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Bertha von Suttner
EVA SIEBECK
I
»Sie kommen schon – sie kommen schon,« rief die alte Gräfin und trat von dem Balkon, wo sie wartend ausgeschaut, in das Zimmer zurück.
Ralph legte eine Zeitung, in der er gelesen, aus der Hand:
»So wollen wir ihnen entgegengehen und sie am Fuße der Treppe empfangen. Hier ist mein Arm, Mutter«.
Eine Minute später standen die Beiden unter der Einfahrt, wo schon mehrere andere Hausgenossen – Familienglieder und Dienerschaft – der Ankommenden harrten. Noch eine Minute, und der Wagen, der die Erwarteten brachte, hielt vor dem Schloßthor an. Ein zweiter Wagen hinterdrein.
Leichtfüßig, ohne die Stütze der herbeigeeilten Diener zu benutzen, sprangen die Insassen des ersten Wagens – Heimkehrende von der Hochzeitsreise – über das Trittbrett herab. Aus dem zweiten, mit Koffern, Taschen und Schachteln beladenen Gefährt stiegen Kammerdiener und Kammerjungfer des jungen Paares aus.
Nun folgten die üblichen Begrüßungen, Umarmungen und Anordnungen: – »Willkommen! – Grüß Gott – Du siehst aber vortrefflich aus! – Das Gepäck hierher« – und dergleichen. – Der Gräfin-Mutter küßte die junge Frau die Hand, doch als sie des nebenstehenden Herrn ansichtig wurde, der ihr die Arme öffnete, blickte sie unschlüssig und fragend zu der alten Frau auf.
»Ah so,« lächelte diese, »Dich kennt sie ja nicht, Ralph … Küsse ihn nur, mein Kind. Es ist Dein Schwiegervater.«
Graf Ralph von Siebeck, der Schloßherr, sah allerdings nicht so aus, wie man gewohnt ist, die Gattung »Schwiegervater« sich vorzustellen. Dreiundvierzig Jahre alt, aber bedeutend jünger erscheinend, von hoher, schlanker Gestalt, mit dichtem, schwarzem Kraushaar, ebensolchem, spitz gestutztem Vollbart, mit feurigen Augen und weißschimmernden Zähnen – machte er durchaus nicht den Eindruck einer Respektsperson. Auch er betrachtete die neu eingeführte Schwiegertochter mit überraschtem Wohlgefallen.
»Du bist hundertmal hübscher als Deine Photographie, kleines Weib. Mein Sohn hat Geschmack – das muß man ihm lassen. Wäre ich zu seinem Glück nicht gerade in Indien gewesen, als er um Dich geworben, so hätte ich mich wahrscheinlich selber in Dich verliebt.«
»Aber jetzt, Kinder,« sagte die Großmutter, »geht in Eure Zimmer, Euch auszuruhen und den Reisestaub abschütteln. In einer halben Stunde wird die Frühstücksglocke läuten … Robert, führe Deine Frau – Du weißt ja: ich habe Deine ehemalige Wohnung für Euch herrichten lassen.«
»Also komm – daher – mir nach,« sagte der junge Gatte mit gedehntem, etwas näselndem Stimmlaut. Dann, ungeduldig: »Eva – so komm doch – laß mich nicht warten.«
Die für das junge Paar bestimmte Wohnung – dieselbe, welche Robert in seiner Knabenzeit mit seinem Hofmeister innegehabt – lag im Erdgeschoß, mit der Aussicht nach dem Park. Das erste Zimmer – früher die Studirstube – war zu einem Damensalon umgewandelt worden. Nebenan ein großes gemeinschaftliches Schlafzimmer und zuletzt ein für Robert bestimmtes Arbeitskabinet. Eine zweite Thür des Schlafzimmers führte nach einer Ankleidekammer.
Als die Angekommenen eintraten, war die Kammerjungfer schon beschäftigt, den Putztisch in Ordnung zu bringen. Jetzt nahm sie der Herrin Hut und Reisemantel ab.
»Befehlen Frau Gräfin etwas? Wollen Toilette wechseln?«
»Später – ich werde rufen.«
»So werde ich einstweilen den großen Koffer auspacken.«
Robert schaute sich in den Zimmern um:
»Da sind alle meine Sachen hinausgeworfen worden,« sagte er mit seiner eigenthümlichen, schleppenden Betonung. »Möchte wissen, was mit meiner Schmetterlingsammlung geschehen ist? … Liegt mir übrigens nicht viel daran, an dem Plunder – Hab‘ jetzt andere Passionen … Du, Eva, wie gefällt Dir denn der Papa?«
»O sehr gut, sehr gut —«
»Na warte nur, bis Du ihn kennen lernst… wirst schon sehen… ein sonderbarer Kauz… hat so seine Ideen – ich vertrag‘ mich zwar nicht zum Besten mit ihm … Das wird hier überhaupt ein fades Leben werden – jetzt im Juni, wo die Schonzeit ist… Was soll man denn den ganzen Tag machen?«
»Ich dachte. Deine Landwirtschaftsstudien – —
»Bitt‘ Dich, hör mir auf – damit wird man sich doch nicht mehr als ein oder zwei Stunden täglich plagen sollen? .. Du – ich geh jetzt ein bissel nachschauen im Stall… Mach‘, daß Du fertig bist in einer halben Stund‘… Man hätt‘ auch früher gabelfrühstücken können – ich hab‘ schon einen kannibalischen Hunger. Beeil Dich – wenn die Glocke läutet, werd‘ ich Dich abholen.«
Und er ging zur Thür hinaus.
Eva, die sich vorhin in einen an dem offenen Fenster stehenden Lehnstuhl geworfen, blieb regungslos. Ihre Augen waren auf den Park gerichtet, der von Sonnenschein übergossen in vollster Frühlingspracht prangte; Akazien– und Heuduft wehten von draußen herein und das Zimmer selber hatte den frischen ländlichen Geruch, welcher in lang unbewohnt gewesenen Schloßräumen zu herrschen pflegt. Ein schöner großer Pfau mit blauschimmerndem Halse und lang nachschleppendem Schwanze stolzirte auf dem Rasenplatz, und zwei junge Windhunde tummelten und balgten sich auf den Kieswegen. Mit zerstreutem Blick – ihre Gedanken waren wohl anderswo – nahm Eva dieses Bild in sich auf. Jetzt trat die Gestalt ihres Gatten – der Weg nach dem Stalle mußte hier vorbeiführen – in ihren Gesichtskreis, und ebenso zerstreut blickte sie auch diesem nach. Sein Gang hatte eigentlich denselben Charakter wie seine Sprechweise: nachlässig, schleppend, mit einem Anfluge von Derbheit. War das so kavaliermäßige » nonchalance« oder war es ein Erbstück bäuerlicher Ungeschlachtheit? Roberts Mutter war nämlich eine Dorfschöne gewesen. Graf Ralph, als er zwanzig Jahre zählte, hatte sich in die Tochter des Wirths verliebt und dieselbe, zum Entsetzen aller hochgeborenen Verwandten, zur Gräfin Siebeck gemacht. Die junge Frau war aber bei der Geburt des Sohnes gestorben. So viel hatte Eva von der Jugendgeschichte ihres Schwiegervaters erfahren. Der Umstand, daß Robert der Sproß einer solchen Mißheirath war, machte, daß er in der Wiener großen Welt nicht als ganz ebenbürtig aufgenommen wurde. Auch in seinen Gesichtszügen lag etwas – ein unbestimmtes Etwas —, das auf niedere Abkunft deutete; mit seinem Vater, der den Typus vornehmster Verfeinerung darstellte, besaß er nicht die geringste Aehnlichkeit.
Noch eine Zeit lang saß Eva bewegungslos da; dann, als wolle sie einen lästigen Gedanken verscheuchen, schüttelte sie heftig den Kopf und sprang auf:
»Alles so neu, so neu, so fremd, so unwirtlich …« sagte sie halblaut. Die äußere Thür wurde ein Geringes geöffnet:
»Darf man?« fragte eine frische Mädchenstimme durch die Spalte. Doch ohne die verlangte Erlaubniß abzuwarten, trat jetzt die Fragerin herein.
»Ach, Du bist‘s, Irene? Hat schon die Frühstücksglocke … und ich habe noch gar nicht Toilette gewechselt…«
»Ist nicht nöthig – Du bist ja wunderschön so. Ich bin nur gekommen, um Dich nochmals zu begrüßen – da, unter der Einfahrt warst Du zu sehr von den Andern in Anspruch genommen … Daß ich Dich allein finden würde, wußte ich, denn ich habe Robert hinausgehen gesehen. Also, wie geht es Dir eigentlich, Schatz? Du siehst etwas angegriffen aus, scheint mir – nicht ganz so rosig wie vor Deiner Abreise. Macht Dich der Vetter glücklich? – Hast Du Dich in Italien gut befunden? Und wie gefällt es Dir hier in Großstetten?«
»Das sind viele Fragen auf einmal, liebe Iri, Du findest also, daß ich schlecht aussehe? Du hingegen bist bedeutend frischer und blühender geworden. Vor drei Monaten, als Du meine Brautjungfer warst, schienst Du mir viel blasser.«
»Ja, das war der eben durchgemachte Winterfeldzug. Glaubst Du, es sei eine Kleinigkeit, neunzehn Bälle durchgetanzt, vier Körbe ausgetheilt und für ein halb Dutzend verschiedener Kotillon-Tänzer unglücklich geschwärmt zu haben? Hier in der ländlichen Stille werden die Wangen wieder roth und das Herz – wieder ganz. Unter Anderm: was sagst Du zu Onkel Ralph? Den hast Du ja früher noch gar nicht gekannt.«
»Ich kenne ihn noch immer nicht – die eine flüchtige Minute —«
»Ein Prachtmensch, sag‘ ich Dir. Ich schwärme für ihn —«
»Du scheinst zum Schwärmen recht beanlagt: zuerst die sechs Kotillontänzer und jetzt der eigene Onkel – —«
»Uh, das ist eine andere Gattung. Es giebt da große Abstufungen … auch die Tänzer waren in meinem Herzen meilenweit von einander entfernt; den Einen zum Beispiel habe ich nur fünf Minuten lang geliebt, während eines gewissen Nach-Souper-Galopps; und einen Andern auf – ewig. Sag‘ mir aufrichtig, Eva, ist das Verheirathetsein nicht sehr – ich weiß nicht, wie ich sagen soll – nicht sehr… Ah, die Glocke… und da ist auch schon Robert, Für den, verzeih mir, hab ich nie geschwärmt. Hörst Du, Robert,« fügte sie hinzu, als dieser in der Thür erschien, »ich sage gerade Deiner Frau, daß Du mir immer ein schlechter Cousin gewesen bist. Erinnerst Du Dich, wie Du mich einmal – es sind nun zehn Jahre her – tüchtig durchgehauen?«
»So? Nein – das habe ich vergessen. Es ist schon geläutet worden – und Du bist nicht bereit, Eva? Hab ich Dir nicht gesagt, daß Du Dich rechtzeitig fertig machen sollst? Immer diese Bandlerei – – Ich gehe voraus – die Iri kann Dich hinaufführen.« Damit schloß er die Thür wieder hinter sich zu.
Irene schüttelte langsam den Kopf.
»So habe ich mir die Gattung Turteltäuberich bisher nicht vorgestellt.« sagte sie. »Kommst Du, Eva?«
Eva war in das Nebenzimmer an den Toilettentisch getreten. »Gleich, gleich – nur noch diese Haarnadel…«
Das Bild, das ihr der Spiegel zurückwarf, das war – die junge Frau mußte es sich selber sagen – ein tadellos schönes. Reiches, goldblondes Haar – an welchem die blendend weißen Händchen eben nestelten —; zarte Gesichtsfarbe, große, von dichten aufgebogenen Wimpern umschattete Augen, kirschrothe Lippen, eine schlanke und doch in harmonischer Fülle gerundete Gestalt! – »Ja. Hübschsein ist schon angenehm,« flog es durch ihren Sinn – »aber ich habe mir den Eindruck, den dies auf den eigenen Gatten hervorbringen sollte, auch anders vorgestellt… Je nun – so ist das Leben… Ich bin fertig, Iri.«
Arm in Arm gingen die Beiden durch die Einfahrtshalle und dann die breite Haupttreppe hinauf. Eva blickte mit neugierigem Interesse um sich. Dieses Schloß sollte ja vorläufig ihr Heim sein und einst, in später Zukunft, ihr Eigenthum und noch später Eigenthum ihres Sohnes – wenn ihr der Himmel einen solchen schenkte. »So neu – Alles so neu,« mußte sie wieder denken, – die ganze Umgebung, ihr ganzes Schicksal.
»Du fragtest mich vorhin,« unterbrach sie ihr Sinnen laut, indem sie auf einem Treppenabsatz stehen blieb. »Du fragtest mich, ob das Verheirathetsein nicht sehr sonderbar ist? Ja, das ist es … Wenn ich denke: vor sechs Monaten wußte ich noch gar nicht, daß es ein Großstetten giebt, und heute bin ich hier – zu Hause. Du mußt mir Nachmittags das ganze Schloß zeigen und den Park – der scheint wunderschön zu sein – von diesem Stiegenfenster aus sieht man ja einen Teich – und im Hintergrund die bewaldeten Berge… es ist herrlich!«
»O ja – es ist recht hübsch hier. Aber daran gewöhnt man sich. Mir kommt es etwas langweilig vor . . Ich gäb‘ was drum, wenn mich die Großmama nach Karlsbad oder Ostende oder Dieppe führen wollte – aber da hat es keine Gefahr.«
Ein eben vorbeigehender Diener öffnete den jungen Damen eine Thür, und nachdem sie einen großen und einen kleinern Empfangssaal durchschritten, traten sie in das Speisezimmer, wo schon mehrere Personen um die gedeckte Tafel saßen. Der Raum war etwas dunkel, da vor den Fenstern die Rollvorhänge herabgelassen waren, um die Strahlen der heißen Mittagssonne auszuschließen. Bei ihrem Eintritt konnte Eva, welche aus der Helle kam, die anwesenden Personen nicht deutlich wahrnehmen, nur das Silber– und Krystallgefunkel auf dem Tisch fiel ihr in die Augen.
»Hierher, Eva, hierher!«
Es war Graf Ralph, welcher ihr entgegenkam und sie an der Hand zum oberen Ende des Tisches führte, wo seine Mutter bereits Platz genommen. Er rückte ihr den Sessel zurecht: »Hier neben die Mama – und ich setze mich an Deine andere Seite.«
Robert saß am untern Ende des Tisches zwischen zwei Jünglingen von vierzehn bis siebzehn Jahren. Außerdem waren noch anwesend: ein junger Mann mit einem blassen bartlosen Gesicht – der Hofmeister —, ein älterer, jovial aussehender, rundlicher Herr und eine sehr magere, grauhaarige Dame.
»Hast Du Dich schon ein wenig im Hause umgesehen?« fragte die alte Gräfin freundlich, und ohne die Antwort abzuwarten: »Nimmst Du Thee?« Seitwärts von ihr stand ein Tischchen mit Samowar und Schalen.
»Wenn ich bitten darf, Großmama …«
Eva schaute zu der alten Dame auf. Sie kannte sie wohl schon von früher: zwei oder drei offizielle Besuche waren vor der Hochzeit abgestattet worden, und auch der Trauung hatte die Gräfin beigewohnt. Aber jetzt erst war in Eva der Gedanke aufgestiegen: – »Ach könnte ich in Dir eine Mutter finden!« Wie freundlich diese blauen Augen leuchteten – wie ehrwürdig und hübsch zugleich diese hochgesteckten Silberhaare unter der schwarzen Spitzenhaube, wie vertrauenerweckend das ganze, zwar welke, aber so vornehm zarte Gesicht…
Dann wandte sie ihren Blick auf ihren andern Nachbar, der ihr eben eine Schüssel hinhielt. »Und dieser – wird er mir wohl ein Vater sein?« Aber zu diesem Gedanken mußte sie selber lächeln, und unwillkürlich machte sie eine verneinende Kopfbewegung.
»Du willst nicht?« Und er wollte die Schüssel wieder fortstellen.
»Doch, doch, ich bitte —«
»Warum hast Du denn so abweisend den hübschen Kopf geschüttelt?«
»Das war eine Antwort auf eine mir selber vorgelegte Frage.«
»Wie wäre es, wenn Du jetzt lieber frühstücktest, statt Selbstgespräche zu führen? Das wird stärkender sein.«
»Eva ist ganz entzückt von Großstetten,« nahm jetzt Irene das Wort, »obwohl sie davon noch nichts gesehen hat als das vom Stiegenfenster eingerahmte Stückchen. Der Teich hat ihr gewaltigen Eindruck gemacht – so gewaltig, daß sie mir feierlich erklärte: Verheirathet sein, sei etwas Sonderbares.«
»Iri, mein Kind, mußt Du denn immer Unsinn schwatzen?« rügte die Großmutter. »Es wird mich sehr freuen,« wandte sie sich an Eva —, »wenn es Dir hier gefällt. Ich habe den Ort, in dem ich fünfundvierzig Jahre verlebt, so lieb, daß ich gar nicht begreifen kann, wie man anderswo sein wollte – und ich nehme es meinem Herrn Sohn da sehr übel, daß er oft so weite Reisen macht und mitunter zwei bis drei Jahre abwesend bleibt.«
»O, ich begreife die Leidenschaft des Reisens,« entgegnete Eva. »Schon als Kind war es mein Traum, fremde Länder und Städte kennen zu lernen.« Und zu Ralph: »Waren Sie auch schon in Amerika?«
»Sie?« wiederholte er vorwurfsvoll. »Du wirst doch zu Deinem Schwiegervater nicht Sie sagen? Ja, ich bin schon – mit Ausnahme von Australien – in allen Welttheilen gewesen. Vielleicht geht meine nächste Reise nach Melbourne.«
»Warum nicht gar!« rief die alte Gräfin. »Dagegen protestire ich. Jetzt zähle ich sechsundsechzig Jahre, da kannst Du schon noch da bleiben, so lang ich lebe. Sag‘ Du, dort unten, Robert: Du wirst doch hoffentlich seßhafter sein als Dein Vater und hast von ihm die Wanderlust nicht geerbt.«
»Von mir hat er gar nichts geerbt,« murmelte Ralph.
Robert antwortete: »Ich finde das Herumzigeunern sehr unbequem und eigentlich fad.«
»So? Das sagst Du, nachdem Du von der Hochzeitsreise kommst? Das ist nicht liebenswürdig, Herr Vetter,« bemerkte Irene. »O, es war ja ganz hübsch – aber zu Haus ist‘s doch am besten … die fremden Leute, die fremde Sprache … das Alles ist so mühselig – und die fremde Kost kann mir schon gar nicht schmecken. Das schönste Leben ist in Wien —«
»Und in Großstetten?« meinte die Großmutter.
»Zur Jagdzeit allenfalls – jetzt, um diese Jahreszeit, ist es auch etwas öd hier.«
Ein schmerzlicher Ausdruck glitt über Evas Züge. Doch da sie fühlte, daß ihres Schwiegervaters Blick betrachtend auf sie gerichtet war, verscheuchte sie ihren Unmuth und wandte den Kopf zu Ralph, in der Absicht, eine gleichgiltige, ablenkende Bemerkung zu machen. Aber der verständnißinnige, sympathieerfüllte Ausdruck, den sie in seinem Gesicht sah, machte sie verstummen. Es war wie eine mitleidsvolle Frage, die da geschrieben stand, und sie konnte nicht anders, als auch ihrerseits durch stummes Mienenspiel gleichsam sagen: Ja, so ist es.
Nachdem die Tafel aufgehoben, begab man sich in den anstoßenden Salon und jetzt erst erhielt Eva Auskunft über die ihr noch unbekannten Tischgenossen. Der junge Mann mit dem bartlosen Gesichte war der Hofmeister der beiden jungen Leute – Irenens Brüder. Er und seine Schüler hatten sich vom Speisezimmer aus entfernt. Die ältliche Dame, welche jetzt in einer entfernten Ecke des Salons über einem Stickrahmen arbeitete, war eine im Hause aufgenommene arme Verwandte, Namens Fräulein Ottilie von Otterfeld. Den rundlichen Herrn stellte Graf Siebeck nunmehr selber vor:
»Doktor Hartung, liebe Eva, mein einstiger Mentor und mein treuer Freund. Allsommerlich macht mir Doktor Hartung die Freude, mich auf ein paar Monate zu besuchen und an meiner Erziehung nachzubessern. Ich glaube, er sieht immer noch einen schlimmen Buben in mir —«
»O, nach und nach wird sich vielleicht doch etwas aus Ihnen machen lassen, Graf Ralph,« scherzte der alte Herr. »Wenn man nur die richtige pädagogische Art und Ausdauer hat – —«
Irene trat hinzu.
»Soll ich Dich jetzt in Schloß und Garten herumführen, Eva?«
»Das hat Zeit, Kind.« sagte Siebeck. »Laß mir meine kleine Schwiegertochter noch ein Weilchen hier: ich möchte sie etwas näher kennen lernen. Setze Dich her, Eva – und laß uns plaudern.«
»So kommen Sie mit mir zum Klavier, Doktor Hartung, und benutzen wir die Viertelstunde, in welcher Onkel Ralph seine neue Tochter gründlich kennen lernt zu einer gründlichen Durchsicht der gestern angekommenen Noten.«
»Du, Eva,« rief Robert von der Ausgangsthüre her, »ich geh‘ jetzt fort, – werd‘ ein bissel im Meierhof nachsehen … und zum Jäger. Adieu allerseits.«
Eva hatte sich auf den ihr angewiesenen Sitz niedergelassen. Es war ein niederer Lehnstuhl inmitten einer der zahlreichen kleineren Möbelgruppen, die in regelloser Anordnung den Saal füllten: Dort ein Sopha, da eine Chaiselongue, hier ein mit Fauteuils umstellter großer Tisch; dazwischen Schirme, Lesepulte, Etagèren, kleinen Tischchen, Porzellankübel mit hohen Blattpflanzen und dergleichen mehr. Der Saal war länger als breit. In der Mitte führte eine Glasthür auf den Balkon. Zu beiden Seiten noch je zwei Fenster und spiegelbehängene Pfeiler. An den Schmalseiten der Wände, rechts und links von den in die Nebenzimmer führenden Thüren waren, statt der Tapeten vier hohe, bis an die Decke reichende Oelgemälde eingelassen, welche verschiedene, in Parkanlagen sitzende oder wandelnde überlebensgroße Figuren in Rococokostüm darstellten. An der hinteren, den Fenstern gegenüberliegenden Wand funkelte es von Konsolen, Wandleuchtern und venetianischen Spiegelrahmen. Auch die sehr hohe Decke, von der ein riesiger Kronleuchter herabhing, war mit künstlerischen Malereien geziert. Eva ließ mit Wohlgefallen, aber dennoch etwas zerstreut, ihren Blick über alle diese Dinge schweifen. Den Haupteindruck des umgebenden vornehmen Reichthums nahm sie mit Befriedigung wahr, aber die Einzelheiten beobachtete sie nicht – dazu waren ihren Gedanken zu sehr mit den neuen Familien– und Hausgenossen beschäftigt und von der Frage eingenommen: Wie wird sich mein Leben hier gestalten?
Da, wo sie saß, stand ihr zur Seite ein runder Tisch, auf welchen sie den Arm lehnte. Schräg gegenüber hatte sich Graf Ralph einen Sessel zurechtgeschoben.
Er rückte eine auf der Mitte des Tischteppichs stehende Blattpflanze etwas bei Seite:
»Dies verstellt mir die Aussicht auf Dich,« sagte er. »Und da ich Dich nun kennen lernen will, muß ich vor Allem Dein Gesichtchen studiren. Weißt Du, daß Du große Aehnlichkeit mit einer Frau besitzest, die mir vor Jahren sehr theuer gewesen —«
»Mit Roberts Mutter?«
»Nein, nein. Die ich meine, war eine Künstlerin – eine große Künstlerin. Sag‘, hast Du nicht vielleicht auch irgend ein Talent – übst Du keinerlei Kunst?«
Eva verneinte. »Das bischen Klavierspielen, das bischen Wasserfarbenmalen,« fügte sie hinzu, »verdient doch nicht so genannt zu werden.«
»Und hast Du Dich nie darnach gesehnt, irgend etwas Großes zu leisten, etwas Bedeutendes zu erreichen? Hochsteigender Ehrgeiz ist ja eine Kinderkrankheit, welcher wir Alle mehr oder minder ausgesetzt waren.«
»Wenn Du es so auffassest – dann habe ich allerdings auch einen solchen Anfall gehabt. Ich träumte – als ich zwölf bis vierzehn Jahre alt war – einst die größte Tragödin der Welt zu werden. Ich hatte mich an Schiller und Grillparzer begeistert. Mit welch‘ heldenhaftem Feuer wollte ich die Jungfrau von Orleans darstellen, mit welch‘ rührender Würde als Maria Stuart zum Schaffot gehen, mit welch‘ bezaubernder Koketterie als Eboli den Prinzen Carlos entzücken, wie tragisch als Sappho sterben, als Medea morden. Natürlich sind diese kindischen Ideen von meinen Eltern und von meiner eigenen erwachenden Vernunft rechtzeitig erstickt worden.«
»Wer weiß, ob das so vernünftig war! Vielleicht hattest Du wirklich Talent – obgleich der ehrgeizige Wunsch noch durchaus keine Bürgschaft dafür abgiebt.
Das ist nur so die Blüthekraft der Seele. Zum Licht, zum Glück, zum Glanz öffnen sich die knospenden Gefühle; – man will leben, lieben, siegen; man ist gedrängt, das Reichthumserbe der Nachwelt zu mehren – durch künstlerische Leistungen, durch unsterbliche Werke oder doch durch schöne und kräftige Nachkommen – und dabei glaubt das blühende Menschenkind, daß es blos seinem eigenen Ehrgeiz, seiner eigenen Liebessehnsucht fröhnte, während es doch nur im Dienste des allgemeinen Lebensentfaltungs– und Weltbereicherungsgesetzes wirkt … Du verstehst mich nicht – – verzeih, ich habe meine Gedanken nicht deutlich ausgedrückt. Was ich da sagte, war das Endglied einer langen Urtheilskette, die ich mir durch vieljährige Studien zurechtgeschmiedet habe – das läßt sich unmöglich mit ein paar Worten einem unvorbereiteten Geiste verdeutlichen.« —
»Und doch – mir ist, als hätte ich Dich einigermaßen verstanden,« entgegnete Eva. »Zwar nicht so. daß ich es wiedergeben könnte – es fuhr mir nur so wie ein Blitz durch den Geist – ein Blitz, der ein Stückchen ungekannten Horizonts erhellt hat … mir scheint, jetzt bin ich undeutlich.«
»Nicht doch: ich weiß recht gut, was Du sagen willst. Ich glaube, wir werden uns sehr gut verstehen, Klein-Eva. Verzeih – Du bist groß von Gestalt – aber ich habe das Bedürfnis, die Namen von Personen, die ich lieblich finde, zu verkleinern. »Eva« klingt gar so steif, und zwar so – wie soll ich sagen – menschengeschlecht-mütterlich, und Du hast so gar nichts von einer Stammmutter an Dir, Evelette – Evinka … siehst so frisch, so kindlich aus —«
»Ich bin doch schon bald vierundzwanzig – ein Jahr älter als mein Mann.«
»Ich weiß. Aber die Jahre thun es nicht —«
»Das sieht man an Dir, Pa – Nein, es geht nicht. Auch mir macht die Ansprache Schwierigkeiten. Wie Du mir nicht den Namen unserer ersten Mutter geben willst, so bin ich noch viel weniger im Stande, Papa oder Vater zu Dir zu sagen. Es will mir nicht über die Lippen.«
»So nenne mich bei meinem Taufnamen »Ralph«.
»Das ginge auch nicht an. Es wäre gegen allen gebührenden Respekt.«
»Wenn Dir um den Respekt zu thun ist, so rufe mich bei meinem Spitznamen, Der wurde mir – ich weiß gar nicht, aus welchem Anlaß, schon als Kind gegeben, und alle meine Schulkameraden, später viele meiner Freunde riefen mich so: – König.«
»Ja, das gefällt mir. Das paßt Dir – so werde ich Dich ansprechen können – mein freundlicher, mein gnädiger König!«
Noch ehe die zum Kennenlernen anberaumte Viertelstunde verflossen war, wurde Ralph abgerufen. Ein Diener meldete, der Herr Verwalter sei gekommen, einen Forstamtsbewerber vorzustellen und die Herren warteten in Seiner gräflichen Gnaden Arbeitszimmer.
Ralph stand auf: »Du verzeihst, Evinka. Ich muß jetzt an mein Tagesgeschäft gehen. Bei Tische – wir speisen um sechs – können wir unsere Unterhaltung fortsetzen. Du wirst jetzt wohl Irenens Führerschaft annehmen, um Dich ein wenig in Haus und Garten umzusehen? Iri,« rief er zum Klavier hinüber, »genug der Wühlerei in den Noten, Du wirst gebraucht. Und Sie, Hartung, kommen Sie mit mir – Sie sind ein Menschenkenner – helfen Sie mir, Herz und Nieren eines Forstadjunkten zu prüfen.«
Darauf hin, nachdem die beiden Herren sich entfernt hatten, schob Irene Evas Arm unter den ihren:
»Also komm,« sagte sie, »jetzt will ich Dich mit Deinem neuen – meinem alten – Heim bekannt machen.«
»Vor Allem, ehe wir weiter gehen, sei mein Cicerone in diesem Saal. Sind die Bilder dort Familienportraits? Ich bemerke nämlich, daß jener Herr in der goldgestickten rosa Atlasweste große Aehnlichkeit mit Kö—, mit meinem Schwie—, mit Deinem Onkel hat.«
»Ja, es sind Portraits, und der Edelmann mit der Rosaweste ist Onkel Ralphs Urgroßvater. Diese Bilder haben das Schöne, nicht wahr? daß sie so künstlerisch aussehen – ganz wie komponirte Gemälde. Siehst Du, diese drei Frauen und zwei Herren, die auf den Terrassenstufen gruppirt sind, sehen nicht aus, als ob sie einen Portraitmaler Modell gesessen hätten, sondern vielmehr, als ob sie einander Dekameron – (nicht, daß ich sie gelesen hätte!) Geschichten erzählten. Jener dort – der unter einem Baum an einem Tische sitzt und mit dem ehrfurchtsvoll dreinschauenden nebenstehenden Herrn spricht, giebt Diesem – dem Baumeister – Befehle, wie der auf dem Tisch aufliegende, von Jenem wahrscheinlich soeben überreichte Plan von Schloß Großstetten ausgeführt werden soll. Das hübscheste Bild ist aber diese Frauengruppe da, nicht wahr! Bemerkst Du, wie scheinbar zufällig die blaue Brokatschleppe der Einen zur Seite geschlagen ist und dabei das allerliebste Füßchen in dem hohen Hackenschuh zum Vorschein kommt? Um diesen Fuß bin ich der Urgroßmama immer neidig. Sieh nur, wie schmal und gewölbt – und der Knöchel ließe sich mit zwei Fingern umspannen … Und das ist jetzt alles vermodert!«
»Ja, diese Idee befällt mich auch stets beim Anblick von Ahnenbildern. Befindet sich kein Portrait von Roberts Mutter im Hause?
»Nein. Auch in Onkel Ralphs Zimmer nicht. Ich rathe Dir übrigens, lieber nicht von ihr zu reden – es wird ihrer hier niemals erwähnt. Komm, jetzt wollen wir weiter gehen.«
Nunmehr ward Eva durch das ganze Haus geleitet. Stiegen auf und Stiegen ab; in sämmtliche Empfangs-, Wohn– und Nebenräume – mit Ausnahme des vom Grafen Ralph bewohnten Flügels – in Billardsaal, Bibliothek, Gastzimmer, Kapelle, Küche, Vorrathsräume, Dienerwohnungen, Badekabinet, Garderobe– und Wäschekammer, alles elegant und wohlhabend, jedoch ohne Luxus eingerichtet. Großstetten war ein schöner, großer, vornehmer Wohnsitz, aber eine Stätte künstlerischer oder fürstlicher Pracht war es nicht.
Auf die Besichtigung des Schlosses folgte ein Rundgang durch die unweit liegenden Wirtschaftsgebäude, durch Kuh– und Pferdeställe, Milch– und Sattelkammern, Maschinen– und Wagenremisen, durch Park und Küchengarten, durch glasgedeckte Warm– und Kalthäuser und es war schon gegen vier Uhr Nachmittags, als Eva von ihrer Führerin frei gegeben ward.
»So, hier sind wir vor Deiner Wohnungsthür – ich lasse Dich jetzt allein: Du wirst müde sein, ich bin es gleichfalls. Ah, da kommt gerade auch Dein Mann nach Haus – so mache ich mich desto rascher aus dem Staube. Junge Eheleute soll man so wenig als möglich stören, habe ich mir sagen lassen. Adieu.«
Robert und Eva traten gleichzeitig in ihre Wohnung. Der junge Mann warf sich auf einen Stuhl und streckte die Glieder:
»Uff! Ist das eine Hitz‘! Ich war auf den Feldern draußen und da brannte mir die Sonne ins Genick … Das ist ein hartes Handwerk, wie es scheint, die Oekonomie – auch nicht viel besser wie die Kasernenschinderei.
Er gähnte geräuschvoll. Dann stand er auf und näherte sich der Thür des Nebenzimmers.
»Robert – willst Du nicht ein wenig hier bleiben? Ich möchte Dir gern erzählen, wie es mir in Großstetten gefällt. – Irene hat mich überall herumgeführt.«
»Wie soll Dir‘s gefallen? Es ist so wie hundert andere Schlösser auch. Bis Du erst Dornegg gesehen haben wirst, das unsern nächsten Nachbarn – den Dürrenbergs – gehört, das ist etwas anderes.«
»Ich finde es sehr schön hier – und, Robert, es soll ja unser Heim sein … Der Gedanke hat etwas eigenthümlich Ergreifendes Nicht?«
»Geh, sei nicht sentimental.«
»Du hast mir eigentlich noch kein herzliches Wort gesagt, seitdem wir in Großstetten eingefahren. Ein »Willkommen zu Hause!« hättest Du mir doch bieten können.«
»Erstens sind wir gar nicht zu Hause da. Der Herr bin nicht ich – sondern der Vater; Schloßfrau bist nicht Du – sondern die Großmutter. Wir sind eigentlich Gäste hier – und das nicht einmal: ich soll da als Wirthschafts-Praktikant fungiren – hübsche Unterhaltung!«
»Wie Du Alles von der schlimmen Seite auffassest! Auch auf unserer Reise, wo ich über so Vieles entzückt war, hast Du so viel auszustellen gefunden,«
»Das glaube ich. Mich bringt man auch nicht so bald wieder dazu, den Strapazen, Unbequemlichkeiten und Langweiligkeiten einer solchen Wanderschaft mich auszusetzen. Kein Wort von der Sprache verstehen – die elenden italienischen Waggons, die faden Orangen– und Zitronenbäume – die ekelhaften tables-d‘hôtes. Gut, daß wenigstens das überstanden ist. – Ich geh jetzt meine Sachen auspacken.«
Eva hielt ihn nicht mehr zurück.
»Ja,« sagte sie sich mit einem bitteren Seufzer, »die Hochzeitsreise ist »überstanden« – aber das ganze lange Eheleben liegt vor uns: wie wird das zu überstehen sein?«
II
Eva Siebeck hatte keine Familie: Geschwister hatte sie nie besessen, und die Eltern waren seit mehreren Jahren gestorben. Sie war – obgleich als Sproß eines angesehenen freiherrlichen Hauses geboren – in beschränkten Verhältnissen aufgewachsen. Ihr Vater, ein vermögensloser Offizier, hatte eine gleichfalls vermögenslose Cousine geheirathet. Als Eva ungefähr zehn Jahre alt war, stürzte der damals Majorsrang bekleidende Baron Holten mit dem Pferde, wobei er sich den Fuß brach, und wurde – mit Obersten-Charakter – in den Ruhestand versetzt. Seine Pension und eine von reichen entfernten Verwandten gewährte Apanage gaben nunmehr die ganzen Hilfsquellen ab, mit welchen die Gatten ihr Leben und die Erziehung ihres Töchterchens bestreiten mußten. Um dies auf halbwegs standesmäßige Weise zu ermöglichen, ließen sich Baron und Baronin Holten in einer kleinen Kreisstadt nieder. Hier waren die Lebensmittel billig und die allgemein herrschenden Lebensgewohnheiten sehr einfach.
Dennoch wurde Eva nicht nur nicht einfach, sondern geradezu glänzend erzogen. Freilich kostete das nicht viel, denn Gouvernante und Meister gaben die Eltern selber ab. Baronin Holten besaß umfassende Sprach– und Musikkenntnisse, konnte auch recht hübsch malen, welche Talente sie auf die kleine Eva übertrug; und der Baron – der seit jeher ein Freund geistiger Anregung gewesen und nunmehr, seit der Unterbrechung seiner militärischen Laufbahn, sich ganz und gar verschiedenen Studien widmete und seine größte Zerstreuung in der Lektüre wissenschaftlicher und dichterischer Werke fand – beschäftigte sich seinerseits mit Evas litterarischer Ausbildung.
Das kleine Mädchen war sehr begabt, und mit jedem Tage wuchsen ihre Fertigkeiten und Kenntnisse. Nebenbei entfaltete sich auch ihre Schönheit zu frühzeitiger Blüte. Mit dreizehn und vierzehn Jahren besaß sie die Erscheinung einer erwachsenen Jungfrau. Schon hatten – als sie ihren fünfzehnten Geburtstag feierte – ein Apothekergehilfe, ein dicker k. k. Major a. D., ein Hausherrensohn und ein Gymnasial-Unterlehrer, welche sich aus der Entfernung in die junge Baronesse verliebt, schriftlich und schwärmerisch um ihre Hand angehalten und waren ebenso schriftlich und lächelnd abgewiesen worden.
Daß die so herrlich begabte Kleine bestimmt sei, eine glänzende Stellung in der Welt einzunehmen, das stand bei den Eltern fest. Auch in ihr selber regten sich allerlei ehrgeizige Wünsche und Hoffnungen. Damals war es, daß die Idee, als große Tragödin die Welt zu erobern, in ihrem Innern keimte. Davon aber wollten Vater und Mutter nichts wissen. Die Trägerin des Namens Holten konnte sich – so meinten sie – nicht dazu erniedrigen, die Bühnenbretter zu betreten; ihr würde eine viel passendere und zugleich sicherere Möglichkeit geboten sein, ihr Glück zu machen: nämlich dasjenige, was in der Gesellschaftssprache eine »gute Partie« heißt. Aus diesem Ziele machten übrigens die Eltern dem Töchterchen gegenüber kein Hehl. Eva selber hatte nichts dagegen einzuwenden. Eine große Dame zu werden, ihre angeborenen Gelüste nach vornehmer Lebensführung befriedigen zu können: eine solche Aussicht lächelte ihr wohl zu. Aber als wichtigste Bedingung zur Annahme einer »guten Partie« behielt sie – die Poesie-Belesene – sich im Geiste vor, daß dabei auch das Herz seine Rechnung finden, daß ihr einstiger Gatte so liebend und so geliebt sein müsse, als nur irgend möglich. In dem kleinen Städtchen, das die Holtens bewohnten, hätte sich zur Verwirklichung dieser Pläne schwerlich Gelegenheit gefunden. Daher ward beschlossen, daß Eva, wenn herangewachsen, ein oder zwei Winter in Wien zubringen sollte, um dort in die große Welt, welcher sie der Geburt nach ja angehörte, eingeführt zu werden. Die hierzu nöthigen Mittel – nämlich ein paar Tausend Gulden für Toiletten, Wohnung u. s. w. – konnten in einigen Jahren zurückgelegt werden. Große Summen waren ja nicht erforderlich; denn die Eltern beabsichtigten keineswegs, in der Hauptstadt ein Haus zu machen und ihre Tochter selber auf Bälle, Theater u. s. w. zu begleiten; – dieses Amt sollte eine bestimmte Dame aus ihrem Verwandtenkreise übernehmen. Sie wollten nur gleichzeitig in Wien sein, um Eva nicht aus den Augen zu verlieren, um ihre Triumphe in nächster Nähe zu genießen und um sie in der Wahl eines Freiers zu leiten. Oftmals war berechnet und zu Papier gebracht worden, welcher Betrag erforderlich sei, um die Auslagen dieses – im eigentlichsten Sinne des Wortes – Eroberungszuges zu decken. Die Berechnungen hatten ergeben, daß noch bis zu Evas zwanzigstem Geburtstage gespart werden müsse.
Dieses Datum stand nun am Zukunftshorizont des heranwachsenden Mädchens wie die Pforte zu einer neuen, mit hundert Verheißungen gefüllten Existenz; der darauf gewendete Blick ließ sie alle kleinlichen Entbehrungen der Gegenwart, alle Einförmigkeit geduldig ertragen, und der Fleiß, den sie darauf verwendete, ihren Geist und ihre Talente auszubilden, hatte seinen Ansporn in der Idee, daß, je reichere Bildungsschätze sie sich aneignete, desto würdiger würde sie sein, jene Pforte zu überschreiten und die Glücksgaben in Empfang zu nehmen, die ihrer drüben harrten.
Die literarisch-wissenschaftliche Erziehung, welche Oberst Holten seiner Tochter angedeihen ließ, war nicht etwa eine moderne, vom Geist der Neuzeit durchdrungene. Er war selber kein moderner Mensch. Von den bewegenden Fragen und Entdeckungen der letzten Jahrzehnte war er unberührt geblieben. In der Literatur verehrte er nur die sogenannten Klassiker; die in jüngster Zeit aufgetauchten Schriftsteller verachtete er nicht etwa– er wußte einfach nichts von ihnen; ebensowenig hatte er eine Ahnung von dem Umschwung in den Naturwissenschaften. Sein Standpunkt hierin war über die in seiner Jugend offiziell gelehrten Anschauungen nicht hinausgewachsen. Bei alledem war er ein Mann von hoher Bildung, von gediegenem Wissen, von seinem ästhetischen Geschmack. Immerhin: indem er Eva seine Anschauungen und Kenntnisse mittheilte, indem er ihr seine Lieblingsschriftsteller zu lesen gab, brachte er sie auf eine hundertmal höhere Geistesstufe, als von den meisten ihrer Alters– und Standesgenossinnen eingenommen zu werden pflegt, welche im Kloster eigentlich nur Kinderbücher zu lesen bekommen und in einem Geiste aufgezogen werden, der den Begriffen eines vergangenen Jahrhunderts entspricht. Unter der Leitung ihres Vaters kräftigte sich ihr Verstand; es bildeten sich in ihrer Seele hohe, sittliche Ideale heran; sie ward wißbegierig und begeisterungsfähig sie lernte, an geistigen Genüssen sich laben. Aus den gemeinschaftlichen Lesestunden in den Werken von Schiller, Jean Paul, Lessing, Tiedge, Wilhelm von Humboldt u. A. ging sie stets in gehobener Stimmung hervor. Daneben waren andere Stunden der Wissenschaft gewidmet: Astronomie und Physik, Geschichte und Erdkunde, sogar ein wenig Philosophie; jedoch, wie gesagt, nach jenem älteren Stande der Kenntnisse, wie solcher vor dem Auftreten der Entwickelungslehre herrschte und in den niederen Schulen und unter den meisten Leuten eigentlich noch herrscht.
Mit ihrer Mutter – zur Vervollkommnung in den modernen Sprachen – betrieb Eva fleißig belletristische Lektüre: unzählige englische Romane; auch – mit Auswahl – französische: Dumas Vater, Chateaubriand, die sämmtlichen Theater von Scribe, und unter den neueren einige verhältnismäßig unschuldig erscheinende: Ohnet, Greville und Andere. Auf diese Art gewann Eva einen Einblick in die Welt und in das gesellschaftliche Treiben, eine Einsicht, welche die sie umgebende enge und kleinliche Wirklichkeit ihr niemals hätte bieten können. Aus den englischen Romanen hatte sie die Vorstellung geschöpft, daß die Liebe und eine darauf folgende – durch verschiedene Herzenskonflikte und Mißverständnisse etwas verzögerte – Heirath den Schicksalsinhalt jedes Mädchenlebens abgeben müsse. Daß eine solche Geschichte auch in ihrer Zukunft sich abspielen werde, dessen war sie sicher. Sie sah dem Leben mit hohen Ansprüchen, mit Spannung und mit Vertrauen entgegen; sie hatte das Bewußtsein ihres eigenen Werthes. So wie ihr Spiegel und das bewundernde Nachsehen der Leute auf der Straße ihr verriethen, daß ihr Aeußeres schön sei, so zeigte ihr der in das eigene Innere gesenkte Prüfungsblick, daß ihr Geist für alles Schöne begeistert, ihr Herz für alles Gute empfänglich war; daß ihr Vorsatz fest stand, tugendhaft und rein und würdevoll durchs Leben zu gehen. Sie fühlte sich fähig, zu beglücken; sie hatte die stolze Ueberzeugung, daß – was immer die Gaben seien, die ihr zukünftiger Gatte ihr böte: Reichthum, Rang, grenzenlose Liebe – sie mit der Gegengabe ihres Selbst eine gleichwerthige Vergeltung zu gewähren habe.
Aber so glatt, wie sie und ihre Eltern das Zukunftsprogramm sich aufgestellt hatten, sollte dieses nicht abgewickelt werden. Die schlimmsten Plänestörer von allen: Krankheit und Tod, sollten auch diese Pläne durchkreuzen. Zwei Jahre vor der anberaumten Wienfahrt brach in dem Städtchen der Typhus aus, und als eines seiner ersten Opfer ward, nach Verlauf von acht Tagen, Oberst Baron Holten hingerafft.
Das war der erste Kummer, der erste große Schmerz in Evas Leben. Sie konnte es gar nicht fassen: ihr Lehrer, ihr Freund, ihr lieber, seelenguter, edler Vater – todt!… Aus dem Hause fortgetragen – ins Grab gelegt – auf ewig, ewig verloren! Wie? er hatte das nicht erleben sollen, wofür er die ganze Zeit gearbeitet, worauf sein ganzes Streben und Hoffen gerichtet war: das Glück seiner Tochter… Ihr war es nun, als wäre das schönste Ziel ihrer Zukunft verfehlt; und ihr Leid war ein so tief empfundenes, daß sie vermeinte, sei jetzt alles alles verloren, als hätte sie gar kein Recht mehr, an ein freundliches Schicksal zu denken.
Und in der That: die nächste Zukunft gestaltete sich nichts weniger als freundlich für das junge Mädchen. Die Lebensverhältnisse wurden noch knapper als zuvor, denn mit dem Tode des Obersten war dessen Ruhegehalt weggefallen und Mutter und Tochter mußten von der Apanage leben, welche nunmehr – auch auf die Hälfte herabgemindert – der Baronin Holten als Wittwengehalt gewährt wurde. In der ersten Zeit, wo die Beiden nur der Trauer lebten, in die der Verlust des Gatten und des Vaters sie versetzt hatte, ging ihnen ihre Verarmung nicht so nahe, dieselbe war ihnen nur wie eine matte Nebenerscheinung des andern, eigentlichen Unglücks.
Nach und nach aber machte das Leben seine Rechte wieder geltend; die Zeit bewährte ihre unausbleibliche kummerlindernde Gewalt, und nach einem Jahre begannen Mutter und Tochter wieder ihre Blicke in die Zukunft zu richten. Der Sparplan, die so oft berechneten Überschläge behufs Evas Einführung in die Welt – das alles war vereitelt. Was thun? Der bis jetzt zurückgelegte Betrag konnte mit dem besten Willen nicht vermehrt werden. Da kam Baronin Holten auf den Einfall: Wie wäre es, wenn wir die bisher gemachten Überschläge auf einen geringeren Maßstab herabsetzten und wenn wir das vorhandene Sümmchen gleich noch in diesem Fasching riskirten? Die elenden paar Gulden konnten sie doch nicht reich machen, würden für Eva doch keine Versorgung abgeben, und möglicherweise konnten sie verhelfen, daß das Mädchen ihr Glück finde. Möglicherweise? … Nein, gewiß – sagte die mütterliche Eitelkeit. Eva würde die »Beaute« der Saison sein und die anderen herrlichen Eigenschaften dazu…nein, Sünde und Jammer wäre es, diese blühende Jugend zu vergraben, also abgemacht: »Wir nehmen das Geld aus der Sparkasse und reisen nach Wien.«
Eva sagte natürlich nicht nein. Zwar kostete sie der Gedanke Thränen. daß an den ihr bevorstehenden Triumphen ihr theurer Vater, der sich so daran gefreut hätte, keinen Theil mehr haben sollte; aber sie war es ja ihrer Mutter, sie war es sich selber schuldig, die Glückschancen nicht auszuschlagen. Und nachdem der Entschluß einmal gefaßt war, begann sie sich lebhaft auf die Ausführung zu freuen. Das Leben, das Leben kennen lernen! Was sie bisher nur gelesen, gehört, geträumt, das sollte sie in Wirklichkeit erfahren; und das selige Gefühl der Liebe – welches ihre aufgeblühte Jugend ersehnte und errieth – würde vielleicht in ihrem Herzen aufgehen können und mit seinem Zauber alles Leid und allen Kummer ihr vergüten, die sie im letzten Jahre durchgemacht.
Alles war vorbereitet. Gräfin Rosa Koloman, die in Wien lebende Verwandte, welcher die Aufgabe zugedacht war, Eva in die Welt zu führen, hatte ihre Zustimmung gegeben; das Geld wurde aus der Sparkasse behoben und in den Schreibtisch gelegt. Der Tag der Abreise war auf die kommende Woche festgesetzt, und schon sollte mit dem Einpacken begonnen werden, als Baronin Holten von einem ziemlich heftigen Unwohlsein befallen ward.
»Es wird nichts sein, liebes Kind, in acht Tagen bin ich wieder frisch und wohl. Der lebhafte Wunsch allein, unsere Wienfahrt anzutreten, wird mich gesund machen. Und schlimmsten Falles müßtest Du ohne mich zu Tante Rosa gehen.«
Aber das Unwohlsein artete in eine lange schwere Krankheit aus, und selbstverständlich wich Eva nicht von ihrer Mutter Seite. Als Diese halbwegs genesen war, war der Fasching zu Ende. Die Wienfahrt wurde auf den nächsten Winter verlegt.
Aber auch im nächsten Winter konnte die Fahrt nicht stattfinden, denn die Baronin ward von Neuem auf das Krankenlager geworfen; diesmal, um nicht wieder gesund zu werden. Schlag, Lähmung, schließlich Gehirnerweichung – und dieses elende Siechthum dauerte über drei Jahre. Für Eva eine harte Prüfungszeit. Aufopfernd und hingebend pflegte sie die arme geliebte Kranke, jeden Schmerz, den Dieselbe litt, auch selber mitleidend. Dazu die Trauer um ihre eigene ungenossene, unverwerthete Jugend… Der ganze frohe Lebensmuth, der vor diesen Unglücksfällen des jungen Mädchens Sinn erfüllt hatte, war jetzt gebrochen. Sie hoffte und erwartete nichts mehr. Das Spargeld mußte natürlich herhalten, um die Mehrauslagen für Doktor und Apotheke zu decken; aber auch dieses fing schon an, knapp zu werden. Nach und nach wurde die Kranke launenhaft und boshaft. Ihre geistigen Fähigkeiten nahmen so sehr ab, daß von ihrer eigentlichen Persönlichkeit schließlich nichts mehr in der jammervollen Gestalt enthalten war, die da im Rollstuhl ächzte und stöhnte und welche gewartet werden mußte, wie ein hilfloser Säugling.
Zum Glück fiel die Aufgabe dieses Wartens und Pflegens nicht dem jungen Mädchen ganz allein zu, sondern wurde zum großen Theil von einer anhänglichen, schon seit mehreren Jahren im Hause lebenden Dienerin besorgt. So fand Eva doch noch öfters ein Paar Stunden des Tages Zeit, um sich bei ihren Büchern ein wenig zu erholen. Von Tante Rosa Koloman erhielt sie öfters theilnehmende Briefe und auch Geschenke. Ebenso freundschaftlich zeigte sich ihr eine Freundin, welche mit der Familie Holten im Laufe der Jahre öfters zusammengekommen war. Dieselbe – Dorina von Borowetz – war die Frau eines Obersten, eines einstigen Regimentskameraden des verstorbenen Baron Holten. Auch von ihr kamen regelmäßig Briefe, welche über den Zustand der Dulderin Erkundigungen einzogen und der Pflegerin Muth zusprachen.
Endlich ward Evas Mutter von ihren Leiden erlöste und das junge Mädchen stand allein in der Welt.
Als Antwort auf die mitgetheilte Todesnachricht erhielt Eva zwei Briefe: den einen von Tante Rosa, den andern von Freundin Dorina. Das Schreiben der Gräfin Koloman enthielt einen Check für mehrere hundert Gulden, aber kein Wort der Aufforderung, daß die Verwaiste nunmehr Aufenthalt im Hause der Schreiberin nehmen sollte. »Du wirst mich ferner von Deinen Planen unterrichten,« schrieb sie, »gegenwärtig begebe ich mich nach Ostende, dorthin kannst Du mir Deinen nächsten Brief adressiren.« Frau von Borowetz hingegen bat, Eva möge so bald als möglich und wenn sie wolle auf immer zu ihr kommen. »Viel kann ich Dir bei uns nicht bieten, doch wirst Du ja vorläufig, in Deiner Trauerzeit, keine Ansprüche auf gesellige Vergnügungen machen. Was Du bei mir findest, ist ein herzliches Willkommen – ein gemüthliches zu Hause.«
Eva nahm den Antrag dankbaren Herzens an.
Sie löste nunmehr ihren Haushalt auf, verkaufte sämmtliche Einrichtungsstücke, bei welchen Vorkehrungen ihr der alte Hausarzt behilflich war, und zehn Tage später, begleitet von Dorina, welche selber gekommen, die Freundin abzuholen, reiste sie nach ihrem neuen Heim.
III
Das Regiment des Obersten von Borowetz lag in der Kreisstadt Krems an der Donau. Hier bewohnte er mit seiner Frau eine geräumige und ziemlich elegant eingerichtete, ärarische Wohnung. Der neuen Hausgenossin ward ein großes und behaglich möblirtes Zimmer angewiesen. Das Haus wurde auf verhältnißmäßig großem Fuß geführt: ausgezeichnete Tafel, mehrere Personen Dienerschaft, Equipage, häufig Gäste.
Dorina von Borowetz – eine geborene Südtirolerin – war zweiunddreißig Jahre alt, lebhaft, hübsch, stets nach der neuesten Mode gekleidet. Der Oberst, etwa zehn Jahre älter, hatte ein ziemlich finsteres Aussehen und barsches Wesen. Er schien in seine Frau noch immer verliebt – jedenfalls war er sehr eifersüchtig und ließ diese Leidenschaft öfters durchblicken.
Eva gegenüber zeigte er sich zuvorkommend und galant. – Zu wiederholten Malen dankte er ihr für die Freude und Ehre, die sie seinem Haus erwiesen, indem sie es als Heim erwählt, und sprach die Hoffnung aus, daß sie lange – daß sie immer da bleiben möge.
»Aber mein lieber Borowetz,« bemerkte darauf einmal Dorina, »wie kannst Du glauben, daß man uns so ein hübsches, reizendes Geschöpf auf lange lassen wird? Dein ganzes Offizierkorps wird sie heirathen wollen.«
»Es wäre schon recht, wenn sie sich Alle in sie verliebten,« murmelte der Oberst mit einem finstern Blick auf seine Frau.
»Aha – damit Keiner mir den Hof mache, nicht wahr?« sagte Dorina. »Du mußt wissen, Eva, daß der Mohr von Venedig nebst ein halb Dutzend Tigern aus der einen Waagschale hoch in die Luft flögen, wenn auf der andern mein Gemahl säße. Er würde es wirklich verdienen, betrogen zu werden.«
Der Oberst schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang von seinem Sessel auf.
»Solche Scherze sind sehr unpassend,« sagte er und ging geradewegs zur Thür hinaus, indem er sie lärmend hinter sich zuschlug.
Dorina schaute ihre Freundin fragend an, als wollte sie sagen: Nun, jetzt hast Du‘s gesehen – wie gefällt Dir das?
Eva schwieg verlegen. Der Auftritt hatte auf sie einen peinlichen Eindruck gemacht.
Die Andere seufzte tief auf:
»Ich glaube, er würde mich tödten, wenn —« Sie hielt inne.
»Da ist wohl keine Gefahr,« meinte Eva. »Du brauchst nur seine Eifersucht nicht zu reizen, und das hast Du – verzeih mir – vorhin mit der Phrase gethan: Er würde wirklich verdienen —«
»Er verdient es auch.«
»Dorina!«
»Schau nicht gar so tugendhaft entrüstet, als ob es in der Welt nicht mehr Ehemänner gäbe, die – doch genug … Einen großen Gefallen würdest Du mir erweisen, wenn Du ein wenig mit meinem Manne kokettiren wolltest …«
»Dorina!«
»Wie hübsch mein Name klingt in dem vorwurfsvollen Tone! Ich sehe schon, Du bist eine Anstandsboldin – es wird mich Mühe kosten, Dir von Deiner Steifheit etwas abzuschütteln. Lustig muß man sein – und nicht prüde darf man sein: leben und leben lassen. Dein Gesicht wird immer länger… Es ist ja nicht schlimm gemeint.
»Ich weiß, Du scherzest nur.«
»Aber, wie vorhin mein gestrenger Oberst treffend bemerkte, »solche Scherze sind sehr unpassend,« – wie? Du hast mich freilich, wenn ich bei Deinen Eltern auf Besuch war, nicht von meiner natürlichen Seite kennen gelernt. Diese Beiden – besonders Dein Vater – imponirten mir so gewaltig daß in ihrer Gegenwart meine Art unwillkürlich etwas Nonnenhaftes annahm. Aber mit Dir, Du junges Ding, werde ich mir doch keinen Zwang anthun sollen?«
»Mein Vater war durchaus nicht, wofür Du ihn gehalten zu haben scheinst. Er konnte sehr heiter sein und hatte durchaus nichts Strenges an sich. Daß er Tugend und Ehre und strenge Pflichterfüllung hoch hielt —«
Dorina hob die Arme zum Himmel.
»Da haben wir‘s! Der reinste Moralpredigtstil. Es fehlt nur noch der »sittliche Ernst« und dergleichen mehr. Ich glaube, darin war Dein Vater groß.«
»Mein Vater war ein braver, edler Mensch,« entgegnete Eva in gekränktem Tone und wie bittend.
»Das bezweifle ich nicht, ich habe ihn sehr gern gehabt, dabei aber ein wenig mich vor ihm gefürchtet … Hoffentlich werde ich mich nicht auch vor Dir fürchten müssen, wenn Du etwa der zehn Jahre älteren Freundin gegenüber die Lehrmeisterin und Richterin herauskehren wolltest. Du kennst die Welt und die Menschen nicht, außer aus Büchern. Aus diesen hast Du Dir einen idealen Maßstab geholt, der auf das Leben, das wirkliche Leben, nicht paßt – merke Dir das.«
Fortan unterdrückte Eva jede Kritik, obschon Dorinas Benehmen und Aeußerungen ihr häufig zu einer solchen Anlaß geboten hätten. So oft sie etwas verletzte, rief sie sich jene Worte ins Gedächtniß: »Dein idealer Maßstab paßt nicht auf das Leben.« Sollte denn das Leben wirklich so ganz anders – um so Vieles schlechter, niedriger, würdeloser sein als die Vorstellung, die sie sich davon gemacht? … Nein, nimmermehr! tröstete sie sich … Es gibt nur verschiedene Menschen. Dorina war ein gutes, angenehmes Ding – nur ein wenig frivol; der Oberst ein heftiger, unliebenswürdiger Charakter; die Leute, die im Hause verkehrten, meist unbedeutende, schwunglose, enggeistige Geschöpfe – aber die Welt barg doch große Seelen und Herzen: dafür bürgten ihr ihr Schiller und ihr Shakespeare. Gewaltige Erlebnisse gab es, erhabene Ziele … und vor Allem: Liebe … ach, wann sollte für sie die Stunde schlagen, wo sie auf den Schwingen dieses herrlichen Gefühls zu den lichtesten Lebenshöhen gehoben würde?
Indessen verlief die tägliche Existenz ziemlich prosaisch und inhaltslos. Die Gewohnheitsgäste des Hauses Borowetz erschienen dem jungen Mädchen recht uninteressant. Die Frauen sprachen immer nur von häuslichen Dingen: Dienstbotenkreuz, Kindererziehung oder – wenn sie vornehm waren – von Toiletten: die Herren unterhielten sich mit Jagdgeschichten und – je nach ihrem Stande – von Regiments– oder Büreauangelegenheiten. Aber auch diese Gespräche gaben sie so bald als möglich auf, um sich an die Whisttische zu setzen.
Junge, elegante Offiziere, welche wohl gern das Haus besucht hätten, um der schönen Oberstin zu huldigen, wurden von dem grimmigen Obersten ferngehalten. Dennoch hieß es – selbst Eva, die es natürlich nicht glaubte, war das Gerücht zu Ohren gekommen – dennoch hieß es, daß die fesche Dorina mitunter Gelegenheit gefunden, Liebschaften anzuknüpfen. Selber konnte Eva nichts bemerken, was solchen Verdacht begründet hätte. Unter den Besuchern des Hauses war keiner, den Dorina mehr auszeichnete als die andern, und keiner, der einer solchen Auszeichnung werth erschien. Freilich war Eva nicht immer an Dorinas Seite. Diese besuchte Kasino-Bälle, machte Piknik-Ausflüge zu Wagen und zu Pferde mit, an welchen Vergnügungen Eva, so früh nach dem Tode der Mutter, unmöglich theilnehmen konnte, noch wollte. Im Ganzen war es ein ziemlich leeres und interesseloses Dasein.
Doch plötzlich, oder vielmehr nach und nach war dem jungen Mädchen das Leben dennoch interessant und inhaltsvoll erschienen. Es mochte wohl sechs Monate nach ihrer Ankunft in Krems sein. Seit einiger Zeit, regelmäßig um dieselbe Stunde, ritt an dem Hause ein junger Offizier vorbei, den sie einmal bei einem Abendempfang im Hause gesehen, und der ihr als Lieutenant Graf Siebeck vorgestellt worden war.
Anfänglich hatte sie auf dieses Vorüberreiten nicht geachtet; als aber eines Tages Dorina, welche neben ihr auf dem Balkon stand, bemerkte: »Ah, da höre ich den gewissen Trab – Dein Anbeter kommt,« da war sie aufmerksam geworden.
»Mein Anbeter? Was meinst Du?«
»Offenbar macht Dir der Siebeck Fensterparaden.«
Wie? sollte sich wirklich Jemand in sie verliebt haben? Unnatürlich wäre das eben nicht … Der Gedanke machte ihr Freude, und von nun an horchte sie selber um die bestimmte Stunde auf, ob der Laut des Pferdetrabes noch nicht zu vernehmen sei, und wenn sie denselben erkannte, begann ihr Herz zu klopfen.
