszieren.« – »Nicht um zu rekognoszieren, sondern um sich in Gefahr zu begeben.« – »Keineswegs. Ich habe gute Papiere und bin unkenntlich.« – »Nun, tun Sie, was Sie wollen. Mir aber werden Sie gestatten, an einem sicheren Ort auf Sie zu warten, während Sie sich im Palast Rodriganda befinden.«
So geschah es.
9. Kapitel
Kaum in Mexiko angekommen, begab sich Cortejo nach dem Palast, während Landola in dem Gasthof zurückblieb, in dem sie abgestiegen waren. Der letztere hatte kein Vertrauen zu diesem, wie ihm schien, gewagten Schritt. Der erstere aber war voller Zuversicht, daß ihm nichts geschehen könne.
Am Palast angekommen, erblickte er zu Seiten des Einganges zwei Schilderhäuser. Zwei Ehrenposten standen dabei, ein sicheres Zeichen, daß ein hoher Militär Quartier hier habe. Er wollte eintreten, aber der eine Posten hielt ihn auf.
»Zu wem wollen Sie?« fragte er. – »Welcher Offizier hat hier sein Quartier?« erwiderte Cortejo. – »General Clausemonte.« – »Danke! Den General aber will ich gar nicht belästigen. Ich will zu dem Besitzer des Hauses.« – »Sie meinen zu dem Herrn Administrator?« – »Ja.« – »Gehen Sie parterre rechts.«
Cortejo folgte dieser Weisung. Im Hauskorridor rechter Hand erblickte er an einer Tür ein Schild, auf dem das Wort »Administration« zu lesen war. Er klopfte an und trat, auf einen zustimmenden Ruf von innen, ein. Er befand sich in einem Zimmer mit mehreren Schreibtischen, an dem verschiedene Personen arbeiteten. Einer der Männer trat auf ihn zu und fragte:
»Sie wünschen?« – »Den Herrn Administrator.« – »Ist nicht zu sprechen.« – »Warum?« – »Er frühstückt.« – »Melden Sie mich ihm!« – »Das darf ich nicht. Er will nicht gestört werden.«
Cortejo gab sich ein möglichst imponierendes Äußere und meinte:
»Ich habe Sie bedeutet, mich zu melden, und das werden Sie tun!«
Der Mann blickte erstaunt auf. Cortejos Ton schien aber doch einigen Eindruck hervorgebracht zu haben, denn die Antwort lautete:
»Wer sind Sie, Señor?« – »Das geht nur den Herrn Administrator etwas an. Sagen Sie, ein Herr, der direkt aus Spanien komme, wünsche ihn wegen der gräflichen Besitzungen und deren Verwaltung sogleich zu sprechen.« – »Ah! Das ist wohl etwas anderes. Hätten Sie das sogleich gesagt, so wären Sie bereits gemeldet. Wollen Sie die Güte haben, mir in das nächste Zimmer zu folgen, um den Herrn Administrator dort zu erwarten!«
Cortejo folgte dem Mann nach dem nebenan liegenden Raum, wo er einstweilen allein gelassen wurde. Das Zimmer glich bei weitem mehr einem feinen Damenboudoir, als einem Expeditionslokal.
»Hm!« brummte Cortejo. »Dieser Herr Verwalter scheint noble Passionen zu haben. Vielleicht hat Landola recht.«
Erst nach einer vollen Viertelstunde hörte er Schritte. Ein sehr fein nach französischer Mode gekleideter Mann trat ein, dessen Gesichtsschnitt, ebenso wie Schnurr– und Kinnbart, sofort den Franzosen vermuten ließen. Er betrachtete Cortejo kalt und forschend und fragte, doch ohne Verbeugung und Gruß:
»Wer sind Sie, Monsieur?« – »Mein Name ist Don Antonio Veridante.« – »Schön! Ein Spanier also dem Laut nach?« – »Ja. Advokat aus Barcelona.« – »Ahnte es!« – »Agent und Bevollmächtigter des Grafen Alfonzo.« – »Welches Grafen Alfonzo?« – »De Rodriganda.« – »Ah! Können Sie dies beweisen?« – »Ja. Hier meine Akkreditive.«
Cortejo gab dem Franzosen die betreffenden Papiere. Dieser las sie durch, ohne daß eine Miene zuckte, und sagte dann kalt:
»Schön! Tut mir aber leid!« – »Was?« – »Diese Papiere sind nicht hinlänglich!« – »Wieso? Zweifeln Sie an der Echtheit derselben?« – »Nicht im mindesten.« – »Der Paß sagt Ihnen ganz genau, wer ich bin!« – »Allerdings.« – »Und die Vollmacht klärt Sie über meine Befugnisse hoffentlich auf.« – »Vollständig.« – »Und dennoch sagen Sie, daß diese Papiere unzulänglich seien?« – »Ja«, antwortete der Gefragte mit einem leichten Achselzucken. – »Was könnte noch fehlen?« – »Sie kommen direkt von Rodriganda oder Barcelona herüber nach Mexiko?« – »Ja.« – »Sie waren nicht vorher in Madrid?« – »Nein.« – »Oder in Paris?« – »Nein.« – »So haben Sie Ihre Reise leider umsonst unternommen.« – »Wieso?« – »Sie hätten sich vorher dem französischen Gesandten in Madrid oder dem spanischen Gesandten in Paris vorstellen sollen.« – »Ich habe das nicht für notwendig gehalten.« – »Da haben Sie sich allerdings geirrt« – »Sie meinen, es sei eine gesandtschaftliche Rekognoszierung notwendig.« – »Sehr notwendig.« – »Das kann ich noch nachholen!« – »Ja, indem Sie sich von hier nach Paris oder Madrid zurückbegeben.« – »Das ist nicht notwendig, da sich hier in Mexiko ein spanischer Geschäftsträger befindet.« – »Ein solcher Beamter befindet sich allerdings hier, aber seine Kompetenz reicht nicht so weit, daß ich auf ihn hören dürfte.« – »Ah! Die Befugnis eines Geschäftsträgers reicht nicht so weit?« – »Nein.« – »Ich werde mich erkundigen.« – »Tun Sie das, Monsieur!« meinte der Franzose, indem er eine etwas schadenfrohe Miene nicht ganz beherrschen konnte. – »Ich bin Advokat und kenne die Gesetze!« drohte Cortejo. – »Das erstere gebe ich zu, das letztere scheint mir aber doch nicht der Fall zu sein.« – »Señor, wollen Sie mich beleidigen?«
Der Franzose warf einen geringschätzigen Blick auf den Spanier und erwiderte:
»Das kann mir gar nicht einfallen.«
Dieser Blick ärgerte Cortejo gewaltig, er sagte erbost:
»Sie meinten aber doch sehr deutlich, daß Sie bezweifeln, daß ich die Gesetze kenne.« – »Das bezweifle ich allerdings.« – »Ah!« – »Ihre Ansicht, daß die Kompetenz des spanischen Geschäftsträgers ausreichend sei, mag für die Gewöhnlichkeit zutreffend sein. Wir aber haben Krieg und befinden uns also in einem Ausnahmefall.« – »Donnerwetter.« – »Ihr Wort, Monsieur, ist nicht sehr höflich, doch will ich es für dieses Mal nicht gehört haben. Also wir haben Krieg. Der Kaiser hat gefunden, daß die Besitzungen von Rodriganda herrenlos sind, und dafür Sorge getragen, daß sie unter Verwaltung kommen. So lange wir uns in dem angegebenen Ausnahmefall befinden, kann ich Ihre Vollmacht nur dann respektieren, wenn durch einen der beiden heimischen Residenten, mag es nun der meinige oder der Ihrige sein, nachgewiesen wird, daß meine Regierung Ihnen erlaubt, die Verwaltung der betreffenden Güter in Ihre Hände zu nehmen.« – »So müßte ich wirklich wieder über den Ozean hinüber?« – »Allerdings.« – »Darf ich nicht wenigstens einigermaßen Einsicht in den Stand der Dinge nehmen?« – »Ich darf dies nicht zugeben.« – »Die Verwaltung befand sich bisher in den Händen des Señor Pablo Cortejo?« – »Ja.« – »Warum ist sie ihm genommen worden?« – »Er wurde als Empörer und Verräter des Landes verwiesen. Sie sehen doch ein, daß es ihm da unmöglich ist, dieses Amt auch fernerhin zu bekleiden.« – »Wo befindet er sich?«
Der Franzose zuckte hochmütig die Achsel und antwortete:
»Weiß ich es? Ich gehöre nicht zur Gendarmerieabteilung. Es ist mir höchst gleichgültig, wo sich dieser Cortejo befindet, den ich nicht nur für einen Empörer, sondern auch für einen ganz ausgefeimten und gewissenlosen Spitzbuben und Betrüger halte.« – »Señor!« rief Cortejo unbesonnen. – »Mein Herr?« – »Sie beschimpfen Cortejo!« – »Mit vollem Recht!« – »Haben Sie Beweise für Ihre Behauptung?« – »So viele Sie wollen!« – »Bringen Sie dieselben!« – »Etwa Ihnen?« lachte der Intendant. – »Ja.« – »Ich bemerkte Ihnen bereits, daß Sie hier nichts zu sagen haben!« – »Und ich werde Ihnen beweisen, daß dies dennoch der Fall ist!« – »Tun Sie es immerhin, es ist mir das sehr gleichgültig.« – »Ich werde mich sofort zu meinem Geschäftsträger verfügen.« – »Der ist mir ebenso gleichgültig wie Sie.« – »Zum Kaiser!« – »Pah! Der Kaiser wird Ihnen sagen, daß Sie ihn belästigen.« – »Zu Marschall Bazaine!« – »Der wird Sie einfach einsperren lassen.« – »Donnerwetter!« – »Monsieur, ich habe Ihnen wiederholt gesagt, daß ich das Fluchen nicht dulde.« – »Sie sprachen vom Einsperren.« – »Allerdings, und zwar mit vollem Recht. Sie nehmen sich dieses Cortejo mit einer Wärme an, daß Sie mir verdächtig werden.« – »Ich verdächtige niemanden ohne Beweise.« – »Ich auch nicht. Ich sage Ihnen, daß ich so viele Beweise habe, wie Sie nur verlangen können. Jede Zeile seiner Bücher, die er führte, jede Ziffer, die darin enthalten ist, bildet einen solchen Beweis. Er hat den Grafen Rodriganda um ungeheure Summen gebracht. Wird er ergriffen, so wird er gehängt allein um dieses Grundes willen; denn daß er als Präsident kandidierte, das war eine wahnsinnige Lächerlichkeit.« – »So befindet er sich wirklich außer Landes?« – »Ich weiß es nicht. Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?« – »Unter diesen Verhältnissen nicht, für jetzt nämlich.« – »So bedaure ich, daß ich mich habe stören lassen.« – »Sie waren notwendig beschäftigt?« – Ja.« – »Beim Frühstück?« lachte Cortejo höhnisch. – »Das ist wahr. Aber Sie geben zu, daß das Frühstück eine notwendigere und angenehmere Beschäftigung ist, als die fruchtlose Unterhaltung mit einem Mann, der hierherkommt, um zu gebieten, sich aber über das Allereinfachste noch nicht im mindesten orientiert hat. Adieu!«
Der Franzose drehte sich stolz um und ging. Cortejo befand sich allein in dem Zimmer. Eine solche Zurechtweisung hatte er noch nie erfahren.
»Warte nur, Bursche!« knirschte er. »Es wird die Zeit kommen, da ich dir das alles wieder heimzahle, und zwar mit Zinsen!«
Cortejo verließ den Ort. Als er durch das vordere Zimmer schritt, wurde er von den höhnischen Blicken der dort anwesenden Schreiber verfolgt Er tat, als ob er dies gar nicht bemerkte, und verließ das Haus. Draußen auf der Straße erkundigte er sich nach der Wohnung des spanischen Geschäftsträgers, zu dem er sich verfügte.
Dort angekommen, konnte er nur nach langem Warten vorgelassen werden und hörte dann zu seinem Ärger, daß er von dem Administrator nur das Richtige erfahren habe. Es blieb ihm nichts übrig, als völlig unverrichteter Sache zu Landola zurückzukehren.
10. Kapitel
Landola hatte Cortejo mit großer Ungeduld erwartet.
»Nun?« fragte er. »Ich glaubte bereits, daß Ihnen etwas Unangenehmes passiert sei.« – »Das ist auch der Fall«, brummte Cortejo verdrossen. – »Ah, doch!« – »Ja, wenn auch nicht das, was Sie dachten.« – »Ich glaubte gar, man hätte Sie festgehalten.« – »Es wäre auch beinahe geschehen.« – »Alle Teufel!« – »Wenigstens hat man mir damit gedroht.« – »Wer?« – »Dieser Herr Administrator.« – »Ah! Der gräfliche Palast hat einen Administrator?« – »Nicht nur der Palast, sondern unsere ganzen Besitzungen stehen unter seiner Verwaltung.« – »Was ist er? Ein Österreicher?« – »Nein, ein Franzose.« – »Da haben Sie es. Hatte ich nicht recht?« – »Leider.« – »Wie empfing er Sie?« – »Dieser Mensch behandelte mich von oben herab und erkannte meine Papiere gar nicht an.« – »Das wäre stark! Sie sind doch echt und gültig!« – »Echt ja, aber nicht gültig. Es handelt sich hier um einen Ausnahmefall, weil wir Krieg haben. Ich hätte der Unterschrift unseres Residenten bedurft. – »Gehen Sie zum Geschäftsträger!« – »Da war ich schon.« – »Was sagte dieser?« – »Ganz dasselbe.« – »Der Teufel soll ihn holen! Übrigens wollen wir froh sein, daß Sie überhaupt und mit heiler Haut zurückgekehrt sind. Hätte man Sie wirklich festgehalten … Doch, warum wollte man dies tun?« – »Er nannte meinen Bruder einen Betrüger.« – »Und Sie wurden wohl gar deswegen grob?« fragte Landola, im höchsten Grade erstaunt. – »Allerdings.« – »Welch eine riesige Dummheit!« – »Oh, es war mehr noch als Dummheit! Aber ich war zornig über diesen impertinenten Kerl von Franzosen.« – »Ich sehe nun schon, wie sehr man sich auf Sie verlassen kann. Sie sind imstande, unsere ganze Angelegenheit zu verderben.« – »Ich werde mich beherrschen.« – »Ich hoffe es. Also diese Affäre mit dem Intendanten ist für jetzt hoffnungslos. Was tun wir nun?« – »Es gilt, das Grab zu füllen.« – »Und dann?« – »Dann reisen wir sofort nach dem Kloster della Barbara.« – »Womit füllen wir das Grab?«
Sie befanden sich ganz allein in ihrem Zimmer, dennoch meinte Cortejo in warnendem Ton:
»Nicht so laut! Man könnte uns hören. Natürlich füllen wir es mit einer Leiche.« – »Aber woher sie nehmen?« – »Dummheit! Das versteht sich ja ganz von selbst.« – »Sie meinen, wir erkundigen uns, wo jemand gestorben ist, rauben den Kerl und legen ihn im Erbbegräbnis der Rodrigandas in den leeren Sarg Don Ferdinandos?« – »Das wäre der allergrößte Wahnsinn, den wir uns zuschulden kommen lassen könnten.« – »Wieso?« – »Sie geben zu, daß unsere Feinde uns entschlüpfen können?« – »Ja, obgleich dies ein ganz verteufelter Fall sein würde.« – »Und daß sie dann nach der Hauptstadt kommen würden?« – »Ja.« – »Daß dann ihr erstes sein würde, das Erbbegräbnis zu untersuchen?« – »Ja. Aber das wäre ja für uns sehr günstig.« – »Wieso?« – »Sie würden die Leiche finden, und es wäre dann bewiesen, daß Don Ferdinando wirklich gestorben ist.« – »Ah«, dehnte Cortejo im Ton der Überlegenheit. – »Ja. Oder meinen Sie anders?« – »Ja, sehr anders. Sagen Sie mir doch einmal, mein kluger Señor Sekretario, was man vor allen Dingen mit der Leiche tun würde?« – »Nun, man würde sie natürlich untersuchen.« – »Wer würde diese Untersuchung vornehmen?« – »Ein Arzt, oder mehrere, das versteht sich ja von selbst.« – »Und was würden diese Ärzte sofort bemerken?«
Landola blickte Cortejo fragend an. Er konnte das Richtige nicht gleich finden, darum antwortete er mit zynischem Lachen:
»Nun, sie würden vor allen Dingen finden, daß diese Leiche tot ist.« – »Ja; aber man würde auch finden, wann und woran sie gestorben ist.« – »Alle Teufel! Das ist wahr.« – »Was folgt daraus?« – »Ah! Nun verstehe ich Sie vollständig.« – »Nun?« – »Wir müssen eine Leiche haben, die ungefähr um dieselbe Zeit begraben wurde, in der man Don Ferdinando beerdigte.« – »Und wo finden wir die?« – »Auf dem Gottesacker natürlich.« – »Ja. Sie muß gesucht und am Abend ausgegraben werden.« – »Wir brauchen ja nur die Inschriften der Leichensteine zu lesen, um die richtige Jahreszahl zu finden.« – »Endlich haben Sie die Hand auf dem Knopf.« – »Aber die Kleider?« – »Oh, die machen mir keine Sorge. Ich habe unterwegs den Schiffsarzt befragt, der ein guter Chemiker ist.« – »Donnerwetter! Das war gefährlich! Er hätte, wenn er halbwegs scharfsinnig war, Ihre Absicht erraten können.« – »Denken Sie, daß ich so unvorsichtig bin?« – »Daß Sie es einigermaßen sind, haben Sie bewiesen, indem Sie dem Administrator zürnten, weil er Ihren Bruder einen Betrüger nannte, wobei er übrigens meine volle Zustimmung hat.« – »Das war die Übereilung des Zorns. Der Arzt aber hat nicht das mindeste geahnt. Er hat mir ganz unbefangen mehrere Mittel genannt, die festesten Kleiderstoffe so in Zunder zu verwandeln, daß sie bei der geringsten Berührung vom Leib fallen.« – »Aber doch so, daß man sie nicht für verkohlt, sondern für verfault, für verwest halten kann?« – »Ja.« – »Ohne daß man Verdacht zu schöpfen vermag?« – »Ohne alle Möglichkeit des Verdachtes.« – »Hm, das wäre vorteilhaft. Aber woher eine Kleidung nehmen?« – »Vom ersten, besten Schneider oder Altkleiderhändler.« – »Aber sie müßte derjenigen, in der der Don begraben wurde, ganz ähnlich sein.« – »Das wird der Fall sein. Mein Bruder hat mir damals die ganze Leichenfeierlichkeit und natürlich auch den Anzug des Scheintoten sehr ausführlich und genau beschrieben, so daß ich in dieser Beziehung sicherlich keinen Fehler begehe.« – »Dies wäre gar nicht notwendig. Sie vergessen, daß man mir die Leiche auf das Schiff gebracht hat.« – »Ah, so.« – »In derselben Kleidung, in der sie begraben worden war.« – »Das ist richtig.« – »Und daß ich mich dieser Kleidung noch ganz genau erinnere.« – »Nun, so brauchen wir nur zu memorieren, und Sie sind zugegen, wenn ich ein Gewand kaufe.« – »Natürlich. Nun aber noch eins, und zwar die Hauptsache. Wir graben eine Leiche aus. Wird man das am anderen Tag nicht bemerken?« – »Wir nehmen uns möglichst in acht.« – »Eine ganz verdammte Geschichte!« – »Sie sind selbst schuld daran.« – »Ich? Wieso?« – »Sie und mein Bruder, dieser dumme Mensch! Hätte er diesen Don Ferdinando wirklich sterben lassen, und wären Sie auf seinen Vorschlag, den Scheintoten auf Ihr Schiff zu nehmen, nicht eingegangen, so befänden wir uns nicht in der gegenwärtigen, unangenehmen Lage, diesen gewaltigen Fehler wiedergutzumachen. Sie sehen doch ein, daß ich recht habe?« – »Leider. Aber wie verschaffen wir uns das Nötige, Hacken, Schaufeln, Laternen, Bretter und eine Leiter?« – »Laternen müssen wir uns allerdings kaufen. Das andere ist vielleicht auf dem Gottesacker zu haben. Die Totengräber haben gewöhnlich ein Gelaß, worin sich diese Gegenstände befinden.« – »So müssen wir uns baldigst überzeugen.« – »Wir werden sogleich gehen. Aber vorher ist noch etwas sehr Wichtiges zu erörtern. Wir brauchen eine Person, die Wache steht, damit wir nicht gestört werden oder bei Gefahr zur rechten Zeit fliehen können.« – »Diese Person ist bereits gefunden.« – »Wer ist sie?« – »Mein Bruder.« – »Ah, der! Wird er sich bereden lassen, es zu tun?« – »Ganz gewiß.« – »Welche Gründe geben wir an? Denn die Wahrheit können wir ihm doch unmöglich sagen.« – »Das fällt mir gar nicht ein. Überlassen Sie das mir! Er haßt mich, und auf diesen Haß gründe ich die Fabel, die ich ihm erzählen werde und die ihn ganz sicher bewegen wird, sich uns bei diesem Unternehmen anzuschließen.« – »Wo befindet er sich?« – »Er schläft unten im Hof auf den Steinen. Lassen wir ihn schlafen. Sind Sie bereit?« – »Ja, gehen wir.«
Sie verließen das Gasthaus und schritten durch die Straßen, in denen infolge der Anwesenheit des Militärs ein ungewöhnlich reges Leben herrschte. Doch zeigten die Soldaten nicht etwa jene sicheren Mienen, wie man sie bei Siegern zu sehen gewohnt ist. Man ahnte in den niederen Kreisen, was man in den höheren bereits wußte, nämlich, daß das glanzvolle Spiel zu Ende sei, bei dem es dem Kaiser der großen Nation nicht gelungen war, sich Ruhm und Ehre zu holen.
Nach kurzem Fragen fanden die beiden den Weg zu dem betreffenden Kirchhof, der offen stand.
Es war jetzt gegen Mittag. Die Sonne stand hoch, und die Wärme ihrer Strahlen machte, daß keine Besucher sich an dem einsamen Ort befanden. Die beiden Männer traten ein und konnten ihre Beobachtungen ganz ungestört vornehmen.
Zunächst suchten sie das Erbbegräbnis der Rodriganda, das sie auch unschwer fanden. Es war mit einem eisernen Tor verschlossen.
»Werden wir es öffnen können?« fragte Landola. – »Wir müssen uns Werkzeuge verschaffen«, meinte Cortejo. – »Aber woher?« – »Das lassen Sie meine Sorge sein.« – »Von einem Schlosser etwa? Er darf keinen Dietrich hergeben.« – »Sie vergessen, das wir uns in Mexiko befinden. Mit Geld will ich da noch ganz andere Dinge fertigbringen.«
Nun schritten sie zwischen den Gräbern dahin, um die Inschriften zu lesen. An der Mauer zogen sich kleine Gebäude dahin, eins an dem anderen liegend.
»Auch das müssen Erbbegräbnisse sein«, meinte Landola. – »Natürlich«, antwortete Cortejo. – »Donnerwetter! Da kommt mir ein Gedanke!«– »Ah, Sie haben einmal einen Gedanken?« fragte Cortejo unter einem sarkastischen Lachen. – »Lachen Sie nur! Dieser Gedanke ist doch gut!« – »So lassen Sie ihn hören!« – »Wie nun, wenn wir weder Hacke noch Schaufel brauchten?« – »Das wäre allerdings vorteilhaft.« – »Wenn es gar nicht nötig wäre, ein Grab zu öffnen?« – »Wieso?« – »Welch eine Ersparnis an Zeit und Mühe! Sehen Sie diese große Reihe von Erbbegräbnissen.« – Ah, ich errate, was Sie meinen. Der Gedanke ist allerdings gut.« – »Es muß sich bei einer solchen Anzahl von Grüften doch jedenfalls eine Leiche finden, die das erforderliche Alter hat.« – »Man sollte es wenigstens meinen.« – »Lassen Sie uns sehen! Diese unheimlichen Schlafzimmer sind meist nur mit Gittertüren verschlossen, durch die man sehen kann. Vielleicht gewahren wir eine Inschrift, die uns als Wegweiser dienen kann.«
Sie schritten nun an den Begräbnissen hin, um nach Inschriften zu suchen. Nach einiger Zeit blieb Cortejo vor einer der Gittertüren stehen und sagte:
»Lesen Sie, Señor Sekretario.« – »Wo?« – »Da drin an der hinteren Wand.«
Landola trat herzu, blickte durch das Gitter und sah verschiedene Steine mit Inschriften, deren Zahl bewies, daß die Gruft ziemlich gefüllt sein müsse.
»Sie meinen die oberste Inschrift?« fragte er. – »Ja.« – »Hm. Der Tote ist Bankier gewesen, wie hier steht.« – »Das ist nicht die Hauptsache.« – »Sechsundfünfzig Jahre alt.« – »Das paßt.« – »Vor achtzehn Jahren gestorben.« – »Das paßt ebensogut, vielleicht noch besser. Was meinen Sie?« – »Hm. Sie haben recht. Wie aber den richtigen Sarg finden?« – »Vergleichen Sie die anderen Inschriften.« – »In welcher Beziehung?« – »Bezüglich der Todestage.«
Landola folgte der Aufforderung und meinte dann:
»Ich verstehe Sie. Dieser Bankier ist die letzte Leiche, die hier beigesetzt wurde.« – »Was folgt daraus?« – »Daß sein Sarg wohl am besten erhalten ist.« – »Und daß dieser Sarg sehr leicht zu finden sein wird. Die Hauptfrage aber muß ich doch vorher an Sie stellen.« – »Fragen Sie!« – »Werden Sie da unten Ihre Kaltblütigkeit bewahren?« – »Donnerwetter! Meinen Sie etwa, daß ich mich fürchte?« – »Hm. Es ist ein Unterschied, einem Lebenden mit der Waffe in der Faust entgegenzutreten oder des Nachts in ein Begräbnis hinabzusteigen.« – »Pah!« – »Einen Sarg zu öffnen!« – »Abermals pah!« – »Einer Leiche in das Gesicht zu sehen!« – »Kleinigkeit.« – »Und nun gar diese Leiche anzurühren, um sie zu entkleiden und ihr ein anderes Gewand anzulegen.« – »Hole Sie der Teufel! Mir ist es sehr egal, wem ich den Rock aus– und anziehe, einem Lebenden oder einem Toten. Sehen Sie zu, daß Sie nicht vor Angst davonlaufen!« – »Meiner bin ich vollständig sicher. Aber Ihr Bruder?« – »Der bekommt die Leiche gar nicht zu sehen. Er steht am Tor Wache und darf nicht wissen, was wir mit dem Toten machen.« – »Er muß aber doch erfahren, was wir hier wollen.« – »Nur so viel, wie unumgänglich notwendig ist.« – »So haben wir also gefunden, was wir suchten. Kommen Sie nun, um uns noch nach einer Leiter umzusehen!«
Sie fanden das Gesuchte in einem Winkel des Kirchhofes, wo der Totengräber seine Werkzeuge aufzubewahren pflegte. Nun war der Zweck ihres Kirchhofbesuches erfüllt, und sie begaben sich nach der Stadt zurück, wo sie einen Kleiderhändler aufsuchten, bei dem sie alles fanden, was sie wünschten.
11. Kapitel
Als Cortejo und Landola ihren Gasthof erreichten, war es Zeit, das Mittagsmahl einzunehmen. Sie zogen vor, auf ihrem Zimmer zu essen, anstatt dies in der öffentlichen Gaststube zu tun. Es wurde auch für Grandeprise ein Gedeck bestellt, der gerufen wurde.
Die feinen Speisen schienen ihm nicht recht zu munden. Es war ihm überhaupt anzusehen, daß er sich nicht in der rosigsten Laune befand. Als Landola darüber eine Bemerkung machte, antwortete er mürrisch:
»Der Teufel mag gute Laune haben, aber ich nicht, Master!« – »Warum nicht?« – »Was soll ich in Mexiko, diesem langweilen Nest? Schlafen etwa? Ich habe anderes und Besseres zu tun.« – »Ah! Sie haben Langeweile?« – »Ja.« – »Gehen Sie aus! Sehen Sie sich die Stadt an!« – »Ich kenne sie genugsam. Ich muß nach Santa Jaga.« – »Wir reisen ja mit.« – »Aber wann?« – »Sobald wir unsere Angelegenheiten geordnet haben.« – »Wann wird das sein?« – »Hm! Das ist unbestimmt. Eigentlich haben wir nur eine Kleinigkeit vor. Wir könnten bereits morgen fort. Aber es ist eine Schwierigkeit dabei, die die Abreise verzögert.« – »Eine Schwierigkeit? Das ist unangenehm. Aber eine solche läßt sich doch meist überwinden. Vielleicht auch diese.« – »Wir hoffen es. Wir werden schon den Mann finden, dem wir uns anvertrauen können.«
Grandeprise blickte schnell auf, sah Landola forschend an und fragte dann:
»Den richtigen Mann? Dem Sie Vertrauen schenken können? Donnerwetter zu mir hat man also kein Vertrauen?« – »Hm!« brummte Landola bedenklich. »Ja und nein.« – »Warum nein?« – »Das läßt sich nicht sagen.« – »Es handelt sich also um ein Geheimnis?« – »Ja.« – »Um eine Geschäftssache?« – »Nein.« – »Um eine Sache, in der ich Ihnen nicht helfen könnte?«
Landola schüttelte langsam den Kopf und antwortete:
»Sie zwingen mich förmlich zu einer Erklärung. Ich will sie Ihnen geben. Es handelt sich um eine Sache, in der Sie uns allerdings sehr gut helfen könnten und die wir in diesem Fall so schnell beenden würden, daß es uns möglich wäre, bereits morgen früh nach Santa Jaga aufzubrechen, aber – aber …« – »Was aber?« – »Hm! Wir dürfen uns Ihnen nicht anvertrauen.«
Grandeprise brannte vor Begierde, seinen Bruder zu sehen. Er hoffte, ihn im Kloster della Barbara zu finden, und konnte die Stunde, in der das geschehen sollte, kaum erwarten. Darum war ihm ein längerer Aufenthalt in Mexiko zuwider, und daher meinte er jetzt, indem er die Brauen finster zusammenzog:
»Ich fordere Sie auf, mir den Grund zu sagen, warum Sie kein Vertrauen haben können.« – »Das ist mir kaum möglich! Weil es uns unendlichen Schaden machen kann. Wir müssen gewärtig sein, Sie hindern uns, unser Unternehmen auszuführen.« – »Der Teufel wird Sie hindern, nicht aber ich!« – »O doch! Denn Sie sind ja ein Freund dessen – ah, da bin ich doch bereits zu weit gegangen.«
Das erhöhte die Begierde des Jägers noch mehr.
»Wessen Freund bin ich? Heraus damit!« – »Nun, der Freund Landolas, gegen den unser Unternehmen gerichtet ist.« – »Ich soll dessen Freund sein? Da täuschen Sie sich gewaltig!«
Grandeprise ballte die Rechte und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Speisegeschirr emporsprang. So wollte ihn Landola haben.
»Wissen Sie denn eigentlich, was er ist?« fragte Grandeprise. – »Ich? Ich sollte es nicht wissen? Wissen Sie es denn?« – »Ja.« – »Ein Seeräuber?« – »Richtig! Ein Seeräuber! Aber noch viel, viel mehr. Ich jage ihm nach seit Jahrzehnten. Ich suche und forsche nach ihm, wie der Satan nach der Seele. Und wenn ich ihn finde, soll es allerdings auch ganz so sein, als ob er in die Krallen des Teufels geraten sei.«
Grandeprise hatte das mit knirschenden Zähnen gesprochen. Es überlief Landola doch ein eigentümliches Gefühl, aber er ließ sich nichts merken. Er tat, als ob er über die Worte des Jägers ganz entzückt sei und rief:
»Holla! Wenn wir da in Ihnen einen Verbündeten gefunden hätten! Welch ein Glück für uns!« – »Also Sie wollen ihm wirklich ans Leder?« – »Das versteht sich!« – »Und es ist wahr? Sie täuschen mich nicht?« – »Fällt uns gar nicht ein.« – »Aber warum war sein Agent so freundlich mit Ihnen?« – »Werden wir diesen Menschen etwa einweihen?« – »Das ist richtig. Also wenn Sie wirklich dem Landola in die Haare wollen, so leiste ich Ihnen von Herzen gern Gesellschaft. Sagen Sie nur, was ich tun soll.«
Um den Schein zu wahren, blickte Landola Cortejo fragend an. Dieser nickte zustimmend mit dem Kopf und sagte:
»Ich denke, daß wir ihm vertrauen können. Er hat ein ehrliches Gesicht und wird uns nicht täuschen.« – »Täuschen? Ich Sie täuschen?« rief Grandeprise. »Señores, stellen Sie mich auf die Probe, so werden Sie sehen, daß Sie sich auf mich verlassen können.« – »Wollen wir es wagen?« fragte Landola. – »Ja, ich habe Vertrauen zu ihm«, antwortete Cortejo. – »Wagen Sie es!« bat der Jäger. »Sie werden einen tüchtigen Kameraden und Helfer in mir finden!« – »Nun gut!« meinte Landola. »Sie wissen auch, daß er Seeräuber war?« – »Nur zu gut.« – »Kennen Sie den Namen seines Schiffes?« – »Ja. Der Lion.« – »Ich denke der Kapitän des Lion hieß anders.« – »Er hieß Grandeprise«, antwortete der Jäger grimmig. »Aber dieser Grandeprise war eben kein anderer als Landola.« – »Ah, Sie sind allerdings genau unterrichtet!« – »Vielleicht besser als Sie!« – »Warum mag er sich einen falschen Namen beigelegt haben?« – »Meinetwegen.« – »Ihretwegen? Wieso?« fragte der verkappte Räuber erstaunt. – »Weil ich selbst Grandeprise heiße. Er wollte meinen Namen schänden. Die Welt sollte glauben, daß ich der Räuber sei.« – »Wenn das wirklich wahr ist, so begreife ich Ihren Haß.« – »Ah, Haß ist nur ein Mailüftchen gegen den Sturm, den ich im Innern fühle. Sie sehen also ein, daß ich aufrichtig bin und Sie nicht täusche. Also Ihr gegenwärtiges Unternehmen ist gegen ihn gerichtet?« – »Ja.« – »Um was handelt es sich?« – »Um einen kleinen Spaziergang nur.« – »Wohin?« – »Nach dem Gottesacker.« – »Ich gehe mit.« – »Auch des Nachts?« – »Ist mir ganz gleich. Aber was wollen Sie dort?« – »Einer Teufelei Landolas auf die Spur kommen.« – »Ah, ich beginne zu begreifen!« – »Schön! Wissen Sie, daß Landola früher in der Hauptstadt war?« – »Das ist sehr wahrscheinlich.« – »Er hatte eine Geliebte.« – »Armes Mädchen!« – »Die Sache hatte Folgen; darum drang sie auf die Heirat.« – »Hätte sie doch lieber den Satan geheiratet.« – »Sie heiratete weder den Satan, noch Landola. Sie erhielt einen anderen Bräutigam, und der war nicht weniger grausig als jene beiden.« – »Das möchte ich bezweifeln.« – »O doch, denn es war der Tod!« – »Alle Wetter! Sie starb?« – »Ja.« – »Das heißt, sie mußte sterben?« – »Wir vermuten es.« – »Wieso?« – »Er war aufrichtiger gewesen, als es sich eigentlich mit seiner Sicherheit vertrug.« – »Sie ahnte wohl, wer er sei?« – »So schien es zu sein. Als er sie verlassen wollte, dachte sie, ihn zu verraten. Am Morgen darauf war sie eine Leiche.« – »Ah, er hat sie ermordet?« – »Jedenfalls. Ich hatte eine Ahnung von dem Hergang und ließ Ärzte kommen. Sie untersuchten die Leiche, konnten aber nichts Verdächtiges finden.« – »Keinen Stich?« – »Nein.« – »Keinen Hieb oder Schlag?« – »Nein.« – »Keine Spur von Vergiftung?« – »Gar nichts.« – »Und sie war am Abend noch gesund gewesen?« – »Vollständig.« – »Aber ihr Tod mußte doch eine Ursache haben.« – »Die Ärzte erklärten, daß der Schlag sie getroffen habe.« – »Hm! Es ist doch eigentümlich, daß er am Abend vorher bei ihr war, sich mit ihr stritt und dann des Morgens war sie eine Leiche.« – »Eben das kam auch mir bedenklich vor. Aus diesem Grunde ließ ich sie ja untersuchen!« – »Warum nahmen gerade Sie sich dieser Sache an?« – »Ja. Ah, das habe ich noch gar nicht gesagt? Ich war der Oheim dieses armen Mädchens.« – »Das ist etwas anderes. Es geschah also nichts gegen ihn?« – »Nein. Ich hatte ihn festnehmen lassen. Er wurde freigelassen, und mich bestrafte man wegen böswilliger Anzeige. Von da an verfolgte er mich und die Meinigen unablässig. Ich wurde arm; die Kinder starben auf unbegreifliche Weise, meine Frau ebenso, und stets, wenn ein solcher Fall eintrat, ließ Landola sich sehen.« – »Ja, er ist ein Beelzebub!« – »Nun packte mich ein fürchterlicher Grimm. Ich konnte ihm auf gesetzlichem Weg nichts anhaben, ich schwor, daß er früher oder später meiner Rache verfallen solle.« – »Ganz mein Fall. Geradeso wie bei mir.« – »Ich suchte, ihn zu finden, aber ich traf ihn nie. Jahre vergingen. Da endlich traf ich vor einiger Zeit einen alten Verbrecher, der im Spital starb. Kurz vor dem Tode erzählte er, daß er ein Gehilfe von Landola gewesen sei. Von ihm erfuhr ich den Namen des Agenten Gonsalvo Verdillo in Verakruz. Auch hörte ich, daß Landola sehr bald in Santa Jaga zu treffen sein werde.« – »Ah, wird das stimmen? Wird das wahr sein?« unterbrach ihn Grandeprise eifrig. – »Ich bin überzeugt davon; denn alles, was der Kerl erzählte, hat sich als wahr erwiesen.« – »Es scheint, Sie haben noch mehr erfahren?« – »Allerdings.« – »Wohl auch über den Tod Ihrer Nichte?« – »Ja. Landola hatte einst in Gegenwart seiner Spießgesellen, allerdings in der Betrunkenheit, davon gesprochen.« – »Er war der Mörder? Nicht?« – »Ja.« – »Aber wie kam es, daß man keine Spur fand?« – »Er hatte sie weder erschlagen noch erstochen noch vergiftet. Er hatte ihr den Tod auf eine Weise gegeben, daß man die einzige Spur, die es gab, nur mit größter Mühe hätte finden können.« – »Da bin ich hochbegierig, es zu erfahren.« – »Und doch ist es sehr einfach. Wissen Sie, wie man einen Menschen, der reiches, volles Haar hat, schnell, fast augenblicklich töten kann, ohne daß ein sichtbares Zeichen des Mordes zurückbleibt?« – »Nein. Was hat das Haar dabei zu schaffen?« – »Das Haar ist es eben, das die Spur verbirgt.« – »Ah, nun denke ich daran! Ich habe einmal von einem solchen Fall erzählen hören. Eine Frau hatte ihrem Mann im Schlaf einen feinen Nagel durch den Kopf geschlagen.« – »So ist es. Einen Nagel ohne Kuppe oder Knopf. Den verdeckt das Haar vollständig.« – »Und so soll Ihre Nichte gestorben sein?« – »Ja, an einem Nagel.« – »Aber hat sie denn geschlafen? Sie hatte sich ja mit Landola gestritten und veruneinigt!« – »Vielleicht ist er später wiedergekommen und bei ihr eingestiegen.« – »Hm! Und dieser Sache wollen Sie nachforschen?« – »Ja.« – »Auf dem Kirchhof, und zwar des Nachts?« – »Allerdings.« – »Das heißt doch im geheimen?« – »Freilich.« – »Warum nicht am Tag und öffentlich?« – »Fällt mir nicht ein. Ich würde als Leichenschänder ergriffen und zum zweiten Male unschuldig bestraft eines solchen Halunken wegen!« – »Warum machen Sie nicht Anzeige?« – »Ich hatte damals auch Anzeige gemacht.« – »Man würde nun den Nagel finden.« – »Oder nicht. Es ist möglich, daß Landola gelogen oder der andere sich getäuscht hat. Am besten ist es, nachzusehen, ehe man Anzeige macht.« – »Hm! Sie mögen recht haben. Aber selbst wenn sich der Nagel findet, was nützt es Ihnen?« – »Dann ist ja der Mord erwiesen.« – »Aber der Mörder ist nicht zu haben!« – »Pah! Den finde ich in Santa Jaga.« – »So wollen Sie ein Grab öffnen? Das ist schwer.« – »Kein Grab. Ich habe nur die Tür eines Begräbnisses aufzuschließen und dann hinabzusteigen, um den Sarg zu öffnen.« – »Das ist etwas anderes. Das ist nicht schwer.« – »Wollen Sie uns dabei helfen?« – »Gern. Was soll ich tun?« – »Das Leichteste, was es dabei gibt. Sie sollen Wache stehen, damit wir nicht überrascht werden.« – »Pah! Wenn Sie nichts Schwierigeres verlangen! Das ist ja gar nicht der Rede wert!« – »Es stellt sich nicht gern ein jeder auf den Kirchhof.« – »Ich bin keine Memme. Also Sie nehmen meine Dienste an?« – »Ja.« – »Aber dann …« – »Wenn der Nagel sich findet, reiten wir sofort nach Santa Jaga, um den Mörder festzunehmen.« – »Das ist es, was ich will. Unternehmen wir also die Sache so bald wie möglich.« – »Gleich heute?« – »Mir am liebsten.« – »Zu welcher Stunde?« – »Um Mitternacht. In der sogenannten Geisterstunde haben wir am wenigsten Störung zu erwarten.« – »Störung wohl überhaupt nicht. Ich wollte, der Abend wäre da, daß die Sache beginnen könnte.«
Dieser Wunsch ging Grandeprise allerdings nur langsam, das heißt mit dem Lauf der Sonne in Erfüllung. Er legte sich wieder hinunter in den Hof, um voller Ungeduld den Einbruch des Abends zu erwarten.
Cortejo ging am Nachmittag aus und brachte mehrere Schlüssel mit, von denen er hoffte, daß einer schließen werde. War das nicht der Fall, so sollte das Begräbnis mit Gewalt geöffnet werden.
»Ist dieser Grandeprise ein leichtgläubiger Kerl!« sagte Landola. – »Er ist unbefangen. Ihre Erzählung hatte viel Unwahrscheinlichkeiten.« – »So haben wir wenigstens einen Wächter.« – »Und dann?« – »Wird es uns nach Santa Jaga begleiten. Er muß als Zeuge dienen, wenn der Pater die Anwesenheit Ihres Bruders in Abrede stellen sollte.«
Endlich wurde es dunkel. Die Sterne stiegen herauf. Die drei nahmen ihr Abendmahl ein und verließen eine Stunde vor Mitternacht den Gasthof. Dies fiel keineswegs auf. Die Bevölkerung der Hauptstadt ist gewöhnt, bis zur späten Abendstunde zu promenieren oder bis zum frühen Morgen auf Festen und Unterhaltungen zu verweilen.
Am Gottesacker angekommen, ließen sie Grandeprise als Wache zurück, trafen ihre Vorbereitungen, und alles ging nach Wunsch, so daß sie mit der Leiche bald am Erbbegräbnis der Rodriganda anlangten.
Es führte eine Treppe hinab.
»So wollen wir machen, daß wir hier zu Ende kommen. Unser Präriejäger wird Langeweile haben.« – »Er wird sich nicht erklären können, warum wir so lange ausbleiben.« – »Er mag denken, daß wir nach dem Nagel suchen müssen.«
Cortejo zog einen der Schlüssel hervor und legte dann die Hand auf den Drücker, um einen festen Halt zu haben. Der Drücker gab nach.
»Santa Madonna!« flüsterte er erschreckt. – »Was gibt es?« fragte Landola. – »Die Tür ist offen!« – »Unmöglich!« – »Doch!« – »Sie irren sich!« – »Greifen Sie her.«
Landola trat näher und überzeugte sich, daß Cortejo sich nicht geirrt hatte.
»Donnerwetter«, sagte er, »es wird doch niemand unten sein!« – »Das wäre ein Schreck!« – »Oder ist der Totengräber heute unten gewesen und hat vergessen, die Tür wieder zu schließen?« – »Auch das ist möglich. Wir müssen horchen.«
Cortejo schob die Tür weit auf, und nun lauschten die beiden eine ganze Weile mit angestrengten Sinnen hinab. Es ließ sich kein Laut vernehmen, und nicht das leiseste Lüftchen regte sich.
»Pah!« meinte Landola. »Ich weiß, wie es zugeht. Es hat einer Ihrer Schlüssel geschlossen, ohne daß Sie es merkten.« – »Sollte das der Fall gewesen sein?« fragte Cortejo, diese Angabe stark bezweifelnd. – »Es ist ja gar nicht anders möglich.« – »Aber ich müßte es doch gefühlt haben, wenn der Riegel dem Druck eines meiner Schlüssel nachgegeben hätte.« – »Es kann Ihnen dies ganz leicht entgangen sein. Sie haben Furcht, Sie sind aufgeregt. Ihre Nerven sind nicht zuverlässig.« – »Möglich. Aber lassen Sie uns noch einmal horchen.«
Sie taten es, hörten aber nichts Beunruhigendes.
»Dieses Horchen ist überflüssig, es bringt uns nur um unsere kostbare Zeit. Lassen Sie uns hinabgehen.« – »Aber vorsichtig! Erst ohne den Toten.« – »Gut. Brennen Sie an!«
Sie traten ein und schoben die Tür leise wieder an. Dann zog Cortejo die Laterne hervor, um sie anzubrennen. Als das Flämmchen aufleuchtete, schritten sie leise und behutsam die Treppe hinab, Landola voran und Cortejo leuchtend hinter ihm her.
Sie erreichten das eigentliche Gruftgewölbe, ohne etwas Verdächtiges zu bemerken.
»Leuchten Sie umher«, gebot Landola.
Cortejo gehorchte. Auch jetzt konnten sie nicht das mindeste Beunruhigende finden.
»Es ist so«, meinte Landola. »Ihr Schlüssel hat geschlossen, ohne daß Sie es gemerkt haben. Lassen Sie uns an die Arbeit gehen. Wo ist der Sarg Don Ferdinandos?« – »Hier«, antwortete Cortejo.
Er deutete dabei auf einen Sarg, an dessen Fußseite in goldenen Lettern der Name »Don Ferdinando, Graf von Rodriganda« zu lesen war.
»Natürlich leer«, meinte der Gefährte. – »Leider.« – »Warum leider?« – »Ich wollte, der Tote läge darin.« – »Ah!« – »Oder der Teufel, damit ich erfahren könnte, ob Ihre Prahlerei wahr ist, daß Sie ihn, falls er Ihnen entgegenspränge, um Feuer bitten würden.« – »Ich würde es tun, Señor Cortejo.« – »Ich glaube das nicht, Señor Landola. Wenigstens in dieser Verkleidung nicht.« – »Warum nicht?« – »Mit Ihrem natürlichen Gesicht können Sie ihm getrost standhalten, er kennt Sie und weiß, daß Sie ihm auf keinen Fall entgehen können. Mit dem Kleister im Gesicht aber wären Sie ihm unbekannt, und da würde er Sie doch beim Kragen nehmen.« – »Meinen Sie?« lachte Landola. »Wollen es versuchen. Also herab mit dem Deckel und heraus mit dem Teufel!«
Ohne zu beachten, daß der Deckel des Sarges seinem Griff ganz ungewöhnlich schnell nachgab, stieß er denselben herab. Im nächsten Augenblick aber entfloh dem Mund dieser beiden Männer ein Ruf des heftigsten Schrecks. In dem Sarg nämlich lag eine lange Gestalt mit einer Nase, die dem Schnabel des Geiers glich.
Die Augen der beiden Verbrecher drohten aus ihren Höhlen zu treten und starrten mit angstvollem Blick in das Gesicht des rätselhaften Toten.
12. Kapitel
Um die Situation zu begreifen, in die Landola und Cortejo geraten waren, ist es notwendig, nach Verakruz zurückzugehen, wo Kurt mit Geierschnabel und Kapitän Wagner mit dem Matrosen Peters sich nach dem Bahnhof begaben, um sich nach den beiden Flüchtlingen zu erkundigen.
Als sie auf dem Bahnhof anlangten, bemerkten sie einen französischen Soldaten. Er trug den Arm in der Binde und schien soeben als Weichensteller funktioniert zu haben.
Kurt trat auf ihn zu und fragte ihn im reinsten Französisch:
»Sind Sie hier angestellt, Kamerad?«
Der Soldat erkannte mit seinem geübten Blick sofort, daß er einen Offizier in Zivil vor sich habe.
»Ja, Monsieur«, antwortete er in einem sehr höflichen Ton. »Ich bin blessiert und warte auf das Schiff, um nach der Heimat zu gehen. Bis dahin mache ich mich nützlich, um einige Centimes zu Tabak zu verdienen.«
Kurt griff in die Tasche und gab ihm ein Fünffrankenstück.
»Hier, Kamerad, rauchen Sie! Wie lange sind Sie heute hier beschäftigt?«
Der Mann nahm das Geldstück, griff zum Dank salutierend an seine Mütze und erwiderte:
»Ich danke Ihnen Monsieur. Ich bediente bereits drei Züge.« – »Wann ging der letzte ab?« – »Vor vielleicht einer Stunde.« – »Wohin?« – »Nach Lomalto. Weiter geht es nicht.« – »Sind Zivilisten mitgefahren?«
Der Soldat machte ein sehr pfiffiges Gesicht, kniff die Augen listig zusammen und antwortete:
»Eigentlich nicht.« – »Aber uneigentlich wohl?« – »Das darf ich nicht verraten.« – »Warum nicht?« – »Ich bin Weichensteller, und der, der sie mitnahm, ist mein Vorgesetzter.« – »Gut, er hat sie also nicht mitgenommen. Wie viele Personen sind es gewesen?« – »Oh, nur drei. Sie hätten recht gut im Kupee des Zugführers Platz gefunden.«
Kurt wußte nun ganz genau, daß sie wirklich in diesem Kupee mitgefahren waren. Er fragte weiter:
»Wie sahen sie aus?«
Der Soldat beschrieb sie. Als er fertig war, meinte der Kapitän:
»Sie waren es, sie waren es! Aber wer der dritte gewesen ist, das kann ich nicht sagen. Bei mir an Bord war er nicht mit.« – »Wir werden es schon noch erfahren. Wann geht der nächste Zug?« – »In drei Stunden erst. Die Maschine muß von Lomalto wiederkommen. Sie bringt mehrere Wagen voll Kameraden mit.« – »Ein Güterzug geht nicht vorher?« – »Nein.« – »Ich danke, Kamerad!«
Kurt drehte sich zu den drei Gefährten und schritt mit ihnen davon.
»So sind sie also entkommen!« sagte der Kapitän. »Und daran bin ich allein schuld. Was ist da zu tun?« – »Wir müssen uns in Geduld fassen, lieber Freund«, antwortete Kurt. »Jedenfalls sind sie nach Mexiko. Leider gehen mir da drei volle Stunden verloren. Ich hoffe jedoch, sie in Mexiko abzufassen.« – »Ah, ich habe einen Boten abzusenden, der nach der Hauptstadt und dann nach der Hacienda del Erina soll, um meine Schiffsberichte zu überbringen«, meinte der Kapitän. »Würden Sie ihm erlauben, sich Ihnen anzuschließen, Herr Leutnant?« – »Ganz gern, vorausgesetzt, daß er mir nicht hinderlich wird.« – »Das befürchte ich nicht. Würde Ihnen hier mein Peters recht sein?« – »Sogar angenehm. Er kennt auch wohl die beiden Flüchtlinge?« – »Genauer noch als ich. Wie steht es, Peters?«
Der Gefragte zog eine sehr erfreute Miene und antwortete:
»Hm, ich möchte wohl, Kapt‘n.« – »Du kannst doch ein wenig Spanisch?« – »Na, was man so für andere braucht.« – »Und ein paar Worte Französisch?« – »Genug, um ihnen sagen zu können, wie gewaltig gut ich ihnen bin.« – »So komme mit an Bord! Ich will die Sachen in Ordnung bringen, und du mußt deine Instruktion erhalten. Wo treffen wir uns wieder, Herr Oberleutnant?« – »Am besten in der Tabagie hier am Bahnhof.« – »So bitte ich, mich einstweilen zu beurlauben.« – »Gehen Sie immerhin! Zu dem, was wir noch zu besprechen haben, gibt es dann auch noch Zeit!«
Der Kapitän schritt mit Peters dem Wasser zu. Kurt aber kehrte um und begab sich wieder nach dem Bahnhof, Geierschnabel natürlich an seiner Seite. Er trat sofort in die Expedition des Stationschefs, der ihn mit neugierigem Blick empfing.
»Darf ich fragen, wann der nächste Zug nach Lomalto geht?« fragte Kurt, obgleich er bereits von dem Soldaten Auskunft erhalten hatte.
Der Beamte blickte nach der Uhr.
»In zweieinhalb Stunden«, antwortete er. »Wünschen Sie vielleicht mitzufahren?« – »Ja.« – »Tut mir leid. Zivilisten und Fremde sind ausgeschlossen.« – »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle.«
Kurt zog ein Papier aus der Tasche und reichte es dem Chef. Dieser hatte kaum die wenigen Zeilen gelesen, so machte er eine tiefe Referenz und sagte:
»Ich bin Ihr Diener, Herr Leutnant. Wie viele Plätze brauchen Sie?« – »Drei.« – »Sie werden ein Kupee erster Klasse erhalten.« – »Danke! Hat der Zug Anschluß an die Diligence?« – »Der vorige, aber dieser nicht. Überhaupt ist diese Diligence ein wahrer Marterkarren, dem ich mich niemals anvertrauen möchte. Wünschen Sie, recht schnell in der Hauptstadt zu sein?« – »Ja.« – »So rate ich Ihnen, zu reiten.« – »Ich habe keine Pferde.« – »Oh, hier hat jedermann Pferde. Halten Sie sich nur einige Zeit in diesem Land auf, so sind Sie geradezu gezwungen, sich Pferde zu kaufen.« – »Ich beabsichtigte, das in der Hauptstadt zu tun.« – »Warum dort, wo sie um vieles teurer und doch nicht besser sind?« – »Hat man bereits hier Gelegenheit?« – »Eine ganz vortreffliche sogar. Ich selbst habe einige hochfeine Tiere dastehen. Es waren Privatpferde von Offizieren, die nach der Heimat zurückkehrten und sich nicht mit ihnen schleppen wollten. Sie sind billig. Wollen Sie sich dieselben ansehen?« – »Zeigen Sie.« – »Kommen Sie. Wenn wir einig werden, brauchen Sie in Lomalto auf keine Diligence zu warten, und ich verlade Ihnen die Tiere bis dahin ohne alle Kosten.«
Der Handel wurde abgeschlossen. In Zeit von einer halben Stunde befand Kurt sich im Besitz von drei braven Pferden, die alles zu halten schienen, was der Chef versprochen hatte.