Das erste Herzklopfen … Sie konnte es sich gar nicht erklären – warum dieses rasche Pochen? Aber wenn auch unerklärlich: angenehm war es sicher; und desto angenehmer, weil es unerklärlich war. Er grüßte herauf. Sie dankte und wurde roth dabei. Ja, offenbar Fensterparaden … Denn er ritt nicht nur einmal vorüber, wie wenn sein Weg zufällig an dem Hause vorüberführte, sondern nach einer Weile kehrte er um und kam ein zweites Mal daher, an den folgenden Tagen sogar drei– und viermal. Und jedesmal stellte sich dasselbe Herzklopfen ein, so bang und süß, so geheimnißvoll … Des Morgens, wenn sie erwacht, ist ihr erster Gedanke: Ob er heute wohl – – und Abends, ehe sie einschläft, trachtet sie sich jene Empfindung zurückzurufen, mit welcher sie durch das gewisse Herzklopfen bekannt geworden war. Die Folge davon ist, daß sie im Traum das Hufgeklapper hört, daß dabei dasselbe Bangen, welches in der Wirklichkeit sie erfaßt, nun in zehnfacher Stärke ihre Brust beengt.
Verliebt? War sie verliebt? … Sie wollte diese Idee abschütteln, ging es doch wider ihren Mädchenstolz, daß ihr Herz gar so leicht sollte erobert worden sein – durch bloßes Vorüberreiten eines nicht einmal besonders hübschen jungen Menschen! Da ging es in den englischen Romanen doch ganz anders her: wie schwer ward es da dem Helden meist gemacht »to woe and to win« – zu, werben und zu gewinnen. Freilich andere ihrer literarischen Erfahrungen wiesen auf Leidenschaften hin, die vom Himmel herabgefahrenen, wie der Blitz; von lebenslänglich dauernder Liebe, die in einer Sekunde – durch den Tausch eines Blickes – geboren ward. Hatte Romeo etwa jahrelang um Julie geworben? … Das Gefühl ist da – so viel war gewiß. Sie hatte es ja weder gerufen noch großzuziehen getrachtet; von außen war es über sie gekommen – die Offenbarung einer höheren Macht. Jetzt verstand sie erst den tiefen Sinn des mythologischen Amor mit seinen Pfeilen: ja, – von einem Gotte kam das Geschoß! Daß, dieser Gott Niemand anders als die Natur selber sei – das wußte sie nicht. Noch eine andere Erklärung legte sich Eva zurecht: vielleicht war es ihr Schicksal, das sich da zu verwirklichen begann – ihre »Bestimmung.« Daß die allnächtlichen Träume mithalfen, die neue Flamme anzufachen, dies schien ihr die Annahme zu bestätigen, es sei eine höhere, vorsätzlich wirkende Macht, welche über sie verfügte, denn Träume sind ja, der gewohnten naiven Auffassung gemäß, Kundgebungen, Eingebungen von Oben. Gegen das Gefühl ankämpfen? Nun, ein paar Male versuchte sie es wohl; aber genügende Kraft zum Kampfe hat man nur gegen das Unangenehme und Lästige; gegen das Süße und Freudenspendende läßt sich blos dann mit Erfolg kämpfen, wenn das Bewußtsein unabweislicher Pflicht dazu drängt. Aber welche Pflicht verletzte Eva, indem sie sich in einen jungen Mann verliebte, der ihr Fensterparaden machte? indem ihre Gedanken an dem Bilde Desjenigen hingen, dessen Gedanken sicherlich ebenso innig – und sehnsüchtiger noch – mit ihrem Bilde erfüllt waren?
Das einzige Beschämende war, daß sie sich sagen mußte: Du kennst ihn nicht, weißt nichts von den Eigenschaften seines Geistes und seines Gemüthes; weißt nicht, ob er auch so vornehm von Gesinnung ist, wie von Namen, ob sein Charakter so korrekt ist, wie sein Sitz im Sattel; kurz, ob er werth sei, von einem hingebenden, nach Idealen strebenden Mädchenherzen geliebt zu werden.
Doch auch diese Zweifel wurden aufgehoben. Eines Morgens erhielt Eva einen Blumenstrauß ins Haus geschickt. Von Siebeck ohne Zweifel. Die Blüthen dufteten ihr Dinge zu, die sie bisher noch nie vernommen. »Er liebt Dich! Er liebt Dich!« hauchten sie alle – besonders deutlich sagte das ein zwischen zwei Nelken verstecktes Kräutchen. Wenn sie das Gesicht in das Bouquet vergrub, was sie an diesem Tage wohl hundert Mal wiederholte, so suchte sie immer jene Stelle auf, wo das beredte Pflänzchen gar so eindringlich seine Liebesbotschaft ausströmte.
Zwei Tage darauf ein neuer Strauß und diesmal – es versetzte ihr einen süßerschütternden Schlag – schimmerte durch die Blätter ein Billetchen hervor. Mit erregungszitternden Händen entfaltete sie das Blatt: ein Liebesgedicht. Vier Strophen begeisterter Anbetung. Eva war in literarischen Dingen genug bewandert, um zu erkennen, daß das Gedicht ein echtes – das heißt aus keiner Sammlung herausgeschriebenes war, denn hier und da zeigten Reim und Rhythmus dilettantische Schwäche; doch die Gedanken waren voll zarter Poesie, die Gefühle voll edlen Feuers … Er war also werth, er verdiente geliebt zu werden – ; da fiel von ihrem Herzen die letzte beengende Klammer herab, und es weitete sich in dem Gefühle vollbewußter, nunmehr willkommen geheißener – erster Liebe.
In kurzer Zeit folgte ein zweites Gedicht und nach gleichem Zwischenraum ein drittes. Indessen, die Fensterparaden hatten aufgehört. Das war für Eva ein Verlust, denn ihn zu sehen war ja nunmehr ihr höchstes Glück – ; freilich jetzt, wo er sich schriftlich erklärt, bedurfte es dieser reitenden Huldigung nicht mehr. Doch warum kam er nicht ins Haus?
Eva lag mit sich im Kampfe: sollte sie sich ihrer Cousine Dorina anvertrauen? Einestheils lechzte sie darnach, von dem zu reden, wessen ihr Herz so voll war; anderntheils empfand sie ihr Geheimniß als einen Schatz, als ein Heiligthum, das durch etwaige spöttische Worte oder dergleichen nicht verletzt werden durfte, und Frau von Borowetz hatte so eine Art, Alles von der leichten, scherzhaften Seite aufzufassen.
Die anonymen Blumensträuße hatte Dorina wohl kommen gesehen und dieselben neckend kommentirt. Eva verrieth jedoch nicht, von wem sie glaubte – nein wußte —, daß sie geschickt wurden. Uebrigens war die junge Frau seit einiger Zeit sehr viel außer Hause, und wenn sie da war, so schien sie eigenthümlich zerstreut, als ob ihre Gedanken an ganz anderen Orten weilten. Das war Eva ganz recht, denn auch ihre Gedanken waren mit etwas Anderem ausgefüllt, und es war ihr lieb, daß sie nicht durch gleichgiltige Gespräche davon abgelenkt wurden. Sie erklärte sich Dorinens augenblicklich verändertes Wesen dahin, daß ihr der Gatte vielleicht wieder ein paar unangenehme Auftritte gemacht, und des Obersten Benehmen schien diese Annahme zu bestätigen: noch nie hatte sie ihn so übellaunig, so bärbeißig gesehen, wie in der letzten Zeit. Die arme Dorina! … Das war doch ein hartes Schicksal, so einen Mann zu haben. Warum hatte sie auch, ohne Liebe, nur um sich zu »versorgen«, diese unselige Wahl getroffen?
Was ihre eigene Zukunft ihr nun bringen sollte, darüber war sich Eva nicht recht klar. Würde Siebeck sich ihr nähern – um ihre Hand anhalten? Fast schien es, als legten sich Hindernisse in den Weg, denn warum hatte er sie in einem seiner Gedichte »die Unerreichbare« genannt? Doch sie wollte noch gar nicht viel an die Zukunft denken; die Gegenwart war voll so intensiven Lebensinteresses, daß dies genügte. Und Hindernisse? Nun, die sind ja eben dazu da, um überwunden zu werden. Robert Siebeck war noch sehr jung – vermuthlich durfte er vorläufig nicht ans Heirathen denken. Oder vielleicht trug er irgend eine Fessel – auch so etwas schienen seine Gedichte anzudeuten; doch die Worte: »Ich harre aus, das schwör‘ ich Dir« hatte eines der schwungvollen Lieder Refrain gebildet, und daraufhin leistete sich Eva denselben Schwur: auch sie würde »ausharren«.
Wenngleich die Fensterparaden aufgehört hatten, und obschon Siebeck seinen ersten Besuch im Hause Borowetz nicht wiederholte, so bekam ihn Eva doch öfters zu Gesichte. Beinahe jedesmal, wenn sie ausging – alle Nachmittage machte sie mit Dorina einen Spaziergang – begegnete ihr der Gegenstand ihrer Träume. Er grüßte ehrerbietig, sprach sie jedoch nicht an. Eva fühlte die Röthe der Verwirrung auf ihren Wangen glühen, und auch er – es war nicht zu verkennen – auch er erröthete, und in seinen Augen blitzte es auf, so oft er an den beiden Frauen vorbeikam.
Eines Tages kam Eva von einem kleinen Besorgungsgange – Bücherkauf beim Buchhändler des Orts —, den sie ausnahmsweise allein gemacht, nach Hause. Als sie die Treppe hinaufstieg, stieß sie mit dem eben eiligst herabkommenden Grafen Siebeck zusammen.
Eva sah deutlich, daß der junge Mann über und über roth geworden. Sie selber war so bewegt, daß sie, um einen Halt zu haben, sich an das Geländer stützte.
»O, Pardon, Baronin – ich hätte Sie beinah umgerannt.«
»Sie haben wohl große Eile, Graf Siebek?« – Woher nahm sie nur den Muth, zu sprechen? Sie bewunderte sich selber darob.
»Eile? Nein … das heißt … Ich wollte dem Herrn Obersten meine Aufwartung machen – er ist aber abwesend.«
»Ja, seit gestern, auf einer Inspektionstour. Das wußten Sie nicht?«
»Nicht wissen? … Ich hätte es wissen sollen … Bitte, wenn er kommt, sagen Sie ihm nicht, daß ich da war. Versprechen Sie mir das? … Ehrenwort? …«
Er hielt ihr die Hand hin.
Eva legte die ihre etwas zitternd hinein. Sie glaubte ihn zu durchschauen: er sprach so verwirrt und sinnlos, weil er durch diese Begegnung ebenso bewegt war wie sie; und dieses verlangte Ehrenwort – um eine so belanglose Sache – war nur ein Vorwand, um ihre Hand zu erfassen. Jetzt drückte er dieselbe kräftig:
»Wir sind einig,« sagte er und ließ sie wieder frei. Dann mit einem raschen grüßenden Griff an die Mütze eilte er weiter, die Treppe hinab.
Eva blieb betroffen stehen. »Wir sind einig« klang ihr in den Ohren nach. Das war wohl eine gesprochene Bestätigung des geschriebenen »Ich harre aus, das schwör‘ ich Dir.« Doch warum hatte er nicht länger mit ihr gesprochen? Schüchternheit vermuthlich.
Als sie in die Wohnung kam, suchte sie Dorina auf.
»Du hattest Besuch?«
»Ich Besuch? Wer denn?«
»Lieutenant Graf Siebeck. Ich bin ihm auf der Stiege begegnet.«
»Ja so … Eva, liebes Herz, sei so gut – erzähle es meinem Manne nicht, daß Siebeck da war … Du weißt ja – Du kennst seine klägliche Eifersucht. Wenn er wüßte, daß ich in seiner Abwesenheit den Besuch eines jungen Offiziers empfangen – er würde mir wieder einen jener Auftritte machen, die mir das Leben vergällen.«
»So hast Du ihn empfangen? Ich glaubte, es sei nur eine dienstliche Aufwartung bei seinem Obersten gewesen … Und sag‘, Dorina, was hat er gesprochen?«
»Was soll er gesprochen haben? Von gleichgültigen Dingen – vom Wetter, von – ah, jetzt fällt mir ein! auch von Dir – Du gefällst ihm außerordentlich.«
Jetzt setzte sich Eva zu der Freundin hin und frug sie eifrig aus; jedes Wort wollte sie erfahren das er gesprochen. Nur zögernd, als ob sie das Gespräch vergessen, oder als ob sie es allmälig erst improvisierte, gab Dorina Antwort, doch in ihrem Frageeifer bemerkte das Eva nicht.
Von nun an, da das Eis gebrochen war, da sie es überhaupt über sich gebracht, mit Dorina von Graf Siebeck zu reden, brächte sie so oft als möglich die Unterhaltung auf diesen Gegenstand; sie wollte Alles hören, was der Anderen von seinen Verhältnissen bekannt war. Die ertheilte Auskunft fiel sehr knapp aus, denn Dorina gab sich ebenso viele Mühe, diesem Gesprächsstoff auszuweichen, als Eva bestrebt war, ihn herbeizuführen. Was aus den widerstrebend ertheilten Mittheilungen hervorging, war Folgendes: daß Robert ein einziger Sohn war; daß sein Vater die Herrschaft Großstetten in Mähren besaß; daß dieser noch kein alter Mann war und sehr viel auf Reisen lebte – gegenwärtig weile er in Indien —, daß Roberts Mutter, eine nicht Ebenbürtige, gestorben war, als sie ihm das Leben gab; daß er in Wien einmal bedeutende Schulden gemacht hatte, welche von seinem Vater übrigens bereitwilligst bezahlt wurden; daß er nicht mehr lange dienen werde, weil sein Vater wünsche, daß er sich der Landwirthschaft widme, um einst Großstetten übernehmen zu können.
»Und ist er nicht sehr schwärmerisch?« fragte Eva weiter. »Hat er nicht einen großen Hang zum – Dichten?«
Dorina lachte auf:
»Mein Gott,« sagte sie, »ich kenne ihn viel zu wenig, um zu wissen, was seine Neigungen seien; aber wahrlich: Gedichte machen wäre das letzte, was man ihm zumuthen könnte.«
Eva wußte das besser. Aber sie erhob keinen Widerspruch, um ihr Geheimniß nicht zu verrathen.
IV
Es vergingen vierzehn Tage.
Graf Siebeck hatte sich im Hause Borowetz nicht mehr blicken lassen. Auch gab es keine Blumensträuße und Gedichte mehr. Schon begann Eva zu fürchten, daß ihr schöner Glückstraum vernichtet sei, und das Gefühl der Kränkung, des Kummers schlich sich in ihr Herz.
Sie ward so auffallend traurig, daß Dorina sie ängstlich befragte, was ihr denn fehle, und daß sogar der Oberst eines Morgens nach dem Frühstück bemerkte:
»Sie sehen ja aus wie ein Häuflein Unglück, Baroneß Eva. Da ist ja der Uhu, dem ich neulich einen Flügel abgeschossen, und den wir in einen Käfig gesperrt haben, ein Ausbund von Lustigkeit gegen Sie. Ich muß aufrichtig sagen, daß ich so verdrießliche Gesichter nicht gern um mich sehe – die Leute werden noch sagen, Kreuz Million, daß ich meine Hausgenossen schinde. Die Dorina stößt auch seit einiger Zeit Seufzer aus, als ob ihr die Hühner das Korn gefressen hätten. So was kann ich nicht vertragen!« schloß er, indem ihm die Zornesröthe ins Gesicht stieg. Und – wie er das oft zu thun pflegte, wenn er sich zu ärgern begann – er verließ hastig das Zimmer, die Thüre hinter sich zuschlagend.
»Daß noch ganze Thüren im Hause sind, wundert mich,« sagte Donna. »Die Prügelwuth, die in seinen Händen zittert, läßt mein Herr und Gebieter an den unschuldigen Thüren aus – da kann er ausholen: Bumm – und das ist eine Erleichterung, als ob er einen todtgeschlagen hätte. Wahrlich, wenn ich nicht so gescheidt gewesen wäre, mir vom Leben andere Kompensationen zu verschaffen —« Sie hielt plötzlich inne.
»Was für Kompensationen?« fragte Eva.
»Nichts. Sage Du mir lieber, was Dich niederdrückt? Du langweilst Dich bei uns?« Eva schüttelte den Kopf. »Siehst Du, jetzt treten Dir wieder die Thränen in die Augen …«
»Frag‘ mich nicht, Dorina… ich habe in der That einen Kummer … später – bis ich ihn niedergekämpft habe – werde ich Dir vielleicht mein Herz ausschütten … und wenn es bis dahin nicht – gebrochen ist…«
»Du närrisches Ding! Gebrochene Herzen kommen nur in den Büchern vor; in der Wirklichkeit stirbt Einer an andern Uebeln.«
»An der Schwindsucht z. B.?« sage Eva, indem sie unwillkürlich hüsteln mußte. »Und ist dieses nicht oft die Folge eines tiefen seelischen Schmerzes?«
Der Oberst kam wieder herein. Sein Zorn schien sich gelegt haben.
»Ich habe vorhin vergessen, Abschied zu nehmen;« sagte er. »Ich muß nämlich heute wieder nach Wiener-Neustadt fahren und komme erst morgen Abend zurück … eine langweilige Geschichte … Es ist schon angespannt… Adieu; Dorina, adieu, Baroneß Eva – daß ich Sie lustiger finde, wenn ich nach Haus komme!«
An diesem Nachmittag zog sich Dorina schon gegen sechs Uhr, auf ihr Zimmer zurück: »Ich habe schreckliches Kopfweh,« hatte sie sich gegen Eva entschuldigt, »es ist mir unmöglich, Dir Gesellschaft zu leisten, sei nicht böse …«
Eva war gar nicht böse, allein bleiben und ihren Gedanken nachhängen zu können. Gegen neun Uhr – sie saß vor ihrem Schreibtisch und überlas zum so und sovielten Male die ihr gewidmeten Liebesgedichte – ward im Hause ein Geräusch von Schritten und Stimmen vernehmbar. Eva horchte auf: die Stimmen wurden immer lauter und zorniger. Es war ihr, als vernähme sie das Organ des Obersten. Sollte der unvermuthet zurückgekehrt sein?
Das Stubenmädchen trat herein.
»Baronesse sollen so gut sein, einen Augenblick zur Frau Oberstin zu kommen.«
Überrascht und einigermaßen erschrocken folgt Eva dieser Aufforderung. Doch ihre Ueberraschung ward noch größer, als sie Dorinas Zimmer betrat. Außer Herrn und Frau von Borowetz war noch eine dritte Person anwesend – die letzte, die sie hier zu finden erwartet hätte – Lieutenant Graf Siebeck.
Der Oberst ging der Eintretenden zur Thüre entgegen, nahm sie an der Hand und führte sie herein.
Der junge Offizier verneigte sich.
Dorina trat auf ihre Freundin zu:
»Meine liebe Eva,« sagte sie, »hier siehst Du einen in Dich rasend verliebten jungen Mann: Graf Siebeck hält um Deine Hand an.«
Dem jungen Mädchen drohten die Sinne zu schwinden. Ein solches Glück – und so plötzlich … Das war wie ein Traum, wie ein Märchen …
»So ist es, Baronin Holten – schöne Baroneß Eva, so ist es,« sagte der Lieutenant mit etwas gedehnter Stimme – »ich erlaube mir … Ihnen anzutragen, Gräfin Siebeck zu werden.«
Der Oberst, der Eva noch immer an der Hand hielt, preßte diese mit einem so eisernen Griff, daß das junge Mädchen hätte aufschreien mögen, und indem er ihr fest ins Auge schaute:
»Sagen Sie mir nur Eines, Eva,« sprach er feierlichen Tones – »aber die Wahrheit – beim Andenken – bei der Grabesruhe Ihrer Eltern – die Wahrheit: hat Ihnen dieser junge Mann schon seit längerer Zeit den Hof gemacht?«
Dorina fiel rasch ein:
»Als ob das nothwendig wäre! Man kann ja auch —«
Der Oberst unterbrach sie mit einer Schweigen gebietenden Kopfbewegung.
»Antworten Sie, Eva. Seit wann wissen Sie, daß Graf Siebeck Sie liebt – beim Andenken von Vater und Mutter, seit wann?«
Eva senkte erröthend den Kopf:
»Seit … seit ungefähr sechs Wochen,« murmelte sie.
Mit einem erleichterten Seufzer ließ der Oberst ihre Hand los.
Robert und Donna wechselten rasch einen erstaunten Blick.
»Nun denn,« sagte Herr von Borowetz, »so handelt es sich nunmehr um das Jawort. Geben Sie es?«
Donna antwortete statt der Befragten:
»Als ob man so ein entscheidendes Wort augenblicklich geben könnte … Da bittet man sich doch wenigstens vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit aus.«
Das Gesicht des Obersten verfinsterte sich wieder, und mit etwas gezwungenem Lachen fügte Dorina schnell hinzu: »Nach den vierundzwanzig Stunden wird dann freilich Ja gesagt … Das Mädchen ist ja mindestens ebenso verliebt wie der Jüngling, nicht wahr, Eva? .. Schon seit jenen Fensterparaden ist Dein Herz dem schmucken Reiter zugeflogen, wie? … Auf, Graf Siebeck, seien Sie nicht schüchtern – holen Sie sich Ihren Bescheid, indem Sie das Bräutchen umarmen.«
Robert that, wie ihm befohlen. Er trat auf die bebend dastehende Eva zu, legte seinen Arm um ihre Schulter und küßte sie auf die Stirn.
Eva taumelte zurück und warf sich an Donnas Brust, in krampfhaftes Weinen ausbrechend.
»Das sind die Nerven,« sagte die junge Frau. »Es wird nichts sein … sie muß nur ein wenig Ruhe haben. – Thun Sie mir den Gefallen, Graf Siebeck, gehen Sie jetzt fort und kommen Sie erst morgen wieder.«
»Ja,« stimmte der Oberst bei, »das wird das Beste sein – lassen wir die Weiber allein.«
Siebeck ließ sich das nicht zweimal sagen, und nach einem letzten einverständlichen Blick auf Dorina ging er mit seinem Obersten aus dem Zimmer hinaus.
Als Eva am nächsten Morgen erwachte, konnte sie ihre Lage nicht gleich fassen: Braut … Würde dieses an ihrem Horizont wie eine Fata Morgana aufgestiegene Bild nicht auch wie eine solche wieder verschwinden? …
Sie saß an ihrem Putztisch, ihr langes blondes Haar kämmend und dabei an die gestrigen bedeutungsvollen Auftritte denkend, als Dorina hereinkam.
Eva erschrak über den bittern, verbissenen Ausdruck, der in ihrer Freundin Gesicht lag, und den sie bisher nie an ihr gesehen. Gewiß kam sie mit einer bösen Nachricht: vielleicht, daß Robert abgereist sei … daß er sein Wort zurücknehme – —
Indessen, diese Befürchtung erwies sich als unbegründet, denn Dorinas erste Worte waren:
»Fröhlichen guten Morgen, künftige Gräfin Siebeck!«
Sie warf sich in einen in der Nähe des Putztisches stehenden Lehnsessel, und ihr Gesicht in freundliche Falten legend hub sie an:
»Ich gratulire Dir nochmals. Du machst ein riesiges Glück. Siebeck ist einziger Sohn, und die Herrschaft Großstetten, die er von seinem Vater erben wird, ist eine halbe Million werth … Auf so eine Partie hast Du eigentlich niemals rechnen können – so etwas Glänzendes wäre Dir kaum beschieden gewesen – auch wenn Dich Deine Tante Rosa in die Welt geführt hätte … Du antwortest nicht?«
»Von dieser Seite hatte ich meine Schicksalswendung noch gar nicht betrachtet. Was mich erschüttert, was mich beglückt, ist das Bewußtsein seiner – meiner Liebe…«
»Nun, gar so sentimental mußt Du das Ding nicht auffassen, meine liebe Eva. Ich sagte Dir schon öfters: das Leben ist anders, als es in den Büchern steht. Du darfst Dir nicht vorstellen, daß der junge Herr gar so närrisch in Dich verliebt ist und Dir in schwärmerischer Weise vorzirpen wird. Graf Siebeck ist sogar ein recht trockener Mensch.«
»Er? Mit diesem dichterischen Sinn?«
»Was Du nur immer mit dem Dichten hast! Nein – die Sache ist sehr einfach: Du bist hübsch, von guter Familie, gefällst ihm; kurz es paßt Alles ganz vortrefflich. Ganz vortrefflich,« wiederholte sie zwischen den Zähnen.
»Was hast Du nur? Du scheinst mir böse?«
»Böse – ich? o nein – es geht ja alles nach meinem Wunsch. Ja, nach meinem Wunsch, Eva, merke Dir das: ich habe diese Heirath eigentlich zu Stande gebracht. Doch, was ich Dir eigentlich sagen wollte: Du mußt heute Deine Halbtrauer ablegen und zum Speisen eine hübsche Toilette vorbereiten, denn heute wird eine neue Verlobung gefeiert … mein Mann besteht darauf … er hat das halbe Offizierkorps eingeladen und ein Dutzend Champagnerflaschen bestellt.« Sie stand auf. »Jetzt gehe ich. Ich habe viel zu thun – muß Anstalten treffen, daß das Mittagessen des großartigen Anlasses würdig werde.«
»Bleibe doch noch! Ich habe Dich so viel zu fragen.«
»Kann nicht – keine Zeit.«
»Und nicht einmal einen Morgenkuß hast Du mir gegeben?«
»Bald wirst Du genug geküßt werden. Also sorge für Deine Toilette – Adieu!« Und fort war sie.
Eva verbrachte den Vormittag damit, ein weißes Seidenkleid, das sie schon zwei Jahre besaß, jedoch nur zwei oder drei Mal getragen hatte, durch gewisse Aenderungen der gegenwärtigen Mode anzupassen. Und während dieser Arbeit, die eine recht anregende und angenehme war, war sie fortwährend bemüht, die Sonderbarkeit und Erfreulichkeit ihrer neuen Lage zu begreifen, zu erfassen, nach allen Seiten hin zu beleuchten. Auch die zuletzt von Dorina gemachten Mittheilungen über die weltlichen Vortheile der bevorstehenden Heirath nahm sie mit in Betracht und mußte sich zugestehen, daß auch von dieser Seite das Leben ihr sehr heiter und verheißend winkte: – Gräfin Siebeck … Es war ein schöner Name; und einst Herrin einer Besitzung, die fünfmalhunderttausend Gulden werth war – mit anderen Worten also: nie mehr Geldkummer und Entbehrungen leiden, wie solche ihre Jugendjahre so oft verbittert hatten, sondern, im Gegentheil, von Glanz und Komfort umgeben sein … eine große Bücherei sich anschaffen können – einen Konzertflügel – Toiletten in Hülle und Fülle – da brauchte sie nicht mehr zwei Jahre alte Kleider, wie dieses hier, mühselig aufzufrischen; – in der Gesellschaft eine Rolle spielen – Reisen machen können – kurz eine reiche, angesehene große Dame sein: diese Zugabe war nicht übel. Denn dies Alles war ja nur Zugabe. Die Hauptsache, die Grundlage ihres Glückes war doch dies: »liebend und geliebt«.
Als sie gegen fünf Uhr – die anberaumte Speisestunde – in den Salon trat, reizend schön in ihrem herzförmig ausgeschnittenen weißen Kleide, waren die Gäste schon versammelt. Einige Stabsoffiziere mit ihren Frauen und ein halbes Dutzend Ober– und Unterlieutenants, darunter auch Robert Graf Siebeck. Derselbe stand neben der Hausfrau, scheinbar in angelegentliches Gespräch vertieft.
Dorina hatte sich gleichfalls schön gemacht. Sie trug eine granatrothe Toilette, welche ihre schwarzäugige, lebhaft südliche Physiognomie besonders vortheilhaft zur Geltung brachte.
»Ah, endlich da, Eva!« rief sie, die Eintretende erblickend. »Du hast auf Dich warten lassen. Es gab hier Jemand, der schon sehr ungeduldig war.«
Wenn unter diesem »Jemand« Graf Siebeck gemeint war, so sah man ihm diese Regung wahrlich nicht an. Er näherte sich dem jungen Mädchen mit ein paar langsamen Schritten und grüßte mit steifer Förmlichkeit.
Eva hatte ihre Hand hinstrecken wollen, doch ließ sie dieselbe auf halbem Wege wieder sinken und erwiderte verlegen Siebecks Gruß.
»Ich – hoffe, Sie sind – heute – ganz wohl?« sagte er gedehnt.
»Ganz wohl, ich danke. – Und Sie?«
»Ich auch.«
Längeres Schweigen.
»Ein fades Nest, das Krems, nicht wahr?« nahm er die Unterhaltung wieder auf.
»Ich finde nicht.«
Neues Schweigen.
Nach einer Weile macht er wieder einen Versuch:
»Können Sie Schlittschuh laufen?«
Hier ward das Gespräch der Liebenden unterbrochen, indem der Diener meldete, daß das Essen aufgetragen sei.
Da trat Oberst von Borowetz hervor und sprach:
»Meine Herrschaften, erlauben Sie mir, ehe wir zu Tische gehen, Ihnen eine Mitteilung zu machen.«
Allgemeine Stille.
»Ich habe Sie bei mir versammelt, um ein freudiges Ereigniß zu feiern, von welchem ich hiemit gebührende Anzeige erstatte – die Verlobung der Baronesse Eva von Holten, der besten Freundin meiner Frau, mit Robert Grafen Siebeck, dem jüngsten Lieutenant meines Regiments.«
Es erfolgte das übliche Glückwünschen, Händeschütteln und Komplimentiren. Eva fühlte sich von der Wichtigkeit und Feierlichkeit des Augenblicks eigenthümlich erschüttert und gehoben. Jetzt stand sie wirklich an der Schwelle einer neuen Zukunft, eines ganz veränderten Lebens… Ob der schüchterne Geliebte, der nun seinerseits die Glückwünsche seiner Kameraden entgegennahm, von gleichen Hochgefühlen erfüllt war? Daß er tief und poetisch zu empfinden vermochte, das bewiesen ja – trotz der scheinbaren Nüchternheit seines Wesens – die in ihren Händen befindlichen Gedichte.
Natürlich war es ihr Bräutigam, der Eva zur Tafel führte, und der daselbst zu ihrer Linken Platz nahm. Als ein besonders angenehmer und aufmerksamer Nachbar erwies er sich gerade nicht. Denn statt sich ausschließlich oder doch vorzüglich mit seiner Verlobten zu unterhalten, sprach er fast die ganze Zeit mit zwei gegenüber sitzenden Offizieren, welche verschiedene Jagderlebnisse zum Besten gaben, und denen er seinerseits Einzelheiten von den Großstettener Jagden erzählte. Dies interessirte Eva nur insofern, als der Name Großstetten ja der Name ihres künftigen Heims war.
Als der Champagner eingeschänkt wurde, ward selbstverständlich das Wohl des Brautpaares ausgebracht. Alle standen von ihren Sitzen auf und kamen zu Eva‘s Platze, um mit derselben anzustoßen. Auch Robert hob sein Glas und stieß es an das ihre; aber das warme Wort, das sie wenigstens jetzt zu hören erwartete, kam wieder nicht. Nun freilich, unter diesen vielen, sie von allen Seiten umdrängenden Leuten, da war ein Herzenserguß nicht leicht möglich. Das würde in den nächsten Tagen anders werden. Freudig bewegten Herzens dachte Eva an die in Bälde bevorstehende Stunde, wo ihr Bräutigam endlich Muth und Muße finden werde, mit ihr von dem holden Liebesroman zu sprechen, der sich seit sechs Wochen zwischen ihnen abgespielt und jetzt zu einem so glücklichen Abschluß gelangt war. Sie selber war ungeduldig, ihm zu erzählen, mit was für Gefühlen sie seine Huldigungen aufgenommen, welchen Eindruck sein Vorüberreiten und namentlich seine poetischen Blumenspenden auf sie gemacht, und mit welchem Kummer das Ausbleiben dieser Liebeszeichen sie erfüllt hatte. Würde sie ihm auch gestehen, daß sie schon halb entschlossen war, sich zu Tode zu kränken? Nein – das wollte sie erst nach der Heirath beichten. Er würde ihr dann wohl Vorwürfe machen, je an ihm gezweifelt zu haben; hatte er ihr es denn nicht schwarz auf weiß geben: »Ich harre aus?«
Beim Nachtisch mußte Eva jedoch erfahren, daß die nächste Zeit keine Gelegenheit zu vertraulichem Gefühls– und Gedankenaustausch mit dem Bräutigam bieten werde, denn am folgenden Tage mußte er fort von Krems, um in einem anderen Kronland die Übungen mitzumachen. Bei der Gelegenheit wurde es dem jungen Mädchen weh ums Herz hart.
Nachdem die Tafel aufgehoben, begab man sich in den Salon; Eva natürlich wieder von Siebeck geführt. Auf diesem kurzen Wege preßte er ihren Arm fest an sich und flüsterte ihr zu:
»Wie hübsch – aber wie hübsch Du bist, Eva!«
Diese Worte entsprachen zwar nicht dem, was sie zu hören gewünscht, dennoch war der ganze Eindruck ein eigentümlich betäubender: Die zum Kopf steigende Gluth des Champagnerweins, dieser zärtliche, besitznehmende Armdruck, das erste »Du«, die vor ihr liegende, so neuartige glanzvolle Zukunft: das Alles versetzte sie in eine bisher ungekannte Stimmung; ein zugleich physisch und seelisch verstärktes Lebensgefühl, ein Gehobenwerden auf warmen, schaukelnden Freudenwogen.
Im Laufe des Abends aber verlor sich diese Ekstase und machte einem gewissen Unbefriedigtsein Platz. Der Siebeck – der Vorbeireitende, der Blumensender, – für den sie die Zeit über geschwärmt – der konnte sich in dem leibhaftigen Verlobten so gar nicht recht wiederfinden lassen. Zwar hatte er sich, – während die Anderen um die Spieltische Platz nahmen – neben sie gesetzt und ein Gespräch begonnen, aber mit einer so gedehnten, beinahe gelangweilten Stimme von gleichgiltigen Dingen gesprochen, daß ihr dabei im Innern ganz kalt wurde. Uebrigens waren stets andere Leute in der Nähe, so daß es auch beim besten Willen nicht gut möglich gewesen wäre, von Liebe zu reden; – und war Niemand anders da, so kam Dorina zu ihnen und mischte sich in ihr Gespräch. Eva konnte sich nicht erwehren, dieses Gebahren ihrer Freundin etwas ungeschickt zu finden.
Gegen zehn Uhr stand Siebeck auf, um zu gehen. Eva versuchte nicht, ihn zurückzuhalten; sie fühlte sich so müde und abgespannt, daß sie sich nach Ruhe sehnte.
Der Oberst forderte den jungen Mann laut auf, er möge seine Braut zum Abschiede umarmen. Der Abmarsch finde ja morgen früh um sechs statt, also würde er sie vor der mehrwöchentlichen Trennung nicht mehr sehen.
Die kommandirte Umarmung fiel ziemlich kalt und steif aus.
Nachdem er allen Anwesenden gute Nacht gesagt, ging Siebeck in das anstoßende, offenstehende Speisezimmer, um sich von der Hausfrau – die dort an der Thee-Urne beschäftigt war – zu verabschieden. Er verneigte sich ehrerbietig, und sie schüttelte ihm mit höflicher Kopfneigung die Hand. Was sie dabei sprachen, konnte Niemand hören; es sah jedenfalls ganz förmlich aus, etwa als hätte er ihr gesagt: »Ich empfehle mich Ihnen, gnädige Frau und drücke meinen Dank aus für das Glück, das ich in Gestalt Evas in Ihrem Hause gefunden« – und als hätte sie erwidert: »Adieu, Graf Siebeck – gehaben Sie sich wohl und lassen Sie Ihre Braut nicht zu lange auf Nachricht warten.« Indessen war das Zwiegespräch ganz anders geartet.
»Leb wohl, Dorina. Deine Lebensrettung ist also vollständig gelungen, das Mittel war freilich etwas energisch – aber es gab wohl kein anderes.«
»Nein, es gab kein anderes – er hätte mich getödtet. Doch ich glaube, Du bist recht zufrieden mit dieser Wendung. Du verliebst Dich in diese junge Person —«
»Ich hab‘ mich mein Lebenlang in keinen Backfisch verliebt – nicht mein Genre – auf Wiedersehen!«
V
Am folgenden Tage schrieb Eva ihrer Tante Rosa, um derselben ihre Verlobung anzuzeigen. Es war ihr immerhin eine angenehme Genugthuung, dieser hochmüthigen Verwandten, welche sie stets ein wenig von oben herab behandelt hatte, mittheilen zu können, daß sie nun in Bälde eine gesellschaftliche Stellung einnehmen werde, welche sie über jedes »Protegirtwerden« erhöbe. Auf die Antwort der Tante war sie sehr gespannt; noch gespannter auf die Briefe ihres Bräutigams. Mit der Feder in der Hand würde er wohl das Feuer und die Innigkeit wiederfinden, welche er in seine Gedichte zu legen verstanden, und die er in seinem persönlichen Auftreten so sehr vermissen ließ.
Aber diese ersehnten Briefe kamen nicht. Am zweiten Tage nach seiner Abfahrt lief ein Telegramm ein des Inhalts:
»Kleiner Unfall. Rechte Hand verletzt. Nichts von Bedeutung, nur schreiben unmöglich. Wetter miserabel. Herzliche Grüße. Robert.«
Auch von Tante Rosa langte kein Antwortschreiben an, wohl aber kam dieselbe in eigener Person nach Krems gefahren.
»Liebes Herz – ich hole Dich ab, Du kommst zu mir! Das war ja stets der Wunsch Deiner verstorbenen Eltern – und auch der meine. Du wirst von meinem Hause aus fortheirathen – aus dem Hause Deiner Tante, das ist doch viel schicklicher und passender als hier, bei fremden Leuten. Ich werde mir auch ein Vergnügen daraus machen, Dir ein hübsches Trousseau mitzugeben – es soll nicht heißen, daß meine Nichte Eva Holten wie eine verlassene Kirchenmaus in der Welt gestanden hat. Ich kenne die Großmutter Deines Bräutigams sehr gut. Ich habe sie an dem Tage besucht, wo ich Deinen Brief bekommen, und sie war gleichzeitig durch ihren Enkel benachrichtigt worden, – sie ist mit der Partie ganz einverstanden. Es ist schon lange der Wunsch vom alten Siebeck – d. h. alt ist er nicht – ich meine von Siebeck senior, – daß der Junge quittire, und die Großmutter wünschte, daß er heirathe. Da nun seine Wahl auf ein makelloses Fräulein aus gutem Hause gefallen ist (Du weißt, die jungen Herren heirathen jetzt alle Augenblicke Mädeln vom Theater), so freute sich der alte Siebeck sehr. Was den Papa betrifft, so ist der jetzt auf einer Reise irgendwo in Asien – aber das thut nichts; er hat für den Fall einer anständigen Partie seine Einwilligung schon anticipando gegeben. Du kommst also mit mir, heute noch. Packe Deine sieben Sachen zusammen, bedanke Dich bei der Oberstin für die genossene Gastfreundschaft … weißt Du, ich hätte Dich schon früher zu mir genommen – wenn die Reise ins Seebad nicht gewesen wäre – aber siehst Du, hier hast Du diese gute Partie gefunden, das war so bestimmt.«
Eva war mit dem Vorschlag ganz einverstanden. Aus dem vornehmen Haus einer Verwandten in ihr neues Heim treten zu können, eine anständige Ausstattung mitzubekommen, in Wien als Braut des Grafen Siebeck in die Gesellschaft eingeführt zu werden: das Alles lächelte ihr zu. Herr und Frau von Borowetz – besonders Letztere – stimmten sehr bereitwillig bei und so reiste noch am selben Abend Gräfin Koloman mit ihrer Nichte von Krems nach Wien.
Unter den »sieben Sachen«, die das junge Mädchen mitgenommen, befand sich ein Kästchen, welches ihren größten Schatz barg, nämlich – neben einigen von ihrer Mutter hinterlassenen Schmuckstücken – die berühmten Gedichte: »Ich harre aus« und das gewisse, jetzt schon vertrocknete, aber noch immer duftende Kräutchen, das ihr aus der ersten anonymen Blumensendung gar so süße Dinge zugeweht.
Gräfin Rosa Koloman, die ziemlich reiche und kinderlose Witwe eines einflußreichen Ministers, nahm in der Wiener Gesellschaft eine sehr angesehene Stellung ein. Sie war es von Jugend auf gewohnt, in der sogenannten »Welt« zu glänzen, Bälle, Soireen und dergleichen mitzumachen, und da dies für eine alleinstehende Frau in den Fünfzigern nicht recht thunlich ist, so flankirte sie sich stets mit einer mutterlosen Schönheit. Man hatte ihr den Spitznamen die General-Ballmutter gegeben. Die Aussicht, in ihrem Hause nächstens eine glänzende Hochzeit zu veranstalten, war ihr eine ganz willkommene.
Eva war von Wien entzückt. Sie war nur kurze Zeit – als Kind – in der Hauptstadt gewesen und hatte stets die Sehnsucht gehegt, wieder dahin zurückzukommen. Jetzt war dieser Wunsch erfüllt und unter so glänzenden Umständen dazu. Ihre Tante bewohnte einen schön eingerichteten zweiten Stock eines Ringstraßenpalais, hatte Equipage, Viertelloge in der Oper und Viertelloge in der Burg; gab allwöchentlich ein kleines Diner, empfing und machte viele Besuche, dies alles in Begleitung ihrer lieben Nichte Eva, der Braut des Grafen Siebeck von Großstetten.
Der erste Besuch ward bei Roberts Großmutter abgestattet. Dieselbe empfing das junge Mädchen mit wohlwollender Freundlichkeit. Eine Enkelin der alten Gräfin Siebeck – Kind ihrer, verstorbenen Tochter – Irene v. Clarezay, schloß sich der künftigen Cousine mit übersprudelnder Liebenswürdigkeit an und erbat sich sofort die Auszeichnung, bei der bevorstehenden Hochzeit Brautjungferamt zu bekleiden.
Schon am Tage nach ihrer Ankunft begann Gräfin Koloman, ihre Nichte in allerlei Mode– und Wäschehandlungen zu führen, um die Ausstattungsberathungen und -Bestellungen vorzunehmen. Der jungen Braut wurden die verschiedensten Stoffe, Muster und Zeichnungen vorgelegt, und was ihr vor Allem den lebhaftesten Eindruck machte, waren die zur Auswahl gebotenen Monogramme. Die verschlungenen E und S mit Grafenkrone: das war ihr wie ein Symbol ihrer neuen Geschicke. Der Anfangsbuchstabe ihres Namens verschlungen mit dem Namenszeichen desjenigen, mit dem ihre ganze Zukunft vereint sein sollte – Herz und Seele und liebende Arme verschlungen unter einer stolzen Krone: gerade so wie diese Linien.
Das waren nun freilich recht angenehme Dinge, der Aufenthalt in dem schönen Heim der Tante, die freundliche Aufnahme von Seiten der künftigen Verwandten, die Trousseau-Vorbereitungen; aber bei alledem mußte Eva Eins schmerzlich vermissen: nämlich Liebeszeichen von ihrem Bräutigam. Die trockenen Drahtnachrichten, welche er ihr von Zeit zu Zeit schickte: »Ich bin wohl. Gestern ziemlich stark abgehetzt bei dreistündiger Attacke; Erzherzog Albrecht unsere Truppen belobt« und dergleichen mehr, das war für ein liebedürstendes Gemüth wahrlich keine Labung. Immer wieder die alten Gedichte durchlesen, immer wieder an dem dürren Kräutchen riechen – solche Vergangenheitsschwärmerei konnte für die Mängel der Gegenwart auch keinen genügenden Ersatz bieten.
Nach einigen Wochen langte ihres Verlobten erster Brief an. Die rechte Hand war angeblich so weit hergestellt, um ein paar Zeilen – ja nicht anstrengend viel – schreiben zu können. Der Brief war nicht viel länger und nicht viel herzlicher abgefaßt, als die Telegramme. Was aber dessen erschreckendste Eigenschaft war: die Schrift bot nicht die geringste Aehnlichkeit mit den so liebgewordenen Zügen von »Ich harre aus«. Mit der gleichen Post erhielt Eva auch Nachricht von Dorina. Dieselbe berichtete allerlei Stadtklatsch: und unter Anderem erzählte sie Folgendes: »Du hast hier, ohne es zu wissen, großes Unheil angerichtet, meine liebe Eva. Stelle Dir vor: neulich haben sie einen Jungen aus dem Wasser gezogen, der aus unglücklicher Liebe den Tod gesucht und zwar, wie es sich herausstellte, aus unglücklicher Liebe zu Dir. Aber sei beruhigt, sie haben ihm rechtzeitig die Lebensluft wieder eingepumpt, und er ist außer Gefahr. Es ist der achtzehnjährige Kommis der hiesigen Buch– und Papierhandlung. Bei Deinen einschlägigen Einkäufen hast Du es ihm angethan. Er gestand, daß er die Nachricht von der Verlobung der schönen Baronesse Holten nicht habe überleben wollen. Jetzt sei er aber entschlossen, sich diese Leidenschaft aus dem Kopfe zu schlagen. Und zur Bekräftigung dieses Entschlusses warf er ein zehn Strophen langes Gedicht ins Feuer, welches bestimmt war, Dir nach seinem Tode zugeschickt zu werden.«
Hätte der arme Junge gesehen, wie bitterlich die schöne Baronesse geweint, nachdem sie von seinem Schicksal erfahren, er hätte glauben müssen, sie sei bis zu Gegenliebe gerührt.
Indessen, ihr Schmerz galt nicht dem schwärmerischen Buchhändlergehilfen, dessen Physiognomie sie nicht einmal im Gedächtniß behalten; ihr Schmerz galt einem grausamen Verlust, den sie eben erlitten, dem Verlust ihres ganzen schönen Liebesromans! – So besaß denn ihr Bräutigam nicht den strebenden, idealen Sinn, den sie ihm zugemuthet; so war er für sie niemals von den innigen Gefühlen durchglüht gewesen, die aus jenen zwar mangelhaften, aber immerhin poetischen Ergüssen sprachen. Was konnte sie nunmehr noch an ihm lieben? Hatte sie nicht, seit sie ihn persönlich kennen gelernt, durch sein Auftreten sich eher unsympathisch berührt gefunden und nur durch den Gedanken an seine Gedichte ihr Verliebtsein gerechtfertigt? … Es war nun, als sei ihr plötzlich etwas im Herzen gestorben; sie fühlte sich wie beraubt, verarmt, verwaist. Eine Stimme in ihrem Gewissen mahnte sie, daß diese Verlobung sofort rückgängig zu machen wäre; daß – nachdem derjenige, dem sie eigentlich ihr Herz geschenkt, gar nicht mehr existirte, eine zerflatterte Traumgestalt war – daß sie nunmehr auf dem Punkte stand, eine Ehe ohne Liebe einzugehen, ein Ding, das ihr seit jeher als das schlimmste Verbrechen erschien, dessen sich ein Mädchen schuldig machen kann.
Aber diese Gewissensmahnung hatte nicht die Kraft, bis zum Entschlusse heranzureifen. Ihr Wort jetzt zurücknehmen? Wie war das möglich? Unter welchem Vorwande? Weil sie sich eingebildet, daß die Gedichte eines achtzehnjährigen Handlungslehrlings von dem Grafen Siebeck herrührten? Das war doch kein vernünftig klingender Grund? … Und wie konnte sie der Tante Rosa, der alten Gräfin Siebeck, der künftigen Brautjungfer Irene, wie der ganzen Gesellschaft gegenüber einen solchen Schritt rechtfertigen? Und ihm selber – Robert – gegenüber?! Wenn er die Gedichte, die recht schwachen Gedichte, das erkannte sie jetzt noch deutlicher, daß es gar mittelmäßige Reime waren – wenn er diese auch nicht gemacht, liebte er sie darum weniger? Hatte er von seiner Liebe nicht den schlagendsten Beweis gegeben, indem er sie zur Frau gewählt, sie, die kein Vermögen und keine Stellung hatte?
Vermögen und Stellung … das kam auch mit in Betracht. Der Roman war verschwunden – die »Partie« blieb. Ein Glücksfall, um den sie tausend Andere beneidet hätten, war es immerhin, daß ihr fortan eine so sorgenfreie, glänzende Zukunft gesichert war. Das Leben – das hatte Dorina ganz recht – ist nicht so, wie in den Novellen und Theaterstücken; von der Wirklichkeit darf man vermuthlich keine so abgerundeten, nach allen Richtungen hin befriedigenden Umstände erwarten, wie solche in den Dichterphantasien zurechtgelegt werden:
Alle diese Erwägungen bewirkten, daß Eva ihre erste Idee: zurückzutreten – wieder fallen ließ. Nur des Nachts geschah es öfters, daß sie geängstigt aufwachte, und daß jene Idee – immer dieselbe: Tritt zurück, Du stürzest Dich ins Unglück – ihr das Herz beklemmte. Die bei Tage erwogenen Vernunftgründe von guter Partie, von zu vermeidendem Aufsehen u. s. w. schrumpften da alle in nichts zusammen. Das dauerte aber nur den Zeitraum weniger Sekunden – dann schlief sie wieder ein, und am Morgen fühlte sie sich von Neuem als Braut – als glückliche Braut sogar.
Robert war nunmehr nach Wien gekommen, um anläßlich seiner Quittirung Schritte zu thun. Seine Anwesenheit dauerte jedoch nur wenige Tage; bis zur Erledigung seines Gesuches mußte er noch in der Garnisonstadt bleiben.
Während dieses kurzen Aufenthaltes fanden dem Brautpaare zu Ehren mehrere große Soireén statt; eine bei Roberts Großmutter, eine andere bei Evas Tante; und bei dieser Gelegenheit zeigte sich Robert lebhafter und liebenswürdiger, als er sich im Hause Borowetz gegeben. So manche bewunderungsglühende Blicke aus seinen Augen, so mancher zärtliche Ton seiner Stimme machten das junge Mädchen erbeben und weckten die todtgeglaubten Gefühle wieder auf; die Gedichte und trocknen Blumen des unglücklichen Kremser Jünglings waren längst ins Feuer geworfen worden, und an ihre Stelle wurde nun Roberts Photographie in das Schatzkästlein gelegt. Daß er nichts von Liebe sprach, daß er im Lauf ihrer Unterhaltungen weder ein herzliches noch ein geistvolles Wort gefunden, das legte Eva auf Rechnung seiner »Schüchternheit«. Wenn sie nur einmal Mann und Weib waren, auf ewig vereint, darauf angewiesen, in einander ihr Lebensglück zu finden, dann würde der richtige Einklang sich schon herstellen …
Zu Faschingsende brachten die Wiener Blätter folgende Notiz:
(Aristokratische Trauung.) Gestern um 11 Uhr Vormittags fand in der Votivkirche die Trauung des Grafen Robert Siebeck, k. k. Lieutenants a. D., Sohn des gegenwärtig in Indien weilenden Grafen Ralph Siebeck, mit Baronesse Eva von Holten statt. Den Trauungsakt vollzog der Weihbischof Dr. Angerer. Zahlreiche Mitglieder der Aristokratie wohnten der Ceremonie bei. Nach einem in der Wohnung der Gräfin Koloman eingenommenen Dejeuner trat das junge Paar die Hochzeitsreise nach dem Süden an.
Ja, das Leben – immer deutlicher sah Eva ein, wie sehr Dorina Recht gehabt, – das Leben war doch ganz, ganz anders in der Wirklichkeit als in der Vorstellung.
Die neuen Eindrücke, die von dem Augenblicke an, da sie – die Trägerin eines neuen Namens, die Hüterin neuer Pflichten – den Traualtar verlassen, auf die junge Frau einstürmten, waren so gewaltig und verwirrend, daß ihr alles Umgebende und Geschehene wie unwirklich erschien. Dazu die Reise … ihre erste große Reise, in das fremde Land, mit dem fremden Mann, der doch zugleich ihr Mann, ihr Geliebter, ihr Lebensgenosse war – wie sollte sie das begreifen und erfassen?
Am wenigsten konnte sie aus Robert selber klug werden. War er liebend oder kalt? War er liebenswerth oder – das Gegentheil? Er war in seinem Wesen eben sehr verschieden. In manchen Stunden zärtlich und feurig, in andern wieder von langweiligster Gleichgültigkeit. Nicht nur gleichgiltig gegen sie, sondern gegen die ganze Außenwelt. Nichts von all den landschaftlichen und künstlerischen Schönheiten, die ihnen auf Schritt und Tritt begegneten, flößte ihm Begeisterung ein. Er machte sämmtliche, von den Reisehandbüchern angegebenen Besichtigungen und Ausflüge nur so gewissermaßen pflichtmäßig ab und fand daher viel mehr über Müdigkeit und »Fadigkeit« zu klagen, als er zu bewundern fand.
So wurden Venedig, Florenz, Rom und Neapel absolvirt. In Rom nahm das junge Paar längeren Aufenthalt. Robert hatte eine Empfehlung an den Gesandten mitgebracht, und dieser führte Graf und Gräfin Siebeck in die Gesellschaft ein. Da gab es täglich Einladungen zu Bällen und Routs, und Maskenfesten und Monte-Pincio-Fahrten, so daß die Gatten tagsüber nunmehr selten mit einander allein waren; und waren sie es, so zeigte sich Robert immer sehr wortkarg. Mitunter auch unangenehm, brummig, rechthaberisch, auffahrend. Das war aber nur zwei oder drei Mal vorgekommen. So kleine Anfälle übler Laune hat wohl jeder Mann, sagte sich Eva, ich werde es gewöhnen.
Nach den Osterfesten verließen sie Rom und traten ihre Rückreise über die Schweiz an. Hier ging es noch sechs Wochen hindurch bergauf, bergab; jedoch nicht im tête-à-tête, denn Robert hatte ein paar Landsleute ausfindig gemacht, die sich ihnen anschlossen und sämmtliche Ausflüge mitmachten.
Anfangs Juni hieß es, nach Großstetten heimkehren. Graf Siebeck war von seiner Indienreise zurück und wünschte die Schwiegertochter kennen zu lernen. Robert sollte jetzt anfangen, sich auf seinen künftigen Beruf als Gutsbesitzer vorzubereiten, und zu diesem Zwecke auf dem väterlichen Besitze so zu sagen als Praktikant amtiren.
Wie ein Traum – so unklar, so flüchtig und so angefüllt mit verschwommenen Bildern – lag die Hochzeitsreise hinter ihr, als Eva in Großstetten angefahren kam. Nur so viel war ihr klar geworden: »das Leben ist ganz anders« – ganz anders!
VI
Noch immer am Tage der Ankunft des jungen Paares in Großstetten.
Die Kammerjungfer trat ungerufen in Evas Sitzzimmer.
»Frau Gräfin, es wäre Zeit zum Toilettenmachen – in einer halben Stunde wird gespeist.«
Eva fuhr aus ihren Träumereien empor. Sie hatte die ganze Zeit beim offenen Fenster gesessen, die Blicke nach dem Park gerichtet, die Gedanken mit allerlei Vergangenheits– und Zukunftsbildern beschäftigt. Alle die vorhin erzählten Begebenheiten hatte sie in ihrem Gedächtniß vorbeiziehen lassen und sich die Frage daran geknüpft: »Was nun – was nun?« Denn jetzt erst stand sie eigentlich an der Schwelle ihres verheiratheten Lebens: sie war zu Hause. Die Hochzeitsreise war doch nur ein Interim gewesen, so zu sagen eine Vorrede – noch dazu eine ziemlich undeutlich abgefaßte Vorrede – zu dem Buche ihrer Zukunft. Im Grunde genommen konnte sie die nächste Zeit auch noch als eine Art von Interim betrachten, denn noch sollte sie ja nicht ihrem eigenen Haushalt vorstehen, sondern hier, sammt ihrem Mann – als Gast bleiben, bis Robert genug von der Wirtschaft erlernt hätte, um die selbstständige Verwaltung eines der Herrschaft Großstetten einverleibten Gutes zu übernehmen. Dieses Gut – Roßdorf mit Namen – sollte ihm dann als Eigenthum überlassen werden und dem jungen Paar als Aufenthalt dienen. Das darauf befindliche – seit Langem verwahrloste – Schlößchen mußte übrigens erst ganz her– und eingerichtet werden; eine Arbeit, deren Inangriffnahme für das kommende Frühjahr bestimmt worden war. Aber einerlei: wenn sie hier auch nicht des Hauses Herrin war, so war sie darum nicht minder daheim. Sie befand sich nunmehr im Kreise ihrer neuen Familie, und es lag ihr die Aufgabe ob, die Glieder dieser Familie liebzugewinnen und sich bei ihnen beliebt zu machen. Ersteres würde ihr nicht schwer fallen – ein paar liebenswürdigere Menschen als die alte Gräfin Siebeck und deren Sohn konnte man sich kaum vorstellen – wäre Robert nur halb so!
Bei diesen Gedanken war sie angekommen, als die Mahnung der Kammerjungfer sie herausriß. Sie stand auf:
»Schon, so spät?«
Jetzt steckte auch Irene den Kopf zur Thüre herein:
»Eva, mache Dich recht schön!« rief sie. »Wir haben Besuch bekommen, die Dürenbergs aus Dornegg … Natürlich bleiben sie zum Speisen, und da muß man Staat machen… Beeile Dich, ich muß, wieder fort, der Großmama helfen, mit den Gästen liebenswürdig zu sein.«
Nachdem Eva ihre Toilette beendet, ging sie zur Thüre von Roberts Zimmer. Sie wollte nicht allein hinaufgehen.
Sie klopfte. »Robert, bist Du da, und bist Du fertig?«
Als Antwort ertönte ein mächtiges Aahh, wie ein Gähnen im Löwenkäfig.
Da öffnete Eva die Thür. Robert erhob sich eben von seinem Sopha, hie Arme, streckend:
»Aahh«– gähnte er noch einmal, »die Landluft macht müde … ich hab‘ famos geschlafen… Wie spät ist‘s denn?«
»Gleich sechs —Du mußt dich anziehen.«
»Ah, warum nicht gar! Wozu wird man denn en famille solche Geschichten machen? Du hast, Dich auch viel zu sehr aufgedonnert… aber steht Dir gut, das weiße Spitzenkleid und die gelben Rosen… Bist doch ein hübsches Weiberl. Komm – laß Dir ein Bussel geben.«
»Keine Zeit – Du mußt Dich schnell anziehen. Dürenbergs sind da.«
»Was? Hol‘ sie der Kukuk! Gar zu dumm – am ersten Tag, wenn man nach Haus kommt, gleich solcher Ueberfall … Wer ist denn alles da – die Alten oder die Jungen?«
»Ich weiß nicht – ich habe niemand gesehen. Irene sagte mir nur: Dürenbergs aus Dornegg seien da – da heißt es Staat machen!«
»Natürlich – die größten Thiere aus der Gegend – nochmals: Hol sie der Kukuk! Geh voraus – sie läuten schon – ich komme in ein paar Minuten nach.«
»Ich werde warten; ich möchte lieber mit Dir zugleich—«
»Ach was, wir werden doch nicht Arm in Arm aufziehen sollen. Du weißt, ich kann solche Sachen nicht leiden. Geh nur.«
Den erbetenen Kuß hatte er wieder vergessen.
Eva gehorchte und begab sich, obwohl ihr dies einigermaßen peinlich war, allein in den Salon.
Hier fand sie – außer den Hausgenossen – drei fremde Personen, mit welchen sie jedoch gleich bekannt gemacht wurde:
Fürst Dürenberg – ein äußerst vornehm aussehender Herr von etwa 66 Jahren; die Fürstin, seine Frau, um acht Jahre jünger, mit Spuren großer Schönheit; Gräfin Liuba Dürenberg, geborene Gräfin Barenkow 28 Jahre, unregelmäßiges, aber pikantes Gesicht, schlanke, anmuthige Gestalt deren verwittwete Schwiegertochter.
Nachdem die Vorstellung vorüber, und einige Phrasen über die stattgehabte Italienreise, über die hiesige Gegend und dergleichen getauscht worden waren, fand Ralph Siebeck Gelegenheit, indem er mit seiner Schwiegertochter auf den Balkon hinaustrat, ihr über die Familie Dürenberg nähere Auskunft zu geben.