»Gott sei Dank!« meinte Geierschnabel. »Nun kann ich meine Beine endlich wieder einmal über ein Pferd hängen. Wäre das nicht bald geworden, so hätte ich aus lauter Verzweiflung versucht, mich auf meine Nase zu setzen und auf ihr im Galopp davonzureiten.«
Es fehlte wohl noch eine Stunde bis zum Abgang des Zuges, als Kapitän Wagner mit Peters erschien.
»Junge, kannst du reiten?« rief Geierschnabel dem letzteren entgegen. – »Warum?« fragte Peters. – »Wir haben Pferde gekauft. Von Lomalto bis Mexiko wird geritten. Weißt du, was ein Sattel ist?« – »Ein Sattel ist ein Ding, von dem mich keiner herunterbringt.« – »Wirklich?« – »Ja. Denkst du etwa, in den Seemarschen gibt es keine Pferde? Ich saß schon als Junge auf dem wildesten Hengst.« – »Das ist dein Glück, wir haben keine Zeit, dich alle fünf Minuten sechsmal aufzuheben.«
Sie setzten sich zusammen, und Wagner erzählte in kurzem sein Zusammentreffen mit Don Ferdinando und die Reise nach der Südseeinsel. Das alles war Kurt bereits aus der Erzählung Geierschnabels bekannt, nach dessen Bericht er nun dem Kapitän erzählte, was seit der Landung in Guaymas geschehen war. Wagner hörte mit der größten Spannung zu. Am Schluß rief er bestürzt:
»So sind sie also abermals verschwunden?« – »Leider ja. Aber ich hoffe zu Gott, daß es mir gelingt, ihre Spur aufzufinden. Und dann wehe denen, mit denen ich abzurechnen habe.« – »Vielleicht haben wir bereits ihre Spur«, meinte Geierschnabel. – »Wieso?« fragte Kurt. – »Hm! Ich habe so meine Gedanken. Wohin gehen dieser Landola und dieser Cortejo? Jedenfalls dahin, wo die anderen sind.« – »Das kann richtig sein; wir müssen die beiden auf alle Fälle wiederfinden. Dann werden wir auch erfahren, welches Ziel sie haben.« – »Aber das kann lange dauern«, sagte Wagner. »Ich darf meine braven Jungens nicht so lange der Fieberluft von Verakruz aussetzen.« – »So suchen Sie einen nahen, aber gesunden Hafen auf.« – »Gut, ich werde im Bermeja-Busen warten.«
Der brave Kapitän war über das Schicksal seiner Freunde so betrübt, daß es schwer wurde, ihn zu beruhigen. Er erging sich in den kräftigsten Ausdrücken gegen Cortejo und Genossen; dem wurde aber sehr bald ein Ende gemacht, indem das Signal zum Einsteigen ertönte.
Kurt überzeugte sich, daß die drei Pferde gut verladen waren, dann bestieg er mit Peters und Geierschnabel das ihm angewiesene Kupee. Der Abschied von Wagner war ein kurzer, aber herzlicher. Noch als der Zug in Bewegung war, schwenkte er den Hut und rief:
»Gute Fahrt, Herr Leutnant! Bringen Sie alle glücklich herbei und schlagen Sie den anderen, den Schuften, die Köpfe zu Brei.«
Nach zwei Stunden erreichten sie Lomalto. Dort kam der Zugführer selbst herbeigesprungen, um dienstfertig das Kupee zu öffnen. Kurt hatte bemerkt, daß es derselbe sei, der vorher von hier nach Verakruz gefahren war. Jedenfalls hatte der weichenstellende Soldat diesen und keinen anderen gemeint. Darum fragte er ihn, gleich auf den Strauch schlagend:
»Sie sind mit dem vorigen Zug mit drei Zivilisten von Verakruz hierhergefahren?«
Der Mann getraute sich nicht, eine Unwahrheit zu sagen.
»Ja, Monsieur«, antwortete er in unsicherem Ton. – »Befürchten Sie keine Unannehmlichkeiten«, beruhigte ihn Kurt. »Ich wünsche nur zu wissen, wohin sie sich gewandt haben.« – »Ah, ich danke! Sie sind nach Mexiko.« – »Wissen Sie das genau?« – »Ja. Sie saßen mit in meinem Kupee und erkundigten sich ganz genau nach dem gegenwärtigen Zustand des Weges nach der Hauptstadt.« – »Das kann nur zum Schein gewesen sein.« – »Nein, denn ich sah sie alle drei in die Diligence steigen, die hier an der Bahn hielt.« – »Ich danke.«
Kurt gab dem Soldaten ein Trinkgeld. Der Mann machte vor Freude, so glücklich davongekommen zu sein, die tiefste Referenz und beeilte sich dann, die Pferde in eigener Person auszuladen.
Nachdem einiger Proviant gekauft worden war, saßen die drei Männer auf und trabten davon. Geierschnabel, der hier bekannt war, hatte das Amt des Führers übernommen.
Als sie nach langem und beschwerlichem Ritt die Hauptstadt vor sich sahen, hatte sich Peters als guter Reiter bewährt; aber bei dem schlechten Weg war es ihnen doch nicht gelungen, die Diligence einzuholen, die von acht kräftigen, ausdauernden Pferden gezogen wurde. Sie wußten, daß der Wagen bereits am Vormittag die Hauptstadt erreicht hatte, während die Sonne sich jetzt zu senken begann.
»Wo nun die Kerle finden in einer solchen Stadt?« fragte Geierschnabel. »Geht zum Teufel mit Euren Straßen und Gassen, in denen man einer Posaune wegen arretiert wird. Im Urwald oder in der Prärie sollten mir die Halunken wohl schwerlich entkommen!« – »Ich kenne zwei Wege, sie zu finden«, meinte Kurt. – »Wirklich? Welche wären das?« – »Es sollte mich sehr wundern, wenn sie nicht versucht hätten, im Palast de Rodriganda Erkundigungen einzuziehen.« – »Donnerwetter, das ist richtig! Diesen Wigwam müssen wir aufzufinden suchen! Und der zweite Weg?« – »Sie wissen, daß Don Ferdinandos Sarg leer ist?« – »Freilich weiß ich das. Ich habe den famosen Toten lebendig gesehen.« – »Cortejo und Landola werden ahnen, daß unser Angriff gegen dieses leere Grab gerichtet sein wird. Sie werden also auch zuerst dafür sorgen, daß der leere Sarg mit irgendeiner Leiche gefüllt wird.« – »Das ist diesen Kerlen allerdings zuzutrauen. Master Leutnant, Sie sind ein zwar junger, aber bereits sehr scharfsinniger Kerl!« – »Danke! Wir müssen ihnen zuvorkommen.« – »Jawohl! Vorwärts also, in dieses alte Dorf hinein.«
In der Hauptstadt angekommen, stiegen sie vor dem ersten besten Hotel ab. Und dann begab sich Kurt, nachdem er sich einigermaßen restauriert hatte, nach dem Palast Rodriganda, der ihm genau beschrieben worden war.
Auch er wurde von dem Posten aufgehalten, und auch er erklärte, daß er zu dem Administrator wolle, worauf er passieren durfte. Der Verwalter befand sich dieses Mal in seinem Expeditionsbüro. Kurt gab im Vorzimmer seine Karte ab und wurde von dem Herrn selbst eingeladen, einzutreten.
»Womit darf ich Ihnen dienen, Herr Oberleutnant?« fragte der jetzt sehr freundliche Beamte. – »Ich muß um Verzeihung bitten, daß mich nur der Zweck zu Ihnen führt, mir eine kleine Privaterkundigung zu erbitten.« – »Ich stehe gern zu Diensten.« – »Hatten Sie vielleicht heute den Besuch eines Mannes, der sich für den Agenten des Grafen Rodriganda ausgab?« – »Allerdings. Er war bereits am Vormittag da. Hat Ihre Erkundigung einen bestimmten Zweck, Monsieur?« – »Allerdings. Nur fürchte ich, Ihnen lästig zu werden.« – »Ich stehe einem jeden, der höflich kommt und mir nicht ganz unsympathisch ist, sehr gern zur Verfügung.« – »War dies mit dem Mann auch der Fall?« – »Ganz und gar nicht«, lächelte der Franzose. »Er hat nicht die mindeste Auskunft erhalten.« – »Er wollte sich über Ihre Administration informieren?« – »Oh, er wollte noch mehr. Er wollte diese Administration aus meinen Händen in die seinigen nehmen.« – »Das dachte ich. Er nannte sich Don Antonio Veridante?« – »So ist es.« – »Ist Ihnen die Adresse dieses Mannes bekannt?« – »Nein.« – »Es liegt mir sehr viel daran, sie zu erfahren. Dieser Mensch ist nämlich ein außerordentlich gefährliches und raffiniertes Subjekt, das …« – »Ah, so kam er mir vor«, unterbrach ihn der Verwalter. – »Es ist möglich, daß er wiederkommt. In diesem Fall ersuche ich Sie dringend, ihn sofort festnehmen zu lassen und dem preußischen Geschäftsträger, Herrn von Magnus, Kunde zu geben. Er wird mich benachrichtigen, da ich für jetzt meine spätere Adresse noch nicht kenne.« – »Ihn arretieren? Würde ich diesen Schritt verantworten könnten?« – »Vollständig! Dieser Veridante ist nämlich Gasparino Cortejo, der Bruder jenes Pablo Cortejo, den Sie wohl kennen werden.« – »Ah, sehr, sehr gut! Er ist berüchtigt genug.« – »Und sein sogenannter Sekretär ist ein gewisser Henrico Landola, früher unter dem Namen Grandeprise, Kapitän des Piratenschiffes ›Lion‹ bekannt.« – »Ist dieser Sekretär auch hier?« – »Ja, er ist Cortejos Begleiter.«
Da fuhr der Franzose erschrocken zurück.
»Wie, Monsieur«, rief er, »solche Leute halten sich hier auf?« – »Ja. Sie sind beide geschminkt und verkleidet, und ihre Pässe sind gefälscht. Ich verfolge sie von Verakruz her.« – »Das ist mir genug. Sobald ich Cortejo wieder erblicke, lasse ich ihn festnehmen; darauf können Sie sich verlassen.«
Kurt klärte den Franzosen noch soweit auf, wie er es für nötig hielt, und begab sich dann zu Herrn von Magnus, um ihm die anvertrauten geheimen Skripturen zu übergeben. Er wurde mit Auszeichnung aufgenommen und brachte im Lauf der Unterhaltung den Privatzweck seines hiesigen Aufenthaltes zur Sprache.
Der Staatsmann hörte ihm aufmerksam zu und sagte:
»Ein ganzer Roman, wahrhaftig ein ganzer Roman! Meiner Hilfe sind Sie sicher, soweit es mir möglich ist. Also Sie wollen zunächst und vor allen Dingen Ihr Augenmerk auf das Begräbnis richten?« – »Es wird das geratenste sein.« – »Das meine ich auch. Nur muß ich Ihnen Vorsicht anempfehlen. Sie sehen wohl ein, daß zunächst eine geheime Besichtigung des Sarges vorgenommen werden möchte, natürlich aber im Beisein wichtiger Zeugen, deren Wort nicht anzufechten ist.« – »Ich bin ganz Ihrer Meinung, gnädiger Herr.« – »So bedarf es außer Ihnen und Ihren Begleitern nur noch eines Mannes, dessen Aussagen unanfechtbar sein müßten. Ich gestehe Ihnen offen, daß ich an Ihrer Stelle weder einen französischen, noch einen kaiserlichen Beamten wählen würde. Ich möchte da einen eingeborenen Mexikaner vorziehen. Wie wäre es mit dem Alkalden, der der Tochter Pablo Cortejos den Befehl überbrachte, die Stadt und das Land zu verlassen?«
Damit hatte der preußische Geschäftsträger gesagt, daß die Zeit kommen werde, wo weder ein Franzose noch ein Kaiserlicher mehr ein Wort zu sagen habe.
»Wird dieser Beamte meiner Bitte Folge leisten?« fragte Kurt. – »Gewiß. Er ist mein Bekannter. Ich werde Ihnen einige Zeilen für ihn mitgeben, wenn Sie es wünschen, Herr Oberleutnant.« – »Ich bitte ebenso herzlich wie dringend darum!«
Eine Viertelstunde später war Kurt mit diesen Zeilen unterwegs zum Alkalden, der den Brief entgegennahm, ohne den Überbringer groß zu beachten. Als er die Zeilen aber gelesen hatte, klärte sich seine ernste, fast finstere Miene zusehends auf. Er reichte Kurt die Hand und sagte:
»Herr von Magnus empfiehlt Sie mir in sehr freundlicher Weise. Er sagt mir, daß Sie in einer Angelegenheit zu mir kommen, in der es mir möglich sein dürfte, Ihnen einen Dienst zu erweisen. Darf ich Sie ersuchen, mir mitzuteilen, in welcher Weise ich mich Ihnen nützlich machen kann?« – »Es ist eine Angelegenheit zunächst privater Natur«, antwortete Kurt, »kann aber leicht eine Wendung annehmen, die sie vor das Forum des Kriminalrichters bringt.« – »Das ist ja das meinige. Es handelt sich also wohl um ein Verbrechen?« – »Um eine ganze Reihenfolge davon.« – »Welche erst zu entdecken sind? Ich vermute dies nämlich aus Ihrer Äußerung, daß die Angelegenheit eine Wendung annehmen kann, die sie vor den Strafrichter bringt.« – »In gewisser Beziehung haben Sie sehr richtig geraten, Señor. Welche Verbrechen geschehen sind, das ist so ziemlich festgestellt. Um dieselben zu verdecken, sollen aber neue verübt werden. Den Tätern bin ich auf der Spur, und ich hoffe, sie mit Ihrer freundlichen Beihilfe überraschen zu können.« – »Ich stelle mich Ihnen zur Verfügung«, meinte der Beamte unter einer sehr freundlichen Verbeugung. »Wenn auch leider gerade jetzt meine Amtsbefugnisse von den gegenwärtigen Verhältnissen sehr tangiert werden, so steht es doch vielleicht in meiner Macht, Ihnen behilflich zu sein. Sagen Sie mir nur, um was es sich handelt.« – »Es handelt sich um die Angelegenheit einer Familie, die Ihnen wohlbekannt sein dürfte. Oder sollten Sie von Graf Ferdinando Rodriganda nichts gehört haben?« – »Don Ferdinando? O nein. Ich habe mit ihm sehr oft zu konferieren gehabt.« – »So kannten Sie vielleicht auch seinen Verwalter oder Geschäftsführer?« – »Meinen Sie diesen Cortejo?« – »Ja.« – »Welcher die Lächerlichkeit begangen hat, eine politische Rolle spielen zu wollen?« – »Denselben.« – »Auch dieser ist mir bekannt. Er hat ja sehr dafür gesorgt, daß jedes Kind von ihm wissen muß. Stehen diese beiden Personen in einem Verhältnis zu der Ursache Ihres Besuches bei mir?« – »Gewiß. Es sind die Hauptpersonen, um die es sich handelt.« – »Sie meinen da doch wohl nur Cortejo, da Don Ferdinando nicht mehr lebt?«
Kurt schüttelte den Kopf und antwortete:
»Ich meine alle beide, denn Don Ferdinando lebt noch; er ist nicht tot, er ist nicht gestorben.«
Der Beamte blickte erstaunt und überrascht empor.
»Sie irren«, meinte er. »Oder sollten Sie von diesem Todesfall noch gar keine Kenntnis haben? Ich selbst bin ja bei dem Begräbnis des Grafen zugegen gewesen!« – »Das glaube ich gern, aber dennoch lebt der Graf. Sie haben nicht eine Leiche, sondern einen Scheintoten begraben helfen.« – »Das wäre ja ein ganz außerordentliches Vorkommnis. Aber, selbst wenn der Graf scheintot gewesen wäre, könnte er nicht mehr leben, er müßte in seinem Sarg längst gestorben sein. Und dann, wie hätte man erfahren können, daß er lebendig begraben wurde?« – »O Señor, er ist nicht in seinem Sarg gestorben, sondern man hat ihn aus demselben genommen, um ihm ein Schicksal zu bereiten, das noch schlimmer ist als der Tod. Er ist lange Jahre Gefangener oder vielmehr Sklave gewesen, hat aber doch endlich Gelegenheit gefunden, sich zu retten. Kaum aber ist er in sein Vaterland zurückgekehrt, so scheint ein neues Verbrechen an ihm begangen worden zu sein. Er ist abermals verschwunden.«
Es war ein eigentümlicher Blick, den der Alkalde auf den Sprecher warf. Er schien große Lust zu haben, an dessen Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln, und sagte unter einem sehr ungläubigen Schütteln des Kopfes:
»Was Sie da behaupten, Señor, das klingt ja fast wie ein Märchen. Darf ich um Aufklärung bitten?« – »Es ist ja mein Wunsch, Ihnen dieselbe zu geben, vorausgesetzt, daß Sie die nötige Zeit dazu zur Verfügung haben.« – »Ich habe sie. Nehmen Sie Platz und sprechen Sie!«
Der Beamte setzte sich in seine Hängematte und brannte sich als echter Mexikaner eine Zigarette an. Kurt mußte dasselbe tun, und nachdem er sich auf einen Stuhl niedergelassen hatte, begann er zu erzählen.
Der Alkalde hörte ihm zu, ohne ihn mit einem einzigen Worte zu unterbrechen. Selbst, als Kurt geendet hatte, machte er keine Bemerkung; er schnellte sich jedoch aus der Hängematte heraus und schritt in dem großen Amtszimmer hin und her. Dann blieb er vor dem Deutschen stehen und sagte:
»Junger Mann, ich weiß gar nicht, welcher Worte ich mich jetzt bedienen soll. Was Sie mir da erzählt haben, das klingt so unglaublich, daß man für Wahnsinn halten möchte, es für Wahrheit zu nehmen. Und dennoch klingt es ebensosehr glaubhaft. Sagen Sie mir doch gefälligst, ob Sie selbst überzeugt sind, daß sich alles so verhält, wie Sie es mir sagten.« – »Señor, ich habe die volle Überzeugung«, beteuerte Kurt. – »Gibt es nicht einen leisen, leisen Zweifel, gegen den Sie vielleicht doch zu kämpfen haben?« – »Ganz und gar nicht!« – »So lebt Don Ferdinando also wirklich noch?« – »Ja.« – »Sie wissen das aus dem Brief, den dieser Señor Sternau an seine Frau nach Deutschland geschrieben hat?« – »Aus diesem Brief, und sodann ist auch jener Jäger da, der den Grafen selbst gesehen hat.« – »Geierschnabel?« – »Ja. Und Kapitän Wagner mit seinen Matrosen.« – »Diese alle aber haben den Grafen früher nicht gekannt!« – »Sie wollen damit sagen, daß diese Personen infolgedessen nicht befähigt sind, den Grafen zu rekognoszieren?« – »Allerdings. Ihre Aussage würde noch nichts beweisen.« – »Aber Sternau, Mariano, Büffelstirn, Bärenherz und alle anderen, die mit ihm nach Mexiko kamen?« – »Sie können nichts sagen, da sie ja verschwunden sind.« – »So muß man versuchen, sie wiederzufinden!« – »Natürlich, natürlich. Meiner Hilfe dazu können Sie sicher sein, Señor. Es ist da aber notwendig, daß ich mit diesem Geierschnabel selbst spreche.« – »Ich werde ihn senden.« – »Nein, ich suche ihn selbst auf. Aber …« der Alkalde warf einen forschenden Blick auf Kurt. »Sie kommen vom Geschäftsträger Preußens. Befinden Sie sich nur in einem privaten Auftrag hier?«
Kurt antwortete ausweichend:
»Selbst wenn dies der Fall wäre, würde es meiner Angelegenheit wohl nicht zum Schaden gereichen.« – »Nein, aber Sie bedürfen der amtlichen Hilfe. Es fragt sich, von welcher Seite Sie diese erwarten und beanspruchen!« – »Sie sehen das daraus, daß ich zu Ihnen gekommen bin.« – »Ah, Sie waren bisher bei keinem Franzosen?« – »Nein.« – »Auch bei keinem Österreicher?« – »Auch nicht. Ich habe nur Herrn von Magnus in das Vertrauen gezogen. Daß ich auch den Verwalter der gräflichen Güter aufsuchte, geschah ja nur, um zu erfahren, ob die Gesuchten bereits bei ihm gewesen seien.« – »So wollen wir es dabei lassen. Ich glaube nicht, daß die Unterstützung eines Kaiserlichen Ihnen auf die Dauer nützlich sein wird. Sie sind also überzeugt, daß die Personen, die Sie bis hierher verfolgten, wirklich Cortejo und Landola sind?« – »Ja.« – »Und daß diese beflissen sein werden, sich mit dem leeren Sarg zu beschäftigen?« – »Ich vermute das allerdings.« – »Es ist ihnen zuzutrauen, nach allem, was Sie mir erzählten. Aber wir selbst werden uns vorher mit demselben Gegenstand beschäftigen. Ich werde mich mit einigen meiner Beamten nach dem Erbbegräbnis begeben. Hoffentlich begleiten Sie mich?« – »Es ist dies ja die Bitte, die ich an Sie richten wollte.« – »Gut. Ich werde sofort nach dem Palast Rodriganda senden, um mir den Schlüssel zu dem Mausoleum zu erbitten.« – »Ah, Señor, wäre es nicht vielleicht besser, dies zu umgehen?« – »Warum?« – »Ich halte es nicht für geraten, zu viele Personen in das Geheimnis zu ziehen, am allerwenigsten aber diese Franzosen.« – »Hm, Sie mögen recht haben. Also Sie erwarten mit aller Bestimmtheit, den Sarg leer zu finden?« – »Ja.« – »Es ist natürlich nicht meine Absicht, Sie zu beleidigen, Señor, aber als Beamter bin ich verpflichtet, den Gegenstand möglichst allseitig zu betrachten. Wenn wir den Sarg leer finden, könnte dies auch einen anderen Grund, als den von Ihnen angegebenen haben.«
Kurt erriet sofort, was der Alkalde andeuten wollte.
»Ah«, sagte er. »Sie meinen, daß man die Leiche erst vor kurzer Zeit entfernt haben könne?« – »Ja, um Sie zu täuschen.« – »Wer könnte dies tun, und was würde es ihm nützen? Übrigens wird am Zustand des Sarges sicherlich zu erkennen sein, ob eine Leiche in ihm verfaulte oder nicht.« – »Gewiß. Glücklicherweise bin ich im Besitz von Nachschlüsseln. Sie wissen, daß man als Beamter solche zuweilen notwendig brauchen kann. Wollen wir aufbrechen?« – »Ich stehe zu Befehl!«
Der Alkalde entfernte sich auf wenige Augenblicke, um seine Befehle zu erteilen, und dann begaben sie sich nach Kurts Hotel.
In Mexiko, wo man gewöhnt ist, selbst die kleinste Strecke zu Pferde zurückzulegen, erregte es die Verwunderung der Passanten, den ihnen wohlbekannten Alkalden zu Fuß zu sehen.
Im Gasthof angekommen, nahm er den Jäger ins Verhör. Geierschnabel erzählte seine Erlebnisse in Fort Guadeloupe in seiner gewöhnlichen drastischen Weise. Jedes Wort, das er sagte, bestätigte, was der Beamte bereits von Kurt gehört hatte.
»Bei Gott«, sagte er, »es gewinnt wirklich den Anschein, als ob wir uns mit einem Märchen beschäftigten.« – »Donnerwetter!« rief Geierschnabel, indem er einen dicken Strahl Tabaksaftes an die Wand spuckte. – »Was? Warum fluchen Sie?« – »Na denken Sie etwa, daß ich eines Märchens wegen nach Deutschland reise und mich sechstausendmal arretieren lasse?« – »Das traue ich Ihnen allerdings nicht zu«, meinte der Beamte lächelnd. – »Man hat sogar meine Posaune für ein Auseinanderplatzungsattentätermordinstrument gehalten. Eine Lüge! Ein Märchen! Ich sage Ihnen, Señor, wenn der Mann, den ich in Fort Guadeloupe sah, nicht Graf Ferdinando ist, so ist auch meine Nase hier nicht die meinige, sondern die Ihrige!« – »Das ist allerdings ein sehr überzeugender Beweis. Jetzt aber wollen wir nach dem Kirchhof gehen.«
Sie machten diesen Weg, indem sie möglichst unbelebte Gassen benutzten, und trennten sich darauf, um einzeln durch das Tor zu treten, damit sie den etwa Anwesenden nicht auffallen möchten. Sie trafen auf dem Kirchhof bereits mehrere Alguazils – Polizisten —, die auf den Befehl des Alkalden hier auf sie gewartet hatten. Einer von ihnen hatte nach dem Erbbegräbnis gesucht und erhielt jetzt die Schlüssel des Alkalden. Er entfernte sich, um unbemerkt von den Kirchhofbesuchern die Tür zu öffnen, und bereits nach einigen Minuten meldete er, daß ihm dies gelungen sei.
Jetzt begaben sie sich einzeln nach dem Mausoleum, wo, als sie vollzählig beisammen waren, die Polizisten die Laternen hervorzogen, die sie mitgebracht hatten.
Sie stiegen hinab und fanden den Sarg. Er wurde geöffnet und zeigte sich – leer.
»Santa Madonna!« rief der Alkalde. »Es ist wahrhaftig so; er ist leer!«
Kurt untersuchte den Inhalt genau und erwiderte:
»Sehen Sie diese Kissen! Sie sind wie neu.« – Ja«, antwortete der Beamte. »Es ist wahr. In diesem Sarg kann keine Verwesung vor sich gegangen sein. Mein Gott! Sollten Sie sich wirklich nicht täuschen? Sollte Graf Ferdinando wirklich lebendig begraben worden sein?« – »Auf alle Fälle, Señor.« – »Nun, so werde ich auch alles tun, um die Täter zu entdecken. Ich werde den Kirchhof und besonders dieses Begräbnis von diesem Augenblick an polizeilich bewachen lassen.« – »Wird dies auch zu raten sein?« fragte Kurt. – »Warum nicht?« – »Weil diejenigen, die wir fangen wollen, höchst scharfsinnige und verschlagene Menschen sind. Wie leicht könnten sie diese Bewachung bemerken und sich schnell zurückziehen, so daß sie uns dann leicht entgehen.« – »Aber soll ich sie denn nicht eben ausfindig machen?« – »Gewiß. Doch dürfen wir nicht glauben, daß sie am hellen Tage kommen werden, um irgendeine Leiche in den Sarg zu legen.« – »Darin haben Sie unbedingt recht. Sie werden dies nur des Nachts besorgen können. Aber woher die Leiche nehmen!« – »Oh, selbst so etwas kann einen Landola und Cortejo nicht in Verlegenheit bringen.« – »Sie meinen, daß sie sich eine Leiche machen werden?« – »Machen? Wollen Sie damit sagen, daß sie eine Leiche fabrizieren werden – durch einen Mord vielleicht?« – Ja.« – »O nein. Dazu sind sie zu klug. Eine neue Leiche kann ihnen gar nichts nützen. Sie brauchen eine alte Leiche, eine männliche Person, die ungefähr so lange im Grab gelegen hat, wie Don Ferdinando tot sein soll.« – »Ah, Sie haben recht. Sie zeigen den Scharfsinn, der so nötig ist, falls Ihnen Ihr schwieriges Vorhaben gelingen soll.« – »Ich meine, daß es nicht erforderlich ist, uns jetzt um sie und um den Kirchhof zu kümmern. Aber sobald es Abend geworden sein wird, müssen wir wachsam sein.« – »Ich werde den Zugang zum Begräbnis besetzen lassen.« – »Und sie da festnehmen?« – »Ja.« – »Ich würde doch vorziehen, sie bis hier herunter gelangen zu lassen. Sie sind da besser zu ergreifen, weil von hier aus ein Entkommen viel schwieriger sein wird.« – »Auch hierin haben Sie recht. Sie meinen also, daß diese Menschen sich eine Leiche rauben werden?« – »Ich vermute das.« – »Sie werden also ein altes Grab öffnen?« – »Nein, sondern sie werden die Leiche aus einem Erbbegräbnis holen, weil da nicht zu befürchten ist, daß eine Spur ihrer Tat zurückbleibt.« – »Auch hierin vermuten Sie sehr richtig. Gehen wir also jetzt auseinander, um uns nach Einbruch des Abends hier wieder zu treffen.«
Sie entfernten sich einzeln, so, wie sie gekommen waren.
In Erwartung der Ereignisse des Abends verging Kurt der Nachmittag außerordentlich langsam. Geierschnabel hatte sich wieder in das Gras gelegt, um zu schlafen; aber sobald es düster genug war, kam er, um den Leutnant und den Matrosen abzuholen.
»Ich hoffe, daß uns die Kerle nicht lange warten lassen werden«, sagte Peters. – »Pah!« meinte Geierschnabel. »Sie werden sich doch gerade den Spaß machen, uns möglichst lange harren zu lassen.« – »Warum?« – »Denkst du, daß sie vor Mitternacht kommen?« – »Weshalb denn nicht?« – »Weil das die Geisterstunde ist, in der sich jeder dumme Mensch vom Kirchhof möglichst fernhält.« – »Hm. Zu diesen Dummen scheinen wir also nicht zu gehören.« – »Ja, du für dieses Mal allerdings nicht.«
Am Mausoleum stand ein Polizist; er hatte die Tür bereits geöffnet und wartete schon. Nach und nach fanden sich auch noch der Alkalde nebst mehreren anderen Polizisten ein.
»Nun gilt es, unsere Arrangements zu treffen«, sagte er. »Ich werde zunächst zwei Mann an die Tür postieren.« – »Das wird nichts helfen«, bemerkte Geierschnabel. – »Weshalb?« – »Weil diese Kerle sehr dumm wären, wenn sie sich gerade am Tor erwarten ließen. Sie werden wohl über die Mauer kommen. Das ist das wahrscheinlichere.« – »Das erschwert die Sache ganz außerordentlich«, meinte der Beamte mißmutig. – »Warum?« fragte der Präriejäger. – »Weil ich da mehr Polizisten kommen lassen muß.« – »Mehr Polizisten? Oh, Master Alkalde, ich kalkuliere, daß wir bereits genug solcher Leute hier haben.« – »Ich habe doch alle vier Mauern besetzen lassen.« – »Das ist nicht nötig. Sie bleiben hier unten bei den Särgen und besetzen nur den Kirchhof, aber nicht durch die Polizisten.« – »Durch wen sonst?« – »Durch mich.« – »Durch Sie?« fragte der Alkalde. »Durch Sie allein?« – »Ja.« – »Señor, das kann unmöglich genügen!« – »Donnerwetter, warum nicht?« fragte Geierschnabel, indem er mit großer Energie ausspuckte. – »Ein Mann ist zu wenig.« – »Da irren Sie sich ganz gewaltig. Viele Köche verderben den Brei. Ich bin ein Westmann, ein Prärieläufer. Wissen Sie das?« – »Ich weiß das allerdings.« – »Nun, so sage ich Ihnen, daß die zwei Ohren eines alten Jägers geeigneter sind, einen Kirchhof zu bewachen, als hundert Polizistenohren. Ihre Leute sind sicher nicht gewöhnt, den Käfer des Nachts im Gras laufen zu hören.« – »Sie meinen, daß Sie jedes Geräusch über den ganzen Kirchhof hin sofort erlauschen würden?« – »Ja.« – »Und daß Sie sofort merken werden, wenn die Erwarteten einsteigen?« – »Ganz sicher.« – »Selbst wenn Sie sich weit von dem Platz befinden, wo das geschieht?«
Geierschnabel fühlte sich verdrießlich über diese Erkundigung. Er spuckte abermals aus und antwortete:
»Ich sage Ihnen, daß Sie mir den Kirchhof viel eher und besser anvertrauen können als Ihren Leuten. Das ist genug. Wollen Sie mir nicht glauben, wollen Sie sämtliche Mauern mit Polizisten besetzen lassen, als ob wir einen Sturmangriff abzuschlagen hätten, so müssen Sie auch gewärtig sein, daß die Kerle uns eher bemerken, als wir sie. Und riechen sie den Braten, so können wir ihnen im Dunkeln nachsehen.«
Der Alkalde wußte, welche scharfen Sinne solch ein Jäger zu besitzen pflegt, darum antwortete er
»Sie mögen recht haben. Wir bleiben also alle hier unten in dem Begräbnis, und Sie mögen oben wachen.« – »Oh, einen Ihrer Leute können Sie oben an die Tür postieren, damit ich Ihnen durch ihn Nachricht geben kann, ohne erst herunter zu müssen.«
Geierschnabel entfernte sich, und einer der Polizisten folgte ihm. Die übrigen blieben unten bei den Särgen zurück. Es waren der Alkalde, Kurt, Peters und drei Polizeimänner, also sechs Personen, sicherlich genug, um die Erwarteten festzuhalten. Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Geierschnabel hatte recht, denn Mitternacht kam, ohne daß sich etwas ereignete.
»Vielleicht kommen sie gar nicht«, meinte der Alkalde. – »Das ist möglich«, antwortete Kurt. »In diesem Fall müssen wir morgen wieder wachen.« – »Oder sind sie bereits da, und dieser Jäger hat es nicht gehört?« – »Sie würden uns doch in die Hände laufen.«
Da hörten sie nahende Schritte, die zur Treppe herabkamen. Der oben aufgestellte Polizist war es.
»Sind sie da?« fragte der Alkalde erfreut. – »Ja, Señor.« – »Wieviel?« – »Drei Mann. Der Jäger läßt Sie bitten, die Laternen zu schließen und einzustecken.« – »Gut. Was macht er?« – »Er ist wieder fort, um zu lauschen. Zwei sind nämlich zwischen den Gräbern verschwunden, der dritte aber befindet sich am Tor, um zu wachen.«
Infolge dieser Meldung bemächtigte sich der Anwesenden eine ihre Sinne anspannende Erwartung, die bald neue Nahrung erhielt, denn nach einer Weile kam Geierschnabel selbst herab. Da es unten finster war, so nannte er seinen Namen, um nicht für einen der erwarteten Verbrecher gehalten zu werden.
»Wo sind sie? Was tun sie?« tönte es ihm entgegen. – »Wir werden sie bekommen«, lachte er. »Sie holen den Grafen Ferdinando. Vorn am Tor aber steht einer, der Wache hält. Senden Sie zwei Polizisten hin, die sich an ihn heranschleichen und ihn festnehmen, sobald seine zwei Genossen hier herabgestiegen sind.«
Geierschnabel entfernte sich, um wieder zu lauschen, und nach seiner Angabe schlichen sich zwei Alguazils fort, um den Mann am Tor festzunehmen. Es dauerte eine geraume Weile, ehe Geierschnabel wiederkam.
»Sie kommen«, meldete er. – »Die zwei allein, oder auch der Wächter?« fragte Kurt. – »Der Wächter nicht.« – »Sie bringen die Leiche?« – »Ja, Master Leutnant.« – »So wird es Zeit, uns zu verstecken. Rasch hinter die Särge!«
Beim Eintritt Geierschnabels hatte der eine Polizist seine Blendlaterne für diese kurze Zeit herausgeholt und wieder geöffnet. Als die anderen sich beeilten, hinter die vorhandenen Särge zu kriechen, wollte er sie wieder einstecken, aber Geierschnabel verhinderte ihn daran.
»Halt!« sagte er. »So eilig ist es nicht. Erst gibt es noch etwas anderes zu tun.« – »Was?« fragte der Mann. – »Den Deckel herab.« – »Von dem Sarg?« – »Ja.« – »Warum?« – »Das wirst du sogleich sehen, mein Junge.«
Sie hoben den Deckel von dem Sarg, und nun sah der erstaunte Polizist, daß sich Geierschnabel mit aller Gemütsruhe in die weichen, weißseidenen Kissen legte.
»Donnerwetter«, sagte er. »Was soll das bedeuten?« – »Mach den Deckel wieder zu, mein Junge«, antwortete Geierschnabel, indem er sich behaglich zurechtrückte. – »Aber ich begreife nicht, was …« – »So halte den Mund, wenn du es nicht begreifst! Sieh doch einmal meine Nase an, und denke dir, daß jemand, der einen leeren Sarg zu finden erwartet, diesen öffnet und darin einen Geist oder ein Gespenst mit so einer Nase findet! Mach zu!«
Der Mann zögerte, und auch Kurt wollte eben Einspruch erheben, als sich von oben ein leises Geräusch vernehmen ließ.
»Donnerwetter, mach zu, sonst überraschen sie uns!« meinte Geierschnabel, indem er die Hände lang an den Leib legte, so wie man die Toten zu betten pflegt.
Jetzt blieb keine Wahl. Der Polizist hob behutsam den Deckel darauf und versteckte sich dann ebenfalls.
13. Kapitel
Nun herrschte in der Gruft die Stille des Todes; droben aber ließ sich das Knirschen eines Schlüssels hören. Nach einer Weile kamen Schritte herab, und im Laternenschein wurden Cortejo und Landola sichtbar.
Kurt steckte neben Peters, dem Matrosen.
»Sind sie es?« flüsterte er ihm zu. – »Ja«, antwortete der Gefragte, aber nur hauchend.
Die beiden Eingetretenen begannen zu sprechen.
»Leuchten Sie umher!« sagte Landola.
Cortejo trug die Laterne und folgte der Aufforderung. Sie suchten den Sarg und fanden ihn, da er ja in goldenen Lettern den Namen dessen trug, der ihn ihm gelegen hatte.
Der Polizist hatte den Deckel gar nicht nach der Fuge auflegen können, die Zeit war zu kurz dazu gewesen. Landola stieß nun den Sarg auf; der Deckel flog mit großem Gepolter herab, und die beiden Männer erblickten Geierschnabel mit seiner langen Nase und weit geöffneten, starr auf sie gerichteten Augen im Sarg liegen.
Beide stießen einen Ruf des Entsetzens aus und standen starr vor Schreck. Sie waren in diesem Augenblick unfähig, sich zu bewegen. Cortejo hielt mit der erhobenen Hand die Laterne empor, als ob er eine Statue sei.
Da, nach einigen Sekunden kehrte ihnen die Sprache wieder.
»O Himmel!« rief Cortejo. »Wer ist das?« – »Der Teufel«, antwortete Landola.
Sie, die beiden Schurken, die Taten begangen hatten, deren nur ein Mensch fähig ist, der weder Gott noch Teufel fürchtet, sie wurden von ihrem Entsetzen so gepackt, daß sie zwar sprechen, aber sich nicht bewegen konnten. Beide zitterten am ganzen Körper.
»Der Teufel!« stöhnte Landola. – »Ja, der Satan!« ächzte Cortejo. – »Pchtichchchchch«, spritzte ihnen aus dem Sarg ein Strahl Tabaksaft in die Gesichter. – »Ja, der Teufel, der Satans, der Beelzebub bin ich!« rief Geierschnabel, indem er auf– und aus dem Sarg sprang. »Ihr sollt mit mir nach der Hölle reiten. Hier habt Ihr den Ritterschlag der Unterwelt!«
Und mit seinen Armen zu gleicher Zeit ausholend, gab er jedem eine so gewaltige Ohrfeige, daß beide auf die Steinplatten niederstürzten. Und im nächsten Augenblick hatte er mit jener Geschwindigkeit, die nur einem Präriemann eigen ist, die Waffen, die sie bei sich trugen, entdeckt, ihnen entrissen und in den äußersten Winkel geworfen.
Beim Niederstürzen war der Hand Cortejos die Blendlaterne entfallen, aber in den Sarg, und war zufälligerweise so zu liegen gekommen, daß ihr Licht nicht ausgelöscht war. Geierschnabel ergriff sie mit der Linken, zog mit der Rechten sein Messer und stellte sich so, daß er mit dem Rücken den Eingang und die Treppe deckte.
Das gab den beiden die Überlegung zurück. Sie rafften sich auf.
»Donnerwetter!« rief Landola. – »Alle tausend Teufel!« rief Cortejo. – »Das ist ein Mensch!« – »Kein Teufel!« – »Ein Kerl von Fleisch und Bein gemacht!« – »Der es gewagt hat, uns zu schlagen.«
Der Schreck war plötzlich verschwunden und Grimm an seine Stelle getreten. Nun die beiden Patrone erkannt hatten, daß sie es mit einem Menschen zu tun hatten, der sich übrigens allem Anschein nach ganz allein in dem Gewölbe befand, waren sie mit einem Male wieder die Alten.
»Kerl! Was willst du hier? Was hast du hier zu tun?« fragte Landola in drohendem Ton. – »Was ich hier zu tun habe?« fragte Geierschnabel trocken. »Ohrfeigen habe ich auszuteilen; das habt Ihr ja gefühlt.« – »Das sollst du aber büßen. Wer bist du?« – »Der Teufel. Ihr habt es vorhin selbst gesagt!« – »Treibe keinen Unsinn! Wer du bist, will ich wissen.«
Landola ballte bei diesen Worten seine Fäuste und trat drohend einen Schritt näher heran.
»Männchen, mache dich nicht lächerlich!« lachte Geierschnabel. »Weder du noch ihr alle beide seid die Kerle dazu, mich fürchten zu machen!« – »Das wird sich finden. Ich verlange Antwort auf meine Fragen, erhalte ich diese nicht, so wirst du sehen, was folgt!« – »Was soll denn folgen?« – »Wir öffnen dir den Mund!« – »Pah! Dem ersten, der es wagt, mich anzugreifen, schlage ich hier die Laterne an die Nase, daß er denken soll, es stecken drei Millionen Sonnen und Monde darin. So ein Don Antonio de Veridante darf nicht denken, daß ich vor ihm ausreiße!« – »Ah, du kennst meinen Namen?« fragte Cortejo. – »Ja.« – »Woher?« – »Von der Polizei, die dich sucht.« – »Mich? Das ist Lüge!«
Da machte Geierschnabel ein höchst pfiffiges Gesicht und sagte:
»Na, ich will die Wahrheit sagen. Ich habe diesen Namen von einem gewissen Gonsalvo Verdillo in Verakruz gehört.«
Als die beiden diesen Namen hörten, wurde ihnen das Herz leicht.
»Von Gonsalvo Verdillo?« fragte Cortejo. »Wie kamst du zu ihm?« – »Das ist meine Sache!« – »Suchtest du jemand bei ihm?« – »Ja.« – »Wen?« – »Einen gewissen Landola.« – »Alle Wetter! Kennst du diesen?« – »Nein.« – »Warum suchst du ihn aber denn?« – »Weil ich etwas Wichtiges an ihn auszurichten habe.« – »Was?« – »Donnerwetter! Frage du und der Teufel! Es versteht sich von selbst, daß ich meine Botschaft nur an den ausrichte, für den sie bestimmt ist.« – »Aber von wem sie kommt, das darf ich doch wohl wissen?« – »Auch nicht.« – »Wie kommt denn mein Name in Verbindung mit deiner Botschaft?« – »Dieser Verdillo sagte mir, wenn ich Landola finden wolle, so müsse ich nach Mexiko gehen und mich nach einem gewissen Don Antonio Veridante erkundigen. Er beschrieb mir den Mann so genau, daß ich ihn in diesem Augenblick sofort erkannt habe.« – »Ah, ist es so! Ich kann dir allerdings sagen, wo Landola zu finden ist. Vorher aber muß ich wissen, wie du in das Gewölbe kamst.« – »Da herunter«, meinte Geierschnabel, indem er nach rückwärts auf die Tür und Treppe deutete. – »Das weiß ich. Hier ist nicht Zeit zu spaßen. Antwort will ich.« – »Na, ein anderer würde keine bekommen, da du aber derjenige bist, an den ich mich zu wenden habe, so will ich die Wahrheit sagen. Mein Geldbeutel ist nämlich verflucht dünn geworden.« – »Was hat das mit dieser Gruft zu tun?« – »Sehr viel. Die Toten sind verständiger als die Lebendigen.« – »Ah, ich begreife«, meinte Cortejo. »Wer zu feig ist, die Lebenden zu bestehlen, der geht zu den Toten.« – »Mäßige dich, mein Junge. Ich bin nicht feig, sondern vorsichtig.« – »Wie aber kamst du gerade auf diese Gruft?« – »Weil die Bewohner hier einst reich gewesen sind.« – »Das genügt. Wie kamst du herunter?« – »Mittels eines Nachschlüssels.« – »Du hast doch keine Laterne.« – »Die versteckte ich, als ihr kamt.« – »Was hast du erbeutet?« – »Noch nichts.« – »Ah, du hast noch keinen der anderen Särge geöffnet?« – »Nein, nur diesen hier. Und zum Teufel, gerade dieser erste war leer. Wenn das so fortgeht, muß ich mit leeren Händen abziehen. Es ist Mitternacht. Die Toten hier scheinen um diese Zeit spazieren zu gehen, eine recht dumme Angewohnheit!«
Die beiden wußten nicht, was sie aus dem wundersamen Mann, der ihnen einen solchen Schreck eingejagt hatte, machen sollten. Sie waren ihrer zwei und fühlten sich ihm überlegen. Zu befürchten hatten sie auch aus dem Grunde nichts, weil er selbst ein Dieb, ein Leichenplünderer war, darum ergriff Landola das Wort und fragte:
»Also an Landola hast du eine Botschaft auszurichten?« – »Ja.« – »An Seekapitän Landola?« – »Ja.« – »So sprich! Ich bin Landola.« – »Ah, wirklich?« – »Ja.« – »Nun, ich hätte nicht geglaubt, daß ich meine Adressaten hier in diesem Gewölbe treffen würde. Aber wenn du wirklich Landola bist, so muß der andere Cortejo sein.« – »Wie kommst du auf diesen Gedanken?« – »Das sollt ihr nachher erfahren.« – »Nun gut, ich will dir vertrauen und dir sagen, daß dieser Señor Cortejo heißt« – »Aus Rodriganda in Spanien?« – »Ja.« – »Wenn das wahr ist, dann darf ich allerdings sagen, was ich an euch beide auszurichten habe.« – »Nun?« – »Ich soll euch warnen, nach Mexiko zu kommen.« – »Warum?« – »Weil man euch dort gefangennehmen wird.« – »Pah!« sagte Landola mit einer geringschätzigen Handbewegung. – »Pah?« fragte Geierschnabel. »Ihr haltet euch für sicher? Man hat sogar die Zeit und den Ort bestimmt, wann und wo man sich eurer bemächtigen wird.« – »Unsinn!« – »Ich kann es euch beweisen!« – »Welche Zeit und welcher Ort sollte das sein?« – »Welche Zeit? Um Mitternacht. Und an welchem Ort? Hier im Grabgewölbe der Rodriganda.«
Cortejo fühlte sich etwas unbehaglich, Landola aber lachte und sagte:
»Mensch, du scheinst halb Bösewicht und halb Dummkopf zu sein. Wir sind gewöhnt, mit uns spaßen zu lassen.« – »Nun gut, so mag der Spaß aufhören«, unterbrach ihn Geierschnabel, »und der Ernst mag beginnen. Ihr seid meine Gefangenen!«
Seine Miene war dabei so ernst, daß selbst Landola einsah, daß sich hier etwas Unangenehmes vorbereitete. Er trat einen Schritt zurück, sah sich mit einem besorgten Blick nach seinen Waffen um und sagte:
»Kerl, du bist verrückt! Wie können wir deine Gefangenen sein!« – »Nicht meine? Nun, so will ich sagen, daß ihr unsere Gefangenen seid!« – »Unsere? Ah! Du bist nicht allein?« – »Nein. Seht euch um!«
Geierschnabel zeigte nach dem Hintergrund. Dort erhoben sich alle Versteckten, die sich bisher ruhig verhalten hatten, hinter den Särgen und öffneten die Laternen. Es wurde doppelt hell in dem Gewölbe, und nun erkannten die beiden, was ihrer wartete.
»Hölle und Teufel! Mich bekommt Ihr nicht!« rief Landola. – »Mich auch nicht«, rief Cortejo.
Beide warfen sich auf Geierschnabel. Dieser aber war darauf vorbereitet. Ohne sein Messer zu benützen, stieß er Landola, den er für den Gefährlichsten hielt, die Blendlaterne ins Gesicht, so daß das Glas zerbrach und der Getroffene geblendet zurückwich. Und zu gleicher Zeit empfing er Cortejo mit einem solchen Fußtritt, daß dieser niederstürzte. In demselben Augenblick warfen sich die anderen auf die sich nun vergeblich Wehrenden und machten sie mit Hilfe der mitgebrachten Fesseln unschädlich. Als Cortejo einsah, daß aller Widerstand vergeblich sei, verzichtete er auf denselben. Landola aber sträubte sich gegen seine Banden und schäumte vor Wut. Es half nichts. Seine Fesseln wurden desto enger gezogen.
»Da haben wir sie also«, meinte der Alkalde. »Wollen wir mit dem Einleitungsverhör gleich hier beginnen, Herr Leutnant?« – »Es wird der geeignete Ort nicht sein«, antwortete der Gefragte. »Wir haben zunächst mehr zu tun.« – »Was?« – »Die Leiche zu suchen, die diese Menschen jedenfalls oben liegen haben, und den Mann festzunehmen, der am Tor Wache gestanden hat.« – »Den haben meine Polizisten bereits fest.«
Darin irrte sich der Alkalde bedeutend. Grandeprise war ein erfahrener Jäger. Er lehnte am Tor und wartete auf die Rückkehr seiner Gefährten. Da vernahm er hinter sich ein leises Geräusch, das aber für seine geübten Ohren nichts weniger als leise war. Er erkannte sofort den Tritt zweier Männer, die sich zu ihm heranschlichen. Blitzschnell lag er an der Erde, kroch zur Seite und dann nach rückwärts, um sie zu beobachten. Er kam hinter einen dichten Rosenbusch zu liegen, vor dem die beiden stehengeblieben waren.
»Ich sehe ihn nicht«, meinte der eine. – »Ich auch nicht«, bestätigte der andere. – »Wer weiß, was dieser Kerl mit der langen Nase gesehen hat. Vielleicht gibt es hier gar keinen, der Wache steht.« – »Laß uns suchen.«
Sie schlichen sich vorwärts, und nun erkannte Grandeprise, daß er es mit Polizisten zu tun habe.
»Alle Teufel«, brummte er, »was ist das? Suchen sie mich? Will man mich gefangennehmen? Ich muß die beiden warnen.«
Er schlich sich in der Richtung fort, in der Cortejo und Landola von ihm gegangen waren, aber er fand sie nicht. Er suchte weiter, in dem er sich in acht nahm, auf irgendeinen Lauscher zu stoßen. Da sah er einen Lichtschein durch die Büsche blitzen. Er ging darauf zu und kam an das Erbbegräbnis der Rodriganda, wo er laute Stimmen hörte.
»Hier liegt er«, hörte er sagen. – »Ein Mann. Ah, er hat in den Sarg des Grafen gesollt. Laßt uns ihn untersuchen. Die beiden Gefangenen müssen sagen, aus welchem Begräbnis sie ihn gestohlen haben.« – »Sie sind gefangen«, dachte er. »Das ist unangenehm. Sie haben nichts Böses getan, aber da diese Herren Franzosen hier am Ruder sind, werden diese kurzen Prozeß mit ihnen machen. Wo bleibe ich da mit meiner Absicht, diesen Landola zu fangen? Ich werde ihn nie bekommen. Ich muß bei Gott sehen, ob ich diese beiden Kerle wieder losmachen kann.«
Er versteckte sich hinter einem Monument, das ihn vollständig verbarg und von dem aus er die Szene beobachten konnte.
Unterdessen wurden Cortejo und Landola heraufgeschafft und vor die obenliegende Leiche gestellt.
»Woher habt Ihr diesen Toten geholt?« fragte der Alkalde.
Keiner antwortete.
»Ich frage, aus welchem Begräbnis Ihr diesen Toten geholt habt!« wiederholte der Beamte.
Abermals keine Antwort. Er konnte fragen, was er wollte, die Verbrecher beobachteten das tiefste Schweigen.
»Lassen Sie«, sagte Kurt. »Es ist eine nicht seltene Taktik des Verbrechers, zu schweigen, wenn er alles verloren gibt. Wir werden morgen bei Tageslicht schon sehen, an welchem Begräbnis dieser Leichendiebstahl begangen wurde.« – »Das ist wahr«, meinte der Alkalde. »Bis dahin mag alles bleiben, wie es ist. Ich lasse meine Leute hier, um dafür zu sorgen, daß nichts verändert werde, wir anderen sind genug, die beiden Kerle in Gewahrsam zu bringen.«
Kurze Zeit später wurden Cortejo und Landola von dem Alkalden, Kurt, Geierschnabel und dem Matrosen Peters abgeführt. Die vier letzteren bemerkten gar nicht, daß ihnen von weitem eine männliche Gestalt folgte, um zu sehen, wohin die Gefangenen geschafft würden.
Im Gefängnisgebäude angekommen, wurde noch einmal ein Verhörsversuch mit ihnen angestellt, der ebenso resultatlos ausfiel wie der erste. Da nur noch ein einziger leerer Raum vorhanden war, wurden sie beide zusammen in demselben untergebracht, erhielten aber einen bewaffneten Soldaten vor die Tür, damit sie unmöglich entfliehen könnten.
Kurt war mit bis in die Zelle gegangen, um sich zu überzeugen, daß die Gefangenen auch sicher untergebracht seien. Ehe er sie verließ, wandte er sich mit den Worten an Cortejo:
»Señor Gasparino, denkt nicht etwa, daß Ihr mit Eurem Schweigen weiter kommt, als mit einem offenen Geständnis. Ich bin von allem unterrichtet und brauche Euer Geständnis nicht.«
Da endlich sagte Cortejo das erste Wort. Er blickte den jungen Mann verächtlich an und fragte:
»Was werdet Ihr wissen? Wer seid Ihr?« – »Ich heiße Kurt Helmers und bin der Sohn des Steuermanns Helmers, den Landola mit nach der Insel geschafft hatte. Straflosigkeit habt Ihr beide nicht zu erwarten, aber wenn eine Milderung möglich wäre, so doch nur in dem Fall, daß Ihr von Eurer Verstocktheit laßt.« – »So. Und was wißt Ihr denn von uns?« – »Alles.« – »So zählt es auf.« – »Ich verschmähe das. Wir stehen uns keineswegs so gleichwertig gegenüber, daß ich mich zu einer Unterhaltung mit Euch herbeilassen könnte. Was ich vorzubringen habe, das wird Euch die Untersuchung lehren. Euer Spiel ist aus. Ihr habt nur noch leere Blätter und Nieten in der Karte.«
14. Kapitel
Unterdessen war der Jäger Grandeprise um das Gebäude herumgegangen, um die Mauern zu untersuchen. Er sah zu seinem Mißvergnügen, daß von hier aus an eine Befreiung nicht zu denken sei. Da bemerkte er, daß ein Fenster, das mit außerordentlich starken Eisengittern verwahrt war, erleuchtet wurde.
»Ah«, brummte er, »das ist die Zelle, in die man sie steckt. Jetzt weiß ich wenigstens das. Oder steckt man den einen von ihnen noch anderswohin?«
Er wartete noch eine ganze Weile, um zu sehen, ob noch ein zweites Fenster erleuchtet werde. Als dies nicht der Fall war, murmelte er:
»Gut, sie scheinen beisammen zu sein. Jetzt gilt es, zu wissen, wann diejenigen, die sie fingen, sich wieder entfernen.«
Er begab sich wieder nach dem Eingang zurück, wo er sich auf die Lauer legte. Es dauerte nicht lange, so öffnete sich das Tor, und vier Personen traten heraus, um sich zu entfernen.
»Sie sind es. Sie sind fort. Was nun tun und anfangen?« flüsterte er. »Es muß schnell gehandelt werden. Morgen ist es vielleicht zu spät.«
Er schritt nachdenklich die Straße entlang. Plan auf Plan durchkreuzte seinen Kopf, aber keiner erwies sich als ausführbar. Da hörte er klirrende Schritte hinter sich. Ein französischer Offizier, der so spät noch aus einer Tertullia oder Unterhaltung kam, schritt an ihm vorüber.
»Alle Teufel, welch ein Gedanke! Das wäre etwas!« brummte er. »Dieser Mensch schien so ziemlich meine Statur zu besitzen. Allons, nicht lange überlegt, sonst geht die Gelegenheit vorüber!«
Grandeprise, als Präriejäger schnell im Entschluß und in der Ausführung, eilte dem Offizier nach.
»Monsieur, Monsieur!« rief er halblaut. – »Was ist‘s?« fragte der Mann stehenbleibend. – »Sind Sie vielleicht der Kapitän Mangard de Vautier?«
Grandeprise hatte diese Frage ausgesprochen, um nahe an den Offizier heranzukommen. Dieser antwortete:
»Nein. Ich kenne keinen Kapitän oder Offizier dieses Namens.« – »Nun, ich auch nicht«, meinte der Jäger lachend.
Während dieser Worte faßte er den Offizier mit der Linken bei der Gurgel, die er fest zusammenpreßte, und versetzte ihm mit der Rechten einen Hieb an die Schläfe, jenen Savannenhieb, unter dem der Getroffene stets sofort besinnungslos zusammenstürzt.
»So, da liegt er! Nun aber fort von hier nach einem sicheren Ort.«
Bei diesen für sich hingeflüsterten Worten hob Grandeprise den Offizier auf, warf ihn sich über die Achsel und trug ihn nach einem einsam gelegenen Mauerwinkel, wo er ihn seiner Uniform entkleidete, ihn mit Taschentüchern fesselte und knebelte, um dann die Uniform mit seinem eigenen Anzug zu vertauschen.
»So«, meinte er. »Jetzt bin ich fertig. Jetzt beginnt erst das Wagnis. Gelingt es nicht, so geht es mir traurig.«
Grandeprise steckte seine Waffen zu sich und begab sich, nun seinerseits sporenklirrend, nach dem Gefängnis, an dessen Tür er schellte.
»Wer da?« fragte der innenstehende Posten. – »Ordonnanz des Gouverneurs! Öffnen!« antwortete er.
Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Grandeprise wurde eingelassen. Der Posten trat nahe an ihn heran, und als er beim Schein einer trübe brennenden Laterne die Uniform erkannte, salutierte er vorschriftsmäßig.
»Ist der Inspektor des Gefängnisses noch wach?« fragte der Jäger. – »Nein, Herr Kapitän«, antwortete der Posten. »Er wurde aus dem Schlaf geweckt, als man vor kurzer Zeit zwei Gefangene brachte, ist aber wieder zur Ruhe gegangen.« – »Wer ist an seiner Stelle?« – »Ein Schließer.« – »Parterre?« – »Ja. Jede Fronte hat außerdem ihren Posten.« – »Gut.«
Grandeprise schritt über den Hof hinüber und läutete an der Tür des eigentlichen Gefangenenhauses. Der Schließer öffnete. Grandeprise wußte, daß zur gegenwärtigen Zeit die Franzosen die eigentlichen Meister des Landes waren, deren Wille in vielen Fällen und Beziehungen einen geradezu knechtischen Gehorsam fand. Er gab sich daher die Miene und das Äußere eines Mannes, der nicht im geringsten geneigt ist, mit sich sprechen und handeln zu lassen, und sagte:
»Ist der Inspektor wach?« – »Nein. Soll ich ihn wecken?« fragte der Schließer. – »Nein, ist nicht nötig. Wieviel Mann in der Wachstube?« – »Acht.« – »Bin Ordonnanz des Gouverneurs. Können zwei Mann zum Transport eines Gefangenen für kurze Zeit entbehrt werden?« – »Ja.« – »Schnell holen. Habe nicht viel Zeit.«
Während der Schließer sich entfernte, um diesem kurz und streng gegebenen Befehl Gehorsam zu leisten, betrachtete der kühne, waghalsige Jäger sich den Raum, in dem er sich befand.
Da gab es eine Tafel, auf der die Nummern sämtlicher Insassen des Gefängnisses verzeichnet waren. Dabei las er: Nummer 32 angeblich Advokat Antonio Veridante nebst Sekretario. Er wußte also die Nummer, in der die Gesuchten zu finden seien. Auf einer Schreibtafel lagen verschiedene Formulare, unter denen er auch Quittungsscheine für Entgegennahme von Gefangenen fand. Auch das kam ihm zustatten. Er nahm eiligst eine Feder zur Hand, füllte einen dieser Scheine aus und setzte den ihm bekannten Namen des Gouverneurs darunter, ganz aufs Geratewohl und ohne die Handschrift dieses hohen Beamten zu kennen. Er trocknete die Schrift, faltete das Blatt zusammen und steckte es in die Tasche. Er war kaum damit fertig, so kam der Schließer mit zwei Mann Soldaten zurück, die scharfgeladene Gewehre trugen.
»Hier, mein Kapitän, sind die Leute«, meldete er. – »Gut. Ist ein Hauptschlüssel vorhanden?« – »Ja. Ich trage ihn bei mir.« – »Er schließt alle Zellen?« – »Alle.« – »Mir folgen! Vorwärts!«
Da Grandeprise von außen das erleuchtete Fenster gesehen hatte, so wußte er, daß die betreffende Zelle im ersten Stockwerk lag. Er stieg also, vom Schließer und den Soldaten gefolgt, die Treppe empor und schritt dann oben den Korridor hinab, bis er vor Nummer 32 stand.
»Öffnen!« befahl er.
Der Schließer gehorchte ohne Widerrede. Der vor der Tür stehende Posten trat zurück, und die Tür ging auf. Bei dem Schein der Laterne, die der Schließer trug, erkannten die beiden Gefangenen einen französischen Offizier, der eintrat.
»Sie sind der Advokat Antonio Veridante?« fragte Grandeprise Cortejo. – »Ja«, antwortete dieser. – »Und dieser Mann ist Ihr Sekretär?« – »Ja.« – »Zeigen Sie her!«
Diese letzten Worte waren an den Schließer gerichtet, dem Grandeprise die Laterne aus der Hand nahm. Er tat so, als ob er den beiden Gefangenen in das Gesicht leuchten wolle, hielt aber die Laterne so, daß sie auch das seinige erkennen konnten. Sie wußten sofort, woran sie waren, obgleich ihnen dieses Wagnis als ein geradezu unerhörtes und unbegreifliches erschien, während Grandeprise doch nur mit der blitzschnellen Energie des Präriemannes einem augenblicklichen Impuls gefolgt war.
»Ja, sie sind es«, sagte er. »Der Gouverneur wurde mit der Nachricht von ihrer Festnahme geweckt. Er will sie augenblicklich sehen, da er weiß, daß sie verdächtig sind, mit Juarez verkehrt zu haben. Sie haben mir zu folgen!«
Und sich an den Schließer wendend, zog er die Quittung hervor und sagte in einem Ton, der keine Entgegnung zuließ:
»Hier die Bescheinigung des Gouverneurs, daß Sie mir die beiden Gefangenen verabfolgt haben. Ich bringe sie in ungefähr einer Stunde wieder. Stellen Sie mir bis dahin eine Quittung aus, daß ich nicht zu warten brauche. Vorwärts!«
Grandeprise schob die Gefangenen zur Tür hinaus und winkte den beiden Soldaten, sie unter ihre Obhut zu nehmen. Der Schließer wagte kein Wort des Einwandes. Er las beim Schein der Laterne die Quittung und hielt es nun für unmöglich, sich zu sträuben.
So ging es fort, zur Treppe hinab, über den Hof hinüber und zum Tor hinaus, das der Posten wieder öffnete. Draußen schlugen die Soldaten von selbst die Richtung ein, die zum Gouverneur führte.
Es war stockdunkel; Straßenlaternen gab es nicht, und so versicherten die Soldaten sich ihrer Gefangenen dadurch, daß sie je einen beim Arm ergriffen. Der Jäger fühlte jetzt sein Herz erleichtert, er wußte nun, daß er gewonnenes Spiel haben werde. Er hatte sich in eine fürchterliche Gefahr begeben gehabt. Was zählen Mut und Scharfsinn, Klugheit und Erfahrung eines Savannenläufers hinter den Riegeln eines Gefängnisses? Jetzt hatte er den freien Himmel wieder über sich, und nun fühlte er sich von jeder Besorgnis frei.
Als sie eine genügende Strecke gegangen waren, zog er sein scharfes Messer heraus. Er hatte gesehen, daß die Fesseln nur aus Riemen bestanden, und fragte jetzt die Soldaten:
»Habt Ihr die Kerle auch sicher?« – »Ja, mein Kapitän«, antwortete der eine. »Wir führen sie ja beim Arm.« – »Aber die Riemen?« – »Sie scheinen fest zu sein.« – »Wollen es lieber untersuchen. Riemen pflegen nachzugeben.«
Grandeprise tat, als ob er die Bande mit den Händen auf ihre Festigkeit prüfen wolle, schnitt sie aber im Gegenteil durch. Die Gefangenen fühlten, daß sie frei seien, ließen sich dies aber durch keine Bewegung merken.
»Es ist gut«, sagte er. »Ich glaube, wir sind nun sicher. Vorwärts wieder!«
Der Weg wurde fortgesetzt, aber bereits bei der nächsten Straßenecke stieß der eine Soldat einen Schrei aus und stürzte zu Boden.
»Was gibt es?« fragte Grandeprise. – »Donnerwetter!« antwortete der Mann. »Mein Kerl hat sich losgerissen und mich zu Boden geworfen.« – »Ah! Wo ist er?« – »Da drüben muß er laufen!« – »Ihm nach!«
Das Gewehr im Arm rannte der Soldat fort. Schießen konnte er nicht, denn die Dunkelheit erlaubte ihm nicht, das Geringste zu erkennen.
»Halte nur den deinen fest!« gebot Grandeprise dem anderen. »Verdammt wäre es, wenn wir ihn nicht wieder bekämen!« – »Keine Sorge, mein Kapitän!« antwortete der Mann im zuversichtlichsten Ton. »Dem soll es nicht gelingen, mir – au, oh, Donnerwetter!« – »Was gibt es?« fragte Grandeprise.
Ebenso wie sein Kamerad am Boden liegend, raffte sich der Soldat empor und antwortete:
»Auch der meinige hat mich niedergeworfen.« – »Alle Teufel! Was für Schufte seid denn ihr Kerle? Laßt euch von diesen Schlingeln zur Erde bringen! Wo ist er denn?« – »Fort«, antwortete der Mann sehr kleinlaut. – »Donner und Doria! Wohin denn?« – »Da vorn scheint er zu rennen!« – »Laufe, sonst mache ich dir Beine! Kriegst du ihn nicht wieder, so soll dich der Teufel holen!«
Der Soldat rannte voller Angst davon.
Seine Schritte waren noch nicht verklungen, so drehte sich der Jäger kurz um und ging den Weg zurück, den sie gekommen waren.
»Verdammt klug haben es die Kerle gemacht«, brummte er vergnügt. »Diese Franzosen haben nichts gesehen, ich aber habe es deutlich bemerkt. Sollte mich wundern, wenn sie nicht hier in dieser Gegend zu mir stießen.«
Grandeprise hatte richtig vermutet, denn kaum war er mit diesem Gedanken zu Ende gekommen, so huschten zwei Gestalten zu ihm heran.
»Eingetroffen, Kapitän!« sagte der eine halblaut und lachend. – »Ich auch«, meinte der andere, ebenso lachend.
Es waren keine anderen als Landola und Cortejo.
»Wo sind die Soldaten?« fragte der erstere. – »Weit fort!« antwortete der Gefragte. – »Was für dumme Kerle! Denken die, daß wir vorwärts rennen! Ich habe mich einfach niedergeduckt.« – »Ich ebenso«, sagte Cortejo. »Aber nun erklären Sie uns, wie Sie in diese Uniform kommen!« – »Sehr einfach«, antwortete der Jäger. »Ich schlug einen Offizier nieder und nahm ihm dieselbe ab.« – »Donnerwetter! Welch ein Wagnis!« – »Ein Jäger fragt nach keinem Wagnis, wenn es gilt, seinen Gefährten einen Dienst zu erweisen.« – »Wir sind Ihnen da allerdings sehr großen Dank schuldig. Ein riesiges Wagnis, ein geniales Unternehmen, möchte man sagen! Aber der Offizier, den Sie niederschlugen?« – »Er liegt jedenfalls noch dort. Ich habe ihm einen Knebel gegeben, daß er nicht mucksen kann. Natürlich suche ich ihn jetzt auf und gebe ihm seine Uniform wieder.« – »Sie haben ihm bis dahin Ihre Kleider angezogen?« – »Fiel mir nicht ein. Welch eine Arbeit wäre das gewesen! Ich habe sie einstweilen zu ihm hingelegt und werde sie mir jetzt wiederholen. Kommen Sie!«
Sie schritten der Steile zu, wo Grandeprise den Offizier zurückgelassen hatte.
15. Kapitel
Unterdessen waren Kurt, Geierschnabel und Peters, nachdem sie sich von dem Alkalden getrennt hatten, in ihr Hotel zurückgekehrt. Der erstere und der letztere legten sich schlafen, Geierschnabel aber, der am Tag genug gelegen hatte, verschmähte es, zur Ruhe zu gehen. Er konnte sich einer gewissen Befürchtung nicht enthalten. Waren die Gefangenen sicher untergebracht? Reichte die Beaufsichtigung zu, unter der sie im Gefängnis standen? Ja, wenn man da draußen in der Prärie, im Urwald einen Gefangenen macht, den bewacht man selbst, und da weiß man ganz genau, was man oder er zu erwarten und zu hoffen hat. Hier aber muß man seine Gefangenen der Behörde übergeben, und diese Frau Behörde ist in Mexiko eine gar eigentümliche und sehr wenig zuverlässige Persönlichkeit. Besonders war sie dies zur damaligen Zeit Darum trieb es unseren Geierschnabel fort, ein wenig lauschen zu gehen, ob in der Nähe des Gefängnisses alles in Ordnung sei.
Er steckte seinen Revolver und sein Messer zu sich und schlich sich, damit kein Schläfer gestört werde, leise davon. Er kannte die Gegend, in welcher das Gefängnis lag, sehr genau; er war heute ja bereits dort gewesen. Er hatte es beinahe erreicht, als er durch ein Gäßchen ging, das von zwei Mauern begrenzt oder gebildet wurde. Diese Mauern waren dunkel und nicht sehr hoch. Die eine davon bildete eine Einbiegung, einen schmalen Winkel, der noch dunkler dalag, als das an und für sich bereits finstere Gäßchen. Indem er nun so leise dahinschritt, wie es Art der Savannenleute ist, die auch, wenn sie sich in Städten befinden, ihren vorsichtigen, unhörbaren Schritt beizubehalten pflegen, war es ihm, als ob er in diesem Winkel eine Bewegung höre.
Das fiel ihm auf. Ein Liebespärchen zu so später Nachtstunde? Das war sehr unwahrscheinlich. Was gab es hier? Er mußte es wissen, es ließ ihm keine Ruhe.
Er trat näher. Sein scharfes, an die Dunkelheit gewöhntes Auge erkannte eine an der Erde liegende Masse, die sich mühsam hin und her zu bewegen versuchte. Er bückte sich nieder, die Hand am Griff des Messers. Ah! Diese Hand glitt bald vom Messer weg, denn der Mann, der hier lag, war halb nackt, gebunden und geknebelt, und neben ihm lag ein Kleiderbündel.
Der alte Trapper war ein vorsichtiger Mann. Er nahm ihm also einstweilen nur den Knebel, ließ ihm aber die Fesseln noch. Er wollte erst wissen, wen er vor sich habe.
»He, guter Freund, wer sind Sie denn eigentlich?« fragte er. – »Mon dieu!« stöhnte der Gefragte. »Welch ein Glück, daß ich wieder atmen kann!« – »Was geht mich Ihr Atem an? Wer Sie sind, will ich wissen?« – »Ah, ich bin ein französischer Offizier. Kapitän Durand ist mein Name.« – »Das glaube wer da will!« – »Ich sage die Wahrheit.« – »Läßt sich ein französischer Soldat, Offizier und Kapitän so leicht überfallen und binden?« – »Ich erhielt ganz unerwartet einen Hieb an den Kopf, der mir die Besinnung raubte.« – »Ja, so ist es, wenn man die Besinnung nur im Kopf und nicht in den Fäusten hat. Sogar ausgezogen hat man Sie. Zu welchem Zweck?« – »Ich weiß es nicht. Bitte befreien Sie mich doch von den Fesseln!« – »Nur langsam, langsam, mein Junge! Es kommt schon noch die Zeit, da auch die Fesseln abgenommen werden, und wenn es auch schon in sechs oder acht Wochen sein sollte. Zunächst muß ich wissen, woran ich bin. Hier liegen Kleider.« – »Es sind die meinigen.« – »Ah! Warum geht ein französischer Kapitän nicht in Uniform?« – »Ich bin ja in Uniform gegangen!« – »Oho! Hatten Sie einen Degen?« – »Ja.« – »Epauletten?« – »Ja.« – »Rock und Hose mit Passepoils?« – »Ja.« – »Ein Käppi oder einen Tschako?« – »Ja.« – »Und hier liegen lange, grobe Stiefel, eine Leinwandhose, eine alte Jacke, ein baumwollenes Halstuch, ein alter Ledergürtel und ein Hut, den man in der Dunkelheit für einen Waschbär oder einen schwarzen Kater halten könnte.« – »Tausend Donner! So sind es nicht meine Kleider.« – »Nicht? Ah! Wem gehören sie denn?« – »Dem, der mich überfallen hat. Er trug so einen dunklen Hut mit breiter Krempe.« – »Schön! Er hat sich also hier ausgezogen und Ihre Uniform angelegt?« – »Wie es scheint!« – »Das glaube der Kuckuck! Diese alte Ecke, in der Hunde und Katzen ihre Andenken zurückgelassen haben – ich sage, diese alte Ecke scheint mir ganz und gar nicht die Eigenschaften eines An-, Aus– und Umkleideboudoirs zu besitzen.« – »Ich wiederhole, daß ich die Wahrheit sage.« – »Nun, so erzählen Sie mir einmal, wie das mit dem Überfall zugegangen ist« – »Ich kam aus einer Tertullia; da begegnete mir ein Mensch, der mich anredete.« – »Was sagte er?« – »Er fragte mich, ob ich Kapitän so und so sei; den Namen habe ich vergessen.« – »Der Ihrige war es nicht?« – »Nein. Ich sagte ihm, daß ich keinen Kapitän dieses Namens kenne, und er antwortete: ›Ich auch nicht!‹ Dabei war er ganz nahe getreten und versetzte mir einen Schlag an den Kopf, daß ich sofort niederstürzte und die Besinnung verlor.« – »Donnerwetter! Ganz so sind unsere Jagdhiebe beschaffen. So schlagen nur wir Präriejäger zu. Und die Fetzen, die hier liegen, sehen kann man sie nicht genau, aber sie fühlen sich gerade an wie Präriezeug, so dick und hart, so schön prasselig vor Dreck und Schmutz. Sollte dieser Kerl etwa ein Savannenmann gewesen sein?« – »Ich kann es nicht sagen. Helfen Sie mir nur von den Fesseln los.«
Geierschnabel kam ein Gedanke.
»Donnerwetter!« sagte er. »Das wäre ja eine ganz verfluchte Geschichte.« – »Was?« – »Wo ist der Überfall geschehen? Etwa in der Nähe des Gefängnisses?« – »Ja, gar nicht weit davon.« – »Da hat man es! Und wer da draußen Wache gestanden hat, den haben wir nicht gefangen. Wer aber ist am besten geeignet, Wache zu halten? Ein Präriemann!« – »Ich verstehe ja gar nicht, was Sie sprechen und meinen!« klagte der noch Gebundene. – »Das ist auch ganz und gar nicht notwendig. Wenn nur ich verstehe, was mich ärgert. Ich habe da einen Gedanken, der mich verrückt machen könnte. Bleiben Sie einmal hübsch still liegen. Ich komme gleich wieder.«
Bei diesen Worten eilte der Jäger davon. Der andere rief ihm nach:
»Aber so lassen Sie mich doch um Gottes willen nicht so hilflos liegen.«
Aber Geierschnabel hörte gar nicht darauf. Er schritt so rasch davon, als ob es gelte, einen Wettlauf zu machen. Beim Gefängnis angekommen, schellte er. Der Posten fragte:
»Wer ist draußen?« – »Geierschnabel!« – »Kenne ich nicht.« – »Ist auch nicht notwendig. Machen Sie nur auf.« – »Darf ich nicht.« – »Warum nicht?« – »Des Nachts haben nur Beamte Zutritt.« – »Bin doch vorhin auch mit dagewesen, als wir die beiden Gefangenen brachten.« – »Ah, da war der Alkalde dabei.« – »Also ich darf nicht hinein?« – »Nein, auf keinen Fall.« – »Da schlage doch gleich der leibhaftige Teufel drein! Und dabei darf und kann man nicht einmal durch die Mauer spucken, sonst würde ich mir einmal eine Güte tun! Sind die beiden Gefangenen noch da?« – »Nein.« – »Kreuzelement! Da hat man das Malheur. Wo stecken sie denn?« – »Beim Gouverneur.« – »Was wollen sie dort?« – »Weiß nicht. Ein Offizier, ein französischer Kapitän hat sie geholt.« – »Den haben Sie aber wohl hineingelassen?« – »Natürlich!« – »Ja, Spitzbuben läßt man hinein in diese Bude, ehrliche Leute aber nicht. Kerl, der Offizier war ja gar kein Offizier, sondern ein Schwindler und Betrüger. Sie sind so dumm, daß es einem erbarmt. Ihre Dummheit kann mit Scheffeln gemessen und nach Meilen berechnet werden. Wenn Ihr Kaiser lauter solche Esel hat, so verdenke ich es ihm freilich nicht, daß er euch da hinüberschickt, denn er weiß sonst gar nicht, wohin mit diesem Viehzeug!« – »Halt!« rief da der Posten, indem er den Schlüssel ansteckte. »Halt, jetzt können Sie eintreten. Kommen Sie herein, mein lieber Freund!« – »Danke sehr! Weil ich räsonniert habe, darf ich hinein, nicht wahr? Aber natürlich, um arretiert zu werden? Nein, so dumm sind wir nicht wie ihr, ich danke für das Privatvergnügen! Laß dich für mich einsperren, wenn ihr noch leere Plätze habt. Ich empfehle mich, mein lieber Sohn!«
Als der Posten das Tor erreichte und ihn fassen wollte, war Geierschnabel bereits an der Ecke und kehrte zu dem malträtierten Offizier zurück.
»Kommen Sie endlich wieder?« wehklagte dieser schon von weitem. »Ich dachte, daß Sie mich ganz und gar verlassen hätten.« – »Unsinn. Ich wollte nur sehen, ob Sie mich belogen haben oder nicht.« – »Nun, was haben Sie erfahren?« – »Sie sind Offizier. Sie haben mir die Wahrheit gesagt.« – »Nun, so befreien Sie mich endlich einmal von den Fesseln.« – »Möchte gern, aber es geht ja nicht.« – »Mein Gott! Warum nicht?« – »Weil wir sonst den Kerl, der Sie überfallen hat, nicht fangen.« – »Aber, Monsieur, wir könnten, wenn Sie wissen, wo er ist, ihn ja viel leichter ergreifen, wenn ich nicht gefesselt bin.« – »Nein, Master, ich weiß nicht, wo er ist, aber er wird ganz sicher wiederkommen.« – »Wirklich? So müssen Sie mich erst recht losmachen.« – »Nein, sondern ich muß Sie erst recht gebunden lassen. Ja, ich muß Ihnen sogar den Knebel wieder anlegen, damit er nicht weiß, daß jemand dagewesen ist. Er muß denken, Sie liegen noch gerade so wie erst; als er Sie herlegte.« – »Das begreife ich nicht.« – »Aber ich! Und das ist mir die Hauptsache. Ich kenne diese Jäger. Ich weiß ganz genau, wie sie sich zu verhalten pflegen.« – »Aber wenn er mich nun noch weiter malträtiert?« – »Das fällt ihm gar nicht ein. Er hat gegen Sie nicht das geringste. Er hat Sie nur deshalb niedergeschlagen, weil er Ihre Uniform gebraucht hat. Sobald er dieser nicht mehr bedarf, bringt er sie wieder.« – »So holen Sie doch lieber Hilfe herbei. Sie können ihn dann ganz leicht abfassen.« – »Ist nicht notwendig. Ich weiß ja noch gar nicht einmal, was ich mit ihm anzufangen habe. Vielleicht werden wir noch die besten Freunde miteinander.« – »Sie und dieser Garotteur? Nein, nein, er muß auf alle Fälle bestraft werden.« – »Das wollen wir uns erst überlegen. Alle Teufel! Horch! Da kommen zwei Leute!«
Geierschnabel lauschte gespannt in das Gäßchen hinein.
»Nein«, sagte er, »es sind nicht zwei, sondern drei. Zwei treten gewöhnlich auf, der dritte aber hat den leisen Savannenschritt. Sie sind es. Schnell das Tuch wieder um den Mund! Stellen Sie sich nur so, als ob Sie noch immer besinnungslos seien, und reden Sie kein Wort, sonst könnte es Ihnen doch noch schlimm ergehen.«
Ehe er es sich versah, hatte der Offizier den Knebel wieder an dem Mund, und der Jäger war mit einem raschen Satz über die Mauer.
Dort drückte er sich so an dieselbe, daß er auf keinen Fall gesehen werden konnte, aber jedes Wort hören mußte.
Die Schritte nahten und verstummten in der Nähe. Ein Flüstern war zu hören, und dann löste sich eine Gestalt von den dreien, trat näher und bückte sich zu dem Offizier herab.
»Donnerwetter, muß mein Hieb dieses Mal ein kräftiger gewesen sein«, sagte der Mann halblaut, so daß die beiden anderen ihn hören konnten. – »Warum?« fragte einer. – »Der Kerl ist noch immer besinnungslos.« – »So haben Sie ihn vielleicht gar erschlagen?« – »Nein, Leben hat er noch. Ich werde jetzt seine Uniform ausziehen und wieder hinlegen.« – »Und die Fesseln? Die lassen Sie ihm?« – »Nein, ich nehme sie ihm ab. Wenn er erwacht, soll er sich frei entfernen können. Wollen Sie warten?« – »Nein; wir gehen.« – »Nach dem Hotel?« – »Noch nicht. Wir haben erst noch einen kleinen Weg. Aber in einer halben Stunde sind wir dort und werden auch Sie einlassen.« – »Gut, so werde ich sehen, wie ich meine Zeit bis dahin verbringe.«
Die zwei entfernten sich. Natürlich war es niemand anderes als Cortejo und Landola. Als sie eine Strecke zurückgelegt hatten, meinte der erstere zu dem letzteren:
»Warum belogen Sie ihn?« – »Belogen? Wieso?« – »Indem Sie sagten, daß wir noch eine kleine Besorgung haben.« – »Ach so! Erraten Sie das nicht?« – »Nein.« – »Nun, damit wir ihn loswerden. Er kann uns von jetzt an nur schaden. Wer mir nichts nützt, der schadet mir, und Nutzen hat er uns genug gebracht. Wir wissen von ihm, wohin wir uns zu wenden haben. Am liebsten möchte ich ihm eine Kugel durch den Kopf jagen.« – »Donnerwetter, er hat uns aus der Gefangenschaft befreit.« – »Ja, das ist auch der Grund, daß ich ihn nicht erschieße.« – »Und außerdem ist es Ihr Bruder.« – »Das geht mich ganz und gar nichts an. Ein jeder ist sich selbst der nächste. Er hat da draußen auf dem Gottesacker die Wächter belauscht, wer weiß, was er da gehört hat. Wie nun, wenn er erfahren hat, daß ich Landola, sein Bruder, bin?« – »Das wäre allerdings schlimm, aber ich bin überzeugt, daß er es nicht weiß. Er sucht seinen Bruder, um sich an ihm zu rächen. Wüßte er, daß Sie der Gesuchte sind, so hätte er uns nicht aus der Gefangenschaft befreit.« – »Was Sie da sagen, klingt sehr klug und weise, ist es aber leider nicht. Wir waren dem Strafgericht verfallen, mein Stiefbruder wäre also zu gar keiner Rache gekommen. Ein Präriejäger aber, der sich rächen will, der rächt sich persönlich, der überläßt diese Rache keinem anderen. Ich halte es für sehr leicht möglich, daß er uns durchschaut hat, ohne es uns merken zu lassen. Und ebenso wahrscheinlich ist es, daß er uns befreit hat, nur daß wir nun desto sicherer ihm allein verfallen sind.« – »Alle Teufel, wenn dies wahr wäre!« – »Ich sage Ihnen, das dies sehr leicht möglich ist.« – »So müssen wir uns allerdings von ihm trennen. Aber wie?« – »Er sieht uns ja nicht wieder.« – »Er kommt doch ins Hotel.« – »Da sind wir bereits fort.« – »Ah! Sie meinen, daß wir ein anderes Hotel beziehen?« – »Fällt mir nicht ein! Wir verlassen augenblicklich die Stadt.« – »Das geht nicht! Wir sind ja mit unserer Aufgabe noch gar nicht zu Ende.« – »Sie ist gescheitert und gar nicht mehr zu lösen. Übrigens kann uns der Überfall des Offiziers viel Schaden machen, und außerdem haben wir als entflohene Gefangene hier keinen sicheren Aufenthalt.« – »Das ist wahr. Also fort.« – »Und zwar sogleich. Aber mein Bruder darf es nicht ahnen. Wir kehren nach dem Hotel zurück, schleichen uns hinein und stehlen uns nur mit dem Notwendigsten fort. Sieht er, daß unsere Pferde und Effekten noch da sind, so wird er glauben, wir kehren zurück, und tagelang warten.« – »Dann wird er doch nach Santa Jaga kommen und uns finden.« – »Nein, denn wir werden dort bereits zu Ende sein.« – »Wie aber kommen wir hin? Laufen können wir doch nicht.« – »Nein; wir reiten.« – »Woher Pferde nehmen, wenn wir die unsrigen zurücklassen?« – »Kaufen. Jeder Pferdehändler hilft uns aus, sogar in der Nacht.« – »Wissen Sie einen?« – »Ich sah heute das Schild eines solchen gar nicht weit von unserem Hotel. An ihn könnten wir uns wenden.« – »Beeilen wir uns also, damit wir bereits fort sind, wenn Ihr Bruder zurückkehrt.«
Als Cortejo und Landola ihren Gasthof erreichten, stiegen sie über die Hofmauer und gelangten unbemerkt auf ihr Zimmer. Dort nahmen sie, wie besprochen worden war, nur das Allernötigste mit und kehrten auf demselben Weg nach der Straße zurück.
Nach einigem Klopfen gelang es ihnen, den Pferdehändler aus dem Schlaf zu wecken. Sie sagten, daß sie auf Mietpferden aus Querétaro kämen, und da sie augenblicklich nach Puebla müßten, so seien sie gezwungen, sich noch während dieser Nacht und in aller Eile Pferde zu kaufen.
Der Mann führte sie in den Stall und zeigte die Pferde. Sie wurden schnell handelseinig und nahmen für jedes Tier noch einen Sattel, da sie, um Grandeprise zu täuschen, die ihrigen im Hotel zurückgelassen hatten.
16. Kapitel
Unterdessen war der Jäger zu dem scheinbar noch ohnmächtigen Offizier getreten, hatte die Uniform ausgezogen und den Degen abgelegt, um an Stelle dieser Sachen seine eigenen Kleidungsstücke wieder anzuziehen, dann entfernte er sich, nachdem er dem regungslos Daliegenden noch den Knebel und die Fesseln abgenommen hatte.
Jetzt war Geierschnabels Zeit gekommen. Er schwang sich wieder über die Mauer herüber und schritt, ohne sich um den Offizier, um den er ja nun unbesorgt zu sein brauchte, zu bekümmern, dem sich Entfernenden nach. Dabei hatte er die Klugheit, seine Stiefel auszuziehen, so daß es nun ganz unmöglich war, daß seine Schritte gehört werden konnten.
Er folgte seinem Vordermann langsam durch mehrere Straßen, bis dieser sein Hotel erreichte. Dort blieb Grandeprise eine ganze Weile stehen und stieg, als ihm das Warten zu lange dauerte, über den Zaun, um durch den Hof nach seinem Gelaß zu gelangen.
Geierschnabel schritt sinnend eine kleine Strecke weiter. Es war jetzt die Nacht sehr vorgeschritten, und über den Anhöhen des Ostens begann sich ein falbes Licht auszubreiten.
Da wurde in kurzer Entfernung ein Tor geöffnet, aus dem zwei Reiter hervorkamen. Am Tor stand ein Mann.
»Adios, Señores«, grüßte er. »Glückliche Reise!« – »Adios«, antwortete einer von den zweien. »Der Handel, den Sie gemacht haben, ist nicht schlecht zu nennen.«
Sie ritten davon, und der Mann verschwand hinter dem Tor. Geierschnabel blickte den Reitern nach, oder vielmehr, er horchte ihnen nach, denn von ihren Gestalten waren nicht einmal die Umrisse deutlich zu erkennen gewesen.
»Bei Gott«, murmelte er, »die Stimme des Reiters war ganz genau diejenige, die dort bei dem gefesselten Offizier mit dem famosen Jäger gesprochen hat. Aber das muß eine Täuschung sein, da diese Reiter eine Reise antreten, während Cortejo und Landola nach ihrem Hotel zurückgekehrt sind.«
Er schritt sinnend eine kleine Strecke weiter und blieb endlich wieder überlegend stehen.
»Der Teufel traue sich und noch weniger anderen«, brummte er. »In dieser schlechten Welt, in der es keinen guten Menschen gibt, wird der beste Mensch von den anderen betrogen. Diese beiden Spitzbuben sind so fein und schlau, daß selbst ein Geierschnabel sich gratulieren kann, wenn es ihm gelingt, sie ein einziges Mal zu überlisten. Das sicherste ist doch das beste. Ich werde mich erkundigen, obgleich in diesem Wigwam, was sie hier Hotel oder Gasthaus nennen, noch keine Menschenseele wach sein wird.«
Er kehrte nach dem Hotel zurück. Seit der Anwesenheit der Franzosen hatten alle dieser Häuser, wo früher an den alten Gebräuchen festgehalten wurde, sich den europäischen Sitten anbequemt. Es waren da Kellner, Kellnerinnen und Hausknechte zu finden. Ein Geist von der letzten Sorte erschien, als Geierschnabel die Glocke zum dritten Male in Bewegung gesetzt hatte. Er machte ein höchst schläfriges und verdrießliches Gesicht und fragte:
»Wer klingelt denn mitten in der Nacht?« – »Ich«, antwortete Geierschnabel gelassen. – »Das merke ich. Aber was sind Sie denn?« – »Ein Fremder.« – »Auch das merke ich. Und was wollen Sie?« – »Mit Ihnen sprechen.« – »Sogar das bemerke ich. Aber ich habe keine Zeit. Gute Nacht.«
Der Hausknecht wollte die Tür schließen, aber Geierschnabel war vorsichtig und rasch genug, ihn daran zu hindern. Er ergriff ihn beim Arm und fragte, obgleich der Hausknecht viel älter schien als er selbst:
»Mein lieber Sohn, warte noch einen Augenblick. Weißt du, was ein Frank ist?«
Der Mann war über diese Frage ganz verblüfft.
»Ja«, antwortete er. »Ein französisches Geldstück, das den fünften Teil eines Duro oder Dollars wert ist.« – »Schön, mein Sohn. Und weiß du auch, was ein Duro oder Dollar ist?« – »Fünfmal so viel als ein Frank.« – »Sieh, du weißt das ganz genau. So einen Duro und noch fünf Franken, also zwei Dollar oder zehn Franken gebe ich dir, wenn du deinen lieblichen Mund öffnen willst, um mir einige kleine Fragen zu beantworten.«
Das war dem Mann noch selten vorgekommen. Er starrte den splendiden Fremden an und fragte:
»Ist das wahr, Señor?« – »Ja. Und außerdem will ich dich Sie nennen, während ich Sie bisher du genannt habe.« – »So geben Sie zuerst einmal das Geld.« – »Nein, nein, mein Sohn. Erst mußt du mir sagen, ob Sie mir antworten wollen, dann werden Sie sehen, ob du das Geld sogleich und ehrlich ausgezahlt bekommst.« – »Gut. Ich werde antworten.« – »Das freut mich. Hier haben Sie zehn Franken.«
Geierschnabel griff in die Tasche, zog einen Lederbeutel und drückte dem Hausknecht ein Geldstück von dem angegebenen Wert in die Hand.
»Señor«, meinte da dieser, »ich danke Ihnen. Unsereiner braucht seinen Schlaf sehr notwendig, aber für so ein Trinkgeld stehe ich zu jeder Zeit auf. Fragen Sie.« – »Es ist nicht viel, was ich zu fragen habe. Logieren heute viele Fremde hier?« – »Nicht sehr viele. Zehn oder elf.« – »Sind dabei drei, die zusammengehören?« – »Nein, wenigstens glaube ich es nicht. Alle wohnen einzeln, außer zweien, die zusammen ein Zimmer genommen haben.« – »Kennen Sie die Namen dieser Señores?« – »Der eine ist Don Antonio Veridante und der andere dessen Sekretär.« – »Ein dritter ist nicht dabei?« – »Ein dritter kam mit ihnen, wohnt aber nicht bei ihnen.« – »Wie heißt er?« – »Ich weiß es nicht« – »Was ist er?« – »Auch das weiß ich nicht. Er geht sehr einfach gekleidet, fast wie ein armer Vaquero oder Jäger.« – »Sind diese drei Personen am Abend ausgegangen?« – »Sie sind seit Einbruch der Nacht fort.« – »Aber sie sind wiedergekommen?« – »Ich habe nichts bemerkt.« – »Ich habe einige vertrauliche Worte mit diesem Jäger oder Vaquero zu sprechen. Wird dies möglich sein?« – »Werden Sie es verantworten, wenn ich ihn wecke, falls er überhaupt daheim ist?« – »Er ist daheim. Und verantworten werde ich es. Gibt es einen Raum, in dem wir sein können, ohne belauscht zu werden?« – »Er schläft nur in einer Hängematte und kann Sie also bei sich empfangen, wann er will. Soll ich ihm einen Namen nennen?« – »Ja. Sagen Sie ihm, Don Velasquo d‘Alcantara y Perfido de Rianza y Hallendi de Salvado y Caranna de Vesta-Vista-Vusta wünscht ihn zu sprechen.«
Geierschnabel sagte diesen Namen in einem so adelsstolzen Ton, daß der dienstbare Geist gar nicht daran zweifelte, daß der Sprecher berechtigt sei, ihn zu tragen. Nur fiel es dem Hausknecht gar nicht leicht, diese Worte mit einem Male zu behalten. Er bat daher:
»Wollen Sie mir den Namen nicht noch einmal nennen, Don Velasquo? Wir sind auf so vornehme Señores noch nicht eingerichtet.« – »Noch nicht eingerichtet? Mit dem Gedächtnis? Gut. Wenn ich hier verkehre, wird diese Schwäche weichen. Ich bin Don Velasquo d‘Alcantara y Perfido de Rianza y Hallendi de Salvado y Caranna de Vesta-Vista-Vusta.« – »Schön. Jetzt weiß ich es sehr genau. Entschuldigen Sie, daß ich Sie an der Tür warten lasse, aber in dem Zimmer schlafen die Maultiertreiber auf der Diele.« – »Tut nichts. Ich will weder die Treiber, noch die Diele in ihrer Ruhe stören!«
Der Hausknecht ging. Vom Hof aus führte eine Holztreppe nach den Räumen empor, die hier mit der Bezeichnung Fremdenzimmer beehrt wurden. Der Mann klopfte leise an eine der Türen. Grandeprise war erst vor wenigen Minuten nach Hause gekommen und schlief noch nicht. Er lag angekleidet in der Matte.
»Wer ist‘s?« fragte er, erstaunt über dieses Klopfen. – »Der Hausmeister. Darf ich einmal hereinkommen?« – »Ja.« – »Mit dem Licht?« – »Immerhin.«
Die Tür öffnete sich leise, damit kein anderer Gast geweckt werde, und der Mann trat ein.
»Was gibt es denn?« fragte der Jäger erstaunt, befremdet und besorgt zu gleicher Zeit. – »Señor, es ist ein Fremder unten, der Sie zu sprechen wünscht.« – »Wer?« – »Ein hoher Herr von Adel. Es ist ein Don – Don – Don Alcanto de Velasquo y Rifeda de Percantara y Hallmanza de Rillendo y Carvado de Salranna y Vesta de Vista y Vusta.«
Der Jäger schüttelte den Kopf.
»Was will er?« – »Er redete von einer freundschaftlichen Besprechung.« – »Ist er von hier?« – »Nein, jedenfalls nicht.«
Das beruhigte Grandeprise; aber dennoch fragte er:
»Woher weiß dieser Don, daß ich hier wohnte?« – »Er muß Sie kennen, denn als ich sagte, daß Sie wie ein Vaquero oder Jäger gekleidet seien, da schickte er mich herauf.« – »Nun, da bin ich neugierig. Er mag kommen!«
Grandeprise brannte, als der Hausknecht sich entfernt hatte, sein Licht an und blickte nach dem Revolver, ob dieser auch im Schuß sei. Nach dem, was heute vorgekommen war, mußte er immerhin auf eine nicht sehr angenehme Überraschung vorbereitet sein.
Da trat der Fremde ein und zog die Tür hinter sich zu, deren Riegel er obendrein vorsichtig vorschob. Die beiden blickten einander ganz erstaunt an. Das hatte keiner von ihnen erwartet.
»Alle Teufel!« rief der eine. – »Alle Wetter!« der andere. – »Geierschnabel!« – »Ihr hier?« – »Wie kommt Ihr hierher nach Mexiko?« – »Nein, wie kommt Ihr her?« – »Ich sah Euch doch bei Juarez!« – »Und ich sah Euch nach dem Rio del Norte gehen. Euer Gesicht kenne ich, aber Euren Namen noch nicht.« – »Grandeprise.« – »Grandeprise? Der dort drüben am Ufer von Texas haust?« – »Ja.« – »Ah, Euer Name hat, soviel Euch betrifft, einen guten Klang, aber es ist auch etwas Widerwärtiges dabei.« – »Wieso?« – »Es gibt einen großen Schuft, der ebenso heißt.« – »Ah! Kennt Ihr ihn?« – »Sehr gut sogar«, nickte Geierschnabel. – »Persönlich?« – »Persönlich und par Renommee.« – »Ist das möglich? Hört, ich suche diesen Kerl schon seit langer Zeit!«
Geierschnabel blickte ihn befremdet an.
»Ihr sucht ihn?« fragte er. – »Ja.« – »Hm. Hm. Und Ihr habt ihn noch nicht gefunden?« – »Leider nicht.« – »So. Hm, hm. Ich denke, ein Jäger muß doch Augen haben!« – »Hoffentlich habe ich welche!« – »Ja, aber ob sie sehen gelernt haben?« – »Ich bin überzeugt davon.« – »Ich nicht. Ich bezweifle es sogar sehr.«
Die Miene Grandeprises verfinsterte sich.
»Soll ich etwa annehmen, daß Ihr mich beleidigen wollt?« fragte er. – »Nein. Aber setzt Euch doch einmal in Eure Hängematte und erlaubt mir, mich da dieses Stuhles zu bedienen. Dann werde ich Euch etwas sagen, was wir näher zu besprechen haben werden.« – »Setzt Euch! Was ist‘s, das Ihr mir zu sagen habt?«
Geierschnabel setzte sich auf den Stuhl, spuckte sein Primchen mit einem dicken Saftstrahl über die ganze Stube, biß sich ein neues, gewaltiges Stück Kautabak ab, und erst dann, als dieses in der Backe den gehörigen Platz gefunden hatte, begann er:
»Ich will Euch in aller Freundschaft bemerken, daß Ihr entweder ein ungeheurer Schurke oder ein ganz bedauerlicher Schwachkopf seid!«
Da glitt der andere blitzschnell aus der Hängematte, zog den Revolver, postierte sich vor den Sprecher und drohte:
»Hölle und Teufel! Wißt Ihr, wie man auf ein solches Wort zu antworten pflegt?«
Geierschnabel nickte phlegmatisch mit dem Kopf und meinte:
»Unter Jägern mit dem Messer oder mit der Kugel, falls die Sache nicht zu beweisen ist.« – »Ich hoffe aber nicht, daß Ihr sie beweisen könnt, Master!« – »Pah! Regt Euch nur nicht auf! Was Geierschnabel einmal sagt, das hat er auch durchdacht und überlegt, und das pflegt er auch zu beweisen. Steckt Eure Drehpistole ein und hört mich an. Habe ich unrecht, so bin ich dabei, wenn wir uns die Hälse brechen wollen.«
Der andere behielt den Revolver in der Hand, ließ sich aber finsteren Blickes in die Hängematte zurückgleiten und entgegnete:
»So redet! Aber nehmt Euch in acht! Ein Wort zu viel, und meine Kugel sitzt Euch im Kopf!« – »Oder Euch die meine!« lachte Geierschnabel. »Ihr behauptet, mich zu kennen, und täuscht Euch da doch gewaltig. Meine Kugel hätte heute schon einige Male Zeit und Gelegenheit, vielleicht auch Veranlassung gehabt, Euch im Kopf zu sitzen.« – »Wieso?« – »Das ist Nebensache. Zunächst habe ich Euch zu beweisen, daß Ihr entweder ein Bösewicht oder ein Schwachkopf seid.« – »Ich werde auf diesen Beweis vergebens warten.« – »Ihr werdet ihn sofort erhalten. Antwortet mir einmal aufrichtig. Ihr wart in Verakruz?« – »Ja.« – »Dort lerntet Ihr zwei Männer kennen, einen Don Antonio Veridante und dessen Sekretär?« – »Ja.« – »Ihr kamt mit ihnen gestern nach Mexiko und hieltet am Abend draußen auf dem Friedhof die Wache, als diese beiden Männer eine Leichenschändung und einen Betrug ausführten?«
Grandeprise blickte ganz erstaunt auf.
»Wie kommt Ihr zu dieser Frage?« meinte er. – »Beantwortet sie!« – »Ja, ich hatte die Wache; aber es ist dabei weder von einer Schändung noch von einem Betrug die Rede.« – »Davon seid Ihr überzeugt?« – »Ich schwöre tausend Eide darauf!« beteuerte Grandeprise. – »Nun, ich will Euch glauben. Aber damit beweist Ihr, daß Ihr zwar kein Schurke, aber dafür ein gewaltiger Schwachkopf seid.«
Der andere wollte abermals aufbrausen, aber Geierschnabel fiel ihm schnell in die Rede:
»Seid ruhig! Ich bringe Beweise. Eure beiden Begleiter wurden gefangengenommen? Nicht wahr?« – »Leider ja.« – »Um sie zu befreien, schlugt Ihr einen Offizier nieder und holtet die Kerle heraus?«
Da erschrak Grandeprise.
»Alle Wetter!« meinte er. »Woher wißt Ihr das?« – »Sagt erst, ob es die Wahrheit ist oder nicht.« – »Ich kann es nicht leugnen. Es war ein wohlgelungener Trapperstreich, auf den ich stolz sein kann, und ich hoffe, daß Ihr als Kamerad mich nicht verraten werdet!« – »Ich bin kein Verräter. Ich hätte Euch längst verraten können und beneide Euch keineswegs um diesen Streich, den Ihr einen wohlgelungenen Trapperstreich nennt. Das war er nicht; aber wißt Ihr, was er im Gegenteil war?« – »Nun?« – »Ein recht dummer Jungenstreich!« – »Master Geierschnabel …« brauste Grandeprise auf. – »Ruhig, ruhig«, antwortete der Genannte. »Ich werde Euch auch das beweisen. Vorher aber sagt mir doch einmal, woher Ihr eigentlich jenen Schurken Grandeprise kennt?« – »Warum fragt Ihr?« – »Weil ich weiß, daß ich Euch dienlich und behilflich sein kann.«
Grandeprise blickte dem Sprecher forschend in das Gesicht und erwiderte dann:
»Alle Welt weiß, daß Geierschnabel ein ehrlicher Kerl und ein tüchtiger Westmann ist. Vor so einem muß man Respekt haben, und darum will ich es ruhig hinnehmen, daß Ihr so mit mir redet, wie ein anderer es niemals wagen dürfte. Ich will Euch sagen, daß dieser Seeräuber Grandeprise mein ärgster Feind ist und daß ich ihn bereits seit langen Jahren suche, um endlich einmal Abrechnung mit ihm zu halten.« – »So, so«, lachte Geierschnabel. »Das ist lustig. Ihr sucht den Kerl und habt ihn doch. Und nachdem ich mir mit anderen die größte Mühe gegeben habe, ihn aufzufinden und festzusetzen, da holt Ihr ihn wieder heraus und laßt ihn entlaufen!« – »Ich verstehe Euch nicht«, meinte Grandeprise. – »Das glaube ich. Wer so einen dummen Jungenstreich verübt hat, der pflegt dann die klügeren Leute nicht zu verstehen. Ich muß Mitleid haben und Euch das Verständnis erleichtern. Ist Euch der Name Cortejo bekannt?« – »Ja«, antwortete der Gefragte sehr kurz. – »Es gibt einen Cortejo in Mexiko und einen drüben im Mutterland. Beide sind die größten Schufte auf der Erde, und sie haben sich den allergrößten engagiert, um ihre Schlechtigkeiten auszuführen.« – »Wer ist das?« – »Landola, den Ihr Grandeprise nennt.« – »Ah! Ihr kennt auch diesen ersteren Namen?« – »Sehr gut sogar. Ist Euch der Name Rodriganda bekannt?« – »Ja. Es gibt ein Grafengeschlecht dieses Namens.« – »Dieses Geschlecht ist sehr reich. Es waren zwei Brüder da, bei denen die beiden Cortejos als Verwalter angestellt waren. Diese letzteren wollten den Reichtum an sich bringen. Den einen Grafen machten sie wahnsinnig und den anderen scheintot. Als er begraben war, gruben sie ihn aus, weckten ihn auf und ließen ihn durch Landola in die Sklaverei verkaufen. Der eine Cortejo hatte einen Sohn, dieser wurde gegen einen Sohn des Rodriganda ausgewechselt, und so kam die Grafschaft in die Hände der Cortejos. Bei dieser Geschichte spielt nun allerlei Mord und Totschlag nebenbei. Personen, die im Wege standen, wurden beseitigt, eine Reihe Personen setzte Landola auf einer wüsten Insel aus, wo sie fast zwanzig Jahre lang im Elend schmachteten. Das war zu viel, da mußte der liebe Gott einmal mit Keulen dreinschlagen, und so haben sich einige Kerle, zu denen auch ich gehöre, zusammengetan, um diesen Menschen das Handwerk zu legen.«
Als Geierschnabel einhielt, fiel Grandeprise ein:
»Landola ist ein Schurke ersten Ranges. Aber was Ihr von den Cortejos sagt, ist wohl übertrieben.« – »Wort für Wort wahr! Ich werde es Euch erzählen!«
Geierschnabel gab nun dem irregeleiteten Jäger eine gedrängte, aber vollständige Darstellung alles dessen, was er selbst wußte. Grandeprise hörte mit immer wachsendem Erstaunen zu, und nachdem der Erzähler geendet hatte, rief er:
»Herrgott! Und diesen Cortejo habe ich gerettet!« – »Ihr?« fragte Geierschnabel überrascht. – »Ja. Oh, nun wird mir alles klar. Ohne mich wäre er blind gewesen und verschmachtet.« – »Sakkerment! Das müßt Ihr erzählen.« – »Ich werde es tun, obgleich ich mich dabei gewaltig blamiere. Ich fange an zu glauben, daß ich dumm gehandelt habe.« – »Oh, noch zehnmal dümmer, als Ihr vielleicht ahnt. Aber erzählt! Dadurch kommt nun endlich Licht in diese dunkle Sache.«
Grandeprise berichtete alles von dem Augenblick an, da er Pablo Cortejo am Rio Grande getroffen hatte, bis zu den Ereignissen des gegenwärtigen Tages. Geierschnabel hörte mit großer Spannung zu, dann sagte er:
»Hört, Master, es gibt doch noch einen Gott im Himmel. Dieser ist es, der mir den Gedanken eingegeben hat, Euch hier aufzusuchen, denn nun weiß ich, wo wir die spurlos Verschwunden finden werden. Aber nun wir gegenseitig alles wissen, sollt Ihr auch das erfahren, was Ihr noch nicht wißt, und damit will ich beweisen, daß Ihr wie ein Schwachkopf gehandelt und einen dummen Jungenstreich begangen habt. Wißt Ihr denn, wer dieser Advokat Antonio Veridante eigentlich ist?« – »Nun?« – »Gasparino Cortejo!« – »Unmöglich!« – »Freilich! Er sucht seinen Bruder! Heute abend wollte er eine Leiche in den leeren Sarg des noch lebenden Grafen Ferdinando legen. Wir erwischten ihn. Ihr aber habt ihn wieder befreit.« – »Ich wiederhole es, das ist unmöglich!« – »Pah! In diesem Fall wird Euch das andere noch viel unmöglicher erscheinen.« – »Was?« – »Wißt Ihr denn, wer der Sekretär dieses Veridante, des Gasparino Cortejo, eigentlich war?« – »Nicht wirklich sein Sekretär?« – »O nein! Ratet es einmal!« – »Ich rate es nicht.« – »Nun, dieser Sekretär war kein anderer als der, den Ihr so vergeblich gesucht habt, nämlich Henrico Landola, der Seeräuberkapitän Grandeprise.«
Der Jäger stand wie erstarrt da. Er war bereits vorher von der Hängematte aufgesprungen und bot nun mit seinen ausgestreckten Armen, seinem offenen Mund und seinen weitaufgerissenen Augen ein Bild des verkörperten Erstaunens, des Fleisch gewordenen Entsetzens.