»Der alte Herr war ein Freund meines Vaters,« berichtete er. »Mich hat er als kleinen Buben gekannt und flößte mir damals große Furcht ein. Noch immer habe ich eine gewisse Scheu vor ihm, und nur selten nehme ich mir heraus, ihm zu widersprechen, obwohl alle seine Ansichten so grundverschieden von den meinen sind und er jede Gelegenheit wahrnimmt, dieselben herauszukehren. Er hält sich für unfehlbar. Natürlich ward er in dieser Meinung durch den Respekt bestärkt, der ihm allseitig gezeigt wird. Er ist ein gar großer Herr – weiß es, daß er es ist, und ist stolz darauf. Seine Besitzthümer erstrecken sich über viele Quadratmeilen und übertreffen an Größe so manches souveräne Fürstenthum. Erbliches Mitglied des Herrenhauses – also Mitlenker der österreichischen Geschicke; einstiger Minister – daher in politischen Dingen noch immer einflußreich; gern gesehen bei Hofe: Geheimer Rath, Devotionsritter des Malteser-Ordens, Oberst-Erblandmarschall in Krain und der Windischen Mark, Ritter des Ordens vom goldenen Vließ – mit regierenden Häusern verschwägert – was willst Du noch mehr? In seiner, Gesinnung von feudalster, klerikalster Richtung – aber das verstehst Du nicht … von Politik hast Du keine Ahnung, nicht wahr, Du Glückliche? Mir ist, als ob ich die Hände aufs Haupt Dir legen sollte und beten, daß Gott, Dich erhalte u. s. w. denn Politik ist schon das Allerlebensverbitterndste und Seelenverkleinerndste, was es giebt … Und, die Fürstin? Die war eine große Schönheit. Ganz Wien lag auf den Knien vor ihr. Führte großes Haus – Tonangeberin der Mode – hat sich ziemlich viel den Hof machen lassen. Du mußt wissen, wenn man einer unauffallenden, in bescheidenen Verhältnissen lebenden Frau einen Liebhaber nachweisen kann, so giebt das der Gesellschaft willkommenen Anlaß, ihre strengen Tugendgrundssätze zu betätigen und die Schuldige herauszuwerfen; sind aber die Liebschaften einer hochstehenden, »in der Mode seienden« Frau so mannigfaltig, daß sie sich gar nicht mehr aufzählen lassen, dann wird mit verständnißvoll-nachsichtigem Lächeln die Phrase in Umlauf gebracht, »die So und So läßt sich viel den Hof machen« – und das hat weiter nichts Ehrenrühriges an sich. Auch der Gatte erscheint in keinem schiefen Lichte. Einen beglückten Nebenbuhler müßte er allerdings umbringen – das forderte die »Welt« – aber Hekatomben? Dazu hat er nicht Zeit, zumal wenn er Minister und Reichsrath und Parteiführer und Besitzer großer Ländereien ist. Er vertritt die höchsten Staatsinteressen – sie amüsirt sich, es ist alles in der Ordnung. Nun – jetzt ist das vorbei; Fürstin Dürenberg hat weiße Haare, das Hofmachenlassen gehört der Vergangenheit an, und wer davon erzählt hat nicht das Bewußtsein »böse Zunge« zu sein – ich auch nicht in diesem Augenblick, sondern bekundet nur zeitgeschichtlichen Sinn. Und nun die Schwiegertochter – die interessante Liuba? Eine Russin. Dürenbergs ältester Sohn, Graf Hugo, welcher der Botschaft in Petersburg zugetheilt war, vermählte sich dort mit einem Ehrenfräulein der Zarin – der hier anwesenden Liuba Mikaelowna. Vor sechs Jahren ist Graf Hugo gestorben, und die junge Wittwe bringt alljährlich ein paar Monate bei ihren Schwiegereltern zu. Die übrige Zeit fliegt sie – in Begleitung einer alten russischen Verwandten – in Paris und Petersburg, Nizza und Livadia herum. Vergnügungssüchtig und romanhaft ist sie, höchst launenhaft; bald von schwarzer Melancholie, bald von ausgelassener Lustigkeit. Ein gutes Ding, im Grunde genommen; große Thierfreundin; besitzt unzählige Hunde und Pferde, mit welchen allen sie auf freundschaftlichem Fuße verkehrt; Menschenfreundin ist sie dabei auch – leidenschaftliche Krankenpflegerin; wo es etwas zu warten, zu mediziniren, zu verbinden giebt, da ist sie gleich zur Hand. Für jedes Elend hat sie Herz und Beutel offen. Sie ist auch Künstlerin in manchen, Stunden – nicht ausdauernd. Wenn sie der Raptus erfaßt, so macht sie sich ein oder zwei Wochen lang fieberhaft an die Arbeit und malt und meißelt ohne Rast – jedoch nur Thierstücke, Hunde und Pferde in allen erdenklichen Stellungen. Wenn Du nach Dornegg, kommst, wird sie Dich ihre Studien wohl sehen lassen. Sie ist nicht ohne Talent; nur haben alle ihre Hunde einen Gesichtsausdruck, so weise und nachdenklich, wie Minervas Eule, während ihre Pferde sämmtlich schalkhaft zu lächeln scheinen. Sie liest viel, aber ohne Auswahl – am liebsten französische Romane gewagten Inhalts, und wenn man ihr ein Buch empfiehlt, so fragt sie: »Ist Liebe drin?« Abergläubisch ist sie wie eine Steppenbäuerin; den heiligen Alexander Newsky betrachtet sie als ihren untrüglichen Schutzpatron; das hinderte aber nicht, daß sie in Paris den Umgang des Ketzers Renan aufsuchte und ganz entzückt ist von diesem »reizenden« Akademiker. Nicht viel Folge in den Ideen, mit einem Wort, aber sehr empfänglichen, lebhaften – nur zu lebhaften Geistes. Kein so ruhiges, klares, gleichgewichtiges Wesen, wie das Deine mir zu sein scheint, Evinka.«
Eva blickte dankend zu dem Sprecher auf, aber mit einem leisen verneinenden Kopfschütteln, – sie fühlte sich durchaus nicht so ruhig, so ins Gleichgewicht gebracht, wie Ralph ihr dies zutraute.
Dieser fuhr fort:
»Gräfin Liuba besitzt auch ein Kind – aber ihr Muttersinn ist nicht stark entwickelt. Ihr Knabe, der Dürenbergsche Majoratserbe, wurde von den Großeltern völlig in Beschlag genommen. Er ist das ganze Jahr bei ihnen. Für die reiseliebende Liuba ist diese Einrichtung viel bequemer. Uebrigens ist der kleine Sergei – er zählt jetzt neun Jahre – das schlimmste Kind, das man sich denken kann. Und häßlich und skrophulös, glaube ich – kurz, man kann sogar eine Mutter entschuldigen, ein solches Geschöpf nicht besonders lieb zu haben.«
»Mangel an Schönheit und Gesundheit würde mir ein Kind nur desto rührender und darum vielleicht um so theurer machen,« widersprach Eva, »und was das Schlimmsein anbelangt, so trägt vielleicht die Vernachlässigung von Seiten der Mutter die Schuld daran.«
»Du kannst Recht haben. Die Großeltern verderben den Kleinen. Sein Rang als künftiges Haupt des erlauchten Hauses flößt ihnen solchen Respekt ein, daß sie alle seine Unarten angehen lassen. Ach – überhaupt … wie wenig Leute haben von Erziehung einen Begriff! … Höchstens, daß sie ihre Kinder großziehen, aber erziehen? …«
Ein Gedanke flog Eva durch den Sinn: Hast Du Ro—« begann sie, aber bei dieser Silbe brach sie mit einem Hüsteln ab. Ralph hatte jedoch verstanden.
»Ob ich Deinen Mann erzogen? – Nein. Einfür allemal: nein. Doch auf Dürenberg zurückzukommen … Liubas Gatte war nicht der einzige Sohn. Es ist ein zweiter da. Du wirst ihn auch kennen lernen. Gegenwärtig ist er in Prag – doch im Herbst zur Jagdzeit, kommt er gewöhnlich auf ein paar Wochen nach Dornegg. Ein liebenswürdiger, verführerischer Mensch – ungeheures Glück bei Frauen …«
Die Flügelthüren zum Speisesaal wurden geöffnet, und die alte Gräfin Siebeck nahm des Fürsten Arm. Ralph mußte seine Schwiegertochter stehen lassen und sein Geleite der Fürstin anbieten, während die Ehre, Gräfin Liuba zu führen, dem mittlerweile hinzugekommenen Robert zufiel.
Irene schob Evas Arm unter den ihren.
»Komm‘ Du mit mir, Eva – wir wollen auch mit einander beim untern Tischende sitzen, nicht? Dort oben, wo die pompöse alte ministerielle Durchlaucht haust, geht es gar so steif und öde zu … da spricht man nur von innerer und äußerer Politik.«
Aber dieses Vorhaben ward vereitelt. Eva, als die eben erst heute in ihr neues Heim eingezogene Schwiegertochter, war noch ein viel zu gefeierter Gast, um an dem unteren Ende des Tisches Platz nehmen zu dürfen. Die Sitze waren schon zum Voraus bestimmt, und Eva wurde an die Seite des Fürsten gewiesen. Ralph, zwischen den beiden fremden Damen, saß Eva schräg gegenüber; an der anderen Seite Liubas befand sich Robert. Die junge Gräfin unterhielt sich viel angelegentlicher mit dem Vater als mit dem Sohne Siebeck. Einen Augenblick fuhr es durch Evas Sinn: »Wer weiß, ob diese Russin nicht deine Schwiegermutter werden wollte – werden wird? …« Aber, nein – die Art und Weise, wie Ralph von ihr gesprochen, deutete auf eine solche Möglichkeit nicht hin.
Das große Wort während der ganzen Mahlzeit führte Fürst Dürenberg; und wie Irene richtig vorhergesagt, zumeist über Politik. Anfänglich hatte er sich zwar Mühe gegeben, mit der Jungvermählten, an deren Seite er saß, eine Unterhaltung anzuknüpfen, und sie um Einzelheiten ihrer Italienreise ausgefragt; aber nachdem aus diesem Anlaß die Person des Papstes erwähnt worden, war der Uebergang zu dem Lieblingsthema geboten, und Fürst Dürenberg ließ diese Gelegenheit nicht vorübergehen, ohne seine Ansicht kundzugeben, daß die Wiederherstellung der weltlichen Macht des heiligen Stuhles ein dringendes Erforderniß der Zeit sei. Darauf hatte Ralph Siebeck einen leisen Widerspruch erhoben, und damit war das politische Gespräch in das schönste Fahrwasser gebracht.
Der alte Herr war päpstlicher als der Papst, kaiserlicher als der Kaiser. Er hätte dem Einen gern sein Territorium und dem Anderen seine absolute Macht zurückgegeben. Das Wort »zurück« bildete überhaupt den Schlüssel zu allen seinen politischen Idealen. Das Jahr 48 aus der österreichischen Geschichte streichen können, die Vorrechte des Adels, die Robote, die Zünfte, die militärische Prügelstrafe und dergleichen wieder hergestellt zu sehen, das hätte seinen Wünschen entsprochen. Er erinnerte sich noch der Zeit, da die Bewohner seiner zahlreichen Herrschaften seine »Unterthanen« waren, und den Verlust jenes »verherrlichen, sozusagen königlichen Bewußtseins beklagte er noch immer. Was die ganze Richtung seiner politischen Meinungen und Bestrebungen abgab, war ein intensives Standesgefühl – esprit de corps —, und von diesem Standpunkt aus war seine Verherrlichung der Vergangenheit, sein Trachten, wenigstens das zu erhalten und vor weiterer Zerstörung zu schützen, was aus der Vergangenheit noch vorhanden ist, – mit einem Wort, war sein reaktionärer Konservatismus ein berechtigter. Was aber der Berechtigung mangelte, das war die Annahme, daß in unseren Tagen die Politik noch das Feld sei, wo Jeder die Interessen seiner Kaste zu vertreten verpflichtet ist; wo jede Frage – ob religiös, ob wirthschaftlich, ob national – nur in Hinblick auf den größeren Ruhm und Glanz der eigenen Standesgenossen betrachtet und gelöst werden soll. Selbstverständlich vermied es Dürenberg, diese wahre Grundlage seiner Parteistellung Anderen – und vielleicht auch sich selber – einzugestehen; er gab vor, oder er glaubte sogar, indem er die alte Weltordnung vertheidigte, daß er die Interessen der Civilisation, das Allgemeinwohl, die sogenannten »höchsten Güter der Menschheit« vertrete. Die Leute waren ja alle viel zufriedener und wohlhabender ehedem; wie blühte das Handwerk zur Zeit der Innungen; wie anspruchslos und glücklich lebte der zehentzahlende Bauer auf seiner Scholle; wie viel andächtiger und züchtiger war die ganze Bürgerschaft und wie viel mächtiger und glänzender die Säulen der Gesellschaft: Adel, Kirche und Thron. Kurz, wenn man Dürenberg sprechen hörte, so war es, als sei er – im Gegensatz zu den Liberalen, die es nur auf Umsturz, Untergrabung und Aufwühlung abgesehen haben – zum Hüter des Weltwohls bestellt, als wäre sein ganzes Streben nur auf Abwehr der im Gegenlager entfesselten Vernichtungswuth gerichtet.
Die Widersprüche, welche Ralph erhob, waren mehr in leichtem und spöttischem Tone gehalten; er deklamirte nicht, er gebrauchte keine der üblichen Schlagworte. Zu seinen Aeußerungen hätte nicht – wie zu Dürenbergs Rhetorik – das Geberdenspiel von segnend ausgestreckten Händen oder drohend geballten Fäusten, sondern einfach ein leises Achselzucken gepaßt.
Eva gab sich keine Mühe, dem Gespräche – sobald es auf das politische Gebiet gelenkt worden war – weiter zu folgen; nur einzelne Worte schlugen ihr ans Ohr, und da mußte sie zugeben, daß Dürenberg. sehr vornehme und edle Dinge zu vertheidigen schien: Glauben, Pflichttreue, Achtung vor dem Gesetz, Genügsamkeit, Loyalität – kurz ein Haufen Tugenden. Doch wenn Ralph mit seinem seinen Lächeln ein paar kurze Gegenbemerkungen machte, dann schien es ihr wieder, als wäre der ganze Tugendgehalt aus dem hohlen Phrasengelüste weggeblasen.
Die Damen nahmen an der Diskussion nicht theil;, nur Fräulein Ottilie von Otterfeld – die ältliche Verwandte – schaltete hin und wieder zustimmende oder abweichende Phrasen ein, aber so wenig zu dem Vorhergesagten stimmend, so sinnentbehrend, daß Eva sie immer ganz überrascht ansah, sie habe falsch verstanden. Die Andern nahmen von Fräulein Ottiliens Aeußerungen keinerlei Notiz.
Einmal gab auch Robert seine Meinung ab. Da horchte Eva gespannt auf; das ging ihr doch zu nahe – zu hören, was ihr Mann über ernste Dinge dachte.
»Wenn ich Regierung wäre,« sagte er mit noch schleppenderem Ton als gewöhnlich, »ich ließe alle Raisonnirer krumm schließen und alle Zeitungen verbieten; das Gewäsch, welches von dem Oppositionsgesindel geredet und von den liberalen Preßjuden gedruckt wird, ist doch nur an der ganzen Schlamastik schuld … Disziplin muß sein – das hab‘ ich beim Regiment gelernt … Das wäre eine saubere Wirthschaft, wenn da über jeden Rockknopf und über jeden Pferdestriegel erst in den Kasernen parlamentirt würd‘ … herunterreißen die Plauschbude am Schottenring, das war das Allerbeste. Wenn die Radikalen —«
»Ach bitte, bitte, wechseln wir von Konversation,« unterbrach Liuba in ihrem eigenthümlichen, theils aus dem Russischen, theils dem Französischen übersetzten Deutsch – »wie langweilig! Ich liebe besser zu reden von schönem Wetter und von Regen, als von Parlamenten und Minister.«
»Sie haben Recht, liebe Gräfin,« stimmte die Hausfrau bei. »Politik sollen die Männer reden, wenn sie unter sich sind. Ich begreife es ganz gut, daß diese höchsten und wichtigsten Angelegenheiten für die Herren den beliebtesten Gesprächsstoff abgeben … aber, da Frauen nichts davon verstehen – sollte man füglich aus Rücksicht … und dann: das Politisiren artet fast immer in Streit aus … es giebt gar so verschiedene Ansichten, und Keiner überführt den Andern … Jede Meinung ist ja respektabel – im Grunde wollen doch alle nur das Beste … aber in unserer unvollkommenen Welt läßt sich das nicht erreichen.«
»Man muß daher trachten,« entgegnete Dürenberg, »die Welt vollkommener zu machen; und das kann nur durch Rückkehr zu den gesunden Prinzipien geschehen, durch Festigung der Religion, durch staatsgrundsätzlich gewährleistete —«
»Wahrhaftig,« sagte die Fürstin zu ihrem Mann. »Du könntest Deine parlamentarische Beredsamkeit für die nächste Sitzung sparen. Und um nun wirklich von etwas Anderem zu reden: Hören Sie, Robert ich muß Ihnen nochmals gratuliren. Die ganze Zeit schaue ich mir Ihre junge Frau an, die ist ja einfach ein kleines Prachtstück … O, Sie müssen nicht so erröthen, Emma – oder, wie heißen Sie – Eva? … und nehmen Sie mir nicht übel, daß ich Sie gleich bei Ihrem Taufnamen anrede, aber ich habe ja Ihren Mann gekannt, wie er ein Wickelkind und ein kleiner Bub war, ein recht schlimmer Bub. Und als alte Frau, die einmal selber schön gewesen – Sie sehen mir‘s vielleicht nicht an? – betrachte ich alle Schönheiten sofort als meine Adoptivtöchter; hoffentlich kommen Sie uns bald besuchen in Dornegg?«
Eva konnte nur sich lächelnd verneigen und danken.
Nach aufgehobener Tafel begab sich die Gesellschaft in den Garten. Von dem Plätzchen aus, wo man sich niederließ, um den schwarzen Kaffee zu trinken – ein von Blumenbeeten umgebenes offenes Zelt – sah man vor sich das Schloß und seitwärts, etwas entfernter, den Teich, aus dessen Mitte ein hoher Springbrunnen aufstieg. Auf der andern Seite, hinter dem eisernen Parkgitter, stand, schon zur Heimfahrt bereit, der Dürenbergsche Wagen. Der Widerschein der untergehenden Sonne brannte in den Spiegelfenstern der Schloß-Fassade, warf wechselnde Lichter auf den sprühenden Wasserstrahl und fing sich in beweglichen Funken auf den vergoldeten Spitzen der Gitterstäbe und dem Geschirr der dahinter sichtbaren Wagenpferde. Auf den glattgeschorenen Rasenflächen war so tiefes und so leuchtendes Grün ausgebreitet, daß Dr. Hartung, welcher Landschaftsmalerei betrieb, ausrief:
»Bitte, meine Herrschaften, sehen Sie diese Beleuchtung an … unmöglich, so etwas auf einem Bilde wiederzugeben, jeder Beschauer würde sagen: »Das ist zu stark aufgetragen.«
»Malen ist eine große Kunst,« bemerkte Fräulein Ottilie darauf, »ja, eine sehr große Kunst, Herr Doktor, da haben Sie ganz recht. Ich habe einen Onkel gehabt, der hat auch ein spinatgrünes Bild in seinem Zimmer hängen gehabt, aber malen kann nicht jeder Mensch.«
Ralph und Liuba lustwandelten neben einander in einiger Entfernung von dem Zelte. Eva hatte ihnen die ganze Zeit nachgeschaut. Jetzt kamen sie an den Rand des Teiches. Er bückte sich, um ein Boot von der Kette loszumachen. Dann reichte er Liuba die Hand und half ihr einsteigen. Auch das gab – da schon von Bildern die Rede gewesen – auch das gab ein hübsches Bild. Der hochgewachsene schlanke Mann, die zarte, von lichtem Sommerkleide umflossene Figur der Frau, die auf dem vorgestreckten Arm des Andern gestützt, vorsichtig den Fuß auf den Boden des Bootes setzt – beide sich abhebend von dem Grün einer großen, ihre Zweige in das Wasser tauchenden Trauerweide.
»Liuba, Liuba,« rief die Fürstin, indem sie aufstand. – »Es ist angespannt – komm.«
Aber die dort hörten nicht, oder wollten nicht hören. Liuba war schon in der Barke und setzte sich zurecht; Ralph stieß ab und begann zu rudern. Jetzt ging die ganze übrige Gesellschaft zu dem Teiche hin. Am Ufer angelangt, wiederholte die Fürstin ihren Mahnruf zum Aufbruch. Das Boot befand sich am andern Ende des Teiches; Ralph lenkte um, und nach ein paar Minuten ward an der Stelle gelandet, wo die Gesellschaft stand.
»Ach wie schön, wie schön,« sagte Liuba, indem sie ausstieg, wobei in einem Gewirre von Spitzen ein hübsches Füßchen in Goldlackschuhen zum Vorschein kam. »Ach wie schön, aber zu kurz … Ein ander Mal, Graf Siebeck, müssen wir eine Stunde auf dem Wasser promeniren.
»Es ist schon angespannt,« wiederholte die Fürstin zum dritten Male. »Wir müssen fort, wenn wir noch vor der Dunkelheit in Dornegg ankommen wollen.«
Den Gästen wurde das Geleite bis zum Wagen gegeben. Allgemeines Verneigen, Empfehlen, Händeschütteln und Aufforderungen, sich recht bald in Dornegg sehen zu lassen.
Die Zurückbleibenden winkten den Davonfahrenden nach, so lange diese noch in Sicht waren. Und nachdem die Dürenbergsche Equipage um die Straßenecke gebogen:
»Was geschieht jetzt?« fragte die Großmama. »Es ist so schön – wäre es nicht schade, schon in die Zimmer zu gehen? Du solltest mit Deiner Frau noch einen Spaziergang machen, Robert – zeige ihr ein wenig unsere Gegend.«
»Ich bin heute Vormittag genug herumgestiegen,« antwortete der junge Mann in müdem Tone. Dann fügte er etwas lebhafter hinzu: »Sie sieht gut aus, die Liuba – ist seit zwei Jahren hübscher geworben … dagegen ist die Alte ganz zusammengeknickt, und er, der Dürenberg, ist immer derselbe Plauscher … Im Ganzen eine fade Geschichte, dieser Besuch, noch dazu am ersten Tag …«
Eva näherte sich ihrem Manne:
»Wenn Du zu müde bist, spazieren zu gehen, möchtest Du nicht eine kleine Kahnfahrt mit mir machen? … ich bin vorhin der Gräfin Dürenberg neidig geworden … Komm, rudere mich ein wenig herum, ich bitte schön, Robert.«
»Warum nicht gar – rudern. Das ist ja noch anstrengender als gehen und fad obendrein. Doktor, kommen Sie, wir wollen mit einander eine Partie Billard machen, das wird uns erfrischen.« Und indem er sich in Doktor Hartung einhängte, zog ihn Robert mit sich fort.
Eva blieb auf dem Platze stehen, und um ihren Mund zuckte es schmerzlich. Wahrlich – sie brauchte ihrem Manne gegenüber nur einen Wunsch zu äußern, damit demselben nicht entsprochen werde.
Ralph Siebeck trat neben sie hin.
»Laß mich Dein Ruderer sein, Evinka,« sagte er. »Dieser Besuch hat mir ohnehin die Möglichkeit geraubt, mich Dir zu widmen, wie ich gewollt, an diesem ersten Tage. Deines Daheimseins. Wir haben heute nach dem Frühstück so gemütlich zu plaudern begonnen – das hoffte ich bei Tisch fortsetzen zu können; statt dessen mußte ich mit dem grimmigen Reaktionär politische Lanzen brechen und die launenhafte Russin auf den Fluthen schaukeln. Und da Du sie um letzteres Vergnügen beneidet hast, so will ich es Dir jetzt auch angedeihen lassen.«
»Es war doch nicht nur ihr, sondern auch Dir zum Vergnügen, mein verehrter König. Ich bemerkte, daß —«
»Was bemerktest Du und warum hältst Du inne?«
»Weil ich eigentlich nichts bemerkt habe, und weil es recht unbescheiden und recht keck von mir wäre, mir meinem Herrn Schwiegervater gegenüber Bemerkungen und Beobachtungen zu erlauben,«
»Ja,« lachte Ralph, »Du mußt vor mir immer sehr respektvoll und demüthig und ängstlich sein, ich bin ein gar gestrenger alter Herr. Dagegen würde ich Dir rathen, Dich Deinem Mann etwas energischer zu zeigen. Du hättest ihn um die Ruderpartie nicht bitten sollen, sondern einfach dieselbe anbefehlen. Und ihm hätte es eine Gnade sein sollen. Du wirst ihn ein wenig erziehen müssen, Eva.«
»Wenn Du mir helfen wolltest … doch Du sagtest mir ganz ausdrücklich, daß Du Robert nicht erzogen hast —«
»Der Einfluß einer geliebten Frau wiegt zehn Väter und ebensoviele Hofmeister auf. —«
»Geliebt?« hätte Eva gern in zweifelndem Tone gefragt – war sie denn geliebt? Doch sie unterdrückte diese Regung. Es hätte ihr, der Jungvermählten, doch schlecht angestanden, am Tage ihres Einzuges in des Gatten Vaterhaus sich für ungeliebt auszugeben. Es gab ja keine andere Berechtigung für ihre eroberte Stellung in diesem Hause als die von dessen Sohn ihr zugewendete Liebe.
Sie lenkte das Gespräch ab, indem sie Fragen stellte über die sonstige Nachbarschaft von Großstetten. Ralph gab Auskunft: außer mit Dornegg wurde eigentlich gar kein nachbarlicher Verkehr gepflegt. Die Dürenbergschen Besitzungen dehnten sich so weit aus, daß kein anderes bewohntes herrschaftliches Schloß im Umkreise war. Und darüber war er eigentlich nicht böse – was er in Großstetten suchte und liebte, war einsame Ruhe. Wenn er von seinen weiten Reisen und von seinen Aufenthalten in belebten Städten zurückkehrte, so war es ihm angenehm, eine Zeit lang im Kreise seiner Familie und in Gesellschaft seiner Bücher recht ungestört zu bleiben.
So waren sie plaudernd bis an den Rand des Teiches gelangt. Die Anderen hatten sich theils hinaus, gegen den Wald, theils in das Schloß verloren.
Die Beleuchtung war jetzt eine andere geworden. Die Sonne war ganz untergegangen, und über dem Wasser wie auf dem umgebenden Grün lag ein viel sanfteres, milderes Licht als vorher. Schon wehte der sommerliche Abendduft von den Blumenbeeten, von den Jasmingebüschen und den blühenden Akazienbäumen; statt des Amselschlages hörte man nur noch leises Grillenzirpen, vermischt mit dem Plätschern des Wassers und dem eintönigen Rufe der Frösche und Unken.
Ralph kettete die Barke los und half seiner Schwiegertochter schweigend hinein. Und während der ganzen Fahrt blieb das Schweigen ungebrochen. Von ferne her – wie vom Takt der Ruderschläge begleitet – klang das Ave-Maria-Läuten. Tiefdunkel, an manchen Stellen schwarz, spiegelten sich die Ufer in den Fluthen. Ein leiser Windhauch, mit feuchtem Duft beladen, schaukelte die herabhängenden Aeste der Weiden und wehte, als die Barke an dem Springbrunnen vorbeiglitt, ein Wölkchen Wasserstaub den Fahrenden ins Gesicht. Siebeck ruderte zu einer Stelle hin, wo sich der Teich in eine schmale Bucht verlor, welche von den Baumkronen der beiderseitigen Ufer beinahe überwölbt war. Hier war es schier Nacht – aber keine schwarze, sondern eine dunkelgrüne Nacht. Ralph ließ die Ruder ruhen und pflückte ein paar weißschimmernde Wasserblüthen, an welche die Barke streifte. Eva athmete tief auf. Wie schön, wie schön! dachte sie, doch nur im Stillen. Sie wollte das Schweigen nicht brechen, es schien mit zu dem ganzen Zauber der Scenerie zu gehören. Was war es nur – sie wußte es selber nicht —, was in diesem Augenblick, in dieser Umgebung sie erfüllte? Friede oder – Sehnsucht? Wieder mußte sie seufzen. Es war doch Sehnsucht. Ein Verlangen – wonach? Warum hatte nicht ihr junger Gatte sie hierher gerudert – warum war er es nicht, der ihr jetzt die weißen Wasserrosen reichte? Wie hätte sie an seine Brust sich lehnen mögen und Liebesworte flüstern hören. Doch nein, Robert und Liebesworte flüstern, das sah ihm nicht gleich – und gar so sehnsuchtsstillend wäre es nicht, an seiner Brust zu ruhen – nein, auch das wäre noch nicht das Glück, von dem dieses geheimnißvolle dunkle Plätzchen, von dem die träumerischen Nachtstimmen künden. Was für Gedanken und Träume müssen wohl durch den Sinn des Anderen ziehen, daß er auch so regungslos und still da sitzt, daß auch er jetzt schwer und zitternd aufathmet?
Mit diesem Seufzer schien er sich aber aus seinem Sinnen herausgerissen zu haben, denn jetzt setzte er die Ruder wieder an. Die Barke fuhr aus der Bucht heraus, und nach wenigen Minuten stieß sie ans Ufer. Ralph sprang heraus:
»Nimm meine Hand, gieb Acht, nicht auszugleiten…«
»Es war prachtvoll, ich danke Dir, König«, sagte Eva, nachdem sie noch eine Zeit lang schweigend neben ihm gegangen. Sie schritten dem Schlosse zu. Mehrere Fenster waren schon erleuchtet und von der offenen Balkonthür drangen Klavierakkorde heraus.
»Du geh‘ jetzt noch in den Saal, Eva. Meine Mutter und die Anderen sind da allabendlich versammelt. Gegen zehn Uhr wird der Thee genommen. Ich werde mich hier von Dir verabschieden.« Sie waren unter der Einfahrt angelangt. »Gute Nacht, schlaf wohl, mein Kind.« Er küßte ihre Stirn. »Schlaf wohl und friedlich in dieser ersten Nacht daheim.«
Er verließ sie vor der großen Treppe und begab sich durch den Hof nach dem von ihm bewohnten Flügel. Eva that, wie ihr befohlen, sie ging in den Saal.
Derselbe war durch drei oder vier Lampen erleuchtet. Auf einem Ecksopha hinter einem runden Tisch saßen die alte Gräfin Siebeck und Fräulein von Otterstein, Beide mit Handarbeiten beschäftigt. Irene spielte Klavier. Um einen anderen mit Bücher und Zeitungen beladenen Tisch saßen die beiden Jünglinge – Heinrich und Georg – und ihr Hofmeister, in Lesen vertieft. Robert, nach welchem Eva suchend umherblickte, war nicht da.
Irene sprang vom Klavier auf.
»Ah, Da bist Du! Ich habe Dich in Deinem Zimmer gesucht, wo warst Du denn hingerathen?«
»Ist Robert unten?« fragte Eva zurück.
»Nein. Der wird wohl noch mit Dr. Hartung im Billardzimmer sein.«
»Bringt Dein Onkel König nicht die Abende gewöhnlich hier zu?«
»Sehr selten. Er zieht es vor, in seinem Studirzimmer zu bleiben. Und er hat Recht – ich finde unsere Großstettener Abende von einer unbändigen Langweiligkeit. Ach, wenn ich denke… wären wir in einem Badeort, jetzt wäre die Stunde, Toilette zu machen, um in irgend ein Konzert oder eine dansante zu gehen, dort träfe man Diejenigen, die für Einen schwärmen … Das ist ja gar kein Leben, wie es hier geführt wird. Erst zur Jagdzeit wird es erträglich.
»Eva, komm hierher zu uns, und Du, Irene, spiele weiter,« rief die Großmama.
Eva verfügte sich an den Tisch, wo die beiden Damen saßen, und nahm bei ihnen Platz.
»Du hättest auch Deine Arbeit mitbringen sollen,« sagte die Gräfin.
»Ich habe keine vorbereitet. Auf der Reise —«
»Ja, das ist wahr – das habe ich nicht bedacht – auf der Hochzeitsfahrt giebt man sich nicht mit Häkeln und Sticken ab.«
»Man kann ja auch stricken oder nähen,« bemerkte Fräulein von Otterfeld, »aber im Ganzen genommen muß es in Italien doch schön sein, nicht? Ich habe in meiner Jugend italienisch zu lernen angefangen – mein Lehrer war ein heruntergekommener marchese. Sind nicht die meisten Italiener mehr oder minder heruntergekommen? Vielleicht von der Hitze, denn wenn die Orangen im Freien reif werden —«
Jetzt ging die Thür auf, und Robert, gefolgt von Doktor Hartung, trat herein.
»Noch nicht zum Thee?« fragte er, sich umsehend. Doktor Hartung näherte sich Eva.
»Ihr Herr Gemahl hat mich schön geschlagen. Der scheint ja beim Regiment und auf seinen Reisen nichts Anderes gethan zu haben, als sich im edlen Billard zu vervollkommnen.«
»Komm, Robert, setz‘ Dich her zu uns,« sagte die alte Gräfin. »Eva hat schon Sehnsucht nach Dir – und Du gewiß nach ihr!«
Robert aber hörte nicht; er verfügte sich zu dem Tisch, um welchen seine jungen Vettern saßen:
»He, Buben, was treibt Ihr da? Steckt Ihr nicht den ganzen Tag genug in Euren Büchern?«
»Leider Gottes ja!« antwortete Heinrich, der Aeltere, indem er seine Lektüre bei Seite schob. »Ich wollte, ich wäre schon Offizier wie Du – das muß eine Passion sein —«
»Ich bin‘s nicht mehr – hab‘ ja quittirt.«
»Wie kann man das? Ich diene bis zum Feldmarschall … Du weißt, im Herbst komme ich in die Kavallerie-Kadettenschule nach Weißkirchen.«
»So? Gratulire. Und Du, Georg, was ist‘s mit Dir? Willst Du auch Soldat werden?«
Robert setzte sich zu den jungen Leuten und plauderte mit ihnen weiter. Auch Doktor Hartung und Irene gesellte sich ihnen zu. Eva blieb bei den alten Damen. Eine peinliche Röthe war ihr ins Gesicht gestiegen, als ihr Mann auf den Ruf der Großmutter so gar nicht geachtet hatte und für sie, Eva, nicht ein Wort, nicht einen Blick gehabt … Und die alte Gräfin glaubte, er hätte Sehnsucht nach seiner Frau … Schöne Sehnsucht! Und was mußte Großmama denken? Gewiß, daß Robert in seiner Wahl enttäuscht worden, daß die Gattin nicht so liebenswerth, nicht so anziehend sei, wie sie sein sollte …
Der Abend verging langsam und anregungslos. Eva fühlte sich von den vielen an diesem Tage empfangenen Eindrücken abgespannt; nur mit halber Aufmerksamkeit konnte sie den Mittheilungen lauschen, welche die alte Gräfin ihr machte: Erinnerungen aus dem Leben und Sterben ihrer Tochter, der Mutter Irenens und beider Knaben; die Erziehungsgeschichte der letzteren, und schließlich Anekdoten aus Roberts Kindheit. »Er war ein schlimmer Bub‘ … hat noch seine Fehler … Du wirst ihn erziehen müssen.«
Das war nun heute schon zum zweiten Mal, daß die Zumuthung an sie gestellt wurde, ihren Mann zu erziehen. Noch dazu von Seiten seines eigenen Vaters, seiner eigenen Großmutter. Wäre das nicht eher ihres Amtes gewesen, dieser Beiden?
Etwas vor zehn Uhr ward der Thee hereingebracht. »Wo bleibt denn Ralph?« fragte die Gräfin.
Eva gab Bescheid, daß ihr Schwiegervater sich zurückgezogen habe.
»Wahrscheinlich, um ungestört an Liuba Dürenberg denken zu können,« bemerkte die Gräfin halblaut zu Fräulein Ottilie.
Eva hatte doch gehört – und es berührte sie unangenehm.
Sehr bald nach dem Thee brach man auf. Die Großmama gab das Zeichen:
»Die Reisenden sind wahrscheinlich müde,« sagte sie. »Ralph ist nicht da – musizirt wird auch nicht mehr – also gehen wir schlafen.«
Nachdem man sich getrennt hatte und das junge Paar in seinen Zimmern angelangt war, sagte Robert:
»Leg‘ Dich nieder, wenn Du Lust hast, ich kann um diese Hühnerstunde noch nicht in‘s Bett gehen. Vielleicht mach‘ ich mit dem Doktor noch eine Partie Billard und trink‘ eine Flasche Wein. Der Großmama ihr Thee ist ein gar zu mattes Geschlader … Leg‘ Dich nur nieder.«
Er ging zur Thür.
»Robert!«
»Was denn?« fragte er, die Hand an der Klinke. »Bleibst Du nicht lieber hier? Wir könnten so Vieles plaudern – ich wollte Dir meine heutigen Eindrücke mittheilen und um so Manches Dich ausfragen—«
»Das hat morgen auch Zeit.« Und er ging.
Eva war sehr müde; sie klingelte ihrer Kammerjungfer und begab sich zur Ruhe. Als zwei oder drei Stunden später Robert zurückkam, schlief sie schon fest.
VII
Am folgenden Tage lernte Eva auch noch diejenigen Räume von Schloß Großstetten kennen, welche ihr von Irene nicht gezeigt worden waren, nämlich den von ihrem Schwiegervater bewohnten Flügel.
Vor Ralphs Zeiten hatte dieser Theil des Gebäudes als Haustheater gedient. Es befand sich darin ein vom Erdgeschoß bis zur Höhe eines zweiten Stockes reichender großer Theatersaal, eine erhöhte Bühne und hinter dieser mehrere Garderoben und andere zur Aufbewahrung von Requisiten und Dekorationen bestimmt gewesene Räume. Dies Alles hatte sich Ralph Siebeck als Wohnung eingerichtet. Der Saal war seine Arbeitsstätte; die Bühne, zu welcher Stufen hinaufführen, diente als Schlafzimmer, und die dahinter befindlichen Gelasse waren zu Bade-, Dienerzimmer u. s. w. verwendet worden.
»Willst Du mein Arbeitskabinet sehen, Eva?« hatte Siebeck nach dem Frühstück gefragt. »O ja – so gern!«
»Dann komm mit, ich will Dir‘s zeigen.«
Als sie über die Schwelle trat, konnte Eva einen Ueberraschungsschrei nicht unterdrücken.
»Und das ein Kabinet?« rief sie. »Das ist ja eine Kirche.«
»Im Gegentheil – ein Theater war‘s, aber ich habe es mir zu einem gemüthlichen Studirwinkel umgewandelt.«
Und in der That: trotz seiner Größe, gemüthlich war der Raum, und Winkelwerk bot er genug. Verschiedene Balustraden, Schirme und dergleichen formten allerlei Nischen; ein Riesenkamin mit vorgebautem Holzmantel bildete ein kleines Sitzzimmer für sich. Die Wände verschwanden unter Getäfel, Behängen und Gemälden; den Boden bedeckte ein dicker, dunkler Plüschteppich, auf welchem noch hier und da größere und kleinere Smyrnateppiche und verschiedene Bären-, Tiger– und Lama-Felle lagen. Ringsumher in regelloser Nachlässigkeit aufgestellt: orientalische, polsterreiche Divans, Lehn– und Schaukelstühle, alterthümliche Kästchen, kleine und große Tische – darunter ein drei Meter langer Schreibtisch, beladen mit Bilderrahmen, Mappen, Albums; Bücherschränke, Koranträger mit aufgeschlagenen Folianten; Vasen, Statuen, lebensgroße Bronzefiguren als Lampenhalter, hohe Palmengruppen; von der holz– und goldvergitterten Decke herab ein hundertarmiger alter Messinglüster; an den Thüren und gegen die Bühne hin schwerfällige Draperien: so sah dieses Arbeitskabinet wahrlich recht wohnlich aus.
Eine Weile blieb Eva an der Eintrittsthüre stehen und nahm überrascht den Gesammteindruck in sich auf. Dann erst ging sie von einer Seite zur andern, vom Schreibtisch zu den Bücherschränken, von den Statuen zu den Gemälden und ließ sich von Ralph alles Stück für Stück erklären.
So hatte die Besichtigung schon eine halbe Stunde gedauert, und noch lange war nicht Alles erledigt. Da stand in einer Ecke noch ein glasbedecktes Regal, dessen Fächer mit allerlei chinesischen, arabischen, indischen und sonstigen von seinen fernen Reisen mitgebrachten exotischen Kunstgegenständen gefüllt waren; jetzt fiel es Eva ein, daß sie vielleicht unbescheiden sei.
»Ich halte Dich so lange auf,« sagte sie, »sicherlich hast Du zu thun; wenn man so einen Arbeitstempel sich zurecht gemacht hat, so will man wohl auch arbeiten … Ich darf Dich nicht länger stören …«
»Nein, mein Kind, bitte, bleibe noch. Du hast eine so entzückende Art, Deine Wißbegier und Dein Interesse zu äußern; Du weißt so angenehm lebhaft zu fragen: was ist das? und: woher kommt das? und noch angenehmer ist Deine Art, der gegebenen Erklärung mit glänzenden Augen, mit halb geöffneten Lippen – ein Bild der Spannung – zu lauschen … ich könnte einen ganzen Tag in diesem Zimmer mit Dir herumreisen. Dir die Erinnerungen erzählen, die sich an jedes einzelne Stück knüpfen … Selten findet man so offenen Geist, so reges Verständniß … Du passest doch eigentlich gar nicht zu —«
Er brach ab, und Eva fragte nicht, was er hatte sagen wollen, sie hatte es errathen. Sie dachte eben auch Desjenigen, der beim Anblick aller möglichen Kunstschätze ein gelangweiltes Gähnen niemals unterdrücken konnte.
Die Speiseglocke erschallte.
»Wie – schon halb zwölf! Damit ist also die weitere Durchforschung meines Schatzgebietes für heute abgebrochen – ich wollte mich eben daran machen, Dir den Inhalt jenes Kastens mit der Gewissenhaftigkeit eines Museumführers zu erklären – das bleibt nun auf ein andermal. Gehen wir – wir dürfen meine Mutter nicht warten lassen.«
Nach dem Gabelfrühstück ward abermals die Losung ausgetheilt, daß nun Jeder an seine Beschäftigung zu gehen habe, und demgemäß zogen sich Alle in ihre Zimmer zurück.
Was sollte sie nun beginnen – was war denn eigentlich ihre Beschäftigung? so fragte sich Eva, als sie mit Robert in ihren Erdgeschoßzimmern angelangt war.
Der junge Mann warf sich auf das Sopha, zog die Beine hinauf, legte seine Arme unter den Kopf und gähnte lärmend.
»Was hast Du vor, Robert? Was sollen wir thun?«
»Thu‘, was Du willst; ich werde mir eine kleine Siesta vergönnen.«
»Ich wollte doch Deinen Rath haben – womit soll ich meine Tage ausfüllen? Hausfrauenpflichten habe ich hier keine…«
»Geh‘ spazieren.«
»Das kann man sich doch nicht zum Beruf machen,« lächelte Eva. »Indessen, ich freue mich, die hiesige Gegend zu durchwandeln. Sie schien mir beim Herfahren sehr malerisch. Wir könnten heute – etwas später, wenn die Hitze vorüber ist – wir könnten, Du und ich…«
»Da wirst Du Dir schon einen andern Fremdenführer suchen müssen, ich tauge nicht dazu. Jetzt aber, ich bitt‘ Dich, laß mich schlafen.« »Bei hellem Tage schlafen – das kann doch nicht gesund sein. Du solltest – —«
»Du solltest mich in Ruh‘ lassen, sag‘ ich.«
»Dieser Ton, Robert!«
Er sprang ungeduldig auf und verschwand in das Nebenzimmer, indem er die Thür hinter sich zuschlug. Vermuthlich legte er sich dort auf sein Bett, um ungestört schlafen zu können.
Eva blickte ihm bestürzt nach. So eine Art hatte er ihr gegenüber doch noch nicht gezeigt. Das Thürzuschlagen erinnerte sie an den Obersten. Sollte ihr Mann auch solche Heftigkeit entwickeln wie Dorinas Mann? … Sind denn alle Männer so unangenehm im Umgang mit ihren Frauen? … Doch nein: sie erinnerte sich, welches Verhältniß beiderseitiger Freundlichkeit und Rücksichtnahme zwischen ihren Eltern herrschte, und sie kann sich nicht vorstellen, daß Andere – König zum Beispiel – in so unliebenswürdiger, in so roher Weise auftreten können.
Das Wort »roh« ist ihr da mit Bezug auf den Gatten zum ersten Mal durch den Sinn gehuscht, und es hat sie erschreckt. Sie trachtete, ihren Gedanken eine andere Wendung zu geben: Ein Mensch darf doch, wenn er gerade sehr schläfrig ist, einen Anfall übler Laune haben – warum hatte sie sich auch so zudringlich und unangenehm gezeigt? – es war nur ihre Schuld…
Und jetzt also? .. Sie setzte sich nieder und stützte ihre Stirn auf die Hand, um recht ordentlich nachdenken zu können. Wie sollte sie ihre Tage eintheilen? Welcher Thätigkeit sich hingeben, welche zunächst zu erfüllende Aufgabe sich stellen? – Sie mußte wieder seufzen: noch vor Kurzem hatte es ihr als vornehmste Aufgabe – ja als Lebenszweck vorgeschwebt, den eigenen Gatten glücklich zu machen, mit ihm alle Gedanken, Wünsche und Bestrebungen zu theilen, aber – – war Robert der Mann danach? Ja, wenn er so wäre wie – sein Vater… Freundlich und sympathisch stieg das Bild Ralphs vor ihrem inneren Auge auf, und ein warmes Gefühl schwellte ihr Herz: das war ein liebenswürdiger Mensch – dessen Neigung mußte sie zu gewinnen trachten; an ihm konnte sie einen stützenden Freund, er an ihr eine liebevolle Tochter finden.
Ein Klopfen an der Thüre entriß sie ihren Gedanken.
»Nur herein, herein!« rief sie, glaubend, daß es Irene sei.
Es war aber Derjenige, mit dem sie sich eben im Geiste beschäftigt. Sie sprang auf. »Ah! König!«
»Ja, ich. Ich wollte nachsehen, wie Ihr Euch in Eurem provisorischen Nest befindet, und Euch sagen – – Ist Robert nicht da?« unterbrach er sich.
Eva deutete auf das Nebenzimmer: »Er schläft!«
»Ah so – Du etwa auch? Bei welcher Beschäftigung habe ich Dich gestört?«
»Ich that gar nichts, als nachdenken, was ich thun solle.«
»Das trifft sich gut – über diesen Gegenstand habe ich mit Dir sprechen wollen. Denken wir also mit einander nach.« Er setzte sich. Eva that das Gleiche. »Robert hat genug Geschäfte. Wenn er sich fleißig an die ihm gestellte Aufgabe macht, praktisch die Wirtschaft zu erlernen – wobei ihm der Verwalter vortreffliche Hilfe leisten wird – so kann ihm die Zeit nicht lang werden; er muß auf den Feldern nachsehen, die Bücher führen lernen; nebenbei kann er seiner Reitleidenschaft fröhnen – aber Du, Eva, könntest Dich etwa langweilen. Was ich Dir also sagen wollte, ist dieses: es steht Dir, so oft Du willst, ein Wagen zur Verfügung, und wenn Du in die Umgebung eine Spazierfahrt machen willst. Du brauchst nur den Befehl zu geben, daß angespannt werde. Ferner: mein Bücherschrank steht Dir jederzeit offen.
Doch weiß ich nicht, ob die Werke, die ich bei mir unten besitze. Deinem Geschmack besonders entsprechen; ich mache Dich darauf aufmerksam, daß im ersten Stock neben dem Billardzimmer – ich weiß nicht, ob Du es bemerkt hast – eine Bücherei sich befindet mit allerlei belletristischen Sachen; dort kannst Du Dir Unterhaltung holen, so viel Du Lust hast. Und, sage mir, Du bist ja musikalisch – wäre es Dir nicht angenehm, wenn ich ein Instrument hierher in Dein Zimmer stellen ließe?«
»Du bist sehr gütig, lieber König. Das Alles nehme ich freudig an.«
»Ich halte mich um so mehr verpflichtet, für Deine Zeitausfüllung Vorsorge zu treffen, als ich nächstens nicht mehr selber werde darüber wachen können, daß Dir der Aufenthalt in Großstetten zu einem angenehmen gestaltet werde – denn ich beabsichtige, in den nächsten Tagen mich wieder auf eine längere Reise zu begeben —«
»Was!« rief Eva mit unverhohlenem Schreck, »Du willst wieder fort? O nein, König! Bitte – bitte, nicht!«
Er nahm ihre beiden Hände in die seinen.
»Du bittest mich, zubleiben, Evinka? Was kann es Dir machen, ob ich da bin oder nicht?« Sie gab keine Antwort, sondern hielt nur einen flehenden und ängstlichen Blick auf ihn geheftet. Mit einem kräftigen Druck ließ er ihre Hände los und stand auf:
»Nun – ich bin noch nicht fort,« sagte er. »Der Entschluß war vielleicht etwas übereilt.«
»Es würde Großmama gewiß kränken, wenn Du, von so langer Reise kaum heimgekehrt, wieder von zu Hause weggingst. Und ich – —«
»Nun, Du, Evinka!«
Wieder trat eine Pause ein. Die junge Frau konnte doch nicht sagen, was sie dachte: nämlich, daß von allen Eindrücken, die sie bisher in Großstetten empfangen, der liebste und vertrauenerweckendste derjenige war, den der kurze Umgang mit dem Fragesteller auf sie hervorgebracht; daß sie von ihrem eigenen Mann hier nur Kälte und Kränkung erfuhr, und daß sie vorhin, als sie über ihre Zukunftsaufgabe grübelte, sich die Losung gab: Königs Freundschaft zu gewinnen.
Er blickte sie eine Zeit lang an; und er mochte ihr das Ungesagte vom Gesichte abgelesen haben, denn, wie eine Antwort darauf, sagte er jetzt:
»Gut – so wird Dein neuer alter Freund den Reiseplan vorläufig wieder fallen lassen. Jetzt will ich gehen und veranlassen, daß das Klavier sogleich hergebracht werde … Uebe recht fleißig – vorausgesetzt, daß Du Talent hast – die Kunst kann in so manchen Lebenslagen Trost und Halt bieten. Auf Wiedersehen, Evinka.«
Einige Minuten später wurde ein Pianino hereingetragen.
Die polternden Schritte der Leute, das Verrücken der Möbel und der Lärm des Aufstellens hatte den Schläfer nebenan geweckt.
Er kam aus dem anstoßenden Zimmer heraus.
»Was ist denn da für ein Heidenspektakel los? Ich hab‘ schon geglaubt, das Haus wird demolirt … Du hast doch gewußt, daß ich schlafen will … Aber auf Rücksicht kann man bei Dir auch nicht zählen —«
»Dein Vater hatte die Güte … er ordnete an, daß das Instrument —«
»Hoffentlich wirst Du nur dann klimpern, wenn ich nicht zu Hause bin.«
»Ich dachte, Du seiest ein Freund von Musik.«
»Musik – Musik … ja, eine ordentliche Militärkapelle, aber so ein Jammerkasten —«
»Ich werde nur spielen, wenn Du draußen Deinen Geschäften nachgehst. – Sag‘ mir, Robert, hast Du denn eigentlich Freude an der Landwirthschaft?«
»Ich? Nein – nicht gar extra. Ich hab‘ an gar nichts Freud‘ hier. Im Oktober wird‘s vielleicht erträglich werden. Bis dahin heißt‘s: sich grimmig langweilen.«
Eva hob die Beleidigung nicht aus, welche für sie in diesen Worten enthalten war. Und sie sprach das Urtheil nicht laut aus, welches Roberts Vorsatz, »sich grimmig zu langweilen«, ihr einflößte – das Urtheil: Leerer Kopf und leeres Herz.
Doch sie erschrak selber über diese Gedanken. Durfte sie denn so lieblos urtheilen – durfte sie dem leisen Gefühl der Abneigung Raum geben, das seit einiger Zeit bei manchen von Roberts Aeußerungen, mitunter auch bei seinem bloßen Anblick sie beschlich? Verstieß das nicht gegen ihre geschworenen Ehepflichten? Und war er denn nicht derselbe, für den sie noch vor kurzer Zeit so leidenschaftlich geschwärmt? Es gelang ihr noch, wenn sie sich in die ihrer Verlobung vorangehende Episode versetzte, den Wiederhall jener Schwärmerei wachzurufen, und dann bereute sie ihre bösen Gedanken.
In diesem Augenblick war ihr nun auch, als müßte sie Abbitte leisten. Sie näherte sich von rückwärts dem Sessel, auf welchem Robert saß, legte beide Arme um seinen Hals, ihn so an der Lehne gefangen haltend, und indem sie sich über ihn hinabneigte: »Du wirst Dich nicht langweilen, mein Robert,« sprach sie sanft – »das sagtest Du wohl nur im Scherz. Hast Du denn nicht Deine Eva?«
Sie drückte ihre Lippen auf seine Stirn und flüsterte noch ein paar Liebesworte.
Er aber band ihre verschlungenen Arme los und richtete sich auf.
»Sei nicht fad,« sagte er. Und er ging ans Fenster. »Mir scheint, es wird regnen – thut nichts – ich will ein wenig hinaussehen. Adieu. Jetzt kannst Du Klavier spielen.«
Eva war aber nicht in der Laune, Musik zu machen. Finsteren Blickes stand sie da. Ihr Athem ging rasch, und die Lippen waren zornig zusammengepreßt. Das letzte Mal! … das war das letzte Mal, daß sie diesem Undankbaren, diesem Fühllosen – diesem rohen – ja roh – sie will das Wort nicht mehr zurücknehmen – Menschen sich zärtlich genaht. Sie so zu demüthigen! »Sei nicht fad« – o nein, fortan könne er ruhig bleiben – sie würde sich hüten, je wieder die Schätze ihres warmen Herzens ihm vor die Füße zu werfen, ihm Vertrauen, Liebe, Innigkeit zu bieten – mit einem Worte, je wieder »fad zu sein«.
Als eine Weile später Irene auf einen kleinen Vormittagsbesuch sich einstellte, fand sie ihre Cousine in Thränen. Wie dies gewöhnlich bei jungen Frauen und Mädchen der Fall zu sein pflegt, hatte auch Evas Erbitterung sich in jenes Selbstmitleid aufgelöst, welches mit Weinen endet.
Beim Eintritt der Freundin wischte sich Eva rasch die Augen aus und versuchte eine unbefangene Begrüßung. Aber die Andere ließ sich nicht täuschen.
»Was hast Du, was ist Dir geschehen?« rief sie lebhaft. »Warum weinst Du? … Fühlst Du dich unglücklich in Großstetten? Oder hast Du Dich mit Robert gezankt? Das wäre ganz natürlich… Ich konnte nie ein paar Stunden mit ihm zusammen sein, ohne daß er mich zum Weinen brachte – er war gar so ein boshafter, rechthaberischer Junge… Doch jetzt könnte er vernünftiger geworden sein. Die Liebe allein sollte genügen, ihn zu bessern. Du mußt Dir ihn erziehen, Eva.«
Eva schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf.
»Sonderbar – das ist schon die dritte Seite, von welcher mir zugemuthet wird, Roberts Hofmeisterin abzugeben. Sage mir, wie stellst Du Dir das vor, einen Mann erziehen – und wie würdest Du es in Angriff nehmen?«
»Dazu habe ich keine fertige Methode im Kopf – das müßte sich von selbst ergeben – hinge auch vom Charakter des betreffenden Schülers ab – der eine würde sanfte, der andere strengere Behandlung erfordern.«
»Du kennst ja Roberts Charakter – wie wäre der nach Deiner Meinung anzufassen?«
»Vor Allem: trachte, ihn recht verliebt zu erhalten.«
»Zu erhalten – war er es denn je?«
»Aber Eva! Eure Heirath war doch eine Liebesheirath…«
»War sie das? Ja, es hat den Anschein. Aber sprechen wir von etwas Anderem – es will mich bedünken, daß Gatten kein Recht haben, ihre ehelichen Angelegenheiten, seien dieselben Wonne oder Kummer, mit Dritten zu besprechen.«
Noch am selben Tage hatte sich Eva wieder einigermaßen beruhigt. Eine in Gesellschaft der Großmutter gemachte Spazierfahrt in die Umgebung; eine Stunde Musik mit Irene und Dr. Hartung; das Diner, bei welchem Ralph einen lebhaften und äußerst fesselnden Bericht über seinen letzten Aufenthalt in Indien zum Besten gab: das Alles hatte sie zerstreut und ihre Lebensgeister wieder aufgefrischt. Auch Robert hatte sich von etwas liebenswürdigerer Seite gezeigt – kurz, jene heftigen Empfindungen von Zorn und Kränkung, welche sie am Vormittag zum Weinen gebracht, waren Abends beinahe gänzlich verflüchtigt. »Ich muß meine hochfliegenden Ansprüche etwas herabsetzen,« sagte sie sich, »und das Leben nehmen, wie es ist. Immerhin bietet es mir viel des Schönen – und Großstetten birgt gar liebe Menschen: die herzige lustige Irene… und wie freundlich und würdevoll Königs Mutter, und König selber … o der prächtige, herrliche König …, welches Glück, daß er seinen Abreiseplan wieder aufgegeben.«
»Sag mir,« unterbrach sie diesen Gedanken, sich an Robert wendend, »sag mir, wie kommt es, daß Du mir nie von Deinem Vater erzähltest, nie seine Eigenschaften gepriesen? Du mußt ihn doch schon von Kindheit auf bewundert und geliebt haben,«
»Könnt‘ ich nicht behaupten. Hatte auch keine Ursache. Einen kältern und lieblosern Vater als ich hat wohl selten ein Kind gehabt.«
»Was sagst Du da?«
»Die Wahrheit. Er hat sich nie mit mir abgegeben. Es ist, als ob er mich von meiner Geburt an gehaßt hätte.«
»Ah, ich verstehe. Vielleicht weil Du Deiner Mutter, die er wohl vergöttert hat, das Leben gekostet?«
»Hat nicht den Anschein. Im ganzen Haus ist von meiner Mutter kein Bild, kein Andenken – ihr Name ward und wird niemals erwähnt. Ich war noch ein kleines Kind, so lebte mein Vater schon in den Banden einer anderen Frau – einer Schauspielerin—«
»Und diese Frau?«
»Ist seither auch gestorben. Dann kam die Reisemanie über ihn. Um mich hat er sich nie viel bekümmert – was mir übrigens ganz lieb ist.«
Eva war über diese Mittheilung sehr betroffen. Lieblosigkeit gegen sein einziges Kind: das war ein Zug, der zu dem übrigen Charakterbilde Königs so gar nicht stimmte … Freilich hatte Robert, das mußte sie in letzter Zeit erfahren – gar viele Fehler und reichte in geistiger Hinsicht nicht entfernt an seinen Vater heran … Doch war die Schuld davon nicht vielleicht gerade in der väterlichen Gleichgiltigkeit zu suchen? Fast fühlte sie einen Groll gegen König aufsteigen: warum hatte er die Pflicht vernachlässigt, den Sohn zu erziehen? Wie glücklich wäre sie jetzt, wenn er aus Robert einen Mann gemacht hätte, der – in allen Stücken – seinem Vater gliche …
VIII
Die Tage folgten einander in ziemlich einförmiger Weise.
Das erste Frühstück nahm Jeder auf seinem Zimmer. Um halb zwölf gemeinschaftliches Gabelfrühstück; um sechs Uhr Diner. In der Zwischenzeit Arbeiten, Lektüre, Musik, Spazierfahrten. Nach dem Speisen bis zum Thee blieb man gewöhnlich beisammen im Park.
Robert war eigentlich beständig draußen. Die alte Gräfin Siebeck bewunderte den Fleiß, welchen ihr Enkel im Betrieb der Landwirthschaft an den Tag legte. Eva widersprach dem nicht, obwohl sie wußte, daß von der Zeit, welche Robert außerhalb zubrachte, durchaus nicht der größte Theil der ökonomischen Arbeit gewidmet war, sondern zumeist der Rehpürsche und Spazierritten. Auch hatte sie erfahren, daß ihr Mann öfters das Dorfwirthshaus besuchte und dort mit dem Förster, dem Praktikanten und dem Thierarzt zechte. Das erste Mal, als sie von diesem Umstand hörte, versuchte sie – eingedenk des ihr von verschiedenen Seiten übertragenen Erziehungsamtes – eine leise Vorstellung.
»Es muß doch sehr ungesund sein, lieber Robert, so untertags den sauren Wein zu trinken – und welche Anregung kannst Du in jener Gesellschaft finden?«
Da aber ward er zornig:
»Hörst Du – Predigten kann ich entbehren, und Einmischungen und Kontrole dulde ich nicht … Ich thue und lasse, was mir beliebt.«
»Ich meinte es doch nur zu Deinem Besten —«
»Zu Deinem Besten wird es sein, merke Dir das ein für alle Mal, wenn Du Dich nicht kümmerst um das, was Dich nichts angeht.«
»Robert! Was in aller Welt soll mich denn näher angehen als das Wohl und Wehe meines eigenen Gatten?«
Er zuckte mit den Achseln:
»Was das für fade Phrasen sind,« murmelte er und ging aus dem Zimmer – geradewegs in das Wirthshaus, wo er diesmal ein paar Stunden länger blieb als gewöhnlich.
Ralph pflegte nur bei den beiden Hauptmahlzeiten sichtbar zu sein, die übrige Zeit verbrachte er auf seinen Ausgängen oder in seinem Studirzimmer. Fast schien es, als ob er Evas Gesellschaft miede; wenigstens suchte er nicht mehr, wie am ersten Tag, sich mit ihr in eine abgesonderte Unterhaltung einzulassen, »um sie kennen zu lernen«, sondern zog in seine Gespräche immer die anderen Anwesenden mit. Dennoch hatte jedes direkt an sie gerichtete Wort einen so freundlichen Klang und war von so liebkosendem Blick begleitet, daß sie jedesmal, wenn er zu ihr sprach, ein warmes Zutrauen überkam – eine angenehme, tröstliche Ueberzeugung, daß wenigstens Einer im neuen Heim ihr aufrichtige Neigung entgegenbrachte. Zwar konnte sie über das Benehmen der alten Gräfin keine Klage erheben, dennoch wehte sie – trotz aller Freundlichkeit – eine gewisse Kälte von jener Seite an. Fräulein Ottilie belustigte sie; fast jedes Wort, das von des alten Fräuleins Lippen fiel, war eine gelungene Leistung unfreiwilligen Humors. Dr. Hartung war ein heiterer, amüsanter Mensch, und besonders komischen Eindruck machte die Art seines Verkehrs mit Ralph Siebeck, wobei Beide im Scherze den Ton von Mentor und Schüler anwendeten. Der Hofmeister der beiden Jünglinge verhielt sich sehr bescheiden und still – er sprach beinahe gar nichts. Von den Knaben selber sah Eva tagsüber nur wenig und dieselben gebahrten sich ihr gegenüber ziemlich unvertraut. Mit Robert hingegen waren sie auf sehr gutem Fuße, ihm erzählten sie gern ihre militärischen Zukunftsträume und fragten ihn um seine vielbeneidete Offizierszeit aus. Gewöhnlich zogen sie ihn, wenn die ganze Gesellschaft versammelt war, in eine entferntere Ecke des Salons oder des Gartens,, und bei Tisch mußte er am untern Ende zwischen ihnen beiden sitzen.
Die meiste Ansprache fand Eva von Seiten Irenens. Diese suchte sie oft in ihrem Zimmer auf, erbot sich als Begleiterin zu den Spaziergängen, spielte mit ihr vierhändig, – aber eine rechte Vertraulichkeit, ein echtes Genügen konnte sich zwischen den Beiden doch nicht einstellen. Dazu waren sie zu verschieden beanlagt, zu verschieden erzogen. Von den höheren geistigen Bestrebungen, von den etwas schwärmerischen Idealen, welche Evas Sinne erfüllten, war bei dem jungen Mädchen keine Spur. Dann hatte sich auch eine Schranke aufgerichtet, und seit dem Tage, da ihre Cousine sie in Thränen überrascht hatte, sprach Eva mit derselben nie mehr etwas, was auf ihre ehelichen Verhältnisse sich bezog; sie vermied es, den Namen Roberts auszusprechen, und wenn Irene versuchte, sie um ihr Glück oder Unglück auszuforschen, gab sie keinerlei Antwort oder lenkte sofort ab. Diese auffällige Zurückhaltung verletzte Irene einigermaßen, und auch sie wurde weniger mittheilsam – wenngleich nicht weniger lebhaft.
Ungefähr zehn Tage nach dem Dürenbergschen Besuche fuhren die beiden Gräfinnen Siebeck nach Dornegg, den Besuch zu erwidern – »die Herrschaft« war jedoch selber ausgefahren. So bekam Eva diesmal das Nachbarschloß nur von außen zu sehen. Dasselbe in seiner windsorähnlichen Bauart, in seinen Größenverhältnissen, in der Pracht seiner Auffahrt machte den Eindruck eines wahrhaft königlichen Wohnsitzes.
Kurze Zeit nach diesem verfehlten Besuche kam aus Dornegg eine Diner-Einladung an. An dem bestimmten Tage war die alte Gräfin jedoch etwas unpäßlich, und sie ließ sich entschuldigen. Irene war zufällig abwesend – mit Fräulein Ottilie behufs Toilette-Einkäufen nach Wien gefahren —, so blieben nur drei Personen, um der Einladung Folge zu leisten: Ralph, Robert und Eva.