»Der …?« rief er endlich – »Der – der soll Henrico Landola gewesen sein?« – »Ja. Er hat Euch betrogen, getäuscht und ausgelacht, und Ihr habt ihm vertraut, habt ihm alles aufs Wort geglaubt, Ihr seid der Mitschuldige ihres Verbrechens geworden. Und zuletzt, als wir diesen Menschen, der eigentlich ein Teufel ist, festgenommen hatten, da habt Ihr Freiheit, Ehre, Reputation und selbst das Leben daran gesetzt, um ihn zu befreien, so daß diese Schlange nun wieder stechen und töten kann wie vorher. Ist das nicht ein dummer Jungenstreich, der gar nicht zu begreifen ist?«
Grandeprise holte tief und gepreßt Atem und erwiderte:
»Wenn alles möglich ist, so doch dieses nicht. Ich werde doch meinen Stiefbruder kennen.« – »Ah! Er ist noch dazu ein so naher Verwandter von Euch?« – »Ja. Diese Verwandtschaft war und ist der Fluch meines Lebens.« – »Nun, so sind Eure Augen erst recht nicht zu begreifen.« – »Und ich sage doch, er ist es nicht!« – »Pah! Sie beide, Cortejo und er, haben es mir unten in der Gruft selbst gestanden, daß sie es sind!« – »Wirklich? Gewiß und wahrhaftig?« – »Bei Gott und allen Heiligen! Habt Ihr denn gar nicht bemerkt, daß beide sich die Gesichter mit Kleister oder irgendeinem ähnlichen Mittel beschmiert und so verändert hatten, daß allerdings ein sehr scharfes Auge dazu gehört hätte, hinter diese Schminke zu blicken?«
Da endlich fiel es Grandeprise wie Schuppen von den Augen.
»Mein Gott«, rief er, »ja, das muß es gewesen sein. So oft ich die Stimme dieses Sekretärs hörte, war es mir, als ob sie mir bekannt sei. Sie stieß mich von ihm ab. Oh, ich Esel aller Esel! Meine Dummheit ist geradezu grenzenlos gewesen. Geierschnabel, Ihr habt noch viel zu wenig gesagt, als Ihr mich einen Schwachkopf nanntet. Ich gebe Euch die Erlaubnis, noch ganz andere Worte zu gebrauchen.« – »Na, na«, lachte der andere gutmütig. »Ich könnte zwar Worte suchen wie Ochse, Rhinozeros und so weiter, aber ich will das lieber unterlassen. Sobald einer seine Fehler bekennt, hat er schon begonnen, ein gescheiter Mann zu sein.« – »Aber die Folgen«, rief Grandeprise. – »Welche Folgen?« – »Daß ich bei dieser Leichengeschichte Wache gestanden habe, daß ich mich an einem Offizier vergriffen und die Gefangenen befreit habe! Wie habt Ihr das denn herausbekommen?«
Geierschnabel erzählte auch das.
»Nein, wie dumm von mir«, meinte Grandeprise. »Und ich glaube wirklich, daß dieser Offizier während der ganzen Zeit besinnungslos dagelegen habe. Wißt Ihr denn, daß Ihr mich anzeigen müßt?« – »Wenn wir streng nach dem Gesetz gehen, so habt Ihr allerdings sehr recht. Hm! Hm!« – »Werdet Ihr es tun?« – »Es ist das freilich eine verwickelte Geschichte. Aber Ihr seid Jäger wie ich und sonst ein braver Kerl. Wir sind Kameraden, und in der Savanne haben wir unsere eigenen Regeln und Gebräuche. Was kümmern uns die Gesetze anderer? Sodann müssen wir noch zweierlei bedenken. Erstens wird es nicht anders und besser, wenn ich Euch anzeige, denn die beiden Geflohenen bekommen wir doch nicht zurück. Und zweitens ist es ein Glück, daß Ihr mir in die Hand gelaufen seid. Es ist dadurch Licht in unsere Angelegenheit gekommen, und wir haben den Ort kennengelernt, wo wir die Cortejos und den Landola zu suchen haben.« – »Wo?« – »Im Kloster della Barbara zu Santa Jaga.«
Da klärte sich plötzlich das Gesicht Grandeprises auf.
»Ihr irrt!« sagte er. »Wir haben sie viel näher. Ihr glaubt nicht, wie leicht wir sie haben können.«
Geierschnabel ließ ein fast mitleidiges Lächeln sehen und entgegnete:
»Da habt Ihr sehr recht, ich glaube es allerdings nicht!« – »Und doch sollt Ihr in kurzem überzeugt sein.« – »Wohl nicht! Ihr meint, daß Landola und Gasparino Cortejo sich hier im Hotel befinden?« – »Woher wißt Ihr das?« – »Oh, als ich hinter der Mauer stand, hörte ich ja, daß sie Euch versprachen, nach Verlauf einer halben Stunde hierzusein.« – »Sie sind auch hier.« – »Habt Ihr sie gesehen?« – »Das allerdings nicht.« – »Nun seht! Sie wollten Euch hier einlassen, aber Ihr habt über die Mauer steigen müssen.« – »Ah! Auch das habt Ihr beobachtet?« – »Ja. Ihr seht hieraus, daß der Geierschnabel dem Grandeprise doch wohl etwas überlegen ist, obgleich man seine alte Posaune für eine Höllenmaschine gehalten hat, hahaha! Könnt Ihr in das Zimmer kommen?« – »Zu jeder Minute.« – »Gut, wollen sofort nachsehen.« – »Wir werden sie wecken, und dann sollen sie mir alles bezahlen, was ich bisher bezahlen mußte!« – »Unsinn! Wir werden sie nicht wecken, denn sie werden gar nicht dasein.« – »So kommen sie noch!« – »Hm! Ich habe so eine Ahnung und glaube nicht, daß sie mich täuschen wird. Kommt, wollen sehen!«
Die Männer nahmen das Licht zur Hand und schlichen sich leise, um niemanden zu wecken, nach dem betreffenden Zimmer. Dasselbe war nicht verschlossen. Sie konnten ungehindert eintreten. Geierschnabel hatte recht. Die Gesuchten waren nicht da.
»Sie werden aber doch zurückkehren«, behauptete Grandeprise. – »Meint Ihr? Da wären sie dumm genug. Mit Tagesanbruch wird man in der ganzen Stadt die Geschichte von dem falschen Offizier und den entkommenen Gefangenen wissen. Dann beginnen die Nachforschungen, und diese zwei Menschen sind klug genug, sich nicht so lange herzusetzen, bis sie ergriffen werden. Sie sind bereits fort.« – »Und mich hätten sie hiergelassen?« – »Warum nicht? Soll ich Euch das beweisen?« – »Wie wollt Ihr das anfangen?« – »Sehr einfach. Schaut einmal her.«
Geierschnabel hatte mit dem Licht auf die Diele geleuchtet und gesucht und hob etwas auf, was er Grandeprise hinhielt:
»Was ist das?« – »Straßenkot«, antwortete der Gefragte. – »Fühlt ihn an! Wie findet Ihr ihn?« – »Er ist allerdings noch naß und weich.« – »Wann haben die Kerle diese Stube verlassen, ehe sie nach dem Gottesacker gingen?« – »Bei Anbruch des Abends.« – »Nun, von daher kann der Kot nicht stammen, denn da wäre er hart und trocken geworden. Das, was wir hier sehen, ist vor kaum dreiviertel Stunden von dem Stiefel abgetreten worden. Sie sind also dagewesen.« – »So haben sie mich abermals betrogen!« – »Ich bin überzeugt davon!« – »Ah, ich weiß ein sicheres Mittel, um zu sehen, ob sie nach ihrer Befreiung aus dem Kerker hiergewesen sind. Sie legten ihre Uhren ab, als sie nach dem Kirchhof gingen. Sie wollten sie nicht beschädigen. Hinter dem Spiegel müßten sie noch stecken.«
Geierschnabel ging hin und sah nach.
»Fort!« sagte er. »Seht Ihr‘s! Während der halben Stunde, die sie Euch Zeit gaben, haben sie sich aus dem Staub gemacht. Sie haben Euch los sein wollen.« – »Donnerwetter! Das wird ihnen aber doch nicht gelingen! Sie sind gewiß nach Santa Jaga, und dort werden wir sie erreichen. Wenigstens darin werde ich mich nicht täuschen.« – »Da will ich Euch nicht unrecht geben. Aber hört meinen Rat! Die Polizei wird sehr rasch ausfindig machen, daß die Flüchtlinge hier gewohnt haben. Seid Ihr dann noch da, so ist es um Euch geschehen.« – »Ihr habt recht. Ich gehe fort. Aber wohin?« – »Natürlich mit mir. Ihr müßt unbedingt dem Herrn Leutnant alles erzählen. Euer Gepäck ist nicht groß, und das Pferd laßt Ihr da.« – »Es ist mein Eigentum.« – »Gut, so nehmt es mit. Der Hausknecht ist da. Bezahlt ihm Eure Zeche, so seid Ihr fertig. Meine Anwesenheit ist ein guter Vorwand, Euern Fortgang zu rechtfertigen.«
Das geschah. Nach zehn Minuten ritt Grandeprise zum Tor hinaus, und Geierschnabel ging neben ihm. Als sie bei dem Pferdevermieter vorbeikamen, stand dieser vor der Tür. Er schien, seit man ihn geweckt hatte, nicht wieder zur Ruhe gegangen zu sein. Geierschnabel benützte diese Gelegenheit und blieb bei ihm stehen. Er grüßte höflich und erkundigte sich:
»Habt Ihr viele Pferde im Stall, Señor?« – »Heute nur drei«, lautete die Antwort. – »Verkauft Ihr zufälligerweise eins davon?« – »Verleihen, ja, aber verkaufen nicht. Ich brauche sie selbst. Die zwei letzten, die ich nicht behalten konnte, habe ich heute nacht verkauft.« – »An wen?« – »An zwei Fremde.« – »Woher kamen sie?« – »Aus Querétaro.« – »Und wohin wollten sie?« – »Nach La Puebla.«
Geierschnabel ließ sich das Äußere der Fremden beschreiben und bekam die Überzeugung, daß es wirklich Cortejo und Landola gewesen seien.
Als er mit Grandeprise in seinen Gasthof kam, ließ er Kurt wecken. Dieser erstaunte sehr, als er erfuhr, was sich während seines Schlafes zugetragen hatte. Erst erzählte Geierschnabel, und dann kam die Reihe an Grandeprise, der seine Fehler eingestand, ohne sie beschönigen zu wollen. Sofort wurde beschlossen, den Flüchtigen nachzureiten. Kurt hatte erst mit Herrn von Magnus und dem Alkalden zu sprechen. Er konnte also nicht augenblicklich fort. Es verstand sich von selbst, daß bei den genannten Herren die Beteiligung Grandeprises an den gestrigen Ereignissen mit Schweigen übergangen werden sollte. Um seiner Sicherheit willen mußte er sofort aufbrechen. Geierschnabel ritt mit ihm. Es wurde ausgemacht, daß beide in Tula warten sollten, bis Kurt mit Peters zu ihnen gestoßen seien.
Daß Cortejo und Landola beim Pferdeverleiher angegeben hatten, sie kämen aus Querétaro und wollten nach La Puebla, also in einer ihrer eigentlichen, entgegengesetzten Richtung, das konnte niemanden irremachen, denn sie hatten vorausgesetzt, daß man sich nach ihnen erkundigen werde.
Die Kunde von dem Geschehenen verbreitete sich am Morgen rasch in der Stadt. Die Polizei geriet in eine fieberhafte Tätigkeit und entdeckte, wie Geierschnabel vermutet, bald, wo die Entflohenen gewohnt hatten. Auch auf Grandeprise und selbst Geierschnabel kam der Verdacht. Der Hausknecht konnte angeben, daß noch während der Nacht ein fremder, reicher Don gekommen sei, der den Jäger oder Vaquero abgeholt hatte. Man erkundigte sich, wie er geheißen und ausgesehen habe, und von diesem Augenblick an war im schwarzen Buch der Polizei zu lesen, daß man nach einem gewissen Don d‘Alasquo Velantario y Carfedo de Peranna y Rivado de Salmanza y Hillenda de Vesta y Vista de Vusta vigiliere, der eine ungeheure Nase besitze, die sich jeder als Warnungszeichen dienen lassen möge.
17. Kapitel
In seinem Zimmer des Klosters della Barbara zu Santa Jaga, das der freundliche Leser ja bereits kennt, saß Pater Hilario, in das Studium eines Buches vertieft. Dieses Buch war Luigi Regerdis »Über die Kunst, Könige zu beherrschen«. Er war in diese Lektüre so sehr vertieft, daß er ein halblautes Klopfen an der Tür zweimal überhörte. Erst als dasselbe zum dritten Male, und zwar etwas ungeduldiger erklang, vernahm er es. Er blickte an die Uhr, zog die Brauen finster zusammen, wie man es bei einer unangenehmen Störung zu machen pflegt, und rief ein kurzes »Herein!«
Aber kaum hatte sich die Tür geöffnet, so daß er den Eintretenden bemerken konnte, da glätteten sich die Falten seines Gesichts und er erhob sich in einer Weise, die deutlich besagt, daß der Kommende ihm sehr angenehm und willkommen sei. Dieser war von kurzer, gedrungener Gestalt. Seine gelben Hängebacken ließen erraten, daß er nicht gewöhnt sei, zu darben; seine kleinen Äuglein hatten jetzt einen freundlichen Glanz, konnten jedenfalls aber auch ganz anders blicken, und seine ganze Erscheinung war diejenige eines Mannes, der sich seines Wertes und seiner Würde wohl bewußt ist.
»Ah, mein lieber Bruder in dem Herrn, willkommen, tausendmal willkommen!« sagte Hilario, indem er dem Eintretenden beide Hände entgegenstreckte. »Wie lieblich sind die Füße des Boten, die da Gutes predigen und Heil verkündigen. Euch hätte ich nicht erwartet, das will ich aufrichtig sagen.«
Sie küßten sich gegenseitig auf die fast mit anekelnder Zärtlichkeit angebotenen Wangen, und dann antwortete der andere:
»Der Mann des Glaubens wandelt die Wege der Vorsehung. Er weiß heute niemals, wohin sie ihn morgen führen werden, aber er bringt Segen mit seinen Schritten und Freude mit seinen Worten.«
Bei dieser mit großer Salbung hervorgebrachten Rede erheiterten sich die Züge des Paters Hilario in einer solchen Weise, daß seine Freundlichkeit wörtlich eine glänzende genannt werden konnte.
»Wie?« fragte er. »Ihr bringt mir gute Botschaft?« – »Ja«, nickte der andere. – »Woher? Aus dem Hauptquartier des Juarez?« – »O nein. Was kann aus der Höhle der Hyäne Gutes kommen!« – »Aus dem Lager des französischen Marschalls?« – »Auch nicht. Der Franzose hat uns genommen, soviel er konnte; er wird uns nichts wiedergeben. Von ihm haben wir nichts zu erwarten.« – »Also vom Kaiser?« meinte Hilario jetzt sehr gespannt. – »Ja, lieber Bruder, vom Kaiser komme ich.« – »Ah, vom Kaiser selbst?« – »Nein. Der Kaiser ist ein Rohr. Von einer starken Hand gehalten, wird es wachsen und zunehmen, unbeschützt aber wird es der nächste Wind umbrechen, so daß es im Staub liegt. Ich komme vom obersten Diener des Herrn und habe Euch im Namen desselben einige Fragen vorzulegen.« – »Ich bin bereit, Euch zu antworten. Wollen wir aber nicht zu dem Wort auch den besten Quell des Wortes nehmen?«
Hilario öffnete ein kleines Schränkchen und zog eine Flasche hervor, aus der er zwei Gläser füllte. Sie stießen an und nahmen die Gläser an den Mund. Es war eigentümlich, mit welcher Aufmerksamkeit der Gast sein Auge auf das Glas des Paters richtete, um sich zu überzeugen, ob derselbe auch wirklich trinken werde. Erst als er bemerkte, daß Hilario sein Glas bis über die Hälfte leerte, ließ auch er sich den süßen, starken Trank über die Lippen laufen. Es war fast, als ob er besorge, daß der Wein eine schädliche Substanz enthalten könne. Hielt er den Pater Hilario, gegen den er doch so freundlich war, für einen Giftmischer?
Sie setzten beide die Gläser auf den Tisch und nahmen die Stühle daneben; dann begann der kleine Dicke:
»Sind wir hier vollständig sicher und unbeobachtet, mein Bruder?« – »Wir werden nicht gestört« – »Auch wird niemand unsere Worte vernehmen?« – »Man kann und wird uns nicht belauschen, denn mein Neffe ist angewiesen, Wache zu halten, sobald ich Besuch habe.« – »So wollen wir von Politik sprechen oder vielmehr von einer Seite der Politik …«
Der Blick des Dicken fiel auf das aufgeschlagene Buch, das der Pater auf den Tisch gelegt hatte. Er unterbrach sich, nahm es zur Hand, las den Titel, blätterte ein wenig darin, und sagte dann, zustimmend mit dem Kopf nickend:
»Ihr lest dieses Buch? Wißt Ihr bereits, daß es in einigen Ländern verboten ist?« – »Ja. Aber der Verfasser gehört zu den Unsrigen.« – »Folglich ist es wert, wenigstens gelesen zu werden. Auch ich habe es und kann sagen, daß ich es mit vielem Vergnügen durchlas. Was sagt Ihr zu dem Kapitel über die Wahl der Mittel zu den im Titel angegebenen Zwecken?« – »Hm«, meinte der Pater mit vorsichtiger Zurückhaltung, »ich möchte fast glauben, daß der Verfasser sich hier etwas zu viel Freiheit genommen hat.«
Der Dicke warf einen forschenden Blick auf Hilario und fragte:
»Das ist Eure wirkliche, rückhaltlose Meinung?« – »Muß es die nicht sein? Haben wir nicht nach den Regeln zu urteilen, die uns von den Lehren und Satzungen der heiligen Kirche vorgeschrieben werden?« – »Wollt Ihr Versteckens mit mir spielen, Pater Hilario?« fragte der andere mit einem überlegenen Lächeln. »Was nennt Ihr Regeln? Was sind Lehren und Satzungen?« – »Ich meine damit die heiligen Worte, die aufbewahrt wurden, weil sie vom Geist Gottes eingegeben worden sind.« – »Zugegeben! Aber lebt dieser Geist nicht mehr? Hat er etwa seine Kraft verloren? Hat er es etwa vorgezogen, nicht mehr auf die Menschen zu wirken? Er hat auf Abraham, Moses, die Richter und Propheten, auf die Apostel und Evangelisten gewirkt. Er hat die Kirchenväter und Päpste erleuchtet; er hat sogar aus Calvin, Luther und Zwingli gesprochen. Was versteht Ihr überhaupt unter diesem Geist Gottes?« – »Kann man von ihm, von Gott und Geist, eine Definition geben?« – »Nein, aber man kann den Begriff umschreiben, man kann seine Meinung in Worten ausdrücken. Hervorragende Männer werden vom Geist Gottes erleuchtet. Die Menschheit entwickelt sich, und der Geist akkomodiert sich dem gegebenen Bildungszustand der Völker, wie sich der Lehrer dem seiner Schüler anbequemt. Die einfache Sprache, die kindliche Anschauung früherer Jahrhunderte ist überwunden. Was der Geist damals sagte, galt für die damals Lebenden, nicht für die später Kommenden. Darum ist jeder neue, große Mann auch ein Reformator. Kann es also Satzungen und Regeln geben, die für Jahrtausende Geltung haben dürfen oder gar müssen?« – »Nein.« – »Nun gut! Wollen wir nun annehmen, daß der Geist nur in einigen Auserlesenen tätig sei? Wohnt er nicht vielmehr in uns allen? Ich muß Euch da ganz bestimmt um Eure Meinung ersuchen.« – »Der Geist wohnt in jedem, das ist nicht zu bestreiten, obgleich er, je nach der vorgefundenen Materie, den einen mehr, den anderen weniger erleuchtet.« – »Angenommen! Was von einzelnen Jahrhunderten, von einzelnen Nationen gilt, muß auch von jedem Menschen gelten. Der Geist bedient sich nicht einer Universalsprache, er spricht mit dem einzelnen in der Weise, die demselben verständlich ist. Die Lehren und Regeln, die er dem einen gibt, können nicht für einen anderen oder für alle passen. Auf diese Weise entwickeln sich individuelle Satzungen und Gesetze, die, da sie vom Geist stammen, heiliger und unverletzlicher sind als alle die sogenannten Gesetze, die die Herren Juristen zusammenstellen. Der Mensch, als vom Geist Gottes beeinflußt, ist nur sich selbst verantwortlich; er hat niemandem Rechenschaft abzulegen über das, was er denkt, redet und tut. Das ist das Resultat der einzig richtigen Philosophie. Wir werden nicht das Reich der Freiheit erlangen, in dem jeder sein eigener Richter und Gesetzgeber ist. Es gehören nur wenig Auserwählte zu demselben. Der Verfasser dieses Buches beweist, daß er einer dieser Auserwählten ist.«
Es war eine furchtbare Philosophie; dieser kleine, dicke Mensch entwickelte ein System, das allen Gesetzen Hohn sprach und einem jeden gerade das zu tun erlaubte, was ihm beliebte; es war die Philosophie der Bosheit, des Verderbens.
Er blickte scheinbar nachdenklich und, wie auf eine Fortsetzung seiner Rede sinnend, vor sich hin, aber diese Pause hatte doch nur den Zweck, die Wirkung zu taxieren, die seine Worte auf den Pater gemacht hatten. Dann fragte er:
»Darf ich annehmen, daß Ihr mit diesen Deduktionen einverstanden seid?«
Der Pater zuckte die Achsel und antwortete:
»Im allgemeinen, ja; aber im besonderen nicht.« – »Wieso?« – »Es schmeichelt mir, daß ein jeder Mensch, also auch ich, vom Geist erleuchtet werden soll. Aber der Umstand, daß diese Erleuchtung je nach der Individualität eine verschiedene ist, läßt mich annehmen, daß zwei Menschen niemals vollständig, sondern nur im allgemeinen gleicher Meinung sein können. Ich muß mir daher die Individualität meines Denkens und Handelns vorbehalten.«
Ahnte der Pater vielleicht, daß der andere das Gespräch nicht ohne Absicht auf dieses Thema gebracht hatte? Ahnte er, daß derselbe damit irgendeinen gefährlichen Zweck verfolge? Erriet er diesen Zweck, und war er etwa entschlossen, sich gegen denselben aufzulehnen?
Der andere schien dieser Ansicht zu sein, denn seine Äuglein verkleinerten sich noch mehr, und er nagte einige Augenblicke lang mit den Zähnen an der Unterlippe, ehe er in scheinbar gleichgültigem Ton sagte:
»Wem fällt es denn ein, Eure Individualität anzugreifen? Wir sprachen ja nur darüber, daß der Verfasser dieses Buches zu weit zu gehen scheint, und es war, gerade da er einer der Unsrigen ist, meine Pflicht, ihn gegen diesen Vorwurf in Schutz zu nehmen.« – »Es sollte eine Meinung sein und kein Vorwurf«, entschuldigte sich Pater Hilario. – »Das freut mich um Euretwillen und besonders auch des Umstandes wegen, daß wir sehr oft, ja, meist gezwungen sind, nach den Anschauungen dieses Buches zu handeln. Der Beweis für diese Behauptung wird sich auch Euch gegenwärtig bieten.« – »So vermute ich, daß Ihr mir den Stoff oder vielmehr den Auftrag zu einer solchen Handlung bringt.« – »Ihr vermutet richtig. Es soll Euch Gelegenheit gegeben werden zu einer Tat des Geistes, auf die Ihr stolz sein könnt, zu einer Tat, die große Belohnung finden wird.« – »Ich bin gern bereit, Euren Auftrag entgegenzunehmen.« – »So hört.«
Der Kleine ergriff das Glas, benetzte seine Lippen, als ob er dieselben zu dem Kommenden erst kräftigen müsse, setzte sich behaglich in seinem Stuhl zurecht und fuhr dann fort:
»Ihr kennt den Zustand unseres Landes und wißt, was wir, das heißt unsere Gesinnungsgenossen, von demselben erwarten können. Oder glaubt Ihr etwa, Euer Heil bei Juarez zu finden?« – »Oh, keineswegs.« – »Bei diesem österreichischen Max?« – »Ebensowenig.« – »Oder bei irgendeinem anderen Führer, der unseren Grundsätzen ebenso fern steht, wie er sich weigert, unsere berechtigten Forderungen anzuerkennen und zu befriedigen?« – »Ganz und gar nicht.« – »Nun gut, so sehen wir doch einmal, ob uns wirklich alle Hoffnungen genommen sind. Was haltet Ihr von der Fortdauer der französischen Invasion?« – »Die Franzosen müssen gehen.« – »Von der Fortdauer des Kaiserreiches?« – Es wird und muß zusammenbrechen, sobald es seiner einzigen Stütze, das heißt der Franzosen, beraubt ist.« – »Was wird dann geschehen?« – »Juarez wird wieder an das Ruder kommen.« – »Und was haben wir von diesem Mann zu erwarten?« – »Die unnachsichtigste Rache, die schärfste Unterdrückung.« – »Ich sehe, daß wir übereinstimmen. Wir müssen dieses uns bevorstehende Schicksal zu vermeiden suchen; das ist eine Aufgabe, an die wir alle Kräfte setzen müssen.« – »Es wird uns nicht gelingen, sie zu lösen«, meinte der Pater. – »Warum?« fragte der andere, indem ein leises, überlegenes und fast höhnisches Lächeln um seine Lippen spielte. – »Wollen und können wir die Franzosen zurückhalten?« – »Fällt uns nicht ein.« – »Oder wollen wir das Kaiserreich dieses Maximilian stützen?« – »Dieses ebensowenig.« – »Oder wollen wir uns der wahnsinnigen Hoffnung hingeben, daß es uns gelingen werde, Juarez uns zum Freund zu machen?« – »Das am allerwenigsten. Wißt Ihr, was er kürzlich über uns hat verlauten lassen?« – »Ich hörte es noch nicht.« – »Er hat geäußert, daß es eine Partei im Lande gebe, die er die Partei des Teufels nennen möchte. Weder republikanisch, noch kaiserlich, noch sonst irgendwie gesinnt, rekrutierte sie sich aus Menschen, die, außerhalb aller göttlichen und menschlichen Gesetze stehend, sich von der Kirche losgesagt haben und zum Schein und zur Täuschung anderer sich doch unter dem Panier des Christentums versammle. Diese Partei gebe keinen Pardon und habe also von ihm auch keinen zu erwarten. Sie sei trotz ihres frommen Habitus ja nicht etwa mit der Partei der ultra oder kirchlich Gesinnten zu verwechseln. Sie bestehe aus nur wenigen Mitgliedern, besitze aber eine Tatkraft und Rücksichtslosigkeit, die sie geradezu furchtbar mache.«
Pater Hilario lächelte, ehe er antwortete, eine Weile zufrieden vor sich hin.
»Dieser Juarez scheint uns zu kennen«, meinte er. »Sein Urteil weicht nicht gar zu sehr von der Wahrheit ab.« – »Ich muß es sogar als vollständig treffend bezeichnen. Wir sehen also sehr leicht ein, daß wir von den anderen keine Vorteile, von ihm aber weder Gnade noch Erbarmen zu erwarten haben. Wird er von neuem Präsident, so fallen wir dem unvermeidlichen Verderben anheim. Daraus folgt der Kernpunkt unserer gegenwärtigen Politik: Die anderen gehen fort, Juarez aber geht unter.«
Der Pater schüttelte den Kopf.
»Diese Politik wäre eine gute, wenn sie nur Aussicht auf Erfolg haben könnte«, sagte er.
Wieder spielte jenes höhnische, überlegene Lächeln um die Lippen des Kleinen. Er zuckte die Achseln und meinte leichthin:
»Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen. Glücklicherweise aber haben wir an unserer Spitze einen Mann, dem es nie an Rat fehlt; also läßt sich wohl annehmen, daß uns doch auch zu helfen sei.« – »Hm. Ich kenne nur einen einzigen Rat, den es geben könnte.« – »Welchen?« – »Juarez müßte sterben. Dann wäre man ihn los.« – »Ihr haltet das wirklich für den einzig möglichen Rat?« – »Ja.« – »Ihr Kurzsichtigen könnt mich dauern! Habt Ihr denn noch nie gehört, daß, selbst wenn ein Mensch stirbt, die Seele seines Wirkens doch immer weiterschafft? Wenn Juarez stirbt, so treten andere auf, die in seinem Geist fortarbeiten. Hilfe wird uns also nur dann, wenn man Juarez leben läßt, aber diesen seinen Geist tötet.«
Der Pater, sonst doch ein so scharfsinniger und rücksichtsloser Mann, machte ein sehr verblüfftes Gesicht und meinte:
»Ihr sprecht mir zu hoch, Eure Worte sind mir lauter Rätsel, ich verstehe Euch nicht.« – »Nun, dann muß ich Euch abermals bedauern. Juarez selbst muß leben bleiben, er darf nicht angetastet werden, denn wir wollen ihn zu einem unserer Werkzeuge machen. Aber sein Geist, die Seele seines Wirkens muß sterben, muß moralisch und politisch totgemacht werden. Ist der Augenblick da, wo er sein Werk zu krönen vermeint, muß diese Krone sich in eine Verbrechermütze verwandeln, um die sich ein Scheiterhaufen erhebt, dessen Flammen aus allen Teilen der Erde emporlodern.« – »Ich merke, daß Ihr einen bestimmten Plan vor Augen habt, doch ist es mir nicht möglich, ihn zu erraten.« – »Nun, so will ich ihn Euch in kurzen, trockenen Worten sagen: Kaiser Max ist ein unglücklicher, guter Mensch, der zwar den Fehler begangen hat, Mexiko glücklich machen zu wollen, aber doch die Sympathie der ganzen Erde besitzt. Sein Schicksal war die Abdankung. Das liegt aber nicht in unserem Sinn. Sein Schicksal muß ein viel, viel schlimmeres sein, und Juarez muß zum Urheber desselben gemacht werden. Mit einem Wort, Juarez muß der Mörder des Kaisers Maximilian von Mexiko werden.«
Der Pater fuhr in seinem Stuhl empor.
»Alle Teufel!« rief er. »Dann wäre er allerdings verloren. Er würde von aller Welt gerichtet werden, er würde unmöglich sein, er wäre in jeder Beziehung tot und abgetan.« – »Jawohl. Und dann? Kein Napoleon, kein Bazaine, kein Österreicher, kein Juarez! Wir hätten gewonnenes Spiel!« – »Werden aber niemals so weit kommen.« – »Warum?« – »Es wird kein Mensch Juarez dazu bringen, der Mörder des Kaisers zu sein.« – »Oh, ich kenne doch einen, der dies fertigbringen soll und wird!« – »Wer wäre das?« – »Ihr! Pater Hilario aus Santa Jaga!«
Der Pater machte ein Gesicht, das sich gar nicht beschreiben läßt. Man sah es ihm aber an, daß er mehr erschrocken als erstaunt war, gerade seinen Namen hier zu hören.
»Um des Teufels willen! Was könnte denn ich dabei tun?« rief er mit dem Ausdruck gänzlicher Ratlosigkeit. – »Fällt Euch denn wirklich gar nichts bei?« – »Soll ich den Kaiser etwa erschießen und die Schuld auf Juarez schieben?« – »Nein.« – »Oder soll ich den Kaiser vergiften und dann sagen, daß Juarez mir das Gift bezahlt habe?« – »Nein.« – »Das hieße, mich geradezu in den offenbaren Tod schicken!« – »Das beabsichtigen wir ja nicht. Es gibt da ganz andere, viel feinere und geschicktere Wege.« – »Ich sehe keinen anderen. Der Kaiser kann nicht anders sterben als durch Meuchelmord.« – »Den verschmähen wir. Kennt Ihr denn gar nicht sein berüchtigtes Dekret, in dem er gebietet, jeden Patrioten als Räuber zu behandeln und zu erschießen?« – »Natürlich kenne ich es.« – »Aber Ihr wißt nicht, daß die Wirkung dieses Dekretes auf ihn zurückfallen muß?« – »Auch das weiß ich. Wenn Max in die Hände der Republikaner fällt, so wird ihm der Prozeß gemacht. Juarez kann nicht anders; er darf ihn nicht begnadigen, wenn er nicht dadurch sich selbst verderben will.« – »Nun gut. Endlich fangt Ihr einmal an, zu begreifen! Wir haben weiter nichts zu tun, als eben einfach dafür zu sorgen, daß Max in die Hände der Republikaner fällt.« – »Wie sollte man das anfangen?« – »Ihr denkt nicht daran, daß die Franzosen abziehen werden.« – »Er wird mit ihnen gehen. Napoleon hat die hohe Verpflichtung, das Opfer, das er uns herbeigeschleppt hat, wieder mit sich fortzunehmen; er darf ohne dasselbe nicht abziehen, wenn er nicht von aller Welt gerichtet und verurteilt sein will.« – »Das ist zwar wahr; aber wie nun, wenn sich gerade dieses Opfer weigert, mit ihm zu gehen?« – »Das wäre Wahnsinn!« – »Allerdings. Aber der Wahnsinn, überhaupt unser Kaiser werden zu wollen, war nicht geringer. Max ist lenkbar und ein Träumer. Malt ihm eine Krone vor, und er hält die Farbe für reines Gold.
Es bedarf nur eines Mannes oder zweier Männer, um den Plan gelingen zu lassen. Den einen haben wir bereits, der andere sollt Ihr sein.« – »Ich?« fragte der Pater abermals erschrocken. »Ich soll dem Kaiser raten, nicht mit den Franzosen abzuziehen?« – »Ja, Ihr!« – »Das bringe ich allerdings nicht fertig.« – »Oh, man wird Euch alle Mittel in die Hand geben, die nötig sind, diesen Maximilian zu überzeugen, daß Ihr recht habt.« – »Er wird es doch nicht glauben.« – »Ihr kennt ihn schlecht, wir aber haben ihn studiert.« – »So soll ich Santa Jaga verlassen und zu Max gehen?« – »Ja.« – »Das geht nicht, das kann ich nicht; ich habe große Verpflichtungen, die mich hier zurückhalten.« – »So macht Eure Rechnung, und man wird Euch entschädigen.« – »Ich fühle mich für die Lösung einer solchen Aufgabe ganz und gar nicht geeignet!« – »Das kommt nicht in Betracht. Wir anderen wissen gerade, daß Ihr der geeignetste Mann dazu seid. Und das ist die Hauptsache.«
Der Pater befand sich augenscheinlich in einer schauderhaften Verlegenheit. Es war allerdings nicht wahr, daß er sich einer solchen Aufgabe nicht für gewachsen hielt; aber er dachte an die Gefangenen, die in seinem Keller steckten, und die er zu beaufsichtigen und zu ernähren hatte. Konnte er fort?
»Nein!« sagte er. »Ich bitte, von mir abzusehen. Es sind andere da, die eine solche Auszeichnung verdienen.« – »Diese anderen sind bereits beschäftigt. Ich habe Euch den ganz bestimmten Befehl zu überbringen, von heute an in zehn Tagen einzutreffen.« – »In Mexiko?« – »Ja.« – »Ich denke, Max residiert in Cuernavaca?« – »Ihr werdet nach Mexiko eine Einladung erhalten, bei ihm zur Audienz zu erscheinen. Ihr seht, daß alles eingeleitet ist und also nichts mehr redressiert werden kann.« – »Und dennoch bin ich gezwungen, zu verzichten.«
Da erhob sich der andere. Seine Miene nahm auf einmal einen erbarmungslosen Ausdruck an; seine Augen hefteten sich fast durchbohrend auf den Pater, und in einem Ton, der dem Versuch eines Löwen, seine Stimme zu erheben, glich, fragte er:
»Ihr wollt wirklich verzichten?« – »Ja.« – »Trotz des strikten Befehls, den ich Euch überbringe?« – »Ich bin gezwungen dazu.« – »Kennt Ihr die Gesetze unserer Verbindung denn noch?« – »Ich kenne sie.« – »Was hat einer zu erwarten, der sich weigert, einen Befehl zu erfüllen?« – »Allerdings eine Bestrafung.«
Der Dicke ahmte höhnisch den Ton des Paters nach, indem er auch dessen Worte wiederholte:
»Allerdings eine Bestrafung! Aber was denkt Ihr Euch denn wohl bei diesem Wort Bestrafung, das Ihr mit einer so naiven Unbefangenheit aussprecht?« – »Es ist eine Bestrafung festgesetzt; aber worin diese zu bestehen hat, das ist nicht erwähnt« – »So denkt Ihr wohl gar, daß die Bestrafung Eurer unbegreiflichen Weigerung etwa in einer kleinen Geldbuße bestehen werde?« – »Ich weiß, daß geheime Verbindungen nicht so leichte Strafen in Anwendung bringen. Ich bin also auf eine größere Geldsumme gefaßt, die ich zu zahlen haben werde.«
Da brach der Dicke in ein lautes Gelächter aus.
»Geld! Geld! Geld!« meinte er. »Ich sage Euch, daß unsere Verbrüderung gar keine Geldstrafe kennt. Es gibt nur eine einzige Art der Bestrafung, und diese heißt – Tod.« – »Tod!« rief der Pater, tief erbleichend. »Wer hat das Recht, eine solche Strafe zu verhängen? Ich erkenne es nicht an.« – »Pah! Ihr habt es durch Euren Beitritt anerkannt!« – »Eine solche Härte wäre Grausamkeit, Unmenschlichkeit.«
Da blickte der andere ihn fixierend von der Seite an und sagte:
»Grausamkeit? Unmenschlichkeit? Diese Worte gebraucht Ihr?« – »Ja, ich!« – »Das ist fast lustig; das ist sogar lächerlich. Kann es einen grausameren, rücksichtsloseren Schurken geben als Euch? Und Ihr, Ihr wollt andere grausam und unmenschlich nennen?«
Der Pater trat einen Schritt zurück und antwortete: »Was fallt Euch ein? Was wißt Ihr von mir?« – »Wenn nicht alles, so doch vieles. Oder glaubt Ihr, daß wir das Tun und Treiben unserer Mitglieder nicht beobachten und kennen? Wollten wir das unterlassen, so könnten wir gar nicht bestehen. Oft kennen wir unsere Leute besser als sie sich selbst Was also die Strafe betrifft, so wiederhole ich, daß es nur eine einzige gibt, und diese ist der Tod.« – »So trete ich aus!« – »Hahaha! Austreten! Der Teufel läßt keine Seele wieder aus den Krallen. Ein Austritt ist nicht gestattet, ist nicht möglich. Nur der Tod gibt Befreiung.« – »Beim Himmel! Das hätte ich früher wissen sollen.« – »Ah, manches Eurer Opfer hätte Euch früher kennen sollen! Also, ich wiederhole meine Frage, ob Ihr dem Befehl gehorchen wollt.« – »Laßt mir wenigstens Bedenkzeit.« – »Wozu Bedenkzeit, da alles bereits fest bestimmt ist? Ihr habt ebenso blind und unweigerlich zu gehorchen wie jedes andere Mitglied. Euch besonders will ich noch die Mitteilung machen, daß die Todesstrafe zwar unsere einzige ist, daß wir aber doch auch noch gewisse Verschärfungen kennen. Euer Tod zum Beispiel würde ein sehr verschärfter und nicht etwa ein leichter sein.« – »Glaubt Ihr etwa, daß ich zu Eurem Scherz mich ängstigen lasse?« – »Ich scherze nicht. Ich spreche aus Kenntnis der Sache. Ihr seid nicht der erste, dem ich sein Todesurteil gebracht habe. Das Eure würde darin bestehen, daß Ihr zerrissen oder gevierteilt würdet, und zwar bei lebendigem Leib.«
Das war dem Pater zu stark, so daß er zu glauben anfing, es handle sich wirklich nur um einen grausamen Spaß.
»Ihr würdet dann das Geschäft des Vierteilens wohl in eigener Person vornehmen?« fragte er lachend.
Der Dicke aber behielt sein strenges Gesicht bei und antwortete:
»Das fiele mir nicht ein. Wir wissen es so einzurichten, daß wir unser Urteil niemals selbst zu vollstrecken brauchen. Ihr, zum Exempel, würdet in der Hauptstadt von dem offiziellen Henker hingerichtet. Dafür würden wir sorgen.«
Es überlief den Pater ein kalter Schauder. Der Ton des anderen überzeugte ihn, daß es sich doch nicht um einen Scherz handle.
»Auf welche Weise wolltet Ihr das besorgen?« fragte er. – »Hm! Das will ich Euch sagen, obgleich ich eigentlich zu einer solchen Aufrichtigkeit gar nicht verpflichtet bin. Aber, da fällt mir gleich eine Frage ein, die ich nicht vergessen möchte. Gibt es wohl ein Gift, das den Geist tötet?«
Der Pater dachte wirklich, daß diese Frage seinem Besucher nur ganz zufälligerweise in den Sinn gekommen sei. Als Fachmann erwachte sofort sein Interesse daran, und so antwortete er ahnungslos:
»Ein jedes Gift wirkt eigentlich, indem es den Körper schädigt, auch indirekt auf den Geist.« – »Das meine ich nicht. Ich frage nach einem Mittel, das direkt den Geist tötet, ohne den Körper zu verletzen.« – »Ha, da könnte man das Kurare nennen. Rein angewandt, tötet es die Bewegungsnerven. Der Betreffende liegt regungslos da, scheinbar tot, weiß aber alles, was mit ihm getan wird. Er fühlt ein jedes Lüftchen und den geringsten Nadelstich. In einer Vermischung wirkt es augenblicklich tötend, und in einer anderen Vermischung wirkt es allerdings nur auf den Geist, den es wahnsinnig macht, ohne die geringste Wirkung auf den Körper.« – »Kennt Ihr diese Mischung?« – »Nein.« – »Gibt es noch ein weiteres Gift, das nur wahnsinnig macht, ohne von irgendeiner weiteren Wirkung zu sein?« – »Nein«, sagte der Pater zurückhaltend. – »Und doch hat man mir da kürzlich den Namen eines solchen genannt.« – »Wie hieß es?« – »Ich glaube Toloachi, oder, wie es ausgesprochen wird, Toloadschi.« – »Toloadschi?« machte der Pater nachdenklich. »Hm!« – »Kennt Ihr es?« – »Nein, gar nicht.« – »Das ist doch höchst wunderbar.« – »Warum?« – »Weil Toloadschi eine hier bei uns so häufige Pflanze ist.« – »Möglich, aber ihre Wirkung kenne ich nicht.« – »Sie soll große Ähnlichkeit mit der Wolfsmilch haben. Ein paar Tropfen ihres Milchsaftes, der vollständig geschmack– und auch geruchlos ist, erzeugt einen unheilbaren Wahnsinn, während der Körper dabei ein hohes Alter erreichen kann. Politische Gegner, Nebenbuhler, allerlei Feinde und Konkurrenten pflegen sich damit unschädlich zu machen, ja, es soll sogar vorgekommen sein, daß – ah, solltet Ihr es nicht auch bereits gehört haben, daß man mit einigen Tropfen dieses Toloadschi auch gekrönte Häupter wahnsinnig gemacht hat?« – »Weiß nichts davon«, antwortete der Pater möglichst unbefangen. Dem anderen aber entging es nicht, daß die Stimme des Paters ganz plötzlich einen gepreßten Ton angenommen hatte.
Der Dicke fuhr in erzählendem Ton fort:
»So spricht man von einer Kaiserin, von der das Volk nichts wissen wollte, weil sie und der Kaiser dem letzteren aufgedrungen worden waren. In einem Kloster wohnte ein früherer Pater, der sich sehr viel mit Medizin beschäftigt hatte und besonders ein ausgezeichneter Kenner des Toloadschi war.«
Der Pater konnte ein Husten nicht unterdrücken.
»Ihr hustet?« fragte der andere höhnisch. »Seid Ihr krank?« – »Nein.« – »Oder langweilt Euch mein Geschwätz?« – »O nein.« – »So kann ich diesen hochinteressanten Fall weitererzählen. Zu diesem Pater nämlich kamen zwei Männer und verlangten von ihm ein Wahnsinn erzeugendes Gift. Sie machten kein Hehl daraus, daß es für die Kaiserin bestimmt sei, erhielten es aber dennoch, natürlich gegen die Auszahlung einer angemessenen Summe, deren Höhe ich sogar kenne.« – »Ist das nicht ein Märchen oder Phantasiestück?« warf der Pater, dem der Schweiß auf die Stirn zu treten begann, ein. – »O nein. Die Kaiserin erhielt das Gift. Nach und nach stellten sich die Vorwirkungen, die den völligen Wahnsinn vorbereiten, ein. Die hohe Dame war gezwungen, einen anderen Kaiser, von dem ihre Krone abhängig war, zu besuchen, um die Erfüllung eines Wunsches von ihm zu erlangen, was allerdings vergeblich war. Kurze Zeit darauf trat der Wahnsinn bei ihr ein.« – »Vielleicht hat sie sich über die Vergeblichkeit dieser Reise und die Nichterfüllung ihres Wunsches so sehr aufgeregt und gekränkt, daß dies der Grund ihrer Krankheit geworden ist.« – »So hieß es allerdings, und so heißt es noch überall; aber Eingeweihte wissen es besser. Wißt Ihr, wer diese Eingeweihten sind?« – »Nein.« – »Einige Obermeister unseres Geheimbundes; auch ich gehöre zu ihnen. Und wißt Ihr, welche Kaiserin ich meine?« – »Ich – ich ahne es«, stieß der Pater hervor. – »So brauche ich es nicht zu sagen. Aber ahnt Ihr denn vielleicht auch, wer der Giftmischer ist?« – »Nein.« – »Der früher Pater eines Klosters.« – »Ich weiß es nicht.« – »Das Gift befand sich in einem Fläschchen von schwarzem Glas.«
Der Pater ächzte vor Angst.
»Am Montag wurde es bestellt, und am Sonnabend brachte er es dem Señor Ri…« – »Um Gottes willen!« rief der Pater, die Hände emporstreckend. – »Was habt Ihr denn?« – »Ich kann dergleichen Erzählungen nicht anhören!« – »Ihr als Arzt? Ihr müßtet doch eigentlich starke Nerven haben!« – »Es wird mir aber dennoch übel davon.« – »Das glaube ich!« lachte der andere. »Wie übel aber müßte es da erst dem wirklichen Täter werden, wenn er davon reden hörte! Glaubt Ihr wohl, daß er gevierteilt würde, wenn die Sache zur Anzeige käme?« – »Der Beweis wäre die Hauptsache.« – »Der ist da; da habt nur keine Sorge. Aber während dieser Mordgeschichte sind wir von unserem eigentlichen Thema abgekommen. Wovon sprachen wir denn eigentlich?«
Der Pater wischte sich den Schweiß von der Stirn und erwiderte: »Wir sprachen zuletzt wohl von dem Befehl, den Ihr mir zu überbringen hattet.« – »Allerdings, ja, davon sprachen wir. Und, wie steht es? Wird dieser Auftrag Euch angenehm sein?« – »Hm! Angenehm gerade nicht.«
Hilario brachte diese Worte kaum zwischen den Zähnen hervor.
»Aber auch nicht unangenehm?« – »Nein«, stammelte er. – »Gut, so bin ich mit Euch zufrieden. Von dieser Toloadschigeschichte und der wahnsinnigen Kaiserin soll nicht wieder die Rede sein; denn ich hoffe nicht, daß Ihr mich zwingen werdet, noch einmal darauf zurückzukommen. Die Euch gewordene Aufgabe kennt Ihr im allgemeinen. Besondere Informationen und Instruktionen werden Euch in der Hauptstadt zuteil. Einige Bemerkungen will ich Euch im voraus machen. Glaubt Ihr, daß Juarez persönlich dem Kaiser übelwill?« – »Ich glaube das Gegenteil.« – »Ich auch, ja, ich habe die Beweise dafür. Juarez wird den Kaiser schonen, so lange es nur immer möglich ist. Er ist sogar bereits in heimliche Unterhandlung mit ihm getreten, um ihn zu retten.« – »Hat er denn Agenten bei ihm?« – »Einen einzigen.« – »Einen Mexikaner?« – »Eine Dame.« – »Eine Dame? Das klingt sehr unwahrscheinlich.« – »Und ist doch wahr. Diese Dame ist ein höchst gefährliches Wesen. Entzückend schön, geistreich, gewandt, listig, wie nur ein Weib sein kann, ist sie zu einer politischen Geheimagentin wie geschaffen. Wir haben sie durchschaut, ein anderer aber noch nicht. Sie ist eine begeisterte Anhängerin von Juarez und verstand es doch, die Franzosen glauben zu machen, daß sie es mit ihnen halte.« – »Ein ähnliches Weib habe auch ich gekannt.« – »Sie sind aber selten. Die, welche ich meine, betrog zum Beispiel die Franzosen und überlieferte Juarez Chihuahua.«
Da fuhr der Pater empor.
»Alle Wetter! Heißt sie etwa Emilia?« fragte er. – »Ja«, antwortete der andere. »Señorita Emilia wird sie genannt. Ist das die, welche Ihr kennt?« – »Ja. Wo steckt sie jetzt?« – »In Cuernavaca.« – »So hat sie wohl sogar beim Kaiser Zutritt?« – »Nein, aber sie verhandelt mit Personen, die mit dem Kaiser verkehren.« – »Brächte die Aufgabe, die ich zu lösen habe, mich auch mit ihr in Berührung?« – »Natürlich! Ihr ständet Euch als Feinde gegenüber. Sie soll ja für Juarez wirken und Ihr gegen ihn. Sie wird alles tun, um den Kaiser zur schleunigen Abreise zu bewegen, und Ihr sollt alles tun, um ihn festzuhalten.«
Die Haltung des Paters war jetzt plötzlich eine ganz andere geworden, die Gewißheit, mit Emilia zusammenzutreffen, söhnte ihn schnell und gänzlich mit seinem Auftrag aus, so daß er sogar den Schreck und die Angst vergaß, die ihm die Erwähnung der wahnsinnigen Kaiserin bereitet hatte.
Von jetzt an verlief infolgedessen das Gespräch zur beiderseitigen Zufriedenheit, und als beide voneinander schieden, geschah es in ganz anderer Weise, als es vorher zu erwarten gewesen war.
18. Kapitel
Der geheimnisvolle Dicke hatte im Hof ein Pferd stehen, das er bestieg, um den Klosterberg hinabzureiten. Fast unten angekommen, begegnete er zwei Reitern, die aufwärts kamen. Ihre Tiere waren abgetrieben, und sie selbst hatten das Aussehen von Leuten, die die Anstrengung einer schnellen Reise hinter sich haben. Sie hielten vor ihm an, und der eine fragte:
»Nicht wahr, Señor, dieses Städtchen dort ist Santa Jaga?« – »Ja, Señor«, lautete der Bescheid. – »Und die Gebäude da oben gehören zu dem Kloster della Barbara?« – »Ja.« – »Seid Ihr da oben vielleicht bekannt?« – »Ein klein wenig.« – »So könnt Ihr uns vielleicht Auskunft geben. Gibt es einen Bewohner des Klosters, der Pater Hilario genannt wird?« – »Freilich gibt es den«, antwortete der Dicke, heimlich die beiden Leute musternd. »Wollt Ihr mit ihm sprechen?« – »Ja. Ist er daheim?« – »Er ist in seinem Zimmer. Reitet nur immer in den Klosterhof, dessen Tor offen steht, und fragt nach ihm. Man wird Euch zu ihm führen. Er ist bekannt als tüchtiger Arzt. Seid Ihr krank?« – »Nein. Warum haltet Ihr uns für Patienten?« – »Weil Euch beiden die Gesichtshaut abblättert und das Fleisch aus den Falten fällt. Wer an solchen Flechten leidet, der darf sich so wenig wie möglich sehen lassen, sonst denken die Leute, es sei nicht Krankheit, sondern er habe sich mit Hilfe künstlicher Mittel ein falsches Gesicht gemacht. Und wenn sie nun zweien zugleich passiert, so wird der Verdacht um so stärker. Merkt Euch das! Adios!«
Der Dicke ritt den Berg hinab. Unterwegs murmelte er:
»Diese Kerle hatten sich die Gesichter geschminkt. Sie wollten zum Pater. Ich denke, der Kerl treibt allerhand Allotria, wovon wir anderen noch gar nichts wissen. Man wird es ihm abgewöhnen.«
Und die beiden Reiter, Cortejo und Landola natürlich, blieben halten, um ihm nachzublicken.
»Der Mensch hat uns durchschaut«, sagte Landola. – »Ist es mir denn so leicht anzusehen?« fragte Cortejo. – »O nein. Es gibt einige ganz feine, winzige Risse in der Schminke, und es gehört ein ungeheuer scharfes Auge dazu, es zu bemerken.« – »Bei Ihnen ist es ebenso. Man hat sich vorzusehen. Wer mag der Kerl sein? Er sah wie ein verkappter Geistlicher aus.« – »Vielleicht erfahren wir es von diesem Pater Hilario. Wollen machen, daß wir das Kloster erreichen.«
Sie taten ganz so, wie der kleine Dicke gesagt hatte. Sie fanden das Tor offen, ritten in den Hof und fragten dort einen Bediensteten nach dem Pater. Zufälligerweise war der Neffe des letzteren, Manfredo, bei der Hand, und dieser erbot sich, sie zu seinem Oheim zu führen.
Der Pater saß noch in seinem Zimmer, über den Auftrag nachdenkend, der ihm geworden war; da brachte sein Neffe die beiden Männer herein und entfernte sich sofort wieder.
Hilario betrachtete sie aufmerksam, da ihm ihre Namen nicht genannt worden waren und er sie auch nicht kannte, und fragte dann:
»Wer seid Ihr, Señores?«
Cortejo ergriff das Wort.
»Das werdet Ihr erfahren, Señor«, meinte er, »wenn Ihr uns vorher gestattet habt, eine Erkundigung einzuziehen.« – »So redet!« – »Ist Euch vielleicht der Name Cortejo bekannt?«
Der Pater wurde aufmerksam und erhob sich von seinem Stuhl.
»Warum?« fragte er. – »Weil wir im Interesse dieses Namens kommen.« – »Was versteht Ihr unter diesem Interesse?« – »Das können wir Euch nicht eher sagen, als bis wir gehört haben, ob er Euch überhaupt bekannt ist.«
Der vorsichtige Pater schüttelte langsam den Kopf und entgegnete:
»Er ist mir allerdings bekannt, aber …« – »Was, aber?« – »Ich habe sagen wollen, daß mir der Name allerdings bekannt ist, weiter aber nichts.« – »Nicht auch die Person?« – »Nein.«
Cortejo blickte den Pater scharf und forschend an und meinte:
»Man pflegt meist auch die Person zu kennen, wenn einem der Name bekannt ist.«
Da zog der Pater die Brauen finster zusammen und antwortete:
»Señores, Ihr kommt mir zum mindesten höchst eigentümlich vor. Ihr tretet hier ein und inquiriert mich, als ob Ihr Richter seid und einen Verbrecher vor Euch hättet. Vergeßt nicht, daß ich hier Herr bin und daß Ihr Euch bei mir befindet!«
Cortejo sah natürlich ein, daß Hilario recht hatte, und antwortete:
»Verzeiht, Señor! Wir können nicht gut anders handeln, da die Angelegenheit, in der wir kommen, sehr heikler Natur ist. Ihr sagt, daß Euch der Name Cortejo bekannt sei?« – »Ja. Wer kennt nicht diesen Namen! Sein Besitzer hat selbst dafür gesorgt, daß er in ganz Mexiko und auch außerhalb dieses Landes bekannt geworden ist.« – »Nun, so werdet Ihr auch einsehen, daß jemand, der sich mit den Angelegenheiten dieses Cortejo abzugeben hat, sehr vorsichtig sein muß.« – »Ich gebe das zu.« – »So ersuche ich Euch noch einmal, mir zu sagen, ob Ihr ihn kennt.« – »Persönlich nicht.« – »Wirklich? Ihr habt ihn nicht gesehen?« – »Nein.« – »Also auch nicht mit ihm gesprochen?« – »Niemals.« – »Und doch bin ich, und sind wir beide, ja, wir alle drei, ganz vom Gegenteil überzeugt« – »Da dürftet Ihr Euch denn doch irren!« – »Wohl nicht. Um Euch zu beweisen, daß ich recht habe, bitte ich um die Erlaubnis, Euch noch einen zweiten Namen nennen zu dürfen.«
Dabei fixierte Cortejo den Pater scharf; dieser aber ließ sich durch diesen forschenden Blick nicht aus der Fassung bringen und antwortete ruhig:«
»Sprecht ihn in Gottes Namen aus!« – »Es ist der Name Grandeprise.« – »Was soll es mit diesem Namen?« – »Kennt Ihr den?« – »Ja.« – »Woher?« – »Oh, er ist doch berühmt oder vielmehr berüchtigt genug. Es gab vor einiger Zeit einen Piraten dieses Namens, von dem ja alle Welt erzählte und redete. Ich habe damals von ihm gehört.« – »Diesen meinen wir nicht.« – »Wen sonst?« – »Einen Jäger, der ebenso hieß.«
Der Pater machte eine nachdenkliche Miene und antwortete:
»Einen Jäger? Hm. Ich müßte mich besinnen. Ah, jetzt, jetzt habe ich‘s! Ich bin nämlich Arzt. Vor Jahren kam einmal ein kranker Jäger zu mir, den ich heilte. Wenn ich mich recht besinne, hieß er Grandeprise.« – »Er war ein Amerikaner?« – »Ja, ein Yankee.« – »Und Ihr habt ihn nicht wieder gesehen?« – »Nein.« – »Denkt nach, Señor! Ich bin überzeugt, daß Ihr ihn wiedergesehen habt.«
Der Pater fühlte sich doch einigermaßen verlegen, aber er verscheuchte diese schwache Anwandlung und entgegnete:
»Ihr scheint Euch außerordentlich gut unterrichtet in dem zu haben, was ich kenne oder nicht kenne.« – »In diesem Fall bin ich es allerdings.« – »Und doch irrt Ihr Euch sehr.« – »Wohl nicht. Dieser Jäger Grandeprise ist erst kürzlich hier in Santa Jaga bei Euch gewesen.« – »Dann müßte ich es auch wissen.« – »Ihr wißt es ja auch.«
Der Pater machte ein noch finstereres Gesicht als vorher und entgegnete:
»Señor, wollt Ihr mich etwa Lügen strafen?«
Cortejo hielt seinen Blick fest auf ihn gerichtet und antwortete:
»Beinahe, Señor!« – »Mit welchem Recht?« – »Dieser Grandeprise hat es uns ja selbst gesagt!« – »So ist er der Lügner. Er hat Euch getäuscht.«
Diese Worte waren mit solcher Bestimmtheit gesprochen, daß man an der Wahrheit derselben nicht gut zu zweifeln vermochte. Cortejo blickte Landola betroffen an und fragte diesen.
»Ah! Was sagen Sie dazu?«
Auch Landola fühlte sich verlegen. Er antwortete stockend:
»Möglich ist es immerhin. Aber eine ganz verfluchte Geschichte wäre es!« – »Wenn uns dieser Mensch am Ende gar betrogen hätte!« – »Das wäre ein Streich, wie er uns schlimmer nicht gespielt werden könnte. Wir hätten unsere kostbare Zeit verloren.« – »Und den weiten, beschwerlichen Weg hierher umsonst gemacht!«
Cortejo und Landola befanden sich beide in einer Art von Verlegenheit oder vielmehr Bestürzung. Pater Hilario bemühte sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, obgleich die gehörten Worte sein höchstes Interesse erregten. Er hatte von Pablo Cortejo vernommen, daß Gonsalvo Verdillo in Verakruz dessen Agent sei, bei dem allein etwas über Landola zu erfahren sei. Diese Adresse hatte er dem Jäger Grandeprise mitgeteilt, einfach, um ihn loszuwerden. Der Jäger war nach Verakruz gereist, und nun kamen die beiden Menschen und behaupteten, mit demselben gesprochen zu haben. Hatte er sie hierher geschickt? Wer waren sie? Hatten sie ihn bei Gonsalvo Verdillo getroffen? In diesem Fall waren sie Freunde von Cortejo und Landola. War einer von ihnen vielleicht gar dieser letztere? Da fragte Cortejo:
»Señor, sprecht aufrichtig! Ihr habt diesen amerikanischen Jäger Grandeprise wirklich nicht wiedergesehen?«
Hilario beschloß einzulenken, damit sie ihm nicht unverrichteter Sache entwischen möchten, und antwortete:
»Hm. Es ist lange Zeit her, daß ich ihn behandelte. Da ist es möglich, daß ich ihn nicht mehr kenne. Ich habe sehr viele Kranke unter meinen Händen gehabt, daß es kein Wunder sein würde, wenn ich das Äußere eines einzelnen vergessen hätte.« – »Das ist allerdings möglich, aber er würde Euch doch seinen Namen genannt haben!« – »Vielleicht auch nicht. Er kann ja Gründe gehabt haben, ihn mir zu verschweigen.« – »Welche Gründe sollten das sein?« – »Wer kann das wissen? Vielleicht persönliche oder auch politische.« – »Politische? Ein einfacher Jäger?« – »O doch! Wißt Ihr denn nicht, daß sich im Heer des Juarez viele Amerikaner befinden? Ihr habt diesen Jäger wohl in Durango gesprochen, wo sich Juarez befindet?« – »Nein, sondern in Verakruz.« – »Und er will vor kurzer Zeit hier bei mir gewesen sein?« – »Ja, er will direkt von Euch nach Verakruz gegangen sein.« – »Nun, Señores, da seht Ihr es. Er hat die Provinzen berühren müssen, die von Franzosen und Kaiserlichen besetzt sind. Er konnte leicht als Spion ergriffen werden. Das ist ja ein sehr triftiger Grund, seinen Namen zu verschweigen, falls er wirklich bei mir gewesen wäre.« – »Aber er will unter Umständen bei Euch gewesen sein, unter denen er nicht nötig gehabt hätte, sich einen falschen Namen beizulegen. Ja, er wäre sogar gezwungen gewesen, Euch den richtigen zu nennen.« – »Inwiefern? Welches waren die Umstände?« – »Er hat Euch einen Kranken zur Heilung gebracht, weil Ihr ihn selbst einst so gut heiltet.« – »Den Kranken kenne ich nicht. Welche Krankheit war es?« – »Eine Verletzung der Augen.« – »Das ist nicht wahr. Ich habe seit langer Zeit kein krankes Auge behandelt.« – »Das ist wunderbar. Aber vielleicht erinnert Ihr Euch noch eines anderen Umstandes, der dabei in Frage kommt. Ihr habt einen Verwandten, einen Neffen?« – »Ja. Es ist derselbe junge Mann, der Euch zu mir brachte.« – »Nun, dieser Neffe hat in Gemeinschaft mit diesem Jäger Grandeprise den Augenkranken zu Euch gebracht.« – »Das ist mir unbekannt. Aber darf ich denn erfahren, wer dieser Augenkranke gewesen sein soll?«
Cortejo blickte Landola fragend an, und als dieser zustimmend nickte, antwortete er:
»Cortejo soll es gewesen sein.«
Der Pater stellte sich erschreckt und antwortete:
»Cortejo? Ist das wahr?« – »Ja.« – »Jener Pablo Cortejo, der sowohl gegen Juarez, als auch gegen den Kaiser konspiriert hat?« – »Derselbe. Grandeprise sagte es uns.« – »So hat er allerdings fürchterlich gelogen.« – »Verdammt und abermals verdammt!« fluchte Cortejo. »Wißt Ihr vielleicht, daß Pablo Cortejo eine Tochter hat?« – »Das weiß hier jedermann.« – »Nun, auch diese Tochter will Grandeprise zu Euch gebracht haben.« – »Abermals Lüge.« – »Alle tausend Donner! Hätte ich diesen Kerl hier, so sollte er sehen, welch eine Geschichte er sich da eingerührt hat. Wenn es wirklich so ist, wie Ihr sagt, so können wir weiter nichts tun, als Euch um Verzeihung bitten, daß wir Euch gestört haben.« – »Oh, bitte, Señor, das hat nichts zu bedeuten. Aber nun darf ich wohl auch fragen, wen ich bei mir empfangen habe?«
Cortejo fühlte sich in einer nichts weniger als angenehmen, ja sogar fatalen Lage. Er hatte gehofft, zum Ziel zu gelangen, und nun zeigte es sich, daß er getäuscht worden war. Was sollte er tun? Er mußte seinen Bruder auf alle Fälle finden, wenn nicht dieser und auch er verloren sein sollte. Aber wo ihn nun suchen? Im Norden, wo Juarez bereits wieder Herr war? Um keinen Preis! Im Süden, wo man ihn von der Hauptstadt aus bereits verfolgte? Unmöglich! Er befand sich in einer so ratlosen und gefährlichen Lage, daß ihm der Schweiß ausbrach. Leider aber konnte diese Feuchtigkeit nicht den natürlichen Abfluß finden, da das Gesicht durch künstliche Mittel verändert worden war. Cortejo fühlte diesen Schweiß, er dachte nicht an die Gefahr, in die er sich brachte, und zog sein Taschentuch hervor, um sich abzutrocknen.
»Wer wir sind, wollt Ihr wissen, Señor?« fragte er, dabei sich vor Verlegenheit fest abreibend. »Hm, das tut, da wir unseren Zweck nicht erreicht haben, wohl auch nichts zur Sache.« – »O doch«, meinte der Pater unter einem bedeutungsvollen Lächeln. – »Warum?« – »Ich beginne sehr großes Interesse für Euch zu hegen.« – »Aus welchem Grund?« – »Weil Ihr die Maskenscherze ebenso zu lieben scheint wie ich.« – »Maskenscherze? Ich verstehe Euch nicht!« – »Wirklich nicht? Das wundert mich! Ihr seid nicht der, für den Ihr Euch auf Eurer Reise ausgegeben haben werdet.«
Cortejo blickte den Redner erstaunt an. Auch Landola war betroffen, aber er stand hinter Cortejo und konnte also nicht sehen, welche Veranlassung der Pater zu seinen Worten hatte.
»Ich soll nicht derjenige sein, Señor?« fragte Cortejo. »Wißt Ihr denn, für wen ich mich ausgegeben habe?« – »Allerdings nicht.« – »Wie kommt Ihr also zu dieser sonderbaren Annahme?« – »Wer sein Gesicht entstellt, will nicht erkannt sein!« – »Sein Gesicht? Señor, glaubt Ihr etwa, daß dieses Gesicht nicht das meinige ist?« – »Oh, das glaube ich gern. Aber Ihr habt einiges daran, was nicht dazugehört.« – »Alle Teufel! Wie kommt Ihr auf solche sonderbare Gedanken?« – »Hm, Señor, es ist stets mit Gefahr verbunden, Schminke und Puder zu lange auf der Haut zu lassen. Solche Ingredienzien müssen öfters entfernt und dann wieder erneuert werden. Man schwitzt sehr leicht, und der Bart wächst; dadurch wird die falsche Kruste abgestoßen. Das ist auf alle Fälle höchst unangenehm.« – »Aber wie kommt Ihr dazu, gerade mir das zu sagen?«
Der Pater lachte.
»Ihr ahnt das nicht?« fragte er. – »Nicht im mindesten.« – »Und fühlt es auch nicht?« – »Nein.« – »So bitte, seht Euch einmal Euer Taschentuch da an!«
Cortejo folgte dieser Weisung.
»Himmeldonnerwetter!« rief er in allerhöchster Verlegenheit.
Sein Taschentuch hatte sich gefärbt.
»Und blickt einmal hier hinein«, sagte der Pater.
Dabei faßte er Cortejo bei den Schultern und führte ihn zum Spiegel. Cortejo warf einen Blick hinein und fuhr erschrocken zurück. Was für ein fürchterliches Gesicht war es, das ihm da entgegenblickte!
Der Schweiß hatte den Überzug aufgelöst, und dieser letztere war inzwischen mit dem Taschentuch über das ganze Gesicht gerieben worden. Dasselbe sah aus wie ein schlecht oder frisch mit Wasserfarben angestrichener Puppenkopf, an welchem das spielende Kind eifrig herumgeleckt hatte.
Der Pater lachte aus vollem Hals.
»Señor«, sagte er, »seid Ihr ein Komantsche oder Apache?« – »Warum diese Frage«, stammelte Cortejo. – »Weil Ihr Euch mit den Kriegsfarben angemalt habt. Kommt her und wascht Euch!«
Hilario führte Cortejo zum Waschtisch und öffnete denselben.
»Danke«, lautete die Antwort. »Ich muß augenblicklich fort!« – »Pah! So könnt Ihr unmöglich gehen!« – »Aber ich darf Euch ebensowenig inkommodieren!«
Cortejo wußte nicht, was er sagte. Er hatte vor Schreck fast die Besinnung verloren.
»Inkommodieren?« antwortete Hilario. »Inkommodieren würdet Ihr mich nur dann, wenn Ihr in diesem Zustand von mir fortgehen wolltet. Was würde man von mir denken, wenn man Euch draußen begegnete?«
Er drückte dem Verlegenen mit Gewalt den Schwamm in die Hand.
»Waschen Sie sich!« befahl auch Landola.
Seiner Stimme hörte man den Ärger an, der in ihm kochte. Er hätte seinen Genossen ermorden können.
Cortejo gehorchte. Als er fertig war, fixierte der Pater sein Gesicht. Dann meinte er, indem er eine Überraschung zu verbergen suchte:
»Nun, hatte ich nicht recht, als ich annahm, daß Ihr nicht derjenige seid, für den Ihr jedenfalls gelten wollt?«
Cortejo hatte endlich seine Fassung leidlich wiedererlangt.
»Ihr mögt recht haben«, antwortete er unter einem erzwungenen Lachen. »Ich hoffe jedoch, daß wir auf Eure Diskretion rechnen dürfen.« – »Wir?« fragte Hilario. »Das klingt ja, als ob dieser andere Señor sein Gesicht auch entstellt habe!«
Dabei fixierte Hilario Landola mit scharfem Auge. Dieser versuchte, rasch in den Schatten zu treten, doch war es bereits zu spät. Er antwortete mit barscher Stimme:
»Ihr irrt Euch! Mein Kamerad hat einen Scherz geplant; er wollte einen Bekannten überraschen. Das ist aber doch bei mir nicht der Fall.« – »Und doch scheint auch Ihr Verwandte zu haben?« meinte der Pater. – »Wie?« – »Die Ihr überraschen wollt?« – »Wieso?« – »Auch Ihr habt Euch das Gesicht angemalt.« – »Fällt mir nicht ein!«
Landola suchte seine Verlegenheit hinter seinem barschen Ton zu verbergen. Es gelang ihm nur schlecht. Der Pater war nicht der Mann, sich täuschen oder gar einschüchtern zu lassen.
»Señor«, sagte er in einem gutgelungen, freundlich-eindringlichen Ton, »seid doch so gut und gebt der Wahrheit die Ehre! Auch Ihr schwitzt. Aus welchem Grund, das weiß ich allerdings nicht. Aber obgleich Ihr Euch in den Schatten zurückgezogen habt, ist dies doch so langsam geschehen, um mich noch bemerken zu lassen, daß auch Ihr Euch waschen müßt.« – »Hole Euch der Teufel!« – »Nur nicht gleich! Also bitte, tretet auch Ihr näher!«
Hilario zeigte mit der Hand nach dem Waschtisch.
»Ich sage Euch aber, daß Ihr Euch irrt«, rief Landola, vor Zorn mit dem Fuß aufstampfend.
Da griff der Pater in einen Kasten seines Schreibtisches und zog einen kleinen Gegenstand hervor. Dann trat er an die Tür, so daß er den Ausgang mit seiner Gestalt versperrte und sagte:
»Señores, Ihr werdet einsehen, daß es mich frappieren muß, von Männern besucht zu werden, die falsche Gesichter tragen. Wascht Ihr Euch, so erfahre ich vielleicht, daß es sich nur um einen Scherz handelt; tut Ihr dies aber nicht, so muß ich annehmen, daß ich mich in einer Gefahr befinde, gegen die ich meine Maßregeln ergreifen muß.« – »Gefahr?« fragte Landola. »Denkt kein Mensch daran!« – »Oh, ich denke dennoch daran!« – »Welche Maßregel meint Ihr?« – »Diese hier.«
Hilario streckte den Arm mit dem kleinen Gegenstand aus. Es war ein Revolver. Und mit der anderen Hand ergriff er die Klingel.
»Weigert Ihr Euch, so rufe ich Hilfe herbei!« drohte er. – »Verdammt!« rief Landola. »Ihr habt gar nichts zu befürchten!« – »Das glaube ich Euch nicht eher, als bis Ihr es mir dadurch beweist, daß Ihr meiner Aufforderung nachkommt.« – »Ah! Ihr wollt mich zwingen?« – »Allerdings.« – »Gut! Auch wir haben Waffen!« – »Ehe Ihr dieselben zieht, drückte ich los.«
Landola fuhr mit der Hand nach seinem Gürtel.
»Halt!« drohte der Pater. »Oder ich schieße!«
Das erregte bei Cortejo Angst.
»Geben Sie nach!« bat er seinen Genossen. – »Fällt mir nicht ein«, zürnte dieser. – »Bedenkt, Señor«, meinte der Pater, »daß Ihr Euch in einem von Mauern umgebenen Kloster befindet, das einer Festung gleicht.« – »Ist mir gleich.« – »Glaubt Ihr, zu entkommen, selbst wenn es Euch gelingen sollte, mich zu überwältigen?« – »Er hat recht! Gebt nach!« wiederholte Cortejo.
Landola ballte die Fäuste.
»Soll ich mich von einem Pater zwingen lassen?« meinte er. – »Wollt Ihr Euch von Eurem Starrsinn ins Verderben stürzen lassen?« entgegnete der Pater.
Landola sah doch ein, daß es unklug gehandelt sein würde, seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen.
»So mag es denn in des Teufels Namens sein!« murrte er.
Er trat zum Waschtisch. Während er sich reinigte, entstand eine Pause, die dem Pater Gelegenheit gab, Cortejo noch genauer zu betrachten, als es vorher geschehen war. Ein eigentümliches, siegesgewisses Lächeln breitete sich um seine Lippen.
Nun war Landola fertig und trat näher.
»So!« sagte er. »Seid Ihr nun zufrieden?«
Diese Worte waren in einem nicht sehr freundlichen Ton an den Pater gerichtet, der desto freundlicher antwortete:
»Ja, Señor.« – »Ihr hattet Angst …« – »O nein, ich war nur vorsichtig«, unterbrach ihn Hilario. – »Das war ganz unnötig. Oder sehe ich wie ein Räuber aus?« – »Beinahe«, meinte der Pater unter einem halben Lächeln. – »Was wollt Ihr damit sagen?« fuhr Landola auf. – »Nicht anderes, als was meine Worte bedeuten.« – »Also Ihr meint, daß ich beinahe wie ein Räuber aussehe?« – »Ja.« – »Donnerwetter! Wißt Ihr, daß dies eine Beleidigung ist?« – »Wenn ich nicht das Richtige getroffen habe, so mag es so etwas Ähnliches sein. Aber seid Ihr nicht wie ein Räuber bei mir aufgetreten?« – »Ich? Ist mir nicht eingefallen.« – »O doch. Zunächst hattet Ihr Euch das Gesicht verändert.« – »Das galt nicht Euch!« – »Sodann kamt Ihr bewaffnet.« – »Jedermann hier trägt Waffen.« – »Ihr drohtet mir!« – »Weil Ihr vorher eine Drohung ausspracht.« – »Ich hatte Veranlassung dazu.« – »Nicht die mindeste. Wir kamen als friedliche Leute, um eine Erkundigung bei Euch einzuziehen …« – »Verweigertet mir aber jede Auskunft über Eure Personen und Eure Namen.« – »Weil unsere Erkundigungen kein Resultat hatten, so konnte es Euch auch nichts nützen, unsere Namen zu erfahren.« – »Hätte ich Euch also eine befriedigende Antwort geben können, so hätte ich erfahren, wer Ihr seid?« – »Ja.« – »Vielleicht erfahre ich es ohnedies?« – »Wohl nicht.« – »O doch. Ihr müßt mir schon aus Höflichkeit Eure Namen nennen.« – »Aus Höflichkeit? Wir haben gar keine Veranlassung zu derselben. Oder seid etwa Ihr höflich gegen uns gewesen?« – »Anfangs sogar sehr. Ich habe Euch alle Auskunft gegeben und jede Eurer Fragen beantwortet, obgleich ich auf die meinigen keine Antwort erhielt. War das etwa unhöflich?« – »Selbst wenn wir Euch Namen nennen, könnt Ihr nicht darauf schwören, daß es die richtigen sind!« – »Oh, was das betrifft, so rühme ich mich eines gewissen Scharfblickes, der mich noch niemals im Stich gelassen hat Ich würde genau wissen, was ich von den Namen zu halten habe. Wollen wir wetten?« – »Pah! Ihr würdet die Wette verlieren.« – »Das wäre erst zu beweisen. Darf ich um Euren Namen bitten?« – »Ich heiße Bartholomeo Diaz und bin Haziendero.« – »Wo?« – »In der Gegend von Parsedillo.« – »Und hier Euer Kamerad?« – »Heißt Antonio Lifetta.« – »Und ist …« – »Advokat. Wir suchten eben diesen Pablo Cortejo, weil ich einen Prozeß mit ihm habe. Señor Antonio begleitet mich, weil ich keine juristischen Kenntnisse besitze und also seiner Hilfe bedarf.« – »Und warum verändert Ihr dabei Eure Gesichter?« – »Weil wir mit Cortejo als Fremde über den Prozeß sprechen wollten. Wir glaubten, wenn er uns nicht kenne, würde er sich zu irgendeiner Äußerung verleiten lassen, die uns eine Handhabe geben würde, ihn zu fassen und den Prozeß zu gewinnen.« – »Damit beweist Ihr allerdings, daß Ihr sehr kluge Leute seid.« – »Also sagt, ob Ihr glaubt oder nicht, daß die angegebenen Namen die echten und richtigen sind.«
Der Pater trat von der Tür zurück und steckte seinen Revolver wieder in den Tischkasten.
»Ah! Ihr entwaffnet Euch!« lachte Landola. »Ihr seid also überzeugt, daß ich Euch die Wahrheit gesagt habe?«
Hilario lehnte sich an die Tischkante, kreuzte die Arme über die Brust und antwortete:
»Ich entwaffne mich, weil meine Besorgnis verschwunden ist; ich sehe ein, daß ich von Euch nichts zu befürchten habe. Was aber die angegebenen Namen betrifft – hm! Habe ich Euch nicht sehr kluge Leute genannt?« – »Allerdings.« – »Das schließt aber nicht aus, daß andere noch klüger sein können.« – »Möglich.« – »Nun, zu diesen Klügeren möchte ich vor allen Dingen mich selbst zählen. So geschickt Ihre Eure Verteidigung auch geführt habt, bei mir verfängt sie nicht.« – »Alle Teufel! Wollt Ihr so gut sein und dies beweisen?« – »Wenn es Euch Vergnügen macht, ja. Zunächst was Euch betrifft, Señor, so gabt Ihr Euch für einen Haziendero aus. Das glaube ich nicht.« – »Warum nicht?« – »Weil Ihr nicht das Aussehen eines solchen habt. Ein Haziendero ist ein ganz anderer Mensch als Ihr. Euer Auge ist nicht das eines Landmannes, eines Maisbauers und Viehzüchters.« – »Das Auge wessen ist es denn?« fragte Landola sichtlich belustigt von der Menschenkenntnis, die der Pater zeigen wollte. – »Es ist so scharf, so – so in die Weite sehend, wie man es nur bei Präriejägern und Seeleuten findet. Ich möchte darauf schwören, daß Ihr zu den letzteren gehört.« – »Da irrt Ihr Euch gewaltig.« – »Werden sehen! Und dann sagtet Ihr, daß Ihr aus der Gegend von Parsedillo seid. Zufälligerweise kenne ich diese Stadt und ihre Umgebung sehr genau. Einen Haziendero, der Bartholomeo Diaz heißt, gibt es dort nicht. Welchen Namen führt denn Eure Hazienda?« – »Es ist die Hazienda Mercedes.« – »Ah, eine solche gibt es weder dort, noch sonst irgendwo im ganzen Land Mexiko.« – »Alle Teufel! Ich werde doch meine Besitzung kennen.« – »Sie wird anders heißen und anderswo liegen. Vielleicht ist es eine wüste Insel im Stillen Ozean.«
Diese Worte waren mit einer so eigentümlichen Betonung gesprochen, daß Landola aufmerksam wurde.
»Was wollt Ihr damit sagen?« – »Nur, daß ich Euch für einen Seemann halte, und Seeleute haben ihre Reichtümer und Besitzungen doch im Meer liegen. Sagt, habt Ihr jemals etwas von der Kunst gehört, aus der Hand eines Menschen zu lesen?« – »Pah, das ist Humbug.« – »Nein, man liest daraus die Geburt, den Charakter, das Temperament, die Schicksale, den Tod, ja sogar den Namen eines Menschen.« – »Unsinn.« – »Ich meine besonders den Vornamen. Zeigt einmal her, Señor!«
Ehe Landola es verhindern konnte, hatte der Pater seine Hand ergriffen, hielt sie fest, betrachtete sie lange und sagte dann:
»Ja, hier steht deutlich Euer Vorname. Soll ich ihn Euch ablesen?« – »Haltet mich doch um Gottes willen für keinen Dummkopf!« – »Oh, ich habe bereits zweimal gesagt, daß ich Euch beide für kluge Leute halte, daß es aber allerdings noch klügere gibt. Dieses letztere beweise ich durch meine Kunst, Euren Vornamen ganz genau aus Eurer Hand zu lesen.« – »Nun, zum Teufel, wie lautet also dieser Vorname?« – »Henrico.«
Landola war sehr überrascht, daß er seine Hand schleunigst aus derjenigen des Paters zog und zurückwich.
»Donnerwetter!« rief er aus. – »Nicht wahr, es ist richtig?« fragte Hilario. – »Ja.« – »Nun seht also! Später vielleicht werde ich beweisen, daß ich auch Euren Zu– oder Familiennamen zu lesen vermag. Zunächst aber zu Eurem Kameraden. Ihr nanntet ihn Antonio Lifetta?« – »Ja.« – »Er ist Advokat?« – »Ja. Das glaubt Ihr wohl auch nicht?« – »O ja, das glaube ich. Er hat ganz das Äußere eines solchen. Aber darf ich fragen, woher er ist?« – »Aus Parlesa.« – »Das glaube ich nicht. Ihr selbst sprecht nicht wie einer aus Parsedillo. Ihr sprecht das Spanische wie ein geborener Amerikaner, der auch Englisch, Französisch und andere Sprachen versteht. Und Euer Kamerad spricht das Spanische wie ein geborener Spanier, und zwar wie einer, der in der nordöstlichen Gegend dieses Landes zu Hause ist.«
Dies alles stimmte so genau, daß die beiden sich einander aufs höchste betroffen anblickten. Aber Hilario fuhr unbeirrt fort:
»Nun gilt es, seinen Vornamen zu lesen. Zeigt her, Señor!«
Er ergriff die Hand Cortejos und betrachtete sie. Dann fragte er:
»Nicht wahr, Ihr nennt Euch Gasparino?« – »Das ist höchst sonderbar«, rief der Gefragte. – »Ich habe also recht gelesen? Also nun auch zu den Familiennamen. Zeigt her!«
Er hielt Cortejos Hand fest und ergriff dazu auch diejenige Landolas. Zu dem letzteren sagte er nach einer Weile:
»Bei Euch ist es schwerer als bei Eurem Kameraden. Habt Ihr Euch vielleicht zweier Namen bedient?« – »Ist mir niemals eingefallen«, antwortete Landola. »Aber lassen wir den Unsinn. Er ist gar nicht nötig.«
Er versuchte, seine Hand freizumachen, aber der Pater hielt sie fest und sagte nach einer abermaligen Pause, während der er die Hände genau betrachtet hatte:
»Ah! Ich habe es! Jeder einzelne Buchstabe ist genau zu lesen. Beide Namen bestehen aus drei Silben, und bei beiden Namen hat die erste Silbe drei Laute, während die beiden anderen nur je zwei zeigen. Ihr, Señor, heißt Landola, und Euer Name, Señor, ist Cortejo.«
Es läßt sich gar nicht beschreiben, welchen Eindruck diese Worte auf die beiden Männer machte. Hatten sie es hier mit einem Wunder zu tun? Gab es wirklich eine Wissenschaft, die es bis zu einem solchen außerordentlichen und erstaunlichen Resultat gebracht hatte? War dieser Pater ein Zauberer oder war er ein Scharlatan, der sie zufälligerweise kannte und sie auf diese Weise zu düpieren versuchte?
In beiden Fällen war ihre Lage keineswegs eine angenehme. Leugnen war das allerbeste, ganz entschiedenes Leugnen; das erkannten beide sofort von selbst.
»Alle Wetter!« rief Henrico Landola ganz bestürzt. – »Alle tausend Teufel und Heiligen!« folgte ihm Gasparino Cortejo. – »Nicht wahr, es ist richtig?« triumphierte der Pater. – »Nein, es trifft nicht zu«, behauptete Cortejo. – »Es ist falsch, es stimmt nicht«, fügte Landola bei. – »Oh, meine Wissenschaft betrügt mich nie«, meinte Hilario. – »Und dennoch betrügt sie Euch«, entgegnete Cortejo. – »Könnt Ihr mir das beweisen?« – »Ja, sofort!« – »So tut es! Oder vielmehr versucht es, denn gelingen wird es Euch auf keinen Fall.« – »Auf alle Fälle! Ihr behauptet also, daß ich Cortejo heiße?« – Ja. Ich behaupte es nicht nur, sondern ich bin sogar ganz überzeugt davon.« – »Und doch suche ich diesen Cortejo. Kann ich also er selbst sein?«
Der Pater warf einen unaussprechlich selbstbewußten Blick auf ihn und meinte dann lächelnd:
»Sucht Ihr nicht Pablo Cortejo?« – »Ja.« – »Und habe ich Euch nicht gesagt, daß Euer Name Gasparino sei?« – »Donnerwetter«, fluchte Cortejo.
An den Vornamen hatte er nicht gedacht. Nun war es mit seinem Gegenbeweis allerdings schlecht bestellt Dennoch versuchte er, sich zu verteidigen, indem er entgegnete:
»Das ist nur eine Vermutung; das ist ein Irrtum. Ich heiße nicht Cortejo, sondern …«
Er hielt mitten in der Rede stockend inne und blickte hilfesuchend zu Landola hinüber. Aber der Pater fiel sofort ein:
»Ah, Ihr habt den Namen vergessen, den Euch Señor Landola zulegte. Das beweist, daß meine Wissenschaft mich nicht getäuscht hat.« – »Oh, ich habe den Namen nicht vergessen; Ihr habt mich nur nicht aussprechen lassen; Ihr seid mir in das Wort gefallen.« – »Ja«, beeilte sich Landola beizustimmen; »es ist ein Unsinn, an diese sogenannte Wissenschaft zu glauben. Der Beweis, daß sie Schwindel ist, ist ja geliefert. Ich – ich soll Landola heißen!«
Er stieß ein höhnisches Lachen aus.
»Und mein Name soll Cortejo sein!«
Der Pater aber schüttelte ernst den Kopf und sagte:
»Señores, denkt ja nicht, daß Ihr mich in Irrtum bringt. Was ich sage, ist wahr. Ich bin imstande, Euch zu beweisen, daß ich stets die Wahrheit spreche.« – »So beweist es!« forderte Cortejo ihn auf. – »Gut. Ihr wollt es haben.«
Hilario zog ein kleines Fach seines Schreibtisches auf und entnahm demselben zwei Karten. Er hielt ihnen die eine hin und fragte:
»Kennt Ihr diese Dame?«
Beide sahen sich, nachdem sie einen Blick auf die Karte geworfen hatten, mit bedeutungsvollen Augen an.
»Ich kenne sie nicht«, sagte Landola. – »Und ich auch nicht«, fügte Cortejo hinzu. – »Da sagt Ihr die Unwahrheit, Señores. Wenn Ihr Mexikaner seid, müßt Ihr dieses Mädchen kennen. Vorhin gabt Ihr Euch für Kinder dieses Landes aus, und diese Fotografie sollte Euch unbekannt sein? Entweder habt Ihr vorher gelogen, oder Ihr lügt jetzt.« – »Señor«, meinte da Landola in drohendem Ton, »ich ersuche Euch, solche und ähnliche Worte zu vermeiden!« – »Wir sind nicht zu Euch gekommen, um uns Lügner nennen zu lassen!« fügte Cortejo in demselben Ton bei.
Der Pater behielt seine Ruhe und antwortete:
»Ihr seid wirklich unverbesserlich! Aber bitte, seht Euch nun auch dieses zweite Bild an.«
Er hielt ihnen dasselbe entgegen, und abermals konnten sie ihr Staunen nicht verbergen.
»Kennt Ihr es?« – »Ich nicht«, meinte Landola. – »Ich auch nicht«, beteuerte Cortejo. – »Sehr sonderbar! Ihr kennt diese beiden Fotografien nicht, und doch sehe ich beim Anblick derselben in Euren Gesichtern deutlich Zeichen des Erstaunens, ja, des Schrecks. Diese Dame ist Señorita Josefa Cortejo. Sie ließ sich fotografieren, um ihre Bilder unter die Anhänger ihres Vaters verteilen zu lassen. Der Herr ist eben ihr Vater, Pablo Cortejo. Auch er ließ sich fotografieren, aber nicht für eine solche Menge, sondern nur für nähere, intimere Bekannte.«
Da fragte Cortejo rasch:
»Ihr habt sein Bild. Also gehört Ihr auch zu diesen Bekannten?« – »Pah! Ich habe Euch ja gesagt, daß ich ihn nie gesehen habe. Also Ihr gebt nicht zu, die Originale dieser Fotografien zu kennen?« – »Nein«, antworteten alle beide. – »Nun, kennt Ihr auch nicht diesen da?«
Hilario griff wieder in das Fach und zog eine Fotografie hervor, die er seinen Besuchern zeigte. Eine Pause trat ein; weshalb, das verrieten die beiden nicht, sie gaben sich im Gegenteil Mühe, ihre Gesichtszüge zu beherrschen.
»Nun, Señores, wollt Ihr mir keine Antwort geben?« fragte der Pater. »Ist Euch dieser Mann vielleicht unbekannt?« – »Vollständig!« stieß Cortejo endlich hervor. – »Mir ebenso«, meinte auch Landola. – »Das bedaure ich«, sagte der Pater mit ironischem Lächeln. »Das ist nämlich ein sehr interessanter Herr. Es ist der junge Graf Alfonzo de Rodriganda, der erst in Mexiko wohnte, später aber nach Spanien ging. Doch leider sagt man, daß er nicht der richtige Erbe, sondern ein fremdes, untergeschobenes Kind sei. Ich glaubte, Ihr würdet ihn kennen. Desto mehr aber bin ich überzeugt, daß Euch die vierte und letzte Fotografie bekannt ist, die ich Euch zeigen kann. Hier ist sie!«
Hilario griff zum dritten Mal in das Fach und zog abermals ein Bild hervor, das er jenen entgegenhielt.
»Tod und Teufel!« rief dieses Mal Landola. – »Verdammt!« rief auch Cortejo. – »Nun?« fragte der Pater, sich mit übermütigem Lächeln an dem bestürzten Ausdruck ihrer Gesichter weidend. – »Ich kenne ihn doch nicht!« meinte Landola. – »Und ich ebensowenig!« meinte Cortejo. – »Wirklich nicht? Aber fällt Euch nicht vielleicht etwas an dieser Fotografie auf?« – »Allerdings«, gestand Cortejo zu. »Sie sieht mir ein wenig ähnlich.« – »Ein wenig nur?« – »Nun …« stockte der Gefragte, »es mag meinetwegen etwas mehr als wenig sein.« – »Auch das nicht. Wenn Ihr Euch heute fotografieren laßt, so könnt Ihr gar nicht besser getroffen werden, als es hier der Fall ist.« – »Aber ich bin es doch nicht!« – »Ihr behauptet das wirklich?« – »Ich muß es behaupten, denn es ist die Wahrheit.« – »Nun, dann sind wir allerdings fertig miteinander«, meinte der Pater, indem er ruhig und wie bedauernd die Achsel zuckte.
Er steckte die Fotografien gemächlich in das Fach zurück, schob dasselbe zu und fuhr fort:
»Wir haben uns alle drei getäuscht. Ihr habt nicht geglaubt, daß man die Namen lesen könne, und ich habe nicht geglaubt, daß es ein so merkwürdiges Naturspiel, eine solche Ähnlichkeit geben könne. Das letzte Bild war dasjenige des Advokaten Gasparino Cortejo aus Manresa oder Rodriganda. So aber ist es, wenn man sich einer vorgefaßten Meinung zu sehr anvertraut; die Enttäuschung kommt sicher nach. Scheiden wir also in Zufriedenheit voneinander. Adios, Señores!«
Hilario winkte unter einem höflichen Lächeln ihnen mit der Hand entlassend zu und drehte sich ab, wie um sich in das Nebengemach zurückzuziehen. Die beiden blickten sich verlegen an, dann aber trat Cortejo vor und entgegnete:
»Halt, Señor! Ehe wir gehen, werde ich Euch ersuchen, mir noch eine Frage zu gestatten.«
Der Pater drehte sich verwundert wieder um und antwortete:
»Eine Frage? Wozu? Ich glaube, daß wir miteinander fertig sind und daß jede weitere Frage zwecklos zu nennen ist.« – »Vielleicht doch nicht.« – »Nun, so sprecht Eure Frage aus, Señor!« – »Sind die Fotografien, die Ihr uns zeigtet, Euer Eigentum?« – »Was anderes sollen sie sonst sein?« – »Ihr könnt sie ja gefunden haben.« – »Dann hätte ich sie abgegeben.« – »Oder sie können Euch zur einstweiligen Aufbewahrung anvertraut worden sein!« – »Dann hätte ich kein Recht, sie Euch zu zeigen.« – »Ihr habt sie also geschenkt erhalten?« – »Ja.« – »Eine jede Fotografie von der Person, die sie darstellt?«
Es war ein eigener, sarkastischer Zug, der über das Gesicht des Paters glitt. Er schüttelte den Kopf und antwortete nur:
»Nein, Señor.« – »Von wem sonst?« – »Interessiert Euch das?« – »Sehr sogar.« – »Das ist mir nun allerdings höchst unbegreiflich!« – »Warum?« – »Ihr kennt ja alle diese Personen nicht. Ihr seid ein Advokat, und Euer Gefährte ist ein Pflanzer. Ihr beide steht jenen allen sehr fern. Wie könnt Ihr Euch für sie interessieren?«
Cortejo blickte sich hilfesuchend um. Er wußte nicht, was er auf diesen berechtigten Einwurf antworten sollte. Da kam ihm Landola zu Hilfe.
»Wir wundern uns darüber, daß Ihr diese Bilder besitzt.« – »Wundern? Aus welchem Grund denn, Señor?« – »Weil Ihr diesen Pablo Cortejo und seine Tochter Josefa nicht kennt.« – »Das ist doch kein Grund zur Verwunderung! Ich habe Euch ja gesagt, daß diese Fotografien im ganzen Land zirkulieren. Man kommt sehr billig zu ihnen, man bekommt sie sogar geschenkt.« – »Aber wie kommt Ihr zu den andern beiden?« – »Ihr meint die von Gasparino Cortejo und dem Grafen Alfonzo de Rodriganda? Oh, durch einen Zufall. Ich habe einen Patienten hier, der sie bei sich hatte und mir schenkte.« – »Darf man fragen, wer dieser Patient ist?« – »Ein gewisser Mariano.« – »Mariano?« fragte Landola rasch. »Woher ist er?« – »Er ist ein geborener Spanier und hat höchst seltene Schicksale hinter sich. Früher hat er sich einmal Alfred de Lautreville genannt« – »Wie ist er zu Euch gekommen?« – »Ein Kollege übergab ihn mir zur Weiterbehandlung.« – »Ein Arzt?« – »Ja, ein deutscher Arzt.« – »Ah! Wie hieß er?« – »Doktor Sternau!« – »Doktor Sternau!« rief Cortejo. »Wißt Ihr, wo sich dieser Euer Kollege befindet?« – »Ja. Interessiert Ihr Euch für ihn? Kennt Ihr ihn vielleicht?« – »Ich habe von ihm gehört. Man rühmt ihn als einen der besten …«
Cortejo wurde unterbrochen. Landola nämlich faßte ihn am Arm, stampfte den Boden mit dem Fuß und rief, indem seine Augen förmliche Blitze auf den Pater schleuderten:
»Halt, reden Sie kein Wort weiter! Sehen Sie denn nicht endlich ein, daß dieser Pater mit uns spielt wie die Katze mit der Maus?«
Diese Überzeugung war Cortejo auch gekommen, doch hatte er versuchen wollen, mit Behutsamkeit weiterzugehen. Das aber paßte für Landolas heißes Temperament nicht. Der Pater blickte den letzteren mit überlegenem Lächeln an und fragte:
»Wie, Señor, Ihr meint, ich spiele mit Euch?« – »Ja«, antwortete Landola zornig. – »Ihr verwechselt die Rollen. Ihr seid es, die mit mir spielen. Ihr kamt nicht mit offenem Visier!« – »Wir durften nicht.« – »Ist es nicht ein Spielen mit mir, wenn Ihr Euch hinter einer Maske versteckt?« – »Das war Vorsicht.« – »Mir falsche Namen nennt!« – »Lauter Vorsicht!« – »Und so tut, als ob Ihr keine einziger der Personen kennt, nach denen Ihr Euch bei mir erkundigen wolltet.« – »Das geschah aus ganz demselben Grund. Warum sagtet aber Ihr uns die Unwahrheit?« – »Weil Ihr nicht aufrichtig gewesen seid. Ich hoffe aber, Ihr seht endlich ein, daß es besser ist, offen zu sein. Nicht wahr, Ihr seid Henrico Landola, der frühere Kapitän Grandeprise?«
Der Gefragte zögerte noch immer.
»Donnerwetter!« sagte er. »Muß ich Euch denn nun wirklich eine Antwort geben?« – »Ja, und zwar eine sehr bestimmte.« – »Nun, bei allen Heiligen oder Teufeln, mir soll es einmal ganz gleich sein, ob ich in das Verderben fahre oder reite. Ja, ich bin dieser Landola.« – »Schön. Und Ihr, Señor, seid Gasparino Cortejo.« – »Ja«, antwortete der Gefragte. – »Na, endlich! Aber sagt mir doch aufrichtig, was Ihr eigentlich hier in Mexiko wollt?« – »Ihr wißt dies ja bereits ganz genau«, antwortete Landola. »Wer hat es Euch verraten? Wer?«
Er schlug mit der Faust auf den Tisch und nahm eine sehr drohende Miene an. Der Pater wehrte mit der Hand ab und antwortete:
»Das verfängt bei mir nicht. Andonnern lasse ich mich noch lange nicht! Wer bei mir etwas erreichen will, der hat mir höflich zu kommen. Merkt Euch das! Wir haben bisher gestanden. Setzt Euch! Auf diese Weise läßt sich unser interessantes Thema viel leichter und friedlicher besprechen, als wenn wir uns einander mit Drohungen gegenüberstehen.«
Die beiden Kumpane kamen seiner Aufforderung nach, und der Pater fuhr fort:
»Ich befinde mich bei mir selbst und bin voraussichtlich derjenige, von dem Ihr irgendeine Auskunft und Gefälligkeit erwartet. Darum ist es wohl nicht mehr als recht und billig, daß ich es bin, auf dessen Erkundigungen Ihr zunächst antworten werdet.«
Landola schlug mit einer finsteren Miene die Beine übereinander und antwortete:
»Fragt, Señor!« – »Ja, fragt! Wir werden nach Möglichkeit antworten«, fügte Cortejo hinzu. – »Wer hat Euch zu mir gesandt?« – »Der Jäger Grandeprise«, entgegnete Landola. – »Wo habt Ihr diesen getroffen?« – »In Verakruz bei unserem Agenten Gonsalvo Verdillo.« – »Wohin ist er dann gegangen?« – »Nach der Hauptstadt, wo er sich noch befindet.« – »Was treibt er da?« – »Allotria, die ihn um Kopf und Kragen bringen werden. Übrigens war es ein sehr dummer Streich von Euch, diesen Menschen zu schicken.« – »Warum?« – »Weil er nicht ehrlich und zuverlässig ist.«
Der Pater lächelte leise.
»Haltet Ihr einen Piraten für ehrlicher als ihn?« fragte er. – »Ja, zum Donnerwetter!« brauste Landola auf. »Meint Ihr, daß ein Pirat ein Schuft, ein Halunke sein muß? Ein braver Pirat wird mit seinen Leuten stets ehrlich sein.« – »Und dieser Grandeprise ist es nicht?« – »Nein und abermals nein.« – »Ah! So ist er unehrlich gegen Euch gewesen?« – »Ja.« – »In welcher Weise?« – »Das zu beantworten ist mir noch ganz unmöglich.« – »Warum?« – »Ich kenne Euch nicht.« – »Man nennt mich Pater Hilario.« – »Das genügt noch lange nicht. Wir wissen noch nicht im mindesten, was wir von Euch zu denken haben.« – »Das könnt Ihr sehr leicht erfahren.« – »Das ist auch unsere Absicht. Wir müssen unbedingt wissen, ob wir einen Freund oder einen Feind in Euch zu suchen haben.« – »Natürlich einen Freund!« – »Könnt Ihr uns das beweisen?« – »Ja.« – »So tut es!« – »Habt Ihr nicht bemerkt, daß ich in Eure Geheimnisse eingeweiht bin?« – »Es scheint allerdings so, als ob Ihr einiges wüßtet.« – »Einiges? Pah! Ich weiß alles!«
Landola schüttelte ungläubig den Kopf.
»Das möchte ich doch nicht so wörtlich nehmen«, meinte er. – »Und doch ist es so!«
Landolas Gesicht verfinsterte sich. Wer hatte diesen Pater zum Mitwisser gemacht? Es war dies auf alle Fälle eine große Unvorsichtigkeit gewesen.
»Nun«, sagte er, »so zählt einmal alles auf, was Ihr wißt.« – »Ihr sollt es hören«, antwortete der Pater lächelnd. »Ein Knabe wurde von einer gewissen Marie Hermoyes und einem gewissen Pedro Arbellez geholt. In Barcelona wurde dieser Knabe mit einem Sohn eines gewissen Gasparino Cortejo und einer gewissen Schwester Clarissa vertauscht.« – »Zum Henker, wer hat Euch das gesagt?« fragte Cortejo. – »Ihr werdet es erfahren. Dieser falsche Alfonzo wurde in Mexiko vom Grafen Ferdinando erzogen. Doch, laßt es mich kurz machen. Ich weiß alles. Der scheinbare Tod der beiden Grafen Emanuel und Ferdinando, der Aufenthalt des letzteren in Harrar, das Eingreifen dieses Sternau, seine Verheiratung mit Rosa, die famose Reise nach der Insel im Meer, die Rettung durch einen deutschen Kapitän, das alles ist mir bekannt.«
Die beiden Zuhörer vermochten nicht, ihren Ärger zu unterdrücken. Sie blickten einander an, endlich fragte Landola:
»Aber Señor, so sagt mir doch, von wem Ihr das wißt!« – »Ihr gebt also zu, daß alles stimmt?« – »Leider ja.« – »Leider? Ah, Ihr werdet bald hören, daß ich nur zu Eurem Nutzen mit in das Geheimnis gezogen worden bin. Señor Pablo und Señorita Josefa haben mir alles erzählt.« – »Also die beiden! Wie ist das gekommen?« – »Nun, welche unvorsichtige, politische Rolle sie gespielt haben, das ist Euch ja bekannt. Sie wurden des Landes verwiesen. Ihr Kopf stand auf dem Spiel. Da sie das Verbot nicht beachten wollten, so suchten sie nach einem sicheren Versteck und …« – »Haben sie es gefunden?« fragte Cortejo rasch. – »Ja.« – »Bei wem?« – »Bei mir.« – »Wo?« – »Hier im Kloster.« – »Gott sei Dank!« atmete Cortejo auf. »Sie befinden sich hier?« – »Freilich!« – »So ist mir eine große Sorge vom Herzen. Kann ich sie sprechen?« – »Natürlich, Señor.« – »So holt sie herbei, aber rasch!« – »Nur nicht so sehr hitzig, Señor!« meinte der Pater. »Ich darf sie nicht nach diesem Zimmer bringen.« – »Warum nicht?« – »Denkt Ihr etwa, ich bewohne dieses Kloster allein? Natürlich darf kein Mensch ihre Gegenwart ahnen.« – »Ah, so sind sie also gut versteckt?« – »So, daß kein Mensch außer mir sie zu sehen bekommt.« – »Wo?« – »Unterirdisch.« – »Pfui Teufel!« – »Es geht nicht anders, Señor. Übrigens dürft Ihr Euch unser Unterirdisches ganz und gar nicht grausig vorstellen. Habt Ihr einen kleinen Begriff von dem Leben in früheren Klöstern?« – »Hm. Das sehr wohl.« – »Nun, so werdet Ihr wissen, daß es da unten oft Kabinette gab, die besser und bequemer waren als diejenigen, die über der Erde lagen. In solchen Räumen sind Euer Bruder und Eure Nichte untergebracht.« – »Sie leiden doch nicht etwa Mangel?« – »Nicht den mindesten. Sie haben im Gegenteil Überfluß an allem, leider aber auch an Langeweile.« – »Dem werden wir schon abhelfen. Aber sagt, wie kamt denn Ihr dazu, von den beiden in das Geheimnis gezogen zu werden?« – »Das ist sehr einfach und hat doch auch seine ganz besonderen Gründe. Ich muß Euch nämlich sagen, daß ich keineswegs ein Freund des Grafen Ferdinando de Rodriganda bin. Ich habe mit ihm eine sehr alte und ebenso bedeutende Rechnung abzumachen. Es ist mir dies niemals gelungen, obgleich ich mich danach gesehnt habe, wie die Seele im Fegefeuer nach Erlösung. Euer Bruder aber hat mir die Erfüllung dieses Wunsches gebracht.« – »Dadurch, daß er Euch zum Mitwisser machte?« – »Ja. Er hat mit seiner Tochter fliehen müssen. Mein Neffe gehörte zu seinen Anhängern, hat an seiner Seite gekämpft und ihn und seine Tochter vom Tode errettet. Er verhalf ihnen zur Flucht und brachte sie zu mir.« – »Ah! Ist es so? Da sind wir Euch allerdings zur allergrößten Dankbarkeit verpflichtet.« – »Wenigstens denke ich, Euer Mißtrauen nicht verdient zu haben. Ich gewährte Señor Pablo und Señorita Josefa meinen Schutz und verbarg sie vor den Verfolgern. Natürlich mußten sie mir diese nennen, damit ich wußte, wie ich mich gegebenen Falles zu verhalten habe.« – »Wer waren diese Verfolger?« fiel Landola ein. – »Zunächst sind da seine politischen Gegner zu nennen, unter denen ich alle Anhänger des Juarez und des Kaisers Max, sowie auch alle Franzosen verstehe, aber das sind bei weitem nicht die gefährlichsten. Zehnmal gefährlicher waren seine privaten Feinde.« – »Und diese waren?« – »Sternau, Mariano, Büffelstirn, Bärenherz und alle, die zu diesen gehören.« – »Ah, ja! Sie waren hinter ihm her?« – »Natürlich! Sie hatten Señorita Josefa ja bereits an einen Baum gehängt. Mein Neffe rettete sie. Da ich selbst eine Sache mit Don Ferdinando abzumachen hatte, was Euer Bruder erfuhr, so entschloß er sich, mich in das Vertrauen zu ziehen und mir alles zu erzählen. Er hat wohl daran getan.« – »Ich will es glauben«, sagte Cortejo, indem er dem Pater die Hand hinstreckte. »Ich danke Euch! Ihr könnt versichert sein, daß wir uns bemühen werden, Euch unseren Dank auch durch die Tat zu beweisen.« – »Oh, bitte! Ich brauche nichts. Mein Lohn besteht darin, daß Eure Affäre mir Gelegenheit bietet, meine Rechnung mit dem Grafen endlich einmal quitt zu machen.« – »Aber wo befinden sich Sternau und Konsorten?« fragte Landola, auf das höchste gespannt. – »Ah, darauf seid Ihr neugierig! Nicht wahr, Señor?« – »Ungeheuer. Natürlich.« – »Ja, es mag kein geringer Schreck für Euch gewesen sein, als Ihr in Erfahrung brachtet, daß auf jener Insel die Mäuse während der Abwesenheit der Katze entkommen seien.« – »Eine verdammte Geschichte!« – »Ja, diese Geschichte hat mir viele Sorgen gemacht und alle Pläne über den Haufen geworfen«, meinte Cortejo. »Also wo sind diese Menschen jetzt, Señor?« – »Oh, gar nicht weit«, antwortete der Pater lächelnd. – »Wohl im Hauptquartier des Juarez?« – »Nein, sondern in dem meinigen.« – »In dem Eurigen? Was soll das heißen?« – »Nun, könnt Ihr Euch nicht denken, was ich unter meinem Hauptquartier verstehe?« – »Doch nicht etwa dieses Kloster?« – »Natürlich!« – »Was?« rief Cortejo aufspringend. »Sie befinden sich hier?« – »Ja.« – »Hier bei Euch im Kloster?« fragte Landola, ebenfalls vor freudiger Überraschung in die Höhe fahrend. – »Natürlich!« – »Sapperment! Was tun sie da?« – »Was sollen sie tun? Sie hoffen, daß es ihnen doch noch einmal ebenso gelingen werde wie auf jener Insel.« – »Fliehen zu können vielleicht?« rief Cortejo. – »Wieder frei zu werden etwa?« fragte auch Landola.