Die Speisestunde war sechs. Demgemäß machte man sich um halb fünf auf den Weg. Robert zog vor, zu reiten. Eva nahm auf dem Kutschirwagen an der Seite ihres Schwiegervaters Platz, welcher selbst die Zügel führte. Unter dem Regenmantel trug sie einen ihrer schönsten Gesellschaftsanzüge, denn bei Dürenberg – so hatte die Großmama ausdrücklich gemerkt – «gehe es immer großartig her.
Eva freute sich auf dieses Diner und freute sich der Fahrt. Der Weg nach Dornegg führte fast durchgehends durch den Wald; das Wetter war entzückend, alle Fluren in üppigstem Blumenschmuck, die Luft mit um so süßeren Düften gefüllt, als es in der vergangenen Nacht geregnet hatte. Es war doch eine schöne Sache, auf diesem schmucken Wagen, von einem Paar feuriger Jucker gezogen, durch die schöne Landschaft dahinzusausen, einem so schönen Ziele, wie das Fürstenschloß Dornegg, entgegen und an der Seite des lieben König – —
Es überkam sie ein Gefühl intensiver Lebensfreude, über welches sie selber staunen mußte. Sie sah doch ein – erst gestern beim Einschlafen hatte sie es recht lebhaft empfunden —, daß sie eigentlich nicht glücklich, nichts weniger als glücklich war, daß sie das Schicksal getroffen, welches doch eines der traurigsten ist, dem ein Weib verfallen kann: eine verfehlte Ehe. Doch in diesem Augenblick war ihr das Verständniß für das Beklagenswerthe ihrer Lage abhanden gekommen. Was ihr Inneres durchfluthete – was die ganze sommerliche Umgebung erfüllte – war Fröhlichkeit, war jugendkräftiger Daseinsgenuß. Wie hinreißende Tanzmusik klang ihr das rings erschallende Lerchengezwitscher, zu welchem der rhythmische Trab der acht Pferdehufe den Takt gab. »Woran denkst Du, Eva?« fragte Ralph, nachdem er seine Schwiegertochter einige Male seitwärts angeblickt. »Um Deine Lippen spielt ein so heiteres Lächeln —«
»Ich denke – denke an gar nichts, König. Die Fahrt ist so schön, ich freu‘ mich nach Dornegg —«
»Mit anderen Worten: Du bist glücklich?«
Auf diese Frage wollte Eva keine bejahende Antwort geben. Unter dem Begriffe »Glück« stellte sie sich nicht ein momentanes Freudengefühl vor – und sei es noch so heftig —, sondern einen dauernden, durch das Zusammenwirken aller Lebensumstände gesicherten Zustand.
»Du zögerst? Du kannst nicht Ja sagen? Armes kleines Weib. Du warst doch so recht geschaffen zum Glücklichsein.
»Sind wir das nicht Alle?«
»Wenigstens erheben wir Alle Anspruch darauf; besonders in der Jugend. Später lernt man, sich bescheiden, man lernt, auf positives Glück verzichten. Dem positiven Unglück bleibt man freilich immer ausgesetzt. – —« »Hast Du etwa einen Kummer, König?«
»Ich? Ja.«
Eva verstummte. Daß sie kein Recht habe, den Anderen weiter auszuforschen, fühlte sie wohl.
Auch Ralph blieb eine längere Weile ohne zu sprechen. Dann, mit unbefangenem Tone, wie um den Eindruck des Vorhergegangenen zu verlöschen, machte er eine Bemerkung über die Gegend oder dergleichen und hielt während des Restes der Fahrt eine harmlose Unterhaltung aufrecht.
Eine Stunde später waren die Glieder der Dürenberg‘schen Familie und ihre Gäste in dem großen Empfangssaal versammelt. Eva war von der Pracht der Umgebung geblendet. Dornegg übertraf Großstetten in demselben Verhältniß, wie letzteres die Provinzstadt-Wohnung übertraf, welches Evas Jugendheim gewesen. Treppenhaus, Hallen, Säle: überall das Maximum von Reichthum und Großartigkeit. Der Raum, in welchem jetzt die Gesellschaft die Meldung des Diners erwartete, hatte Dimensionen wie ein Kirchenschiff. Die zwanzig oder fünfundzwanzig Personen, welche da in verschiedenen Gruppen saßen und standen, waren ganz verloren in dieser weiten, mit allem erdenklichen Luxus eingerichteten Halle.
Hier, inmitten solcher königlichen Herrlichkeit machte die Fürstin Dürenberg einen viel ehrfurchtgebietenderen Eindruck auf Eva, als letzthin in Großstetten. Hier zeigte sie sich so recht als das, was sie seit 30 Jahren war: eine tonangebende Herrscherin der höchsten Aristokratie des Landes. Die junge Frau fühlte sich der Fürstin gegenüber gehoben und gedemüthigt zugleich. Gehoben in dem Bewußtsein, daß sie als »zur Gesellschaft« gehörig, auf dem Fuße der Gutsnachbarlichkeit, sozusagen als Gleichgestellte aufgenommen war; gedemüthigt in der Gewißheit, daß die Fürstin in ihrem Innern sie für nichts weniger als gleichgestellt betrachtete – daß sie im Grunde auch nichts weniger war als dieses. Sie selbst zwar von vornehmer Abstammung – aber in beinahe ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und jetzt an einen Mann verheirathet, dessen Mutter eine Bäuerin gewesen… Diese letztere Idee hatte sie bisher noch niemals peinlich berührt gehabt; aber hier, wo Alles um sie herum von Fürstenkronen zu schimmern schien, wurde ihr mit einem Male die ganze Mangelhaftigkeit ihres gesellschaftlichen Ranges klar. Alle von der Fürstin Dürenberg ihr erwiesene große Freundlichkeit erschien ihr nunmehr als ebenso große Herablassung, und sie begegnete derselben ziemlich zurückhaltend.
Nicht minder freundlich – ja sogar stürmisch liebenswürdig – zeigte sich ihr die Gräfin Liuba. Nach den ersten Begrüßungen und Betheuerungen, wie sehr sie bedaure, den vorigen Besuch versäumt zu haben, nahm sie Eva an der Hand und zog sie auf einen Sitz neben sich:
»Ach —« begann sie, diese Ausrufungssilbe in russischer Art – d. i. als ob sie mit doppeltem ch geschrieben wäre – »ach! wie ich froh! Sie sind so sympathisch – eine solche Schönheit … ich bin närrisch von Ihnen. Fragen Sie meine belle-maman; seit wir in Großstetten gewesen, spreche ich immer von Eva Siebeck. Wir müssen Freundinnen werden… Wenn ich Jemand liebe, so liebe ich von ganzem Herzen – ach wir werden uns so viel zu sagen haben! Sie müssen mir die Geschichte von Ihrem Leben erzählen, und ich erzähle Ihnen die meine… Dann muß ich Ihnen meine Thiere alle vorstellen. Sie lieben die Thiere, nicht wahr? … Die sind viel treuer als die Männer… Sie sind noch eine zu junge Verheirathete, um das zu wissen – aber, glauben Sie mir – die Männer sind alle schlecht und die Pferde alle gut.«
So ging das noch eine geraume Weile fort. Oefters wollte Eva ein Wort anbringen, sei es, um eine Frage zu beantworten, sei es, um für die Schönheiten zu danken, mit welchen die mittheilsame Russin sie überschüttete, doch sie fand keine Gelegenheit dazu, so unaufhaltsam sprudelte der Andern Rede.
In einer entfernten Ecke des Salons führte der Hausherr das Wort. Um ihn herum stand eine Gruppe älterer Herren, darunter auch Ralph Siebeck. Doch unter all den kahlen Köpfen, ergrauenden Bärten und behäbigen Gestalten nahm Siebeck mit seinem dichten schwarzen Haar, mit seinem biegsamen Wuchs sich aus wie ein junger Kandidat vor einer Prüfungskommission von alten Professoren.
Liuba zeigte nach jener Ecke und machte auf den Kontrast aufmerksam.
»Ihr beau-père ist doch merkwürdig. Ich kenne ihn schon mehrere Jahre, und er ändert sich nicht … Immer reizend und so grand seigneur, so thourough gentleman.«
(»So ein Edelmann und edler Mann, verdeutschte Eva in Gedanken.)
»Ich gestehe Ihnen, daß ich närrisch bin von ihm. —«
»Ach wirklich? Sie – —«
»Ja, ja – wie denn! Ich werde Ihnen Alles anvertrauen. So bin ich: mein Herz auf der Hand. Wenn mir Jemand einflößt Vertrauen, dann habe ich kein Geheimniß mehr… Aber nicht jetzt, später einmal sollen Sie meine confidences hören.«
Unterdessen entwickelte Fürst Dürenberg ein politisch-ökonomisches System; brachte allen nationalen Hader Zum Ausgleich; reformirte das Unterrichtswesen nach den gesunden alten Grundsätzen einer streng christlichen Moral; säuberte das Land von aller volksaussaugenden Judenwirtschaft; festigte die Monarchie gegen jegliche auswärtige Gefahr durch energische Steigerung der Wehrkraft zu Wasser und zu Lande; und eben wollte er sich daran machen – so gewiß als Zugabe —, alle Schwierigkeiten der sozialen Frage aus der Welt zu schaffen, als die Thür des Speisesaales geöffnet wurde.
Die Hausfrau nahm den Arm des ältesten und zugleich vornehmsten Gastes und gab Ralph ein Zeichen, ihre Schwiegertochter zu führen.
»Wie denn! Wie denn!« rief Liuba lebhaft, als Antwort auf Siebecks: »Darf ich?«
Gleichzeitig war auch Robert mit gebogenem Arm herbeigeeilt, mußte aber vor seinem Vater zurücktreten.
»Wie fad!« brummte er. »Du, Eva,« flüsterte er seiner Frau zu, nachdem das Paar vorausgeschritten, »gieb Acht: uns blüht eine Stiefmutter.« Jetzt kam auch Evas befohlener Tischnachbar daher, und Robert mußte dem Wink des Hausherrn Folge leisten, der ihm ein Komteßchen von fünfzehn Jahren zur Partnerin anwies. Dazu drückte Roberts Gesicht wieder deutlich seine Lieblingsredensart aus: Wie fad!«
Die Kunst des »Schönlebens« – le beau-vivre, wie im Französischen die Lebensführung der reichsten Klassen heißt – äußert sich besonders charakteristisch in der Anordnung – man könnte sagen in der Feier – der Hauptmahlzeit. Einen solchen Aufwand, wie derselbe an der Dürenberg‘schen Tafel herrschte, sah Eva an diesem Tage zum ersten Mal. Blumengewinde auf dem Tischtuch, Blumengewinde von dem Lustre herab in geschwungenem Bogen an die Aufsätze befestigt, Silberschüsseln und – zum Nachtisch – Teller und Besteck von Gold; vor jedem Gast eine Garnitur regenbogenfarbiger Glaser, darunter einen Kelch mit einem Blumensträußchen; jede Speise ein malerisch aufgerichtetes Kunstwerk; die seltensten Früchte, die kostbarsten Weine; lautlose Bedienung durch eine Schaar von Lakaien – der Haushofmeister in würdevoller schwarzer Tracht an ihrer Spitze – kurz, die ganze Dekoration war so recht geeignet, die vorhin abgebrochene Abhandlung über das soziale Elend des Weiteren zu erörtern, was Fürst Dürenberg nach der Suppe auch zu thun sich herabließ:
»Wie ich also zuletzt bemerkte, die allgemeine Unzufriedenheit ist eine Folge der Ungenügsamkeit. Man bringe das Volk nur wieder zu den bescheideneren Ansprüchen früherer Zeiten zurück; man erziehe den Bauer so, daß er Bauer bleibe, nämlich sein Feld bestelle und nicht nach den Städten dränge, was nur maßlose Genußsucht und Lasterhaftigkeit zur Folge hat, – oder nach den Fabriken, wodurch die Ueberproduktion entsteht und wo die gewissenlosen jüdischen Fabrikbesitzer den armen Mann aussaugen – mit einem Wort, man hebe die unglückseligen Irrthümer auf, die ein blinder Liberalismus begangen hat: man schaffe einfachere, gesundere Zustände und das Elend wäre aufgehoben. Als noch die Robot herrschte, war das Volk bei Weitem glücklicher als jetzt. Damals gab es keine Sozialdemokraten. Wer auf dem Lande lebte, für den sorgte mit väterlicher Umsicht der Gutsherr, und wer in der Stadt geboren war, und dort ein ehrliches Handwerk betreiben wollte, der war sicher, von seiner Zunft aufrechtgehalten zu werden, und da gab es auch keine Großindustriellen, welche das kleine Gewerbe todtdrückten, kurz —«
»Kurz«, fiel Ralph Siebeck ein; »vor ungefähr zwölf Stunden war es früher Morgen, die Sonne ging rosig auf, die Luft war frisch und würzig, die Flur bethaut; jetzt hingegen ist es schwül draußen, die Sonne droht unterzugehen. Schicken Sie doch gefälligst einen Diener in den Thurm hinauf, daß er die Uhr auf fünf Uhr früh zurückrichte, da wird es gleich wieder frisch und morgenröthlich werden.«
»Mein lieber Siebeck, Ihr Vergleich hinkt. Das Zurückrichten der Zeiger hat auf den Lauf der Zeit keinen Einfluß – aber das Zurechtrücken politischer Einrichtungen liegt in den Händen der Gesetzgeber.« »Daß mein Vergleich hinkt, gebe ich rückhaltlos zu, Durchlaucht. Jedoch in anderer Richtung, als Sie hervorzuheben belieben. Die Unmöglichkeit einer effektiven Rückwärtsbewegung ist durch meine – übrigens schon oft gebrauchte Parabel ganz richtig illustrirt. Ebensowenig, wie das Uhrwerk auf Ihrem Schloßthurm, können die Gesetzgebungen die Zeit machen, sie zeigen dieselbe nur an. Wo aber besagter Vergleich erbärmlich hinkte, das ist da, wo er auszudrücken schien, daß so wie der frische Morgen schöner ist, als der schwüle Nachmittag, daß die vergangenen Epochen schöner und lieblicher waren, als die gegenwärtige, und das wollte ich durchaus nicht gesagt haben.«
»Und gerade das wäre das einzig Richtige an Ihren Allegorien gewesen, denn wahrlich, die Gegenwart ist gar unheimlich schwül.«
Siebeck wollte noch etwas erwidern, aber seine Nachbarin Liuba fiel ihm ins Wort:
»Ach, um die Liebe Gottes – wie Sie langweilig! So lassen Sie doch,« fügte sie leiser hinzu, »lassen Sie den beau-pére seine Parlamentsreden ruhig einüben und reden wir von angenehmeren Dingen. Für was alle diese Dispute? Die Welt geht doch wie der gute Gott will.«
Warum machte es Eva einen unangenehmen Eindruck, daß sich Ralph zu Liuba hinüberbog und leise Worte zu ihr sprach? Robert hatte mit großem Unwillen auf eine Möglichkeit hingedeutet, welche auch sie mit Unwillen erfüllte – jedoch nicht aus demselben Grunde. Ihr Mann hatte wahrscheinlich an das zu schmälernde Erbe gedacht – und sie? …
Nach Tisch forderte Liuba ihre neue Freundin auf, mit in ihre Zimmer zu kommen – sie wolle ihr ihre Lieblinge vorstellen und eine »bonne causerie« genießen. Dazu – zu einer vertraulichen Plauderei – fühlte sich Eva gar nicht hingezogen; die lebhafte Russin flößte ihr nicht das mindeste Vertrauen ein; aber selbstverständlich: was konnte sie auf den freundlichen Vorschlag anderes erwiedern als: »Mit größtem Vergnügen!«
Liubas Zimmer spiegelten – wie dies Zimmer häufig zu thun pflegen – die Eigenthümlichkeit ihrer Herrin deutlich wieder. Reich, nachlässig, launenhaft, sehr » grande dame«, flattersinnig, kunstliebend, thierfreundlich, eitel, bigott, verliebter Natur – alle diese Züge, welche Liubas Charakterphysiognomie bildeten, fanden hier in Wahl und Anordnung der Einrichtungsgegenstände ihren Ausdruck.
Im Schlafzimmer das große mit einem von Amoretten gehaltenen Himmel überdachte Bett; ein Rokokoputztisch mit silberfunkelndem, dem Toilettenraffinement dienendem Werkzeug; ein hoher Ankleidespiegel; schwellende Sitzmöbel; Vorhänge und Wandverkleidung aus spitzenverschleiertem rosa Atlas und dazu in einer Ecke ein strenger dunkelfarbiger Betschemel mit Heiligenbildern und ewig brennendem Oellämpchen. In dem andern Zimmer – dem eigentlichen Wohngemach – noch bunteres Durcheinander: Staffeleien, Stickrahmen, Modellirtisch, Ruhebett, Puffs, Fauteuils in allen Formen und allen Farben, ein Pianino mit einer aufgeschlagenen Operrettenpartitur auf dem Pult, kleines mit Bronze und Email geziertes Schreibtischchen, Blumenvasen, Nippes, Rauchgeräthe, herumliegende, halb aufgeschnittene französische Romane mit Titeln wie: » Une Page d‘amour«, » Amours criminelles«, » Folle d‘amour« und dergleichen; ein Papageienhaus, in welchem auf seinem Messingring ein Kakadu sich schaukelt, ein zweiter Käfig, in dem ein ganz kleiner Seidenaffe an den Gefängnißstäben rüttelt, auf dem Boden verschiedene weiche Kissen, die für Darling, Tresor und Galubka – die drei regierenden Favorit-Hündchen – als Ruhelager dienen; eingelegte, geschnitzte, vergoldete Kasten und Kästchen, in deren sammetgefütterten Schubladen vermuthlich allerlei Pretiosen ruhen; an einer Wand ein lebensgroßes Bild, welches die Besitzerin darstellt – eben im Begriff ein englisches Pferd zu besteigen; mit der einen Hand hebt sie das Reitkleid ein wenig empor, um das bestiefelte Füßchen in den Bügel zu setzen; mit der anderen hält sie den Sattelknauf.
Als Liuba und Eva dieses Gemach betraten, stürzten ihnen Darling, Tresor und Galubka mit lärmendem Gebell entgegen.
»Schweigt, schweigt, meine Seelchen – meine Schönheiten, schweigt!« befahl die Herrin auf Russisch.
Zugleich hub der Kakadu ein schrilles Schreien an, wobei er seinen gelben Schopf wie einen Fächer auf– und zuklappte, und der Affe spielte sich mit verstärktem Kerkergitter-Rütteln auf den freiheitsdurstigen Staatsgefangenen hinaus; kurz, es herrschte im ersten Augenblick ein Heidenlärm. Indessen ein paar Machtworte der Gebieterin stellten die Ruhe bald wieder her.
»So, und jetzt, liebe Gräfin Siebeck,« – sie wies mit der Hand nach einem Fauteuil, der neben der Chaiselongue stand, auf welchem sie sich selbst niederließ, – »setzen Sie sich daher, und ich hier auf meiner gewohnten »Couchettka«, da können wir plaudern.« Sie zog aus ihrer Tasche eine goldene Cigarettenkapsel und reichte sie Eva hin. »Ihnen gefällig?«
»Nein ich danke – ich rauche nicht.«
»Nicht rauchen? … Das müssen Sie lernen – ganz bestimmt – ohne Rauchen lebt man nur halb.« Und sie steckte ihre Cigarette in Brand. »Ach – Sie schauen das Bild dort an, das bin ich, als junges Mädchen … und das Pferd war das erste, das ich geritten, die gute alte Lady-Bird – hat ihren Pensionsstall auf meiner Besitzung im Gouvernement Kiew. Wie oft habe ich das edle Thier abgemalt … Sehen Sie dort an der Wand, den Pferdekopf – das ist auch die Lady-Bird – erkennen Sie sie nicht?«
»Ja,« sagte Eva, »es ist dasselbe Gesicht, nur mit etwas lächelnderem Ausdruck.« In der That, das von Liuba gemalte Thier schaute so verschmitzt drein, als ob es eben im Begriffe wäre, mit den Vorderhufen Rübchen zu schaben.
»Und diese Photographien an dem Paravent, das ist die ganze kaiserliche Familie – die meisten mit eigenhändigem Namenszug. Der Kaiser ist der Pathe von meinem Sohn. Ach, den kennen Sie noch gar nicht?« Sie klingelte. »Sergey Gugowitsch!« befahl sie der eintretenden Kammerfrau.
»Sergey Gugowitsch njetu« (nicht da), lautete die Antwort.
»Nicht? – Auch gut!« Und sie winkte die Dienerin wieder ab. »Mein Sergey ist fast den ganzen Tag im Walde. Der Doktor hat es befohlen. Mir hat der Doktor auch große Fußtouren befohlen – aber ich folge ihm nicht – ich hasse, zu gehen. Reiten – ja … aber jetzt sind meine zwei Reitpferde unwohl, da kann ich nicht hinaus und nehme, gar keine Bewegung. Das macht mich noch nervöser … ich werde mich im Monat August behandeln müssen – vielleicht in den Wassern von Vichy oder Scheveningen Sie haben gar keine Idee, wie ich bin nervös! Oft ich muß so bitter weinen, ohne zu wissen warum – dann knie ich vor meinem Heiligen und bete, bete, daß die Seele überfließt, und er erhört mich und schenkt mir Ruhe. Er ist ein sehr guter Heiliger, der Alexander Newsky – was man von ihm ordentlich verlangt, das bekommt man; der ist mein Liebling, den sollten Sie auch adoptiren. Ach so, ich vergaß: Sie sind ja nicht orthodox. Mein Sergey ist auch nicht orthodox, und das kränkt mich – aber der gute Gott ist ja für Alle da, nicht so? Und der Unterschied ist so klein zwischen unseren Religionen, nicht so? Sie müssen einmal nach Petersburg kommen – ganz bestimmt. Die Großfürsten werden sein alle ganz närrisch von Ihnen. Ach – ein Ball im Winterpalast – es ist féerique … Lieben Sie tanzen? Ich tanze so viel, bis ich hinfalle, müde, selig. Tanzen und reiten, das sind große Freuden, Und lesen … lesen Sie viel? Ich nur von Liebe – ein Buch ohne Leidenschaft ist gar kein Buch: Il n‘y a que ça! Das ist die Glorie des Lebens: für die Männer der Krieg, für uns andere Frauen die Liebe.«
Noch lange ging es in diesem Tone fort. Kaum daß Eva hier und da ein Wörtchen anbringen konnte; unaufhörlich sprudelte der Andern Redequell, hastend, von einem Gegenstand zum andern so unvermittelt überspringend, daß die nothwendig vorhergegangene Ideenverknüpfung unmöglich sich errathen ließ.
Alles, was sie da hörte, berührte Eva im höchsten Grade befremdend und neu. Es ward ihr ganz schwindlig dabei. Welche Lebensgeister in dieser Frau doch sprühten, welche Heftigkeit in allen ihren Neigungen, in ihrem Fühlen – dabei aber wie klein und seicht in ihrem Denken. Ja, leidenschaftlich war sie – aber, mit dem gleichen Feuer entbrannte ihre Begeisterung für die Schutzkraft des Lieblingsheiligen Alexander Newsky, wie für das Modegenie des Pariser Schneiders Worth. In Zichy – o wie süß malte er kaukasische Bilder – bewunderte sie das Malertalent ebenso rückhaltlos, wie sie von dem »süßen gelben Schopf« ihres Kakadus entzückt war. Ach – der herrliche Bariton Faures und der göttliche Wellenschlag des Ozeans in Dieppe – auch die Austern so deliziös … In der Blumenschlacht von Nizza hatte ihr Wagen einen Preis davongetragen: das war doch einer der schönsten Siege ihres Lebens gewesen; aber am herrlichsten war es doch, wenn sie auf ihre Besitzung im Gouvernement Kiew kam, und alle ihre Bauern den Saum des Kleides küßten: »Mütterchen, Mütterchen, Gott mit Dir!«
Alle diese Bilder hatte Liuba in einer Viertelstunde, ohne Athem zu schöpfen, an ihrer verblüfften Zuhörerin vorbeiziehen lassen, dann sprang sie auf.
»Ach!« rief sie, »wie gut es sich plaudert mit Ihnen! Jetzt kennen wir einander, als kennten wir uns seit vielen Jahren – nicht so? Aber ich darf Sie nicht langer aufhalten; gehen wir in den Salon zurück, Ihr junger Gatte wird schon Sehnsucht haben nach Ihnen … Ist der jetzt immer so still? Sein Vater ist viel lebhafter – ein herrlicher Mensch, unser Ralph … gehen wir – gehen wir – diese Herren werden sonst böse.«
»Unser Ralph« – – Um ihr Leben gern hätte Eva die Gräfin Dürenberg gefragt, wie weit Ralph »der ihre« war, doch es fehlte ihr der Muth dazu. Es war ihr überhaupt nicht möglich, zu der quecksilberhaften Russin Vertrauen zu fassen, jetzt, nach diesem Besuch noch weniger als zuvor.
Im Salon wurde Eva von der alten Fürstin in Beschlag genommen, und von ihrem Platze aus konnte sie sehen, wie in einer Fenstervertiefung, von allen Andern getrennt, Liuba und Ralph eine halbe Stunde lang in eifriges Gespräch vertieft blieben. Robert stand in einer Gruppe von aus dem Nachbarstädtchen herübergekommenen Kavallerie-Offizieren und unterhielt sich mit diesen ausschließlich von Pferden, wenigstens hörte Eva, die öfters hinüberhorchte, nichts Anderes, als Sportausdrücke.
Nachdem der Thee herumgereicht worden, gab Ralph das Zeichen zum Aufbruch. Die Hausleute trugen eindringlich an, daß Siebecks die Nacht in Dornegg bleiben und erst am folgenden Tag nach Hause fahren mögen; aber dieser Antrag wurde dankend abgelehnt —: auf Uebernachtung hatte man sich nicht vorbereitet, und der Vollmond gewährte ganz genügendes Licht.
»Wir müssen oft zusammenkommen,« sagte Liuba beim Abschied zu Eva, »wir verstehen einander so gut! Und Sie, Graf Ralph Siebeck, vergessen Sie nicht, daß Sie zwischen zwei und vier Uhr bei mir immer finden können eine Tasse Thee.«
Auf dem Rückweg faß Eva wieder auf dem Kutschirwagen neben Ralph, während Robert auch wieder vorgezogen hatte, zu reiten.
»Wie hast Du Dich unterhalten?« fragte Ralph, nachdem der Wagen aus dem Schloßhof ausgefahren.
Es war in der That eine prachtvolle, vom hellsten Mondlicht durchfluthete Sommernacht, von duftbeladenem, lauem Windzug durchfächelt.
»O köstlich, köstlich!« rief Eva tief aufathmend. »Das heißt – diese Nacht finde ich köstlich und diese Fahrt – nicht die stattgehabte Unterhaltung.«
»Und wie fandest Du diese?«
»Das kann ich nicht recht sagen, König … Ich erhalte jetzt so viele und so fremdartige Eindrücke auf einmal, daß ich mir selber nicht Rechenschaft geben kann über die Empfindungen und Gedanken, die mich nun erfüllen. Es sind auch gar zu wechselnde Gefühle: bald froh, bald traurig … ich komme mir so unerfahren, so nichtig vor. Was weiß ich von der Welt im Allgemeinen, was von der großen Welt, in die ich da versetzt bin? Ich habe ja bisher in so einfachen Verhältnissen gelebt, alle diese fürstlichen Herrlichkeiten blenden mich und drücken mich nieder. Solcher Reichthum, solche Vornehmheit … Dieser Liuba gehört ja von der Krim bis Ostende und quer darüber, von Biarritz bis Petersburg, die ganze Welt und was für eine? überall die höchste, verfeinertste, während ich … Andererseits, König, Liubas Welt ist doch wieder eine kleinere Welt als diejenige meiner Jugendträume, als diejenige, welche mir so hohe Ziele zu enthalten schien, – ach, ich drücke mich ungeschickt aus … aber ich glaube, daß Jener doch so vieles, vieles fehlt, von dem ich glaube, daß das Leben … siehst Du, ich kann die Worte nicht finden, um zu sagen, was ich meine.«
»Ich verstehe Dich, Kind, mein armes Kind.« Er sprach es mit weicher Stimme.
»Ja, Du, König – Du bist der Einzige in dieser mir neuen Umgebung, von dem ich glaube, daß – schon wieder fehlen mir die Ausdrücke.«
»Der Einzige, der an das Verständniß Deiner Ideale hinanreicht, willst Du sagen?«
»Hinanreicht? O, sie weit überflügelt. Ich glaube, Dein Geist ist mit Dingen erfüllt, von welchen ich keine Ahnung besitze. Das habe ich aus dem Inhalt Deiner Lieblingsbücher gesehen, in welchen ich geblättert, ohne sie verstehen zu können; das habe ich aus manchen Deiner Aeußerungen herausgehört, welche Du fallen ließest, wenn Du mit dem Fürsten – oder mit Andern – über große, allgemeine Fragen sprachst. Da wollte ich am liebsten zu Dir gehen und Dich bitten: unterrichte mich, belehre mich.«
»Du bist ein liebes Mädchen.«
»Mädchen? Ich wollte, ich wäre es.«
»Das wollt‘ ich auch …«
Darauf schwiegen Beide.
Zu Hause angelangt, half Ralph seiner Schwiegertochter vom Wagen herab und drückte einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn.
»Gute Nacht,« sagte er. »Robert wird wohl schon hier sein – der Reitweg ist kürzer.«
IX
In ihren Zimmern fand Eva nur die Kammerjungfer, welche ihrer harrte; Robert war nicht da.
»Der Herr Graf ist schon vor einer Viertelstunde angekommen,« antwortete die Jungfer auf Evas diesbezügliche Frage. »Er ist noch einmal hinausgegangen – ins Dorf.«
Eva konnte ein ärgerliches Achselzucken nicht zurückhalten. Also wieder ins Wirthshaus – war das doch eine abscheuliche Gewohnheit… Sie entließ ihr Mädchen.
»Ich werde mich noch nicht niederlegen – der Graf wird wohl gleich kommen – geh‘ nur, ich kann mich allein auskleiden.«
Sie wollte Robert erwarten. Sie nahm sich vor, mit ihm eine lange Plauderei über die Erlebnisse des Tages in Gang zu bringen, die beiderseitigen Eindrücke auszutauschen über das Dürenbergsche Haus und dessen Einwohner, über die politischen Reden des Fürsten, über die Charaktereigenthümlichkeiten Liubas … sie mußte wahrlich sich daran machen, zwischen Robert und sich einen mitteilsameren Ton einzuführen, und ein paar Vorwürfe – ganz leise Vorwürfe – wollte sie ihm auch machen über diese Manie, Abends immer noch Wein zu trinken und noch dazu in der Schänke – war das gesund? – schickte sich das? Vielleicht konnte doch versucht werden, was ihr von verschiedenen Seiten aufgetragen worden: die Erziehung Roberts. Solche Dinge kommen vor; sie hatte von ähnlichen Verhältnissen gehört und gelesen, wo es dem Einfluß einer Frau gelungen, dem Gatten seine Fehler abzugewöhnen, ihm Sinn für edlere Bestrebungen zu wecken und in seinem Herzen Begeisterung für höhere Ideale zu entfachen. Um dies zu erreichen, muß freilich die Frau vor Allem eine gewisse Gewalt über den zu leitenden Mann gewinnen – eine Gewalt, die nur auf der Liebe beruhen kann, welche sie ihm einflößt. So nahm sich Eva vor, ihr Möglichstes zu versuchen – sich gegen Robert recht zutraulich, recht zärtlich zu zeigen, um auch seine Zärtlichkeit, sein Zutrauen zu erlangen; dann würde ihres Gatten Charakter vielleicht allmählich ein anderer werden und – wer weiß – wenn das Erziehungswerk gelänge, vielleicht würden sie noch ein innig beglücktes Paar … Ja, sie mußte aus sich heraustreten, ihm entgegenkommen – er war keine mittheilsame Natur, im Gegentheil sehr schüchtern und verschlossen. Nun hatte auch sie sich zurückhaltend gezeigt, seiner Kälte eine noch größere Kälte entgegengehalten, und dadurch war dieses Fremdgefühl entstanden, das wie eine Mauer zwischen ihren beiden Seelen sich erhob. Diese Mauer durfte man nicht noch höher werden lassen, im Gegentheile: dieselbe energisch niederreißen. Heute noch wollte sie damit beginnen… Nun hub sie an, sich im Geiste vorzuspielen, wie sie in der nächsten Viertelstunde – er mußte ja jeden Augenblick kommen – den heimkehrenden Gatten empfangen, welche Worte sie an ihn richten würde. »Mein lieber Robert,« wollte sie sagen und dabei ihren Arm um seinen Hals schlingen, »mein geliebter Robert« – dann führte sie die Scene weiter aus. Wenn er auch – nach seiner Gewohnheit – eben weil er so schüchtern und undemonstrativ ist, wenn er sie etwa wieder fortstieße: »Geh‘ sei nicht sentimental!« so würde sie diesmal nicht, wie sie es sonst gethan, sich gleich zurückziehen und dann stunden– und tagelang kalt bleiben – nein: sie würde mit sanfter Beharrlichkeit sich ihm von Neuem nahen: »Nicht sentimental bin ich, mein theurer Mann – ich habe Dich nur herzlich lieb, und das sollst Du, wissen – in diesem Wissen, daß wir uns gegenseitig gut sind, ist ja unser beiderseitiges Glück begründet, nicht wahr, mein Robert?«
So träumte und plante sie lange fort; führte ganze Gespräche durch; lieh ihrem Gatten zuerst kalte, dann immer wärmere Antworten; sie zeigte ihm eigentlich viel mehr Liebe, als sie empfand, denn, wahrlich, in letzterer Zeit hat sie sich oft bei Anfällen heftiger Abneigung ertappt – doch die hervorgekehrte Zärtlichkeit gehörte zu der anzuwendenden Methode; einen ganzen Erziehungsplan baute sie für die Zukunft, – ganz allmälig nur wollte sie vorgehen.
Auf diese Weise verging eine Stunde. Eva erschrak, als sie, aus ihrem Sinnen erwachend, auf die Uhr blickte und gewahr wurde, daß Robert schon eine volle Stunde ausgeblieben. Sie ging an das Fenster, öffnete es und horchte hinaus, ob seine nahenden Schritte nicht schon zu hören seien – nichts. Unausstehlich! Wie konnte er nur so lange draußenbleiben an dem Dorfwirthshaustisch … waren denn die Gespräche des Försters und seines Gehilfen gar so fesselnd? Sie begann sich zu ärgern, und der Vorsatz, den Heimkehrenden zärtlich zu empfangen, kam ins Schwanken – verdiente er nicht eher Vorwürfe als ein freundliches Willkomm? Doch nein, zur »Gardinenpredigerin« werde sie sich niemals erniedrigen… Gerade, weil er fühlen mochte, daß er Vorwürfe verdiente, würde er desto freudiger berührt sein, einen freundlichen Empfang zu finden.
Sie machte das Fenster wieder zu und setzte sich auf ihren vorigen Platz. Um sich die Wartezeit zu vertreiben, versuchte sie, ihre Gedanken von vorhin wieder aufzunehmen: »Mein lieber Robert – nicht sentimental bin ich, sondern —« sie hatte den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen – ein leiser Schlummer befiel sie, in welchem sie ihr Bewußtsein jedoch nicht gänzlich verließ; sie wußte ganz gut, daß sie da saß, die Ankunft Roberts erwartend, mit ihm eingebildete Gespräche führend, aber die Kraft, diese Gespräche willkürlich zu leiten, hatte sie verloren; sie konnte die Gedanken nicht mehr festhalten, und auch das Bild ihres Gesprächspartners fing an, in Nebel zu verschwimmen, um mit veränderten Umrissen wieder aufzutauchen: … »König, mein lieber König …« Wieder legte sie die Arme um seinen Hals, »nicht sentimental bin ich, theurer Gatte, sondern —« Er stieß sie nicht fort… und wie war das doch? Erziehen sollte sie ihn – ihn langsam zu ihrer Höhe heraufleiten? O nein, im Gegentheil: er, der sie so schützend umschlang, der so innig ihr zuflüsterte: »ich verstehe Dich, Kind, mein armes Kind —« er war ja weit erhaben über sie; um ihn zu erreichen, mußte sie die Emporgeleitete sein.
Ein Lärm schreckte sie auf. Verwirrt blickte sie um sich, aber zwei Sekunden genügten, um ihr Bewußtsein wieder herzustellen: ja, sie erwartete Robert, ihren Mann, und der Lärm war das Rütteln der Thürklinke unter seiner Hand. Aber warum rüttelte er so, warum trat er nicht einfach ein? Hatte sie in der Zerstreuung etwa zugesperrt?
Sie stand auf, um an die Thür zu gehen, dabei fiel ihr Blick auf die Standuhr. Wie – zwei Uhr? So lange hatte sie in Schlaf gelegen, und so spät, so spät kam Robert nach Hause?
Doch jetzt, noch ehe sie bis zur Thür gelangte, that sich dieselbe auf, und Robert trat – nein, – taumelte herein.
Er stieß an einem Lehnstuhl an und ließ sich hineinfallen. Eva eilte auf ihn zu:
»Robert – was ist Dir? Was ist geschehen?… Ein Unglück?«
Ja, es war ein Unglücksfall. Einer der bittersten, der eine junge Frau treffen kann: im eigenen Mann einen – Trunkenbold zu erkennen. Die Stunde, welche nun folgte, war die fürchterlichste, welche Eva noch erlebt hatte. Denn der Rausch, den Robert mitgebracht, glich mehr einem Rasereianfall als einem Rausche. Zuerst ein Lallen, dann ein Fluchen, zuletzt ein Toben. Er wollte mit dem Kopf an die Mauer rennen, er wollte die Stühle zerbrechen, er wollte mit dem Arm ausholen, um Eva zu schlagen – doch zum Glück war er so schwach, daß sie ihn jedesmal bändigen konnte, daß er beim geringsten Stoß ihrer Hand wieder auf seinen Sitz zurücktaumelte. Was sie jedoch nicht bändigen konnte, das war seine Rede, das waren die gemeinen Schimpf– und Lästerworte, die von seinen Lippen flossen, die cynischen Scherze, und daneben die bösartigsten Drohungen – Mord– und Mordbrennerpläne: Den Vater, den alten Lumpen, der noch einmal heirathen will und ihn um sein Erbe verkürzen, den soll man todtschlagen … und dem russischen Weibsbild soll man das Dach über dem Kopf anzünden …» »und Dir, dumme Bestie … warum giebst Du mir keinen Wein? … Dir soll man den Hals umdrehen … einen Wein her! oder ich hau‘ Dir den Schädel ein …«
Seine Stimme wurde immer lauter, die Sprache immer undeutlicher; endlich war es nur noch ein Stöhnen und Brüllen. Die Kammerjungfer, welche unweit schlief, war durch den Lärm geweckt worden und kam hereingestürzt.
Auch sie rief, wie vorhin die Herrin:
»Was ist geschehen? … Ein Unglück?«
Doch sie erkannte schnell den Sachverhalt.
»Ah so,« sagte sie – »der Herr Graf hat Einen —«
Eva hätte vor Scham in den Boden versinken mögen.
»Es ist das erste Mal —« begann sie.
Die Jungfer schüttelte den Kopf:
»O nein, Frau Gräfin – ich hab‘ gehört, daß der junge Herr, so oft er in Großstetten war, immer ein paar Mal … aber das thut ja nix,« fügte sie hinzu und erzählte hierauf eine Anzahl Erfahrungen aus früheren Dienstplätzen, in welchen betrunkene Herren eine Rolle spielten. Da war der Baron So und So der alle Nacht eine Flasche Cognac leerte und mit vierzig Jahren am Säuferwahnsinn gestorben; da waren drei junge Brüder ihrer früheren Komteß, die allwöchentlich zwei Saufgelage veranstalteten, wo einer den anderen unter den Tisch trank. Da war noch dieser und jener; – »nein, nein, wirklich, Frau Gräfin« schloß sie, »das dürfen‘s Ihnen nicht zu Herzen nehmen – auch wenn der Herr Gemahl ein bissel wild wird… das is schon so: Der Eine wird traurig und weint wie ein Kind, wenn er ein‘ Rausch hat; der Andere wird lustig und fidel, und ein Dritter wird rabbiat – Der Herr Graf Robert is halt so Einer.«
Während sie so sprach, hatte sie ihren Herrn am Arm gefaßt und schleppte ihn zum Bett. Jetzt stieß er keine wüthenden Laute mehr aus, sondern jammernde, da er von Ueblichkeiten befallen war.
Von unsäglichem Ekel erfaßt, floh Eva aus dem Schlafzimmer in das Nebengemach. Hier warf sie sich auf das Ruhebett und weinte bitterlich.
Nach einiger Zeit kam die Kammerjungfer herein:
»So, Frau Gräfin – jetzt ist alles in Ordnung – der Herr schläft und wird sicher vor acht Stunden nicht wach. Frau Gräfin können jetzt auch zu Bette gehen … soll ich auskleiden helfen?«
»Nein, geh nur … danke.«
Das Mädchen entfernte sich, und Eva blieb da, wo sie war – die ganze Nacht. Sie hätte es nicht über sich gebracht, neben dem Rauschausschlafenden sich zur Ruhe zu legen. Derselbe flößte ihr Ekel und – Furcht ein. »O ich Unglückliche – Unglückliche! … Das ist mein Mann – mein Lebensgenosse – mein Gebieter. – Und solche Auftritte können sich wiederholen … es kann nächstens wieder geschehen, daß er als Wahnsinniger, als wildes Thier sich geberdet…«
Es stiegen ihr Gedanken auf an Scheidung, an Flucht… Aber welchen Scheidungsgrund anführen? Weil der Gatte einen Rausch gehabt? Das löst keine Ehe auf. Und wohin fliehen? Sie war ohne Familie, ganz mittellos, was beginnen?
Vor Allem: ihr Leid mußte sie Jemandem klagen, allein konnte sie es nicht tragen. Aber wem? Es gab nur Einen, dem sie ihr Herz hätte ausschütten mögen, und gerade diesem Einen konnte sie doch nicht sagen: »Dein Sohn ist mir ein Greuel.«
Sie verbrachte ein paar qualvolle Stunden. Aus dem Nebenzimmer drang das Schnarchen des Schlafenden. Die eben stattgehabten Auftritte spielten sich immer wieder in ihrer Phantasie ab; sie konnte die Gefühle nicht los werden, und im Ohre gellten ihr unaufhörlich die vernommenen Stimmenlaute nach – schreiende, drohende, grunzende, bellende Töne, wilde, böse, gemeine, sinnlose Worte.
Unmöglich zu schlafen! Die Lampe auf dem Pfeilertisch erlosch, das Oel war ausgebrannt, und Eva blieb im Finstern. In das Nebenzimmer gehen, vom Nachttische die Zündhölzchen holen? Nein – um keinen Preis … wenn ihre Schritte den Schläfer weckten, so konnte er sie packen und drosseln …
Uebrigens dauerte es nicht mehr lange und durch die Fensterscheiben fiel gelbes Dämmerlicht: Die kurze Sommernacht war zu Ende. Eva ging an das Fenster, Öffnete es und badete ihr Gesicht im Wehen der kühlen Morgenluft. So blieb sie eine Zeit lang hinausgelehnt. Die Schreckensgedanken begannen sich zu verflüchtigen; der feuchte Morgenwind, das blasse Dämmerlicht das Vogelgezwitscher, von dem der eintönige Ruf der Hähne sich abhob, das Alles wirkte so gewiß einlullend; eine große Ruhesehnsucht überfiel sie – die Sehnsucht, durch mehrstündigen Schlaf sich aus dem Bewußtsein zu flüchten. Sie ging an das Ruhebett zurück und legte sich hin; ein paar Minuten später war sie eingeschlafen.
Erst nach mehreren Stunden wachte sie auf. Robert, ganz angekleidet, stand neben ihr.
»Was machst Du hier?« fragte er erstaunt. »Ich hab‘ geglaubt, Du seist schon draußen – auf einem Morgenspaziergang – und jetzt finde ich Dich hier schlafend. Warum bist Du so früh aufgestanden, wenn Du noch schläfrig warst?«
»Ich bin nicht früh – ich bin gar nicht aufgestanden. Ich hatte mich nämlich gar nicht niedergelegt…«
Er blickte sie fragend an: »Ich habe mich zu sehr vor Dir gefürchtet – denn Du warst fürchterlich, fürchterlich!«
»Ah – so ist die Geschichte wahr? Hab‘s also nicht – geträumt, bin mit einem kleinen Tampus nach Haus gekommen?«
Sie zuckte verächtlich mit den Achseln und wandte den Kopf ab.
»Ach, bitt‘ Dich – thu‘ nicht gar so zimperlich! Was ist da weiter dran, wenn ein Mensch einmal einen Schwips hat? Geschieht mir ohnehin selten, denn ich vertrag‘ viel. Viel Wein nämlich vertrag‘ ich, aber Grimassen und Faxen von einer Frau vertrag‘ ich nicht – hörst Du? So von oben herab laß ich mich nicht anschauen, und alle Zierereien und Uebertreibungen sind mir verhaßt.«
Sie stand auf, legte ihre Hand auf seinen Arm und schaute ihm ins Gesicht:
»Robert – fragst Du denn nicht auch darnach, was mir verhaßt sein könnte? Was mir Grauen einflößen muß? Du weißt wohl gar nicht mehr, daß Du Dich wie ein Rasender geberdet hast – brutal – mordlustig …«
Er lachte.
»So schlimm war‘s? Also hatte ich einen Tüchtigen. Davon weiß ich gar nichts mehr. Aber Du wirst doch nicht so dumm sein, Einen für das verantwortlich zu machen, was er im Rausch treibt und redet? Das thut nicht einmal das Gericht.«
»Jedenfalls kann ich Dich dafür verantwortlich machen, daß Du Dich in einen solchen Zustand versetztest. Wenn Du Dich achtest – und wenn Du mich nur ein wenig lieb hast, Robert, so sei in Zukunft—«
»Hübsch solid und brav, was? Nur Wasser trinken, fleißig arbeiten, vielleicht auch Rosenkranz beten? Geh, laß mich aus – Du wirst mich nicht erziehen.«
»Du willst Dir also mir zu lieb gar keinen Zwang anthun? Warum frage ich nur: Du hast mich ja gar nicht mehr lieb … Ich begreife nicht, wodurch ich Deine Zuneigung verloren habe – denn ich besaß sie doch? Du warst doch verliebt in mich, Robert? … Warum hättest Du mich sonst zur Frau gewählt – ich verstehe nicht, begreife nicht —«
»Zerbrich Dir nicht den Kopf und sei nicht fad.«
Damit kehrte er ihr den Rücken und ging zur Thür hinaus.
X
Eva erschien nicht zum Gabelfrühstück. »Die Frau Gräfin habe Kopfschmerzen und bleibe auf ihrem Zimmer,« war von der Kammerfrau gemeldet worden.
Zur Speisestunde kam dieselbe Meldung, und »die Frau Gräfin lasse um eine Tasse Bouillon bitten«.
Befragt, was seiner Frau fehle, antwortete Robert achselzuckend:
»Ich weiß nicht … Kopfweh, sagt sie und giebt sonst keine Antwort. Vielleicht Launen.«
Im Laufe des Nachmittags gingen die Großmutter und Irene, bei Eva nachzusehen; aber die Kammerjungfer ließ Niemand vor: »ihre Herrin schlummere«.
Indessen – Eva schlummerte nicht; auch hatte sie keinen heftigen Kopfschmerz. Sie wollte nur allein sein – allein mit ihrem Unglück, allein mit ihren Gedanken. Denn sie überlegte: wie sollte sie ihrem Loos entfliehen oder wie es tragen? Dieser Mensch, dieser Robert – er begann, ihr Abscheu einzuflößen. Wie einst – wenigen Monaten erst – sie das Bewußtsein, daß sie liebte, mit einem süßen und seligen Schauer überkam, so überkam sie jetzt mit ebenso bitterem und schmerzlichem Schauer die Erkenntniß, daß in ihr Herz der Haß sich einzuschleichen begann. Damals genügte es, das Bild des vorbeireitenden, zum Fenster hinaufgrüßenden jungen Offiziers sich vorzustellen, um von einem beglückenden, zärtlichen Empfinden durchglüht zu werden, und jetzt – wenn ihr das Bild aus der vergangenen Nacht vor das innere Auge trat – so reichte das hin, sie mit Entsetzen und Widerwillen zu erfüllen … Und der Gefürchtete, der Verachtete war ihr Mann, der Gefährte ihrer ganzen Zukunft!
Freilich: das mußte sie zugeben – da hatte er sich richtig vertheidigt: was Einer im Rausche spricht oder thut, dafür ist sein nüchternes Selbst nicht verantwortlich. Es wäre eine Ungerechtigkeit von ihr, ihn so zu beurtheilen, als hätte er die Greuel auch begangen, die er im Irrsinn der Trunkenheit nur gesprochen. Doch, im Wein liegt Wahrheit: die Rohheit, welche sich da geoffenbart, war die vielleicht nicht die echte Grundlage seines Wesens? Auch im nüchternen Zustande ließ sein Benehmen viel Rohes durchblicken… So dachte sie hin und her, und das Ergebniß war dieses: unglücklich verheirathet. Und war denn aus diesem Jammer kein Ausweg? Nein – keiner. Ein Scheidungsgrund lag nicht vor. Das Loos war gefallen – eine grausame Niete. Aber war sie die Einzige? Wie viel tausend Frauen giebt es nicht ringsum in der Welt, denen dieses Geschick geworden: »unglücklich verheirathet!« Ergebung war das Einzige, was da übrig blieb. Auch darin lag noch eine edle Aufgabe, das über sie gekommene Leid mit Geduld tragen, mit Würde es zu verbergen trachten, es mit Demuth als Vergeltung hinnehmen. Warum war sie jener inneren Stimme nicht gefolgt, die zur Zeit der Brautschaft ihr zugerufen: »Tritt zurück, tritt zurück – Du stürzest Dich ins Unglück!« Sie hatte den leichtsinnigen Wageschritt gethan, einem Manne, den sie so gut wie gar nicht kannte, den sie auf falsche Voraussetzungen geliebt, die Hand zu reichen. Das Wagniß war mißglückt, jetzt hieß es, die Strafe abbüßen. Nur Niemandem klagen – allein, still und stolz ihren Kummer tragen. Wem auf der weiten Erde hätte sie ihr Herz auch ausschütten mögen? Es gab wohl Einen, zu dem es sie zog – aber der war der Letzte, dem sie sich anvertrauen durfte, zudem konnte sie nicht hintreten und sagen: »Ich bin elend – elend durch Deinen Sohn.«
Gegen acht Uhr kam Robert in das Zimmer. Er näherte sich dem Ruhebette, auf welchem Eva angekleidet lag.
»Schläfst Du?« fragte er leise.
Eva gab keine Antwort. Er ging wieder zur Thür und sagte dort zu Jemand, der im Nebenzimmer auf Bescheid zu warten schien:
»Sie schläft.«
»Nein, nein, ich bin wach – kommt nur herein, alle Beide,« rief jetzt Eva, glaubend, es sei Irene, welche mit Robert gekommen; und es wäre ihr lieber gewesen, in diesem Augenblick mit Letzterem nicht allein bleiben zu müssen.
Es war aber nicht Irene, welche nunmehr hinter Robert in das Zimmer kam; es war – Ralph.
»Nun Evinka – wie geht‘s? Bist doch nicht krank?«
Sie erhob sich aus ihrer liegenden Stellung und streckte ihm die Hand entgegen.
»O wie gut von Dir, König – nachsehen zu kommen … ich habe Kopfschmerz, weiter nichts – auch ist mir jetzt besser —«
»Ich hab‘s ja gleich gesagt, daß es nichts ist,« brummte Robert. »Gesellschaft hast Du jetzt – bleibst ein Bissel hier, Vater? – so gehe ich meine Partie Billard machen – der Doktor wartet schon.« Und er ging wieder hinaus.
Ralph schob sich einen Sessel zu dem Ende des Sophas, wo Evas Kopf geruht hatte.
»Lege Dich wieder zurück, Evinka,« sagte er, die Kissen in Ordnung bringend, »so … ich setze mich her zu Dir … Hoch genug so? Bleib ganz still liegen … Deine Stirn ist etwas heiß, Du armes Weibchen.«
Eva that, wie ihr geheißen. Sie legte den Kopf in die Kissen zurück und blieb ganz still. Die liebkosenden Worte aus ihres Schwiegervaters Munde; die sorgenden Verrichtungen seiner Hände – seiner schlanken, weißen Hände, – die ihr das Polster glätteten und die Stirne kühlten; der freundlich leuchtende Blick aus seinen Augen, das Alles that ihr unsäglich wohl. Nie hatte sie in der Nähe Roberts dieses zutrauenerfüllte, beruhigte Empfinden gehabt, nie dieses wohlige Bewußtsein, daß sie »liebgehabt« sei. Nur als Kind, wenn sie krank gewesen, und ihr Vater an dem Bettende gesessen, hatte sie Aehnliches gefühlt. Ja, so war es … König betrachtete sie als Tochter und wollte sie als solche in sein Herz schließen. Da durfte sie ihn nimmermehr durchblicken lassen, daß das Band, welches sie zu seiner Tochter machte, zugleich die Fessel abgab, durch welche sie elend war.
Ralph entfernte seine Hand von ihrer Stirn, streichelte sie sanft über die Wangen und legte seinen Arm über den oberen Rand des Kissens. So zu ihr herabgebeugt, sprach er nun sanft auf sie ein:
»Evinka, meine Kleine, Du hast wohl Kummer? Rede nicht – ich weiß Alles … Deine Kammerjungfer hat die Vorgänge der letzten Nacht nicht verschwiegen. Ja, das muß eine schmerzliche Enttäuschung für Dich gewesen sein! Du bist in Deiner Würde – in Deiner Liebe gekränkt worden – denn Du liebst doch Deinen Mann, nicht wahr? … Ach, daß ihn diese Liebe doch bessern, veredeln könnte! … Geben wir die Hoffnung nicht auf – Du bist so recht geeignet, einen Lebensgefährten auf bessere Bahnen zu lenken… Doch ich zweifle, daß – – sei tapfer, Kind – das heißt, lerne verzichten. Das Freudenloos, das Du verdient hättest, ist Dir nicht zu Theil geworden – aber bedenke: wie Wenige, wie wenige unter uns, denen volles Glück beschieden ist! Nicht als Trost biete ich Dir diese Erwägung an, denn das Leid der Anderen macht das eigene nicht leichter – im Gegentheil: das Elend der Welt lastet schwer auf jedem menschlich fühlenden Herzen; nicht als Trost, aber als Pflichtmahnung, als Aneiferung sag‘ ich Dir: Sieh, die Anderen dulden, dulde auch. —Ich wollte, das irdische Leben wäre schon so eingerichtet, daß die Freude, der Friede allerwärts überwögen, daß die Menschen alle gut und würdevoll und hellen Verstandes wären, daß es keine Einrichtungen mehr gäbe, welche uns widernatürliche Pflichten – wie die Mordpflicht im Kriege, die Ausharrungspflicht in liebeloser Ehe – auferlegen; keine Schranken mehr, an welchen unsere gefesselten Herzen und geknechteten Geister so oft sich blutig stoßen müssen – aber jene Zeit ist noch fern … wir erleben sie nicht mehr. Wir müssen mit der Gegenwart, wie sie nun einmal ist, uns abfinden … und da besteht der beste Muth, den man besitzen kann, aus einem Zehntel Thatkraft und neun Zehntel – Entsagung. Aber in Deinem Alter schon am Grabe des Glückes zu stehen – nicht wahr, das ist hart? Dagegen sträubt sich Dein Jugendrecht? Du bist doch an des Lebens Anfang, also willst Du ein schönes Leben erhoffen; Du willst —«
»Nein, König,« unterbrach Eva, indem sie die Augen zu ihm aufschlug. »Nein, was Du mir eben genannt hast, als den besten Theil des Muthes – Resignation – das hatte ich mir heute schon als Losung gegeben. Ich habe den ganzen Tag über meinen Kummer nachgedacht, und war zu dem Entschluß gelangt: still tragen und allein tragen. Nun aber kommst Du daher, König, und sagst mir, Du wissest Alles, und liesest in meinem Innern wie in einem Buche … Das thut mir so wohl! Jetzt brauche ich nicht mehr einsam zu weinen, jetzt kann ich in ein Freundesherz« – sie rückte ihren Kopf etwas näher zu dem neben ihr Lehnenden und ruhte so buchstäblich an seinem Herzen – »mein Leid und meine Schuld ausschütten.«
»Welche Schuld, mein Kind?«
»Ich habe zu leichtfertig meine Hand vergeben.«
»Das ist wohl wahr … Aber welches Mädchen kommt denn auch in die Lage, den Mann kennen zu lernen, dem sie ihre Zukunft anvertraut?«
»O doch, doch … Ich hätte meiner inneren Stimme folgen sollen … Habe ich denn jemals, in der Brautzeit, ein Wort aus meines Verlobten Munde vernommen, welches mich zu dem Schluß berechtigt hätte, daß er ein edler, ein hochdenkender Mensch sei? Nein – kein einziges. Hat er mir jemals Vertrauen, Bewunderung einzuflößen gewußt, wie zum Beispiel —«
»Wie wer, zum Beispiel?«
»Wie – Du, mein König.«
»Ich flöße Dir Vertrauen ein?«
»O, so volles, inniges!«
»Wenn Du wüßtest …«
Was?«
»Nichts … Du darfst mir vertrauen. Ich bin kein schlechter Mensch.«
»Nein – ein vollkommener.«
»O, das nicht, das lange nicht. Auch auf mir lastet manche Schuld. Wo giebt es auf dieser Welt – außer in den Dichterphantasien – vollkommene Menschen? Wir sind alle mitsammt so schwache, aus so schwankenden Regungen zusammengesetzte Wesen – von den Einflüssen der Außenwelt, von der Stimmung der Stunde, von den Umständen und Geschehnissen so abhängig … wohl können wir uns in manchen Augenblicken zu idealen Höhen erheben – können in manchen Lagen handeln, wie es der »Vollkommenheit« entspricht; aber unabhängig, unausgesetzt von höchster Tugendhaftigkeit durchdrungen, das ist wohl keiner unter uns – ich noch weniger als viele Anderen Evinka. Gegenseitige Nachsicht brauchen wir Alle und gegenseitige Stütze. Mir liegt jetzt eine schwere Pflichterfüllung ob … es wird mir keinen geringen Kampf kosten … Aber reden wir nicht davon – das ist so etwas, was ich mit mir allein abmachen muß, von dem Niemand etwas erfahren darf.«
»Was kann das sein, König? Willst Du wir nicht vertrauen? Vor einer Stunde noch lastete das Leid auf mir, das ich glaubte, allein tragen zu müssen … Da bist Du gekommen und hast diese Last mir abgenommen, hast mir gestattet, daß ich hier an Deiner Brust mich ausspreche, mich ausweine – und das ist mir so süß, daß ich jetzt gar kein Bedürfniß mehr zu weinen habe. Willst Du es nicht auch mit mir versuchen, König, und mir sagen, was Dich drückt? …«
Er schüttelte den Kopf.
»Wenn nicht heute – vielleicht ein andermal?« bat sie.
»Vielleicht … Heute laß mich nur Dein Arzt sein! Du armes verwundetes Frauenseelchen … Was könnte ich Dir nur sagen, um Dich mit dem Schicksal auszusöhnen, um Dir etwas Besseres zu bieten, als vorhin – als die Entsagung. Laß es die Hoffnung sein! Es kann ja so viel Unerwartetes eintreffen in dem langen Leben, das vor Dir liegt… Auch ohne große umwälzende Ereignisse stellen sich große Aenderungen ein … Die Zeit mit ihren sich häufenden, kleinen Wechselfällen wandelt Alles langsam um; auch hat sie im Gefolge die Gewohnheit, und die ist eine gar mächtige Abschleiferin aller unerträglich scheinenden Kanten und Ecken. Die ist die große Gleichmacherin der Schicksale: dem zu Glücklichen schwächt sie den Genuß, dem Unglücklichen mildert sie das Leid. Aber da gebe ich Dir wieder nur matten Trost, nicht wahr?«
Eva fühlte sich gar nicht trostbedürftig in diesem Augenblick. Sie war von einem eigenen träumerischen Ruhegefühl gewiegt. Der Stimmlaut allein, der an ihr Ohr schlug – auch ohne Rücksicht auf den Sinn der gesprochenen Worte —, hatte etwas so zärtlich Besänftigendes; der hinter ihrem Kopfe um das Kissen gelegte Arm hatte etwas so Schützendes, und an dieser Brust, an der sie lehnte, war es so weich und warm. Sie fühlte das Pulsiren seines Herzens und athmete den leisen Wohlgeruch, der dem aus seiner Brusttasche hervorstehenden Taschentuche entströmte.
Er sprach lange fort, doch sie war nun ganz verstummt. Nur wenn er eine Frage stellte, so machte sie ein bejahendes oder verneinendes Zeichen. Nach und nach wurde auch sein Reden von immer längeren Absätzen unterbrochen; immer leiser und seltener fielen die Worte von seinen Lippen – schließlich verstummte auch er.
Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen, und durch das offene Fenster drangen die Zwitscherlaute der zur Nachtruhe sich versammelnden Vögel, die Rufe der sich aufbäumenden Pfauen.
»Schläfst Du, Kleine?« fragte Ralph nach langer Pause.
Eva schlief nicht, doch gab sie keine Antwort. Sie lag in einer Art Halbschlummer, aus dem sie sich nicht herausreißen wollte. Er beugte sich noch etwas tiefer über sie herab und drückte seine Lippen auf ihren Scheitel in einem langen – wie segnenden Kuß.
Dann stand er geräuschlos auf und ging leisen Schrittes zum Zimmer hinaus.
Eva rief ihn nicht zurück. Wie sie so dalag, ohne Stellung zu wechseln, war ihr als sei der Abwesende noch bei ihr. So wie man bisweilen eine Melodie noch im Innern fortklingen hört, wenn die betreffende Musik schon verstummt ist, so fühlte Eva noch die Nähe desjenigen, der nicht mehr da war. Dieselbe Wärme, derselbe Duft, dieselbe Athembewegung, derselbe sanfte Druck des über ihrem Haupte liegenden Armes und auf ihrer Stirn derselbe Hauch des zuletzt gegebenen Gutenacht-Kusses. Dabei empfand sie, wie ihr Herz sich weitete in einer unendlich süßen Liebesregung: König – König! Du freundlicher, guter, einziger, theurer König! Wie gut ist es doch, jemand so recht innig lieb zu haben und zu wissen, daß dieser Jemand Einem so wohlwill … Ganz arglos, in voller Unschuld gab sie sich der beglückenden Regung hin.
Er war ja kein Fremder; sie war ja hier im Hause seine Tochter, und er würde sie schützen und hegen … Sie wollte ihn bewundern und von ihm lernen, und manchmal – wenn ihr einsam und sehnsüchtig zu Muthe wäre – würde sie wieder so sehnsuchtsgestillt an seinem Herzen ruhen wie jetzt – d. h. wie vorhin. Ja, wie recht hatte er doch mit seinem Trostworte gehabt, daß so viel Unerwartetes eintreten könne: noch vor ein paar Stunden war sie arm und jetzt so reich – reich an zärtlicher, sanft glühender, heilig reiner Tochterliebe.
»Warum liegst Du da im Finstern – und bei offenem Fenster – und ganz allein?«
Mit diesen Worten trat Irene, welche gekommen war, um nachzusehen, wie es der Cousine gehe, an Evas Lager und schreckte diese aus ihren Träumereien empor. »Da muß man doch gleich…« fuhr sie fort und drückte den Glockenknopf an der Wand. »Schließen Sie die Fenster, bringen Sie die Lampe,« befahl sie der eintretenden Kammerjungfer.
Eva setzte sich auf. Der ganze Zauber war gebrochen. Es war ihr, als sei sie aus einer Verzückung erwacht, als wäre das Alles vielleicht nur Täuschung gewesen, was eben ihren Sinn erfüllte – vielleicht war König gar nicht bei ihr gewesen. »Sag mir, Irene, hast Du meinen Mann – hast Du Deinen Onkel gesehen?«
»Deinen Mann sah ich vor ungefähr einer Stunde ins Dorf hinausgehen – und dem Onkel begegnete ich vor ein paar Minuten, als er eben von hier kam.«
Also doch!
»Ist Dir wieder ganz Wohl? Willst Du später hinaufkommen, oder soll ich Dir den Thee hierherbringen lassen und Dir Gesellschaft leisten?«
»Ich werde Dich bitten, mir eine Tasse Thee herunterzuschicken – ich habe noch etwas Kopfschmerz und brauche nur Ruhe und Einsamkeit.«
»So wirfst Du mich zur Thür hinaus? Auch gut. Ich kenne das: wenn ich Kopfweh habe, bin ich am liebsten allein, und umgekehrt – wenn ich am liebsten allein bleibe, schütze ich Kopfweh vor. Gute Nacht also, liebes Herz – ich verschwinde. Den Thee sollst Du bekommen und ein paar gute Sachen dazu.«
Eva war wieder allein; doch nicht auf lange – nach einer kleinen halben Stunde kam Robert daher.
»Wie?« sagte Eva erstaunt, »Du begiebst Dich heute schon so früh zur Ruhe – es kann ja kaum zehn Uhr sein?«
»O, ich bin nur gekommen, weil die Anderen schlafen gegangen sind – und da sehe ich nach, was Du machst – aber ich werde doch noch ein wenig hinausschauen… Der Verwalter hat mit mir wichtig zu reden, und den treffe ich beim Mondwirth.«
»Beabsichtigst Du wieder so spät, wie gestern, und in dem Zustand …?«
»Ich verbitte mir diese Einmischungen, diese bissigen Bemerkungen. Ich werde zurückkommen, wann und wie es mir beliebt. Wenn ich mir auch einen leichten »Schwips« hole, so brauchst Du darum nicht Tags darauf den Katzenjammer zu haben. Uebrigens, ich mach‘ Dir einen Vorschlag – damit wir Beide ungenirt sind – ich werde mein Bett in mein Arbeitszimmer hineinstellen lassen, das hat seinen eigenen Eingang, da störe ich Dich nicht beim Nachhausekommen.«
Mit dieser Einrichtung war Eva sehr einverstanden. Es wäre ihre gräßlich gewesen, wieder einen solchen Auftritt erleben zu müssen, wie den gestrigen; und überhaupt – auch wenn er nüchtern bliebe – die Nähe Roberts war ihr gerade jetzt besonders unangenehm.
»Ich habe nichts dagegen,« antwortete sie laut. »Gieb gleich, wenn Du jetzt fortgehst, die nöthigen Befehle.«
XI
Am folgenden Tage erfuhr Eva, daß Ralph früh Morgens in Geschäften nach Wien abgereist sei und zwei oder drei Tage dort verbleiben würde. Er hatte übrigens durch seine Mutter Eva ausdrücklich sagen lassen, daß – wenn sie in seiner Bücherei sich zu beschäftigen wünsche – ihr der Zutritt und Aufenthalt in seinem Arbeitszimmer vollkommen freistehe.
Von dieser Erlaubnis machte sie gern Gebrauch. Gleich nach dem Frühstück begab sie sich in den »Theaterflügel«, wie Ralphs Wohnung noch immer benannt wurde. – Daß sie König selber missen mußte, war ihr eine große Enttäuschung – sie hatte sich vom Augenblick des Erwachens an darauf gefreut, ihn wieder zu sehen; der nächst annehmbare Ersatz dafür war nun der gebotene: in seinen Zimmern weilen zu dürfen; dieselben erschienen ihr als der interessanteste Raum des ganzen Schlosses; die Bücher, die Kunstschätze, die Reiseerinnerungen – eine ganze Welt! Mit Robert hatte sie an diesem Morgen nur ein paar Worte gewechselt. Die Trennung der Schlafzimmer war ausgeführt und als etwas ganz Unerhebliches hingenommen worden; wenigstens machte keiner von Beiden eine Anspielung darauf. Das war nun der Weg der Entfremdung – – wohin würde der noch führen? Eva hatte wohl oft gelesen und gehört, daß viele Eheleute von einander gehen oder auch neben einander ganz erkaltet und ohne Gemeinschaft leben; gewöhnlich tritt solches jedoch erst nach Jahren ein – und sie noch nicht fünf Monate verheirathet! … Je nun – wenn dies, ob früher oder später – wenn dies das Ende sein sollte, so war es beinahe besser, daß es früher gekommen; wenigstens würde sie sich an ihre Lage gewöhnen und ihre Glücksansprüche darnach herabstimmen können. Sonderbar: sie vermochte gar nicht, die Lage als gar so betrübend aufzufassen, wie sie eigentlich war. Wenn sie darüber nachdachte, so entwich aus ihrem Geiste Roberts Bild, und damit schwand die Erwägung der ehelichen Mißstände; statt jenes Bildes drängte sich ihr ein anderes auf – freundlich, vertrauenerweckend – das Bild Ralphs. Ihr neugewonnenes Bewußtsein, daß ihr der liebe König theuer war, und daß sie auch seine innige, schirmende Neigung besaß, dieses Bewußtsein empfand sie als etwas Bereicherndes. Es war ihr, als hätte sie gestern, in irgend welchem Versteck einen Schatz gefunden, der nun ihr sicherer Besitz war. Doch sie vermied, über die Sache viel nachzudenken – gerade so als wäre der Deckel des Versteckes wieder vorgeschoben, und als wolle sie einstweilen die Vorräthe nicht zählen und nicht betrachten. Und es war besser so; denn hätte sie die sanftfunkelnden Goldstücke angefaßt, vielleicht hätte sie, mit einem Schrei des Entsetzens, das weißglühende Metall wieder fallen lassen …
Seit drei Stunden weilte sie in Ralphs Arbeitssaal. Die Zeit war ihr mit Traumesschnelle verflogen. Auch hatte sie sich nichts weniger als einsam gefühlt. Der Geist des Abwesenden schwebte in diesem Raume, jedes Einrichtungsstück trug den Stempel seines Wesens; die Atmosphäre, von Leder-Büchern und Ixora, dem gewissen Ixora-Duft geschwängert, weckte die Erinnerung an ihn. Und von seinem ganzen reichen, erfahrungsvollen Leben enthielten die Gegenstände rings eine stumme Chronik. Was er gegrübelt, davon erzählten die vielgelesenen, mit Randglossen versehenen Denkerwerke; was er geliebt, davon sprachen die Bildnisse mancher schönen Frauen – darunter unzählige Aufnahmen von einer; und was er in der Welt gesehen, das berichteten all die aus fernen Zonen stammenden fremdartigen Dinge. Ach, wenn sie auch so ferne Gegenden hätte durchstreifen können – dachte Eva seufzend – aber an der Seite eines solchen Reisenden wie dieser – was könnte sie da alles lernen, genießen! Reisen mit Jemand, der von jedem neuen Eindruck nur den Ausdruck hat: »Wie fad!« – war keine Lust. Mit einem Solchen hingegen, der die neuen Eindrücke gierig sucht, der sich so sehr daran erfreut, daß er von allerorts Erinnerungen und Andenken nach Hause bringt – da müßte das Weltdurchwandern eine Wonne sein. Und gar nicht nöthig, daß der ideale Reisegefährte Gatte oder Geliebter sei – auch so ein freundschaftliches, verwandtschaftliches Verhältniß wie das, in welchem sie zu König stand – er war ja sozusagen ihr zweiter Vater —, würde genügen, ihr Herzensbedürfniß zu befriedigen. Die sinnliche Seite des Verkehrs zwischen Mann und Weib, davon hatte sie ohnehin – durch Roberts lieblose Art, zu lieben– nur Enttäuschendes, Abstoßendes erfahren. Tausendmal beglückender ist doch solch lautere, hingebende, geist– und herzausfüllende Zuneigung, in die sich auch nicht ein Funke erotischer Begierde mischt …
Diese Gedanken, wenn auch nicht so bestimmt ausgedrückt, lagen Evas Empfinden zu Grunde. Sie war auf die Neigung, die in ihr Herz gedrungen, um daselbst immer stärker anzuwachsen, förmlich stolz und wehrte diesem Anwachsen nicht. Sie fühlte sich dadurch gehoben und wie veredelt. Es erinnerte sie an jene Zeiten ihrer ersten Jugend, wo sie an der Seite ihres Vaters von Begeisterung für große Ideale durchglüht, wo sie vom Leben erwartete, daß es sie mit solchen Helden zusammenführen würde, wie sie in den Gestalten ihrer Lieblingsdichtungen kennen gelernt. Und das erfüllte sich jetzt, denn Ralph – war er nicht so hoch und frei in seinem Geist wie ein Marquis Posa – nicht ein Denker wie Hamlet, nicht gütig und liebenswürdig wie – – sie durchforschte ihr ganzes Repertoire, um für diese letzteren Eigenschaften einen passenden Träger zu finden, aber nein: gütig und liebenswürdig wie Ralph – war Ralph allein …
»Ah, da bist Du! Ich such‘ Dich überall.« Es war Robert. Er hielt ein schwarzumrandetes Papier in der Hand. »Schau her, was die Post eben für eine Nachricht gebracht hat.« Er überreichte ihr die Traueranzeige und warf sich in einen ihm gegenüber stehenden Schaukelstuhl.
Eva entfaltete das Blatt: Tiefgebeugt vor Gram gab die Unterzeichnete Nachricht von dem Ableben ihres unvergeßlichen Gatten, Friedrich von Borowetz, k.k. Oberst u.s.w., welcher nach kurzem Leiden u.s.w. am so und so vielten (vier Tage zurück) selig in dem Herrn entschlafen war.
»Dorina Wittwe!« rief Eva, »da muß ich doch gleich ein paar Zeilen —«
»Halt, ehe Du schreibst … Das ist‘s ja, was ich Dir sagen wollte: meinst Du nicht, daß es freundschaftlich von Dir wäre, wenn Du sie einladen würdest, hierher zu kommen? Die arme Gredl wird jetzt Trost brauchen.«
»Ich glaube nicht, daß ihr Mann sie besonders glücklich gemacht, und daß sie ihn gar heftig betrauern wird.«
»Wenn auch; so ein plötzlicher Todesfall ist immer schrecklich – hier würde sie sich zerstreuen … Schreib ihr, daß sie auf ein paar Wochen nach Großstetten kommen soll.«
»Bin ich berechtigt, Einladungen zu machen?«
»Ich habe schon mit der Großmutter darüber gesprochen. Sie ist ganz einverstanden.«
»Gut – so will ich auch noch ihre Einwilligung nachholen und dann die Aufforderung abschicken. Jedoch, wie bist Du auf diese Idee gekommen? … Mir ist Dorina eine langjährige Freundin gewesen – aber Du kennst sie ja kaum?«
»Ja … weißt Du, mein Weiberl – ich bin ihr dankbar … denn in ihrem Hause haben wir uns ja kennen gelernt, nicht wahr? Also, indirekt, war sie die Begründerin unseres Glücks – nicht?«
Er stand auf und näherte sich der Wand, um sich in die Betrachtung eines Gemäldes zu vertiefen. »Das ist doch ein hübsches Bild, diese Diana, was?«
Eva hatte mit Staunen die früheren Worte ihres Mannes vernommen: wie ungewohnt und sonderbar kam doch aus seinem Munde diese Anspielung auf seine Liebe zu ihr, auf ihr beiderseitiges Glück! Und welch unechter Ton hatte auch aus diesen Worten hervorgeklungen – gerade so, wie wenn man eine Messingspielmarke, die ein Goldstück vorstellt, auf den Tisch wirft. Er selber mußte über die Falschheit seiner Rede betroffen und verlegen gewesen sein, da er sie so schnell abgebrochen, um das hundert Mal gesehene Bild zu besprechen und zu bewundern.
Jetzt ging er ein paar Schritte weiter und blieb vor einem Regal neben dem Schreibtisch stehen, um in den darauf liegenden Monats– und Flugschriften zu blättern.
»Was doch mein Herr Vater für Zeugs zusammenliest: »Urania – astronomische Rundschau« – » La revue philosophique« – »Die Boden-Reformfrage und Henry George« – »Athenäum« – No, ich küß die Hand – das ist ja alles zum Auswachsen fad! Und im Grunde thät er besser, sich mehr um seine Wirthschaft zu kümmern. Mit rationellen Verbesserungen könnte Großstetten viel höhere Einkünfte liefern, hat mir der Verwalter gesagt, aber für so was fehlt dem großen Reisenden und Gelehrten der Sinn und die Zeit.«
Jetzt wandte er sich zu dem Schreibtisch und schlug die Mappe auf; er nahm ein darin liegendes Briefblatt zur Hand.
Eva stürzte auf ihn zu:
»Du wirst doch nicht!« rief sie, ihn am Arme fassend.
Er schüttelte sie ab.
»Was ist denn weiter? Da, schau her, ein Brief von der Russin – ich kenne die Schrift. Und das hier,« er nahm ein zweites Blatt hervor »das ist seine Schrift; ein angefangener Brief, wie es scheint: »Theures Wesen! Du meines Lebens letzte und leidenschaftlichste Liebe – Du sollst erfahren, daß der Sturm in meinem Herzen —«
Eva riß ihm das Blatt aus der Hand, warf es in die Mappe zurück und klappte diese zu.
»In meiner Gegenwart wirst Du den Frevel nicht begehen,« rief sie, ganz bleich vor innerer Erregung. »Das wäre eine Gemeinheit.«
»Oho, mäßige Deine Ausdrücke. Und jetzt will ich justamend – gieb her.«
Er wollte sie fortdrängen, sie hielt aber den Ellbogen auf die Mappe gedrückt, den Oberkörper darüber zurückgebogen, wie zur Schutzwehr.
»Gieb her, hab‘ ich gesagt, oder ich —«
Aber er vollendete nicht. Mit den Achseln zuckend entfernte er sich einen Schritt. »Meinetwegen,« sagte er in seinem gewohnten langsamen Tone. »Bin nicht neugierig. Und eigentlich auch beruhigt. Wenn die Herrschaften per Du sind, so haben sie offenbar schon ein Verhältniß, und geheirathet wird nicht – das ist die Hauptsach‘. Im Uebrigen ist mir‘s egal, ob es in seinem Herzen stürmt oder hagelt. Ich geh‘ jetzt und lass‘ Dich mit dem Sturmbrief allein … ich wette, Du wirst ihn selber lesen … Sag mir‘s dann, falls eine Heirathsgefahr drin angedeutet ist – denn gegen das müßten wir uns mit Händen und Füßen wehren. Großstetten ist kein Majorat – wenn ich noch zehn Geschwister bekäme, müßte ich mit Zehnen theilen – wär das etwa ein Spaß?«
Er war schon bei der Thüre, dann sich umwendend: »Du, vergiß nicht, der Borowetz zu schreiben – heute noch.«
Eva war wieder allein. Ihr Athem ging heftig – das Geheimnis, welches ihr hier ausgeliefert war, was hätte sie nicht gegeben, es zu ergründen! Aber die Versuchung, den Brief weiter zu lesen, kam ihr keine Sekunde lang. Das skrupellose Beginnen des Andern hatte ihr zu viel Verachtung eingeflößt, als daß sie im Stande gewesen wäre, sich selber die gleiche Handlung auch nur zuzumuthen. Im Gegentheil: damit Robert nicht etwa zurückkehre und sich des Briefes bemächtige, verschloß sie die Mappe in ein Schreibtischfach und nahm den Schlüssel zu sich.
Uebrigens, was sie bereits erfahren hatte, was die Anfangszeilen jenes Schreibens zu errathen gaben, war schon viel, bestürzend viel. Ralph war nicht freien Herzens; Ralph schrieb an ein Weib, dem es gelungen, in seinem Herzen einen Sturm zu wecken … und neben diesem Blatt lag ein Brief Liubas – so wußte Eva eigentlich Alles.
Doch sie wollte sich noch genauere Gewißheit verschaffen. Sie beschloß, zu Liuba hinüberzufahren und sie auszuforschen. Dieselbe hatte ihr ja schon am ersten Tag ihr Vertrauen beinahe aufdrängen wollen; nun würde sie, wenn darum gebeten, doppelt mittheilsam sein.
Diese Idee wollte Eva ohne Verzug ausführen – nur so konnte sie Beruhigung finden. Sie verließ den »Theaterflügel«, gab Befehl, daß angespannt werde, und zwanzig Minuten später war sie auf dem Wege nach Dornegg.
In die Wagenecke zurückgelegt, grübelte sie über die Sachlage nach. Ralphs Schicksal ging ihr nahe. Das war ja ganz natürlich. War er ihr nicht so theuer wie ein Vater? … Und eifersüchtig? Nun ja – es ließ sich nicht leugnen, ein Körnchen Eifersucht war in ihrem Gefühl enthalten; aber das war ja wieder ganz natürlich: sind Töchter, sind Eltern nicht auch eifersüchtig? Würde der Verlust dieses Freundes für sie nicht den Verlust ihres besten Lebenstrostes bedeuten, und war diese Freundschaft – deren sie sich noch vor einer Stunde als ihres werthvollsten Besitzes gefreut – war die nicht ganz und gar gefährdet, wenn er einer Andern seine Liebe weihte, wenn er etwa auf dem Punkte stand, sich wieder zu vermählen? .. Würde da nicht all sein Denken auf die Geliebte, auf die Braut sich richten – und die Neigung zu der armen Schwiegertochter ganz in den Hintergrund treten? Und gerade jetzt hätte sie so der Theilnahme, der Stütze, des Trostes bedurft; sie war ja so allein. Wieder um eine Meile weiter war der Abgrund aufgerissen, der sie von Robert trennte. In dieser letzten Stunde hatte er von Neuem so häßliche Charakterseiten, so niedrige Gesinnungen gezeigt, daß ihr immer mehr vor ihm graute. Als er vor sie hingetreten, mm den von ihr vertheidigten Brief zu fordern: »Gieb her, oder ich —« hatte da seine Hand nicht schon gezuckt, wie um zum Schlage auszuholen? O hätte er sie nur geschlagen! Das wäre ein Scheidungsgrund … Doch nein – keine Scheidung … dann wäre sie ja Ralph Siebecks Tochter nicht mehr …
Der Wagen hielt vor dem Schlosse. Ein Diener eilte herbei.
»Gräfin Liuba zu Hause?« fragte Eva, ehe sie ausstieg.
»Die Frau Gräfin sind heute früh nach Wien gefahren. Soll ich nachfragen, ob Ihre Durchlaucht empfangen?«
»Nein, nein, ich war nur gekommen, um die junge Gräfin … Kehren Sie um,« befahl sie dem Kutscher.
Auf der Rückfahrt begann es in ihrem Herzen zu stürmen. In Wien! … Liuba war mit demselben Zug nach Wien gefahren, wie Ralph – dort verbrachten sie den Tag zusammen… Jetzt sagte er es ihr wohl mündlich, was in dem unabgesandten Briefe niedergeschrieben stand: »Du bist meines Lebens letzte, leidenschaftliche Liebe.« Und sie – die ja so gern Romane las, mit Titeln wie » Folle d‘amour« sie konnte jetzt selber in solch närrischem Romane schwelgen – die verrückte, die leichtfertige, die antipathische, antipathische, antipathische Person! …
Zu Hause zog sich Eva – abermals Kopfschmerz vorschützend – in ihr Zimmer zurück und ließ den ganzen Tag Niemand vor.
Am nächsten Morgen klopfte Robert an die Thür seiner Frau.
»Kann man herein? Ich bringe Dir zwei Briefe.«
Eva, welche bereits aufgestanden war, bejahte.
»Da,« sagte Robert eintretend und ihr ihre Briefe überreichend. »Der eine ist von Donna, der andere, vom Vater – was kann der Dir zu schreiben haben? Unter Anderm – hast Du gestern die Einladung an Donna abgeschickt?«
»Noch nicht – ich hatte noch keine Gelegenheit mit der Großmama zu reden. Sehen wir, was sie schreibt … Der Schlag hat ihn getroffen – nicht mehr zum Bewußtsein gekommen – – sie weiß nicht, was sie zunächst thun werde.«
»Nun, hierherkommen. Du mußt ihr heute noch schreiben. Nun, und was für Nachricht vom Vater?«
»Lieber Robert, ich muß Dich bitten, mich um den Inhalt von an mich adressirten Briefen nicht auszuforschen.«
»O, ich bin nicht neugierig. – Du warst gestern in Dornegg, hab‘ ich gehört. Was giebt es dort Neues?«
»Ich habe Niemand angetroffen.«
»Warum liesest Du Deinen Brief nicht?«
»Es hat keine Eile.«
»Du, Eva – neugierig bin ich zwar nicht – aber ich versteh‘ keinen Spaß. Diese Heimlichkeiten zwischen Dir und meinem Vater sind mir gar nicht recht. Ich kann mir‘s schon denken: Du klagst ihm vor, über mich. Das ist recht gänsehaft von Dir. Je mehr Du thust, um mich bei ihm in Ungnade zu bringen, desto weniger wird er sich ein Gewissen daraus machen, wieder zu heirathen und dann … Mit Einem Wort – ich duld‘s nicht. Lies mir augenblicklich den Brief vor.«
Eva stand an eine Kommode gelehnt; sie warf den Brief in die halboffene Schublade, verschloß dieselbe und steckte den Schlüssel in ihre Tasche.
»Ich gehorche keinen Befehlen,« sagte sie.
»Du hast mir Gehorsam geschworen.«
»Formsache – wie Dein Eid der Liebe.«
»Himmel, Herrgott, bist Du fad! Behalt Dir Deinen Brief. Szenen machen ist meine Sache nicht.«
Und er ging zur Thür hinaus.
Eva schob den Riegel vor. Sie wollte – um Königs Brief zu lesen – vor Störung sicher sein. Was konnte er ihr zu sagen haben? O, gewiß nicht Angenehmes! Ihre Hand zitterte, während sie mit der Scheere den Umschlag aufschnitt … Vielleicht eine Verlobungsanzeige? vielleicht die Nachricht, daß er sich wieder auf den Weg nach einem fernen Erdtheil gemacht?
Letzteres war richtig gerathen. Ralph schrieb:
»Lebewohl, Evinka – ich begebe mich auf weite Reisen. Wann ich zurückkomme, ist unbestimmt – kaum vor zwei Jahren. Aber ich bitte Dich, den Andern gegenüber über diese meine Absicht zu schweigen. Meine theure Mutter, von der ich mich diesmal nur schwer trenne, darf von der Dauer meiner Abwesenheit nicht so unvermittelt erfahren. Daß ich so plötzlich – und ohne jemand etwas zu sagen, davon gefahren, geschah aus zwei Gründen. Einmal wollte ich den Vorstellungen und Bitten meiner Mutter entgehen, die ihr Möglichstes gethan hätte, um mich zurückzuhalten; zweitens – ist es eine Flucht.
»Meine Freundschaft und die Stütze, welche Dir dieselbe in schwierigen Lagen, in trüben Stunden bieten könnte, soll Dir durch die Entfernung nicht entzogen sein. Wenn Du Rath und Beistand brauchst – schreibe mir; wenn Du Dein Herz ausschütten willst – schreibe mir. Meine Adresse wird Dir immer bekannt gemacht. Bis übermorgen finden mich noch Briefe hier, Hotel Munsch.«
Eva bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und weinte bitterlich. Scheiden thut weh. Ihr war, als sollte die Welt nunmehr für sie entvölkert sein, als bliebe ihr Niemand – Niemand. Die letzten Zeilen des Abschiedsbriefes boten zwar noch einen Trost: seine Freundschaft sollte ihr auch von der Ferne als Stütze dienen; aber es giebt Entfernungen, die so groß sind, daß kein Laut, kein Zeichen sie zu durchdringen vermag, – und als so weit entfernt betrachtete Eva das Reich, in welches König nun entflohen war: das Reich der Liebe zu einer Anderen. Er war mit Liuba fort; mit Liuba, »seines Lebens letzte und leidenschaftlichste Liebe« (diese Worte wiederholte sie laut), vereint; was war da noch für Eva übrig? Wenn diese ihm lange Ergüsse schriebe, wie würde ihn das langweilen, ermüden …
Die Kammerjungfer klopfte an die Thür.
»Ich bitt‘, Frau Gräfin. Ein Bote aus Dornegg hat ein Billet gebracht.«
Eva öffnete und nahm die Botschaft in Empfang. Es waren ein paar Zeilen von Liuba, in welchen diese schrieb, daß sie gestern Abend, von Wien zurückkommend, mit Bedauern vernommen, einen lieben Besuch versäumt zu haben, und daß sie selber in den nächsten Tagen nach Großstetten zu kommen gedenke. Zum Schluß fügte sie Grüße an verschiedene Familienglieder bei, unter anderen auch an Ralph.
Von Evas Herzen fiel ein Stein. Ihre ganzen Berechnungen waren also irrig gewesen. Liuba war nicht mit König nach Wien gefahren; sie wußte nicht einmal, daß er von Großstetten abwesend sei. Seine Abreise, die Trennung: das war wohl geblieben; aber wenn er allein an das Kap der guten Hoffnung ginge, so würde er ihr näher sein, als wenn er mit Liuba nur zwei Stationen weit gefahren.
»Du, Eva,« sagte Robert, als die ganze Familie um das Gabelfrühstück versammelt war, »ich habe der Großmutter schon von Deinem Wunsch gesprochen.«
»Welchen Wunsch?« Eva erinnerte sich nicht, einen solchen geäußert zu haben.
»Na, Deine liebste Freundin, die Borowetz hierher zu bitten.«
»Ja, ja,« fiel die alte Gräfin Siebeck ein. »Es ist sehr schön von Dir, daß Du Deiner von einem Schicksalsschlage getroffenen Jugendfreundin Trost und Zerstreuung bieten willst … Ich stelle Dir gern das gelbe Gastzimmer zur Verfügung.«
»Lade sie nur ein,« bekräftigte Fräulein Ottilie; »erstens ist es Höflichkeit, zweitens, warum denn nicht? Und drittens wird uns etwas heitere Abwechselung auch nicht schaden.«
»Was die Heiterkeit anbelangt,« meinte Irene, »so kann man von einer seit drei Tagen verwittweten Frau wohl keine Luftsprünge erwarten.«
»Weißt Du, was Du thun solltest, Eva?« sagte Robert: »Fahre selbst nach Krems und hol‘ Dir die Dorina ab – das wird das Freundlichste sein.«
Eva blickte ihren Mann überrascht an. So angelegentlich hatte sie den Alles »so fad«, »so egal« findenden Robert noch niemals eine Sache vertreten sehen. Sie grübelte jedoch nicht weiter darüber nach; ihre Gedanken waren nicht bei Robert.
»Das ist eine gute Idee,« stimmte die Großmutter bei. »Fahre nach Krems, und zwar heute noch. Bei dieser Gelegenheit kannst Du – da Du Dich doch ein paar Stunden in Wien aufhalten mußt – dem Ralph eine Post von mir ausrichten. Ich habe nämlich ein paar Aufträge an ihn. Das Beste ist, ich gebe Dir einen Brief mit. Freilich könnte ich diesen durch die Post schicken, aber da erhielte er ihn erst morgen, und wer weiß, ob er morgen nicht schon zurückkommt. Ich hoffe und wünsche es, daß er so bald als möglich komme – ich kann es gar nicht sagen, wie sehr mir seine Nähe abgeht – so lange habe ich ihn schmerzlich entbehren müssen … ich glaube, wenn er nochmals eine so weite Reise unternähme, jetzt, wo ich schon so alt bin, ich würde mich schnell zu Tode härmen.«
Diese Worte thaten Eva weh. Wenn die arme alte Frau geahnt hätte, was der Brief enthielt, den sie heute vom König erhalten … Wer weiß, ob – wenn er seine Mutter so hätte reden hören – ob er seinem Vorhaben nicht untreu geworden wäre? Er hatte schon einmal, auf Evas Zureden, den Abreiseplan aufgegeben – wer weiß, ob nicht wieder? Und heute war er noch in Wien zu treffen, Hotel Munsch —
»Gut, ich bin dabei,« beschloß sie laut diesen Gedankengang, »ich will noch heute nach Wien – nach Krems fahren, meine Freundin abholen.«
»Das ist schön von Dir,« sagte Robert. »Der nächste Zug geht um 3 Uhr; ich will sogleich dafür sorgen, daß der Wagen —«
»Du begleitest doch Deine Frau?«
»Nein, Großmutter, ich kann nicht. Heute Nachmittag haben wir Sitzung im landwirthschaftlichen Klub; ein Wanderlehrer soll einen Vortrag halten, und ich habe versprochen … Die Eva kann ganz gut allein fahren – oder mit der Kammerjungfer.«
»Nicht nöthig – ich bediene mich am liebsten allein.«
»Auch recht – wie Du willst.«
Und dabei blieb es. Eva fuhr am selben Nachmittag nach Wien, ohne Begleitung. Sie war sehr froh, daß Robert nicht die Idee gehabt, mitzukommen; er würde sie gezwungen haben, direkt nach Krems zu fahren, und sie beabsichtigte, heute in Wien zu bleiben, um ihre Mission – König zurückzubringen – auszuführen. Was sie zu ihm sagen würde, wie sie es anfangen sollte, seinen gefaßten Entschluß rückgängig zu machen, das wußte sie noch nicht; darüber legte sie sich keine Vorsätze zurecht; es war ihr nur darum zu thun, ihn zu sehen, zu sprechen – und sie hatte die Ueberzeugung, daß sie ihren Zweck erreichen werde.
Es war halb fünf Uhr Nachmittags, als ihr Fiaker unter dem Thore des Hotels Munsch einfuhr.
Der Portier öffnete den Schlag, und ein Bediensteter nahm Tasche und Kofferchen vom Kutschbock herab. Eva stieg aus.
»Ist Graf Siebeck – mein Schwiegervater – zu Hause?« fragte sie den Portier.
Dieser warf einen Blick auf die mit den Zimmerschlüsseln behangene Tafel.
»Nein, Frau Gräfin.«
»Aber doch noch nicht abgereist?«
»Nein; ich glaube, der Herr Graf beabsichtigt morgen oder übermorgen fort zu fahren. Befehlen ein Zimmer im ersten Stock?«
»Ja. Und sobald mein Schwiegervater nach Hause kommt, lassen Sie es mir melden.«
Der Kellner zeigte den Weg über die Treppe und öffnete ein Zimmer mit der Aussicht nach der Kärnthnerstraße. Er legte das Gepäck nieder. »Befehlen sonst etwas?«
»Nein, ich danke.«
Sie blieb allein. Ohne noch Hut und Reisemantel abzulegen, ließ sie sich in einen der rothsammtenen Lehnsessel sinken, die rechts und links vom Kanapeetisch standen. Im Zimmer war es ziemlich dunkel: von der Straße tönte ununterbrochenes Wagengerassel herauf; die Athmosphäre war heiß und drückend. Ueber Eva war eine große Abspannung gekommen. Die hochgradige Erregung, in welcher sie seit mehr als vierundzwanzig Stunden sich befunden, welche sie durch den größten Theil der letzten Nacht wachgehalten und unter deren Herrschaft sie den Entschluß gefaßt, dessen Ausführung nun bevorstand – diese Erregung brachte jetzt ihre Rückwirkung hervor. Es war ihr in diesem Augenblicke, als wisse sie gar nicht mehr recht, was sie unternehmen wollte, als wäre es alles nicht recht wahr: daß Ralph fortreisen gewollt und daß sie gekommen sei, ihn zurückzuhalten… Nun war er nicht einmal da und, wer weiß, vielleicht kam er den ganzen Tag nicht nach Hause – was würde sie dann hier thun? In Großstetten glaubte man, sie sei auf dem Wege nach Krems – vielleicht wäre es auch noch Zeit, dorthin abzufahren, den Brief der Großmutter, für Ralph zurückzulassen und darauf zu verzichten, ihn zu sehen und vergebliche Bitten an ihn zu richten, – denn daß alle ihre Versuche vergeblich sein würden, dessen war sie jetzt fast sicher… Wie würde er ihre Kühnheit, ihre Zudringlichkeit auffassen? Was würde sie eigentlich sagen? Unmöglich, die Worte wieder zu finden, die sie sich während der Fahrt so oft wiederholt; ihrem durch dies Hin– und Hergrübeln abgematteten Geist waren auch die Gründe entfallen, welche sie sich vorgenommen hatte, geltend zu machen. Alles Denken stockte. War das auch ein unangenehmes Rädergerolle – ein ewiges Nähern und Entfernen des eintönigen Lärms. Doch – so einförmig auch der Lärm, so verschiedenartig die Veranlassung: jeder dieser rollenden Wagen eilte einem anderen Ziel entgegen – der eine zu dem Feste, der andere zu einem Todtenbett; der eine zum Zahnarzt, der andere zu einem Liebesstelldichein. Die Fahrenden wußten auch alle bestimmt, wohin und wozu – nur sie saß so da, ohne sich klar machen zu können, was sie wollte, was sie hoffte, was sie thun sollte. Sie verfiel nach und nach in ein ganz gedankenloses, mechanisches Hinhorchen auf den Straßenlärm, in ein beklemmtes Einathmen der mit dem eigenthümlichen Hotelzimmergeruch gefüllten Luft.
So lehnte sie seit ungefähr zwanzig Minuten in ihrem Fauteuil und war halb entschlummert, als das Geräusch der aufgehenden Thüre sie emporschreckte. Sie wendete den Kopf.
»König!«
»Also Du – richtig Du, Evinka,« rief Siebeck, näher tretend. »Ich wollte es gar nicht glauben … Sag mir, wie kommst Du hierher, und allein?« Er nahm sie an der Hand, die er schüttelte. »Es ist doch kein Unglück geschehen?«
»Nein – aber es drohte ein solches, ein großes, und ich – bin gekommen, um zu versuchen, – das Unglück abzuwenden.«
Er setzte sich. »Erkläre mir – So sprich doch.«
»Mein lieber König, sei nachsichtig,« begann sie nach einigem Zögern. »Sei mir nicht böse! Ich weiß ja doch, daß mein Versuch ein vergeblicher sein wird. So zuversichtlich hatte ich‘s unternommen – aber seither ist mir diese Zuversicht ganz verloren gegangen, und ich komme mir so thöricht vor … Du wirst mich belächeln und mir meine Bitte nicht erfüllen.«
»Eine Bitte? Und welche?« »Du sollst nicht fort!«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Du sollst nicht fort – Deiner Mutter wegen. Du hast sie doch lieb, nicht wahr?«
»Selten hat ein Sohn seine Mutter lieber … Aber sie und ich sind lange Trennungen gewohnt.«
»Sie hat keine Ahnung von Deinem Vorhaben, und heute früh sagte sie, daß, wenn Du noch einmal eine so weite Reise unternehmen würdest, jetzt, wo sie schon so alt ist, sie darüber zu Grunde ginge.«
»Das sind Uebertreibungen, Eva.«
»Ich weiß nicht – ich kann der Großmama nicht ins Herz schauen. Aber für mich kann ich sprechen, König … mir bedeutet Deine Abreise ein großes, kaum zu tragendes Mißgeschick … die bitterste Vereinsamung.«
»Vereinsamung?«
»O bleib, bleib!«
Sie streckte ihm flehend beide Hände entgegen. Er faßte dieselben, und durch diese Bewegung glitt sie von ihrem Sitz herab, so daß sie jetzt auf dem Teppich kniete und noch einmal wiederholte: »Bleib!«
Er zog sie zu sich heran, und ihr Kopf lag an seiner Brust.
»Du weißt nicht, worum Du bittest,« sagte er leise.
Ein paar Sekunden blieb sie unbeweglich – an diesem Plätzchen ruhte es sich gar so friedensvoll. Dann aber durchfuhr sie ein peinlicher Gedanke und sie richtete sich rasch empor.
»Vergebens, vergebens! ..« rief sie. »Du bleibst nicht und willst nicht bleiben, weil Du an Jene denkst, die Du Deines Lebens letzte und leidenschaftlichste Liebe nennst.«
Jetzt sprang auch er von seinem Sitze auf.
»Du hast in meiner Schreibmappe …?«
»Nicht ich, nicht ich – Robert war es, der —«
»Was hatte Robert in meinem Zimmer zu thun? Nur Dir hatte ich Einlaß gestattet … Du hast also jenes Blatt gelesen und kommst hierher zu mir, Eva! – Du unglückseliges, junges Weib – zu mir, der ich —« Seine Stimme stockte.
Er lehnte mit beiden Händen auf der Tischplatte und blickte zu Eva hinab, mit so brennendem Blick und so schmerzlichem Gesichtsausdruck zugleich, daß sie ein Schreckensschauer durchrieselte. Die Gluth des Blickes hielt sie für Zorn.
»Verzeih‘, verzeih‘« murmelte sie. »Und glaub‘ mir, ich bin nicht schuldig – nur thöricht, thöricht und vermessen. Wie konnte ich hoffen, daß meine Bitte in‘s Gewicht fallen würde … Du willst fort, wahrscheinlich mit ihr, die Deine letzte Liebe ist.«
»Mit meiner Liebe? Wer glaubst Du denn … da waltet wohl ein Mißverständniß —«
»Wer? Ich habe keine Ahnung. Zuerst meinte ich, Liuba Dürrenberg, denn sie war zugleich nach Wien gefahren.«
»So? Davon wußte ich nichts. Und dann – auf wen fiel dann Dein Verdacht?«
»Mein Gott, ich kenne ja Deine Beziehungen nicht – konnte daher an keine bestimmte Person denken. Aber daß Du jetzt in Deinem schönsten Mannesalter leeren Herzens wärest, daß Du nicht durch die Gunst einer geliebten Frau beglückt wirst – das wäre mir nicht recht denkbar.«
»Und doch ist es so, Eva. Ich kann mich seit mehreren Jahren – seit mir der Tod ein theures Wesen entriß – keiner glücklichen Liebe mehr rühmen, und es fesselt mich keinerlei süßes Band.
»Jenes Schreiben also, von welchem ich nur die ersten Zeilen gelesen oder vielmehr gehört – an wen war es gerichtet?
Ralph gab auf diese Frage keine Antwort, sondern forderte Eva auf, ihm zu erzählen, wie sie zu der Kenntnißnahme des betreffenden Briefes gelangt sei.
Sie berichtete von der That Roberts und fügte hinzu, wie sie das Blatt vor fernerer Verletzung geschützt, indem sie die Mappe in ein Schubfach geschlossen – den Schlüssel habe sie mitgebracht – und erzählte dann auch weiter, aus welcher Veranlassung sie die Fahrt nach Wien unternommen hatte, nämlich um sich zu ihrer verwittweten Freundin nach Krems zu begeben. Daß sie jedoch nicht am selben Tage weitergefahren, sondern sich hier im Hotel aufgehalten, das habe sie gethan, um Ralph zu bewegen, wieder nach Großstetten zurückzukehren, oder doch, um – wenigstens – um ihn noch zu sehen …
Nachdem sie ausgeredet, entfernte sich Siebeck einige Schritte und blieb nachdenklich in einer Fensternische stehen. Nach einer Weile kam er auf seinen vorigen Platz zurück:
»Heute kannst Du nicht mehr nach Krems fahren – es ist zu spät. Morgen bringe ich Dich selber zur Bahn.«
»Und Du? Du trittst dann Deine Reise an?«
»Was ich morgen thun werde, das lassen wir heute unerörtert. Vielleicht weiß ich‘s selber nicht. Es sei am heutigen Tage zwischen uns Beiden nicht mehr die Rede davon – das ist mein ausdrücklicher Wunsch, Eva. Laß uns jetzt ein paar schöne, ungetrübte Stunden verleben; denken wir nicht daran, ob dieselben einer langen Trennung vorangehen oder nicht; freuen wir uns dieser Frist – willst Du? Als ein paar heitre, gute Freunde. Wir haben einander ja so lieb, Klein-Eva, nicht wahr? als wären wir wirklich – Vater und Kind. Ich verlasse Dich auf eine Viertelstunde – habe noch ein Geschäft abzumachen – dann hole ich Dich ab, und wir fahren mit einander in den Sachergarten im Prater, – dort können wir speisen. Ich werde auch eine Loge besorgen – den Abend beschließen wir in der Oper.«
XII
»… Stoß‘ an, Eva – ich trinke auf Dein Wohl!«
»Und ich auf Dein Glück, König!«
»Nein, nein – das kann sich nicht erfüllen. Wenn Du mir schon etwas wünschen willst, so sei es Kraft zu einem gewissen Kampfe, so sei es in diesem Kampfe der Sieg.«
»Aber soll Dich dieser Sieg nicht glücklich machen?«
»Immer wieder sprichst Du von Glück – das ist ein viel zu anspruchsvolles Wort. Was der Sieg, den ich meine, erreichen soll, ist nur Verhütung großen Unglücks – wie Du siehst, ein ganz negativer Gewinn.«
»Und Positives soll sich nichts gewinnen lassen?«
»Doch: Augenblicke der Freude, Stunden des Genusses, der Vergessenheit.«
Nachdenklich nickte Eva mit dem Kopfe, und sie machte einen Schluck aus ihrer Champagnerschale. Diese – die gegenwärtige – war so eine Stunde, in welcher sie genießende Freude empfand, in welcher sie alle vergangenen Sorgen, alle bevorstehenden Kümmernisse vergessen hatte. Und die ganze Atmosphäre ringsum war mit Lebenslust gefüllt. Mehrere heitere Gesellschaften von vornehmen, jungen Männern und Frauen saßen an den übrigen Tischen, und ihr Gläserklirren und Gelächter drang zu dem Laubzelte herüber, unter welchem Ralph und Eva ihr auserlesenes kleines Mahl einnahmen. Von den Prateralleen herauf drang das Rollen von Wagenrädern und die Akkorde eines Militärorchesters. Das Stückchen Himmel, welches zwischen dem Gezweige sichtbar war, glühte in Gold– und Purpurfarben, deren Widerschimmer in den auf dem Tisch stehenden Gläsern, Flaschen und Fruchtschalen spielte. Ein physisches Wohlgefühl, wie es einem reichlichen, mit feurigen, Weinen gewürzten Mahle zu folgen pflegt, gemengt mit der seelischen Gehobenheit, welche nach einem lebhaften, geistanregenden Gedankenaustausch eintritt, durchströmte Evas Adern, beschleunigte ihren Pulsschlag, zündete Flammen in ihren Augen an. Es war kein Spiegel da, welcher ihr hätte zeigen können, wie hübsch sie eben aussah; aber indem sie ihre Wangen glühen, ihre Auge leuchten fühlte, war sie sich des erhöhten Reizes der eigenen Schönheit bewußt, und auch in den Blicken der Leute, die durch den Garten gingen und sich nach ihr umsahen, konnte sie es bestätigt finden, was Ralph ihr soeben gesagt:
»Du siehst blendend aus, Evinka, blendend schön.«
Sie nahm das väterliche Lob mit glücklichem Lächeln hin – vielleicht wissend, daß die durch dieses weißschimmernde Lächeln entstehenden Grübchen das erhaltene Lob noch begründeter machten.
»Siehst Du,« fügte er hinzu, »das ist auch so ein Stück Lebensfreude für Euch Frauen, dieses sieghafte Sichschönwissen, besonders, wenn mit dem nicht minder genußreichen Sichjungfühlen verbunden. Doch leider, wie die Welt – ich meine die gesellschaftliche – schon einmal eingerichtet ist, findet dieses von der Natur eingesetzte Freudenanrecht nicht immer seine Verwirklichung; im Gegentheil: statt Glück zu sichern, kann weibliche Schönheit für deren Trägerin oft sehr verhängnißvoll werden. Kennst Du den Roman » Trop jolie?« Ich fürchte, auch Du wirst »zu hübsch« sein. Wenn einmal die Leute durchschauen, daß Du nicht glücklich verheirathet bist, dann werden sich Dir die sogenannten Schmetterlinge nahen, welche die Flamme der Frauenschönheit zu umflattern pflegen … Aber das verbrauchte Bild ist falsch: nicht harmlose Schmetterlinge sind es, sondern mitunter recht giftige Vampyre – Verliebte ohne Liebe: hüte Dich vor der Gattung, Eva.«
»Fürchte nicht, König; ich werde an den Namen, den ich trage – Deinen Namen – nimmer einen Makel kommen lassen.«
»Das ist ein stolzes, braves Wort. – Hätte ich Dich früher gekannt …«
Eva blickte zu dem Sprecher auf. Wie ein Blitz war ihr das Verständniß der letzten Worte durch den Geist gezuckt … ja, hätten sie einander früher gekannt – —
Der Kellner brachte die vorhin verlangte Rechnung. Ralph zahlte. »Jetzt laß uns aufbrechen, Eva, es ist acht Uhr, wir haben ohnehin schon einen Akt der Oper versäumt. Er bot ihr den Arm und führte sie den Hügel hinab. Der Wagen wartete in einer kleinen Entfernung.
Fünfzehn Minuten später, nach schweigender Fahrt, kamen sie beim Opernhause an und traten in eine Parterreloge. Die Vorstellung – man gab den Trompeter von Säckingen – war im Zuge, die süßen Stimmen Lola Beeths und Reichmanns durchflutheten das Haus. Zu all den betäubenden, in schmachtende Verwirrung setzenden Einflüssen, welche in den letzten Stunden auf Eva gewirkt, kam nun auch noch der Zauber des Gesanges.
Sie saß vorn an der Brüstung. Ralph hinter ihr. Aber sie wandte sich nicht zu ihm um, auch nach der Bühne schaute sie nicht. Gesenkten Blickes, in sich selbst verloren, ließ sie sich von den Wogen der Musik schaukeln und lauschte gleichzeitig dem eigenen, wonnig und schmerzlich beklommenen Herzschlag. Wonnig – denn sie fühlte sich in eine Art Traumwelt entrückt; schmerzlich – denn sie wußte, daß ein bitteres Erwachen bevorstand.
Als Werner sein Abschiedslied anhob, beugte sich Ralph zu ihr:
»Höre zu, Eva!«
Sie schaute ihm ins Gesicht, und es war ihr, als spräche der Sänger Dasjenige aus, was in Ralphs liebevollen, traurigen Blicken stand: »In Deinen Augen hab‘ ich einst gelesen – – Es blitzte d‘rin von Lieb‘ und Glück ein Schein.« Ein zärtliches Weh schnitt ihr ins Herz, und bei dem Schlußwort »Es hat nicht sollen sein« flossen ihr langsam die Thränen von den Wangen herab.
Ralph faßte ihre Hand.
Sie suchte nicht ihr Weinen zu verbergen. Im Gegentheil: sagen durfte und konnte sie ja nicht, was sie empfand, und es war ihr lieb, daß die stummen Thränen Antwort – vollgültige Antwort gaben auf das, was ihr der stumme Händedruck des Andern sagte.
Werner sang die zweite und dritte Strophe – und immer noch blickten sich die Beiden unverwandt an, Hand in Hand; immer noch fielen die Thränen aus ihren Augen – zuckte es schmerzlich um seine Lippen.
Nach dem letzten »Es hat nicht sollen sein«, während das Haus in donnernden Applaus ausbrach, sprang Eva von ihrem Sitze auf.
»Ich will fortgehen,« sagte sie.
Ralph verstand sie. Das, was die Oper noch ferner bringen sollte – das Wiederfinden, die Vereinigung der Liebenden – das stimmte ja nicht…
Er folgte ihr in den Logensalon und legte die Hülle um ihre Schultern. Sie hielt jetzt das Taschentuch an die Augen gedrückt und weinte heftig. Er umschlang sie sanft und drückte einen Kuß auf ihre Stirn. Dann öffnete er die Logenthür, legte ihren Arm in den seinen und geleitete sie hinaus. Sie mußte immer noch das Taschentuch an die Augen führen.
Unter dem Ausgang winkte Ralph einen Fiaker herbei. Er half Eva einsteigen, dann an der Wagenthür stehen bleibend, drückte er fest ihre Hand:
»Behüt Dich Gott«, sagte er, ließ den Schlag zufallen, rief dem Kutscher den Namen des Hotels zu und trat zurück.
Aufschluchzend lehnte sich Eva in die Wagenecke. Sie hatte verstanden, daß dies der endgültige Abschied gewesen.
Dennoch hatte sie falsch verstanden.
Zehn Minuten später als sie kam Ralph in das Hotel zurück. Er klopfte an ihre Thüre. Sie dachte, es sei der Kellner, dem sie geklingelt, um sich einen Trunk Orangenblüthenwassers bringen zu lassen, und sagte: »Herein!«
Sie konnte einen Schrei – halb Schreck, halb Freude – nicht unterdrücken, als sie Denjenigen, dem sie in Gedanken eben erst ein letztes Lebewohl zugerufen, nun vor sich erblickte.
»Hier bin ich wieder, Eva.«
Sie blieb regungslos. Er trat näher:
»Meine Absicht war es, als ich an der Wagenthür Dich verließ, Dich nicht wiederzusehen … Aber auf dem Wege hierher habe ich mich eines Andern besonnen. Ich muß noch mit Dir sprechen. Ich will klarstellen, was in den letzten Stunden – unausgesprochen aber nicht unverstanden – zwischen uns Beiden gedacht und empfunden worden ist.«
Zitternd und geängstigt – aber süß geängstigt – ließ sich Eva auf das Kanapee hinter dem Tische nieder und zeigte mit der Hand nach einem gegenüberstehenden Sessel.
»Sprich, König, ich höre.«
Das Zimmer war nur spärlich durch zwei Kerzen beleuchtet. Eva legte den Kopf an die Kanapeelehne zurück – man konnte ihren Gesichtsausdruck nicht sehen.
Jetzt kam der Kellner mit dem Bestellten. Er setzte das Brett sammt Wasser und Glas auf den Tischteppich zwischen die zwei Leuchter.
»Befehlen die Herrschaften sonst etwas?«
»Nichts,« sagte Eva.
»Für mich morgen um sechs Uhr die Rechnung. Ich fahre mit dem Frühzug der Südbahn.«
»Sehr wohl, Herr Graf.« Und der Kellner entfernte sich.
»Also reisest Du doch?«
»So habe ich beschlossen. Doch wie oft habe ich in den letzten Tagen Beschlüsse gefaßt, geändert, wieder aufgenommen und wieder fallen gelassen! Laß mich wenigstens jetzt ausführen, was ich auf dem Wege von der Oper hierher mir vorgenommen habe – nämlich, Dir zu sagen … Alles zu sagen … Alles aufzuklären… Ich will nicht, daß ein schrecklicher Gedanke Dich quäle. So höre mich an. Um zu beginnen: ich liebe Dich.«
Eva nickte still mit dem Kopfe. Das wußte sie.
»Den Brief, den Du in meiner Mappe gefunden – der war an Dich gerichtet. Doch habe ich ihn nicht abgesendet, weil – siehst Du, wieder ein abgeänderter Entschluß – weil ich hinterher einsah, daß Du von der Ursache meiner Flucht nichts erfahren dürfest. Jetzt aber, nachdem Du mir hierher gefolgt, ist Dir mein Geheimniß verrathen. »In Deinem Aug‘ hab ichs gelesen«, daß Du Alles weißt. Jenes Lied, es sang unsern Abschied. Dich meiden, das stand ja fest, auch wenn Du niemals eine Ahnung gehabt hättest von dem, was mich bewegte – jetzt war es doppelt nöthig. – Was sein muß, sei rasch, sei kopfüber ausgeführt – darum wollte ich schon, dort am Wagenschlag, das letzte »Behüt‘ Dich Gott« gesprochen haben. Wäre ich mit Dir eingestiegen, so hätte ich nicht anders können, als Dich in meine Arme schließen als Dir die Thränen von den Augen küssen – mit Küssen, welche Du – für verbrecherisch gehalten hättest… Da fiel mir ein, nachdem der Wagen davongerollt war, daß nicht nur Küsse – daß auch Gefühle verbrecherisch sein können und daß das Bewußtsein, solche Gefühle eingeflößt – vielleicht ein paar Sekunden lang sogar getheilt – zu haben, Dich mit Gewissensqualm erfüllen könnte – und da beschloß ich, Dich noch einmal, Dich heute noch aufzusuchen … Du solltest nicht die Nacht unter dem Schreckenseindruck zubringen, daß in Leidenschaft zu Dir entbrannt sei – der Vater Deines Mannes.«
Er hielt einen Augenblick inne. Eva verstand nicht. Dann fuhr er fort:
»Nimmermehr – es ist gegen alle Natur, gegen alle durch Jahrhunderte lang fortgeerbten Begriffe von Ehre und Pflicht, die sich mit der Natur verwachsen haben – nimmermehr hätte ich mich in das Weib meines Sohnes verlieben können; nimmermehr hätte ein solches Gefühl jene Wärme ausstrahlen können, welche in Deinem Aug‘ »von Glück und Liebe einen Schein« entzündet hat. Du sollst nicht glauben, daß ich – daß Du, sei‘s auch nur ein paar Augenblicke – im Bann einer blutschänderischen Regung gestanden – Du sollst wissen, wie die Dinge liegen: Robert ist nicht mein Sohn.«
»Nicht Dein Sohn!« schrie Eva auf.
»Nein. Du weißt, welchen Jugendstreich ich begangen? Die Mutter Deines Mannes war die Tochter unseres Dorfwirths —«
»Das Alles weiß ich.«
»Sein Vater – Roberts Vater – war der Wirthshausknecht —«
»Oh!«
»Ein roher Wicht, ein Säufer, der wegen einer mit Todtschlag ausgehenden Rauferei im Zuchthaus geendet hat.«
»O mein Gott! Aber wie kommt es? – —«
»Robert ist ein Siebenmonatkind. Wenigstens als solches in den Registern eingetragen – in Wirklichkeit ganz normal geboren. Im Wochenbett, welches zugleich ihr Todtenbett war, hat mir die Unglückliche gestanden, daß, als ich sie heirathete – ich närrischer Knabe, glaubend, eine makellose Unschuld heimzuführen —, daß sie schon längst die Geliebte des bei ihnen bediensteten Fuhrmann-Schani gewesen. – Du könntest vielleicht glauben, Eva, ich erfinde – der Zeuge jener Geständnisse, der Arzt, lebt noch. Ein Arzt muß schweigen wie ein Beichtvater. Doktor Söller hat mir das Geheimniß bewahrt. – Warum ich das Kind dennoch für das meine ausgegeben! Ja warum! Aus falschem Stolz, aus Scham. Mußte ich doch schon genug Demüthigung von Seiten meiner Familie wegen der Heirath mit einem Bauernmädchen über mich ergehen lassen – sollte ich nun auch dazu noch bekennen, daß ich betrogen – von einer Dirne betrogen worden? Meine Eltern, die mich verstoßen hatten – als sie erfuhren, daß ich am selben Tage Wittwer und Vater eines Erben geworden, verkündeten mir, daß sie bereit seien, zu verzeihen – hätte ich ihnen gestehen sollen, daß sie gar keinen Enkel hatten und daß das Mädchen, welches ich Allen zum Trotze zur Gräfin Siebeck gemacht, nicht nur von Standes wegen – sondern auch von Menschen wegen eine Unwürdige gewesen? Ich hab‘s nicht gethan. Ich hätte es thun können, denn meine Frau hat ihre Beichte nicht nur in Gegenwart des Doktors und noch eines Zeugen abgelegt, sondern dieselbe sogar diktirt und mit ihrer Unterschrift versehen. Ich verlangte das, um eine Scheidung zu erwirken – weder sie, noch den Sohn des Fuhrmann-Schani wollte ich im Hause behalten … Aber dann starb sie … Wozu da noch die nachträgliche Schande? … Wozu den posthumen Skandalprozeß? Doktor Söller, der gern mir und den Eltern Gram erspart sehen wollte, redete mir selber davon ab – und so ermächtigte ich ihn, das Dokument, welches er in Verwahrung genommen hatte, zu vernichten. Das Kind war in gesetzmäßiger Ehe geboren – vor aller Welt das meine – und ich schwieg. Aber vom Tage seiner Geburt an habe ich das Geschöpf verabscheut und mir es stets fern gehalten. Es hafteten zu viel Lügen daran: die Lüge der Mutter, welche es schon unter dem Herzen trug, als sie in mein Heim einzog – meine Lüge, der ich es zugab, daß der Name meiner Väter auf den Sohn eines betrunkenen Hausknechts überging … Jede böse That führt ihre Strafe nach sich – es rächt sich alle Schuld. Daß ich das Weib jenes falschen Sohnes – daß ich Diejenige leidenschaftlich lieben und begehren muß, die vor aller Welt meine Schwiegertochter ist – das ist meine Strafe.«
Ralph hatte ausgeredet.
Eva gab keine Antwort. Das Gehörte hatte sie zu heftig erschüttert. Nur mit einem tiefgeholten zitternden Seufzer machte sie ihrer Bewegung Luft. Tiefgeholt wie ein Aufathmen der Erlösung, gezittert wie ein Stöhnen der Angst. Und in der That: die gemachte Eröffnung hatte dieses Doppelgefühl in ihr erweckt; erlöst war sie von dem grauenvollen Gedanken, daß der Schwiegervater sie liebte; geängstigt war sie durch das erwachende Bewußtsein, daß ihr dieser Mann – dem sie durch kein Band des Blutes mehr verbunden war – zehnfach gefährlicher geworden.
»Eva,« sagte Ralph nach einer Weile, »Du sprichst kein Wort? Habe ich Unrecht gethan, Dir diese dunkle Geschichte zu enthüllen?«
Sie machte eine abwehrende Handbewegung.
»Ich konnte doch nicht,« fuhr er fort, »Dich unter dem Eindruck verlassen, daß ich für Dich eine verbrecherische Leidenschaft – —«
»Ach König,« unterbrach Eva. »wenigstens schützte dieser Eindruck mich gegen ein Gefühl, das —« Sie hielt inne.
Ralph sprang auf und ergriff ihre beiden Hände.
»Verstehe ich recht?… Eva, Eva!«
Er glitt an ihrer Seite auf die Knie. Sie wandte den Kopf ab, doch entzog sie ihm ihre Hände nicht.
»Hör‘ mich an, holdes Kind … wenn Du mich liebst, so laß ich Dich nicht… komm mit mir. Ich reise fort – wie schon so oft – in irgend einen fernen, fernen Welttheil… Komm mit mir! Niemand wird uns vermissen, und was sie sagen, ist einerlei – man wird uns nicht finden, weiß ich doch selbst nicht, wo wir unser Glück verbergen werden – ob in Brasilien, ob auf der Insel Korfu, ob in einem nordischen Fjord… Komm mit mir! Mein sei – mein! Ich will Dich auf Händen tragen, ich will – Eva, so antworte doch!«
Sie riß ihre Hände aus den seinen los und entfernte sich einige Schritte.
»Das habe ich nicht verdient,« sprach sie.
Ralph blickte ihr erstaunt nach, er schüttelte den Kopf, als risse er sich aus einem Traum empor und erhob sich von seiner knieenden Stellung.
»Was ich eben hören mußte.« sprach Eva weiter, »klang wie Wahnsinn. Ralph Siebeck, bedenke wohl: den Namen Siebeck trage auch ich, und daß ich diesen Namen nie beflecken werde, habe ich geschworen und schwöre es wieder. Wenngleich es durch Trug und Verrath, durch Leichtsinn und Schuld dazu gekommen, daß mein Gatte diesen Namen erhalten und mir gegeben – ich habe ihn jetzt und in meiner Hut soll dessen Ehre sicher sein. Nicht nur des Namens willen – der der Deine ist, König – sondern weil meine Ehre, unter allen Umständen, mir theuer ist – und ob ich den Titel Gräfin rechtmäßig trage oder nicht, gleichviel: den Titel »brave Frau« will ich mir bewahren. Weil Ralph Siebeck mein Schwiegervater nicht ist, soll ich darum, ich, eines Andern Gattin, Ralph Siebecks Maitresse werden können? Die Zumuthung beleidigt mich – kränkt mich bitter.«
Nochmals schüttelte Ralph hastig sein Haupt, dann, ohne ein Wort zu sagen, schritt er zur Thür. Dort, mit der Hand auf der Klinke, blieb er eine Weile stehen und sah sich nach Eva um:
»Gräfin Eva Siebeck hat nichts mehr hinzuzufügen?« fragte er.
Eine wilde Sehnsucht erfaßte sie, auf ihn zuzustürzen und mit dem Herzensschrei »O mein König!« ihn zurückzuhalten. Aber sie bleibt wie angewurzelt stehen, und ihre Lippen murmeln:
»Nichts!«
Er verneigte sich und ging zur Thür hinaus.
Eva horchte seinem verhallenden Schritte nach, dann ließ sie sich in einen Sessel fallen:
»Vorbei, vorbei« – stöhnte sie halblaut. »Auf ewig vorbei – wir sehen uns niemals wieder!«
Aber trotz des Wehs, sie war mit sich zufrieden: sie hatte ihre Pflicht gethan. Dieser wilde Fluchtvorschlag! Hätte sie ihn angenommen, so wäre ihre Selbstachtung – und wohl auch seine Achtung – unwiderbringlich verwirkt gewesen. Der beleidigte Groll, den sie hervorgekehrt, war im Grunde nur ein Werkzeug ihrer Pflichterfüllung. Wirklich beleidigt fühlt sich selten eine Frau durch ihr geweihte Leidenschaft so kühn, so wahnsinnig dieselbe sich auch geberde; dafür hat sie – zumal wenn ihr der Kühne theuer – Schätze von Nachsicht bereit. Aber wie denn anders, als in das Gewand des Grolles, der gekränkten Würde, kann sie, um es wirksam zu machen, das Neinwort kleiden, welches auszusprechen die Tugend ihr gebietet?