Beide hatten den Sinn der Worte des Paters zugleich erraten.
»Ja, freilich«, antwortete dieser. – »So sind sie gefangen?« jubelte Cortejo. – »Ja.« – »Dank, Dank, tausendfacher Dank sei den Heiligen dafür gewidmet. Wer hat denn dieses Kunststück fertiggebracht?« – »Ich, Señores«, antwortete der Pater stolz. – »Ihr? Ah, so gebührt Euch noch viel größerer Dank als diesen Heiligen. Aber wie habt Ihr es angefangen?« – »Oh, das ging eigentlich sehr leicht.« – »Erzählt es. Erzählt es!« – »Da gibt es gar nicht viel zu erzählen. Euer Bruder und dessen Tochter waren den beiden Indianerhäuptlingen und diesem Helmers, den sie Donnerpfeil nennen, entkommen. Diese drei jagten ihnen nach und kamen hierher. Euer Bruder hatte mich inzwischen zu seinem Vertrauten gemacht, und so lockte ich diese Kerle in die Falle und steckte sie in eins unserer geheimen Gefängnisse.« – »Prächtig! Prächtig!« riefen die beiden. »Weiter!« – »Sternau merkte, daß den dreien etwas geschehen sein müsse, und machte sich mit den anderen auf, um sie zu suchen. Er fand ihre Spur. Er muß überhaupt ein tüchtiger, respektabler Kerl sein.« – »Ja, das ist er, ein verdammt schlauer Kopf und zugleich ein Wagehals sondergleichen. Er kam auch nach dem Kloster?« – »Freilich!« – »Und Ihr stecktet ihn ebenfalls ein?« – »Natürlich!« – »Das war der beste Streich von Euch. Sternau ist die Seele des Ganzen. Fehlt er, so fehlt der Kopf. Weiter!« – »Nun ginge mir noch die Hauptperson ab, der alte Graf.« – »Ah, das ist wahr. Er dürfte nicht wieder nach Mexiko kommen.« – »Er hat auf Fort Guadeloupe krank gelegen und kam später. Gerade als er sich auf der Hacienda del Elina am sichersten wähnte, sandte ich meinen Neffen hin.« – »Der tötete ihn?« – »Nein. Ich wollte mich persönlich rächen. Ich mußte ihn lebendig haben. Mein Neffe mußte ihn bringen.« – »Durch List?« – »Nein, sondern durch Gewalt. Er schlich unter einer falschen Vorspiegelung ein, gab dem Alten des Nachts einen Hieb, der ihn besinnungslos machte, und brachte ihn hierher.« – »Also lebendig?« – »Ja.« – »Und er lebt noch?« – »Natürlich. Er steckt unten bei den anderen.« – »Das ist herrlich! Das ist prächtig!« jubelte Cortejo. »Also wir dürfen hinab und sie sehen?« – »Das versteht sich, Señor. Sobald Ihr Eure beiden Verwandten gesehen habt, zeige ich Euch die Gefangenen.« – »Ah, das wird eine Genugtuung! Was werden sie sagen, wenn sie mich sehen?« – »Und mich«, knirschte Landola. – »Die Freude wird allerdings sehr groß sein«, lachte der Pater. – »Also sagt, welche Personen es sind, die Ihr als Gefangene habt.«
Hilario zählte sie auf und erklärte seinen Gästen dabei die Anwesenheit des Kleinen André. Landola blickte nachdenklich vor sich nieder, endlich sagte er:
»Das ist alles sehr gut. Ihr habt Eure Sache herrlich gemacht, Señor, leider aber genügt das nicht.« – »Wieso?« – »Es handelt sich nicht nur um die Hauptpersonen. Es ist auch höchst notwendig, daß keine Zeugen vorhanden sind. Wer von Sternau, Mariano und dem Grafen Ferdinando oder irgendeinem anderen in das Geheimnis gezogen worden ist, der ist uns ebenso gefährlich wie die Genannten selbst.« – »Ja, was wäre da zu tun?« – »Sie müssen unschädlich gemacht werden.« – »Sie müssen verschwinden, alle, alle«, stimmte Cortejo bei. – »Wer wäre das alles?« fragte der Pater, der bei dieser Erwähnung sehr nachdenklich geworden war. – »Denken wir einmal nach«, meinte Landola. »Zunächst die beiden Frauen, die mit auf der Insel waren.« – »Emma und Karja?« – »Ja. Sodann Pedro Arbellez und die alte Marie Hermoyes. Auch gilt zu erforschen, was auf Fort Guadeloupe geschehen ist. Wer dort Mitwisser oder Mitwisserin wurde, muß auch sterben.« – »Da gibt es allerdings viel neue Arbeit«, meinte Hilario. – »Das ist wahr. Aber damit sind wir leider nicht fertig. Es gilt ferner, einen Eurer Fehler gutzumachen, Señor.« – »Welchen?« – »Daß Ihr diesen Grandeprise schicktet!« – »Der? Oh, der weiß nichts!« – »Oh, er weiß alles!« – »Er hat von mir kein Wort erfahren.« – »Das mag sein, aber er ist bei uns gewesen und hat uns durchschaut und dann verraten.«
Diese Angabe war eine wissentliche Lüge. Es kam Landola darauf an, seinen Stiefbruder zu verderben.
»Verraten?« fragte der Pater. »In welcher Weise denn?« – »Ihr sollt es hören«, antwortete Landola. »Drüben in Deutschland leben Personen, die auch alles zu wissen scheinen …« – »Ah«, fiel Hilario ein, »ich errate sie.« – »Nun?« – »Gräfin Rosa und alle Verwandten dieses Sternau und Helmers.« – »Richtig. Mit ihnen rechnen wir später ab. Der Sohn dieses einen Helmers ist mit einem Menschen, der sich Geierschnabel nennt, und mit einem dritten herübergekommen, um unsere Geheimnisse aufzudecken. Ich wollte den leeren Sarg des alten Grafen mit einer Leiche versehen. Wir brauchten einen dritten, und da Ihr diesen Grandeprise geschickt hatte, so glaubten wir, ihm Vertrauen schenken zu können …« – »Welche Unvorsichtigkeit!« rief der Pater. – »Allerdings! Aber es ist nun nicht zu ändern. Grandeprise verriet uns diesem Helmers. Wir nahmen eine Leiche aus einem Begräbnis, und als wir gerade darüber waren, diese in den Sarg des Grafen zu legen, wurden wir überfallen.« – »Sapperment«, rief der Pater. »Wie gut, daß ich Euch hier sehe.« – »Warum?« – »Nun«, lachte er, »das ist doch der beste Beweis, daß Ihr entkommen seid.« – »Das ist wahr. Aber die ganze Hauptstadt kennt nun die Sache.« – »Verflucht!« – »Und diese verdammten Kerle, dieser Helmers und seine Genossen, werden uns bis hierher folgen.« – »Wissen sie denn, daß hier Euer Ziel war?« – »Natürlich!« – »Von wem denn?« – »Von Grandeprise, das versteht sich doch von selbst.« – »Ah, Ihr hattet ihm gesagt, daß Ihr zu mir wolltet?« – »Ja.« – »Das ist allerdings fatal, höchst fatal!« sagte der Pater. »Ich kann dadurch in eine schlimme Lage geraten.« – »Pah! Der Jäger kann gelogen haben.« – »Auf alle Fälle müssen auch diese Kerle verschwinden!« – »Ja, dann fehlt die Handhabe. Außerdem gibt es jedoch noch zwei, die wir bisher vergessen haben, diesen verfluchten Sir Lindsay und seine Tochter Amy.« – »Ah, den Engländer? Richtig«, stimmte der Pater bei. – »Aber, wo mag er zu finden sein?« – »Auf der Hacienda del Erina.« – »Wirklich?« – »Ja. Mein Neffe war ja dort. Lindsay ist als Begleiter des Juarez dort angekommen.« – »So scheint die Hazienda das Nest zu sein, in dem sich die meisten unserer Stichwespen versammeln. Man muß es ausnehmen.« – »Damit wäre uns nicht geholfen«, entgegnete der Pater. »Die Hazienda ist von großem Umfang und von Stein gebaut.« – »Was aber dann tun?« – »Ich wüßte etwas«, meinte Cortejo. »Ihr seid ja Arzt, Señor Hilario.« – »Allerdings. Aber was hat das mit der Hazienda zu tun?« – »Sehr viel. Es müßte einer hinreiten, gerade so, wie es Euer Neffe gemacht hat und ah, ich weiß nicht, ob das gehen wird. Wie kocht man auf einer solchen Hazienda? Wohl für verschiedene Personen auch verschieden?«
Hilario ahnte sofort, was Cortejo meinte.
»Zuweilen essen die Herrschaften anders als die Vaqueros und Dienenden«, antwortete er, »stets aber wird das zum Kochen nötige Wasser aus dem großen Kessel genommen, der entweder in den Herd gemauert ist oder an einer Kette über dem offenen Feuer hängt.« – »Das ist gut, sehr gut. So ist also mein Plan auszuführen.« – »Welchen Plan meint Ihr?« – »Es müßte einer ein Pülverchen in diesen Kessel werfen.«
Beide, Cortejo und Landola, blickten den Pater erwartungsvoll an. Dieser hielt den Kopf gesenkt und sagte nichts.
»Es müßte doch ein solches Pülverchen geben«, meinte Landola. – »Ah, Gifte gibt es genug«, antwortete Hilario. – »Es müßte eins sein, das bei der Sektion nicht nachzuweisen wäre.« – »Auch solche gibt es.« – »Kennt Ihr sie?« – »Ja.« – »Nun, was sagt Ihr dazu?« – »Der Gedanke ist nicht übel, aber die Ausführung, da hapert es. Wen sollte man hinschicken?« – »Ich kann nicht hin«, meinte Cortejo. – »Ich auch nicht«, fügte Landola hinzu. »Diese Amy Lindsay würde mich sofort erkennen.« – »Mich ebenso.« – »Aber meinen Neffen kann ich auch nicht schicken«, sagte der Pater nachdenklich. »Er hat den Grafen geholt.« – »Hm«, brummte Landola, indem er einen prüfenden Blick auf Hilario warf. »Wir dürfen doch niemanden in das Geheimnis ziehen.« – »Unmöglich«, antwortete dieser. – »Einer von uns muß also gehen.« – »Das ist richtig.« – »Wie wäre es mit Euch, Señor Hilario?«
Der Gefragte schüttelte den Kopf; aber das Lächeln, das er dabei nicht zu unterdrücken vermochte, war doch seltsam.
»Oder mit Euch?« fragte er. – »Ich habe meinen Grund gesagt. Man würde mich erkennen.« – »Und ich kann nicht fort von hier. Habt Ihr nicht noch einen kleinen Vorrat von Schminke, oder was es ist, mit deren Hilfe Ihr Euer Gesicht verändern könnt?« – »Versehen sind wir allerdings noch damit.« – »Nun, so ist uns doch gleich geholfen.« – »Ihr würdet also das Gift geben?« – »Ja. Aber das besprechen wir schon noch. Jetzt haben wir es mit der Gegenwart zu tun. Wie seid Ihr gekommen? Doch zu Pferde?« – »Ja.« – »Wo seid Ihr abgestiegen? In der Stadt?« – »Nein. Im Kloster.« – »So stehen Eure Pferde noch hier?« – »Ja.« – »Hm! Man darf natürlich nicht wissen, daß Ihr hier seid.« – »Werdet Ihr uns ein Asyl geben?« – »Gern.« – »Bei meinem Bruder und meiner Nichte?« fragte Cortejo. – »Ihr werdet mit ihnen zusammenwohnen. Aber wir müssen sehr vorsichtig sein. Hat Euch jemand nach dem Kloster reiten sehen?« – »Alle Wetter, ja«, antwortete Landola. »Wir wollten Euch fragen. Eben fällt es mir erst ein.« – »Wer war es?« – »Kurz vor dem Kloster begegnete uns ein kleiner, dicker Kerl, den wir nach Euch fragten.«
Der Pater entfärbte sich denn doch ein wenig.
»Das ist höchst unangenehm«, sagte er. »Dieser Mann war bei mir.« – »Er sagte es. Was ist er?«
Der Pater mußte die beiden Schurken in Besorgnis setzen, ohne daß er notwendig hatte, die Wahrheit zu sagen, darum antwortete er:
»Was er ist? Das ist ja eben das Unangenehme! Er ist ein geheimer Polizeispion.« – »Donnerwetter, in wessen Dienst?« – »Er dient jeder Partei, die gerade am Ruder steht.« – »Desto schlimmer und gefährlicher ist er. Er sah mir wie ein verkappter Mönch aus. Ich habe ihm nichts Gutes zugetraut. Und ein Polizistenauge hatte dieser verteufelte Kerl, denn er machte uns darauf aufmerksam, daß wir die Haut von unseren Gesichtern verlören.«
Der Pater erschrak abermals, und zwar noch mehr als vorher.
»Das sagte er?« fragte er. – »Ja. Ich hätte ihn niederschießen mögen!« – »Das ist fataler, als Ihr wissen und ahnen könnt!« – »Könnte man nichts dagegen tun?«
Der Pater sann eine Weile nach. Dann hellten sich seine Mienen wieder auf. Er fragte:
»Also Eure Gesichter sind ihm aufgefallen?« – »Ja.« – »Er hat bemerkt, daß sie bemalt waren?« – »Freilich.« – »So wird er den Ort nicht verlassen, ohne zu erfahren, wo Ihr bleibt, und möglichenfalls auch noch, wer Ihr seid.« – »Wo wartet er da?« – »Gerade wenn Ihr vom Kloster nach dem Ort hinunterreitet, ist das erste Haus rechter Hand der ersten Gasse eine Venta. Von dort aus kann man den Klosterweg genau übersehen, und dort wird er sitzen, um seine Beobachtungen anzustellen.« – »Wir müßten zum Schein hinunterreiten und dort einkehren.« – »Das ist mein Plan.« – »Aber wir haben uns ja die Gesichter gewaschen!« – »Dafür habe ich mir bereits eine Ausrede erdacht.« – »Welche?« – »Diese hier.«
Hilario öffnete abermals eine Schublade seines Tisches, suchte darin und brachte schließlich zwei Medaillen zum Vorschein, die er den Männern hinzeigte.
»Ah«, lachte Cortejo, als er die Inschriften gelesen hatte. »Zwei Polizeimedaillen aus der Hauptstadt. Wie kommt Ihr dazu?« – »Hm«, brummte der Pater lächelnd. »Man hat sich in meiner Stellung mit gar mancherlei zu versehen, was andere Leute, Spitzbuben und dergleichen, gut gebrauchen können.« – »Hört, Pater, Ihr seid ein geistreicher Kerl!« meinte Landola sehr gut gelaunt. »Ihr seid wunderbar gut zu gebrauchen, und ich habe allen Respekt vor Euch, was ich in den ersten Minuten unseres Zusammentreffens gar nicht geahnt hätte!« – »Ja, man täuscht sich sehr oft«, schmunzelte der Pater, »und zwar meist in den besten und bravsten Menschen!« – »Also, wie ist Euer Plan? Ich muß ihn doch hören, obgleich ich ihn bereits ahne.« – »Sehr einfach. Habt Ihr das Wasser gesehen, das unten neben dem Weg hinfließt?« – »Ja. Unsere durstigen Pferde haben daraus getrunken.« – »Nun, sobald Ihr da unten ankommt, steigt Ihr ab, wascht Euch die Gesichter und trocknet sie. Er wird das von der Venta aus sehen und denken, daß Ihr erst jetzt den Bewurf Eurer Gesichter entfernt. Dann reitet Ihr zur Venta, laßt Euch ein Glas Wein geben, und das übrige läßt sich denken.« – »Schön. Ihr meint, wir zeigen ihm die Medaillen?« – »Nur wenn es notwendig ist.« – »Und sagen, daß wir einen bei Euch suchten?« – »Ja, einen, von dem Ihr hörtet, daß er sich krank stelle.« – »Natürlich haben wir ihn aber nicht gefunden.« – »Das versteht sich!« – »Hat der Kerl auch eine Medaille?«
Da der kleine Dicke ja gar kein Polizist war, so antwortete der Pater:
»Ich glaube nicht, daß er sie hier, wo er sie gar nicht braucht, bei sich trägt. Übrigens verlasse ich mich auf Eure Klugheit« – »Und dann, wenn wir ihn los sind?« – »Ihr dürft die Venta nicht eher verlassen, als bis er fort ist. Ihr seht, wohin er reitet, und sorgt dafür, ihm nicht wieder in den Weg zu kommen. Bis zum Abend bleibt Ihr fort. Dann kommt Ihr wieder zum Kloster, aber nicht herein, denn kein Bewohner desselben darf wissen oder auch nur ahnen, daß ich zwei Gäste bekommen habe. Ihr laßt Eure Pferde an der hinteren Ecke der Klostermauer angebunden, und einer von Euch kommt heimlich unter dieses Fenster, wo er leise klatscht. Ich sende Euch meinen Neffen. Das übrige ist meine Sache. Jetzt geht, Señores!«
19. Kapitel
Cortejo und Landola gehorchten dieser Weisung und entfernten sich. Der Pater trat an das Fenster und sah sie das Kloster verlassen. Kaum war dies geschehen, so erschien sein Neffe, der ein sehr erstauntes Gesicht zur Schau trug.
»Oheim, ich weiß nicht, ob ich mich irre!« sagte er. – »Worin?« fragte der Alte. – »In den beiden Männern, die bei dir waren. Hatten sie jetzt nicht ganz andere Gesichter als vorher?« – »Ja. Hat es noch jemand gesehen?« – »Nein. Ich weiß, was du liebst. Ich habe alle Leute entfernt und allein im Hof auf sie gewartet« – »Das ist gut; ich wußte es. Übrigens kommen sie wieder.« – »Aber was war das mit den Gesichtern?« – »Sie hatten einen sehr triftigen Grund, sich durch Schminke unkenntlich zu machen. Höre, Manfredo, ich muß dir eine Frage vorlegen.« – »Frage nur zu, Oheim!«
Der Alte lehnte sich mit dem Rücken wieder gegen die Tischkante, kreuzte die Arme über der Brust und sagte:
»Du hast mir jahrelang treu gedient, ohne zu fragen, warum ich dies oder jenes wollte; ich bin mit dir stets zufrieden gewesen und habe lange daran gedacht, dich einmal rechtschaffen zu belohnen.« – »Das soll mir lieb sein!« lachte Manfredo. – »Ich wollte nicht davon sprechen, bis ich nicht einmal etwas Ordentliches und Würdiges fände.« – »Und heute ist dies endlich geglückt durch die beiden Männer?« – »Ja; sie haben es mir gebracht.« – »Was ist‘s?« fragte Manfredo, neugierig im höchsten Grad.
Der Alte sah ihn mit eigentümlichen Blicken an und fragte:
»Willst du Graf werden?« – »Graf?« meinte der Junge, höchst erstaunt. – »Ja, ein Graf!« – »Oheim, du bist heute allerdings bei sehr guter Laune!« – »Das ist wahr; aber was ich sage, ist trotzdem nicht Laune. Also, willst du ein Graf werden?« – »Donnerwetter! Natürlich, wenn es möglich ist! Aber es ist doch nur Spaß!« – »Nein, es ist Ernst.« – »Wirklich?« – »Vollkommen!«
Manfredo warf einen forschenden Blick auf seinen Verwandten. In diesem Blick lag sehr deutlich die Sorge, daß der Pater wohl übergeschnappt sei. Daher fragte dieser lachend:
»Ah, du meinst wohl, ich sei nicht recht bei Sinnen?« – »Beinahe, wenn ich aufrichtig sein soll, Oheim.« – »Und doch bin ich noch niemals so gut bei Überlegung gewesen wie heute, das kannst du mir glauben.« – »Nun gut, ich werde ja erfahren, wie die Sache gemeint ist. Also, was für ein Graf soll ich denn werden?« – »Der von Rodriganda.« – »Himmel! Deren gibt es ja bereits vier!« – »Wieso?« – »Zwei alte, die gestorben sein sollen, ein junger, der es sein will, aber nicht ist, und ein zweiter junger, der es auch nicht ist, aber eigentlich sein sollte.« – »Nun gut, diese sind alle problematisch, und du machst den fünften, der es sein will und auch sein wird.« – »Wieso?« – »Rate, wer die beiden Männer waren, die soeben fortgeritten sind!« – »Wer kann das raten?« – »Du! Ist dir an dem einen nichts aufgefallen?« – »O doch.« – »Was?« – »Eine große Ähnlichkeit mit Pablo Cortejo und eine noch viel größere mit der Fotografie von Gasparino Cortejo, die wir dieser albernen Señorita Josefa abgenommen haben.« – »Diese Ähnlichkeit hat dich nicht getäuscht.« – »Donnerwetter! So war es wirklich Gasparino Cortejo?« – »Ja. Und der andere?« – »Oh, das ist nun sehr leicht zu erraten: Landola?« – »Ja. Auch ich erriet das sofort.« – »Sie sagten dir es nicht freiwillig?« – »Nein. Ich mußte sogar zum Revolver greifen.«
Hilario erzählte nun dem Neffen den ganzen Verlauf des Gespräches. Am Schluß des Berichtes rief Manfredo aus:
»Das ist ganz außerordentlich! Was wirst du tun? Ich hoffe doch, daß du diese beiden Menschen mit zu den übrigen stecken wirst!« – »Das versteht sich von selbst!« – »Sie haben es verdient, mehr als alle anderen.« – »Richtig. Ich gebe ihnen da ihren Lohn und sorge zugleich für mich und dich. Das geschieht noch heute. Von morgen an aber muß ich sämtliche Gefangenen deiner Obhut allein anvertrauen.« – »Wieso?« – »Ich verreise.« – »Wohin?« – »Nach der Hacienda del Erina.« – »Ah, nach der Hazienda? Was, Teufel, willst du dort?« – »Auch für uns sorgen.« – »In welcher Weise?« – »Das wirst du später erfahren. Es ist nicht geraten, bereits jetzt davon zu sprechen.« – »Wie lange wirst du fortbleiben?« – »Fünf bis sechs Tage.« – »So lange werde ich mit den Gefangenen ganz gut verkommen.« – »Oh, du wirst es noch länger versuchen müssen!« – »Noch länger? Warum?« – »Weil ich nach meiner Rückkehr sofort wieder verreise. Ich muß nämlich binnen zehn Tagen in der Hauptstadt sein.« – »In der Hauptstadt?« fragte der Neffe verwundert. »Was sollst du dort?« – »Es ist mir eine bedeutende politische Rolle übertragen worden. Wer weiß, was daraus entsteht. Jetzt bin ich überzeugt, daß es zu unserem Glück sein wird. Ich werde vielleicht Minister und du Graf von Rodriganda. Was willst du mehr?« – »Oheim, bei allen Heiligen, ich fange nun an, zu glauben, daß du im Ernst sprichst!« – »Natürlich.« – »Aber wie willst du es denn anfangen, mich zum Grafen zu machen?« – »Sehr einfach. Du trittst an des richtigen Grafen Stelle.« – »Das wäre Mariano!« – »Ja.« – »Ah, wir sind gleichen Alters und gleicher Gestalt. Aber die Beweise!« – »Die erzwingen wir von unseren Gefangenen, und dann werden alle, die hinderlich sein könnten, beseitigt. Laß nur deinen Oheim sorgen. Kann dieser Pablo Cortejo seinen Neffen zum Grafen Rodriganda machen, so kann ich es wohl noch besser und leichter als er. Was aber die Gefangenen betrifft, so will ich es dir leichter machen sie zu versorgen, während ich hier abwesend bin. Wir nehmen sie einfach aus den Löchern heraus und stecken sie zusammen in den Felsensaal, wo sie angebunden werden.« – »Da wird ihnen auch die Gefangenschaft nicht so schwer. Pablo Cortejo und Josefa mit dazu?« – »Nein. Diese bleiben, wo sie sind, und Landola nebst Gasparino Cortejo werden zu ihnen gesteckt. Das erstere wollen wir gleich jetzt versorgen. Komm!«
Sie stiegen miteinander in die geheimen Keller hinab.
20. Kapitel
Unterdessen waren Cortejo und Landola den Klosterberg hinabgeritten. Unten hielten sie an, stiegen von den Pferden, wuschen sich die Gesichter und trockneten dieselben mit ihren Sarapen ab. Die Sarape ist eine Art Plaid oder wollene Decke, die in Mexiko jeder Reiter bei sich trägt. Dann ritten sie dem Ort entgegen, in dessen erster Gasse sie die ihnen vom Pater bezeichnete Venta fanden.
Ein Pferd hielt vor der Tür. Sie erkannten in demselben dasjenige des dicken Männchens. Auch sie banden ihre Pferde an und traten dann in die Stube, wo sie sich ein Glas Wein geben ließen.
Als einziger Gast saß der Dicke an einem der Tische. Er betrachtete sie mit erstaunten Blicken; sie aber taten, als ob sie das nicht bemerkten, und schlürften von ihrem Wein.
Aber als der Wirt sich einmal entfernt hatte und also von einem Gespräch nichts hören konnte, vermochte der Dicke nicht länger an sich zu halten und fragte:
»Señores, Eure Pferde kommen mir sehr bekannt vor!« – »Hm!« brummte Landola mißmutig. – »Auch Eure Anzüge!« – »Möglich!« – »Wir sind uns jedenfalls begegnet?« – »Mag sein.« – »Aber wann und wo? Vielleicht vorhin erst?« – »Hm! Ich bestreite es nicht.« – »Auf dem Weg nach dem Kloster?« – »Ja.« – »Ihr fragtet nach dem Pater?« – Ja.« – »Und ich bezeichnete Euch den Weg?« – »Zum Henker, ja. Was sollen diese Fragen?« – »Verzeihung! Aber ich frage auch wegen Eurer Gesichter.« – »Was gehen Euch unsere Gesichter an?« – »Sie erregen mein höchstes, ja mein allerhöchstes Interesse. Waren sie vorhin nicht ganz anders?« – »Wie wäre das möglich?« – »Sie waren jünger. Sie hatten keine Falten.« – »Nun, so sind wir indessen älter geworden.« – »Ich machte Euch auf die Haut aufmerksam, die Risse und Sprünge bekam.« – »Ja. Ihr hattet diese Gewogenheit!« – »Es war wohl Schminke oder Salbe?« – »Was geht Euch das an?« – »Nichts, gar nichts. Aber man pflegt sich doch für so etwas höchst Seltsames zu interessieren. Habt Ihr mit dem Pater gesprochen?« – »Ja. Habt Dank für Eure Auskunft!« – »Bitte sehr! Also der Pater hat Euch nicht erkennen sollen?« – »Wie kommt Ihr zu dieser Vermutung?« – »Nun, weil Ihr mit falschen Gesichtern zu ihm gingt und die Schminke erst dann entferntet, als Ihr ihn verlassen hattet.« – »Vielleicht galt unsere Veränderung gar nicht dem Pater.« – »Wem sonst?« – »Hm! Einem anderen.« – »Dann müßte dieser andere bei dem Pater gewesen sein.« – »Allerdings. Auch Ihr wart ja bei ihm. Nicht?«
Dabei erhob sich Landola und gab Cortejo einen Wink, ihm zu folgen.
»Ja«, antwortete der Kleine. »Ich sagte Euch bereits bei unserer Begegnung, daß ich vom Pater komme.« – »Dessen entsinne ich mich sehr wohl, Señor. Werdet Ihr vielleicht erlauben, daß wir uns ein wenig neben Euch setzen?«
Der Dicke war über diese Frage höchst erfreut, denn auf diese Weise fand er viel bessere Gelegenheit, diese beiden geheimnisvollen Menschen auszuhorchen.
»Gewiß«, sagte er. »Nehmt nur Platz, Señores! Ihr seid mir sehr willkommen.«
Landola setzte sich zu seiner Rechten und Cortejo zu seiner Linken nieder, so daß sie ihn zwischen sich bekamen. Der erstere, der bisher für beide allein das Wort geführt hatte, behielt es auch jetzt bei. Er fragte:
»Seid Ihr auf dem Klosterberg bekannt, Señor?« – »Nur wenig«, antwortete der Kleine zurückhaltend. – »Und im Kloster auch?« – »Noch weniger.« – »Aber den Pater Hilario kennt Ihr?« – »Ich besuche ihn zuweilen, wenn ich mich unwohl fühle.« – »Ah, so könnt Ihr uns vielleicht sagen, ob er genau Buch führt.« – »Worüber? Über seine Medikamente etwa?« – »Nein, sondern über seine Kranken.« – »Wie meint Ihr das?« – »Ich meine, ob er jeden anwesenden Kranken wirklich einschreibt.« – »Hm! Das wird er doch tun!« – »Hm!« brummte Landola ebenfalls. »Vielleicht tut er es manchmal auch nicht.« – »Welchen Grund sollte er haben?« – »Davon können wir nicht sprechen. Ihr kennt also die Räumlichkeiten des Klosters nicht genau?« – »Nein.« – »So könnt Ihr uns leider auch keine Auskunft geben.« – »Oh, vielleicht handelt es sich gerade diesmal um einen Raum, den ich kenne.« – »Möglich! Also sagt mir, ob es außer den offiziellen Krankenstuben vielleicht noch geheime Zimmer gibt, in denen Kranke behandelt werden.« – »Ihr meint heimliche Krankheiten?« – »Nein, ich meine heimliche Kranke, das heißt, solche Kranke, die im Kloster behandelt werden oder dort verkehren und sich behandeln lassen, ohne daß die Behörde es wissen soll.« – »Davon weiß ich allerdings nichts.« – »Hm! Das ist dumm. Aber vielleicht habt Ihr doch einmal eine Erfahrung gemacht, die uns nützlich sein kann. Darf ich zu Euch Vertrauen haben, Señor?« – »Oh, so viel Ihr nur immer wollt«, versicherte der Kleine. – »Und Ihr seid verschwiegen?« – »Wie das Grab.« – »Das will nichts sagen. In den Gräbern soll es manchmal sogar sehr laut hergehen; das heißt nur in denen, in die man Weiber begraben hat. Aber ich will Euch vertrauen. Sagt uns also einmal, ob Ihr einen heimlichen Verkehr im Kloster bemerkt habt!« – »Heimlichen Verkehr?« fragte der Kleine kopfschüttelnd. »Nein.« – »Ich sehe, daß ich deutlicher sein muß. Ist Euch vielleicht die Bedeutung dieses Zeichens bekannt, Señor?«
Landola zog die Medaille und hielt sie dem Kleinen hin. Dieser betrachtete sie und fuhr einigermaßen bestürzt zurück.
»Ah, wirklich, das kenne ich«, sagte er. – »Nun? Sagt es!« – »Ihr seid ein geheimer Polizist.« – »Und kennt Ihr auch dieses?« fragte nun seinerseits Cortejo, indem er den Kleinen seine Medaille sehen ließ. – »Ah! Auch Ihr seid ein Detektiv aus der Hauptstadt.«
Der Kleine hatte jetzt die Farbe gewechselt. Landola bemerkte dies, und es kam ihm, ohne daß er das Verhältnis des dicken Mönches zum Pater kannte, der Gedanke, sich einen Spaß mit ihm zu machen und ihn so für sein Spionieren zu bestrafen.
»Ihr seht also, daß Ihr offen mit uns sprechen müßt«, sagte er. – »Ja, Señores, das sehe ich«, antwortete der Kleine. – »Ihr habt also von einem solchen Verkehr nichts gesehen?« – »Nie.« – »Es sollen oft Männer zum Pater gehen, die bei der Behörde nicht gut angeschrieben stehen.« – »Ah! Oh! Eine solche Unvorsichtigkeit traue ich dem Pater doch nicht zu.« – »O doch! Diese Leute tun, als ob sie krank oder unwohl seien. Dann haben sie einen Scheingrund, mit ihm zu konspirieren. Sagtet Ihr vorhin nicht auch, daß Ihr zum Pater geht, wenn Ihr Euch unwohl fühlt?«
Der Kleine blickte Landola von der Seite an und antwortete langsam und stockend:
»Señor, Ihr werdet doch nicht etwa vermuten, daß …«
Er hielt inne, er befand sich in einer sichtlichen Verlegenheit.
»Hm! Der Mensch kann nicht vorsichtig genug sein. Da gibt es zum Beispiel einen Hauptaufwiegler, einen politischen Rädelsführer, so einen rechten, echten, schwarzen Rebellen, der der Polizei bereits viele Sorge bereitet hatte.« – »Ah! Sie sucht ihn?« fragte der Kleine rasch. – »Ja, sie sucht ihn«, nickte Landola. – »Sie kennt ihn auch?« – »Sie kennt ihn auch.« – »So ist er flüchtig?« – »Nein.« – »Aber wenn sie ihn kennt, braucht sie ihn doch nicht zu suchen, wenn er nicht flüchtig ist?« – »Sie geht ihm nur nach, um ihn auf der Tat zu ertappen.« – »Ah, so.« – »Er soll auch beim Pater verkehren.« – »Das glaube ich nicht.« – »Oh, man glaubt so manches nicht, was doch ist. Man hat sogar bereits erfahren, daß er die Absicht hatte, heute zu dem Pater in das Kloster della Barbara zu gehen.«
Die feisten Wangen des Kleinen wurden jetzt bald rot, bald bleich.
»So gut ist die Polizei unterrichtet?« fragte er. – »Nicht bloß jetzt, sondern immer. Es ist möglich, daß Ihr ihn einmal gesehen habt, ohne zu wissen, daß der Nachrichter seiner schon längere Zeit wartet. Darf ich Euch einmal sein Signalement geben?« – »Ja, ich bitte darum«, meinte das Männchen, vor Angst beinahe schwitzend. – »Nun, so paßt auf.«
Landola nahm sein Notizbuch heraus und schlug eine Seite desselben auf. Cortejo, der ahnte, was jetzt kommen werde, stemmte den Kopf in den Arm, während er den Ellbogen auf den Tisch legte, so daß er dem Kleinen gerade in das Gesicht sehen konnte. Landola begann:
»Alter: zweiundvierzig Jahre. Wie alt seid Ihr, Señor?«
Er hatte nur geraten, aber der Kleine antwortete doch:
»Auch zweiundvierzig.« – »Hm!« brummte Cortejo, indem er ihn scharf fixierte. – »Name tut hier nichts zur Sache, Religion auch nicht«, fuhr Landola fort. »Aber Statur: klein.« – »Hm!« brummte Cortejo, den Dicken scharf ansehend. – »Sehr dick«, fuhr Landola fort. – »Hm, hm!« verdoppelte Cortejo sein Brummen. – »Augen: klein.« – »Hm!« – »Nase: stumpf.« – »Hm!« – »Zähne: rechts oben fehlt ein Zahn.« – »Donnerwetter! Das stimmt auffällig!« fuhr Cortejo auf.
Der Kleine rückte auf seinem Sitz hin und her und warf bald einen Blick nach der Tür, bald einen auf die Fenster.
»Mund: wulstig.« – »Hm!« – »Bart rasiert.« – »Hm!« – »Haare: dunkelblond, Anfang zu einer Glatze.« – »Hm! Himmelelement!« meinte Cortejo, indem er sich erhob, um eine kleine, lichte Stelle auf dem Schädel des Dicken genauer zu betrachten. – »Besondere Kennzeichen: hat einen verkrüppelten Nagel an dem Mittelfinger der linken Hand.« – Hm! Tod und Teufel! Señor, zeigt mir doch einmal Eure linke Hand«, rief Cortejo.
Der Kleine zog die Hand zurück und sagte:
»Señor, Ihr werdet doch nicht denken, daß ich …« – »Denken?« unterbrach ihn Cortejo. »Nein, denken wollen wir jetzt gar nicht, sondern sehen wollen wir.« – »Was denn?« fragte Landola, sich unwissend stellend. – »Nun, dieser Señor hier ist zweiundvierzig Jahre alt!« – Ja, das sagte er.« – »Hat kurze Statur.« – »Allerdings.« – »Ist dick!«
Nun fixierte Landola den Kleinen, wie Cortejo es vorher getan hatte.
»Auch dick«, meinte er. – »Hat kleine Augen!« – »Sehr klein.« – »Eine stumpfe Nase.« – »Ja, ein sehr kleines Stumpfnäschen.« – »Rechts oben eine Zahnlücke!« – »Ah! Sapperlot! Señor, macht doch einmal den Mund auf.«
Der Kleine aber drückte die Lippen um so fester zusammen.
»Donnerwetter!« rief Landola, indem er mit der Hand nach dem Gürtel griff. »Soll ich Euch den Mund etwa mit dem Messer aufbrechen? Auf mit dem Maul!«
So gebieterisch und kategorisch der Kleine vorher bei dem Pater aufgetreten war, so ängstlich zeigte er sich jetzt. Die Anhänger des Umsturzes sind niemals wirkliche Helden. Er riß den Mund auf und rief:
»Hier! Nur nicht aufbrechen, nicht schneiden.« – »Weiter auf!« donnerte Landola.
Das Männchen gehorchte, so gut es ihm möglich war, und nun blickte Landola ihm mit einem Ernst in die Mundhöhle, als ob es gelte, das Alter eines Pferdes zu taxieren.
»Ja«, sagte er. »Oben rechts eine Zahnlücke. Das stimmt.« – »Mund wulstig«, fuhr Cortejo fort. Der Kleine hielt den Mund noch immer aufgesperrt. »Zumachen!« gebot Landola.
Der Mann gehorchte. Landola betrachtete die Lippen und bestätigte:
»Ja, wulstig.« – »Bart rasiert«, sagte Cortejo. – »Stimmt!« – »Haare dunkelblond.« – »Stimmt auch.« – »Anfang zu einer Glatze.« – »Wo? Zeigt her!«
Bei diesen Worten zog Landola den Kopf des Männchens zu sich heran, betrachtete das kahle Stellchen, als ob er Perückenmacher sei, der sich Haar– und Barterzeugungsmittel auszugrübeln habe, und sagte dann:
»Glatze? Ja, die ist da!« – »Besondere Kennzeichen«, fuhr Cortejo fort. »Hat einen verkrüppelten Nagel am Mittelfinger der Linken.« – »Her mit der Hand«, gebot Landola.
Der Kleine gehorchte. Landola betrachtete den betreffenden Nagel und bestätigte:
»Der Krüppel ist da. Mensch, das stimmt ja alles.« – »O Señores«, rief der Kleine. »Ich bin es nicht.« – »Der Krüppel? Der Nagel? Nein, der seid Ihr allerdings nicht, aber der Anführer, der Landfriedensbrecher scheint Ihr zu sein.« – »Ich schwöre es Euch bei allen Heiligen, daß ich es nicht bin. Wann wurde dieses Signalement abgefaßt?« – »Vor drei Wochen.« – »Und die Zahnlücke habe ich erst seit fünf Tagen, die Glatze gar erst seit nur zwei Tagen.«
Da betrachtete ihn Landola von oben herab und sagte:
»Mensch, halte uns nicht für so dumm! Solche Ausreden sind lächerlich. Wir werden dich mit nach der Hauptstadt nehmen müssen!«
Der Kleine befand sich in der größten Angst. Er suchte nach einem Ausweg und schien endlich einen gefunden zu haben, denn sein Gesicht erhielt einen ruhigeren Ausdruck, und in einem Ton, der vertrauenerweckend sein sollte, sagte er:
»Señores, werdet Ihr mir eine Frage erlauben?« – »Meinetwegen«, meinte Landola streng. – »Ich weiß, daß der Pater nicht gastfreundlich ist. Hat er Euch irgend etwas vorgesetzt?« – »Nein.« – »Aber Ihr werdet nach einem solchen Ritt Hunger haben?« – »Riesig!« – »Und auch Durst?« – »Noch riesiger!« – »Werdet Ihr mir erlauben, für Euch ein tüchtiges Mahl zu bestellen, meine werten Señores« – »Zu einem solchen ist unser Einkommen zu klein.« – »Oh, ich werde bezahlen. Ich werde gleich den Wirt holen!«
Der Kleine wollte zur Tür hinaus, aber Landola ergriff ihn und hielt ihn fest.
»Halt!« sagte er. »Das wollen wir schon selbst besorgen.«
Der Wird wurde gerufen und mußte sagen, was bei ihm zu haben sei. Er nahm den Auftrag des Kleinen entgegen und wollte sich dann entfernen, denselben auszurichten; aber Landola rief dazwischen:
»Halt! Dieser Señor will erst bezahlen.« – »Vorher?« fragte der Wirt erstaunt. – »Ja, vorher«, nickte der Kleine, indem er seinen Beutel zog und ein Mahl für drei Personen und sechs Flaschen Wein bezahlte.
Nun trat eine drückende, unheimliche Stille in der Stube ein. Dem Arrestanten war es anzusehen, daß er an einen Fluchtversuch dachte. Die beiden vermeintlichen Polizisten blieben sehr ernst, obgleich sie sich Mühe geben mußten, um nicht laut aufzulachen. Da endlich zog Bratenduft aus dem Küchenverschlag herein, und der Kleine meinte rasch:
»Señores, eine Bitte!« – »Redet!« gebot Landola. – »Darf ich nicht einmal in die Küche treten?« – »Wozu?« – »Ich muß mich doch überzeugen, ob der Wirt seine Pflicht auch so erfüllt, daß die Speise Eurer würdig ist!« – »Versteht Ihr denn etwas davon?« – »Oh, ich brate mir alles selbst.« – »Aber Ihr werdet uns doch nicht entfliehen?« – »Señores, ich schwöre Euch bei allen Heiligen zu, daß so ein Gedanke mir nicht in den Sinn kommt! Ich bin unschuldig und werde mit nach Mexiko gehen, um Euch dies auf das glanzvollste zu beweisen.« – »Na, der Allerschlechteste scheint Ihr allerdings nicht zu sein. Geht also einmal hinaus; aber nur auf fünf Minuten.«
Der Kleine ging.
»Ich bin neugierig, ob er fliehen wird«, meinte Cortejo. – »Natürlich wird er es«, antwortete Landola. – »Aber er schwor bei allen Heiligen!« – »Pah! Das gilt bei uns beiden nichts und bei diesem erst recht nicht. Nicht wahr, aus der Küche geht eine Tür auf den Hausflur?« – »Ich glaube.« – »So wird er sich aus der Küche durch den Flur zum Pferd schleichen und davongaloppieren.« – »Was tun wir da? Wir sind ja froh, ihn los zu sein!« – »Oh, wir geben zum Spaß einige Schüsse hinter ihm ab.« – »Aber doch nicht treffen?« – »Nein. Öffnen wir immer im voraus das Fenster.«
Sie machten dasselbe auf und steckten sich hinter den Mauerpfeiler. Richtig! Da kam der Kleine leise geschlichen, band sein Pferd los, kletterte in höchster Eile hinauf und gab ihm die Sporen.
»Halt!« schrie da Landola zum Fenster hinaus. – »Halt!« brüllte auch Cortejo. »Wir schießen!« riefen beide zugleich.
Aber der Kleine schoß auch, nämlich davon. Da zogen die beiden ihre Pistolen und feuerten beide Läufe hinter ihm her. Er stieß einen Angstruf aus, den sie noch hörten, und dann war er verschwunden.
Der Wirt kam voller Erstaunen in die Stube geeilt und fragte:
»Señores, Ihr schießt? Warum denn, um der Jungfrau willen!« – »Er entflieht ja!« antwortete Cortejo. – »Wer denn?« – »Der Kleine.« – »Der? Er entflieht? Ist er denn Gefangener?« – »Natürlich! Der unsrige.« – »Ah! Wer seid Ihr denn?« – »Geheime Alguazils aus der Residenz.« – »Ach so! Laßt ihn doch fliehen, er hat Euch ja das Essen und den Wein bezahlt!« – »Meint Ihr denn, daß das so viel wert ist?« – »War er denn mehr wert?« – »Das weiß ich nicht.« – »Kennt Ihr ihn Señor?« – »Nein. Aber Ihr kennt ihn?« – »Auch nicht? Nun, warum habt Ihr ihn dann arretiert?« – »Damit er unser Essen bezahlen solle und Ihr am Wein was verdient.«
Der Wirt sah sie eine Zeitlang ganz verblüfft an, brach aber dann in ein lautes Lachen aus und rief:
»Ihr seid bei Gott die klügsten Señores, die mir jemals vorgekommen sind! Aber er hat für drei Personen bestellt.« – »Das hörten wir.« – »Wenn Ihr Eurer Klugheit die Krone aufsetzen wollt, so habt die Güte zu erlauben, daß ich nun der dritte bin.«
Da stimmten alle beide in sein Lachen ein, und Landola meinte:
»Mann, Ihr seid nicht weniger klug als wir, wir passen also füreinander, und so mögt Ihr die Stelle des Entflohenen einnehmen.«
So geschah es. Als die beiden später die Venta verließen, war der Kleine bereits über alle Berge. Sie brauchten seine spionierenden Augen nicht zu fürchten, machten in der Umgebung einen Spazierritt, wobei sie sich über ihre Pläne unterhielten, und kehrten mit Einbruch der Dunkelheit vorsichtig nach dem Kloster zurück.
21. Kapitel
An der hinteren Mauerecke fanden Landola und Cortejo ein Gesträuch, an das sie ihre Pferde banden, wie der Pater es ihnen angeraten hatte. Dann begab letzterer sich zu dem Fenster und klatschte leise. Bereits nach wenigen Augenblicken erschien Manfredo.
»Folgt mir, Señores!« gebot er. – »Zu Eurem Oheim?« fragte Landola, der hinzugetreten war. – »Ja«, antwortete er. – »Nach seinem Zimmer?« – »Nein, Señores. Noch sind die Leute wach, und man könnte Euch leicht sehen. Mein Oheim ist bereits hinunter, um Euch die Gefangenen zu zeigen. Ich bringe Euch zu ihm.« – »Was aber geschieht mit den Pferden und unseren Sachen?« – »Sie sind für die wenigen Augenblicke in allerbester Sicherheit, dann aber werde ich Euch alles besorgen.«
Dieses Besorgen sollte darin bestehen, daß Manfredo die Pferde verkaufen und das Gepäck als sein Eigentum betrachten wollte.
Manfredo schritt voran über den menschenleeren, stillen Hof, und Landola und Cortejo folgten ihm, auf sein Geheiß ihre Schritte dämpfend. Dann ging es eine dunkle Treppe hinab, wo Manfredo ein Licht hervorzog, um es anzubrennen. Sie kamen durch einige kellerartige Räume und endlich in ein Gemacht, in dem der Pater sie erwartete. Auch er trug ein brennendes Licht in der Hand.
»Eingetroffen?« fragte er mit achtungsvoller Freundlichkeit. – »Wie Ihr seht, ja«, antwortete Cortejo. »Aber sagt, sollen wir etwa in einem solchen Keller unsere Zeit zubringen?« – »Wo denkt Ihr hin! Ich führe Euch nur zu den Gefängnissen. Später erst geht es nach Eurer Wohnung.« – »Ah! Sonst wäre ich auch sofort zurückgegangen!«
Der Pater ignorierte diese Worte und fragte angelegentlich:
»Wart Ihr in der Venta?« – »Ja, Señor.« – »Und traft den Mann?« – »Es war alles so, wie Ihr vorhergesagt hattet.« – »Und wie lief es ab?« – »Besser und lustiger, als wir es uns auch nur denken konnten.«
Sie erzählten Hilario das Vorkommnis unter Lachen, und er konnte sich nicht enthalten, in ihre Lustigkeit einzustimmen. Daß seinem Peiniger ein solcher Streich gespielt worden war, gewährte ihm einesteils die größte Genugtuung und gab ihm gleichzeitig den Stoff in die Hand, diesem Mann mit der nicht zu verachtenden Waffe des lächerlich machenden Witzes entgegenzutreten.
»Ihr habt Eure Sache sehr gut gemacht, Señores«, sagte er. »Nun sollt Ihr aber auch sehen, wie ich die meinige gemacht habe. Kommt!«
Hilario schritt voran, Cortejo und Landola folgten ihm, und der Neffe ging hinter ihnen. Um eine Ecke biegend, zog er jene hülsenartige Rolle aus der Tasche, brannte das eine Ende an, drehte sich gegen sie um und blies in das andere. Im nächsten Augenblick sprang er weit nach vorn, und sein Neffe tat dasselbe nach rückwärts.
Ein Flammenstrahl war Cortejo und Landola entgegengezuckt. Sie hatten rufen wollen, brachten aber kein Wort hervor, denn es umgab sie eine penetrante Luftart, die ihnen sofort den Atem raubte. Einen Augenblick später lagen sie besinnungslos an der Erde.
Als Cortejo wieder erwachte, war ihm der Kopf fürchterlich schwer, so daß er kaum seine Gedanken zu sammeln vermochte. Er tastete um sich her und gewahrte zu seinem Entsetzen, daß er sich in einem steinernen Raum befand, an dessen einer Mauer er mit einer Kette angeschlossen war.
»O Himmel!« rief er unwillkürlich aus. – »Ah, der eine erwacht!« hörte er seitwärts eine dumpfe, männliche Stimme sagen. – »Er redet«, fügte eine weibliche hinzu, die von gegenüber ertönte. – »Wer ist hier?« fragte er. – »Arme Gefangene, so wie du«, antwortete die männliche Stimme. – »Ich hörte zwei Personen sprechen?« – »Ich war es und meine Tochter.« – »Wer bist du?« – »Ein Unglücklicher. Mehr darf ich nicht sagen, da ich dich nicht kenne.«
Cortejo vermochte sich noch nicht in seine Situation zu finden.
»Zum Teufel! Warum bin ich hier?« fragte er. – »Um gefangen zu sein«, lautete die Antwort. – »Gefangen? Ich? Unsinn!« – »Fühle an die Mauer, und fühle deine Ketten!«
Cortejo klirrte mit den Ketten und tastete, soweit diese es ihm zuließen, an der feuchten Wand hin. Er fühlte vor sich einen Wasserkrug und ein Stück trockenen Brotes.
»Heiliger Himmel«!« rief er. »Das kann doch nur ein Scherz sein.« – »Ein Scherz? O nein! Hier unten ist alles bitterer Ernst. Auch wir glaubten an Scherz. Dann hockten wir in einem furchtbaren Loch, bis man uns eine bessere Zelle gab. Vorhin wurden wir aus dieser hierher gebracht, wo es wieder schlechter ist, und unser Peiniger sagte, daß wir Gesellschaft erhalten würden, die uns in große Freude versetzen werde. Die Gesellschaft seid ihr, aber wo bleibt die Freude?« – »Wer ist es, den du euren Peiniger nennst?« fragte Cortejo. – »Der Pater Hilario. Er ist auch der eurige.« – »Der Pater? O nein, er ist mein Freund!« – »Dein Freund? Also auch du hast ihm so vertraut wie wir. Hat er dir nicht giftige Luft in das Gesicht geblasen?« – »Ja.«
Cortejo hatte noch immer nicht die volle Besinnung und Urteilskraft erlangt. Er antwortete wie einer, der langsam aus dem Traum erwacht. Die dumpfe Stimme, die er hörte, klang wie aus einem Grab hervor, und auch ihm war ganz so, als ob er in einem solchen liege.
»Er hatte kein Licht, als er euch brachte«, sagte der andere, »aber ich habe gehört, daß er es war und sein Neffe. Sage uns, wer du bist.« – »Auch ich kann es dir nicht sagen, bevor ich nicht weiß, wer du bist. Du sprichst von noch einem. Wer ist noch da?« – »Einer, der mit dir gebracht und rechter Hand von dir an die Mauer gefesselt wurde.« – »Ah! Sollte es Lan…« – Cortejo besann sich noch zur rechten Zeit und fuhr fort, sich verbessernd: »Sollte es mein Gefährte sein?« – »Er wird es sein. Du bist mit ihm tot, wie wir beide auch. Hier gibt es kein Licht, kein Leben, keine Gnade und kein Erbarmen. Hier ist alles tot, und das einzige Leben, das es noch gibt, das ist ein unstillbares Lechzen nach Rache.« – »Seit wann seid ihr gefangen?« – »Ich weiß es nicht. Hier gibt es keine Sonne und keine Sterne. Hier gibt es keine Unterscheidung zwischen Tag und Nacht, denn hier ist nur Nacht.«
Da richtete Cortejo sich auf, so weit es ging, und rief: »Das gilt wohl euch, aber nicht mir. Ich kann, ich will, und ich darf nicht Gefangener sein!« – »Du Tor! Du bist es ja bereits!« – »Der Pater betrügt mich nicht!« – »Er betrügt alle!« – »So werde ich sehen, ob es wirklich ernst ist.«
Cortejo legte sich in seine Ketten und versuchte, sie zu sprengen; aber es gelang ihm nicht, trotzdem er alle seine Kräfte daransetzte.
»Hölle und Teufel!« rief er keuchend. »Wäre es wahr?« – »Es ist wahr. Täusche dich nicht.« – »So wäre ich gefangen, und die anderen sind frei?« – »Die anderen? Welche anderen meinst du?« – »Er sagte mir, daß er Feinde von mir hier unten habe!« – »Sollte er es dir so gemacht haben wie mir? Auch ich habe Feinde hier unten. Aber glaube nicht, daß sie oder die deinigen frei sind. Wer diese Gewölbe betritt, der sieht das Licht der Sonne niemals wieder. Wer sind deine Feinde?« – »Ich muß über sie schweigen. Wer sind die deinigen?« – »Auch ich darf es dir nicht sagen.« – »Wer verbietet es dir?« – »Ich selbst. Es soll mich niemand kennen.«
Da ging ein langer Seufzer durch den feuchten Raum. Landola begann sich zu regen. Er war vorhin vorangegangen und hatte die tödliche Luft zuerst voll empfangen; darum hatte er auch länger besinnungslos gelegen.
»Oh!« stöhnte er, indem er sich streckte.
Seine Ketten rasselten. Er hörte dies und horchte.
»Oh – oh – oh!« stöhnte er von neuem. »Was – was – was ist das?« fragte er. – »Henrico! Henrico, sind Sie es?« fragte Cortejo. – »Henrico?« fragte Landola müde und gedehnt. »Henrico, ja, so heiße ich. Er – er hat es – aus meiner Hand gelesen.« – »Ah! Bei Gott, er ist es! Henrico, sind Sie es denn wirklich?«
Cortejo nannte absichtlich nur den Vornamen Landolas.
»Henrico?« stöhnte der Gefragte, »wer, wer redet hier? Wo – wo bin ich?« – »Gefangen soll ich sein und gefangen auch Sie. Ich glaube es nicht.« – »Gefan… fangen?« stöhnte es wieder unter Kettengerassel. »Ah, was – wer klirrt hier? Wer hält – hält mich fest?« – »Ketten sind es, Ketten!« – »Ketten? Ketten? Ah! Richtig! Der Pa… Pater wollte uns ja die Gefa… fangenen zeigen, Ster…« – »Still!« fiel Cortejo rasch ein. »Keine Namen nennen.«
Landola konnte sich noch immer nicht aus seiner Betäubung finden. Er wiederholte im Ton eines Menschen, der chloroformiert ward:
»Keinen Namen? Kei… keinen? Warum denn nicht, Cortejo?«
Er hatte diesen Namen nun trotz der eindringlichen Warnungen doch genannt.