Nein – beleidigt hatte sie Ralphs Vorschlag nicht, wohl aber erschreckt, und mit aufrichtigem Entsetzen hatte sie ihn zurückgestoßen. Ralph lieben, von ganzer Seele lieben: dazu fühlte sie sich mächtig hingezogen; ihn zum Geliebten haben: unmöglicher Gedanke! Das töchterliche, ehrerbietig reine Gefühl, welches ihrer Liebe zu dem gewähnten Schwiegervater innewohnte, das konnte durch die so unvermittelte Mittheilung: »Ich bin Roberts Vater nicht« nicht so plötzlich vertilgt werden. Die Vorstellung eines anderen als ungetrübt platonischen Verhältnisses zwischen Ralph und ihr hatte für sie noch immer etwas Widernatürliches, Ungeheuerliches. Ihr schauderte. Beinah wäre ihr nun nachträglich wirklicher Zorn erwacht – wie konnte er es nur wagen? … Doch schnell fand sie Entschuldigung für ihn: er hatte ja vom ersten Augenblick an gewußt, daß sie nicht seine Schwiegertochter war … Aber gleichviel – sie war die Frau eines Andern, und als solche durfte sie sich nicht mehr verschenken; sie hatte recht gethan, ihn so schroff und entschieden abzuweisen. Wenn ihr Vater lebte, er würde ihr Gebühren gut heißen, und Ralph selber – aus der Ferne – würde ihr nur desto tiefere, weil mit Achtung verbundene Neigung weihen. Aus der Ferne würde auch sie ihn lieben dürfen und in diesem Gefühle Trost und Erholung finden. Die Prosa, die Widerwärtigkeit ihres Lebens an Roberts Seite konnte sie nunmehr erträglich machen durch die erhebende, die makellose, die begeisterte Liebe zu dem Entfernten!
XIII
»Ist Graf Ra – ist mein Schwieg – ist Graf Siebeck abgereist?« fragte Eva den Kellner, der ihr am folgenden Morgen das Frühstück brachte.
»Ja, Frau Gräfin, um sieben Uhr früh. Er war kaum aus dem Thore gefahren, als ein Telegramm für ihn ankam; wir haben es ihm zur Bahn nachgeschickt und es konnte ihm noch übergeben werden.«
»Und für mich hat er nichts zurückgelassen?«
»Ich will beim Portier nachsehen.«
Eine Weile später kam der Kellner wieder herein und überreichte einen Brief.
Hastig riß Eva den Umschlag auf und überblickte den Inhalt.
»Diese Zeilen bitten Dich um Zweierlei: verzeih und vergiß. Ich schwankte, ob ich Dir das schreiben oder selber sagen sollte (Du siehst, noch immer ändere ich die Entschlüsse) und habe mich für schreiben entschieden. Es ist besser, wenn einige Zeit verfließt, das macht die Aufgabe des Vergessens leichter. Noch ein Wort muß ich Dir sagen, nämlich: Dank! Du hast durch Dein festes, Dein allein richtiges Betragen Dich und mich vor Reue und Unglück geschützt. Du bist ein braves, achtungswerthes Weib und ich – achte Dich. Verbrenne diese Zeilen, in falsche Hände gerathend, könnten sie zu falscher Deutung Anlaß geben. Behalte nur die vier Schlagworte: » Verzeihen und vergessen (dies von Dir für mich) Danken und verehren (dies für Dich von mir). Nach – sagen wir – sechs Monaten, werden wir einander wohl unbefangen wiedersehen. König.«
Eva vollbrachte das in dem Briefe enthaltene Geheiß. Sie schrieb die vier Schlagworte auf ein Zettelchen; dann zündete sie eine Kerze an und hielt den Brief, nachdem sie ihn zuvor an die Lippen geführt, in die Flamme. Hierauf schloß sie das Zettelchen in eine goldene Kapsel, die sie an der Uhrkette trug.
Es ist zwar kein gutes Mittel zum vergessen, wenn man sich stets daran mahnt, daß man etwas vergessen soll; aber es war ja auch nicht nöthig das Geschehene aus ihrem Gedächtniß zu verwischen: die volle Verzeihung – und um die handelte es sich ja – hatte sie ihm ohnehin schon gewährt … Es hätte wahrlich keiner Trennung von sechs Monaten bedurft, um die Unbefangenheit des Verkehrs wieder herzustellen; am liebsten hätte sie Ralph schon heute wiedergesehen, und ohne Angst, ohne Reue würde sie ihm ins Auge geschaut haben, im frohen Bewußtsein, daß sie sich seinen Dank und seine Achtung erworben. Daß sie ihn nebstbei auch zu kühner Liebe entzündet – nun, das sollte ja eben das Vergessene sein. Aber ein ganz klein wenig sich dessen zu erinnern, war nicht ohne Zauber …
Ein Zweifel befiel sie, der ihr sehr peinlich war. Würde Ralph nicht etwa wieder jahrelang wegbleiben? Wie einsam, wie leer lag da das Leben vor ihr! An Robert mochte sie gar nicht denken. Schon seit längerer Zeit war er ihr zum Fremden geworden; seit gestern aber, wo sie erfahren, daß er gar nicht Derjenige sei, der er zu sein glaubte, schien er ihr noch um tausend» Meilen weiter entrückt – war er zu einer identitätslosen Truggestalt geworden. Der Sohn des Fuhrmanns Schrein, des betrunkenen Zuchthäuslers, und der betrügerischen Bauerndirne, der falsch Getaufte, der unbewußte Usurpator des Namens, den er trug, und des Vermögens, das er erben sollte – war das ihr Mann? Ihr schauderte. Eigentlich war also auch sie nicht rechtmäßig das, wofür sie galt? »In solche Grübeleien darf ich mich nicht vertiefen,« sagte sie sich, diese Gedanken gewaltsam abschüttelnd. »Das wäre ja, um den Verstand zu verlieren! …« Was gab es für einen Ausweg aus dieser verworrenen Lage? Keinen. Wo lag ihre Pflicht? Sie wußte es nicht. Wo ihre Zuflucht? Einzig in dem Gedanken an Ralph …
Und was nun? Schweigend gedulden: sie konnte ja nichts thun. Einen Augenblick stieg ihr die Idee auf: nicht mehr nach Großstetten zurück, nicht mehr dem Menschen unter die Augen treten, den sie jetzt als Verbrechersohn kannte und – fürchtete. Aber wohin, wohin? Und mit welchen Mitteln? Und unter welchem Vorwand? Das ihr mitgetheilte Geheimniß durfte sie ja nicht verrathen und dann: – Ralph zählte offenbar darauf, sie bei seiner Rückkunft zu finden – ach wären doch diese Trennungsmonate schon vorbei! Und so kamen ihre irrenden Gedanken immer wieder bei Ralph an und fanden da Beruhigung.
Mit dem nächstabgehenden Zuge fuhr Eva nach Krems. Dies war ja das ursprüngliche Ziel ihrer Abreise von Großstetten gewesen, und sie war froh jetzt, unter dem Eindruck des Erlebten, nicht direkt und nicht allein nach Hause fahren zu sollen, sondern ihre einstige Freundin aufsuchen und hoffentlich in deren Begleitung zurückkehren zu können.
Doch die letztere Voraussetzung erfüllte sich nicht: Dorina weigerte sich, der Aufforderung zu folgen.
Eva fand ihre Freundin in tiefstem Traueranzuge, aber durchaus nicht in traurigster Stimmung. Der Tod des bärbeißigen Obersten war für die lebenslustige junge Frau eher eine Erleichterung denn ein Verlust.
»Das ist sehr, sehr freundlich und lieb von Dir,« sagte sie, als Eva ihre Einladung vorgebracht, »aber ich kann nicht annehmen. Frage mich nicht warum – ich kann nicht. Es wäre sogar abscheulich von mir, wenn ich … Sag mir, kam die Idee von Dir ganz allein und hat sich Dein Mann nicht dagegen gesträubt?«
»Gesträubt? Im Gegentheile – ich gestehe Dir, daß die Idee – vielmehr der lebhafte Wunsch – von ihm ausgegangen.«
Während sie das aussprach, flog, einem Blitze gleich, ein Verdacht durch Evas Sinn. Sie faßte ihre Freundin am Arm.
»Dorina! Sag‘ die Wahrheit. Dir galten die Fensterparaden, nicht mir? … Dorina!« – jetzt legte sie beide Hände auf der Andern Arm – »an jenem Abend, nicht wahr, wo man mich in Dein Zimmer gerufen … Du standest da neben Deinem eben zurückgekehrten eifersüchtigen Gemahl und Robert … oh, jetzt verstehe ich alles – sei offen … leugne nicht … der Heirathsantrag wurde nur gemacht, um den Verdacht von Euch abzuwälzen … Robert war Dein Geliebter, Dorina!«
»Aber Eva, welch ein Einfall!«
»O, Du bist dunkelroth geworden – Du schaust mir nicht in die Augen … Gestehe nur, Dorina – oder gleichviel: leugne zu – mir ist jetzt alles klar. Auch daß Du meine Einladung ablehnst, bestätigt nur, daß ich richtig sehe. O, Dorina, wenn Du wüßtest, wie wenig es mich kränkte, wie sogar – im Gegentheile – es mir eine Erleichterung wäre zu wissen, daß jener Mensch niemals in mich verliebt gewesen —«
»Jener Mensch? Auf solchem Fuße stehst Du mit Deinem Gatten? Ich bin zwar nicht erstaunt darüber. Robert Siebeck kann kein zartfühlender Gatte sein.«
»Wie er wohl auch kein zartfühlender Geliebter war? Freundin – zeige Dich freimüthig – gestehe! Du machst Dir keinen Begriff, wie befreiend, wie erlösend mir diese Sicherheit wäre. Dies ist keine Falle – ich rede wahr: nicht den geringsten Vorwurf hätte ich für Dich bereit, nur Dank. Ich schwör‘ es Dir – beim Andenken meiner Eltern.«
»Nun denn – so danke mir. Du hast richtig errathen. Diese Heirath war damals meine Rettung, und ich meinte, daß dieselbe zugleich ein Glück für Dich vorstelle. Bedenke, welche glänzende Partie —«
»O, das elende Wort »Partie«! Ich fange an einzusehen: alles Unglück, alle Unheiligkeiten, alle Schmach in den Ehen beruht auf dem Begriff »Partie«. Du hast wohl den Obersten Borrowetz auch nur genommen, weil er eine Partie vorstellte, nicht wahr?«
»Allerdings.«
»Eigentlich könnte ich Dir bittere Vorwürfe machen – warum hast Du mich nicht gewarnt – ich würde Dich nicht verrathen haben.«
»Du versprachst, mir keine Vorwürfe —«
»Es ist wahr, ich versprach, zu danken, und ich danke Dir. So kommst Du nicht nach Großstetten?«
»Ich staune, daß Du, nach dem Gesagten, diesen Vorschlag noch erneuerst.«
»O, ich bin nicht eifersüchtig.«
»Es wäre mir sehr unangenehm, Robert Siebeck wiederzusehen.«
»So liebst Du ihn nicht mehr? Er hingegen scheint sich sehr nach Dir zu sehnen – mit größtem, an ihm ganz ungewohntem Eifer hat er mir ans Herz gelegt, Dich mitzubringen.«
»Ich finde das schändlich. Glaubt er denn, daß ich das damals so gewaltsam zerrissene Band wieder anknüpfen würde – und in Deinem Hause? Er hält mich für schlechter, als ich bin.«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Welche Frage?«
»Du liebst ihn nicht mehr?«
»Nein. Die unselige Liebschaft war überhaupt keine Liebe. Undankbarer, unzarter kann ein Mann die eroberte Gunst einer Frau nicht lohnen, als – aber wozu sage ich Dir das? Du scheinst ihn ja noch viel besser kennen gelernt zu haben als ich.«
Nach zwei Stunden reiste Eva, von Dorina zur Bahn begleitet, wieder ab. In Wien fuhr sie von einem Bahnhof zum andern, und noch am selben Abend, ziemlich spät, kam sie an ihrer Zielstation an.
Es war kein Wagen von Großstetten da, da sie nicht, wie verabredet, die Stunde ihrer Ankunft angegeben. Doch sie konnte ja auf der Station einen Lohnkutscher nehmen, was sie denn auch that.
Die Entfernung bis zum Schlosse betrug ungefähr eine Stunde. Diese Zeit verbrachte Eva damit, sich zum so und so vielten Male den Verhaltungs-Plan zu wiederholen, den sie Robert gegenüber einhalten wollte. »Wir sind geschiedene Leute« sollte ihr erstes Wort sein. »Ich weiß nun, aus welchem Grunde Du mich geheirathet hast – und somit betrachte ich diese Heirath als ungiltig.« In der That, eine Ehe, auf falscheren Voraussetzungen gegründet als diese, konnte man sich kaum denken; zuerst der unberechtigte Civilstand – doch davon durfte sie nichts sagen – dann die unfreie, erlogene Wahl: nur um eine andere Frau aus schiefer Lage zu retten, hatte er sie zum Altare geführt. Dieses konnte sie ihm vorhalten und darauf ihr Recht stützen, sich jede weitere Annäherung von ihm zu verbieten. Mochte er seine Freiheit wieder nehmen, zu Dorina zurückkehren oder jeder beliebigen Anderen sich zuwenden – ihr sollte es fortan gleichgiltig sein … War darum ihr Herz, ihre Zukunft leer? Nicht ganz. Eine Freundschaft, eine warme, innige Freundschaft – mehr als dies: eine tiefe, lebensverklärende Liebe – war ihr Besitz; ach, wären doch die sechs Monate unnützer Trennung nur schon vorüber! »Unnütz,« denn sie fühlte sich im Bewußtsein ihrer Lauterkeit so stark, daß an die Gefahr einer Verirrung gar nicht zu denken war.
Der Wagen näherte sich dem Schlosse.
Es schien Eva, als wäre etwas Ungewöhnliches hier vorgegangen. Die Fenster des Saales waren unerleuchtet, hingegen brannte Licht auf jener Seite, wo das Schlafzimmer der alten Gräfin lag. Als der Wagen in die Auffahrt bog und vor dem Thore hielt, bemerkte Eva, daß da bange Bewegung herrschte. Gestalten huschten her und hin, unter der Einfahrt stand eine Gruppe Menschen.
Jemand eilte herbei, den Wagenschlag zu öffnen.
»Was ist denn geschehen?« fragte Eva erschrocken.
»Wissen gräfliche Gnaden nicht? Die alte Frau Gräfin ist zum Sterben … Man ist schon gegangen, den Herrn Pfarrer holen.«
Eva sprang hastig über das Trittbrett und eilte unter das Thor, wo ihr Irene entgegenkam.
»Ah, gut, daß Du da bist – wir wollten schon nach Krems telegraphieren.
»Wie ist das gekommen? – sag‘ – so plötzlich?« fragte Eva atemlos und ganz erschüttert unter dem gewaltigen Eindruck, den der Begriff »Sterben« wenn so nahe gerückt – stets hervorzubringen pflegt.
»Man weiß nicht recht … ein Anfall gestern Abend … und jetzt, vor einer Stunde, wieder. Der Doktor sagt, es ist nur wenig Hoffnung.«
»Aber doch Hoffnung? Kann man sie sehen?«
»Natürlich – komm mit mir … Wir sind Alle dort … ich kam nur herunter, weil ich den Wagen gehört – ich dachte mir, daß Du es bist.«
»Hat sie nicht nach ihrem Sohn verlangt?«
»Ja, das war ihr Erstes, als sie zu sich kam. Wir haben auch gleich eine Depesche nach Wien geschickt.«
»Schrecklich!«
Sie waren in dem Vorraum der von der alten Gräfin bewohnten Zimmerreihe angelangt. Auch hier waren viele Menschen, beinahe die ganze Dienerschaft, in banger Erwartung versammelt.
Im Nebengemach, wo man durch die offene Thür das röchelnde Athemholen der alten Frau schon hörte, warf Eva Hut und Reisemantel ab und trat – hinter Irene – in das Krankenzimmer.
Dasselbe war nur schwach erleuchtet. Im ersten Augenblick konnte sie die Leute nicht erkennen, die das Bett umstanden. Erst nach und nach erkannte sie die Anwesenden. Fräulein Ottilie – der Arzt – Georg und Heinrich, die beiden Kammerjungfern der Gräfin; – Robert sah sie nicht. Und wer mochte jene Männergestalt sein, die am Fußende des Bettes knieete, den Kopf in den Decken vergraben und wie von unterdrücktem Schluchzen geschüttelt, sollte das Robert sein? Dieser Schmerz um seine Großmutter – das sah ihm nicht gleich.
Eva wollte sich dem Bette nähern; da faßte sie Irene am Arm: im Nebenzimmer ertönte ein Geklingel, und jetzt trat, gefolgt von einem Kirchendiener, der Pfarrer herein.
Die Frauen knieeten nieder.
Da erhob sich die Gestalt am Bettende. Eva vermochte kaum einen Schrei zu unterdrücken: es war Ralph.
Dieser neigte sich zu seiner Mutter und sprach ein paar leise Worte. Nachdem er ihre Antwort vernommen, trat er hervor und dem Pfarrer entgegen:
»Meine Mutter wünscht zu beichten, Hochwürden. Wir werden uns indeß alle entfernen.« Und er winkte den Uebrigen, ihm in das Nebenzimmer zu folgen.
Nachdem er die Thüre zu dem Krankenzimmer zugelehnt, ging er auf Eva zu und drückte ihr stumm die Hand. Der Ausdruck des Schmerzes, der in seinen Zügen lag, machte ihr ihn wieder um einen Grad theurer: ein Mann, der um seine Mutter weint – was kann es Ergreifenderes geben?
Ihr Staunen, ihn hier zu finden, war indessen gewichen. Sie hatte sich des Umstandes erinnert, den ihr der Kellner mitgetheilt: die dem Grafen nachgetragene Depesche. Er hatte sie noch rechtzeitig erhalten, und da sie ihm die Nachricht von der Erkrankung seiner Mutter gebracht, so war er vom Südbahnhof auf den Westbahnhof gefahren, um – statt ins Ausland – nach Großstetten zu eilen.
»Es ist doch noch Hoffnung?« fragte Eva leise.
Er schüttelte den Kopf:
»Ich glaube nicht. Sie fühlt ihr Ende – sie war‘s, die nach dem Pfarrer verlangt – und von mir hat sie Abschied genommen.« In seiner Stimme zitterten noch immer die Thränen.
Wie gern hätte Eva seinen Kopf an ihre Brust gezogen, daß er da sich ausweine!
»Abschied thut furchtbar weh,« fügte er hinzu. »Das habe ich in den letzten drei Tagen mehrfach empfunden.«
Eva faltete die Hände:
»O, so trenne Dich nicht mehr,« sprach sie bittend, »freiwillig nicht mehr von solchen, die Dich lieben.«
Er dankte ihr mit einem gerührten, vielsagenden Blick.
Nach einer bangen Viertelstunde öffnete sich die Thür des Krankenzimmers, und der Pfarrer kam wieder heraus.
Ralph eilte auf ihn zu.
»Nun?!«
»Die Frau Gräfin ist ganz bei Bewußtsein und fühlt sich sehr beruhigt. Vielleicht kommt sie sogar noch auf. Es geschieht ja mitunter, daß der Empfang der letzten Sakramente die Genesung herbeiführt.
Ralph unterdrückte die so nahe liegende Bemerkung daß »mitunter« auch solche genesen, welche die Sakramente nicht empfangen und daß die Aufeinanderfolge von Begebenheiten – wenn dieselbe nicht untrügerisch jedesmal eintritt – durchaus keinen Schluß auf ursächlichen Zusammenhang ziehen läßt. Aber der Augenblick wäre schlecht gewählt gewesen zu einer solchen Auseinandersetzung – der Augenblick und die Person.
»Mögen Sie recht haben, Herr Pfarrer,« sagte er nur.
Der Arzt, der eben hinzugetreten, schüttelte traurig den Kopf.
»Leider kann ich diese Hoffnung nicht teilen,« sagte er. »Und Sie müssen sich gefaßt machen, mein lieber Herr Graf, Ihre Frau Mutter wird den morgigen Tag nicht mehr erleben.«
Ralph bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.
»König, mein lieber König!« sprach Eva sanft, ihre Hand auf seine Achsel legend.
Die Stunden, die nun folgten, waren bange Stunden.
Ralph hatte Irene und ihre Brüder zu Bette geschickt; er selber wich nicht aus dem Zimmer, in welchem seine sterbende Mutter lag. Auch Fräulein Ottilie und eine Kammerjungfer wachten. Der Arzt hatte sich im Nebenzimmer auf das Sofa gelegt und schlummerte – »zu helfen war nicht mehr« – hatte er erklärt. Eva, trotz Ralphs Bitten, sie möge ihr Zimmer aufsuchen, um der Ruhe zu pflegen, weigerte sich, das Krankenzimmer zu verlassen.
Sie hatte nach Robert gefragt. Es hieß, derselbe sei, wie gewöhnlich, um acht Uhr Abends in das Dorf hinausgegangen; ob er jetzt – es war elf Uhr – zu Hause sei, wisse man nicht.
Ein leises Klopfen an der Thür und – Robert steckte den Kopf zur Thüre herein:
»Eva!« rief er.
Sie folgte widerwillig und trat zu ihm in das Nebenzimmer.
»Jetzt hab‘ ich unten erst erfahren, daß Du schon zurück bist. Nun – und Dorina – die Borowitz, will ich sagen?«
»Sie kommt nicht.«
»Kommt nicht! Warum denn das?«
»Weil —« Aber Eva hielt inne. Hier, wo nebenan eine Sterbende lag, war der Ort nicht, von solchen Dingen zu reden, wie die, welche zwischen Robert und ihr anläßlich Dorinas gesprochen werden mußten. »Sie kommt nicht. Warum – werde ich Dir morgen sagen. Du fragst gar nicht, wie es der Großmutter geht?«
»Zu Ende geht‘s – das hat man mir unten gesagt? Kommst Du nicht schlafen?«
»Nein; ich bleibe hier.«
»Das ist eine Idee! Du – unter Anderm: mir ist die Geschichte mit dem Liebesbrief im Kopf herumgestiegen und da bin ich noch einmal in Papas Zimmer gegangen … die Mappe war aber weg … hast Du sie mitgenommen?«
»Ich habe sie eingeschlossen – ja.«
»Und den Brief vorher gelesen?«
»Nein.«
»Ich möchte doch wissen, ob die Liuba … Aber‘ lassen wir jetzt die Liuba und komm schlafen, Weiberl. Es war mir schon gestern fad, Dich nicht im Nebenzimmer zu wissen.« Eine Flamme blitzte in seinem Augen auf.
Eva erbebte.
»Ich höre die Kranke klagen, ich will nachsehen, Adieu!«
Robert faßte sie an der Hand: »Sei nicht fad!«
»Laß mich.«
Er zuckte mit den Achseln.
»Mir auch recht … wie Du willst … So geh ich.«
Er wandte sich um und ging. Eva trat in das Krankenzimmer zurück. Sie hatte sich nicht getäuscht. – vom Bette her drangen klagende Laute. Ein leiser Schauer erfaßte die junge Frau: Sollte da der Tod sein unerbittliches Werk begonnen haben und waren diese Klagen etwa – Sterberöcheln?
Weinend warf sich Eva auf ein nahe der Tür stehendes Sofa. Nicht, daß ihr der Verlust der alten Frau als ein so schwerer gedroht hätte; aber die zahlreichen in den letzten Tagen durchgemachten Erregungen hatten ihre Nerven auf‘s Äußerste gespannt; dazu die eben gehabte Unterredung mit Robert – der ihr jetzt in jeder Hinsicht ein Fremder geworden, dabei aber dennoch ihr Gatte war; dort jener am Sterbebette seiner Mutter zitternde, so teure Mann, dessen Schmerz sie in tiefster Seele mitfühlte: das Alles war zu viel für sie, und sie schluchzte laut.
Indessen beruhigte sich die Kranke. Nach einigem immer leiser werdenden Stöhnen verstummte sie.
Ralph bog sich über sie herab.
»Sie ist eingeschlafen,« flüsterte er der nebensitzenden Ottilie zu, »ihr Atem geht ganz ruhig …«
Dann ging er an jenes Ende des Zimmers, wo Eva noch immer heftig weinend in ihrer Sofaecke lehnte. Er setzte sich an ihre Seite.
»Eva,« bat er leise, »weine nicht so … Du könntest die Kranke aus dem Schlafe reißen und sie erschrecken. Ich wußte nicht, daß Du meine arme Mutter so sehr geliebt!«
»Ich weine um Dich, König. Dein Schmerz thut mir so weh. Und auch weil ich selber elend bin … ich wollte, daß der Tod, wenn er schon seinen Einzug hier halten muß, daß er mich zum Opfer —«
»Frevle nicht, Kind! Ein so herrlich schönes, junges Leben … Sei vernünftig, meine kleine Eva – begieb Dich zur Ruhe … wir sind hier genug, um bei der Kranken zu wachen – Du kannst ihr doch nicht helfen. Und jetzt schläft sie. Vielleicht schläft sie so bis zum Morgen – thu‘ ein Gleiches, geh!«
»Schick‘ mich nicht fort, König… Ich mag jetzt um keinen Preis – um keinen Preis der Welt in unsere Zimmer gehen.«
Er blickte sie ein paar Sekunden an.
»Ich verstehe,« sagte er. »So trachte wenigstens hier, ein wenig zu schlummern… Strecke Dich nur auf diesem Sopha aus.« Er stand auf und legte ein paar Kissen unter ihrem Kopf zurecht.
Nach einer Weile schlief die Müde wirklich ein. Doch es war ein unruhiger, oft unterbrochener Schlaf. Alle zehn Minuten kehrte ihr das Bewußtsein zurück, daß sie da in einem Sterbezimmer lag, daß aber in demselben Raume eine geliebte Person weilte; – sie hörte immer wieder die Athemzüge der Kranken, das leise Walten der Pflegenden und den Nachhall einzelner Worte, welche, ehe sie einschlief, Ralph zu ihr gesprochen – das Alles vermengt mit den Vorstellungen des Traumes, aus welchem sie eben aufgewacht und in den sie gleich wieder zurück verfiel.
Plötzlich aber erwachte sie mit einem jähen Schreck. Noch gellte in ihrem Ohr ein Schrei. Sollte das ein Todesschrei? – – Sie richtete sich rasch auf.
Es war schon Tag. Im Zimmer herrschte Verwirrung … eben kam der Arzt herein … Ein zweiter Schmerzenslaut, so wie jener, welcher Eva aus dem Schlaf gerissen, drang jetzt von dem Bette her, und der ihn ausstieß, war Ralph, welcher an der Seite seiner – todten Mutter in die Knie fiel.
Ganz ruhig, ohne Kampf, wahrscheinlich ohne es zu wissen, war die alte Frau entschlafen. So bestätigte der Arzt. Der Tod war schon vor einer Stunde eingetreten, und keiner von den Wachenden hatte einen Klagelaut vernommen – Alle glaubten, daß sie schlafe. – Doch Ralph, geängstigt, sie nicht mehr athmen zu hören, hatte sich über sie gebeugt und erkannt, daß Alles aus sei. Da hatte er aufgeschrieen.
Eva ging hin und kniete an Ralphs Seite nieder. Ergriffen von Ehrfurcht und Wehmuth betete sie still. Dann aber, während das Todtengemach mit allen Hausgenossen sich zu füllen begann, schlich sie hinaus. Dem Sohne hätte sie nicht gewagt, in diesem Augenblicke Trost zu bieten, und das Sprechen mit den Andern – welche nach der Reihe ihre Ausrufungen und Fragen vorbrachten, war ihr peinlich.
Auf der Stiege begegnete sie Robert. Er wollte sie anreden, sie huschte aber an ihm vorbei.
XIV
Sechs Wochen später. Als Schloßherrin in Großstetten waltete nunmehr die junge Gräfin Robert.
Ralph hatte ihr diese Würde übertragen: »Du mußt es lernen, hier zu regieren, Klein-Eva. Ein Betrag von monatlich Tausend Gulden wird Dir zur Verfügung gestellt, und damit mußt Du den Haushalt bestreiten. Mich betrachte als Deinen Gast.«
Eva bewohnte jetzt die Zimmerreihe im ersten Stock, welche die alte Gräfin innegehabt; Robert war im Erdgeschoß geblieben. Ihren Vorsatz, sich fortan jede intime Annäherung von Seiten des Gatten zu verbieten, hatte Eva ausgeführt. »Ich betrachte unsere Ehe als ungiltig,« hatte sie ihm erklärt. »Du hast mich geheirathet, um Deine Geliebte vor dem Zorn eines betrogenen Ehemanns zu schützen. Du hast mich weder geliebt noch begehrt, die ganze Heirath war eine große Lüge. Ich weigere mich, diese Lüge in unserem Verkehr fortzusetzen. Vor der Welt bleibt das Erlogene natürlich aufrecht, da das Gesetz uns unwiderbringlich zusammengekettet hat; da ich – Du weißt gar nicht, mit wie wenig Recht – fortan auch Siebeck heiße. Diese Lüge falle auf die Gesellschaft zurück, welche die Ehe – auch auf so falscher Grundlage – als echt betrachtet und als unlöslich aufzwingt; – zwischen uns aber will ich sie nicht walten lassen. Wir sind geschiedene Leute.«
Darauf hatte Robert mit den Achseln gezuckt und nur bemerkt: »Wie fad.« Seine Frau war ihm wirklich gleichgültig; ihre »überspannten, affektirten, pedantischen, theatralischen« (in welche Unterabtheilungen er den Hauptbegriff »fad« zerlegte) Ideen mit ihr zu erörtern: darauf hatte er sich nicht einlassen mögen. Also ließ er sie gewähren. Es war ihm sogar in mancher Hinsicht recht angenehm, daß sie ihm seine Freiheit wiedergegeben.
Zwischen Eva und Ralph war mit keinem Worte, keinem Blicke – beinah mit keinem Gedanken – mehr auf jene Dinge angespielt worden, die während des Wiener Aufenthaltes sie so mächtig bewegt hatten. Wie durch ein schweigendes Uebereinkommen war über alles an jenem Tag Geoffenbarte wieder ein dichter Schleier gefallen. Als nicht geschehen, als nicht verrathen, als nicht vorhanden behandelten sie das gegenseitig Gestandene und Enthüllte. Der wuchtige Zwischenfall, Gräfin Siebecks plötzlicher Tod, hatte im ersten Augenblick jeden andern Gedanken verscheucht, hatte die Herzenskonflikte unterbrochen, scheinbar aufgehoben. Ralph war in aufrichtigste Trauer um die geliebte Mutter versunken, Eva weihte ihm das innigste Mitgefühl. Dieses Gefühl, welches zwar eine verstärkte Liebe bedeutete, hegte sie ohne Reue und Argwohn.
Die Aufgabe, welche ihr nun zugefallen war, an der Spitze eines Haushalts zu stehen, die Herrin zu sein – mißfiel ihr nicht. Sie nahm sich der Sache sehr ernst und eifrig an; sie führte Bücher, überwachte die Vorräthe, schaltete in Speise-, Wäsche– und Silberkammer und fühlte sich jedesmal von einem gewissen Stolz durchdrungen, wenn die verschiedenen Diener Rechnungen vorlegten oder Befehle einholten. Auch das trug bei, sie von den Wirren ihres Herzens abzulenken.
Im Uebrigen war sie kaum eine Minute des Tages unbeschäftigt. Sie hatte ihre Musik mit neuem Eifer wieder aufgenommen. Doktor Hartung, der nun seine gewohnte Begleiterin Irene verloren hatte (dieselbe war nämlich einige Tage nach dem Begräbniß zu Verwandten nach Ungarn abgereist, wo sie auf unbestimmte Zeit bleiben sollte), wandte sich an Eva mit der Bitte, ihm zur Violine den Klavierpart zu spielen; sie, willigte ein und fand viel Vergnügen daran. Jeden Abend, vor dem Thee, wurde eine Stunde oder länger musizirt. Fräulein Ottilie saß arbeitend, Ralph lesend dabei. Die zwei Jünglinge und ihr Hofmeister waren gewöhnlich auch anwesend – Robert nur selten.
Zwei oder drei Vormittagsstunden pflegte Eva in Ralphs Studirzimmer zuzubringen, theils in seinen Büchern stöbernd, theils ihm bei der Fertigstellung einer Arbeit – eine Übersetzung aus dem Englischen, dessen sie kundiger war als er, – helfend. Auf Ralphs ausdrücklichen Wunsch mußte Fräulein Ottilie diesen Arbeitsstunden anwohnen. Sie saß dabei ruhig in einer anderen Ecke des großen Saals, in ihre ewige Häkelei oder Stickerei vertieft, mitunter nur irgend eine ungereimte Bemerkung fallen lassend, welche nie verfehlte, Eva – und sogar dem traurigen Ralph ein Lächeln abzugewinnen.
Die Nachbarn aus Dornegg hatten Kondolenzbesuch gemacht, doch war man weiter nicht zusammengekommen, da Liuba in ein Seebad gefahren war. Jetzt aber sollte sie bald zurückkehren, und da standen wohl häufige Besuche bevor. »Es ist mir so leid,« hatte sie beim Abschied gesagt, »daß ich gerade jetzt muß gehen aux bains de mer, wo Sie. Eva, Zerstreuung brauchen – und Sie, Graf Ralph, Aufheiterung. Aber was thun? Der Arzt befiehlt … In sechs Wochen bin ich zurück – dann sehen wir uns oft – nicht so? Dann kommt auch mein beau-frère – der wird Leben bringen in unsern Kreis. Das Erste wird sein, daß er Ihnen machen wird eine cour assidue; er ist von allen hübschen Frauen immer ganz närrisch, und die meisten Frauen sind ganz närrisch von ihm – nehmen Sie Acht!«
Die liebsten Stunden des Tages waren für Eva die in Ralphs Arbeitszimmer zugebrachten. Es ging ihr da langsam eine neue Welt auf. Das Werk, welches sie Ralph übersetzen half, war ein wissenschaftliches – gezeichnet Huxley – und die darin geoffenbarten Thatsachen eröffneten ihr – bis jetzt verschlossene – Gedankenkreise. Es war wie eine geistige Reise in ein unbekanntes, an Schönheiten und Schätzen reiches Land – und mit welch einem Führer und Gefährten! Der Inhalt des Buches gab Ralph Gelegenheit, Betrachtungen anzustellen, Bemerkungen einzuflechten, die von dem hohen Fluge seines Geistes Zeugniß gaben, und es durchrieselte Eva jedesmal wie mit einem seelischen Wohlgefühl, wenn sie an ihrem König wieder etwas zu bewundern fand.
Ja – sie betete ihn an. Aber das war ja – so schien es ihr – kein sündiges, das war vielmehr ein frommes Gefühl. Bewunderung großer moralischer Eigenschaften, beglückende Anerkennung derselben, ein liebendes Sichsonnen im Strahle höherer Vollkommenheit: das sind ja Empfindungen, die jedes Kind dem lieben Gott darbringen soll – die glühen auch in ihrem Herzen nicht als wilde Leidenschaftlichkeit, sondern als sanfte Andacht…
Während dieser Stunden überraschte sich Eva öfters bei dem Bewußtsein, daß ihr Leben voll ausgefüllt – daß sie glücklich sei. Die Ueberlegung verscheuchte zwar diesen Wahn; denn wenn ihr Robert einfiel und wenn sie sich erinnerte, daß sie an diesen, ihr jetzt so fremd, so abstoßend Gewordenen auf immer gebunden war, so mußte sie erkennen, daß ihr Schicksal nichts weniger als ein glückliches genannt zu werden verdiente. Aber was verschlug es? Solche Ueberlegung konnte man ja in den frohen Minuten verjagen – und ob begründet oder nicht, ob berechtigt oder unberechtigt, ob statthaft oder verwerflich – empfundenes Glück ist Glück. Daß überhaupt etwas Verwerfliches in ihrem Herzenszustand enthalten sein konnte – der Gedanke kam ihr gar nicht in den Sinn. Ja, es war einmal – vor längerer Zeit – ein schwüler Gewittersturm an ihnen vorbeigestrichen, wo es gefährliches Wetterleuchten gegeben; aber das war vorüber, vorüber. Der Tod, der erhaben-ernste, hat durch das Wehen seiner schwarzen Flügel alle blitztragenden Wolken zerstreut und rein, heiter und azurblau erglänzt nun wieder der Himmel ihrer gegenseitigen wunsch– und arglosen Liebe. So dachte Eva für Beide. Was in Ralphs Innern vorging, konnte sie zwar nicht wissen; denn, wie gesagt, nicht ein Wort, nicht ein Blick spielte an das Vergangene an.
»Willst Du wieder einmal eine Kahnfahrt machen, Eva?« schlug Ralph eines Nachmittags vor.
»O, sehr gern! Wann?«
»Gleich – die Tage sind schon kurz. Aber das thut nichts. Wir haben jetzt Mondschein. Kommst Du mit, Ottilie?«
»Nein – bitte mich zu entschuldigen, ich mag die Abendluft nicht und fürchte das Wasser – ich glaube immer, daß es feucht ist.«
»Diese Eigenschaft wird dem Wasser allerdings öfters zugeschrieben,« bemerkte Doktor Hartung lächelnd.
»Also schnell, Eva – wirf nur ein Tuch um Deine Schultern. Ich bin schon ungeduldig, Dich herumzurudern.«
»Ich bin bereit, König, gehen wir.«
Eva freute sich auf diese Fahrt. Seit jenem ersten Male am Tage ihrer Ankunft – war sie nicht wieder mit Ralph auf dem Wasser gewesen. Er schob ihren Arm in den seinen und führte sie hinab in den Park.
Es war ein wunderbarer lauer Septemberabend; noch war der westliche Himmel von der untergehenden Sonne geröthet und schon stand die Mondscheibe hinter den Baumwipfeln. Nachtfalter flatterten über den üppigen blühenden Reseda– und Vanillenduft ausströmenden Blumenbeeten; vom Teiche her klang der eintönige Froschchor.
Sie waren am Ufer angelangt.
»Erinnerst Du Dich, Eva,« fragte Ralph, den Kahn loskettend, »erinnerst Du Dich unserer ersten, einzigen Wasserfahrt?«
»O ja, ich habe nichts vergessen. »Doch« – verbesserte sie sich halblaut, »ich habe manches vergessen —«
»Da, stütze Dich ordentlich … so, Deinen Fuß setze hierher … da, nimm Platz … und jetzt stoßen wir ab.«
Das Wasser, dort wo der Widerschein des rothen Gewölks nicht hineinfiel, hatte schon dunkle Färbung, und auch die Bäume, bis auf einige vom scheidenden Licht erhellte Stellen, hüllten sich in schwarze Schatten.
»Du erinnerst Dich, Eva,« fing Ralph wieder an, nachdem er eine Strecke gerudert, »damals sprachen wir kein Wort; heute will ich aber Deine Stimme hören. Nun?«
»Was soll ich Dir sagen, König?«
»Beantworte mir ein paar Fragen. Bist Du nicht sehr unglücklich?«
»Nein.«
Nach einer Pause. »Auf welchem Fuße lebt Ihr jetzt, Du mit – mit Deinem Manne?«
»Wie zwei Fremde.«
»Ist das wahr?«
»Ich schwöre es. Wäre das nicht der Fall dann – allerdings – würde ich mich unglücklich fühlen. Seit ich weiß, was ich weiß, betrachte ich meine Ehe als null und nichtig.«
»Wenn er nun aber diese Anschauung mit Dir nicht theilt? – wenn es ihm einfiele, seine Gattenrechte … höre mich an. Eva. Ich habe über Deine Lage viel nachgedacht, obwohl es schien, als wäre mein Sinn nur von der Trauer um meine arme Mutter erfüllt … Ich glaube – wenn wir auch über gewisse Dinge nichts gesprochen haben – ich glaube zu lesen, was in Deinem Innern vorgeht, und ich sehe die Möglichkeit kommen, daß Du den Entschluß fassest, Dich von Robert gänzlich zu trennen. Zu solchem Entschluß muß Dir wenigstens die Ausführungsmöglichkeit gegeben sein, hierzu brauchst Du vor Allem selbstständige Mittel. Zu diesem Zweck habe ich vor einigen Tagen auf Deinen Namen eine Summe in einem Bankhaus niedergelegt, morgen erhältst Du das Checkbuch. Mit diesem in der Hand bist Du Deine eigene Frau.«
»O, König – darf ich denn solche Großmuth —«
»Still! Ueberhaupt, reden wir nicht länger von Finanzangelegenheiten, das paßt nicht zur poesievollen Stimmung, welche über diesem Bilde schwebt … Sieh, dort kommt schon der Mond hervor und spiegelt sich zitternd in dem Wasser. Macht Dich Mondschein auch so traurig, Eva – mußt Du dabei auch immer an die Gräber denken, die er bestrahlt, oder gar bedenken, daß der Mond selber eine arme kleine Sternleiche ist …«
»Nein, – nicht Trauer weckt er mir, eher Sehnsucht.«
»Wonach?«
»Nach Ruhe und Frieden.«
Er lenkte den Kahn nach jener Bucht, wo sie das erste Mal Wasserrosen gepflückt. Hier war es schon ganz dunkel. Die zu ihren Häupten sich wölbenden Aeste ließen nicht einmal das Mondlicht durch. Der Kahn blieb leise schaukelnd im Schilfe stehen. Ralph erhob sich von seinem Rudersitze und ließ sich leise neben Eva nieder. Und seinen Arm um ihre Schulter legend:
»Ist‘s nicht ruhig und friedlich hier?« fragte er.
Sie ließ ihren Kopf auf seine Achsel sinken, und in der That, das Gefühl, welches sie da erfüllte, war – gestillte Sehnsucht.
Ein paar Minuten verrannen. Unbeweglich und schweigsam blieben die Beiden – der Eine in seinen Gedanken, die Andere in ihre Gefühle versunken. Denken mochte er wohl – der Wissende, der Erfahrene; sie grübelte nicht – sie empfand nur ein unendlich süßes, warmes Wogen in der Brust; deutlich fühlte sie ihr Herz sich weiten in inniger, dankbarer, sich erwidert wissender Liebe. Hätte er sie jetzt geküßt – und sie war sich bewußt, daß sein herabgeneigter Mund, dessen Hauch ihr Stirnhaar streifte, darnach lechzte, sie zu küssen – hätte er es gethan, sie würde ohne Bangen die Liebkosungen hingenommen haben, als etwas so Selbstverständliches, wie es der Punkt nach einem Satze, der Schlußakkord nach einer Tonreihe ist. Aber er widerstand der Versuchung. Ebenso sanft, wie er sie an sich gezogen, richtete er sie jetzt wieder auf und ging auf seinen vorigen Platz zurück. Wieder plätscherten die Ruder, und der Kahn fuhr langsam aus der Bucht heraus über die mondspiegelnde Fläche hinweg zum Ufer hin.
Hier stand Doktor Hartung. Er hakelte mit seinem Stock den Nachen fest und zog ihn ans Land.
»Da sind sie endlich, die kühnen Schiffer! Ich dachte schon, die Herrschaften seien mit Mann und Maus versunken. Ach, mein lieber Ralph – das ist eine Mühe, die mich Ihre Erziehung und Ueberwachung noch immer kostet,« fuhr er fort, nachdem er der jungen Frau aussteigen geholfen und jetzt an der Seite der Beiden einherging. »In dieser Stunde und um diese Jahreszeit sich auf ein Element wagen, welches, wie Fräulein Ottilie vermuthet, bisweilen feucht ist, und bei der Finsterniß – da muß man sich ja einerseits erkälten und andererseits kompromittiren! Wenn ich Robert wäre, so würde ich —«
»Reden Sie keinen Unsinn, Hartung,« unterbrach Ralph in sehr abweisendem, auf den beabsichtigten Scherz durchaus nicht eingehendem Tone.
Eva hingegen lachte. Die Unschuld – mehr noch: die Erhabenheit des liebevollen Gefühls, von dem sie durchdrungen war, erhob ihr dasselbe über jede frivole Deutung, über jeden boshaften Verdacht.
Im Saale angelangt, wo die übrigen Familienglieder – darunter diesmal auch Robert – versammelt waren, ging Eva sogleich an das Klavier.
»Kommen Sie, Hartung, spielen wir. Ich habe mich noch selten so musikalisch aufgelegt gefühlt wie heute – und spielen wir Barcarolen, nichts als Barcarolen.«
Ralph zog sich zurück. Auch Eva blieb an diesem Abend nicht lange bei den Andern. Nachdem sie mit Hartung drei oder vier Stücke – Schifferweisen in Sechsachtel-Takt – gespielt, wünschte sie den Anwesenden gute Nacht und begab sich auf ihr Zimmer.
Die Kammerjungfer hatte sie entlassen, und jetzt saß sie, in einen weißen Schlafrock gehüllt, auf einem niedern Lehnsessel, der an der Fensternische stand. Die Rollvorhänge waren, auf ihren Befehl, nicht heruntergelassen worden; sie wollte den durch die Scheiben hereinblickenden Mond noch nicht ausgeschlossen haben. Von der Decke hing eine blaßblaue Glasampel herab, deren mildgedämftes Licht das Gemach auch mondscheinartig erhellte. Das zuletzt gespielte Gondellied tönte ihr noch im Geiste nach – zwischendurch klangen auch einzelne Worte, welche Ralph auf der Wasserfahrt gesprochen.
Da fiel ihr auf einmal das Wort Checkbuch wieder ein – daran und an den damit verbundenen Sinn hatte sie eigentlich gar nicht mehr gedacht. Ein selbstständiges Vermögen wollte ihr König geben, damit sie im Falle einer Scheidung … »Scheidung«, auch ein Wort, dessen Sinn sie jetzt näher betrachtete … Für Katholiken giebt es ja überhaupt keine Scheidung, nur Trennung, und getrennt – das war sie ja eigentlich schon —
Hier schreckte sie ein Geräusch aus ihren Gedanken heraus. Robert war in das Zimmer getreten.
Eva sprang auf:
»Du?« rief sie. »Was führt Dich hierher? Ist etwas geschehen?«
»Es braucht doch kein Erdbeben stattgefunden zu haben, damit ein Mann in das Zimmer seiner Frau komme, sollt‘ ich meinen,« entgegnete Robert achselzuckend, und er ließ sich auf einem am Fußende des Bettes stehenden Sessel nieder.
»Ich betrachte mich nicht als Deine Gattin, das weißt Du. Die Lüge, welche unserm Bund zur Grundlage gedient hat, macht ihn in meinen Augen ungültig. Ich bitte Dich daher, die Zurückgezogenheit meines Schlafgemachs zu respektiren und mich zu so später Stunde nicht zu stören.«
»Ach, wie fad! Uebrigens sei ruhig, ich bin nicht gekommen, Gattenrechte geltend zu machen, ich will etwas Geschäftliches mit Dir bereden.«
»Hätte das nicht morgen Zeit?«
»Aber weißt Du, wenn ich Dich anschau, wie Du so dastehst in dem wallenden weißen Gewand, unter dem blauen Licht – Du bist doch verteufelt hübsch … Und schließlich ist‘s doch lächerlich, daß Du mich aus diesem Zimmer hinauswerfen willst. Mit welchem anderen Rechte bist Du denn eigentlich hier als mit dem, das ich Dir gegeben, indem ich Dich geheirathet? Du sagst, diese Heirath fußt auf einer Lüge; das geb‘ ich zu – aber worauf fußt denn Dein Hiersein – im Siebeckschen Schlosse? Siehst Du, wenn ich mich stark anstrenge, kann ich auch logisch sein – nicht?«
Eva schauderte – was Robert sagte, war richtig. Lüge, – alles um sie herum – Lüge der Boden, auf dem sie stand. Dieses Zimmer – der verstorbenen Gräfin Siebeck Zimmer – mit welchem Rechte betrachtete sie sich als Herrin darin? Sie preßte beide Hände an die Stirn und ließ sich – möglichst weit von Robert – in einen Sessel fallen.
»Was war das Geschäftliche,« fragte sie, »von dem Du —«
»Ich wollte Dich ersuchen, mir ein paar hundert Gulden zu leihen. Mein Herr Vater hält mich etwas knapp und ich brauche das Sümmchen morgen; Du hast, so viel ich weiß, Wirtschaftsgeld und – kurz – sei so gut, leih‘ mir dreihundert Gulden.«
Eva athmete erleichtert auf.
»Mit Vergnügen,« sagte sie.
Sie ging an ein kleines Schreibpult und nahm eine Brieftasche heraus.
»Hier.« Sie überreichte ihm den verlangten Betrag.
Er steckte die drei Hunderter ein.
»Dank Dir, Weiberl,« und er wollte sie umarmen.
Sie aber wehrte ihn ab, indem ihr Gesicht den Ausdruck ununterdrückten Ekels annahm. Und Ekel war es auch, was sie empfand, denn bei der an sich unliebsamen Annäherung hatte sie ein widerlicher Weingeruch angeweht.
Sein Blick flammte zornig auf.
»Du! Solche Manieren möchte ich mir doch ausgebeten haben – mein Kuß ist kein Gift. Auf unserer Reise, da warst Du alle Augenblicke da mit Zärtlichthunwollen und »Robert, hast Du mich lieb?« und sonstiges fades Zeug, jetzt soll man Dich als Prinzeß »Rührmichnichtan« behandeln – das ist zu dumm.«
»Du kennst meine Gründe und hast dieselben anerkannt, glaubte ich. Da Du mich nur geheirathet, um Dorina Borovetz zu —«
»Warum ich Dich zur Frau genommen, ist schließlich egal, Du bist es, das ist die Thatsache, und nach dieser müßtest Du Dich auch richten, wenn ich wollte. Aber ich laß Dir Deine Launen und Mucken. Mir ist meine Ruh‘ viel zu lieb, als daß ich mit Dir Komödien aufführen wollt‘! Gute Nacht!«
Nachdem er fortgegangen, schob Eva den Riegel vor. Das wollte sie fortan allabendlich thun – nicht mehr solchen Ueberfällen sich aussetzen …
XV
Am folgenden Tag erhielt Eva durch die Post das angesagte Checkbuch. Der ihr zur Verfügung gestellte Betrag war ein ziemlich beträchtlicher: 40,000 Gulden – ein kleines Vermögen. Sie hielt das Ding in der Hand, erstaunt, bestürzt – was mochte Ralph nur bestimmt haben, ihr dieses Geschenk zu machen, und konnte, durfte sie es annehmen? Noch ein Gedanke stieg ihr auf, indem sie das Büchelchen betrachtete: mit diesem Besitz war sie unabhängig geworden, sie konnte nunmehr, falls sie Großstetten meiden wollte, dasselbe fliehen und sich auswärts durch das Leben schlagen; die Möglichkeit, daß ihre Existenz an Roberts Seite unerträglich werde, war nicht ausgeschlossen. Es war ihr schon öfter eingefallen: wie, wenn Ralph wieder abreiste oder gar – stürbe, wie könnte sie dann neben Robert ausharren? Ralph war ihr Stütze, Trost, Lebensmittelpunkt – vor Robert hatte sie Angst. Die Rauschszene konnte sie nicht vergessen, und seit sie wußte, daß er eines Trunkenboldes, eines Verbrechers Kind war, erschien ihr das rohe, wilde Wesen, welches er damals gezeigt hatte, als sein eigentlicher – im nüchternen Zustand nur verborgener Charakter. Ja, das edle Geschenk Ralphs war eine große Wohlthat: es ließ ihr gegen fürchterliche Möglichkeiten einen Ausweg offen. Sie verschloß das Checkbuch in ein Schreibtischfach und nahm sich vor, dem Geber – wenn sie ihn nun unten beim Frühstück sehen würde zu sagen, daß sie annehme und warum sie annehme, und wie herzlich dankbar sie ihm sei.
Ralph erschien jedoch nicht beim Frühstück. Der Herr Graf, so berichtete der Kammerdiener, war mit dem Förster in die Nachbarschaft gefahren, wo ein Wald lizitirt ward, den der Herr Graf schon lange zu erwerben wünschte.
Auch Robert war abwesend. Von diesem erfuhr Eva, daß er mit dem Frühzug nach Wien gefahren sei. »Also dazu die dreihundert Gulden«, dachte sie achselzuckend. Vielleicht war er sogar bis nach Krems gefahren, das wäre ihr vollkommen gleichgültig – eher angenehm. Die Abwesenheit Ralphs hingegen verursachte ihr eine unsäglich bange Leere. Wie froh war sie, daß er sich nur in die Nachbarschaft begeben; hätte man ihr statt dessen gemeldet, daß er nach Wien gefahren, da wäre die Besorgniß so nah gelegen, daß er wieder, wie das letzte Mal, plötzlich, ohne Abschied, sich für eine weite Reise auf den Weg gemacht. Von dem Waldlauf würde er sicherlich noch heute zurückkommen. Schade nur um die angenehme Arbeitsstunde im Theaterflügel …
Der Tag wurde Eva lang. Keine Beschäftigung vermochte ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. So beschloß sie, in den Garten hinabzugehen – es zog sie zu dem Teiche hin. Doch, als sie aus dem Schlosse heraustrat, sah sie einen Wagen durch das Parkgitterthor hereinrollen – die Dürenbergsche Equipage.
»Wie fad!« konnte sie sich nicht enthalten, mit Roberts Lieblingswort im Geiste auszurufen. Vermuthlich das alte fürstliche Paar selber, und sie war so gar nicht aufgelegt, einen Ceremonienbesuch anzunehmen – sie hätte so gern am Teichesrand nachgedacht über gestern – an die schöne Fahrt zurückgedacht. Aber was half‘s? Sie war die Hausfrau. Ihre Pflicht war es, die Gäste mit geheuchelter Freude zu empfangen. Sie blieb vor dem Thore stehen und in der nächsten Sekunde hielt der Wagen an.
Heraus stiegen Liuba und – ein junger Mann. Erstere fiel Eva stürmisch um den Hals:
»O wie ich froh, wie ich froh! Jetzt müssen wir oft, oft uns sehen – alle Tage! … Hier habe ich Ihnen geführt meinen Schwager, der Bruder von feu, mein Mann —«
Der Vorgestellte verneigte sich, und Eva reichte ihm die Hand.
»Sehr erfreut, Graf Dürenberg.«
Dann führte sie die Gäste in den Saal hinauf.
Auf der Stiege legte Liuba ihren Arm um Evas Taille und flüsterte ihr Mittheilungen über ihren Schwager Adolf zu, der, einige Stufen zurück – außer Gehörweite – den Damen nachging.
»Er ist so gefährlich, chère, Sie müssen Ihr Herz zurückhalten mit zwei Händen. In Wien und überall machte er victimes.«
»So sind Sie wohl selbst in ihn verliebt?« fragte Eva lächelnd.
Liuba schüttelte den Kopf.
»Nein – ich betrachte ihn als Bruder – denn lieb‘ ich einen Anderen.«
Im Saale angelangt, nachdem sie ihren Gästen Sitze angewiesen, konnte Eva erst den so gefährlichen Grafen betrachten, was sie, nach allem was sie über ihn gehört, nicht ohne Neugierde that.
Adolf Dürenberg war in der That eine äußerst einnehmende Erscheinung. Sehr hoch und ebenmäßig gewachsen, achtundzwanzig Jahre, feiner lichtblonder Schnurrbart, etwas dunklere dichte Haare, lachende blaue Augen, wunderschöne Zähne; dabei in Kleidung, Haltung und Sprachweise tadellos vornehm.
»Wie lange gedenken Sie sich in Dornegg aufzuhalten?« leitete Eva das Gespräch ein.
Dürenberg antwortete, daß er gewöhnlich so lange bleibe, als die Dornegger Jagden währen – ungefähr vier Wochen. Und in diesem banalen Tone ging es eine Zeitlang fort, doch was die Beiden dabei beschäftigte, war, weit mehr als der Inhalt der ausgetauschten Phrasen, gegenseitige Beobachtung. Denn auch Dürenberg war auf Eva neugierig gemacht worden; Liuba hatte sie ihm als große Schönheit geschildert – und er war in seinen Erwartungen nicht enttäuscht.
»Wie schade,« fiel Liuba ein, »daß Sie sind in Trauer. Während der Jagdsaison ist Dornegg so lustig – da wird Theater gespielt, getanzt – und auch Ihr beau-père wird uns sehr fehlen. Wo ist er denn, der Graf Siebeck? … Lassen wir ihm doch sagen, daß wir sind gekommen —«
»Mein Schwieg —« Eva brachte das Wort nicht über die Lippen – »er ist nicht zu Hause – schon früh Morgens zu einer Waldversteigerung gefahren.«
»O, wie schade! Wir wollten ihn entführen und Sie auch, Gräfin und Ihren Mann —«
»Mein M —«, auch das war ihr unangenehm auszusprechen, »Robert ist nach Wien.«
»So sind Sie ganz allein? Dann entführen wir Sie ganz allein. Nicht so, Adolf?«
»Das unterliegt gar keiner Frage.«
»Ich verstehe nicht —« sagte Eva.
»Sie fahren mit uns nach Dornegg zurück,« entschied Liuba. »Sie bleiben uns zum Diner. Wir sind noch à peu près en famille« – davon müssen wir profitiren. Morgen kommt schon die erste Serie Eingeladene und da ist‘s für Euch Andere – mit Eurer Trauer – nicht mehr möglich. Allons! Kommen Sie? Oder besser: Kommst Du? So langweilig, das »Sie« – nicht so?«
Eva drückte der Andern die Hand:
»Sehr gern – wie Du willst …«
Liuba sprang auf:
»Also schnell – nimm einen Hut und imperméable und komm.
Graf Adolf schloß sich dem Zureden seiner Schwägerin an und Eva willigte ein. Ralph würde doch nicht vor Abends nach Hause kommen … und übrigens wäre es schwer gewesen, der leidenschaftlichen Liuba Widerstand zu leisten. Zudem versprach sie sich von dem Ausflug Vergnügen.
Zehn Minuten später stieg Eva mit ihren Besuchern in den Dürenbergschen Wagen und befahl, daß ein Großstettner Wagen sie um acht Uhr Abends von Dornegg abholen solle – Liubas Vorschlag, dort zu übernachten, hatte sie dennoch abzulehnen den Muth gefunden. Ihre Sehnsucht war zu groß, heute noch König wiederzusehen.
Graf Adolf saß auf dem Rücksitz. Eva gegenüber. Er sprach viel und amüsant – es gewährte Eva Vergnügen, ihm zuzuhören. Um so mehr Vergnügen, als sie mit dem untrügerischen Instinkt, welcher in diesen Dingen den meisten Frauen eigen ist, recht gut fühlte, daß der glänzende junge Aristokrat sich Mühe gab, ihr zu gefallen – und deshalb sich Mühe gab, weil sie ihm lebhaft gefiel.
Liuba ihrerseits erzählte von ihrer eben durchgemachten Badesaison in Ostende und aus ihren Berichten funkelte es von Glanz und Lustbarkeiten. Es schien, als ob das berühmte Seebad diesmal der Sammelplatz des europäischen Hochlebens gewesen wäre – die Namen, mit welchen Liuba um sich warf, die klirrten nur so von Kronen und Millionen! Orléans – Norfolk – Rothschild – Arenberg – Doria —; und russische Großfürsten, schwedische Prinzen, deutsche Herzoge, indische Nabobs; und Alles badend, reitend, tanzend, »flirtend«. Besonders letzteres schien – in Liubas Auffassung – die angelegentlichste Beschäftigung der Ostender Saisongäste und der »Gesellschaft« im Allgemeinen zu sein: Jener hat Dieser die Cour gemacht: – und Dieser und Jene » se sont quittés«; und der Graf X. machte Narrheiten für die Marquise Z; und die Prinzessin L. wird sich scheiden lassen, um ihren Geliebten, den Fürsten N., zu heirathen – und so ins Unendliche.
Eva lauschte mit Interesse. Seit jeher, d. h. seit ihrer ersten Jugend, als sie mit ihrem Vater klassische Dramen und mit ihrer Mutter moderne Romane gelesen, war eine große Lebensneugierde, ein unersättliches Erfahrenwollen um das Weltgetriebe in ihr rege geworden, und es machte auf sie den Eindruck eines Stückchens Wirklichkeitsromans, was Liuba da unter ihrem übersprudelnden Geschnatter durchschauen ließ. Die Erzählerin selber, in ihrer Pariser Toilette, die den unnachahmlichen Stempel der großen Modeschneider trug, mit ihrer lebhaften, fremdartigen, dabei aber durch und durch » grande dame«-mäßigen Sprechweise – gab die nicht ein lebendiges Romanfigürchen ab? und der erlauchte, korrekte, wunderhübsche junge Weltmann ihr gegenüber, war der nicht auch eine typische Gestalt aus der rauschenden Festkomödie der oberen Zehntausend? Und sie schließlich, die dreiundzwanzigjährige Gräfin Siebeck, mit Schönheit und Geist – dessen war sie sich bewußt – nicht gerade stiefmütterlich ausgestattet, durch Verwandtschaft und Nachbarschaft mit diesen Großen auf gleichen Fuß gestellt, schlecht verheirathet, von ihrem Manne beinahe freigegeben – stand ihr nicht auch die Möglichkeit offen, sich in diesen Strudel zu werfen, alle die Herrlichkeiten mitzumachen: tanzen, reiten, kokettiren, Romanheldin spielen? Der gegenüber wäre gleich Einer – man sieht das Begehren darnach schon bei dieser ersten Begegnung in seinen Augen leuchten – wäre wohl gleich Einer, der sie – in dankbarer Huldigung – mit den so toll zu Kopfe steigenden Freuden eines verbotenen Liebeshandels bekannt machen wollte …?«
Ein Schauer durchrieselte sie bei diesem Gedanken; aber kein Schauer der Begehrlichkeit, sondern des Abscheues. Unwillkürlich griff sie nach der Kapsel an ihrer Uhr. Da lagen die Talismanworte: »Dank und Verehrung«. Das war ja ihr stolzester Besitz – Königs Achtung – den würde sie nimmermehr verwirken. Und sehnend, Beruhigung suchend flüchteten ihre Gedanken wieder zu Ralphs theurem Bilde. Wie war der doch ganz anders als diese Weltpuppe … wie viel höher sein Geist, gerader sein Sinn, wärmer sein Herz?
In Dornegg angekommen, führte Liuba ihre neue Dutzschwester vorerst auf ihre Zimmer. Bis zum Diner waren noch beinahe zwei Stunden, da konnte man, ehe man in den Salon ging, noch einige Zeit verplaudern und verrauchen.
Evas Eintritt wurde wieder mit dem Bellen, Kläffen und Kreischen von Liubas Menagerie begrüßt.
»Schweigt, schweigt, meine Seelchen … Ach – Du machst Dir nicht Idee, ma chère – setz Dich, so daher – sch – sch – mais taisez-vous donc, monstres! – Du machst Dir nicht Idee, wie sehr meine Lieblinge mir gefehlt haben. Tresor und Darling waren bei mir, aber Galubka, meine Gold-Galubka hab‘ ich müssen hier lassen.«
»Müssen? warum denn?« fragte Eva, um dieser in so traurigem Tone vorgebrachten Mittheilung gegenüber nicht ganz fühllos zu scheinen.
»Weil mein Kleiner närrisch ist in sie – und auch sie, Galubka, kann nicht leben ohne Sergei Gugowitsch.«
»Ah so, Dein Sohn war hier geblieben? Und den hast Du nicht vermißt?«
»O nein, Kinder auf Reisen und aux eaux sind eine große Plage. Uebrigens – die Großeltern lassen ihn nie fort – ich bin gewohnt, ihn nur zu sehen, wenn ich hier bin, in Dornegg. Was thun?«
»Und der Affe war auch mit?«
»Pedigro – mein süßer Pedigro? nein – er verträgt das Fahren nicht. Auch der Kakadu n‘a pas le pied marin. Aber reden wir ernsthaft. Du hast gemacht eine Eroberung. Adolf ist getroffen ins Herz. Gare, gare! … man sagt: es widersteht ihm Keine. Freilich, Du bist eine jeune mariée – aber weißt Du, ich bin offen – das ist mein Charakter – ich sage Alles grad‘ heraus. Robert Siebeck ist kein Mann für Dich … Du liebst ihn nicht – er ist die Prosa selber, kalt, trocken … Ich kenne ihn lang – der kann einer Frau nicht bieten, was ein Frauenherz begehrt … Sag mir, hast Du gelesen » Crime d‘amour«? Nicht? Das mußt Du lesen – da sind Szenen, man muß zittern und beben. Achch – was ist das Leben ohne Liebe?«
»Doch Du selber? …« fragte Eva zögernd.