»Halt! Still!« rief Cortejo.
Aber von der anderen Seite tönte es rasch herüber:
»Welcher Name war das? Wer ruft mich?«
Da horchte Gasparino auf.
»Dich?« fragte er. »Dich rief keiner.« – »O doch! Es war mein Name.« – »Wie? Du heißt Cortejo?« – »Ja.« – »Wie ist dein Vorname?« – »Es ist doch nun verraten, und so sollst du auch ihn hören. Ich heiße Pablo Cortejo.« – »Gott, Gott!« schrie Gasparino. »Sollte es mehrere dieses Namens geben? Sagtest du nicht, daß deine Tochter hier sei?« – »Ja.« – »Heißt sie Josefa?« – »Ja. Kennst du sie? Kennst du uns?«
Da streckte sich Gasparino gegen seine Fesseln, daß sie klirrten und seine Knochen krachten.
»Hölle, Teufel und Verdammnis!« donnerte er. »So ist es also wahr! Dieser Pater hat mich betrogen. Ich bin gefangen. Gott oder Satan, ganz gleich, wer mir helfen will, aber gib, oh, gib mir Kraft, diese Ketten zu zersprengen!«
Cortejo stemmte sich von neuem gegen die Fesseln, aber vergeblich.
»Strenge dich nicht an, es ist umsonst!« klagte der andere. »Aber sage mir, woher du unseren Namen kennst?« – »Euren Namen? Ach, ich wollte, der Himmel stürzte ein und begrübe dieses Kloster unter seinen Trümmern. Weißt du, wer der ist, der vorhin, aus der Ohnmacht erwachend, deinen Namen nannte?« – »Sage es!« – »Henrico Landola.«
Da klirrten drüben bei dem anderen die Fesseln, zum Zeichen, daß der Schreck ihn bewegt habe.
»Henrico Landola!« schrie er überlaut. – »Ja.« – »Der Seekapitän?« – »Ja«, antwortete Gasparino.
Und zu seiner Rechten ließ sich Landolas Stimme hören:
»Ja, ich bin es! Henrico Lan… Landola, der Kapitän.« – »Ist‘s möglich. Auch das noch!« rief Pablo, die Ketten vor Grimm aneinanderschlagend. »Und du, wer bist denn du?« – »Ich? Höre und verfluche die Erde und alles, was Leben hat! Mein Name ist der deinige.« – »Der meinige?« – »Ja, denn ich bin Gasparino Cortejo, dein Bruder!«
Zwei laute Schreie erschollen, ein männlicher und ein weiblicher. Dann ward es da drüben still. Pablo und seine Tochter waren in Ohnmacht gesunken. Nur hüben noch rasselten die Ketten.
22. Kapitel
Oft scheint es fast, als ob die Vorsehung sich entschlossen habe, den Frevler entkommen zu lassen und die wohlberechtigten Pläne des Guten für immer zuschanden zu machen.
Aber Gottes Wege sind nicht unsere Wege.
Nachdem Kurt Helmers seine Besuche in Mexiko gemacht hatte, setzte er sich zu Pferde und verließ in Begleitung des Matrosen Peters die Hauptstadt. Sie erreichten nach einem raschen Ritt das Städtchen, in dem sie Geierschnabel und Grandeprise trafen; dann ging die Reise weiter.
Kurt war mit guten Karten versehen und besaß in den beiden Jägern zwei Führer, wie es keine besseren geben konnte.
Cortejo und Landola hatten als Verfolgte nicht die offene Straße eingeschlagen, sondern sich als Führer einen Mestizen gemietet und kamen infolge der schlechten Seiten– und Gebirgswege nur langsam vorwärts. Kurt ritt die Straße und konnte daher Strecken zurücklegen, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach vor den beiden Verbrechern in Santa Jaga ankommen mußte.
Darauf rechnete er auch bestimmt. Aber diese Berechnung sollte sich leider als trügerisch erweisen.
Es war am zweiten Abend, als er in der Stadt Zimapan ankam. Hier traf er auf Truppen. Die Stadt war von Franzosen besetzt, die sich vorbereiteten, unter ihrem Befehlshaber, einem General, sich nach Querétaro zu konzentrieren, um von da aus über Mexiko den Einschiffungshafen Verakruz zu erreichen. Im Norden der Stadt standen die Kaiserlichen unter dem ebenso bekannten wie berüchtigten General Marquez bereit, nach dem Abzug der Franzosen die Stadt zu besetzen. Doch war die Disziplin so locker, daß Scharen von ihnen sich in die Stadt begaben, um des Abends ein wenig mit ihren französischen Waffenbrüdern zu fraternisieren.
Durch dieses Gewühl hindurch mußte sich Kurt mit seinen Begleitern Bahn brechen. Am liebsten hätte er sich für diese Nacht draußen im Freien ein Lager gesucht, aber die beiden Jäger rieten davon ab. Sie wären doch zwischen die aufgelösten Truppen, bei denen auf rechte Manneszucht nicht zu rechnen war, geraten, und dabei vielleicht Unbilden ausgesetzt gewesen, die sie in der Stadt umgehen konnten.
Aber diese Aussage erwies sich als irrig. Die Stadt glich nicht einem Ameisenhaufen, sondern vielmehr einem Mehlwürmertopf, in dem es von Käfern, Würmern, Larven und Milben »wimmelte und kribbelte«. Von Venta zu Venta, von Posada zu Posada und zuletzt gar von Haus zu Haus suchend, fanden sie nicht das kleinste Örtchen, wo sie auf eine Stunde der Ruhe hätten rechnen können. Und deren bedurften sie doch ebensosehr, wie ihre Pferde des Futters und des Wassers.
Glücklicherweise erfuhren sie von einer alten »zahmen« Indianerin, die in einem zerrissenen und schmutzigen Hemd vor einer zerfallenen Hütte hockte, daß draußen vor der Stadt ein Bach fließe, an dessen Ufern Gras in Menge zu finden sei. Sie beschlossen also, an diesem Wasser zu biwakieren.
Leider war hier fast kein Plätzchen zu haben. Die französische Reiterei hatte sich hier festgesetzt, und so mußte Kurt froh sein, endlich ein kleines Stückchen Erde zu erobern, das zwei Schritte breit an den Bach stieß, so daß seine Tiere wenigstens zu saufen vermochten. Vor und hinter und neben der kleinen Truppe brannten Wachtfeuer, von denen sie hell beleuchtet wurden, so daß ihre Gesichtszüge ganz deutlich zu erkennen waren.
Dies störte nicht nur ihre Behaglichkeit und Ruhe, sondern es zog auch die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sie und sollte ihnen sehr verhängnisvoll werden.
Gerade vor ihnen lag eine Gruppe von vielleicht dreißig Kavalleristen im Gras. Die Leute schmauchten den starken mexikanischen Tabak und unterhielten sich von den Taten, die sie zum Ruhm Frankreichs hier in diesem Land »begangen und verschuldet« hatten. Ein ziemlich alter Sergeantmajor befand sich bei ihnen, der der Unterhaltung mit großer Würde präsidierte.
Eben war eine Gesprächspause eingetreten, als Kurt mit seinen drei Leuten herbeikam und sich in der Nähe niederließ. Ein Murren erhob sich unter den Franzosen.
»Was wollen diese Leute hier?« fragte einer. »Haben sie ein Recht hierzusein?« – »Dulden wir Zivilisten unter uns?« fragte ein zweiter. – »Mexikanische Landstreicher gehören nicht in die Nähe der Söhne unseres schönen Frankreichs«, meinte ein dritter.
Und ein vierter wandte sich direkt an den Feldwebel und sagte:
»Sergeantmajor, dulden wir das?«
Der Alte strich seinen Schnauzbart eine ganze Weile lang und erwiderte:
»Nötig haben wir es wahrscheinlich nicht!« – »Nun, so ist es Ihre Pflicht, uns von diesen Leuten zu befreien.«
Als der Alte zögerte, meinte ein junger Kerl zu ihm:
»Oder fürchten Sie sich vor diesem Zivil?«
Da warf der Feldwebel dem Sprecher einen Blick zu, der wenigstens zerschmetternd oder zermalmend wirken sollte, und sagte:
»Laffe! Als du noch keine Hosen trugst, trug ich bereits die Muskete. Ich werde euch zeigen, wie schnell dieses Zivil vor mir die Flucht ergreifen wird.«
Er schritt auf die vier Männer zu. Kurt lag im Gras und hatte sich eine Zigarre angesteckt; die anderen drei lagen mehr am Rand des Baches und beaufsichtigten ihre Pferde.
»Was wollt Ihr hier? Auf und fort!«
Diese Worte donnerte der Alte Kurt entgegen, indem er den Arm gebieterisch ausstreckte. Kurt regte sich nicht einmal.
»Habt Ihr gehört? Augenblicklich fort«, wiederholte der Alte.
Auch jetzt gab Kurt noch keine Antwort.
»Ah! Ihr wollt Euch widersetzen?« fragte der tapfere Reitersmann. »Gut, meine Leute werden Euch fortbringen.«
Kurt sah, daß er sich anschickte, Leute herbeizurufen. Das hätte eine Szene gegeben. Darum sagte er ruhig:
»Sergeantmajor, wo haben Sie für diese Nacht Ihr Quartier?«
Das empörte den Alten noch mehr. Er antwortete laut, so daß man es weithin hören konnte:
»Was? Er fragt mich nach meinem Quartier? Welches Recht hat Er dazu? Und weiß Er nicht, daß man sich erhebt, wenn man mit einem Helden Seiner Majestät des Kaisers spricht?« – »Gut, ich werde aufstehen, doch auf Ihre Verantwortung hin«, meinte Kurt leichthin. »Ich bemerke aber, daß ich dies nur aus Rücksicht auf Frieden tue, und wiederhole meine Frage, wo Sie heute abend Ihr Quartier haben.« – »Er hat sich darum nicht zu bekümmern!« – »O doch! Hat Ihre Truppe den Befehl, sich heute hier zu lagern, und ist Ihrer Abteilung vom Kommandanten diese Stelle angewiesen worden, so weiche ich gern; haben Sie aber Ihr Quartier in der Stadt, so habe ich dasselbe Recht wie Sie und bleibe.«
Der Alte sah den jungen Mann erstaunt an.
»Wer ist Er?« fragte er. »Er tut ja gerade so, als ob Er auch gedient habe und vom Reglement etwas verstehe.«
Es hatte sich um die beiden und die drei anderen Zivilisten ein weiter Kreis von Soldaten gebildet, die neugierig zuhörten.
»Können Sie lesen, Sergeantmajor?« fragte Kurt. – »Mille tonnerres!« fluchte der Alte. »Tausend Donner. Wie kann er es wagen, daran zu zweifeln?«
Kurt antwortete ruhig:
»Weil ich viel Sergeantmajors kennengelernt habe, die nicht lesen konnten. Obgleich ich nach Ihrem Kommandeur verlangen könnte, will ich mich doch herablassen, Ihnen Rede zu stehen. Hier, Kamerad, lesen Sie!«
Er zog von seinen Pässen denjenigen hervor, der in französischer Sprache abgefaßt war, und gab denselben dem Sergeanten hin.
»Wird auch viel Gescheites sein«, brummte der Alte.
Er trat näher an das Feuer, um besser lesen zu können. Kaum aber war er fertig, so kam er zurück, machte in kerzengerader Haltung sein Honneur und sagte im respektvollsten Ton:
»Verzeihung, mein Leutnant! Das konnte ich nicht wissen!« – »So hätten Sie vorher sich ordnungsmäßig erkundigen sollen. Wo haben Sie Ihr Quartier?« – »In der Stadt.« – »So bleibe ich also hier. Treten Sie ab!«
Der Alte drehte sich stramm um und marschierte nach seinem Platz zurück, wo er sich kleinmütig niederließ. Rund um ihn herum begann ein Flüstern:
»Warum ging er nicht?« fragte einer. – »Weil wir kein Recht haben, ihn fortzuweisen.« – »Sie gaben ihm das Honneur!« – »Donnerwetter! Er ist ein Offizier, und ich habe ihn Er genannt und so angedonnert. Ein Glück, daß wir morgen abmarschieren.« – »Ist er ein Franzose?« – »Nein, ein Deutscher.« – »A bah! Was für ein Deutscher?« – »Ein Preuße!« – »Hole sie alle der Teufel! Welchen Grad hat er?« – »Premierleutnant.« – »Bloß? Pah!« – »Sapperlot! Aber bei den Gardehusaren! Und beim Generalstab ist er auch! Bei dieser Jugend!«
Das flößte Respekt ein; aber man ärgerte sich doch, daß ein alter Sergeantmajor von einem Zivilisten abgewiesen wurde. Das Ereignis sprach sich von Gruppe zu Gruppe; die Kinder des französischen Ruhmes ereiferten sich darüber, und es entrierte sich eine Art von Wallfahrt nach dem Ort, wo der Deutsche lag, und nach der Gruppe, in deren Mitte der Sergeantmajor saß.
Unter anderem kam auch ein leichter Reiter herbei, der mit im Norden des Landes gefochten hatte. Er erkundigte sich nach dem Ereignis und betrachtete sich die Reisenden.
»Sacrebleu!« meinte er überrascht. »Den sollte ich kennen!« – »Den Offizier?« fragte der Sergeantmajor. – »Nein, den anderen.« – »Welchen?« – »Den mit der großen Nase!« – »Wirklich?« – »Bei Gott, ich kenne ihn. Ich will mich erschießen lassen, wenn ich ihm nicht gegenübergestanden habe. Ich sah von seinen Kugeln viele unserer Braven fallen. Es war im Gefecht bei Cena Sonores.«
Diese Worte brachten eine ungeheure Wirkung hervor.
»Was? Er ist ein Feind?« fragte der Alte. – »Ja. Er war bei Juarez; er ist ein amerikanischer Jäger und wird Geierschnabel genannt.« – »Dann ist er ein Spion!« rief einer halblaut. – »Bist du deiner Sache gewiß?« fragte der Alte. – »Ganz und gar. Aber ich werde gehen, um Mallou und Rénard zu holen. Sie haben an meiner Seite gefochten und werden ihn wiedererkennen.« – »Gehe, mein Sohn! Mir geht ein Licht auf. Ein deutscher Offizier in Zivil mit einem Spion des Juarez und noch zwei anderen, die wohl auch Spione sind, das wäre ein Fang, wie er nicht besser gemacht werden könnte.« – »Dann würden wir diesem Deutschen zeigen, daß er doch vom Wasser fort muß. Aber wohin! Hahaha!« – »Still, Jungens«, befahl der Alte. »Diese Personen dürfen nicht ahnen, was hier vorgeht, sonst könnten sie doch suchen, uns zu entkommen, und das wäre jammerschade!« – »Uns entkommen?« fragte der Junge, der vorhin so voreilig gewesen war. »Dies ist ja ganz und gar unmöglich. Wir sind ja da!« – »Halte den Mund, Knabe!« entgegnete der Alte. »Lerne erst die Jäger kennen, dann wirst du erfahren, was so ein Kerl zu bedeuten hat. Wenn Juarez dieses Land wieder erobern sollte, so hat er es nur der Disziplin, der Ausdauer und der eisernen Tapferkeit und Bravour dieser amerikanischen Jäger zu verdanken.«
In diesem Augenblick kehrte der Soldat mit seinen zwei Kameraden zurück und sagte:
»Hier sind Rénard und Mallou. Sie mögen sehen, ob ich recht habe oder nicht.« – »Ja, Jungens«, meinte der Alte, »seht euch doch einmal den Kerl da drüben an, der die lange Nase hat. Der da, euer Kamerad, meint, daß euch diese Nase bereits bekannt sei.«
Die beiden Soldaten folgten dieser Aufforderung. Kaum hatten sie Geierschnabel erblickt, so meinte Rénard:
»Sacrebleu! Den Kerl kenne ich!« – »Und ich auch!« fügte Mallou hinzu. – »Wirklich?« fragte der Alte, der sehr gespannt aussah. – »Ja«, antwortete Rénard. »Er hat uns in der Bataille von Cena Sonores gegenübergestanden.« – »Es ist Geierschnabel, der berühmte amerikanische Jäger«, erklärte Mallou. »Er gehört zu den Truppen des Juarez, und wir drei haben mit eigenen Augen viele von den Unsrigen von seinen Kugeln fallen sehen.« – »Was? Wirklich? Ihr kennt ihn also genau?« fragte der Sergeantmajor, der es für angezeigt hielt, in einem solchen Fall, der jedenfalls ein sehr wichtiger war, so sicher wie möglich zu gehen. – »Natürlich, natürlich ist er es! Man kann sich ja gar nicht irren. Wer dieses Gesicht gesehen hat, für den ist eine Täuschung geradezu unmöglich, mein Sergeantmajor.« – »Hm«, brummte der Alte. »Das kann diesen Leuten verdammt gefährlich werden. Kennt Ihr vielleicht noch einen anderen von ihnen?« – »Nein.« – »Na, das tut auch weiter nichts zur Sache. Nun aber ist es unsere Pflicht, uns dieser Leute zu versichern. Aber das muß mit Vorsicht geschehen, da der eine von ihnen ein Offizier ist. Man muß dem General Meldung machen. Das werde ich besorgen, und ihr drei geht mit. Ihr anderen laßt euch einstweilen nicht das mindeste merken, habt aber ein scharfes Auge auf sie. Sollten sie sich entfernen wollen, so haltet ihr sie zurück, und zwar mit Gewalt, wenn es notwendig sein sollte.«
Er entfernte sich mit den drei Soldaten, die als Zeugen dienen sollten, und es trat nun eine Pause der Spannung ein, während welcher Kurt nicht das mindeste ahnte von dem, was ihm und den Seinigen bevorstand.
23. Kapitel
Es mochte ungefähr eine halbe Stunde vergangen sein, als ein Capitain de cavalerie – Rittmeister – in Begleitung von Bewaffneten erschien. Der Sergeantmajor befand sich als Führer bei ihm; die anderen aber waren von dem General als Zeugen zurückbehalten worden.
Während seine Begleitung sich einige Schritte zurück aufstellte, trat der Rittmeister direkt zu Kurt, der sich, wißbegierig, was der Mann von ihm wolle, aus dem Gras erhob. Der Offizier betrachtete sich den Deutschen einige Augenblicke lang stillschweigend und fragte dann:
»Monsieur, es scheint, Sie sind kein Einwohner dieser Stadt?« – »Allerdings«, antwortete Kurt in höflichem Ton. – »Sie befinden sich auf Reisen?« – »Ja.« – »Woher kommen Sie?« – Jetzt zunächst aus der Hauptstadt.« – »Und vorher, also überhaupt?« – »Aus Deutschland.«
Der Offizier kniff die Augen zusammen und meinte gedehnt:
»Aus Deutschland? Ah! Sie meinen wohl Österreich?« – »Nein, sondern Preußen.« – »Preußen? Hm! Glauben Sie, daß dies hier gut für Sie sein wird?«
Kurt warf dem Mann einen erstaunten Blick zu und antwortete:
»Gestatten Sie, Ihnen zu sagen, daß ich Ihre Frage nicht begreife und auch nicht verstehe!«
Der Rittmeister warf den Arm in einer Weise in die Luft, daß damit gerade das Gegenteil von Vertrauen und Achtung ausgedrückt wurde, und sagte dann:
»Sie werden das wohl bald verstehen und begreifen. Für jetzt aber muß ich Sie bitten, mir zu sagen, wohin Ihre Reise gerichtet ist.« – »Zunächst nach Santa Jaga.« – »Zunächst also? Und dann?« – »Nach der Hacienda del Erina.« – »Ah, ich erinnere mich dieses Namens. Dies ist dieselbe Hazienda, die sich so ausgezeichnet als Etappenstation eignet?« – »Ich weiß das nicht, denn ich bin noch niemals dort gewesen.« – »Welchen Zweck verfolgen Sie bei dieser Reise?« – »Er ist rein privater Natur.« – »Darf ich fragen, welcher Art diese Natur ist?« – »Ich gedenke, Verwandte oder Freunde dort zu treffen oder wenigstens etwas über sie zu vernehmen.« – »Einen anderen Zweck verfolgen Sie nicht?« – »Nein.« – »Diese Personen, die ich hier bei Ihnen sehe, werden Sie begleiten?« – »Ja.« – »Es sind Diener von Ihnen?« – »Dieser Ausdruck wird nicht ganz bezeichnend sein.« – »Also Freunde?« – »Ich möchte sie allerdings beinahe so nennen.« – »Ah! Hm! Freunde! Ist nicht einer dabei, der Geierschnabel heißt?« – »Ja.« – »So möchte ich Sie ersuchen, mir zum kommandierenden General zu folgen.«
Kurt blickte befremdet auf.
»Was hat dies zu bedeuten?« fragte er. – »Ich bin nicht befugt, mich darüber zu äußern.« – »Soll ich Ihnen etwa in der Eigenschaft eines Arrestanten folgen?« – »Ich möchte mich dieses Ausdrucks allerdings nicht bedienen. Der General sandte mich, Sie und Ihre Begleiter zu ihm zu holen.« – »Augenblicklich?« – »Ja.« – »Und wenn ich mich weigere?« – »Ich will nicht befürchten, daß Sie dies tun werden.« – »Und wenn ich es dennoch tue?« – »Ich muß Sie bringen. Folgen Sie mir nicht freiwillig, so werde ich allerdings zur Anwendung von Gewalt gezwungen sein.« – »Also bin ich doch arretiert!« – »Es steht Ihnen frei, es zu nennen, wie es Ihnen beliebt, nur ersuche ich Sie dringend, von allem Widerstand abzusehen. Blicken Sie sich gefälligst um. Das ganze Feld wimmelt von unseren Soldaten. Es ist ganz unmöglich zu entkommen.«
Kurt warf einen schnellen Blick umher. Seine Begleiter hatten sich auch vom Boden erhoben. Sie standen neben den Pferden, den Zügel in der Linken und die Rechte im Sattel, also bereit, aufzuspringen und davonzujagen.
Kurt aber schüttelte verächtlich den Kopf und sagte mit Nachdruck:
»Nicht entkommen? Monsieur, wenn es eine Wette gälte, so wollte ich sicher sein zu gewinnen. Läge es in meiner Absicht, zu fliehen, so würde niemand imstande sein, uns aufzuhalten. Aber ich habe ein reines Gewissen, ich bin mir nicht bewußt, etwas Unrechtes getan zu haben, und so verzichte ich auf jeden Entweichungsversuch. Wir stehen zu Diensten, Herr Rittmeister!« – »Gut! Folgen Sie mir!«
Der Offizier war mit seinen Begleitern zu Fuß gekommen.
»Dürfen wir aufsteigen?« fragte Kurt unter einem leisen Lächeln. – »Nein!« antwortete der Gefragte schnell. Sie nahmen also ihre Pferde am Zügel und folgten, bewacht von den Soldaten, dem Rittmeister.
»Verdammt! Was werden wir sollen?« flüsterte Geierschnabel dem Jäger Grandeprise zu, indem er sein Primchen ausspuckte und ein neues von riesigen Dimensionen in den Mund schob. – »Wer weiß es!« antwortete der Gefragte. »Vielleicht hat man uns gar in dem Verdacht, Spione zu sein!« – »Das wäre ja eine ganz verteufelte Christbescherung! Ich hörte, daß der Kerl meinen Namen nannte.« – »Ich hörte es auch.« – »Was geht dem General mein Name an?« – »Wir werden es jedenfalls sehr bald erfahren.« – »Nun, da genießen wir wenigstens das große Glück, mit einem französischen General reden zu können. Hol ihn der Teufel!«
Der Weg führte sie durch zahlreiche Militärgruppen nach der Stadt zurück bis vor das Gebäude, in dem der Kommandierende sein Quartier aufgeschlagen hatte. Sie wurden sofort zu ihm geführt. Es befanden sich mehrere Offiziere bei ihm, die die Eintretenden mit finster forschenden Blicken musterten. Der Rittmeister blieb mit seinen Leuten an der Tür stehen, um die Arrestanten genau im Auge zu behalten.
Der General wandte sich zunächst an Geierschnabel, dessen ungewöhnliche Physiognomie er einige Augenblicke mit sichtlicher Belustigung musterte. Dann fragte er:
»Ihr Name?«
Geierschnabel nickte ihm außerordentlich freundlich zu und antwortete:
»Ja, mein Name!«
Der General machte eine Miene des Erstaunens und wiederholte:
»Ihr Name?«
Sein Ton war jetzt bedeutend strenger als vorher, aber der Jäger schien dies gar nicht zu bemerken. Er schmunzelte den General abermals höchst vertraulich an und antwortete kopfnickend:
»Freilich, freilich! Mein Name!« – »Mann, was fällt Ihnen ein. Ihren Namen will ich wissen!« rief der Offizier erzürnt. – »Ah! Wissen wollten Sie ihn? Ja, das konnte ich doch nicht erraten. Sie sagen: ›Ihr Name!‹ Ich habe gedacht, er gefällt Ihnen so ausnehmend. Nun erfahre ich aber, daß Sie ihn noch gar nicht wissen.« – »Sind Sie des Teufels? Es versteht sich doch ganz von selbst, daß ich wissen will, wie Sie heißen!« – »Ganz von selbst? O nein! Wenn jemand zu mir sagt: ›Hochgeehrtester Señor, wollen Sie die Gewogenheit haben, mir zu sagen, wie Ihr geehrtester Name lautet?‹, so weiß ich, was er will; aber wenn einer bloß sagt: ›Ihr Name!‹, so kann ich nur vermuten, daß er in Beziehung meines Namens irgendeine Absicht verfolgt; welche, das weiß der Teufel!«
Der General wußte nicht, was er denken sollte. Hatte er hier einen äußerst frechen oder geistig beschränkten Menschen vor sich? Er hielt noch an sich und sagte:
»Nun, also jetzt wissen Sie, daß ich Ihren Namen hören will.« – »Den richtigen oder den anderen?« – »Den richtigen.« – »Den richtigen? Hm! Das wird schwer halten!« meinte Geierschnabel höchst nachdenklich.
Der General runzelte die Stirn.
»Wieso?« fragte sie. »Sie haben wohl Ursache, sich des richtigen gar nicht zu bedienen? Sie tragen falsche Namen? Das ist sehr verdächtig!« – »Schwerlich!« antwortete Geierschnabel leichthin. »Aber man hat mich so lange Zeit nicht bei meinem richtigen Namen genannt, daß ich ihn fast ganz vergessen habe.« – »Nun, so besinnen Sie sich! Wie lautet er?« – »Hm! Ich glaube, ich heiße William Saunders.« – »Woher?« – »Woher ich so heiße?« – »Nein, sondern woher Sie sind!« fuhr ihn der General an. – »Aus den Vereinigten Staaten.« – »Und wie heißt der andere Name?« – »Geierschnabel.« – »Ah! Ein nom de guerre, wie ihn die Verbrecher untereinander zu führen pflegen. Wer hat Sie so genannt?« – »Meine Kameraden.« – »Ich dachte es mir! Diese Kameraden waren wohl Bewohner der hintersten Quartiere?« – »Der hintersten Quartiere?« fragte Geierschnabel erstaunt. »Diesen Ausdruck habe ich noch nie gehört. Was hat er zu bedeuten?« – »Ich meine, daß es Menschen waren, die das Licht des Tages zu scheuen hatten.« – »Ah! Sie meinen wohl Spitzbuben und Konsorten?« – »Ja«, nickte der General. – »Pfui Teufel! Pchtichchchch!«
Dabei spuckte er so nahe am Kopf des Offiziers vorüber, daß dieser erschrocken zur Seite sprang und mehr erstaunt als zornig ausrief:
»Mensch, was fällt Ihnen ein! Wissen Sie, vor wem Sie stehen?« – »Ja«, nickte Geierschnabel ganz gemütlich. – »So betragen Sie sich auch danach. Also wer waren Ihre Komplizen?« – »Komplizen? Ich will geteert und gefedert werden, wenn ich dieses Wort verstehe! Meinen Sie etwa meine Kameraden?« – »Ja.« – »Die mir den Namen gegeben haben?« – »Ja.« – »Nun, das waren wackere Jungen, tüchtige Kerle, denen es ganz egal war, ob sie mit einem General sprachen. Jäger waren es, Trapper, Squatter und Indianer. Sie müssen nämlich wissen, daß es in der Savanne fast keinen Jäger gibt, der nicht einen Beinamen hat. Der eine erhält ihn infolge irgendeines Vorzuges, der andere infolge eines Fehlers. Mein größter Vorzug ist nun meine Nase. Ist es da zu verwundern, daß mich die verteufelten Kerle Geiernase oder Geierschnabel genannt haben?«
Der General wußte noch immer nicht, wie er diesen eigentümlichen Menschen zu taxieren habe. Er ging zur Hauptsache über, indem er fragte:
»Also ein Präriejäger sind Sie?« – »Ja.« – »Haben Sie sich stets bloß mit der Jagd beschäftigt?« – »Nicht ganz allein.« – »Womit noch?« – »Ich habe nebenbei auch noch gegessen, getrunken, geschlafen, die Hosen ausgebessert, Tabak gekaut und verschiedenes andere mehr.« – »Mille tonnerres! Wollen Sie sich etwa einen Spaß mit mir machen?« – »Nein.« – »Das will ich Ihnen auch geraten haben. Kennen Sie Juarez?« – »Ja. Sehr gut sogar.« – »Persönlich?« – »Natürlich!« – »Haben Sie unter ihm gefochten?« – »Nein, sondern geschossen.« – »Das ist gleich. Sie haben uns gegenübergestanden?« – »Den Franzosen? Ja. Ich Ihnen und Sie mir.« – »Sie haben Franzosen getötet?« – »Das ist möglich. Während des Gefechts kann man nicht hinter jeder Kugel herlaufen, um zu sehen, ob sie trifft.« – »Waren Sie im Gefecht von Cena Sonores?« – »Ja.« – »Kennen Sie diese Männer?«
Der General zeigte auf drei Soldaten, die als Zeugen warteten. Geierschnabel sah sie an und antwortete:
»Ja, die kenne ich.« – »Woher?« – »Ich habe sie vorhin auf dem Feld draußen gesehen.« – »Vorher nicht?« – »Kann mich nicht besinnen! Ist mir auch ganz egal.« – »Diese drei Männer haben Sie bei Cena Sonores gesehen.« – »Das ist möglich.« – »Sie behaupten, daß Ihre Kugeln sehr gut getroffen haben!« – »So? Das freut mich. Für einen alten Jäger ist es verdammt ärgerlich, zu erfahren, daß er nur ins Blaue geschossen hat.« – »Scherzen Sie nicht«, rief der General in erstem Ton. »Es handelt sich hier um Leben und Tod!«
Geierschnabel machte ein erstauntes Gesicht und fragte:
»Um Leben und Tod? Wieso denn?« – »Sehen Sie das nicht selbst ein?« – »Nein.« – »Dann sind Sie wegen Ihres mangelhaften Fassungsvermögens zu bedauern. Sie sind überführt, Franzosen erschossen zu haben.« – »Ich hoffe es!« – »Sie sind also Mörder.« – »Mörder?« fragte Geierschnabel rasch. – »Ja. Und mit Mördern pflegt man kurzen Prozeß zu machen.« – »Ja, man gibt ihnen eine Kugel oder den Strick«, nickte Geierschnabel. »Aber wer will mir nachweisen, daß ich ein Mörder bin?« – »Es ist bereits nachgewiesen.« – »Oho! Ich bin Kombattant, aber kein Mörder. Jetzt geht mir ein Licht auf. Diese drei Kerle haben mich im Gefecht gesehen, hier wiedererkannt und angezeigt.« – »So ist es. Ein kaiserliches Dekret befiehlt, jeden Empörer zu erschießen.« – »Empörer? Pchtichch!«
Er spuckte gerade an dem General vorüber nach dem Tisch, wo der braune Saft ein brennendes Wachslicht auslöschte.
»Ich, ein Empörer?« wiederholte er. »Herr General, wollen Sie die Güte haben, dieses Schriftstück zu lesen?«
Er zog einige Dokumente aus der Tasche und reichte eins davon dem Offizier. Dieser las es und sagte dann:
»Ah! Sie wären also Dragonerkapitän der Vereinigten Staaten?« – »Ja. Das kann man nämlich werden, trotzdem man eine lange Nase hat.«
Der General tat, als habe er diese letztere Bemerkung gar nicht vernommen und sagte:
»Das kann Sie doch nicht retten. Sie haben sich einer mexikanischen Bande beigesellt.« – »Ist das Heer des Juarez eine Bande? Hier! Ich bitte, auch dieses zu lesen!«
Er gab ein zweites Schriftstück hin, und der General nahm Einsicht davon, meinte aber achselzuckend:
»Ihr von Juarez ausgefertigtes Patent als Kapitän der freiwilligen Jäger.« – »Ja freilich. Ich traf mit Juarez zusammen; er konnte mich brauchen, und da sein Weg zufälligerweise auch der meinige war, schloß ich mich ihm an und erhielt den Befehl über eine Jägerkompagnie.« – »Sie sind also Deserteur?« – »Wer sagt das?« – »Ich! Sie haben unter Juarez gefochten, trotzdem Sie Offizier der Vereinigten Staaten sind.« – »Das nennen Sie Deserteur? Selbst wenn ich desertiere, ist dies nur Sache des Präsidenten, aber nicht eines Franzosen. Ich habe unbestimmten Urlaub und vom Präsidenten die Erlaubnis, unter Juarez zu fechten. Ich bin weder Deserteur noch Mörder.« – »Befleißigen Sie sich eines anderen Tones! Selbst wenn ich das Bisherige fallenlasse, so bleibt doch der Umstand, daß Sie als Kombattant des Juarez hier mitten in unserem Lager betroffen wurden. Sie werden wissen, was das zu bedeuten hat.« – »Kriegsgefangenschaft etwa?« – »O nein! Etwas viel Schlimmeres. Sie haben sich hier eingeschlichen. Sie sind ein Spion!« – »Oho!« rief da Geierschnabel. »Ich bin nicht mehr Kombattant. Hier ist der Beweis!«
Er gab ein drittes Papier hin.
»Das ist allerdings die Zufertigung Ihres Abschiedes von Seiten des Juarez«, sagte der General, als er es gelesen hatte; »aber das kann nichts ändern. Sie sind im Lager betroffen worden, Sie sind ein Spion!« – »So muß ein jeder Fremde, der zufälligerweise an einen Ort kommt, wo sich französische Truppen befinden, ein Spion sein!« – »Ihr Argument ist kein geistreiches. Ich habe übrigens weder Zeit noch Lust, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Das bereits angezogene kaiserliche Dekret sagt, daß ein jeder, der den Truppen des Kaisers gegenübersteht, nämlich mit den Waffen in der Hand, ein Rebell und ein Räuber ist und als solcher behandelt, das heißt, erschossen werden soll. Ihr Urteil ist gesprochen.«
Da richtete sich die Gestalt des Jägers stolz in die Höhe. »General«, sagte er. »Sie sind Untertan des Kaisers von Frankreich, der den Erzherzog Max von Österreich als Kaiser von Mexiko anerkennt; für Sie mag also das, was Max oder Napoleon dekretieren, Geltung haben. Ich aber bin Untertan der Vereinigten Staaten, deren Präsident einen Kaiser von Mexiko nie anerkannt hat; was also der Erzherzog von Österreich dekretiert, ist meinem Präsidenten und auch mir ganz egal.« – »Es wird sich zeigen, daß es Ihnen nicht ganz und gar egal zu sein braucht. Sie befinden sich innerhalb unseres Machtbereiches und werden nach den Gesetzen behandelt, die hier Geltung haben.« – »Man versuche es! Ich protestiere gegen jede Gewalt. Mein Präsident wird sich und mir Genugtuung zu verschaffen wissen.« – »Pah! Der Präsident von Krämern«, rief der General verächtlich. – »Pchtichchchchch!« spie Geierschnabel einen Strahl aus, der über das ganze Zimmer hinüber und gegen die Wand spritzte. »Krämer?« rief er. »General, sagen Sie mir doch, weshalb die Franzosen jetzt aus Mexiko gehen? Dieser Präsident der Krämer hat Napoleon mitgeteilt, daß er keinen Franzosen mehr in Mexiko dulde, und Ihr großer Kaiser läßt Sie abmarschieren. Diese Krämer müssen also doch Kerle sein, die nicht auf den Kopf gefallen sind und die man in Paris zu respektieren gezwungen ist.«
So hatte noch niemand gewagt, mit dem General zu sprechen. Auf seine Büchse gestützt, stand Geierschnabel in stolzer, selbstbewußter Haltung da, als ob er der Kommandierende, der General aber der Arretierte sei. Dieser letztere hätte den mutigen Jäger am liebsten sofort erschießen lassen, aber er kannte gar wohl die Macht der von diesem vorgebrachten Argumente. Er befleißigte sich daher eines hochstolzen, eisigen Tones und sagte:
»Ich habe mich herabgelassen, Ihren Fall direkt zu untersuchen. Sie haben nun zu schweigen und das Weitere zu gewärtigen.« – »Bin neugierig darauf, meinte Geierschnabel.
Der General wandte sich zu Grandeprise:
»Wie heißen Sie?« – »Grandeprise.« – »Woher?« – »Aus New Orleans.« – »Also auch Untertan der Vereinigten Staaten?« – »Ja, ursprünglich, dann nicht mehr, jetzt aber wieder.« – »Wie habe ich das zu verstehen?« – »Ich bin Jäger und wohnte am texanischen Ufer des Rio Grande.« – »Kämpften Sie unter Juarez?« – »Nein.« – »Was tun Sie hier?« – »Ich bin von dem Herrn Leutnant Helmers engagiert.« – »Und Sie?« fragte der Franzose den Seemann Peters. – »Ich bin Matrose, heiße Peters und habe einen Privatauftrag in Mexiko auszurichten. Hier meine Legitimation.«
Das war eine ebenso kurze wie exakte Auskunft. Der General las die Legitimation und fragte:
»Aber Sie sind wohl auch von diesem Herrn engagiert?« – »Ja.« – »Trotz Ihres privaten Auftrages?« – »Ja. Unsere privaten Absichten sind zufälligerweise ganz dieselben.« – »So werde ich wohl hier darüber Aufklärung erlangen.« Bei diesen Worten wandte er sich Kurt zu. Dieser hatte bisher ganz ruhig dagestanden und gar nicht getan, als ob das Gesprochene ihn berühre. Jetzt wurde er gefragt: »Sie heißen?« – »Hier meine Legitimation!« sagte Kurt mit scharfer Kürze.
Er gab seine Dokumente ab. Der General las, behielt sie in der Hand und betrachtete den jungen Mann eine Weile mit neugierigen Blicken. Dann fragte er:
»Sie heißen also Kurt Helmers?« – »Ja.« – »Sind Oberleutnant der Gardehusaren in Berlin?« – »Ja.« – »Kommandiert zum Stab des jetzt so berühmten Moltke?«
Bei dieser letzten Frage zuckte ein höhnisches Lächeln um seinen Mund. Kurt antwortete in aller Ruhe:
»Warum diese Frage, General? Sie haben meine Legitimation gelesen; meine Personalien sind Ihnen also bekannt. Eine jede Wiederholung ist unnötig.« – »Ah, Sie sprechen ja höchst peremptorisch«, lachte der General. »Dieser Ton scheint den Herren Preußen zur zweiten Natur geworden zu sein; bei mir aber verfängt er nicht. Ich spreche meine Fragen aus, weil ich Ihren Dokumenten nicht gut glauben kann. Ein Offizier, wie Sie sein wollen, und – Spion.«
Kurts Wangen färbten sich, aber er behielt seine Ruhe doch noch bei.
»General«, sagte er, »Sie sprachen da ein Wort aus, das Ihnen nur die Wahl läßt, mir entweder zu beweisen, daß Sie recht haben, oder mir Genugtuung zu geben.« – »Ah, nicht so stolz, mein junger Leutnant. Sagen Sie mir doch gefälligst, woher Sie jetzt kommen?« – »Aus Mexiko.« – »Haben Sie dort Deutsche besucht?« – »Ja.« – »Wen?« – »Den Geschäftsträger Preußens.« – »Ah! Wohl gar in amtlicher Eigenschaft?« – »Nein.« – »Wie sonst?« – »Privatim, natürlich.« – »Und wohin wollten Sie von hier aus?« – »Nach Santa Jaga und der Hacienda del Erina.« – »Sacre! Nach dieser berühmten oder vielmehr berüchtigten Hazienda. Wissen Sie vielleicht, daß sie sich jetzt in den Händen des Juarez befindet?« – »Ja.« – »Das genügt. Sie kommen aus der Hauptstadt und wollen zu Juarez.« – »Ich komme aus der Hauptstadt und will in privater Angelegenheit nach Santa Jaga«, antwortete Kurt. »Später gehe ich wohl nach der Hazienda. Wer aber hat gesagt, daß ich zu Juarez will?« – »Das steht zu erwarten.« – »Vermutung also! Ich hoffe nicht, daß eine bloße und noch dazu unbegründete Vermutung hinreichend ist, einen Offizier und Ehrenmann zu beleidigen und ihn in Arrest zu nehmen.« – »Ich werde Beweise finden«, sagte der General. »Man suche die Leute aus.« – »Ich protestiere gegen seine solche Behandlung«, rief Kurt empört. – »Ihr Protest gilt nichts. Ich habe befohlen, und man wird gehorchen.«
Die Mantelsäcke der vier Reisenden wurden geholt, und sodann durchsuchte man sogar die Taschen der letzteren. So sehr Kurt gegen eine solche Behandlung protestierte, es half ihm nichts.
»Selbst wenn Sie kein Spion sind«, sagte der General, »und selbst wenn ich diesen Geierschnabel begnadigen wollte, müßte ich Sie in Gewahrsam halten.« – »Warum?« fragte Kurt. – »Meinen Sie, daß ich Sie zu Juarez gehen lasse, damit er erfahre, was bei uns vorgeht? Rittmeister, weisen Sie diesen vier Männern ihr Logis an. Das übrige wird sich finden.«
Es folgte nun eine sehr heftige Szene. Die vier Reisenden mußten alles von sich legen, was nicht ganz und gar unentbehrlich war, und dann wurden sie in einen Raum eingeschlossen, aus dem kein Entrinnen möglich war. Der französische General hatte sich viel sagen lassen müssen, ohne sich direkt zu revanchieren; aber jetzt begann dafür seine Rache.
Am anderen Tag wurde Kurt mit seinen Begleitern mitgeschleppt. Er hoffte auf rasche Erledigung dieser Angelegenheit – umsonst. Er meldete sich; er verlangte eine Untersuchung – kein Mensch hörte ihn. Er wurde weitergeschleppt, bis er sich wieder in Verakruz befand. Erst als der letzte französische Soldat auf dem letzten französischen Schiff den Hafen verlassen hatte, sahen die vier ihre Freiheit wieder und erhielten das zurück, was ihnen konfisziert worden war.
Man kann sich denken, welcher Grimm sich der vier Männer bemächtigt hatte. Sie beschlossen zwar, sich sofort an die Vertreter ihrer Regierungen zu wenden, aber was sie verloren hatten, das blieb doch unwiderbringlich – die kostbare Zeit, die nicht zurückzurufen war.
Sie sagten sich mit wirklicher Wut im Herzen, daß Cortejo und Landola ihnen entgangen seien. Was konnte seit jenem Tag alles vorgekommen und geschehen sein! Sie tauschten ihre abgematteten Pferde gegen bessere um und flogen nach der Gegend zurück, die zu verlassen man sie so schmählich gezwungen hatte.
24. Kapitel
Wer an einen Gott, an eine Vorsehung glaubt, der wird sehr oft die Erfahrung machen, daß der Lenker der Ereignisse die Fäden derselben gerade dann zusammenzieht, wenn man es am allerwenigsten erwartet und wenn die Hoffnung darauf verschwinden will.
In Fort Guadeloupe ging es jetzt recht einsam zu. Die Komantschen hatten wiederholt recht beherzigenswerte Lehren erhalten, und infolgedessen hatten ihre Häuptlinge beschlossen, sich nicht mehr in die Angelegenheiten der Weißen zu mischen. So hatte das Fort nichts mehr von ihnen zu befürchten. Die Apachen hielten für Juarez die Grenzdistrikte besetzt, und die Jäger und kriegsfähigen Männer, die sonst im Fort verkehrt hatten, waren alle auch dem Zapoteken gefolgt. Darum also gab es kein Leben mehr im Fort, und die Langeweile war als böser Gast nun eingekehrt.
Es war am Spätnachmittag. Resedilla saß an dem Fenster der Schenkstube, wo sie ihren gewohnten Platz hatte, und strickte. Sie war etwas bleich geworden; aber diese Blässe gab ihr etwas ungemein Sanftes und Liebes. Der Grund ihres schönen Auges schien sich vertieft zu haben, und um ihre Lippen lag ein Zug stiller Ergebenheit und Resignation, der sie nicht so lebensfroh, aber fast noch schöner, noch weiblicher erscheinen ließ, als sie früher gewesen war.
An dem anderen Fenster saß Pirnero. Er hatte ein Buch in der Hand, aber er las nicht in demselben, sondern seine Augen schweiften dorthin, wo die Sonne sich dem Horizont näherte. Auch er hatte sich verändert. Es war fast, als ob sein Kopf kahler geworden sei. Seine Stirn lag in Falten, seine Lippen waren zusammengepreßt, und seine Augen blickten finster.
Es herrschte eine tiefe, unerquickliche Stille in der Stube, die keiner von den beiden unterbrechen zu wollen schien.
Endlich räusperte sich der Alte. »Hm!« machte er. »Miserables Wetter!«
Resedilla antwortete nicht.
»Ganz miserables Wetter!« wiederholte er nach einer Weile.
Sie antwortete jetzt ebensowenig wie vorher.
»Nun?« rief er da im zornigen Ton. – »Was, Vater?« fragte sie jetzt. – »Miserables Wetter!« – »Es ist ja ganz schön draußen!«
Da drehte er das Gesicht nach ihr herum, blickte sie so erstaunt an, als ob sie etwas ganz Unbegreifliches gesagt hätte, und fragte sie in pikiertem Ton:
»Wie? Was? Schön soll das sein?« – »Natürlich, Vater!« – »Wieso denn, he?« – »Nun, so blicke doch nur hinaus!« – »Das habe ich bereits den ganzen Tag getan; aber etwas Schönes sehe ich nicht. Da ist die Sonne, da sind Bäume und Sträucher, der Fluß, einige Häuser und Vögel, aber Menschen sehe ich nicht. Oder siehst du etwa welche?« – »Ja«, lächelte sie. – »Wo denn?« – »Nun, zunächst sind ja wir beide da.« – »Wir beide? Das ist auch was Rechtes!« – »Und sodann sehe ich gerade jetzt drüben die Lydia.« – »Die Lydia? Die alte Negerin, die dort Wäsche aufhängt? Wir zwei und die? Sind das etwa Menschen?« – »Ich denke doch!« – »Unsinn!« – »Nun, was verstehst du denn eigentlich unter Menschen?« – »Leute, die bei mir einkehren und einen Julep trinken oder im Laden irgend etwas kaufen, Leute, mit denen man sich unterhalten kann, Leute, mit denen man ein Geschäft macht.« – »Ah so! Dann hast du recht, dann allerdings gibt es hier bei uns keine Menschen mehr«, sagte sie, fast traurig. – »Ja, keine Menschen, keinen einzigen, nicht einmal einen Schwiegersohn.«
Pirnero blickte seine Tochter bei diesen Worten scharf an. Sie senkte das Gesicht, über das sich eine tiefe Röte verbreitete, aber sie antwortete nicht.
»Nun?« sagte er. – »Was?« fragte sie. – »Was sagst du zu diesem Wort?« – »Zu welchem?« erkundigte sie sich, obgleich sie ganz genau wußte, was er meinte. – »Zu dem Wort Schwiegersohn?« – »Rechnest du so einen auch zu den Menschen?« versuchte sie zu scherzen. – »Na und ob! Ein Schwiegersohn ist ein höchst bedeutungsvoller Mensch. Ohne ihn gibt es keinen Schwiegervater, keine Schwiegermutter und keine Schwiegertochter. Wo er fehlt, da gibt es weder Großvater noch Enkel, da gibt es weder Hochzeit noch Kindtaufe noch Patengeld. Eine solche armselige Geschichte mag der Teufel holen.«
Ein leiser Seufzer ertönte von Resedillas Platz her. Ihr Vater achtete gar nicht darauf und fuhr fort:
»Gerade so ist‘s bei uns.«
Er mochte jetzt eine Äußerung erwartet haben, denn er horchte nach Resedilla hin, da er aber nichts zu hören bekam, rief er:
»Nun?« – »Was?« – »Gerade so ist es bei uns.« – »Ja, Patenbriefe gibt es nicht, die sind alle geworden.« – »Dummes Ding! Rede ich denn von meinem Laden, in dem mir allerdings gerade die Patenbriefe ausgegangen sind? Ich rede ja von weiter niemandem als von dir. Ja. Und das merkst du nicht? Wo hast du denn deinen Verstand und deine Ohren, he? Und wer ist schuld daran?« – »An dem Verstand?« – »Den meine ich nicht, denn den hast du von mir; das kommt von dem Forterben vom Vater auf die Tochter. Ich meine vielmehr den Schwiegersohn. Was habe ich mir da für Mühe geben müssen. Weißt du es noch?« – »Ja«, antwortete sie, damit sich seine Laune nicht verschlimmere. – »Da war dieser Kleine André. Besinnst du dich auf ihn?« – »Ja.« – »Ein hübscher, niedlicher Kerl!« – »Hm!« – »Was hast du denn? Der Kerl paßte ganz gut. Er war Brauer und hatte ganze Beutel voll Nuggets. Dann kam der nächste.«
Sie fragte nicht, wen er meinte. Darum rief er zu ihr hinüber:
»Nun?« – »Was?« – »Der nächste. Weißt du, wer das war?« – »Nein.« – »Ja, so ist es! Unsereiner gibt sich die größte Mühe, um es zu einem Schwiegersohn zu bringen, und sie weiß nicht einmal, welche Anbeter sie gehabt hat. Den Amerikaner meine ich.« – »Welchen Amerikaner?« – »Nun, der auf dem Kanu den Fluß heraufkam.« – »Ah! Geierschnabel etwa?« – »Ja.« – »Pfui!« – »So? Ah! Was pfuist du denn? Er war ein berühmter Scout, und der Lord hatte ihn geschickt. Wegen der Nase hättest du keine Sorge zu haben gebraucht; die hätten nur deine Töchter bekommen, nicht aber deine Söhne. Das ist die Folge der Abstammung vom Vater auf die Tochter und von der Mutter auf den Sohn. Und dann kam der dritte.«
Sie senkte das Köpfchen noch tiefer als vorher.
»Nun?« sagte er. – »Was?« – »Der dritte kam!« – »Ja.« – »Wer war das?« – »Meinst du – meinst du Gerard?« fragte sie stockend. – »Ja. Der war mir der liebste. Dir nicht auch?« – »Ja«, hauchte sie, nachdem sie eine Weile gezögert hatte. – »Donnerwetter. Ein berühmter Kerl! Nicht?« – »Ja.« – »Tapfer!« – »Ja.« – »Stark und hübsch!« – »Ziemlich.« – »Und dabei doch sanft wie ein Kind und fromm wie ein Lamm.« – »Das ist wahr.« – »Und reich! Diese Büchse mit dem Kolben von Gold. Weißt du noch, als er ein Stück davon herabschnitt?« – »Ich war ja dabei.« – »Er war erst inkognito da; aber ich hatte ihn längst durchschaut.« – »Du?« fragte sie. – »Ja, ich! Glaubst du das etwa nicht?« – »Ich habe nichts davon bemerkt.« – »Natürlich. Weißt du, was ein Diplomat ist?« – »Ja.« – »Ein Diplomat ist ein Mann, welcher Rußland seine Gedanken verbirgt, weil Frankreich nicht weiß, was England von Schweden und Norwegen denken soll. Verstanden?« – »Ja.« – »Gerade so habe ich es auch gemacht. Ich habe euch meine Gedanken so fein, so gut versteckt, daß ihr gar nicht ahntet, daß ich überhaupt welche hatte.« – »Ja, so sahst du aus«, lachte sie. – »Nicht wahr? Das war ein Meisterstück. Ich habe die ganze Politik im Kopf. Die Schlacht da draußen am Fluß habe ich lange vorher gewußt Auch den Sieg habe ich mir im stillen vorher geweissagt Darum schoß ich so tapfer mitten unter die Franzosen hinein.« – »Du?« fragte sie. – »Ja. Oder zweifelst du etwa?« – »Hm!« – »Na, was hast du denn? Alle Welt weiß, daß ich acht oder neun erschossen und auch einige erstochen habe. Und dann das Massaker droben in der Bodenkammer.« – »Hast du da auch einige erschossen?« – »Hm!« brummte er verlegen. »Nein.« – »Oder erstochen?« – »Nein. Ich fand keine Gelegenheit dazu, denn der Gerard war damit fertig, ehe ich nur anfangen konnte. Der arme Teufel! So lange zwischen Leben und Tod zu schweben! Das war eine Sorge! Nicht?« – »O Vater, eine sehr große!« – »Ja. Endlich, endlich war wieder Hoffnung da. Weißt du, was ich mir da einbildete?« – »Nun?« – »Daß er dir einen Heiratsantrag machen würde.«
Resedilla zog vor, zu schweigen.
»Oder wenigstens eine Liebeserklärung.«
Auch jetzt gab sie keine Antwort.
»Nun?« rief Pirnero. – »Was denn?« – »Ist nichts derartiges vorgekommen, he?« – »Nein.« – »Also kein richtiger Antrag?« – »Nein.« – »Auch kein kleines, verstohlenes Anträgelchen?« – »Nein.« – »So ein Kuß auf die Hand oder auf die Wange?« – »Nein.« – »Oder so ein bißchen in den Arm oder in das Ohr gezwickt?« – »Auch nicht.« – »Oder so ein gelinder, heimlicher Liebestritt auf die Füßchen?« – »Nein.« – »Donnerwetter! Hat er dir denn nicht wenigstens einmal die rechte oder die linke Hand gequetscht?« – »Als er fortging?« – »Da war‘s bereits zu spät. Aber mit den Augen hat er wenigstens einmal gezwinkert?« – »Ich kann mich nicht besinnen.« – »Da hat man‘s. Was habe ich gezwickert und gezwinkert, gequetscht, gekniffen und gepufft, als ich deine Mutter kennenlernte! Wir Alten hatten die Liebe viel besser weg als ihr Jungen. Dieser Gerard! So ein feiner Kerl! Und doch erst, als er fortgegangen ist, hat er dir die Hand gequetscht. Der Esel! Herrjeh, wäre das ein Schwiegersohn gewesen! Hat er dir denn nicht gesagt, wohin er wollte?« – »O ja.« – »Was? Dir hat er es gesagt?« – »Ja.« – »Und mir nicht? Sakkerment! Das will ich mir verbitten! Solche Heimlichkeiten, solche Techtelmechteleien kann ich nicht leiden und dulden. Das ist ja gerade so verschwiegen, als ob ihr ein Liebespaar wäret. Das will ich mir verbitten. Aber wie kommt es denn, daß es dir erst jetzt einfällt?« – »Erst jetzt?« meinte sie verlegen. – »Ja. Du hast immer gesagt, daß du nicht weißt, wohin er ist.« – »Ich habe es gewußt.« – »Ah, sieh doch einmal an! Und warum sagtest du es mir nicht?« – »Es war ja Geheimnis!« – »Himmelelement! Geheimnisse habt ihr miteinander?« – »Nur dieses eine, lieber Vater.« – »Das geht nicht. Das würde ich nicht einmal von meiner Tochter und meinem Schwiegersohn dulden. Ich müßte alles wissen, alles, sogar wieviel Küsse sie sich pro Stunde geben. Dadurch bekommt man eine gewisse Übersicht, die sehr notwendig ist, wenn man die Ehe der Tochter mit der eigenen vergleichen will. Also was für ein Geheimnis ist es?« – »Ich sollte nichts sagen, Vater, aber die Zeit, in der er zurückkehren wollte, ist vorüber, und nun bekomme ich Angst.« – »Angst? Sapperlot, das klingt schlimm! Ist‘s denn gefährlich?« – »Ja, zumal er noch so schwach war, als er ging.« – »Nun, so rede, um was handelt es sich denn?« – »Um – er wollte – oh, mein Gott!«
Resedilla hielt mitten im Satz inne. Ihr Auge starrte durch das Fenster; ihr Gesicht hatte die Starrheit und Bleichheit des Todes angenommen, und ihre beiden Hände waren nach dem Herzen gefahren, wo sie fest liegenblieben.