»Du glaubst, ich liebe Niemand? O wie denn nicht? Ich bin leidenschaftlich verliebt und unglücklich – bis jetzt. Es sind Viele, die mir wollen machen den Hof – wie denn! Jetzt auch wieder im Seebad … Da war ein junger Lord Hillsdale, ein amour von einem Engländer, so korrekt, so schmachtend – aber was thun? Ich hatte einen Traum, und das ist … Laß mich Dir‘s sagen: Du bist ja meine Freundin, nicht wahr? und Du hältst mir das Geheimniß? Du schwörst es? Du kennst ihn … es ist … schwöre! —«
Eva fürchtete zu errathen:
»Bewahre lieber Dein Geheimniß,« sagte sie.
»Nein – da bin ich zu offen. Ich muß mich – ausschütten. Dein beau-père —«
»Und er?«
»O, er wird mich lieben – Kennst Du das Buch » Suggestion de la passion?« – Er muß mich lieben – wie denn nicht?«
»So beabsichtigst Du, meine Stief-Schwiegermutter zu werden?«
»Das nicht, ma chérie« – ich will mich nicht wieder verheirathen. Er wahrscheinlich auch nicht. Und Euch, besonders Robert, wäre das gar unangenehm, nicht so? Lord Hillsdale hat mich auch verlangt in Heirath, pauvre garçon – mager, furchtbar wie mager, war er im Kostüm von Bad. Da ist mein Pedigro neben ihm ein Adonis an Wuchs. Man sagt dort, daß er war du dernier bien mit einer polnischen Fürstin – die Arme! Uebrigens – alle Geschmacke sind in der Natur. Mir haben gefallen in Ostende nur Ein Mann – nur der hätte mir sein können gefährlich: Ein Violinvirtuose. Aus Neapel. Ganz Flamme. Schwarze Augen – so groß (sie zeichnete einen Kreis in der Luft) – sein Spiel wild und süß – aber er war jung verheirathet und verliebt in seine Frau – l‘imbécile.«
So schnatterte Gräfin Liuba noch lange fort. Im Laufe ihrer Herzensergießungen kam sie noch ein paar Mal auf Ralph Siebeck zurück, sprang aber sogleich wieder auf Pedigro, Sergei Gugowitsch oder gar auf den Kakadu ab, welch letzterer mehrere Mal angelegentlich und auch mit Erfolg sich bemühte, die Stimme seiner Herrin zu überkreischen.
Als die beiden jungen Frauen in den Salon hinabkamen, war Eva einigermaßen bestürzt, daselbst eine ziemlich große Gesellschaft versammelt zu finden.
»Du sagtest, ihr wäret en famille,« flüsterte sie Liuba zu, »und diese Menge Leute – in großer Toilette, während ich in meinem Trauerkleid —«
»Das thut nichts. Du bist doch die Schönste.«
Nach den verschiedenen Begrüßungen und Vorstellungen zog Liuba ihre neue Freundin in einen Kreis junger Damen und Herren, welche nunmehr ihre vorher unterbrochene Unterhaltung wieder aufnahmen. Dieselbe schien Eva jedoch ziemlich matt und steif zu sein. Vielleicht galt die Steifheit ihr – war sie doch Keine von der »Coterie«. Sie war in diesen Kreisen nicht aufgewachsen, hatte eine andere Erziehung erhalten, sprach nicht denselben »Jargon«, kannte nicht alle dieselben Leute und Dinge, um welche sich die Interessen der hier Anwesenden drehten, kurz sie fühlte sich einigermaßen als Eindringling. Wieder flüchteten ihre Gedanken sehnsüchtig zu Ralph.
Jetzt kam Graf Adolf zur Thüre herein und eilte auf sie zu:
»Ach, hat Sie Liuba endlich der Mitwelt wiedergegeben, Gräfin? – Erlauben Sie, daß ich mir einen Sessel hierher schiebe – so. – Wie schade doch, daß Ihre Trauer Sie hindert, an unsern bevorstehenden Lustbarkeiten theilzunehmen. Ich arrangire lebende Bilder und brauchte eine Herzogin für Torquato Tasso nothwendig wie ein Stückchen Brod … Sie wären der richtige Typus.«
»Wie es scheint, bereiten sich glänzende Tage vor in Dornegg.«
»In der That – doch um wie vieles glänzender wären sie ausgefallen, wenn diese fatale Trauer … daß doch Großmütter immer so mal à propos sterben! Künftigen Fasching werden Sie doch in Wien zubringen? Dann kann das Versäumte nachgeholt werden. Wenn dann, wie gewöhnlich, unsere Fürstin Metternich wieder Theatervorstellungen, Tableaux, Ballets oder was weiß ich in Szene setzt, dann wird man Sie jedenfalls stark in Anspruch nehmen.«
»Nein, Graf Dürenberg, ich habe nicht die Absicht, mich in die große Welt zu stürzen – gehöre übrigens auch gar nicht dazu.«
»Sie wollen sich uns entziehen? Das wäre ein Verbrechen! Meine Mutter wird schon dafür sorgen müssen, daß Sie in der Wiener Gesellschaft die Rolle übernehmen, die Ihnen zukommt, nämlich eine Königin der Saison zu sein.«
»Ich bin nicht hoffähig, wie Sie wissen.«
»Das nimmt man in unserer modernen Welt nicht mehr so genau wie vor zwanzig Jahren – Wenn andere blendende Eigenschaften, wenn solcher bestrickende Liebreiz – so viel Schönheit —«
»Warum sagen Sie mir solche Dinge, Graf Dürenberg? Das beschämt mich. Nach der Krone einer Salonkönigin zu greifen, dazu fehlt mir nicht allein die Berechtigung, sondern auch die Lust. Ich wollte – – Ja, was wollte ich?« – unterbrach sie sich, und das traurige Bewußtsein fuhr ihr durch den Sinn, daß ihrem Leben dasjenige fehlte, was einem Leben Halt und Werth giebt: ein Ziel für die Zukunft, ein Pflichtenkreis für die Gegenwart.
»Was Sie wollten? Das will ich Ihnen sagen.« Graf Adolf neigte sich knapp zu ihr, so daß seine Worte von den Anderen nicht gehört werden konnten. »Genießen wollten Sie, Rosen pflücken, in Freudenfluthen untertauchen, mit Ihren kleinen weißen Füßen auf Flaumenteppichen wandeln, Ihr diamant und perlengeschmücktes Bild von hundert wandhohen Spiegeln und im Auge eines wahnsinnig Geliebten widerstrahlen sehen —«
»Erzählen Sie mir keine Märchen —«
Die Speisesaalthüren wurden geöffnet. Das Diner war aufgetragen. Dürenberg sprang auf:
»Darf ich Ihnen meinen Arm —?«
»Unter der Bedingung, daß Sie vernünftig sein werden,« erwiderte Eva lächelnd.
»Eine harte Zumuthung – in Ihrer Nähe.«
Während des ganzen Speisens gab sich Graf Adolf wenig Mühe, die ihm auferlegte Bedingung zu erfüllen. Er begann, in aller Form dasjenige auszuführen, was Liuba vorausgesagt: nämlich der jungen Gräfin Siebeck lebhaft den Hof zu machen. Sie aber gab ihm wenig Gehör, denn sie fühlte sich mehr beleidigt als geschmeichelt, daß ein Mann, der ihr erst am selben Tage vorgestellt worden, es wagte, so ohne Weiteres als Bewerber um ihre Gunst in die Schranken zu treten. Und sie war kaum ein halbes Jahr verheirathet! War es denn in der Gegend bereits bekannt, auf welchem Fuße sie mit ihrem Gatten stand, oder mißachteten die Leute Robert so sehr, um annehmen zu können, daß seine jungangetraute Frau geneigt wäre, anderweitigen Trost zu suchen?
»Sie kennen Robert schon lange?« unterbrach sie einmal den Rosenkranz von Schönheiten, welche der Nachbar ihr aufsagte.
»O, seit meiner Knabenzeit. Damals haben wir uns öfters geprügelt – und zur Jagd kommen wir öfters zusammen. Aber Freunde sind wir nicht. Merken Sie sich das, Gräfin Siebeck.«
In dem Tone, mit welchem Dürenberg gesprochen, klang es wie große Geringschätzung für ihren Mann. Aber – obwohl sie fühlte, daß ihre Würde ein solches erfordert hätte – Eva fand kein Wort, das sie für den Abwesenden hätte einlegen können. Wieder, wie jedesmal, wenn ihre Gedanken in eine schmerzliche Klemme gerieten, flüchteten dieselben zu Ralph.
»Und sind Sie ein Freund meines Schwiegervaters?«
»Ralph Siebeck? Ich verehre ihn von Weitem.
Wir sind weder Alters– noch sonstwie Genossen. Er hat sich von den Kreisen, in denen ich mich bewegte, immer fern gehalten … Ich halte ihn für einen edlen, braven, hochdenkenden Menschen. – Wie freundlich Sie doch schauen können, Gräfin – ein so warmer Blickstrahl, wie eben jetzt, hat mir bisher aus Ihren Augen noch nicht geleuchtet.«
An dem anderen Ende des Tisches, wo der Hausherr saß, ward natürlich wieder »Politik« betrieben. Die Gäste des Fürsten kannten dessen Steckenpferd und waren stets bemüht, es ihm vorzuführen, um ihn zu einem kleinen Ritte zu verleiten. Da genügte die geringste Anspielung auf irgend ein im Leitartikel des Morgenblattes behandeltes Thema – und sogleich öffneten sich die Schleusen staatsmännischer Weisheit, von welcher der alte Herr zu überfließen wähnte.
Die Diskussion an dem politischen Tafelende schien eine sehr angeregte gewesen zu sein, denn sie dehnte sich bis über die Dauer des Speisens hinaus; und als man in den Salon zurückgekehrt war, hatte Eva Gelegenheit, die Fortsetzung zu hören, da sie in der Nähe des Kamins saß, an welchen gelehnt der Hausherr also sich vernehmen ließ:
»Es ist eine Schande, eine Schmach ist es, daß das Gift des Liberalismus bis in jene Kreise dringt, auf deren Niedergang er es abgesehen hat. Da giebt es sogar unter unseren Standesgenossen solche, die mit der radikalen Linken kokettiren und dabei vergessen, daß, wenn man sich einmal von der konservativen Sache lossagt, es keinen Einhalt auf dieser schiefen Ebene mehr giebt. Vom Liberalismus zur Sozialdemokratie ist nur ein Schritt, von dieser zum Anarchismus nur ein halber und von letzterem zu Raub, Brandlegung und Mord gar keiner mehr.«
»Ich denke doch«, bemerkte Jemand schüchtern, »es eien da Abstufungen – Nuancen – Fraktionen – aber im Prinzip haben Durchlaucht ja Recht. Wenn man von den gesunden Grundsätzen abweicht … aber schließlich, eine Opposition muß doch sein.«
»Meinethalben – denn dieselbe hebt die Siege der Regierungspartei nur desto besser hervor und giebt ihr Gelegenheit, die schädlichen Gegenmeinungen zu widerlegen. Aber was ich tadle, ist, daß Leute aus unseren Reihen sich den Wühlern anschließen. Dort sollen nur die Rabulisten – Advokaten und Professoren und solche Leute – ihr Unwesen treiben, aber daß Angehörige des alten Adels wie z. B. Ralph Siebeck —«
»Graf Siebeck ist ja nicht Abgeordneter,« wagte wieder Jemand einzuwenden.
»Einerlei; er giebt doch gelegentlich seine Meinung ab, und die ist stark von Liberalismus angekränkelt. Wenn er kandidirte und gewählt würde, so wäre das ein Unglück.«
»Graf Dürenberg,« sagte Eva zu Adolf, »Sie erklärten vorhin, daß Sie für Ralph Siebeck Verehrung, hegen – verteidigen Sie ihn gegen das, was der Fürst soeben gesprochen hat.«
»Ich habe nicht zugehört; wenn Papa von Politik zu reden anfängt, so verschließe ich mein inneres Ohr dagegen, ich finde das Thema zu langweilig – im Salon.«
»So theilen Sie seine Ueberzeugungen nicht?«
»Doch, doch! Ich bin natürlich auch konservativ und rechtdenkend und dergleichen, wie sich das eben für Unsereinen schickt, aber nicht außerhalb der politischen Wirkungssphäre; wenn ich in das Parlament käme, würde ich schon die Interessen unseres Standes vertreten – aber in der Salonunterhaltung: Gott verhüte.«
»Was einem zu Herzen geht, sollt‘ ich meinen, was man als tiefe Ueberzeugung mit sich herumträgt, das muß man doch bei jeder Gelegenheit —«
»Sie glauben doch nicht, daß mir Politik zu Herzen geht? Mir ist nichts gleichgiltiger als der ganze Schwindel. Die, deren Amtes es ist, sollen sich während der Verhandlungen die Haare ausraufen und Jeder für seine Partei kämpfen, so gut er kann – aber was ficht das uns an? Wir haben, Gott sei Dank, andere Interessen. Nicht wahr, Ihr Andern?« wandte er sich an zwei oder drei junge Herren, die in derselben Gruppe saßen.
Die Gefragten gaben bereitwillig ihre Zustimmung, ab, daß es zahlreiche fesselndere Interessen gäbe, als die im Abgeordnetenhaus verfochtenen, und dadurch entspann sich unter ihnen eine Besprechung dieser Interessen selber: Taubenschießen, Pferderennen, Klubneuigkeiten (daß General Ronsky wieder 100 000 fl. verspielt); Jagdgeschichten; Geschichten aus der Gesellschaft (die schöne Lori Halmerstein mit dem Rittmeister Valmosy durchgegangen); Theatergeschichten (die Wallinger wird jetzt von dem alten Kosteletz ausgehalten, und die Sängerin Seger hat ihren Schmuck versetzt, um dem jungen Gusti Schitterberg auszuhelfen, dessen Vater, der alte Graf Schitterberg, übrigens auch ihr Geliebter war); Duellgeschichten, Heirathsgeschichten, Erbschaftsgeschichten – Eva hatte längst aufgehört, hinzuhorchen. Alle die erwähnten Personen und Namen waren ihr fremd, was kümmerte es sie, ob dieser oder jener die Familiengüter erhalten hatte; ob der Graf N. dem Neffen anläßlich seiner Heirath 500 000 fl. Schulden gezahlt, ob sich Prinz X. so tief in Spekulationen eingelassen, daß er jetzt ganz ruinirt war, ob der Eine sich zu Tode getrunken, der Zweite an Morphionomanie zu Grunde gegangen und der Dritte durch eine gute Heirath sich »ganz rangirt« hatte?
Sie wandte sich von den jungen Herren ab und lauschte nach den Gesprächen einer Damengruppe hin. Diese war jedoch etwas entfernter und es drangen nur einzelne abgebrochene Sätze zu ihr:
»… retraite im Sacré-Coeur gemacht« »… die Hüte von gindrean und die Kleider von der Morisson« »… vortreffliche Ménage – adoriren sich« »… ganz ein gutes Etablissement für die älteste Tochter« »… nirgends empfangen – eine geborene Niemand« »… schreckliches Kreuz mit den Gouvernanten« »… der Rudi hat sein erstes Reh geschossen und die Jüngste bekommt Zähne« »… Hofdame bei der Erzherzogin Clotilde geworden« »… lawn-tennis gespielt und sehr viel voisinirt« »… künftigen Fasching die zweite Tochter aufgeführt« »… drei Dutzend warme Röcke für die Armen gestrickt« »… miserabel die Loge in der Burg man sieht die Bühne kaum« »… für unsern Hauskaplan ein Meßgewand.«
Da war Eva auch nicht länger neugierig. Sie blickte auf die Uhr – es konnte nicht mehr weit von der achten Stunde sein – sie hatte Sehnsucht nach Hause. Ueberall war die Welt leer, leer – nur im Großstettner Theaterflügel, da gab es ein belebtes Stückchen …
Sie stand von ihrem Sitze auf und begab sich an ein anderes Ende des Salons, wo Liuba am Samovar beschäftigt war.
»Willst Du so gut sein, fragen zu lassen, ob mein Wagen schon da ist – ich muß an die Heimfahrt denken.«
»Ach – quelle idée – wir lassen Dich nicht weg.«
Dieser Widerstand verstärkte Evas Sehnsucht. Dabei befiel sie aber – wie ein Herzkrampf – ein Zweifel: Wie, wenn sie Großstetten auch »leer« fände? Am Ende war er doch nicht zu einer Waldversteigerung gefahren, sondern fort, weit fort …
»Aber chére, Du mußt nicht gar so ein Gesicht von martyre machen. Wenn Du bestimmt nach Hause fahren willst, so werde ich Dich nicht zwingen – Adolf wird Dich eskortiren – zu Pferd – oh, ganz bestimmt.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Thür und – Ralph Siebeck trat herein.
Die von allen Seiten sich erhebenden Rufe der Ueberraschung und der Bewillkommnung übertönten Evas leisen Freudenschrei.
»Ich bin gekommen, meine Schwiegertochter abzuholen,« erklärte Ralph seinen unerwarteten, späten Besuch.
»Schön, sehr schön – aber jetzt müssen Beide noch den ganzen Abend hier bleiben.«
Bald war die allgemeine Unterhaltung im Gange.
»Hören Sie, Siebeck,« sagte der junge Dürenberg, im Laufe des Gesprächs, »vorhin bin ich aufgefordert worden, eine Lanze für Sie zu brechen. Jetzt können Sie selber für sich eintreten. Mein Vater nämlich hatte Sie des extremen Liberalismus angeklagt und Gräfin Eva wollte mich zu Ihrem Vertheidiger einsetzen. Das einfachste ist, Sie geben nun selber die Erklärung ab, welcher Partei Sie angehören.«
»Partei? Gar keiner,« erwiderte Ralph »Mein Ideal wird durch keine der bestehenden politischen Gruppirungen vertreten. Gegen die Einreihung unter den »Liberalismus« werde ich mich allerdings nicht verwahren, insofern mit diesem Schlagwort die Bekennung zum Freiheitsprinzip gemeint ist. Denn wahrlich ich glaube, daß es höheres und erstrebenswertheres nicht giebt – auf allen Gebieten – als die Freiheit; aber die politischen Losungsworte verlieren in der Praxis gewöhnlich die ihrer Etymologie entsprechende Bedeutung. Es ist der Parteigeist allenthalben ein jämmerlich enger, und obwohl Jeder vorgiebt, das allgemeine Beste, die Staatswohlfahrt zu fördern, ist Jeder doch mehr oder minder auf die Wahrung des eigenen oder des Standesinteresses bedacht, und auch einem Einzelnen, der wirklich für die Interessen der Allgemeinheit sich begeistert, fehlt innerhalb der heutigen politischen Zustände – die Möglichkeit, dafür zu wirken; er muß seine ganze Kraft auf die Bekämpfung der sich entgegenstemmenden Sonderinteressen verausgaben; seine Ansichten und Ziele sind den Gegnern ganz unverständlich und sie schieben ihm dieselben Motive unter, die sie selber hegen. Das Ideal des sozialen Fortschritts, das mir vorschwebt, die Aufhebung der Schäden und Gefahren, das sind – unter den obwaltenden Umständen – unerreichbare Dinge. So lange die Politiker einander befehden, statt vereinigt einem klar erkannten Ziele entgegenzusteuern; so lange die zu persönlichen Zwecken angewandte Schlauheit für Staatsweisheit gilt, so lange wird von den Volksvertretungen nichts für‘s Volk ersprießliches errungen werden. Noch ist die Wahrheit – die heilige Wahrheit – nicht zur Grundlage des politischen Denkens und Handelns geworden; weder die objektive Wahrheit erkannter Thatsachen, noch die persönliche Wahrhaftigkeit, und ohne diese ist alles nur – Chaos. Es giebt eine Gesellschaftswissenschaft, gerade so, wie es eine Astronomie giebt; – auf unsere Sternwarten schicken wir nur Astronomen, aber in unsere Parlamente schicken wir zumeist Solche, welche in der Soziologie nicht nur unbewandert sind, sondern gar nicht wissen, daß sie existirt; welche nicht wissen, daß der Gang der gesellschaftlichen Entwickelung ebenso festen Gesetzen folgen muß, wie der Gang der Gestirne. Dabei ist aber die Gefahr eine viel größere, als wenn man Unwissende auf die Sternwarte schickte; die würden höchstens in unsinnige Sterndeuterei verfallen, ohne den Kreislauf der fehlerhaft beobachteten Welten zu hemmen; aber die unwissenden, mit legislativer Macht betrauten Parlamentarier greifen in den Gang der Ereignisse ein, deren Bewegungsgesetze sie nicht kennen, und richten so die heillosesten Zusammenstöße und Verwirrungen an.«
»Glauben Sie denn,« fragte Einer in spöttischem Tone, »daß sich das Gravitationsgesetz finden ließe, welches den ersprießlichen Lauf des sozialen Lebens regieren sollte?«
»Das Gesetz ist gefunden – doch leider sind dessen Formeln noch nicht allgemein erkannt und nicht angewendet – und es heißt: Die Gerechtigkeit.«
Eva hatte dem Sprecher mit höher klopfendem Herzen gelauscht. Nicht, daß sie den Sinn seiner Worte genau erfaßt hätte, dazu lag auch ihr das in Rede stehende Gebiet zu fern; aber sie hatte herausgehört, daß er auf einen höheren Standpunkt sich gestellt, als auf den des Parteihaders, daß sein Geist sich hinausschwang über die Spaltungen und Wirrsale der politischen Praxis bis zu den weiten Gesichtskreisen eines nach ewigen Gesetzen geformten politischen Ideals; wie Musik klangen ihr jene Worte nach, die er in begeistertem Tone ausgesprochen – die Worte Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit.
Die Anderen spannen das Gespräch noch weiter fort, aber Eva horchte nicht mehr hin, denn Ralph nahm nicht länger Theil daran. Liuba hatte ihn mit einem Zeichen eingeladen, zu ihrem Theetisch zu kommen.
Eva begab sich an dieselbe Stelle. Sie wollte der verliebten Russin nicht Gelegenheit lassen, mit Ralph unbelauschte Worte zu tauschen. Es war eine Regung leiser Eifersucht, welche sie veranlaßte, so zu handeln: Die »Suggestion de la Passion« sollte da nicht abgespielt werden.
»Ich bitte auch um eine Tasse Thee, Liuba!« Und zu Ralph gewendet: »Wollen wir nicht bald nach Hause – ?«
Er warf ihr einen warmen Blick zu:
»Ja, bald, mein Kind – gleich, wenn Du willst.«
»Wie Sie eilig,« bemerkte Liuba in bitterem Tone und mit lauernder Miene, als hätte sie jenen Blick aufgefangen. Eva erröthete.
Graf Adolf Dürenberg trat hinzu:
»Es wundert mich. Siebeck, daß nach dem Trauerfall, der Sie betroffen, Sie nicht wieder eine Ihrer weiten Reisen unternommen haben.«
»Vielleicht findet der Graf genug Zerstreuung zu Hause,« sagte Liuba mit derselben Miene von vorhin, » Dis-donc, Adolphe – kannst Du die Gräfin nicht zurückhalten – sie ist schon ungeduldig, fortzufahren.«
»Ich? Ungeduldig? Durchaus nicht – aber ich dachte, so lange der Mond —«
»Ihr habt doch Laternen am Wagen?«
»Ja,« antwortete Ralph, »aber der Mond ist in der That ein guter Verbündeter zu so einer Nachtfahrt, und wir wollen seine Mitwirkung benutzen.«
Zehn Minuten später, nachdem alle Verabschiedungen bei den Hausleuten und Gästen von Dornegg erledigt waren, gingen Ralph und Eva die Treppe hinab; Letztere am Arme Adolfs, der es sich nicht hatte nehmen lassen, die Gäste zu ihrem Wagen zu geleiten.
»Um welche Stunde störe ich Sie am wenigsten, Gräfin,« sagte er, »wenn ich nach Großstetten komme, Ihnen meine Huldigung darzubringen?«
»O, ich bin den ganzen Vormittag zu Hause.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich bald, sehr bald komme, ich habe das Bewußtsein, daß ich bis zu meinem nächsten Besuch nur halb am Leben sein werde. Morgen kommt unsere Serie von Eingeladenen an, da muß ich natürlich meinem Vater helfen, die Jagdhonneurs zu machen, aber übermorgen sind Sie vor mir nicht mehr sicher.«
»Wird mich sehr freuen,« entgegnete Eva zerstreut.
Von Liuba war sie etwas kalt geschieden. »Du bist eine schlechte Freundin,« hatte ihr diese beim Abschiedskuß zugeflüstert; »nach der Confidence, die ich Dir gemacht, hast Du mir Jemand nicht so schnell sollen entführen.«
Der Wagen, in welchem Ralph gekommen, seine Schwiegertochter abzuholen, war ein zweisitziger, offener Phaeton, gegen die herbstliche Abendkühle mit Pelzteppich und Decke versehen. Auch einen warmen Mantel hatte er für Eva hineinlegen lassen.
Graf Dürenberg half der jungen Frau diesen Mantel umnehmen, und indem er sie in den Wagen hob, küßte er ihr die Hand. Ralph stieg nach ihr ein und setzte sich an ihre Seite. Dabei war Adolf behilflich, die Pelzdecke über Beider Schooß zu legen.
»Auf übermorgen, Siebeck! Ich habe der Gräfin schon meinen Besuch angesagt … Ich freu‘ mich auch, die Sachen anzuschauen, die Sie von Ihrer letzten Reise für Ihr Museum mitgebracht haben. Gute Nacht – glückliche Fahrt.«
Der Wagen rollte hinaus. Nach einiger Zeit:
»Ich glaube, Du hast eine Eroberung gemacht.«
Statt aller Antwort sagte sie:
»Liuba Dürenberg betet Dich an.«
»Das ist mir gleichgiltig, Eva.«
»Und mir die Eroberung, König.«
Eine lange Pause.
»Ist Dir nicht kalt?« Dabei hüllte er sie fester in die Decke.
Sie schüttelte nur verneinend den Kopf; sie sagte nicht laut, daß, weit entfernt, Kälte zu spüren, sie sich glühen und brennen fühlte. Nach einer Weile sagte sie:
»Mir war heute die Idee gekommen, Du seiest wieder fortgereist …«
»So wie damals, als ich Dich fliehen wollte?
Jetzt könnte ich‘s nicht mehr – es ist zu spät.«
»Warum auch fliehen – sind wir nicht glücklich so?«
»Nein.«
Auf dieses kurze, in beinah zornigem Tone gesprochene Wort wagte Eva nichts mehr zu erwidern.
XVI
Dieses »Nein!« Eva hörte es in derselben Nacht noch im Traum, und zu wiederholten Malen schreckte sie es aus dem Schlaf heraus. Sie konnte überhaupt nicht zur Ruhe gelangen: die Eindrücke des Tages waren zu mannigfach und zu heftig gewesen. Sie fühlte sich von den widersprechendsten Empfindungen durchdrungen. Bald ein namenloses Bangen, als wäre sie in einen finsteren, ausgangslosen Weg gerathen; bald eine herzschwellende Glücksregung, als sollten sie wachsende Schwingen in den höchsten Aether tragen.
Für diese letztere Phase ihrer schwankenden Stimmungen hatte sie bald die erklärende Formel gefunden: sie brauchte nur den Augenblick sich zu vergegenwärtigen, wo Ralph – von dem sie eben geglaubt, sie habe ihn verloren – den Dürenbergschen Salon betreten, und jenen andern Augenblick, wo er seine wahrheits– und gerechtigkeitsbegeisterten Worte gesprochen, um deutlich zu erkennen, daß ihr Glücksbewußtsein darin bestand, daß sie liebte und den Edelsten liebte – den »Herrlichsten von Allen«. Das bangende Bewußtsein aber war dieses: Keine Hoffnung, keine Aussicht – am Ende der Straße nichts, nichts – eine unübersteigbare Mauer oder, schlimmer noch, ein Abgrund, in welchem ihre Selbstachtung unwiderbringlich untersänke.
Was thun? Gab es denn nicht in jeder möglichen Lebenslage eine bestimmte Handlungsweise, welche dem Pflichtgebot entspricht? Wo lag nun ihre Pflicht? Was mußte sie thun, um aus dem ausgangslosen Weg herauszugerathen, in welchen ihre Schritte sich verirrt hatten? Was – was? Sie zermarterte sich das Hirn mit dieser Frage, während – ungefragt – das Herz immer zur Antwort gab: »ihn lieben, lieben, – außer dem ist alles Nacht.«
Mit schwingenden Nerven und klopfenden Pulsen lag sie da – versuchend nachzudenken, dann wieder versuchend, einzuschlafen, aber keines von Beiden gelang.
Als der Morgen graute hielt sie es nicht länger aus; es war ihr plötzlich der Gedanke gekommen: ihre Pflicht wäre – fliehen. Sie sprang aus dem Bett, glitt in ihren Schlafrock und in ihre Pantöffelchen und ging, die Fensterladen aufreißen. Ein trübes graues Frühlicht drang herein.
So – jetzt hieß es, entschließen und handeln. Sie setzte sich in den Lehnstuhl, der vor dem Schreibtischchen stand. Wenn der Begriff »fliehen«, der sie zuletzt aufgerüttelt, zur That werden sollte, dann gab es ja einen Abschiedsbrief zu schreiben. Sie öffnete ihre Mappe und entfernte den Deckel von dem Tintenfasse. Dann lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück, eine Hand auf die Stirn gedrückt, und begann zu überlegen.
»Fliehen, dazu habe ich nicht mehr die Kraft, es ist zu spät«, hatte König gesagt. Also erkannte er, daß es hätte geschehen sollen, nur fühlte er sich nicht stark genug … war es demnach nicht an ihr, das Seinsollende auszuführen? Sie sah sich – mit Einem zusammengedrängten Vorstellungsbilde – in graue Reisekleider angethan, eine Handtasche mit ein paar Wertsachen – Andenken, Briefe und ihr Checkbuch – füllen; Abschiedsbrief schreiben; im Morgennebel zur Bahn gehen; nach Wien fahren – dort ihr Geld erheben; dann weiter, weiter – in irgend ein Dorf, wo sie Niemand finde und dort – – Was dort? Warten bis der Tod kommt … denn außer ihrer Liebe ist ja »alles Nacht«.
Aber kann sie denn das Alles ausführen? So allein und hilflos und erfahrungslos wie sie ist? An Tante Rosa sich wenden? Nicht um alles in der Welt – die würde direkt an Robert schreiben. Und muß man nicht, um unbehelligt existiren zu können, sich nennen, Papiere herzeigen? Sie hatte keine Papiere – weder Tauf– noch Trauschein – das alles verwahrte wohl ihr Mann. Ihr »Mann – – der hatte ein Recht, sie überall zu holen und in sein Haus zurückzubringen … Und dann: was hatte sie geschworen? Dem Namen Siebeck, der ja Ralphs Name war, keinen Makel anzuheften – wenn sie aber das Haus verließe wie eine Verbrecherin, sich versteckte, – wäre dadurch der Welt nicht Anlaß gegeben, ihren Namen zu verpönen? Also bleiben? .. Aber, wenn sie bliebe, konnte sie dann anders, als dem Manne in die Arme sinken, den sie so brennend und sehnsüchtig – wie brennend und wie sehnsüchtig, das wußte sie erst seit gestern – liebte und begehrte?
Alle die Zweifel waren zu viel für ihren armen Kopf. Sie fühlte plötzlich, wie die Kraft zu denken sie verließ und noch mehr, wie die Kraft zu wollen, zu entscheiden, ihr abhanden kam. Ihr Haupt fiel auf die Sessellehne zurück, ihre Arme glitten an den Seiten herab und alles Bewußtsein schwand. Jetzt erst schloß ihre Lider der feste Schlaf, den sie vergeblich während der Nacht gesucht.
Als nach neun Uhr Morgens die Kammerjungfer, erstaunt so lange nicht gerufen zu werden, in das Zimmer drang, fand sie ihre Herrin in dem Sessel vor dem Schreibtisch, blaß und regungslos, anscheinend ohnmächtig. Da stieß sie einen Schrei aus; doch dieser Schrei weckte die Schläferin.
»Ach, Frau Gräfin – bin ich aber erschrocken!«
Eva rieb sich die Augen. – Wie kam sie hierher? … eine Sekunde genügte, ihr die ganze Sachlage in das Gedächtniß zu bringen: sie hatte fliehen wollen … und jetzt erfüllte sie eine Freude, daß sie dies nicht gethan, daß sie nicht in der weiten kalten Welt draußen, sondern unter einem Heimdache war, wo ihr die Annehmlichkeit bevorstand, in wenigen Stunden im Theaterflügel mit König an der Übersetzung des englischen Buches weiter zu arbeiten.
Wie aus ihrem Innern – so war auch draußen der Nebel gewichen; am heiterblauen Himmel strahlte eine herrliche Septembersonne. Die Gespenster der Nacht waren alle verflogen. Auch das Leidenschaftsfeuer welches in den verflossenen Stunden ihr solche Angst eingeflößt, hatte zu lohen aufgehört; wieder war es nur sanfte, ruhige, sonnenreine Neigung, was sie für ihren theuren König empfand.
Erleichtert athmete sie auf, und da sie sich seelisch so erfrischt fühlte, sorgte sie nun auch dafür, die durch diese Fiebernacht eingetretene Erschöpfung zu vertreiben.
»Schnell, Netti!« befahl sie der Kammerjungfer »eisiges Brunnenwasser in meine Douche und dann das Frühstück: Thee mit Rum.«
Als sie drei Stunden später in das Speisezimmer sich begab, waren sämmtliche Hausgenossen – mit Ausnahme von Ralph – schon da versammelt.
»Kommt Graf Siebeck nicht?« fragte sie Doktor Hartung, von plötzlicher Angst erfaßt. Am Ende hatte doch er es ausgeführt, was sie heute morgen geplant. Sollte diese Befürchtung nun jedesmal eintreten, wenn Ralph nicht anwesend war? Doch in diesem Augenblick trat er herein.
Er mußte auch eine schlechte Nacht verbracht haben. Auf seinen Zügen lag Abspannung und Traurigkeit.
»Hast Du nicht gut geschlafen?« fragte Eva, nachdem er sie mit Händeschütteln begrüßt.
»Gar nicht,« antwortete er.
Man setzte sich zu Tisch. Ottilie ward nicht müde, die Beiden über den gestrigen Besuch in Dornegg auszufragen.
»Es ist recht ungeschickt«, sagte sie, »daß Irene jetzt nicht da ist.«
»Warum denn?« fragte Eva; »sie könnte, der Trauer halber, die Dornegger Lustbarkeiten doch nicht mitmachen.«
»Das nicht, aber – ich weiß schon, was ich sagen will.«
»Ich auch« lächelte Ralph. »Graf Adolf Dürenberg ist freilich, was bei uns ein » èpouseur« heißt – aber dafür ist er durchaus nicht, was die Engländer » a marrying man« nennen. Zudem hat er sich gestern leidenschaftlich und unglücklich in eine junge Frau aus der Nachbarschaft verliebt!«
»Und Sie, lieber Ralph,« nahm Doktor Hartung das Wort, »gestehen Sie Ihrem alten Mentor offen, zappeln Sie noch nicht im Netze der russischen Nixe? Ich muß doch gelegentlich wieder ein wachsames Auge auf Sie werfen.«
Die jungen Leute, Heinrich und Georg, wechselten Blicke und wurden beide dunkelroth.
Ralph fing diese Blicke auf.
»Geben Sie acht, Hartung, Sie bringen zwei junge Herzen in Aufruhr. Bekanntlich schwärmen meine Herren Neffen für die betreffende russische – sagen wir – Göttin.«
Der Hofmeister glaubte eine strenge Miene annehmen zu müssen.
»Ich will nicht hoffen,« sagte er trocken, »daß meine Schüler gegenwärtig andere Ideen im Kopfe haben als die ihrem Alter angemessenen, und daß sie für etwas anderes schwärmen, als für die lateinische und griechische Grammatik. Der Tag der Prüfung naht – —«
»Seien Sie nicht so streng mein Lieber. Lassen Sie uns nicht so thätigen Antheil an dem härtesten Treiben unserer Zeit nehmen – ich meine an der systematischen Jugendmarter. Ein späteres Zeitalter wird Thränen weinen, glauben Sie mir, über die Jüngling-Opfer, welche wir auf dem Altare der Philologie hinschlachten.«
»Sie meinen doch nicht, Herr Graf, daß —
»Ich meine gar Vieles. Leider bin ich nicht Heinrichs und Georgs Vormund, sonst würde ich mich ihrer erbarmen. Freilich auferlegt die ganze gegenwärtige Gesellschaftsordnung mit ihrem Studienzwang, mit ihren Freiwilligen– und Staatsprüfungen, ein so unabschüttelbares Joch, daß man sich vorläufig fügen muß. Es giebt aber Dinge, die sich die Jugend doch nicht auferlegen und doch nicht verbieten läßt, und dazu gehört das Recht vierzehnjähriger Knaben, sich sterblich in dreißig– oder vierzigjährige Frauen zu verlieben – verhöhnen wir sie nicht, und schelten wir sie nicht darum; das Feuer, das Sehnen, die Träume, die in einer solchen Schwärmerei enthalten sind, geben der jungen Seele Schwung – das wirkt begeisternder, glauben Sie mir, als die Regeln der lateinischen Syntax … Waren Sie selber nicht auch verliebt in jenem Alter?«
»Das wohl, Herr Graf,« entgegnete der Hofmeister »aber mein Vater, als er dahinter kam, hat mir eine tüchtige Tracht Prügel angedeihen lassen.«
»Und dieselbe Wohlthat wollen Sie jetzt dem nächsten Geschlechte herunterreichen? Es ist doch sonderbar, daß sich die Menschen für erlittenes Unrecht immer am liebsten dadurch rächen, daß sie das gleiche an Anderen ausüben. Wer schlug die Sklaven am stärksten? Die einst selbst unter dem Peitschen-Regime gestandenen Sklaven. Wer rüppelt den Unteroffizier am ungerechtesten? Der vom Hauptmann am ungerechtesten gerüppelte Lieutenant. Wer unterdrückt und bewacht die Mädchen am strengsten? Die selber unterdrückten Frauen. Nur die Freien spenden freigebig die Freiheit.«
»Wenn Dich Fürst Dürenberg hörte, der fände wieder, daß Du keinen weiten Weg mehr hast zum – Räuberhauptmann«. Eva sagte dies lachend und mit funkelnden Augen. Was Ralph da gesprochen, hatte ihr wieder Freude gemacht. Es that ihr jedesmal wohl, wenn sie einen neuen, geistig liebenswürdigen Zug an ihm entdeckte; das galt ihr als Rechtfertigung ihrer Liebe und als Bestätigung des rein geistigen Wesens derselben.
»Unter Anderm«, sagte Ralph nach einer Weile, »ich erwarte nächster Tage – vielleicht heute schon – Besuch. Seid so gut, liebe Ottilie – oder liebe Eva – ich weiß nicht, in wessen Ressort dies fällt – ein Gastzimmer bereit halten zu lassen. Die heutige Post hat mir die überraschende Nachricht gebracht, daß ein alter Freund von mir – Doktor Söller – der seit mehr als zwanzig Jahren in Rußland gelebt hat, jetzt nach Oestereich zurückgekehrt ist und mich in Großstetten aufsuchen will.«
»Den Namen habe ich oft gehört,« sagte Ottilie, »Deine Mutter hat mir viel von diesem Söller gesprochen.«
»In der That, er war Hausfreund und Hausarzt meiner Eltern. Es ist derselbe,« fügte Ralph mit einem Blick auf Eva hinzu, »der bei der Geburt Deines Mannes anwesend war.«
Ah!« Ein leiser Schreck lag in diesem Ausruf. Derselbe also, welcher wußte, daß der Name, den sie trug, Demjenigen nicht zu Recht gebührte, von dem sie ihn erhalten. Der Gedanke hatte etwas Peinliches.
»A propos, Eva, was treibt denn Dein Mann?« fragte Ottilie. »Jetzt ist er schon seit zwei Tagen in Wien… Was macht er dort, und wann kommt er zurück?«
»Das weiß ich Alles nicht.«
»Wie sonderbar! Wenn ich einen Mann hätte so dürfte der mir nicht aus dem Bereich, ohne Rechenschaft zu geben. Verheirathet sein,« fügte sie nachdenklich hinzu, »hat seine großen Schattenseiten … es muß manchmal ein Kreuz sein. Glückliche Ehen giebt es übrigens auch. Das hängt von den Umständen ab. Da habe ich eine Frau gekannt – Amélie hieß sie, – die am Tage ihrer silbernen Hochzeit so geweint hat.«
»Nun? Und?« fragten die Andern, denen die Geschichte der Frau Amelie nicht sehr triftig für die vorangegangenen Betrachtungen zu sprechen schien. »Was weiter?«
»Nichts weiter – geweint hat sie.«
»Oh jeh!« rief Hartung mit dem Ausdruck tiefsten Mitgefühls.
»Und jetzt zur Arbeit!« sagte Eva, nachdem man sich vom Tische erhoben; »heute müssen wir ein ganzes Kapitel bewältigen … ich fühle mich sehr aufgelegt … – wir werden Großartiges leisten.«
»Gut denn – in einer halben Stunde erwarte ich Euch.«
Es wurde an diesem Tage nichts geleistet. Als Eva mit ihren Wörterbüchern und dem zu übersetzenden Huxley-Band neben dem Schreibtisch Platz genommen – Ottilie häkelte in ihrem gewohnten Winkel außer Gehörweite – sagte Ralph:
»Behalte Dein Buch offen, als ob wir arbeiteten, ich lege auch mein Manuskript hier auf … Nun will ich aber mit Dir reden. Ich will Dir sagen, daß ich so nicht fortleben kann.«
Eva erblaßte und richtete auf den Sprecher einen ängstlich fragenden Blick.
»Du verstehst mich nicht? Wenn Du wüßtest, was ich während der gestrigen Nachhausefahrt gelitten und welche Nacht ich zugebracht! Ich liebe Dich wie ein Rasender, Eva! … Suche ein Wort im Diktionär – ich schreibe … die Ottilie schielt herüber.«
Mit zitternden Händen blätterte Eva in dem Bande.
»Nun, wie heißt das Wort?« fragte er überlaut.
»Es heißt Achtung und Dank …«
»Was willst Du sagen?«
»Es sind die Worte, die ich mir merken sollte – aus einem gewissen Brief, den Du in Wien geschrieben —«
Er schüttelte den Kopf, wie Einer, der sich nicht erinnert.
»O, ich beschwöre Dich, König …« Sie konnte nicht weiter reden.
»Du beschwörst? … Ich bin es, der Dir zu Füßen fallen wollte und flehen, daß Du Dich meiner erbarmest. Aber ich thu‘ es nicht, Evinka. Wenn ich ein verliebter Jüngling wäre, ich würde Dich bestürmen: sei mein! Aber ich bin ein erfahrener Mann, beinahe ein alter Mann … ich kenne die Welt – ich weiß, welchem Jammer ich Dich aussetzen würde, wenn ich Dich in meine Arme riefe. Du könntest die Schmach nicht ertragen, mit welcher die Leute Dein Haupt beladen würden: die Geliebte des Schwiegervaters – —«
Eva warf den Kopf zurück:
»Wer sagt Dir, daß ich je —«
»Ich weiß, daß Du mich liebst … laß mich reden. Ich könnte Dir ja Vieles bieten, was Dich zu beglücken im Stande wäre … wir gingen in ein fremdes, fernes Land … Aber wie, wenn Du aufhörtest, mich zu lieben? … wie, wenn ich stürbe? … Und Du könntest nie mehr unter Menschen zurück, nie mehr die Stirn hoch tragen – ich hätte Dich elend gemacht! Siehst Du, ich sage Dir nur meine Gründe – warum ich Dich nicht in Versuchung führen will. Ob Du widerstündest – die Frage bleibt ganz unentschieden. Ich kann ja nicht wissen, was schließlich in Dir siegen würde – der Stolz oder die Leidenschaft; die Würde oder das Mitleid. Also verweigere nichts; ich bin kein Bittsteller; wehre Dich nicht: ich bin kein Angreifer.«
»Du sprachst aber vorhin, daß Du so nicht leben kannst – was bedeutet das?«
»Was bedeutet nicht fortleben? – sterben.«
»Also wolltest Du Dich – uns – tödten?«
»Das wäre auch keine Lösung, Eva. Nicht mein Tod, nicht der Deine. Ohne mich wärst Du verlassen – der möglichen Mißhandlung durch einen Unwürdigen preisgegeben – Und Du – sterben? Die Vorstellung enthält mir das allerfurchtbarste, was das Schicksal verhängen könnte. Meine Liebe zu Dir besteht ja in zu höchster Potenz gesteigertem Wohlwollen – glücklich, glücklich wollte ich Dich wissen – und muß Dich so unglücklich sehen.«
»Wenn Du nicht so sprichst, König, dann bin ich nicht unglücklich. Die Stunden, die wir hier verbracht haben – arbeitend – ich habe sie als herrliche Stunden genossen und unsere Wasserfahrt – unser ganzes Beisammensein … König, kann denn das nicht uns beiden harmlose dauernde Freude gewähren?«
»Nein, Kind – wir sind Menschen von Fleisch und Blut. Und noch eine Qual will ich Dir gestehen, der ich ausgesetzt bin: die Eifersucht. Ich habe das gestern erfahren: Dieser Dürenberg ist verliebt in Dich … er – und manche Andere noch werden Dir den Hof machen. Du hast an Deinem Gatten keinen Halt – der Tag wird kommen, wo Du —«
»Niemals, niemals, König! Beleidige mich nicht. Wenn meine Tugend stark genug ist, mich zurückzuhalten, Dir – Heißgeliebten – an die Brust zu sinken —«
»Solche Worte, Eva! … Du gießest mir Flammen in die Adern …« —
»Kinder, seid ihr in Streit gerathen?« fragte jetzt Fräulein Ottilie herüber. »Zwar kann ich nicht hören, was ihr redet, aber ich beobachte Euch schon die ganze Zeit – Eure Wangen glühen – ihr scheint zornige Worte zu wechseln… Ich sage immer: das Uebersetzen ist eine zuwidre Arbeit – da muß man disputiren – der Eine versteht einen Ausdruck so, der Andere so —«
Eva klappte ihr Wörterbuch zu und stand auf.
»Du hast recht,« sagte sie. »Das Uebersetzen will heute nicht recht von statten… Lassen wir es auf morgen. Ich gehe jetzt.«
»Wie Du befiehlst,« antwortete Ralph.
»Komm Ottilie …«
Das Fräulein war zum Fenster getreten:
»Ein Wagen!« rief sie. »Vermuthlich der erwartete Doktor …«
»Vielleicht Robert,« sagte Ralph, indem er sich gleichfalls dem Fenster näherte.
Ottilie beschattete ihre Augen mit der Hand:
»Jetzt nehm‘ ichs aus: Ja, es ist Robert – und ein fremder Herr neben ihm – gewiß der Erwartete – sie werden mit demselben Zuge gekommen sein.
XVII
Die so schnelle Rückkehr ihres Mannes war Eva unerwünscht; sie hatte im Stillen gehofft, daß er unbestimmt lange ausbleiben würde. Dagegen war ihr die Ankunft des Doktor Söller insofern willkommen, als sie voraussetzte, daß dadurch Ralph von seinen Grübeleien und seinen heftigen Gefühlen ein wenig abgelenkt werde. Das Grübeln war ja – in ihrer beider Lage – das Gräßlichste.
Nach einer herzlichen Begrüßung hatte der Hausherr, den Doktor sogleich zu sich in den Theaterflügel geführt – und wie viel würden die zwei Männer, die sich mehr als zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatten, einander nun zu erzählen haben: Reiseerinnerungen, Jugenderinnerungen … Unter den letzten freilich eine sehr peinliche: Roberts Geburt. Bei diesem Gedanken erröthete Eva. Wenn ihr jene Umstände einfielen, so fühlte sie sich immer gleichsam als Usurpatorin ihres Namens.
Und jetzt stand auch der Usurpator neben ihr.
Robert war nämlich, ohne um Erlaubniß zu fragen, seiner Frau in ihr Zimmer gefolgt, wohin sie, während Ralph den ankommenden Gast begrüßte, sich zurückgezogen hatte.
»Also da wäre ich wieder!«
»Ja.«
»Du, Eva, ich möchte Dich was fragen.«
»Das wäre?«
»Gefällt Dir die Existenz in Großstetten?«
»Ich weiß nicht, was Du meinst.«
»Ich meine,« er setzte sich, »daß ich‘s auf die Länge nicht aushalte. Die zwei Tage in Wien haben mir förmlich wohlgethan. Jetzt kommt die Jagdzeit – da wird‘s am Ende noch durch ein paar Wochen erträglich – aber nachher müßte man ja auswachsen. Ganz hier bleiben, wie der Vater wollte, und Landwirthschaft treiben, das bin ich nicht im Stande. Die ganze Kuh-, Holz– und Körnerwirthschaft ekelt mich an. Weizenfechsung, Schweinefutter, Jungviehzucht – hol‘s der Kuckuck!«
»Wo willst Du hinaus?«
»Von Großstetten will ich hinaus. Wenn es einmal mir gehört, werde ich es doch verpachten – die Plage mit dem Selbstverwalten ist zu groß. Daher ist es ganz überflüssig, daß ich hier bleib‘. Ich möchte künftigen Winter nach Wien. Dazu braucht man Geld. Ich muß erreichen, daß uns der Vater ein genügendes Einkommen anweist.«
»Warum sprichst Du dann nicht mit ihm?«
»Weil ich glaube, daß der Weg durch Dich sicherer ist.«
»Durch mich?«
»Meinst Du, ich hätt‘ nichts gemerkt?«
Eva erblaßte und – bisher hatte sie gestanden – ließ sich auf einen Sessel fallen.
»Ich verstehe nicht!« … murmelte sie.
»Geh‘, sei nicht fad. Da braucht ein Mensch kein Genie zu sein um zu durchblicken, wie Du den Vater herumgekriegt hast. Du wickelst ihn um den Finger. Bist hier zur Herrin des Hauses eingesetzt worden, hast Geld so viel Du willst – unter Anderem: ich könnte wieder ein Sümmchen brauchen —«
Eva sprach kein Wort. Ein unsäglicher Ekel schnürte ihr die Kehle zu.
»Die Dinge stehen also so,« fuhr Robert fort, »Du erklärst dem Papa, daß Du den Winter in Wien zubringen willst, und wir gehen mit einander hin. Es hindert ihn ja nichts, auch hinzukommen und die englischen Uebersetzungen mit Dir fortzusetzen, die ihm so viel Vergnügen machen – ich bin ja zu Tod froh, wenn Du ihm die Liuba aus dem Kopf geschlagen hast.«
Schurke! war das Wort, welches in Evas Innern kochte. Aber noch immer brachte sie keinen Laut hervor.
Robert stand auf:
»So, jetzt denk‘ ein bissel über die Angelegenheit nach – ich geh. Unter andern: die Dorina läßt Dich grüßen. Die ist jetzt auch in Wien. Ich habe sie aufgesucht; aber – der Wahrheit die Ehre: sie hat mich hinausgeworfen. Das hat mir Spaß gemacht. Immer wird sie wohl nicht so unliebenswürdig sein. Wenn sie einmal weiß, daß Du nicht eifersüchtig bist —«
Als er draußen war, vergrub Eva laut stöhnend ihr Gesicht in beide Hände. »So kann ich – so kann ich nicht fortleben.«
Wäre Doktor Söller nicht bei König, sie würde sofort zu ihm hinabgeeilt sein, um an seiner Brust sich auszuweinen, um ihn zu beschwören, sie von diesem Menschen zu befreien. Sollte der Elende wirklich einen Verdacht hegen – ihr, und demjenigen, den er für seinen Vater hielt, zumuthen daß sie Verbrecher seien – und dies gleichgiltig hinnehmen wollen in Anbetracht seiner eigenen pekuniären Interessen? Nein – solche Gemeinheit der Gesinnung war nicht denkbar! Und eigentlich – was berechtigte sie denn, ihm solche Gedanken unterzuschieben? Ja, er hatte bemerkt, daß sein Vater sie liebgewonnen; daß er gern mit ihr verkehrte, daß er ihr die Regierung des Hauses übergeben; jedoch die Idee, daß da ein strafbares Verhältniß bestehe, die war – in ihrer Widernatürlichkeit – Robert vielleicht nicht einmal in den Sinn gekommen. Aber gleichviel, wenn er auch so schlecht nicht war, wie sie einen Augenblick ihm zugemuthet, war er nicht abstoßend und täglich abstoßender? Und da muthete er ihr zu, mit ihr allein in Wien zu leben! Und welche cynische Rücksichtslosigkeit, ihr ins Gesicht zu sagen, daß er seine Beziehungen zu Dorina wieder anknüpfen wollte… Sie machte eine schmerzlich-händeringende Bewegung; dabei stießen ihre Finger auf den Trauring. O der grausame kleine Goldreif! Durch den war sie festgeschmiedet an lebenslanges Unglück, durch den war sie zu Leid und Entsagung, zu ewiger Herzenseinsamkeit verdammt. Und wenn sie an das hohe Glück dachte, welches so ein Ring – wenn mit dem Rechten getauscht – bedeuten kann, so erschien ihr das eigene und das Schicksal so vieler Tausende ihrer Schwestern doppelt fürchterlich. Wie wäre es zum Beispiel, wenn ein Ralph Siebeck ihr diesen gegeben? … Sie malte sich das Bild aus und Thränen der Wehmuth füllten ihre Augen. »O, mein König, mein König,« seufzte sie halblaut, »wie sicher, wie selig wäre ich als die Deine, als Dein angetrautes, demüthiges, liebendes Weib – wie blickte ich zu Dir auf, Großer, Milder, Vornehmer – und wie gut und zärtlich und nachsichtig wärst Du mit mir… Dann dieses Leben – so reich an den erhebendsten Interessen: zusammen arbeiten, zusammen reisen und einander lieben, lieben dürfen – so warm, so leidenschaftlich, so süß … Das Anrecht zu solcher Wonne könnte so ein goldener Reif verleihen, während dieser auf ihrem Finger – – Mit einer Bewegung des Abscheus streifte sie den Ring herab und ließ ihn in eine nahestehende Schmuckschale fallen.
Bei Tisch waren alle Hausgenossen versammelt. Von den inneren Kämpfen, welche einige unter ihnen in den letzten Tagen bestanden, war an der Oberfläche nichts zu sehen. Es wurde mit der scheinbar größten Ruhe eine bald lebhafte bald gleichgültige Unterhaltung geführt; – daß hier eine unglückliche Ehe und eine noch unglücklichere Liebe waltete, das hätte kein Unbetheiligter merken können.
Eva saß zwischen Ralph und Doktor Söller. Letzterer trug die größten Kosten der Unterhaltung: er erzählte allerlei Episoden aus seinem zwanzigjährigen Aufenthalt in Rußland; auch in Sibirien war er gewesen – nicht als politischer Verbrecher, wie Fräulein Ottilie erschrocken fragte – sondern als Leibarzt des Militär-Gouverneurs.
Nach Tisch setzte sich dieselbe scheinbar Unbefangenheit fort. Hartung und Eva spielten Klavier; Ralph und Doktor Söller machten eine Partie Schach – Robert und der Hofmeister im anstoßenden Billardsaal eine Partie Billard. Die Jünglinge zogen sich früh in ihr Studirzimmer zurück, da sie beide noch – die armen Schlucker – für morgen sechs Seiten Griechisch vorzubereiten hatten. Nach zehn Uhr ward aufgebrochen, um schlafen zu gehen.
»Auf ein Wort, Eva!« Ralph zog die junge Frau in eine Fensternische. »Du verschließest Deine Zimmerthür des Nachts?«
Eva blickte bestürzt auf.
»Ich frage wegen – Robert.«
»Er kommt nicht —«
»Thut nichts. Schiebe doch den Riegel vor. Er darf Dir nie mehr in die Nähe kommen, hörst Du – nie mehr.«
»Gewiß nicht. Meine Thür ist verschlossen.«
»Gut.« Er trat wieder in das Zimmer zurück; die Unterredung war aus.
Man wünschte sich gegenseitig »Gute Nacht« und ging auseinander.
Nachdem sie ihre Kammerjungfer entlassen, verschloß Eva selber die Thüre ihres Schlafzimmers, welche gegen ihren kleineren Salon führte; die zweite Thüre, hinter welcher das Ankleidekabinet lag, das seinerseits an das Jungfernzimmer stieß, brauchte nicht abgesperrt zu werden.
Eva legte sich zu Bett. In der vorigen Nacht hatte sie so wenig geschlafen, daß sie sich heute abgespannt und müde fühlte und von den kommenden Stunden sich Ruhe versprach. Sie schlief auch schnell ein. Aber plötzlich erwachte sie mit einem jähen Schreck.
Was war das? … Ein Geräusch? … Ihr Athem stockte.
Ja, ein leises Klopfen an der Salonthür.
Das Zimmer war von einer Nachtlampe nur schwach erhellt, aber genügend, um auf der nebenan liegenden Uhr die Zeiger sehen zu lassen. Ein Uhr …
Das Klopfen dauerte fort; dazwischen auch ein Rütteln an der Schnalle. Vermuthlich Robert. Das Beste war, still bleiben – er würde schon wieder fortgehen.
Der Klopfende aber ging nicht. Immer lauter und ungeduldiger wurde das Pochen und das Rütteln.
Ein kalter Schauer lief über Evas Rücken. Wie, wenn die Thür etwa nachgäbe? Sie stieg aus dem Bette, schlüpfte in ihren Schlafrock und, die Hand an den Glockenzug legend, horchte sie weiter.
Der draußen fing an, mit den Fäusten loszuschlagen. Noch ein paar solche Schläge, und die Thür mußte nachgeben. Der Angstschweiß trat auf Evas Stirn. Diese Furcht – vor dem eigenen Gatten … Nein – das konnte in Zukunft nicht so fortgehen …
Jetzt erhoben sich andere Geräusche im Hause. Man hörte eine Thüre knarren und Schritte auf der Treppe. Vermutlich hatte das unbändige Klopfen noch einen anderen Hausgenossen aufgeweckt. Wie es schien, hatte aber auch der Klopfende die sich erhebende Unruhe vernommen und er hörte auf zu poltern.
»So mach‘ doch auf – sei nicht fad,« rief er mit lallender Stimme.
Richtig – Robert. Und richtig – wieder in betrunkenem Zustande. Eva blieb regungslos.
»Du, ich hab Dir was Wichtiges zu sagen.«
Sie antwortete nicht.
Da klirrte er noch ein paar Mal an der Thürschnalle, und dann ging er davon, mit schwankenden Schritten und gemurmelten Verwünschungen, die man nach und nach verhallen hörte.
»Gottlob!« athmete Eva auf. Sie klingelte ihrer Kammerjungfer.
»Ich bitte Dich, Netti, gieb Dein Bettzeug auf jenen Divan und schlafe hier – mir ist heute so bang allein.«
Das Mädchen that, wie ihr befohlen, und jetzt schlief Eva beruhigt ein.
XVIII
Am folgenden Vormittag saß Eva in ihrem Zimmer mit Haushaltsrechnungen beschäftigt, als schon wieder Robert an ihre Thür klopfte.
Diesmal ließ sie ihn ein.
»Du hast einen festen Schlaf – ich gratulire.« sagte er, sich in einen Sessel werfend. »Ich habe gestern an Deiner Thür gepoltert und Du warst nicht zum Aufwecken.«
»Ich habe Dich ganz gut gehört – aber Du weißt, ich will des Nachts allein bleiben. Das war doch zwischen uns abgemacht – stillschweigend zwar, aber bestimmt.«
»Da weiß ich nichts davon … von meiner Seite ist nichts abgemacht worden. Schließlich bin ich doch Dein Mann.«
»Nicht in meinen Augen. Sieh her« – sie zeigte ihm die linke Hand – »sogar den Ring habe ich abgestreift.«
»So fad! – Und weißt Du, was das Dümmste an der Sache ist? Ich fange jetzt an, mich in Dich zu verlieben. Wirklich. Da hilft kein Achselzucken … Du bist kannibalisch hübsch. Erst vorgestern, als ich die Dorina besuchte, habe ich Vergleiche angestellt – und die sind sehr zum Nachtheil der Frau Oberstenwittwe ausgefallen. Das wäre so eine Geschichte, wenn ich eine Leidenschaft für Dich fassen möchte, was? Denn dann würde ich eifersüchtig werden. Und, hörst Du ich bin nicht ganz ohne Verdacht, daß ich Grund zu Eifersucht hätte.«
»Ah?«
»Ja, spiele nur die Gleichgültige. Du bist doch feuerroth geworden … Ich werde Dich von nun ab etwas scharf beobachten. Wie ich höre, ist der Adolf Dürenberg wieder in der Gegend … Nimm Dich in Acht, der ist ein Haupt-Don Juan – und in dieser Hinsicht werde ich keinen Spaß verstehen. Merk Dir das. Du bist nun einmal meine Frau – da hilft alles nichts.«
»Da hilft alles nichts,« wiederholte Eva halblaut für sich.
Die Glocke zum Gabelfrühstück ertönte. Robert stand auf:
»Kommst Du?«
»Etwas später – ich muß mich erst noch ankleiden …«
An der Thüre drehte er sich noch einmal um:
»Du! daß Du heute Abend nicht wieder zusperrst – das ist zu dumm!«
Bei der Mahlzeit fehlte Ralph und sein Gast Doktor Söller. Die Herren seien in die Umgebung gefahren, hieß es, und kämen erst zum Diner nach Hause.
Die schreckliche Leere und Bangigkeit, welche Eva empfand, wenn sie Ralphs Nähe missen mußte, zeigte ihr immer am deutlichsten, wie theuer, wie schutz– und sicherheitsgewährend ihr diese Nähe war. Zum Glück verschonte sie auch Robert mit seiner Anwesenheit; gleich nach dem Gabelfrühstück – während dessen Verlauf er sich ausschließlich mit seinen jungen Vettern unterhalten hatte – ging er hinaus, »ein paar Hasen zu schießen.«
Im Laufe des Nachmittags stattete Adolf Dürenberg seinen angesagten Besuch ab. Eva saß auf ihrem Lieblingsplätzchen im Garten – von wo aus man den Teich sah – mit einem Buch in der Hand, mehr träumend als lesend, als ein Diener ihr meldete, daß Graf Dürenberg gekommen sei. Der Gemeldete selber ward am Ende des Weges sichtbar. Da gab es kein Entrinnen. Eva stand auf und ging dem Grafen entgegen.