Pirnero bemerkte die Richtung ihres Blickes. Er trat zum Fenster und sah hinaus. Da kam ein Reiter langsam die Gasse herauf. Ihm folgten fast ein Dutzend schwerbepackte Maultiere, und hinter diesen ritt ein zweiter Reiter neben einer Reiterin.
»Kreuzhimmelbataillongranatenbombenstiefelknecht – das ist er ja«, schrie Pirnero und stürmte zur Tür hinaus.
Da erhielt auch Resedilla wieder Leben. Ihr Busen begann sich zu bewegen, ihre Hände sanken herab, fuhren aber sofort wieder empor nach den Augen, denen eine Tränenflut der Erleichterung entstürzte.
»Er ist‘s, er ist‘s«, schluchzte sie. »Gott sei Dank! Gott sei Dank! Oh, so darf ich ihn nicht sehen, so nicht, nein, so nicht!«
Sie fühlte, daß sie sich ihm jubelnd an die Brust stürzen würde, und darum floh sie hinauf in ihre Kammer, wo sie schon so viele, viele Tränen geweint hatte.
25. Kapitel
Pirnero aber stand unter der Tür und streckte beide Hände aus, um den Jäger zu empfangen.
»Willkommen, tausendmal willkommen, Señor Gerard!« rief er. »Wo habt Ihr denn gesteckt?« – »Das sollt Ihr bald hören, mein lieber Señor Pirnero. Erlaubt nur, daß ich vom Pferd steige.«
Ja, das war Gerard, der alte, der frühere! Hoch, stark und breit, fast so riesig wie Sternau gebaut, zeigte er nicht die mindeste Spur seiner Krankheit mehr in Haltung und Bewegung. Seine Kleidung war abgerissen, er mußte ungewöhnliche Strapazen hinter sich haben; aber sein sonnenverbranntes Gesicht zeigte eine Frische und sein Auge einen Glanz, die es nicht erraten ließen, daß er vor kurzer Zeit noch mit dem Tode gerungen hatte.
Er sprang vom Pferd, und anstatt dem Alten die Hand zu geben, zog er ihn in die Arme und drückte ihn an sich und gab ihm sogar einen schallenden Kuß auf die Wange.
»Grüß Gott, Señor Pirnero!« rief er dabei im Ausdruck des Glückes. »Wie herzlich froh bin ich, wieder bei Euch zu sein!«
Das war dem Alten noch nicht passiert. Seine Augen wurden vor Freude und Rührung augenblicklich naß. Er hielt beide Hände des Jägers fest und fragte:
»Wirklich? Ihr seid froh darüber?« – »Ja.« – »Ihr umarmt mich sogar vor Freude?« – »Natürlich!« – »Ihr gebt mir einen Schmatz und quetscht mich an Euch, gerade so, wie Ihr Resedilla die Hand gequetscht habt, als Ihr fortgegangen seid! Señor, Ihr seid ein tüchtiger Kerl und ein gutes Gemüt. Ich wünschte nur – na, davon darf man bei Euch nun einmal nicht anfangen, da Ihr partout ledig bleiben wollt. Aber sagt mir doch, wer der Señor ist und die Señora, die Ihr bei Euch habt?« – »Das werde ich Euch drinnen erzählen. Aber sagt mir lieber, ob Señorita Resedilla munter ist.« – »Munter? O leider nein.« – »Ah! Sie ist doch nicht krank?« – »Das eigentlich nicht. Aber sie muß sich den Magen verdorben haben, denn sie kann fast gar nichts mehr essen. Sie magert ab, und im stillen da stöhnt und seufzt sie, da piept und fiebt sie, als wenn es bald zu Ende gehen sollte. Ich habe ihr schon Senfteig geraten, Senfteig auf den Magen, und die Schulterblätter mit Melissengeist einreiben; aber sie hört nicht eher, als bis es zu spät ist. Hier gehört eben ein tüchtiger Schwiegersohn her, der ihr den Standpunkt klarmacht, was Senfteig und Melissengeist zu bedeuten haben, wenn man einen kranken und übergesperrten Magen hat.«
Der Schwarze Gerard kannte den Alten. Auf ihn wirkten die Worte desselben nicht so, wie es bei einem anderen gewesen wäre. Er sagte:
»Wo befindet sie sich jetzt?« – »Drinnen in der Stube.« – »So erlaubt, daß ich sie zunächst begrüße.«
Gerard trat in den Flur, öffnete die Tür der Stube und blickte hinein.
»Hier ist niemand«, sagte er. – »Freilich ist sie drin«, behauptete der Alte. – »Nein.« – »Donnerwetter, seid Ihr denn blind? Sie steht ja da am Fenster, guckt Euch an und macht ein Gesicht, als wenn sie ein halbes Dutzend Maulwürfe lebendig verschluckt hätte.« – »Aber wo denn nur?« fragte Gerard lachend. – »Da! Hier!«
Der Alte kam an die Tür, um nach der Stelle zu zeigen, wo er Resedilla verlassen hatte; aber sie war allerdings leer.
»Weiß Gott, sie ist nicht da«, rief er ganz erstaunt. – »Seht Ihr!« – »Sie ist fort. Reineweg fort! Ist das ein Benehmen. Himmeldonnerwetter! Was habt Ihr ihr denn eigentlich getan?« – »Getan? Wieso?« – »Nun, weil sie Euch so ganz und gar nicht leiden kann.« – »Ja, das kann ich mir auch nicht erklären.« – »Ja, Ihr müßt es mit ihr verdorben haben, ganz gewaltig verdorben. Als sie Euch kommen sah, stieg ihr gleich die Galle in die Höhe; das sah ich ihr an. Darum ist sie ausgerissen. Sie will von Euch gar nichts wissen.« – »Leider. Aber sagt, mein lieber Señor Pirnero, kann ich unsere Pferde und Maultiere bei Euch unterbringen?« – »Das versteht sich.« – »Und die Ladung auch?« – Jawohl!« – »Aber ich kann sie nicht im Freien liegenlassen, ich möchte sie vielmehr einschließen.« – »Ah, ist sie wertvoll?« – »So ziemlich.« – »Worin besteht sie denn?« – »Es ist Blei.« – »Blei? Sapperlot, das ist ja gut. Blei wird außerordentlich gesucht. Wo wollt Ihr es denn hinschaffen?« – »Zunächst will ich es hier lassen. Ich dachte, mit Euch ein kleines Geschäftchen zu machen.« – »Schön! Aber woher habt Ihr das Blei?« – »Ich kannte eine Bleimine da oben in der Sierra. Und da ich nächstens in die Lage kommen werde, viel Geld zu gebrauchen, so reiste ich hinauf und holte mir soviel, daß ich genug habe.« – »Na, ich denke, daß Ihr mir den Preis nicht gar zu hoch stellt Aber, was ist es denn, weswegen Ihr so viel Geld braucht?« – »Etwas sehr Eigentümliches!« – »Wirklich?« – Ja. Sogar etwas sehr Wichtiges.« – »Alle Teufel! Ihr macht mich ganz bedeutend neugierig.« – »Nun, so ratet einmal.« – »Raten? Hm, sagt es mir doch lieber gleich!« – »Meinetwegen. Ich werde heiraten.«
Der Alte sprang vor Erstaunen einen Schritt zurück.
»Heiraten? Unsinn!« rief er. – »O doch«, antwortete Gerard. – »Wann denn?« – »In einigen Tagen.« – »Und wen denn?« – »Die Señorita, die ich mitgebracht habe.«
Gerard deutete auf die verschleierte Frauengestalt, die noch im Sattel saß, während ihr Begleiter bereits abgestiegen war und sich mit den Tieren zu schaffen machte, um sie zu versorgen.
Pirnero warf einen forschenden Blick auf die Señorita. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ebensowenig die Gefühle seines Herzens zurückhalten.
»Seid Ihr denn verrückt oder gescheit?« fragte er. – »Wieso?« – »Daß es Euch einfällt, zu heiraten.« – »Nun, man will doch endlich einmal glücklich sein.« – »Glücklich? Hole Euch der Teufel! Wird man denn durch das Heiraten glücklich?« – »Natürlich.« – »Unsinn. Das fällt keinem Menschen ein. Man verliert nur seine Freiheit und Selbständigkeit; der Charakter, das Temperament und das Ehrgefühl gehen verloren, und man sinkt nach und nach zu einem Ding herab, mit dem die Frau machen kann, was ihr beliebt. Ich rate Euch ab.« – »Es ist zu spät.« – »Sapperlot! Es ist nicht zu spät. Jagt sie zum Teufel! Hat denn diese dort Eltern?« – »Leider nicht mehr.« – »So müßt Ihr sie auf alle Fälle fortjagen.« – »Warum?« – »Weil Ihr ja durch diese Heirat nicht einmal zu einem Schwiegervater kommt. Weshalb heiratet man denn? Um einen Schwiegervater zu haben, mit dem man sich gut steht.« – »Das möchte ich zugeben. Aber wie gesagt, es ist bereits zu spät.« – »Na, so bedaure ich Euch von ganzem Herzen. Willkommen, Señor und Señorita! Tretet gefälligst ein!«
Diese Worte waren an den Begleiter und die Begleiterin Gerards gerichtet, die jetzt näher traten, um sich nach der Gaststube zu begeben.
»Könnten wir die Ladung in Eurem Magazin unterbringen?« fragte Gerard. – »Ja. Ich werde gleich meine Leute rufen. Sapperment, seid Ihr vorsichtig. Ihr habt diese Bleisäcke ja sogar zugesiegelt.« – »Sicher ist sicher! Seht darauf, daß mir die Siegel nicht beschädigt werden, und sorgt dann für ein gutes Abendbrot!«
Gerard folgte den beiden anderen in die Stube. Pirnero holte seine Leute herbei, und dann eilte er nach der Küche, um seiner Tochter die nötigen Befehle zu geben.
»Wo ist Resedilla?« fragte er die alte Magd, die allein da war. – »Ich weiß es nicht«, antwortete die Gefragte, »aber ich hörte, daß sie die Treppe hinaufging.« – »So ist sie ausgerissen«, meinte er. »Hm, ich nehme es ihr auch nicht gerade übel. Der Kerl ist doch zu dumm!« – »Warum?« fragte die Alte, der es selten passierte, ihren Herrn einmal mitteilsam gegen sein Gesinde zu finden, und die daher diese Gelegenheit schleunigst ergriff. – »Weil er heiratet«, antwortete er. – »Oh, Madonna, sollte das wirklich dumm sein?« – »Natürlich!« – »Señor, ich halte es ganz und gar nicht für eine Dummheit, Señorita Resedilla zur Frau zu nehmen. Erstens ist sie lieb, zweitens hübsch, drittens wohlhabend, viertens …« – »Erstens, zweitens, drittens und viertens hast du das Maul zu halten«, unterbrach er sie zornig. »Resedilla ist es ja nicht, die er heiraten will.« – »Nicht?« fragte die Magd ganz erstaunt. – »Nein.« – »Wer denn?« – »Eine andere natürlich. Aber da kommt er bei mir an den richtigen. Wenn er etwa geglaubt hat, daß ich ihm meine Resedilla zur Frau geben werde, da hat er sich gewaltig geirrt. Der könnte vom Kopf bis zu den Füßen in Gold gefaßt sein, er kriegte dennoch meine Tochter nicht. Ich habe mir einen anderen Schwiegersohn eingebildet, und den bekomme ich. Ich habe meine Tochter nicht so fein vom Vater auf die Tochter hinüber erzogen, daß sie einen Jäger heiraten soll. Sie wird einen bekommen, der sich gewaschen hat.«
Pirnero hatte sich in einen Zorn hineingeredet, der sich von Wort zu Wort mehr steigerte. Der Umstand, daß der Schwarze Gerard eine andere heiraten wolle, hatte ihm seine Hoffnung zerstört und versetzte ihn in einen Grimm, wie er ihn lange Zeit nicht gefühlt hatte. Er tat nun so, als ob ihm an dem früher Gewünschten gar nichts gelegen habe, und fuhr fort:
»Wenn du überhaupt wüßtest, was ich vorhabe, so würdest du dich nicht wenig wundern.« – »Wundern? Hm, Señor, ich wundre mich gar zu gern ein bißchen. Wollt Ihr es mir nicht sagen?« – »Warum nicht! Ich werde verkaufen.« – »Verkaufen?« fragte sie ganz erstaunt. »Was denn?« – »Nun was denn sonst als mein Geschäft und meine Besitzungen.« – »Heilige Madonna! Was soll denn da aus uns werden?« rief die Magd, die Hände zusammenschlagend. – »Na, Ihr bleibt da. Der Käufer muß Euch mit übernehmen.« – »Habt Ihr denn schon einen Käufer?« – »Nein.« – »Gott sei Dank!« – »Gott sei Dank? Dumme Liese. Ich will vielmehr Gott danken, wenn ich einen finde. Dann ziehe ich fort.« – »Wohin denn?« – »Weit fort, fort aus Mexiko, fort aus Amerika, dahin, wo es noch andere Schwiegersöhne gibt als diesen Gerard. Ich freue mich darüber, daß Resedilla so klug gewesen ist, mit ihm gar keinen großen Kram zu machen. Wir wollen sie lassen, wo sie ist. Er will zwar ein Essen haben, aber was der bekommen wird, das bringen wir auch ohne sie ganz gut fertig.«
So begann Pirnero denn, sich mit Hilfe der Alten über die Zubereitung eines Mahles herzumachen. Unterdessen brachten seine Leute die Tiere und die Ladung der Angekommenen unter. Diese letzteren befanden sich im Gastzimmer, wo sie sich miteinander unterhielten.
Die Dame hatte den Schleier abgenommen und sah, obwohl sie nicht mehr weit von den Vierzig stehen konnte, noch ganz akzeptabel und reputierlich aus. Dem aufmerksamen Beobachter mußte es auffallen, daß sie eine große Ähnlichkeit mit Gerard besaß.
Was Gerard betrifft, so ließ er jetzt die beiden allein, indem er aus dem Zimmer ging und die Treppe hinaufstieg.
Da oben lag ja Resedillas Schlafstube, die er so gut kannte und in der er so glückliche Augenblicke verlebt hatte.
Er klopfte leise. Ein ebenso leises »Herein« ertönte von innen, und so trat er ein. Resedilla stand am Fenster. Ihre schönen Augen waren noch feucht. Er trat näher und fragte:
»Seid Ihr böse, daß ich es wage, Señorita?« – »Nein«, hauchte sie. – »Ah, Ihr habt geweint!« – »Ein wenig«, flüsterte sie unter einem halben Lächeln. – »Oh, wenn ich doch wüßte, worüber Ihr geweint habt!«
Sie antwortete nicht. Darum fuhr er fort:
»Ihr wart unten, als ich kam?« – »Ja.« – »Und Ihr seid schleunigst geflohen. Auch jetzt sagt Ihr kein Wort, mich zu bewillkommnen. Bin ich Euch denn so verhaßt?«
Er sagte das in einem so traurigen Ton, daß sie sofort auf ihn zutrat und ihm mit herzinnigem Ausdruck ihres Gesichtes beide Hände entgegenstreckte.
»Willkommen, Señor!« sagte sie. – »Wirklich?« fragte er, ihre Hand rasch ergreifend. – »Ja, herzlich willkommen.« – »Und dennoch seid Ihr geflohen? Nicht wahr, vor mir?« – Ja«, antwortete sie langsam und zögernd. – »Warum?«
Sie errötete bis hinter die Ohren und antwortete: »Weil Ihr mich nicht sogleich sehen solltet.« – »Warum sollte ich das nicht?« – »Weil – weil – weil – o bitte, erlaßt mir diese Antwort, Señor!«
Gerard blickte ihr prüfend in die Augen und sagte dann:
»Und doch gäbe ich viel darum, wenn ich diese Antwort hören dürfte. Bitte, bitte, Señorita! Wollt Ihr sie nicht sagen?«
Sie senkte das Köpfchen und flüsterte:
»Ich war ja nicht allein.« – »Nicht allein? Wie meint Ihr das?« – »Mein Vater war dabei.«
Da überkam es ihn wie eine süße, glückliche Ahnung. Er bog den Kopf zu ihr herab und fragte:
»Und warum sollte Euer Vater nicht dabeisein?«
Da zog sie rasch ihre Hände aus den seinigen, legte ihm die Arme um den Hals und antwortete:
»Er sollte nicht sehen, wie lieb, wie so sehr lieb ich dich habe und mit welcher Bangigkeit ich auf dich wartete!«
Der starke Mann hätte am liebsten laut aufjubeln mögen, aber er beherrschte sich. Er schlang seine Arme um sie, zog sie an sich und fragte in einem Ton, der das ganze Glück seines Herzens verriet:
»Ist das wahr, wirklich wahr?« – Ja«, sagte sie, indem sie ihr Köpfchen fest an seine Brust legt, »du darfst es glauben.« – »Meine Resedilla!«
Nur diese beiden Worte sprach er; dann aber standen sie in einer innigen Umarmung beieinander, und ihre Lippen fanden sich zur zärtlichsten Vereinigung. Es war ein Augenblick so großen Glückes, daß Gerard meinte, gar nicht daran glauben zu dürfen.
»Also du liebst mich wirklich, mein süßes, gutes Mädchen?« flüsterte er ihr zu. – »Innig«, antwortete es. – »Und hast dich um mich gesorgt?« – »Sehr.« – »Um diesen armen, einfachen Jäger! Um diesen fremden, bösen Mann, der in der Heimat nichts gewesen ist als ein …« – »Bst!« machte sie, indem sie ihm den Mund mit einem Kuß verschloß. »Du sollst nicht davon sprechen!« – »Aber muß ich denn nicht?« – »Nein, niemals! Nie wieder! Gott hat dir vergeben! Gott wird dich glücklich machen!« – »Durch dich, nur allein durch dich!« sagte er. »Oh, welche Sorgen habe ich gehabt. Noch in letzter Zeit. Es war mir, als hätte ich meine Hand nach einem Gut ausgestreckt, das ich niemals erlangen könnte.« – »Da hast du es! Ich bin ja dein.« – »Ja, mein, mein«, jubelte er, indem er sie küßte und immer wieder küßte. »Aber dein Vater?«
Da breitete sich ein beinahe mutwilliges Lächeln über ihr hübsches Gesicht, und sie fragte:
»Fürchtest du ihn?« – »Ja, beinahe!«
Da zog sie das Mündchen zu einem spaßhaften Schmollen zusammen und rief, ihn mit großen Augen betrachtend.
»Du, der berühmte Jäger? Du fürchtest den alten Pirnero?« – »Ja«, wiederholte er lächelnd. – »Nun, meinetwegen. Aber du bist nicht allein. Du findest Hilfe.« – »Bei wem?« – »Bei mir, mein Gerard! Übrigens weißt du ja, was mein Vater von dir denkt. Er ist förmlich verliebt in dich.« – »So meinst du also, daß ich mit ihm sprechen soll?« – »Ja.« – »Wann?«
Sie errötete ein wenig, doch antwortete sie mit sicherer Stimme:
»Wann du willst, mein Lieber.«
Er drückte sie abermals innig an sich und fragte im Ton der größten, glücklichsten Zärtlichkeit:
»Baldigst?« – »Ja«, antwortete sie. – »Noch heute?« – »Noch heute«, nickte sie, ihre strahlenden Augen zu ihm erhebend. – »Ich danke dir, mein Leben, meine Seligkeit! Gott, wie habe ich denn ein solches Glück verdient! Ich bin nicht wert, eins der lieben, kleinen, warmen Händchen in meiner Hand zu halten, und doch soll ich dich ganz besitzen, und du willst mein eigen sein für das ganze Leben!« – »Ja, Gerard, dein eigen für immerdar«, fügte sie hinzu. »Aber sage, wer sind die beiden, die du mitgebracht hast?«
Da zuckte ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht. Er antwortete:
»Der eine ist mein Freund, und die andere ist – meine Braut.«
Resedilla blickte verwundert zu ihm auf.
»Deine – Braut?« fragte sie. – Ja«, nickte er übermütig. – »Aber, das – das verstehe ich nicht.« – »So muß ich es dir schleunigst erklären, meine Resedilla. Dein Vater war nämlich wißbegierig, was ich nun beginnen würde, und ich antwortete: ›Heiraten!‹ Er fragte mich, wen? Da machte ich mir den Spaß, ihm zu sagen, daß diese Dame meine Braut sei.«
Resedilla lachte, rief aber dennoch:
»O wehe!« – »Warum?« – »Nun wird er außerordentlich schlechte Laune haben. Wo ist er?« – »In der Küche. Wir haben Essen bestellt« – »Das wird nicht zum besten ausfallen. Wo werdet ihr wohnen? Magst du dein Zimmer wiederhaben?« – »Das, wo ich damals vor Ermüdung eingeschlafen war?« – Ja«, lachte sie. »Wo ich untersuchte, ob der Kolben deiner Büchse von Gold sei. Ist dir dieses Zimmer recht?« – »Ich wollte dich bereits darum bitten.« – »So mögen die anderen beiden – ah, ich weiß ja noch immer nicht, wer sie sind,« – »Warte nur ein wenig, meine gute Resedilla! Ich will sehen, ob du es erraten wirst. Für jetzt genügt es, zu wissen, daß sie Mann und Frau sind.« – »So werden sie neben dir wohnen können. Die Señora wird ermüdet sein. Ich werde sie holen, um sie auf ihr Zimmer zu führen, damit sie den Staub der Reise los wird.« – »Bleib, mein Lieb! Ich werde sie selbst holen.«
26. Kapitel
Gerard ging hinab und gab durch die leise geöffnete Tür den beiden einen Wink, ihm zu folgen. Draußen aber fragte die Dame:
»Ist sie daheim, Gerard?« – Ja«, antwortete er unter einem fröhlichen Nicken. – »Hast du mit ihr gesprochen?« – »Soeben.« – »Ah, dein Gesicht hat einen so überaus glücklichen Ausdruck. Darf ich raten?« – Ja. Rate einmal, Kind!« – »Sie ist dein?«
Da holte er tief Atem und antwortete:
»Ja, sie will mein sein, sie, die Gute, die Reine, will mir angehören, dem Bösen, dem Unreinen!«
Da ergriff die Dame seine Hand und bat:
»Still, Gerard! Was du warst, das warst du ohne deine Schuld. Und damals, als du zu den von Gott scheinbar Verlassenen gehörtest, hat dich die Liebe veredelt, die du zu mir im Herzen trugst. Komm! Ich bin begierig, die kennenzulernen, der du verdankst, daß du es auf dich genommen hast, dich mit deinem Gewissen auszusöhnen.« – »Sie weiß noch nicht, wer du bist.« – »Warum?« – »Weil ich sehen will, ob sie scharfsinnig genug sein wird, es zu erraten. Kommt herauf.«
Oben hatte Resedilla die Zimmer geöffnet und erwartete die beiden.
»Willkommen, Señor! Willkommen, Señora!« sagte sie, ihnen die Hände geben. »Ich hoffe, daß Ihr fürliebnehmen werdet. Ah!«
Diesen Ausruf stieß sie aus, als sie die Dame näher betrachtete.
»Was ist‘s, meine Resedilla?« fragte Gerard. – »Ah, diese Ähnlichkeit«, antwortete sie mit allen Zeichen freudiger Überraschung. »Soll ich raten, wen du mir bringst?« – »Ja, rate.« – »Diese Señora ist deine Schwester!«
Da nickte er unter einem befriedigten Lächeln mit dem Kopf und sagte:
»Richtig! Es ist Annette, meine Schwester, liebe Resedilla.« – »Dieselbe, die Señor Sternau damals in Paris aus der Seine gerettet hat, als sie sich ins Wasser stürzte?« – »Dieselbe!« – »Willkommen, tausendmal willkommen! Welch eine Freude! Eine solche Überraschung hätte ich nicht für möglich gehalten!«
Resedilla umarmte die Französin, und diese sah und erkannte, welche Perle ihr Bruder in diesem guten, herzigen Mädchen gefunden hatte. Sie erwiderte die Umarmung auf das innigste und sagte:
»Habt Dank, Señorita, für die Liebe, die mein Bruder in Eurem Hause gefunden hat. Wir werden das Euch nie vergessen. Gott segne Euch dafür, da wir es Euch nicht vergelten können!«
Nach einiger Zeit kam Resedilla in die Küche, wo ihr Vater mit der alten Magd zwischen den Schüsseln und Tellern wirtschaftete. Als er sie erblickte, fragte er:
»Wo warst du?« – »Oben in meiner Stube«, antwortete sie. – »Gehe rasch wieder hinauf.« – »Warum?« – »Wir brauchen dich nicht« – »Ich habe doch das Essen zu bereiten.« – »Dummheit! Wir bringen das schon selbst fertig. Dieser Gerard braucht sich auf keine großen Delikatessen zu spitzen.«
Sie wußte, weshalb er sich in einer so grimmigen Stimmung befand. Sie verbarg ihr Lächeln und meinte:
»Ich denke, du hältst so große Stücke auf ihn?« – »Papperlapapp! Diese Zeiten sind vorüber.« – »Warum denn?« – »Das geht dich gar nichts an! Wo ist der Kerl?« – »In seiner Stube.« – »Der kann eigentlich bei den Vaqueros auf dem Heu schlafen. Nicht einen lumpigen Julep hat er sich geben lassen. Wo sind die beiden anderen?« – »Oben.« – »Hast du sie gesehen?« – »Natürlich!« – »Donnerwetter! Weißt du, wer das Mädchen ist?« – »Nun?« – »Seine Braut!«
Resedilla machte eine Miene des allergrößten Erstaunens.
»Seine Braut?« fragte sie. »Nein, das glaube ich nimmermehr.« – »Glaube es meinetwegen oder nicht! Er hat es mir selbst gesagt. Aber die Strafe folgt auf dem Fuß. Hier, dieses Essen soll ihm gut bekommen. Ich habe statt Butter Talg, statt Zucker Pfeffer, statt Milch Essig und anstatt des guten Fleisches eine alte Rindslunge genommen. Das steht am Feuer, bis es verbrannt ist, und dann mögen sie sich die Zähne ausbeißen und die Zungen am Pfeffer verbrennen.« – »Aber Vater! Was denkst du …« – »Still, kein Wort«, unterbrach er sie. »Wer so dumm ist heiraten zu wollen, für den ist eine verbrannte und verpfefferte Ochsenlunge noch immer eine Delikatesse, deren er gar nicht wert ist. Packe dich fort, wir brauchen dich nicht!« – »Aber das geht nicht. Ihr beide versteht ja vom Kochen und Braten nicht das allergeringste.« – »Gerade darum kochen und braten wir für dieses Volk. Teufel noch einmal! Will ich mich freuen über die Gesichter, die sie schneiden werden, wenn sie in die famose Lunge beißen. Du aber, du kannst verschwinden, wir brauchen dich nicht.«
Pirnero faßte Resedilla an und schob sie zur Tür hinaus. Sie ließ es unter heimlichen Lachen geschehen und begab sich zu dem Geliebten, um diesen vor der famosen Rindslunge zu warnen.
Dann aber setzte sie sich wieder in das Gastzimmer an ihr Fenster.
Nach einiger Zeit trat die Magd ein und begann zu decken. Pirnero beaufsichtigte dieses Geschäft und schickte sie dann hinauf, um die drei Gäste zur Tafel zu holen. Dann setzte er sich an sein Fenster, aber so, daß er den Tisch, an dem gegessen werden sollte, übersehen konnte. Er freute sich über die Gesichter, die er nach seiner Ansicht zu sehen bekommen werde.
Die drei traten ein und nahmen mit den ernstesten Mienen Platz. Pirnero sah zum ersten Male Annettes Gesicht.
»Pfui Teufel!« brummte er vor sich hin. »Sich so eine alte Grille auszulesen. Aber, hm, ja. Eine andere hätte er auch nicht bekommen.«
Gerard nahm die Gabel und spießte sie in die Lunge. Er mußte Gewalt anwenden, um die Gabel hineinzubringen.
»Sapperlot«, meinte er schmunzelnd und vor Appetit mit der Zunge schnalzend. »Welch ein saftiger und weicher Braten! Was ist denn das, Señor Pirnero?« – »Gebackene Kalbslunge«, antwortete dieser. – »Ah, mein Leibgericht.« – »Meines auch, lieber Gerard«, meinte die Dame, »aber gebackene Kalbslunge sollte eigentlich kalt gegessen werden.« – »Ja, kalt ist sie mir auch zehnmal lieber«, antwortete Gerard. »Wie wäre es, wenn wir sie uns bis zum Abend aufhöben?« – »Ich bin dabei. Aber was essen wir dann?« – »Oh, ich habe noch ein Stück am Spieß gebratene Büffellende in meinem Sattelsack. Das hole ich, und wir wärmen es. Habt Ihr noch Feuer, Señor Pirnero?« – »Nein«, antwortete dieser ganz ärgerlich, daß er um die gehoffte Genugtuung kommen sollte.
Gerard aber ließ sich nicht irremachen. Er öffnete die Küchentür, blickte hinaus und sagte:
»Dort brennt es ja noch hell und lichterloh. Ich werde das Lendenstück holen. Señorita Resedilla, werdet Ihr so gut sein und es unter Eure Aufsicht nehmen?«
Resedillas Vater warf ihr einen befehlenden Blick zu. Sie sollte die Frage verneinen; aber sie erhob sich vom Stuhl und antwortete:
»Ich kann es Euch doch wohl nicht abschlagen, Señor, obgleich es um die schöne Lunge jammerschade ist.« – »Ja«, meinte Pirnero. »Kalbslunge kalt essen. Habe das noch nie gehört, weder hier noch drüben in Pirna, wo sie doch auch wissen, was gut schmeckt.«
Aber er konnte es nicht ändern. Gerard holte seinen Braten herbei und übergab ihn Resedilla, die mit ihm in der Küche verschwand. Dann wandte er sich an Pirnero.
»Können wir einstweilen einen Julep erhalten, Señor?« – »Ja. Doch einen nur für alle drei?«
Gerard tat, als ob er die Malice, die in dieser Frage lag, gar nicht bemerke, und antwortete:
»Nein, sondern pro Person einen.« – »Ah! Die Señorita trinkt auch Julep?« – »Natürlich!« – »Hm! Das erwartet man eigentlich nur von einer Indianerin.« – »Sie hat auch lange Zeit in der Nähe von Indianern gewohnt.«
Pirnero holte die Schnäpse und setzte sich dann an sein Fenster. Es trat eine Stille ein, die niemand unterbrechen wollte. Gerard wußte, daß der Alte es nicht lange so aushalten werde; er kannte dessen Eigentümlichkeiten. Er hatte sich auch nicht verrechnet, denn nach fünf Minuten rückte Pirnero auf seinem Stuhl hin und her, und nach abermals derselben Zeit sagte er, einen Blick zum Fenster hinauswerfend:
»Schlechtes Wetter.«
Kein Mensch antwortete. Darum wiederholte er nach einer Weile:
»Miserables Wetter!«
Als es nun noch still blieb, drehte er sich halb um und rief:
»Na?« – »Was denn?« fragte Gerard lächelnd. – »Armseliges Wetter!« – »Wieso?« – »Diese Hitze!« – »Nicht so sehr schlimm!« – »Nicht? Donnerwetter! Wollt Ihr die Trockenheit noch schlimmer?« – »Ich habe sie noch viel schlimmer erlebt. Da draußen in der Llano estacado zum Beispiel.« – »Ja, aber hierher paßt sie nicht. Habt Ihr den Fluß gesehen?« – »Natürlich!« – »Fast gar kein Wasser darin. Die Fische verschmachten und die Menschen beinahe auch. Verfluchtes Land. Aber ich werde gescheit sein.« – »Wieso?« – »Ich ziehe fort.«
Dieser Entschluß kam Gerard überraschend.
»Ah! Wirklich?« fragte er. – »Ja. Es ist fest bestimmt.« – »Wohin zieht Ihr denn?« – »Hm! Wißt Ihr, woher ich bin?« – »Ja.« – »Nun?« – »Aus Pirna in Sachsen.« – »Richtig. Nun wißt Ihr ja auch, wohin ich ziehe.« – »Wie? Nach Pirna wollt Ihr?« – »Das versteht sich. Übrigens kann ich fast gar nicht anders.« – »Weshalb?« – »Weil ich gestern einen Brief bekam, aus Pirna nämlich. Könnt Ihr Euch etwa denken, von wem?« – »Ich habe keine Ahnung.« – »Ja, zu so einer Ahnung seid Ihr auch der richtige Kerl gar nicht, dazu fehlt es Euch an den nötigen Begriffen. Wißt Ihr vielleicht, was man unter einem Schulfreund versteht?« – »Das wenigstens weiß ich, trotzdem ich keine Begriffe habe«, antwortete Gerard lachend. – »Nun, so einen Schulfreund habe ich, der hat es so nach und nach bis zum geheimen Stadtgerichtsamtswachtmeistersobersubstituten gebracht. Wißt Ihr, was das ist?« – »Ich ahne es.« – »Ja, so etwas könnt Ihr nur ahnen. Dieser Obersubstitut hat einen Sohn, der erst bei der Eisenbahn, dann bei der Marine und endlich bei der Oberstaatsanwaltschaft gedient hat. Nun ist er wirklicher geheimer Oberlandessporteleinzahlungskassenrevidierungsfeldwebel; und dieser wirkliche Geheime hat in dem Brief um die Hand meiner Resedilla angehalten.« – »Alle Teufel! Kennt er sie denn?« – »Dumme Frage. So vornehme Leute heiraten stets nur aus der Entfernung.« – »Habt Ihr bereits geantwortet?« – »Ja.« – »Was?« – »Ich habe mein Jawort gegeben und meinen Segen erteilt.« – »Das ist sehr schnell gegangen.« – »Warum nicht? Dieser Schwiegersohn stammt aus einer der feinsten Familien des Landes. Er ist ein wirklicher Geheimer. Wen aber hätte Resedilla hier bekommen? Höchstens einen armen Teufel von Trapper oder Jäger, dem es lieb gewesen wäre, sich bei mir satt zu essen.« – »Vielleicht habt Ihr recht. Ich gratuliere.« – »Danke«, meinte der Alte unter einem höchst gnädigen und herablassenden Kopfnicken. – »Aber«, fuhr Gerard fort, »wenn Ihr hier fort wollt, was fangt Ihr da mit Eurem Eigentum an?« – »Ich verkaufe!« – »Hm! Das wird schwer werden.« – »Unsinn! So ein Geschäft, wie das meinige, findet seinen Mann. Und die paar Meiereien, die mir gehören, werde ich auch bald los.« – »So habt Ihr wohl schon einen Käufer?« – »Ja.«
Das war eine Unwahrheit, aber in seinem Grimm lag es dem Alten nur daran, Gerard recht zu ärgern. Dieser machte die unschuldigste Miene von der Welt und sagte:
»Das ist schade, sehr schade.« – »Wieso?« – »Weil ich gekommen bin, um Euch zu fragen, ob Ihr nicht Lust habt, zu verkaufen.«
Da drehte Pirnero sich mit einem Ruck zu ihm herum und fragte:
»Ihr? Ihr selbst?« – »Ja.« – »Ihr wolltet mich fragen, ob ich Lust habe, zu verkaufen?« – »Ja, ich.« – »Wie kommt denn Ihr zu einer solchen Frage?« – »Weil ich einen Käufer weiß, dem Euer Geschäft und Eure Meiereien sehr gut passen würden.«
Pirnero war nur in seinem Grimm auf den Gedanken gekommen, zu verkaufen und fortzuziehen. Nun er aber von dem Jäger diese Worte hörte, war es ihm zumute, als ob er diesen Entschluß bereits längst und unwiderruflich gefaßt gehabt hätte.
»So?« fragte er. »Wer ist es denn?« – »Das zu erfahren, kann Euch doch nun nichts mehr nützen.« – »So? Warum denn?« – »Weil Ihr bereits einen Käufer habt.« – »Das ist noch lange kein Grund, mir die Auskunft zu verweigern. Hat man zwei Käufer anstatt nur einen, so kann man sich den auswählen, der am meisten bietet. Also, wer ist es?« – »Ich selbst.« – »Ihr selbst?« fragte Pirnero, indem er vor Staunen den Mund weit öffnete. – »Ja, ich selbst«, antwortete Gerard sehr ruhig. – »Sakkerment! Macht keine dummen Witze mit mir.« – »Pah! Ich rede sehr im Ernst.« – »So seid Ihr unsinnig.« – »Wieso?« – »Wie wollt Ihr der Käufer sein? Ihr könntet mir das Zeug doch gar nicht bezahlen.« – »Wißt Ihr das so genau?« – »Sehr genau. Der Kolben Eurer Büchse ist zwar von Gold, auch ist es möglich, daß Ihr wißt, wo noch einige Nuggets liegen, und Ihr habt ja wohl einige Säcke Blei bei Euch, aber das alles ist doch noch nichts gegen die Summe, die ich verlangen würde.« – »Hm. Vielleicht könnte ich sie doch bezahlen.« – »Versucht es einmal«, höhnte der Alte. – »Wieviel verlangt Ihr?« – »Hundertsechzigtausend Dollar. Zahlt Ihr die, so bekommt Ihr alles, wie es steht und liegt.« – »Auch das Inventar?« – »Ja.« – »Und die Vorräte im Magazin?« – »Ja.«
Gerard wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.
»Hm«, sagte er. »Das wäre allerdings nicht übel! Aber leider habe ich diese Summe nicht.« – »Dachte es mir schon! Wieviel bringt Ihr denn zusammen?« – »Zwölftausend Dollar.« – »Das ist nichts, das zählt gar nichts. Soviel haben nur arme Leute. Da ist mein wirklicher Geheimer ein anderer Kerl. Aber sagt mir doch einmal, was Ihr mit meinem Zeug anfangen wolltet, vorausgesetzt nämlich, daß Ihr es bezahlen könntet!« – »Ich würde es verschenken.« – »Verschenken?« fragte Pirnero. »Seid Ihr verrückt?« – »Vielleicht.« – »Nicht vielleicht, sondern wirklich! Wer ein solches Vermögen verschenkt, der ist in Wirklichkeit verrückt. An wen würdet Ihr es denn verschenken?« – »An den Señor da drüben.« – »An den? Wer ist er denn?« – »Mein Schwager.« – »Euer Schwager? Ah, ich verstehe! Der Bruder von Eurer Braut. Na, es ist schon dafür gesorgt, daß der Ziege der Schwanz nicht zu lang wächst. Mit dem Verschenken wird es nichts. Mit dem Verkaufen auch nicht, selbst, wenn Ihr noch einige hundert Dollar für das Blei bekommt, das ich Euch abkaufen werde.« – »Leider, leider! Aber sagt, wie bezahlt Ihr das Blei?« – »Je nach der Güte.« – »Da möchte ich doch einmal erfahren, was Ihr für das meinige bietet.« – »Laßt es sehen!«
Ohne ein Wort zu sagen, entfernte sich Gerard und brachte einen der Ledersäcke herein, die von den Dienern abgeladen worden waren. Dieser mußte sehr schwer sein, wie es schien.
»Warum hier?« fragte Pirnero. »Das machen wir ja drüben im Laden ab.« – »Hier oder drüben, das bleibt sich gleich«, antwortete der Jäger. »Ihr werdet das Blei doch nicht kaufen.«
Dabei legte er den Sack vor Pirnero hin.
»Warum nicht kaufen?« fragte dieser. – »Weil Ihr es nicht bezahlen könnt.«
Da lachte der Alte laut auf.
»Ich, und dieses Blei nicht bezahlen!« sagte er. »Ich sage Euch, daß ich es augenblicklich bezahlen könnte, selbst wenn Ihr zehn solche Säcke brächtet! Soviel Geld hat der alte Pirnero immer!« – »Wollen sehen! Macht einmal auf!«
Gerard zog sein Messer und reichte es Pirnero hin. Dieser fragte:
»Darf ich das Siegel wegmachen?« – »Ja.« – »Und das Leder aufschneiden?« – »Natürlich. Ihr müßt ja das Blei sehen.«
Dabei stellte Gerard den Sack aufrecht vor Pirnero hin. Dieser kratzte das Siegel mit dem Messer weg, machte einen Querschnitt und zog das Leder weg. Es gab nun eine zweite und dritte Lage ungegerbten Leders, die Pirnero beseitigte. Dann bückte er sich nieder, um das Metall zu besichtigen, fuhr aber sofort wieder zurück.
»Heiliges Pech! Ist‘s möglich?« rief er aus.
Seine Augen waren weit geöffnet und starrten mit einem Ausdruck unbeschreiblichen Erstaunens auf Gerard.‘
»Was denn?« fragte dieser.
Pirnero bückte sich abermals nieder, um den Inhalt des Sackes genauer zu besichtigen.
»Das nennt Ihr Blei?« rief er, – »Haltet Ihr es denn für etwas anderes?«
Da fuhr der Alte mit beiden Händen in den Sack, wühlte darin herum und antwortete:
»Blei, sagt Ihr? Das ist ja Gold, reines, gediegenes Gold! Nuggets von der Größe einer Haselnuß!« – »Alle Teufel!« lachte Gerard. »Was habe ich da gemacht! Da habe ich mich wahrhaftig vergriffen und meine Nuggets eingepackt anstatt des Bleies!«
Pirnero war ganz starr. Er hielt die beiden mit Nuggets gefüllten Hände gerade vor sich hin und starrte wie abwesend auf das Gold. Resedilla hatte sich in der Küche kein Wort des Gespräches entgehen lassen. Sie war jetzt hereingekommen und stand ebenso erstaunt da wie ihr Vater.
»Euch vergriffen!« rief dieser endlich. »Um Gottes willen! Wie schwer ist denn dieser Sack?« – »Sechzig Pfund«, antwortete der Jäger. – »Und jedes Maultier schleppte zwei solche Säcke?« – »Ja.« – »Und wem gehört das alles?« – »Mir.« – »Euch? Euch allein? Mensch, so seid Ihr ja steinreich!« – »Möglich.« – »Reicher, zehnmal reicher, als ich es bin!« – »Sehr wahrscheinlich.« – »Aber sagt, woher habt Ihr denn dieses Gold?« – »Aus den Bergen. Übrigens liegt noch mehr da oben.« – »Noch mehr? Und Ihr wißt, wo es zu finden ist?« – »Ja.« – »Mensch! Kerl! Gerard! Señor! Und das sagt Ihr mit einer solchen Seelenruhe, als ob es sich um einen Pappenstiel handele!« – »Pah! Das Gold macht nicht glücklich. Ich habe mir ein wenig geholt, weil ich es brauche, um mich zu verheiraten, wie ich Euch bereits sagte.« – »Leider, leider. Aber, Señor, nehmt es mir nicht übel. Ihr spielt da den schlimmsten Streich Eures Lebens!« – »Inwiefern?«
Ohne überhaupt zu beachten, daß die Dame zugegen war, ließ Pirnero in seinem Paroxismus sich fortreißen, zu antworten:
»Ihr hättet noch eine ganz andere Frau gekriegt!« – »So? Meint Ihr? Was denn für eine?« – »Nun, eine, die Euch wenigstens einen tüchtigen Schwiegervater mitbringen würde.« – »Das ist allerdings etwas wert«, lachte Gerard. »Zuerst war es freilich meine Absicht, mir ein Mädchen zu suchen, das mir einen Schwiegervater mitbringen werde, aber …« – »Was, aber? Habt Ihr etwa keine solche gefunden?« – »O ja doch! Aber ich kam zu spät.« – »Wieso zu spät?« – »Ihr Vater hatte sie einem anderen versprochen.« – »Kannte er Euch denn nicht?« – »Oh, sehr gut.« – »Dann ist er ein ganz ungeheurer Dummkopf gewesen!« – »Wohl nicht.« – »O doch! Wer Euch kennt, der weiß, was Ihr wert seid.« – »Soviel war ich doch nicht wert, wie der andere, der das Mädchen bekommen soll.« – »Ah! Wirklich? War der andere denn ein gar so großes Tier?« – »Ein sehr großes«, antwortete Gerard ernsthaft. – »Nun, was war er denn da?« – »Er ist wirklicher geheimer Oberlandessporteleinzahlungskassenrevidierungsfeldwebel.«
Pirnero wich zurück, blickte den Jäger eine Weile an und fragte:
»Wie meint Ihr das? Was wollt Ihr damit sagen?« – »Was der andere ist, wollte ich sagen.« – »Donnerwetter! Das sind ja meine eigenen Worte!« – »Freilich.« – »Ihr meint den Pirn‘schen da drüben?« – »Ja.«
Da fixierte der Alte die Anwesenden alle, einen nach dem anderen und rief:
»Señor Gerard, wollt Ihr mich etwa konfus machen?« – »Nein, sondern Ihr habt mich ganz konfus gemacht!« antwortete dieser höchst ernsthaft. – »Euch? Womit?« – »Mit Eurem wirklichen Geheimen.« – »Wie kann ich Euch mit dem konfus machen? Hattet Ihr denn ein Auge auf die Resedilla geworfen?« – »Ja, alle beide sogar!«
Da brauste der Alte zornig auf.
»Und dort steht Eure Braut!« – »O nein, Señor.« – »Nicht? Ihr sagtet es doch!« – »Ich machte nur Scherz. Diese Señora ist meine Schwester und die Frau meines Schwagers, der da neben ihr steht.«
Da machte Pirnero ein Gesicht, als ob er Scheidewasser verschluckt habe.
»Also Scherz?« fragte er. »Sakkerment, was sind mir das für Sachen! Dadurch kann ein braver Kerl nur in die gewaltigste Klemme geraten! Übrigens mag Euch die Resedilla ja gar nicht!« – »Wißt Ihr das so genau?« fragte Gerard. – »Ja. Sie reißt ja vor Euch aus!« – »Das tut nichts. Ich bin ihr nachgelaufen.« – »Ah! Wirklich?« – »Ja, und habe sie gefragt, ob sie aus Haß oder aus Liebe vor mir ausgerissen ist« – »Dummheit! Aus Liebe reißt keine aus.« – »Es ist aber doch so gewesen. Resedilla hat mir gesagt daß sie mich lieb hat und daß sie bereit ist, meine Frau zu werden.«
Da drehte der Alte sich nach seiner Tochter um.
»Ist das wahr?« fragte er. – »Ja, lieber Vater«, antwortete die Gefragte, zwar errötend, aber doch ohne Furcht und Scheu.
Da schlug Pirnero die eine Hand auf die andere und rief:
»Nun hört mir aber doch alles und verschiedenes auf! Reißt vor ihm aus und will ihn dennoch heiraten! Also Ihr seid Euch gut?«
Sein Gesicht war plötzlich ein ganz anderes geworden; es glänzte förmlich vor Befriedigung und Freude.
»Ja«, antworteten beide. – »Na, da nehmt Euch denn in Gottes Namen!«
Pirnero wollte ihr Hände ergreifen, aber Gerard wehrte ab und sagte:
»Ich danke, Señor! Damit ist es nichts!« – »Nichts? Alle Wetter! Warum denn?« – »Ihr müßt ja Eurem wirklichen Geheimen Wort halten!« – »Unsinn! Der lebt ja nicht!« – »Wie? Was? Er lebt ja drüben in Pirna!« – »Nein. Den gibt es gar nicht.« – »Aber Ihr sagtet es doch!«
Pirnero befand sich in Verlegenheit, da kam ihm ein Gedanke, den er sofort zur Ausführung brachte.
»Ja, gesagt habe ich es«, meinte er, »aber nur, um Euch zu bestrafen, Señor Gerard.« – »Das begreife ich nicht.« – »Und doch ist es so einfach. Haltet Ihr mich etwa für so dumm, daß ich Euch nicht durchschaue? Ich habe längst gewußt, wie es mit Euch und Resedilla steht, ich habe nicht geglaubt, daß diese Señora Eure Schwester sei; aber weil Ihr mir das weismachen wolltet, habe ich zur Strafe das Märchen von dem wirklichen Geheimen erfunden.«
Niemand glaubte ihm; aber sie ließen sich das nicht merken, und Gerard fragte:
»Also, Señor, so sagt mir allen Ernstes, ob ich Euch als Schwiegersohn recht und willkommen bin!«
Da streckte ihm der Alte beide Hände entgegen und rief:
»Na und ob! Junge, willst du das Mädchen wirklich haben?« – »Von ganzem Herzen!« – »Und, Mädel, bist du in den Kerl so verliebt, daß du ihn heiraten willst?« – »Ja«, lachte Resedilla unter Tränen. – »So kommt an mein Herz, Kinder! Endlich, endlich habe ich einen Schwiegersohn! Und was für einen!«
Er drückte beide fest an sich und schob sie dann einander in die Arme, indem er sagte:
»Da, umarmt Euch und gebt Euch einen Kuß, damit ich sehe, ob es wahr ist, was ich beinahe nicht glauben kann!«
Sie küßten sich, und nun faßte er sie bei den Köpfen und rief:
»Wahrhaftig, sie küssen sich! Na, da gibt es keinen Zweifel mehr. Kommt her, Kinder! Auch von mir soll jedes einen Schmatz haben, der Gerard, die Resedilla, der Schwager und auch die Schwester!« – »Nicht auch die Köchin von wegen der gebackenen Lunge?« fragte Gerard lachend. – »Kinder, laßt das gut sein! Die Lunge war ein Braten vor Ärger. Ihr sollt etwas anderes bekommen.«
Er nahm die vier Anwesenden beim Kopf. Er fühlte sich so glücklich wie noch nie, ja, er vergaß sogar in seiner Freude das Gold, bis er fast über den Sack gestürzt wäre.
»Ah, die Nuggets«, sagte er da. »Was geschieht mit denen?« – »Mit ihnen werde ich bezahlen«, antwortete Gerard. – »Was denn?« – »Ah, hast du denn unseren Handel vergessen, lieber Vater?«
Pirnero machte einen Luftsprung und rief:
»Lieber Vater, sagt der Kerl, und du nennt er mich! Himmelbataillon, da könnte man vor Freude gleich den Mond vom Himmel reißen. Ja, sobald man einen Schwiegersohn hat, ist man ein ganz anderer Kerl! Aber unser Handel? Hm, das ist nun so ein Ding. Soll ich denn wirklich verkaufen?« – »Ich denke, du bist dazu entschlossen«, meinte Gerard. – »Ich tat allerdings so. Es war vor Grimm und Wut.« – »Schade.« – »Wieso schade?« – »Ich hätte die Geschichte gekauft und meiner Schwester geschenkt.« – »Mensch, das wäre toll!« – »Nein. Mein Schwager und meine Schwester sehnen sich nach einem Platz, wo sie ruhig und sicher wohnen können. Beide sind arm, ich aber habe mehr als genug. Da dachte ich, wir und der Vater könnten ihnen das Geschäft und die Meiereien ablassen, und dann zögen wir an einen anderen Ort?« – »Hm«, meinte Pirnero. »Nicht übel. Aber an welchen Ort?« – »Das würde sich finden. Nach Mexiko, nach New York, nach London, nach Paris, nach Dresden …« – »Oder nach Pirna!« unterbrach ihn der Alte fast jauchzend. »Himmelsapperlot, Kinder, glaubt ihr denn, daß ich jemals so einen Gedanken gehabt habe?« – »Welchen?« fragte Resedilla. – »Meine Vaterstadt zu besuchen. Man hält es nicht für möglich, aber ich habe niemals daran gedacht. Jetzt werde ich auf einmal gescheit! Holla, hurra! Was werden sie in Pirna sagen, wenn ich komme! Aber, ah, da habe ich einen Gedanken!«
Er machte plötzlich ein so nachdenkliches Gesicht, daß Gerard sich erkundigte:
»Was für ein Gedanke ist es?« – »Hm. Als was soll ich denn eigentlich nach Pirna gehen?« – »Du bist ja Kaufmann hier, lieber Vater.« – »Kaufmann? Das ist jeder, das zieht noch lange nicht«, meinte der Alte verächtlich. – »Haziendero?« – »Sie wissen da drüben gar nicht, was das ist.« – »Plantagenbesitzer?« – »Auch nichts. Ah, ich wüßte etwas!« – »Was?« – »Es war doch hier bei Fort Guadeloupe eine Schlacht!« – »Allerdings.« – »Ich habe auch mit gekämpft.« – »Hm!« machte Gerard. – »Und zwar sehr tapfer.« – »Hm!« – »Wenn ich recht nachsuche, finde ich vielleicht sogar ein paar Wunden und Schrammen, die ich davongetragen habe.« – »Hm!« – »Ich suche also Juarez auf und – und – und …«
Pirnero stockte. Resedilla fragte:
»Was willst du bei ihm?« – »Nun, Juarez ist Präsident, er kann Stellen und Chargen vergeben, ganz nach Belieben.« – »Du möchtest wohl eine?« – »Freilich!« – »Was für eine?« – »Hm, er könnte mich zum Leutnant machen!« – »Du machst wohl Spaß, Vater?« – »Spaß? Ja, Leutnant in meinen Jahren, das klingt allerdings sehr spaßhaft; es ist also besser, ich werde Hauptmann oder Major, am allerbesten aber Oberst. Donnerwetter! Was würden sie in Pirna für Augen machen, wenn da plötzlich ein echter mexikanischer Oberst aus der Kutsche stiege und den Leuten erzählte, daß er vor fünfzig Jahren beim alten Schneidermeister Wehrenpfennig in die Schule gegangen ist. Ich kriegte ein Denkmal gesetzt und eine Tafel über die Tür meines Geburtshauses. Kinder, ich mache zu Juarez. Ich verkaufe alles, Sack und Band, und werde Oberst. Juarez hat mir so viel zu verdanken, daß er mir ein solches Gesuch gar nicht abschlagen kann.«