Er küßte ihr die Hand.
»Mit Hintansetzung der heiligsten Hausherrnpflichten habe ich mich von Dornegg davongemacht, um meine gestrige Drohung auszuführen, meine hochverehrte Gräfin. Der Diener sagte, Sie seien im Garten.«
»Ja. es ist so schön da, im warmen Sonnenschein … Wollen wir gleich hier bleiben?« Sie trat unter ein rundes, offenes Zelt, an dem sie eben vorbeikamen. »Hier – setzen wir uns … Im Schlosse ist ohnehin Niemand. Mein Schwieg – Ihr Freund Ralph ist mit einem Besucher in die Umgebung gefahren, und mein Mann ging jagen.«
»So ist Robert von Wien zurückgekommen?« fragte Dürenberg mit auffallend verfinsterter Miene.
»Ja, seit gestern. Und Ihre erste Serie ist nunmehr in Dornegg eingetroffen? … Und wie geht es Liuba?«
Dürenberg gab Auskunft, nannte die Namen der angekommenen und der noch erwarteten Gäste, und durch länger als eine Viertelstunde drehte sich die Unterhaltung in diesem Geleise fort. Plötzlich aber schlug der Graf einen andern Ton an:
»Glauben Sie an love at first sight?« fragte er ganz unvermittelt.
»Liebe auf den ersten Blick? Es mag wohl vorkommen – auch außerhalb Englands.«
»Ich habe es bisher für eine Fabel gehalten … Seien Sie ruhig, Gräfin, das ist keine Einleitung zu einer Liebeserklärung.«
»Das habe ich auch gar nicht befürchtet.«
»Liebe soll man nicht erklären. Man liebt – voilà tout. Das erklärt sich von selbst. Es muß aus den Blicken leuchten, es muß aus jedem gesprochenen Wort – was immer dessen Sinn sei – hervor tönen, nicht aber in die betreffenden Ausdrücke gekleidet werden. »Ich liebe Sie, ich liebe Sie«: das ist leicht gesagt und schwer zu glauben; es heißt gar nichts – die Thatsache spricht. Sie werden viele Liebeserklärungen hören in Ihrem Leben, Gräfin – verschließen Sie Ihr Gehör dagegen. Je überraschender Ihnen eine solche kommt, desto weniger dürfen Sie daran glauben. Lange, lange, ehe es Einer zu gestehen wagt, müssen Sie sein Geheimniß errathen haben.«
»Warum den Lehrkursus, lieber Graf? Glauben Sie, daß die Erklärungen auf meinem Wege nur so aufspringen werden, wie unter den Schritten eines Spaziergängers auf sommerlichen Wiesen die kleinen Heuschrecken?«
»Vielmehr wie die Tiger in den Djungeln, Gräfin Eva. Das sind mitunter zerreißungsgierige Raubthiere, diese deklamatorischen Salon-Anbeter.«
»Danke für die Warnung – aber ich hoffe daß sie sich als überflüssig erweisen wird.«
»Nicht überflüssig. Dem Schicksal, von aufrichtigen und bisweilen auch unaufrichtigen Liebesbewerbungen belagert zu werden, können Sie nicht entgehen. Als Vorübung – für die aufrichtige Sorte – möge Ihnen gleich dienen, was ich nicht umhin kann, Ihnen hiermit zu gestehen: nämlich, an Liebe auf den ersten Blick glaube ich seit vorgestern.«
»An einen hohen Grad von Unverfrorenheit glaube ich seit heute, Graf Dürenberg.«
»So ist‘s recht. Das ist der Ton der Abwehr.«
»Ihr freundlicher Beifall ermuntert mich.«
»Und mich reizt Ihr kühler Spott. Je eisiger Sie sich zeigen, desto wahnsinniger wird mein Wunsch entbrennen, Sie einstens erglühen zu sehen. Aber ich gehe zu weit – für ein erstes Mal viel zu weit. Alle Strategik verläßt mich.«
»Verläßt Sie nicht auch der mir schuldige Respekt? Ich habe mich noch wenig – eigentlich gar nicht – in der großen Welt bewegt und weiß daher nicht zu beurtheilen, in welchem Maße Sie sich von dem in Ihren Kreisen üblichen Umgangston entfernen … aber daß Sie eine Grenze überschritten haben, sagt mir mein Gefühl.«
»Dieses Gefühl täuscht Sie. Es giebt keine fest umgrenzte Umgangsform bei uns. Dieselbe ist in der Regel ganz und gar nichtssagend banal oder – mit einem kühnen Sprunge – von ungezwungenster Verwegenheit.«
»Dann lassen Sie uns gefälligst nichtssagend sein.«
»Dazu ist doch die erste Bedingung, daß man wirklich nichts zu sagen habe. Es giebt aber Berge von Dingen, die ich Ihnen mittheilen muß —«
»In der »ungezwungen verwegenen« Art? Dagegen protestire ich.«
»Sie fragten mich vorhin um unsere üblichen Unterhaltungsformen; da war ich Ihnen doch die gewünschte Auskunft schuldig: wir sind nun einmal entweder maßlos langweilig oder maßlos frech. Entweder amtlicher Wiener Zeitungsbericht oder Volkssänger-Kouplet. Die sogenannte goldene Mittelstraße ist uns abhanden gekommen. Wir kennen keine Zwischenstationen. In der Liebe schon gar: da giebt es nichts Unmoderneres als das langsame Abwickeln aller Sentimentalitäts-, Schüchternheits– und Tugendkampf-Phasen; entweder zwei Leute sind einander gleichgiltig – nun, dann tauschen sie Meinungen über das Wetter, oder —«
»Erlassen Sie mir die zweite Alternative und sagen Sie offen: Ist das nicht ein wundervoller September heuer?«
»Das ist boshaft. Sie haben mich nicht ausreden lassen. Ich wollte sagen, daß diese beiden Extreme die Regel seien, daß ich aber zu allen Ausnahmen bereit bin, welche mir ein Ausnahmegeschöpf auferlegen wollte. Befehlen Sie – und ich unterziehe mich – ehe ich um ein lohnendes Lächeln zu werben wage – allen Phasen mittelalterlichen Ritterdienstes oder kleinstädtisch-bürgerlicher Schwärmerei —«
»Solche bestellte Interimsbescheidenheit wäre wenig geeignet, Vertrauen zu wecken.«
Das Scharmützel wurde hier durch Fräulein von Otterfeld unterbrochen, welche lustwandelnd vorbeikam und nun, Eva und ihren Besucher erblickend, in das Zelt eilte und sich da niederließ.
»Das wird mein Vetter Ralph aber bedauern …« und – »Wie geht es dem Fürsten Dürenberg?« »Wie der durchlauchtigen Mama?« und »was macht Liuba, was der kleine Sergei?« und »wie lange bleiben, und wer sind Ihre Gäste?« und schließlich »haben wir heuer nicht einen wunderschönen September?«
Damit war das Maß voll. Adolf erhob sich.
»Meine Damen, ich muß meinen Besuch leider – das leider gilt mir – schon abbrechen, werde mir aber erlauben, denselben öfters zu wiederholen. Das nächste Mal hoffe ich Ralph zu finden. Meine Schwägerin Liuba beabsichtigt gleichfalls, trotz der Anwesenheit unserer Gäste, die Gräfin Eva, in welche sie sich förmlich verliebt hat (kein Wunder!), nächstens zu überfallen.«
Weder Ottilie noch Eva versuchten, den Grafen zurückzuhalten, und so empfahl er sich. Er verneigte sich vor dem alten Fräulein und, indem er Evas Hand küßte:
»Es wird doch nicht immer ein wunderbarer September bleiben« sagte er etwas leiser.
»Ach, daß die Irene nicht da ist!« seufzte Fräulein Otterfeld, nachdem der Graf sich entfernt hatte. »Das wäre doch die herrlichste Partie —«
»Partie! – ich hasse das Wort«, entgegnete Eva.
Sie stand auf.
»Bleibst Du noch da? Ich will ein wenig spazieren gehen.«
In Wahrheit wollte sie allein sein, um den Eindruck des eben erhaltenen Besuches ein wenig zu überdenken. Ueberdies war ihr das Geschwätz Ottiliens jederzeit lästig und sie nahm jede Gelegenheit wahr, sich demselben zu entziehen. Sie ging an das Plätzchen zurück, von welchem sie vorhin aufgestört worden.
Der Anblick des Teiches rief ihr gleich wieder die Erinnerung an jene abendliche Kahnfahrt wach, wo sie an Ralphs Seite so ein Gefühl gestillten Sehnens genossen; wo sie nur noch, zur Besieglung dieses Herzensfriedens, seinen Kuß erwartet. Er aber hatte sie nicht geküßt … oh, sie wußte wohl, warum. Sie las ja in seiner Seele, wie in einem offenen, mit leuchtenden Buchstaben geschriebenen Buche: er liebte sie – innig, feurig, furchtsam, ehrerbietig, zartsinnig … Nicht Kälte, nein – Leidenschaft, mit Heldenkraft zurückgehaltene Leidenschaft lag in dem bisher ungeküßten Kusse. »Bisher« – Eva wiederholte dieses Wort ohne zu wagen, das, was darin enthalten war, auch auszudenken … Und jener Andere, der sie eben verlassen – so glänzend, so verführerisch er auch sein mochte – was war der ihr neben König? Eine Null. Wie frech er ihr den Hof gemacht … Das also wäre ihr Los, wenn sie in der großen Welt lebte, solche Angriffe stets pariren zu sollen, oder gar – des Krieges müde – ihnen erliegen? Und nach einer Ehe ohne Liebe auch noch diese Niedrigkeit über sich ergehen lassen: Liebschaften ohne Liebe? … Nein – aus diesem ganzen Chaos, das sie umgab, mußte Eines doch unversehrt hervorgehen, Eines mußte aus diesem Kampfe gerettet werden: ihre Frauentugend, ihre Selbstachtung. »Und Deine Achtung, König!« beschloß sie ihren Gedankengang, indem sie die gewisse Goldkapsel, die sie jetzt an einem dünnen Kettchen um den Hals trug, an die Lippen führte.
Ein jämmerliches Heulen und Winseln riß sie aus ihren Träumereien. Sie schaute auf und erblickte hinter dem jenseitigen Rand des Teiches Robert, welcher auf den Teich zuging, einen Hund nachschleifend, auf den er ab und zu mit weit ausgeholten Stockhieben dreinhaute.
Jetzt war er am Ufer angelangt. Eva sah, daß er nicht mehr mit dem Stocke, sondern mit den Stiefelabsätzen auf sein Opfer stieß, das nunmehr zu heulen aufgehört. Sie war aufgesprungen und lief zur Stelle, um dem gequälten Thiere zu Hilfe zu kommen; als sie athemlos anlangte, sah sie, wie Robert eben mit einem letzten Fußtritt den Hund in das Wasser schleuderte.
»Wart! du elendes Biest, ich werd‘ dir lehren, nicht gehorchen.«
Eva stieß einen Schrei aus. Am liebsten wäre sie dem armen Geschöpfe nachgesprungen – aber sie sah, daß es wieder an das Ufer geschwommen kam und zwar dorthin, wo sein Herr stand.
»Robert, Robert, was hat der arme Nero gethan?«
»Jetzt kommt das Mistvieh wieder hervor, ich habe doch geglaubt, daß ich‘s lahm geschlagen, na wart!«
Eva sprang herbei, doch ehe sie es hindern konnte, stieß er mit einem Tritte das zu seinen Füßen sich krümmende Thier von Neuem ins Wasser.
Ein zweites Mal, mit großer Anstrengung, kam der Hund herangeschwommen, da warf Robert mit Steinen gegen ihn.
»Bösewicht!« schrie Eva. Dann lief sie zur Stelle, wo der Hund wieder hervorgewatet kam und nahm das große, triefende Ding in ihre Arme.
»Komm mir nicht nahe!« rief sie Robert zu, der mit wüthender Geberde auf sie los ging.
»Was das für Dummheiten sind! Laß das Vieh los – ich häng‘ ihm einen Stein an den Hals, und dann kann er nicht mehr heraus.«
Aber Eva schleuderte nur noch einen Blick auf ihren Mann, einen Blick des tiefsten Abscheus und, das gerettete Thier im Arm, lief sie dem Schlosse zu.
Robert zuckte ärgerlich die Achseln und versuchte nicht, die Fliehende einzuholen.
Nach einer halben Stunde lag Nero wohlgebettet in Eva‘s Ankleidekabinet. Einer der Diener des Hauses, der gelernter Thierarzt war, hatte den Hund untersucht und gefunden, daß er keine lebensgefährliche Verletzung davongetragen und in wenigen Tagen wieder gesund sein könne. Er mochte Schmerzen leiden, da er öfters leise stöhnte, aber unter der streichelnden Hand und dem freundlichen Zuspruch seiner Retterin schauten seine guten Hundeaugen in froher Dankbarkeit auf.
Eva hatte ihr naßgewordenes Kleid gegen ein anderes ausgetauscht.
»Herr Jesus, Frau Gräfin!« rief die Kammerjungfer, während sie bei dem Kleidwechsel behilflich war, »Frau Gräfin müssen sich verkühlt haben, zittern ja wie Espenlaub, dabei so brennende Wangen und der stiere Blick … Frau Gräfin sollten sich niederlegen.«
Nach einer Weile – Eva hatte sich in einen Lehnstuhl geworfen und ihre Nervenerschütterung löste sich in Thränen – trat Robert in das Zimmer.
»Du, Eva —«
Sie machte eine Bewegung mit der Hand, welche bedeuten mochte: »Geh fort.«
Er aber setzte sich.
»Du, weißt Du, ich war grad ein Bissel heftig mit dem Nero. – Aber Du mußt wissen, er hat mir einen Hasen durchaus nicht apportiren wollen – da hat er mich in Wuth gebracht – und Strafe muß sein.«
»Genug – rechtfertige Dich nicht. Du warst von der herzlosesten Grausamkeit —«
»Ja, weißt Du, wenn ich in Wuth komme, da kenne ich mich nicht. Aber nachher ist‘s bald wieder gut … Jetzt hab‘ ich dem Nero schon verziehen. Und überhaupt – wegen einem Thier wird man doch nicht so viel Aufhebens machen … Sei nicht fad. —«
Sie machte nochmals die nach der Thür weisende Handbewegung, die einer Entlassung gleich kam.
Robert kehrte sich aber nicht daran.
»Du,« fuhr er in ganz natürlichem Tone fort, »ich hab‘ g‘hört, daß der Dürenberg hier war. Schad‘, daß ich ihn versäumt hab‘ … Er war ein ziemlich fader, steifer Geck – aber schließlich, er gehört doch zu den Ersten in der Gesellschaft. War er lang da? Nun – kannst Du nicht antworten? – Ob der Dürenberg lang da war? – Du, das verbitt ich mir, die Trotzerei hörst Du? Also wie lange war er da? – Ach so, die Manier willst Du einführen? Das ist recht ungezogen und dumm.« Er stand auf und ging zu ihrem Sessel. »Willst Du mir antworten?« fragte er mit erhobener Stimme und sie am Arme schüttelnd.
Sie preßte die Lippen noch fester auf einander. Wenn er sie nur schlüge! Von seiner Brutalität konnte man auch das erwarten, aber es wäre ihr willkommen gewesen – wenigstens ein triftiger Grund, sich gänzlich von ihm loszusagen – Scheidung, Scheidung! war dasjenige, nach welchem ihr Sinn jetzt lechzte, wie der Gefangene nach dem Aufspringen seiner Kerkerthür lechzt.
Aber er schlug sie nicht. Im Gegentheil:
»Du bleibst also stumm?« sagte er, »Du Trotzkopf, Du – hübscher —« und mit einer raschen Bewegung riß er sie an sich und drückte seine Lippen auf die ihren.
Mit einer verzweifelten Anstrengung machte sie sich von seiner Umarmung los und lief zum Glockenzug.
»Nur einen Schritt in meine Richtung und ich läute Sturm – ich schreie um Hilfe.«
»Und machst uns Beide lächerlich – kleine Närrin. So will ich einen günstigeren Augenblick abwarten, Dich zu versöhnen. Denn jetzt hab ich mir‘s erst recht in den Kopf gesetzt … ich weiß schon, was ich sagen will. Auf Wiedersehen.«
Und er ging aus dem Zimmer hinaus.
Eva klingelte.
»Ist Graf Ralph nach Hause gekommen«, fragte sie die eintretende Netti.
»Ich weiß nicht, Frau Gräfin. Soll ich nachschauen gehen?«
»Ja – und wenn er da ist – ich lasse ihn zu mir bitten – gleich —«
»Zu dienen.«
Eva ließ sich in einen Sessel fallen. Sie fühlte sich erschöpft, ein Zittern ging durch ihre Glieder. O, diese Sehnsucht, die sie nun verzehrte, bei dem Geliebten Schutz zu suchen vor dem Gehaßten. Denn wahrlich, was sie jetzt gegen Robert empfand, es war schon Haß. Die Rohheit, die namenlose Grausamkeit, die – Infamie, die darin lag, ein armes, sich dem Ertrinkenstod mühsam entringendes Geschöpf, das sich bittend ihm zu Füßen wand, wieder in den Tod zurückzustoßen – so etwas konnte sie nie wieder verwinden, so etwas stempelte jenen Menschen in ihren Augen zu dem, was sie ihm im ersten Augenblick ins Gesicht geschleudert, zum »Bösewicht.« Ein solcher Wütherich war jeder Missethat fähig … Schrecklich wäre es, seinem Zorn ausgesetzt zu sein – schrecklicher noch seiner Zärtlichkeit. Und wie dem entgehen? Da half auch das allabendliche Zuschließen nichts – sie mußte fort, fort… Und dazu konnte ihr nur Einer mit Rath und That beistehen.
»Der Herr Graf ist noch nicht zurück«, kam jetzt Netti melden. »Ich habe dem Kammerdiener die Post zurückgelassen, daß, sobald der Herr käme, Frau Gräfin ihn bitten ließen.«
»Es ist gut.«
Eine bange Stunde verging. Eine Stunde der wachsenden Sehnsucht, des heftigsten Verlangens. Fortwährend horchte Eva hinaus, ob vor den Fenstern kein heranrollender Wagen, ob im Nebenzimmer keine nahenden Schritte zu vernehmen waren. Gegen einen neuen Ueberfall Roberts hatte sie sich durch Umdrehung des Schlüssels geschützt. Ab und zu ging sie in das anstoßende Kabinet, dem kranken Nero freundliche Worte sagend. Sie wollte ihm für die erlittene Unbill Vergütung bieten und dies gelang ihr auch: er wedelte vergnügt, sobald sie an sein Lager trat. Der Anblick des Opfers bestärkte sie in ihrem Abscheu gegen den Henker. Ralph war mit Thieren so gut. Das hatte sie öfters zu beobachten Gelegenheit gehabt. O, wenn sie ihm erzählen würde, welcher Rohheit sie heute Zeugin gewesen, und erzählen, daß dieser ihr jetzt so abschreckend gewordene Mensch – der ihr Mann, aber Gott sei Dank, sein Sohn nicht war – es sich nun in den Kopf gesetzt hatte, sie wieder in seine Arme zu reißen, wie würde da ihr König sie zu schützen, zu retten bereit sein – dessen war sie sicher. Wo er nur so lange blieb, ihr Hort, ihr Ritter, ihr Alles … Wie, wenn er gar nicht mehr käme? Daß ihr diese Angst doch immer wieder aufstieg – war das etwa eine Ahnung? Wäre dieser Fall nicht der Gipfelpunkt des Unglücks – was Anderes blieb ihr dann übrig als – sterben?
Ein Klopfen an der Thüre:
»Eva – Klein-Eva!«
Seine Stimme! Sie fliegt zur Thüre und öffnet sie. Mit einem Jubelruf schlingt sie dem Eintretenden die Arme um den Hals, gleitet aber an seiner Seite schluchzend zu Boden.
Er bückte sich und hob sie auf.
»Was ist Dir, was hast Du?« fragte er erschrocken.
Sie aber konnte nicht reden. Ihre Brust wogte, ihr Athem flog und ein krampfhaftes Weinen verschlug ihr die Stimme.
Ralph stützte ihre bebende Gestalt mit seinen Armen, sprach tröstend und liebkosend auf sie ein, immer wieder fragend:
»Was hast Du? Was ist Dir für ein Leid geschehen?«
Eva weinte jedoch nicht aus Leid und Kummer. Was sie – nach all der in den letzten Stunden durchgemachten Seelenerregung – so heftig erschütterte, das war die Freude, ihn da zu haben, den sie liebte, an seiner Seite sicher zu sein vor den drohenden Schrecken und Gefahren. Und so war das Erste, als sie wieder sprechen konnte, das Erste und Einzige, was sie ihm sagte:
»Mein König, mein König! … Ich liebe Dich – mein Theurer – o, wie ich Dich liebe!«
Was konnte er nun Anderes thun, als sie in seine Arme schließen, sie fest an sein Herz drücken und auf ihre widerstandslosen Lippen den von Beiden so lang ersehnten Kuß pressen?
Jetzt weinte sie nicht mehr; aber sprechen konnte sie noch immer nicht; auch er hatte aufgehört, Fragen an sie zu stellen Alles, was dieser erste Kuß sagte und fragte, das konnte nur durch einen zweiten erläutert und beantwortet werden. So blieben sie, die Arme verschlungen, Mund an Mund, ein paar selige Minuten, die Welt herum in nichts versunken, als eine Stimme sie aus ihrem Himmel riß:
»Also so stehen die Dinge?« Es war Robert, der vor einigen Augenblicken eingetreten, ohne von den Beiden gehört worden zu sein.
Ralph und Eva fuhren auseinander. Als Letztere aber sah, wer Zeuge dieser Liebesszene gewesen, floh sie wieder, Schutz suchend, an Ralphs Seite zurück. Er legte den Arm um ihre Schulter.
Robert kreuzte die Arme:
»Also so stehen die Dinge?« wiederholte er. »Mein Vater und meine Frau —«
»Ich bin Dein Vater nicht – und diese ist Deine rechtmäßige Frau nicht.«
Eva schmiegte sich noch fester an ihn. Robert trat einen Schritt vor.
»Ein Vater bist Du mir nie gewesen – das ist wahr … Immer schroff und kalt … ich habe zeitlebens nur Furcht vor Dir gehabt – mich vor Dir immer klein gefühlt … Aber jetzt, gottlob, ist‘s mit dem Respekt vorbei – Du stehst vor mir – der gemeinste Verbrecher.«
»Schweig!«
»Nein – ich rede. Und Du, infames Geschöpf, das in fader Ziererei dem Gatten die Thür verschließt, um den blutschänderischen Buhlen einzulassen, – glaubst Du, daß Du Deiner Strafe entgehen wirst. Du niederträchtige …« Er faßte sie am Arme.
Aber Ralph stieß ihn mit aller Kraft zurück. Dann, mit Blitzesschnelle riß er die Thür auf, in deren Nähe sie standen, schob Eva mit einem Ruck hinaus und drehte hinter ihr den Schlüssel im Schlosse um. Sie fiel draußen auf den Teppich nieder. Jetzt waren die beiden Männer – Todfeinde – allein hinter jener Thür … es war ihr, als vernähme sie ein Ringen. – Sie wollte hinhorchen, aber ihr Bewußtsein schwand.
XIX
Als Eva wieder zu sich kam, lag sie angekleidet auf ihrem Bette. An der Seite desselben standen Fräulein Ottilie und Netti, die Kammerjungfer. Nach einigen Sekunden erwachte in ihrem Geiste die Erinnerung an das Geschehene. Doch sie zitterte, eine Frage zu stellen über das, was seit dem Augenblick vorgefallen, da sie auf den Teppich des Nebenzimmers ohnmächtig hingesunken war.
Fräulein von Otterfeld und Netti hatten bemerkt, daß Eva die Augen geöffnet, und ungefragt gaben sie Auskunft. Aus dem, was sie sagten, ging hervor, daß vor fünf Minuten Graf Ralph die Jungfer gerufen hatte, um mit ihrer Hilfe die ohnmächtige Eva auf ihr Bett zubringen. Dann habe der Graf Ottilie bitten lassen, und jetzt sei er fortgegangen, Doktor Söller zu holen. Nunmehr wußte Eva, was seit dem Augenblick geschehen, da man sie in ihrer Ohnmacht gefunden hatte – aber wie lange sie in diesem Zustand gelegen, was unterdessen zwischen den beiden Männern sich abgespielt – das wußte sie noch nicht.
Ralph und Doktor Söller traten herein.
»Ah!« rief Siebeck, »sie ist zu sich gekommen … Wie ist Dir, Kind?«
Sie nickte nur.
Der Doktor beugte sich über sie.
»Die junge Gräfin ist sehr angegriffen,« sagte er. »Sie hat einen heftigen Schreck erlitten. Was sie jetzt braucht, ist die allergrößte Ruh. Kein Reden, keine Fragen … ich werde ihr eine opiumhaltige Arznei geben, – sie muß schlafen. Etwaige Explikationen müssen auf morgen bleiben.«
Eva fügte sich diesem Gebot. Da sie Ralph gesehen, war sie beruhigt; um Robert wollte sie gar nicht fragen.
Die beiden Männer entfernten sich wieder. Auch Ottilie, da die Speiseglocke erschallte (trotz aller Dramen geht die Haushaltsmaschine ihren Gang), verließ das Zimmer. Netti entkleidete ihre Herrin und brachte sie zu Bette. Doktor Söller schickte die aus seiner Hausapotheke bereitete Medizin, und dieselbe bewirkte, daß die junge Frau, nachdem sie noch einen Teller Suppe genommen, sehr bald in einen tiefen, wohlthätigen Schlaf verfiel – so fest, daß sie nicht einmal hörte, wie Ottilie zurückkam und (auf Ralphs Wunsch) ihr Nachtlager auf dem Divan aufschlug.
Am folgenden Morgen – Eva war vollkommen gesund erwacht und jetzt schon seit einer Stunde aufgestanden – ließ sich Ralph bei ihr melden. Ottilie, welche mit der jungen Frau gefrühstückt hatte, saß noch immer da. Von dieser hatte Eva über die Ereignisse des gestrigen Abends nicht viel erfahren; denn sie wußte selber nichts. An dem Diner hatten sämmtliche Hausgenossen theilgenommen … aber Vater und Sohn hatten beinahe gar nichts gegessen und Keiner ein Wort gesprochen. Nach dem Diner war sie gleich wieder in Evas Zimmer gekommen – daß irgend ein Verdruß stattgefunden haben mußte, war klar – sie hatte aber keine Idee, worüber …
»Wie ich gehört, bist Du vollkommen hergestellt,« sagte Ralph. »Das freut mich. Freut mich um so mehr«, fügte er hinzu, »als die Ausführung meines Planes keinen Aufschub zu erleiden braucht.«
Eva blickte überrascht auf. In Ralphs Ton lag eine große Entschiedenheit und – wie ihr schien – eine unerklärliche Kälte. Hatte sie denn nur geträumt, daß sie ihm gestern ans Herz gesunken, und daß er ihr mit ungezählten Küssen deutlich gesagt, daß sie sein Alles sei?
»Mein Plan ist nämlich dieser,« fuhr er fort: »Wir fahren mit dem nächsten Zug nach Wien.« Eisig und heiß zugleich überlief sie ein süßer Schreck. »Wir – das heißt Du, Ottilie, Deine Kammerjungfer, Doktor Söller und ich. Deine Tante Rosa Koloman ist gegenwärtig in Wien, sagtest Du mir neulich?«
»Ja,« antwortete Eva. »Ich soll doch nicht? …«
»Der nächste Zug geht um 11 Uhr; Du hast gerade noch Zeit, Deine Vorbereitungen zu treffen. Zum Erklären und Erörtern ist keine Zeit. Willst Du mir vertrauen? Rückhaltslos? … Ich habe Alles überlegt, glaube mir, und der Weg, auf den ich Dich weisen will, ist der beste – der einzige vielmehr – den wir einschlagen können.«
»Ich unterwerfe mich, König. – Was habe ich zu thun?«
»Deiner Kammerjungfer anzugeben, was sie – für einen mehrwöchentlichen Aufenthalt – von Deinen Sachen einzupacken hat. Daß sie Dich begleiten muß, habe ich mit ihr schon in Ordnung gebracht … Vergiß nicht, Deine Pretiosen und das Checkbuch mitzunehmen … Und von Dir, Ottilie, erbitte ich den Freundschaftsdienst, mit uns zu fahren. Du brauchst kein Gepäck, da Du heute Abend wieder nach Großstetten zurück kannst.«
Um ihr Leben gern hätte Eva ein paar Fragen gestellt, über den Zweck der bevorstehenden Reise, über den Verlauf des gestrigen Auftritts mit Robert; aber es lag etwas in Ralphs Gesichtsausdruck und in seiner ganzen Art, welches verrieth, daß er jede Erklärung vermeiden wollte, daß es ihm unerwünscht – und wohl auch unnütz wäre, wenn sie ihn ausforschte. Was er verlangte, war Vertrauen, rückhaltloses Vertrauen, und das konnte sie ihm nicht besser zeigen, als indem sie jede Frage zurückdrängte und einfach seinem Wink sich fügte.
Ottilie stand auf.
»Gern will ich Dir diese kleine Gefälligkeit erweisen, Ralph —« sagte sie; »ich will jetzt gehen, mich bereit machen.«
Wieder fühlte Eva eine Beklemmung, einen heftigeren Herzschlag; sie würde mit Ralph allein bleiben. Aber das traf nicht zu. Er ging mit Ottilie sogleich zur Thür. Im Vorübergehen zog er an der Glockenschnur.
»In einer Stunde wird angespannt sein, Eva!« sagt er noch auf der Schwelle, wo er sich mit der eintretenden Netti kreuzte.
Eva gab die nöthigen Befehle und machte sich reisefertig. Auch dafür sorgte sie, daß Nero einer liebevollen Pflege übergeben werde.
Die bevorstehende Abfahrt war ihr eigentlich willkommen; galt es doch »fort von Robert«. Das Benehmen Ralphs blieb ihr zwar unerklärlich; aber dessen konnte sie ja sicher sein: was er verfügte, das war das Beste, »vielmehr das Einzige«, was zu thun erübrigte.
Man fuhr in zwei Wagen zur Bahn. In dem einen Ottilie, Eva und die Kammerjungfer; im andern Ralph mit Doktor Söller.
An der Station besorgte Ralph die Plätze. er half den zwei Damen in ein Kupee erster Klasse, stieg aber selber mit Doktor Söller in einen anderen Wagen. Offenbar: er vermied die Gelegenheit, mit Eva zu sprechen. In Wien wurden gleichfalls zwei Fiaker genommen, um nahe dem Hotel Munsch zu fahren. Hier führte Ralph Eva und Ottilie bis zu ihrem Zimmer; er trat jedoch nicht ein.
»Also in der Jägerzeil Nummer 25 wohnt Deine Tante Koloman?« fragte er vor der Thür.
»Ja, im zweiten Stock.«
»Ich bitte Euch, einstweilen hier zu bleiben, bis ich komme.« Und er entfernte sich.
Das Zimmer, welches den Damen angewiesen worden, war dasselbe, welches Eva während ihres letzten Aufenthaltes inne gehabt. Welche Erinnerungen! Sie setzte sich in den Lehnsessel, neben dem König dazumal ihr zu Füßen gekniet, und jener ganze Auftritt stieg vor ihrem Gedächtnis auf.
Fräulein Ottilie indessen, welche keinen solchen Reminiszenzen sich hingeben konnte, und welcher diese sämmtlichen geheimnißvollen Vorgänge schon unheimlich zu werden begannen, machte jetzt ihrem Mißmuth Luft. Sie warf Hut und Mantel ab und setzte sich Eva gegenüber.
»Ich möchte doch gern wissen, wer eigentlich gestern in Großstetten verrückt geworden ist – Dein Schwiegervater, Dein Mann oder Du? Ohnmacht, Nachtwachen, Schweigen, Geheimthuerei, trübe Gesichter, starre Blicke – was soll das alles heißen? Vermuthlich hast Du mit Robert Streit gehabt – und ich glaube, Ralph ist auf Dich böse und will Dich zu Deiner Tante Rosa zurückschicken … Wäre es nicht das Einfachste, Du schriebst Deinem Mann – und bittest ihn um Verzeihung? Es ist nicht leicht, mit ihm zu leben, das gebe ich zu … er hat mich immer – schon als kleiner Bub – furchtbar sekkirt – aber schließlich: er ist doch Dein Mann – das Nachgeben und Dulden ist an der Frau. Findest Du nicht auch?«
»Was?« Eva hatte nichts gehört.
Es verging eine Stunde. Da wurden zwei Briefe überbracht, der eine an Ottilie, der andere an Eva. Beide von Ralph. Was konnte er nur schreiben? Mit Bangen zerriß Eva den Umschlag und las:
»Bis hierher, Evinka, hast Du Dich fraglos meinem Willen gefügt – ich danke Dir dafür. Du mußt in dieser Richtung noch einige Zeit ausharren – ich bitte Dich darum.
Ich bin bei Deiner Tante Rosa gewesen. Ich habe ihr gesagt, was ich zu sagen für nothwendig fand, und darauf hin bietet sie Dir Aufnahme in ihrem Hause. Sie wird mit Dir über die Angelegenheit, die Deiner Abfahrt von Großstetten zu Grunde liegt, nicht sprechen – bewahre Du das gleiche Schweigen. Gräfin Koloman beabsichtigt, nächster Tage von Wien abzureisen. Du begleitest sie, natürlich. Daß ich nicht persönlich von Dir mich verabschiede – dafür habe ich meine Gründe. In einer halben Stunde wird Deine Tante selber zu Munsch kommen, Dich abzuholen. Deine Jungfer nimm mit. Ottilie, der ich gleichzeitig schreibe, wird, wie verabredet, wieder zurückfahren. Schreibe mir nicht. Schreibe Niemandem nach Großstetten.
Geduld und Vertrauen!
Ralph Siebeck.«
Eva hatte den Brief kaum gelesen und wieder gelesen, als der Kellner die Thür öffnete, um eine Dame einzulassen:
»Tante Rosa!«
»Ja, ich – liebes Herz. Ich komme, Dich abzuholen. Mein Wagen steht unten. Du weißt doch —«
»Ich weiß Alles – oder vielmehr, ich weiß nichts.« Dann, sich an Fräulein Otterfeld wendend: »Liebe Ottilie, eine Verwandte —« stellte sie in Parenthese vor – »ich gehe auf einige Zeit zu meiner Tante – Gräfin Koloman – und Du? —«
»Ich? Ich habe die Weisung erhalten —« sie zeigte auf den in ihren Händen befindlichen Brief – »wenn Du fort bist, die Hotelrechnung – die nicht bedeutend sein wird, da wir nicht einmal ein Glas Wasser genommen – in Ordnung zu bringen und dann wieder nach Haus zu reisen. Eine hübsche Vergnügungsfahrt, das muß man sagen.«
»Liebe Tante,« sagte Eva, »ich bin bereit.« Sie hatte den Wunsch, die erhaltenen Weisungen so widerstandslos und so schnell als möglich auszuführen. »Adieu, Ottilie. Habe auch die Güte, zu besorgen, daß Netti – mit dem Gepäck – mir nachfolge. Hier die Adresse meiner Tante.« Sie schrieb dieselbe auf einen Zettel. »So, und jetzt laß uns gehen, Tante Rosa.«
Als die beiden Frauen im Wagen saßen:
»Ich bitte Dich, Eva,« begann die alte Gräfin, »frage mich nicht aus. Ich habe Deinem Schwiegervater versprechen müssen, daß ich—«
»Sei ganz ruhig, ich werde keinerlei Frage stellen – erbitte mir aber ein Gleiches von Dir.«
»Das wird schon schwerer sein, denn ich bin sehr neugierig, manches zu erfahren; aber auch das habe ich versprochen – ich werde Dich nicht ausforschen. Ein sonderbares Schicksal, das Deine … Aber sprechen wir nicht davon, reden wir lieber von etwas Anderem. —«
»Wenn Du gestattest, Tante, reden wir vorläufig gar nicht. Ich fühle etwas, das mir die Kehle zuschnürt – wenn Du nicht willst, daß ich in Thränen ausbreche, so laß uns schweigen.«
»Wie Du willst, liebes Kind. Ich begreife und respektire Deinen Kummer.«
Eva erhielt dasselbe Zimmer, in welchem sie als Mädchen gewohnt, dasselbe, in welchem sie – vor einigen Monaten erst – ihre Hochzeitskleider angelegt. Wie ein Traum lag es hinter ihr, daß sie in diesen Räumen die Brautzeit zugebracht, von der Zukunft so Wunderbares und Frohes erwartend; und noch traumhafter jene sogenannten Flitterwochen, jener Aufenthalt in Italien und die erste Ankunft in Großstetten – das Kennenlernen so viel neuer Dinge der Außenwelt und das allmälige Kennenlernen des eigenen Gatten, die erst langsam, dann immer schneller gewonnene Einsicht, daß sie »unglücklich verheirathet« sei. Traum auch das dämmernde Verlieben in Ralph – die mit dem eigenen Herzen bestandenen Kämpfe; – Traum Dornegg und seine Einwohner. – Das einzig Wirkliche, Gegenwärtige mit vollem Bewußtsein Empfundene, das war ihre seit gestern zu verzehrender Flamme aufgeloderte Liebe. Und jetzt war sie aus dieser leidenschaftlich erfaßten Wirklichkeit wieder in eine Art unverständlicher Traumexistenz zurückgeworfen; denn was bedeutete diese von Ralph veranstaltete Trennung, sein ganzes geheimnißvolles Planen und Vorgehen, sein Vermeiden einer gegenseitigen Aussprache? Das Beste war, sich jetzt darüber nicht den Kopf zermartern: »Geduld und Vertrauen,« das war ja alles, was er von ihr verlangte, und wenn auch die Geduld etwas schwer war, das Vertrauen war leicht. Eine Hauptsache ergab sich doch als Gewinn – nämlich die Trennung von Robert. Hier war sie aus seinem Bereich; sicherlich hatte Ralph ihre Tante unterrichtet, daß die unselige Ehe getrennt werden müsse. Wenigstens ging aus dem Benehmen der alten Gräfin hervor, daß sie eine Weisung erhalten und nach derselben sich richtete.
Noch am selben Abend eröffnete Gräfin Koloman ihrer Nichte, daß sie in zwei oder drei Tagen – sobald die nöthigsten Vorbereitungen und Einkäufe erledigt sein würden – von Wien abreisen wolle.
»Du kommst natürlich mit,« beschloß sie diese Mittheilung.
»Natürlich,« erwiderte Eva.
»Die Hauptsache ist, daß Dein Mann nicht wisse, wohin wir uns begeben.«
»So ist es. – Und wohin begeben wir uns?«
»Nach Nizza. Es ist zwar noch nicht die Jahreszeit für die Riviera – aber desto besser…wir werden desto billiger und ungenirter leben. Ich habe schon lange die Sehnsucht, jene Gegenden kennen zu lernen, und einmal in Monte Carlo mein Glück bei der Roulette zu versuchen. Mir ist diese Gelegenheit sehr willkommen. Morgen also heißt es, die nöthigsten Reisesachen einkaufen, um so schnell als möglich abfahren zu können. Dein Schwiegervater sagte mir, Du seist genügend mit Geld versorgt.«
»In der That, ja. Brauchst Du etwas?« »Für mich nicht. Aber die Kosten der Reise und des Aufenthalts für Dich und Deine Jungfer, die übernimmst Du?«
»Selbstverständlich.«
»Sag‘ mir, Eva,« fragte die Gräfin unvermittelt, »bist Du sehr unglücklich?«
Die junge Frau schüttelte verneinend den Kopf.
»Jetzt nicht.« sagte sie.
Und in der That, sie fühlte sich nicht unglücklich. In ihrem Innern ruhte das Bewußtsein einer großen Bereicherung. Ihr war zu Muthe, wie Einem, der eben einen Treffer gemacht, dessen Betrag ihm zwar noch nicht ausgezahlt, aber zugesichert ist. Dieser freudige Besitz bestand in ihrer seit gestern zu so unbestrittener Herrschaft gelangten Liebe. Sie brauchte nur die Augen schließen und an jenen Augenblick zurückdenken, wo sie von Ralphs Lippen den ersten seelenaustauschenden Kuß erhalten, und ein unsäglich seliges Gefühl schwellte ihr Herz. Ein Gefühl, wie sie es im Leben nicht nur nie gekannt, sondern nie geahnt hatte, gegen welches ihre einstige Schwärmerei für Robert verschwand, wie ein Nachtlämpchen vor einem Sonnenstrahl, Das Schwelgen in dieser Erinnerung, das Untertauchen, sozusagen, in die Fluth der eigenen überströmenden Zärtlichkeit, das genügte, die Gegenwart auszufüllen – und für die Zukunft? Je nun, da hieß die Losung: Geduld und Vertrauen.
Zwei Tage später fand die Abreise statt. Das Reiseziel war Nizza, doch wurde auf einigen Zwischenstationen in Venedig, Mailand, Genua – Aufenthalt genommen. Die Gräfin Koloman benutzte diese mehrtägigen Reiseunterbrechungen zu gewissenhafter, vom »Bädecker« geleiteten Erledigung aller sogenannten Sehenswürdigkeiten, und ließ sich dabei von Eva begleiten, welche mit der größten Gleichgiltigkeit Alles that und Alles unterließ, wie es von ihr gefordert ward. Ihre Gedanken, ihr ganzer Sinn war so sehr mit dem Bilde Ralphs gefüllt, daß sie für die ganze Außenwelt theilnamslos blieb. Sie durchschritt die Museen und die Kirchen, sie setzte sich an die Table d‘hôte, sie ging ins Theater, sie schaute in die am Waggonfenster vorbeieilenden Gegenden, sie sprach mit der Tante und mit Fremden von allerlei Dingen – doch ihre Seele war nicht dabei.
XX
Etwas mehr als drei Monate waren vergangen.
Eva hatte verstanden: es war Alles vorbei!
Die ganzen drei Monate keine Nachricht, kein Lebenszeichen – allmälig war ihr die Vermuthung. und jetzt schon die Sicherheit gekommen: was Ralph bezweckt und erreicht hatte, war – Losreißung.
So wie damals, als er ohne Abschied davongefahren, um weit fort zu fliehen – von den Gefahren einer verderbendrohenden Liebe weg – so hatte er auch jetzt dasselbe Mittel angewendet: Entfernung, Trennung. Zugleich, indem er sie in die Hut der Tante gegeben, hatte er sie von der verhaßten Nähe Roberts befreit und von seiner eigenen geliebten Nähe bewahrt. Und damit diese Verfügung ihr nicht zu weh thue, damit sie nicht etwa in thörichter Leidenschaft sich widersetze, hatte er vermieden, ihr einen plötzlichen Abschiedsschmerz zu bereiten, und Alles so geheimnißvoll eingeleitet … Sollte sie ihm einmal den Vorwurf machen, daß er sie mit den Worten »Geduld und Vertrauen« fälschlich vertröstet, so konnte er sich dahin rechtfertigen, daß er ihres Vertrauens nicht besser sich würdig zeigen konnte, als indem er ihre Frauenehre vor der Klippe bewahrte, welche ihre beiderseitige Liebe ja war… Wie war das Alles so zart, so charakterfest, so – grausam!
Mit letzterem Worte schloß Eva diese Kette von Muthmaßungen ab. Grausam – denn sie litt unsäglich. Diese langsam ersterbende, diese jetzt erstorbene Hoffnung, den Einziggeliebten wiederzusehen – die zerriß ihr das Herz. Von Tag zu Tag war sie stiller, teilnahmsloser, trauriger geworden. Ihre Wangen verloren die blühende Frische, ihr Blick wurde trüber, ihr Gang müde und schleppend; ein nervöses Hüsteln befiel sie; alle Eßlust war verschwunden, die Nächte brachten nur unruhigen und ungenügenden Schlaf. In der Einsamkeit ihres Zimmers gab sie sich oft der Genugthuung hin, zu weinen – bitterlich und lang zu weinen. Wenn sie mit ihrer Tante oder unter fremden Leuten war, so verbarg sie ihren Kummer; dieser war das Einzige, was sie noch mit dem Gegenstände ihrer Liebe verband, und war ihr ein Heiligthum, das sie eifersüchtig vor jedem profanirenden Mitwisser hütete. Dennoch konnte der Gräfin Koloman die gedrückte Stimmung und die abnehmende Gesundheit ihrer Nichte nicht entgehen. Da sie jedoch eine ziemlich kalte und selbstsüchtige Natur war, so nahm sie sich Evas Zustand nicht weiter zu Herzen; sie gab sich keine Mühe, die Ursache dieser Melancholie zu ergründen und vermied es auch, dem Grafen Siebeck darüber zu schreiben; denn ihr war die Existenz an der Riviera unter den gegebenen Verhältnissen eine sehr angenehme, und es wäre ihr im höchsten Grad unlieb gewesen, dieselbe abgebrochen zu sehen. Die von Eva beigesteuerten Beträge genügten reichlich, um die sämmtlichen Kosten des Aufenthalts zu decken und diesen auf das Bequemste zu gestalten.
Zwei oder dreimal wöchentlich ward ein Wagen genommen, mit welchem Gräfin Koloman mit oder ohne Eva nach Monte Carlo fuhr, wo sie nach einem selbst erfundenen »System« an der Roulette spielte, was ihr ein ungeheures Vergnügen und nebenbei die Hoffnung gewährte, nach Verlauf von weiteren drei Monaten ein kleines Vermögen gewonnen zu haben. Bis jetzt waren die Gewinnsthoffnungen freilich immer gescheitert; aber da war das »System« noch nicht so ausgebildet gewesen, es hatte da und dort noch Lücken aufgewiesen, jetzt aber war es zu unfehlbarer Vollkommenheit gediehen.
Die beiden Frauen hatten nur wenig Bekanntschaften gemacht. Eva war so gar nicht gesellig aufgelegt und auch Gräfin Koloman – so gern sie in ihrer Heimath in die Welt ging – war gegen die in Nizza und Monaco weilenden Fremden mißtrauisch, und die Vergnügungen der Theater, der Promenaden und namentlich des Spielsaales, genügten ihr so ausreichend, daß sie nach Anderem kein Verlangen mehr trug. Mit Ausnahme einiger englischer Familien verkehrten die Beiden mit Niemand.
Jetzt – zu Anfang Jänner – war die Saison auf ihrer Höhe. Aus aller Herren Länder kamen die Wintergäste herbei. Auch zwei oder drei Oesterreicher, welche die Gräfin Koloman kannten, befanden sich darunter, doch wurde auch mit diesen kein lebhafter Verkehr angeknüpft. Gern hätte Eva einmal von dem einen oder dem andern vernommen, was die beiden Grafen Siebeck machten, aber darüber wußte zufällig keiner Bescheid. Daß Ralph gar nichts hatte von sich hören lassen, das war ihr begreiflich. Diese Verstummung, dieses Verschwinden aus ihrem Gesichtskreise lag ja – wie sie zu durchschauen glaubte – in seinem vorgefaßten Verhaltungsplan. Daß aber Robert so gänzlich verschollen war, daß er nicht schrieb, nicht trachtete, sie aufzufinden, um sie – wenn nichts Anderes – seinen Groll fühlen zu lassen, das wunderte sie. Wie gern hätte sie an Ottilie geschrieben, um Nachricht einzuholen, – aber König hatte ihr verboten, nach Hause zu schreiben, und sich seinem Gebote blind zu fügen, gewährte ihr Genugthuung. Sie empfand diesen Gehorsam als etwas, wodurch sie mit dem Entfernten noch gleichsam verbunden war, wodurch auch ihm noch ihr gegenüber Pflichten erwuchsen. Würde sie entgegenhandeln, so könnte dadurch das letzte Band zerrissen sein. Daß auch ihr Niemand aus der Heimath schrieb – weder Ottilie, noch Irene, noch Härtung, noch die Knaben – das geschah wohl gleichfalls auf Ralphs Geheiß, oder es war ihnen Allen ihr Aufenthaltsort verborgen geblieben.
»Kommst Du mit? Heute fahre ich wieder nach Monte Carlo,« sagte eines Vormittags Gräfin Koloman.
»Nein, Tante, ich danke … Mir ist gar nicht wohl – ich bleibe lieber zu Hause.«
»Wie Du willst. Aber Du solltest wirklich einen Doktor fragen – Du bist so blaß und einsilbig. Ich denke, der Arzt würde Dir Zerstreuung verordnen, und da wäre die Fahrt nach Monte Carlo nur zu empfehlen. Dort sieht man so viel, was fesselt und was amüsirt: die vielen Leute, das Spiel, der herrliche Park… Abends könnten wir in die Oper gehen – die Devries singt im Rigoletto – geh, komm mit!«
Eva schüttelte langsam den Kopf.
»Nein —!« sagte sie gedehnt und müde.
»Dann sage ich Dir Adieu. Aber bleib‘ ja nicht den ganzen Tag allein zu Hause. Geh‘ aus die promenade des Anglais zur Musik und besuche Lady Folkton, bei der ist heute große Lawn-tennis-Partie.«
Doch von diesen Verordnungen wollte Eva keine befolgen. An diesem Tage war sie weniger denn je zur Geselligkeit aufgelegt. In der vergangenen Nacht hatte sie sich wieder einmal in den Schlaf geweint, und am Morgen, als sie abermals einen Hustenanfall gehabt, erlebte sie einen großen Schreck: das zu den Lippen geführte Taschentuch hatte sich roth gefärbt.
Blutspucken! … In den Augen der meisten Leute gilt diese Erscheinung als Todesurtheil. Und so faßte Eva es auch auf. Erst vor Kurzem war im selben Hotel ein junger Russe von 21 Jahren – auch ein Bluthustender – gestorben. Sie hatte ihn oft in seinem Rollwägelchen auf der Promenade gesehen; und als sie neulich unter der Hoteleinfahrt seinem Leichenzug begegnete, war sie demselben nach dem Friedhof gefolgt. Dort las sie die Inschriften der Grabsteine. Es war entsetzlich, wie viel junge Menschen von 15 bis 25 Jahren da ihren ewigen Schlaf schliefen. Wohl lauter Brustkranke – gewiß hatten sie alle gehustet und Blut gespuckt … Sollte es auch ihr Loos sein, auf dem fremden Erdwinkel so jung hinzusterben, unbetrauert – ohne daß eine liebende Hand ihr die Augen zugedrückt? …
Das waren ungefähr die Gedanken, welche Evas Sinn erfüllten, als die zur Fahrt gerüstete Tante ihr auftrug, zu einer Partie Lawn-Tennis zu eilen. Uebrigens war es Eva lieb, daß die alte Dame sich den ganzen Tag entfernte, denn nach Ruhe, nach Einsamkeit hatte sie besondere Sehnsucht. Sie fühlte, daß sie über Vieles nachdenken müsse, daß sie einen Entschluß fassen werde. Welchen? – das wußte sie nicht, aber etwas mußte sie ausführen. Das empfangene Todesurtheil gab ihr – wie jedem Verurtheilten – das Anrecht auf irgend etwas Außergewöhnliches, auf etwas dem sogenannten »Henkermahle« Gleichkommendes.
Nachdem die Gräfin Koloman davongefahren, zog sich Eva auf ihr Zimmer zurück. Sie warf sich in einen Lehnsessel, und regungslos, mit geschlossenen Augen, den Kopf zurückgelegt, blieb sie lange, lange in Gedanken vertieft. Ihre ganze Vergangenheit ließ sie an sich vorüberziehen, und auch in die Zukunft wandte sie den inneren Blick. Was sie da sah, das war – auf dem Friedhof von Nizza – in der Nähe des kürzlich begrabenen Russen – von Palmen beschattet – ein Kreuz mit der Inschrift:
Eva Siebeck,
geb. 1863, gest. 1887,
Und über das Kreuz gebeugt, die hohe, die edle Gestalt Desjenigen, den die da unten Ruhende so sehr geliebt, so sehr, daß sie daran gestorben war.
Mit einem tiefgeholten Seufzer fuhr die junge Frau aus diesen düsteren Träumereien empor, und ihr Entschluß war gefaßt: ohne Abschied werde sie nicht von hinnen gehen. Sie holte ihr Reiseschreibzeug herbei, legte es auf dem Sophatisch zurecht, setzte sich hin und ohne Zaudern, mit fliegender Feder, warf sie folgende Zeilen auf das Briefblatt:
»Mein König – komm! Ich muß Dich noch einmal sehen – noch einmal Deine Stimme hören, eh‘ sie mich begraben. Nimmermehr hatte ich Dir geschrieben, denn Dein Geheiß lautete: »Schreibe, nicht«; nimmermehr hätte ich Dich gerufen, da Du unsere Trennung gewollt … aber der Tod hebt Alles auf – den Gehorsam, den Stolz, Alles – nur die Liebe nicht. »Geduld« befahlst Du mir – dabei hattest Du die Zeit im Sinn. Wenn noch lange Monate, Jahre vergingen, vielleicht, würde ich – wie Du es zu meinem Wohl geplant – zu voller Ruhe gelangen; aber ich habe keine Zeit vor mir. Daher kündige ich Dir die Geduld. Das »Vertrauen« aber – das habe ich Dir redlich entgegengebracht; keinen Augenblick hat mich die Gewißheit verlassen, daß das von Dir Gewollte das Beste und Weiseste war, daß Du es im Hinblick auf meinen Gewissensfrieden, auf meine Ehre, auf meine Zukunft gewollt. Doch da glaubtest Du eben irrthümlich, daß ich eine Zukunft habe. So fest und stark lebt dieses Vertrauen auch jetzt in mir, daß ich keinen Augenblick zweifle, dieser mein Ruf werde genügen, um Dich, ohne Verlust eines Tages, an meine Seite zu bringen. Noch bin ich nicht auf dem Todtenbett – aber ich bin von einer unheilbaren Krankheit – einer Brustkrankheit – erfaßt. Vielleicht liegen noch Wochen, vielleicht noch ein Vierteljahr des Lebens vor mir – desto besser: dann werde ich in Deiner Nähe noch einen Himmel gekostet haben, der tausend Erdenleben aufwiegt. Mein König, komm!«
Sie faltete das Blatt, schloß und überschrieb den Umschlag. Dann nahm sie Hut und Jacke und trug den Brief selber zu einem in der Nebenstraße befindlichen Postkasten.
Es war geschehen … der kleine Lärm des hinabgleitenden Papieres und zufallenden Spaltdeckels durchzuckte Eva mit einem eigenthümlichen Schreck – »es war geschehen« – nicht mehr rückgängig zu machen – die Folgen dieser That würden ihren Lauf nehmen … in vier bis fünf Tagen konnte Ralph angekommen sein. Der Gedanke hatte etwas so überwältigend Beglückendes, daß sie momentan ihr ganzes Elendsein vergaß. Ihr war so aufgeregt, so gehoben zu Muthe, daß sie wahrlich beinahe Lust hatte, zur Lady Folkton lawn-tennis spielen oder auf die »Promenade des Anglais« zur Musik zu gehen. Sie wollte jetzt nicht weiter nachdenken über das, was sie gethan; den gemengten Empfindungen von Freude und von Gewissensbiß, die sie bestürmten, wollte sie nicht Audienz geben. Besonders an das Sterben wollte sie nicht denken … und der Umstand, daß sie zum Sterben verurtheilt war, bildete ja die einzige Rechtfertigung des Schrittes, den sie gewagt. Im Straßenkostüm war sie, zur Engländer-Esplanade lagen nur hundert Meter Weges: »Gehen wir,« sagte sie mit beinahe lauter Stimme – und zwei Minuten später saß sie auf einer Bank des mit unzähligen Spaziergängern belebten Strandes. Auch Rollwägelchen waren da wieder zu sehen, mit zu Tode verurtheilten Schwindsüchtigen; der Anblick reizte Eva zum Husten, aber sonderbar: sie konnte sich jetzt nicht krank fühlen, ein eigenthümliches Gefühl von Daseinskraft hatte sie überkommen.
Das Orchester spielte das Schifferlied aus der Stummen von Portici. Das erinnerte sie an jenen Abend, wo sie mit Doktor Hartung – nach der Kahnfahrt – Barcarolen, »nichts als Barcarolen« gespielt … O, wie schön wäre es doch, zu leben und zu lieben – leben zu können, lieben zu dürfen.
Plötzlich, aus einer Gruppe von Damen und Herren, stürzte eine in Peluche gehüllte Frauengestalt auf die Bank zu:
»Ach – chère!«
»Ah – Liuba!«
Wie ein Blitzschlag, so unerwartet und auch so erschütternd, war für Eva diese Begegnung. Dornegg – und damit Großstetten nahe gebracht – was würde sie nun Alles erfahren! Das Herz schlug ihr in raschen Schlägen und, als wäre sie von Schwindel erfaßt, so tanzte vor ihren Augen die Umgebung. Sie konnte sich nicht länger auf den Füßen erhalten und ließ sich auf ihren Sitz zurücksinken, von welchem sie bei Liubas Heraneilen aufgesprungen war.
»Ach, wie ich froh! Erlaube, ich setze mich zur Seite von Dir … Aber wie Du blaß! Bist Du krank? – Bist Du in Nizza wirklich, um Dich zu behandeln?«
Diese Auffassung war Eva willkommen und stimmte zu ihrem Seelenzustand.
»Ja,« antwortete sie – »ich huste sehr stark – und da ist das hiesige Klima —«
»O, wie denn – vortrefflich!«
»Und Du? Was bringt Dich hierher? Gedenkst Du längere Zeit zu bleiben?«
»Nein, nein, nur de passage … Ich werde den Winter zubringen in Petersburg (sie sprach »Ptesbur«) und komme von Paris. Achch, wie man sich amüsirt in Paris! In Ptesbur ist das Leben großartiger – wie denn – aber Paris ist die ville unique. Achch, wenn Du wüßtest, ich hatte einen so großen Kummer: mein Pedigro ist gestorben. Reden wir nicht davon …«
»Wie geht es Deinem Kleinen?«
»O, danke. Sergei Gugowitsch geht gut, er ist in Wien bei seinen Großeltern. Die gehen auch gut…«
Eva wagte nicht, um die Großstettner Neuigkeiten zu fragen; doch lauschte sie gierig Allem, was die Andere erzählte, hoffend, darin eine Anspielung auf jene Dinge und Personen zu vernehmen, von welchen sie so gern etwas erfahren hätte. Aber Liuba hielt eine zehn Minuten lange, beistrichlose Rede, in welcher sie von Paris nach Ptesbur flog – von den Dornegger Jagden zu der neuesten Rolle Coquelins, von dem aufgehenden Sterne Boulangers zu einem leichten Unwohlsein ihres Hündchens Darling; sie berichtete den Inhalt eines neuen Romans »Coeur amoureux«; sie versicherte, daß sie wegen der großen Unvorsichtigkeit, an einem Montag eine Reise angetreten zu haben, beinahe verunglückt wäre, von ihrem Schutzheiligen, ihrem lieben, goldenen Alexander Newsky jedoch wunderbar gerettet worden sei; sie bestätigte, daß der Schneider Worth von Felix und Laferrière weit überflügelt worden, und man sich eigentlich bei niemand Anderem anziehen könne als bei den zwei Letztgenannten (für Reitkleider und englische Kostümes jedoch bei Redfern); sie klagte, daß sie durch drei Monate verbrecherisch faul gewesen: keinen Pinsel und Meisel angerührt – in Ptesbur aber, wo sie in ihrem Palais ein bequemes Atelier habe, da würde wieder rastlos gearbeitet werden …
Und so weiter, und so weiter. Doch von dem, was Eva hören wollte – keine Silbe. Es mußte also doch eine Frage gewagt werden: »Und Großstetten? – Bist Du noch einmal dort gewesen seit meiner Abreise? Und mein Schwieg —«
»Ob ich in Großstetten war? Wie denn nicht? Zwei Tage, nachdem Du fort – – Niemand da … auch Dein Mann fort und Dein beau-père – Beide in Wien. Und mein Schwager Adolf – der hat einen Kopf gemacht. Er war ja ganz närrisch von Dir …«
Aus Liubas weiterem Geschnatter ging hervor, daß Evas Verschwinden in der Gegend große Verwunderung verursacht; denn obgleich Ottilie Otternfeld die Auskunft ertheilt, daß die junge Frau mit ihrer Tante Koloman gesundheitshalber nach dem Süden (es hieß nach Sizilien) gereist sei, so gab man sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden, sondern setzte Familienzwistigkeiten voraus, um so mehr, als sich Gerüchte verbreitet hatten von nachherigen heftigen Auftritten zwischen Vater und Sohn Siebeck. Wo diese Beiden sich gegenwärtig aufhielten, davon hatte Liuba keine Idee. Sie war nur kurze Zeit nach Evas Abreise selber von Oesterreich fort. Die Abwesenheit Ralphs, in den sie damals noch verliebt war, denn sie »kannte den Marquis de Forensac noch nicht, doch das vertraue ich Dir ein andermal« – diese Abwesenheit hatte ihr den Aufenthalt in Dornegg verleidet, und sie war, um sich zu zerstreuen, nach Paris gereist. Dort habe sie von den Siebecks weiter nichts mehr erfahren; denn auch Adolf, von welchem sie sonst Wiener Nachrichten hätte erhalten können, war seit längerer Zeit auf einer Orientreise begriffen – vermuthlich gleichfalls zur Zerstreuung unternommen —, um sich »die schöne Verschwundene« aus dem Kopf zu schlagen.
Und so wußte Eva eigentlich ebenso wenig wie zuvor. Statt Auskunft zu geben, machte sich Liuba nunmehr selber daran, Fragen zu stellen. Sie wollte erfahren, was die Ursache von Evas plötzlichem Verschwinden gewesen, und ob es wahr sei, daß ihr Mann sie geschlagen habe, und daß er an Säuferwahnsinns-Anfällen litt – und dergleichen mehr. Darauf antwortete Eva ausweichend, daß von alledem nichts der Wahrheit entspreche, und daß sie über die näheren Umstände ihrer gegenwärtigen Lage vorläufig schweigen müsse. Liuba beharrte nicht. Sie redete viel lieber selber, als sie Andere reden hörte, und das Schicksal Evas ging ihr auch weiter nicht zu Herzen. Sie glaubte zu durchschauen, daß es sich um eine beabsichtigte Scheidung handle, und da war es jedenfalls taktvoller, um die näheren Einzelheiten nicht zu forschen.
XXI
Fünf Tage später; Gräfin Liuba Dürenberg war wieder abgereist.
Jetzt pflegte Eva den ganzen Tag zu Hause zu bleiben. Weder wollte sie nach Monte Carlo fahren, noch in Nizza selber unter die Leute gehen; sie begleitete ihre Tante nicht einmal in den Speisesaal des Hotels, sondern ließ sich ihre Mahlzeiten – von welchen sie übrigens nur Sperlingsportionen aß – auf das Zimmer bringen.
Diese Lebensweise trug natürlich dazu bei, das Gefühl der Mattigkeit und des Unwohlbefindens, unter dem sie litt, zu verstärken. Und das war ihr eben recht. Sie sollte – sie mußte ja krank, sterbenskrank sein, um vor ihren eigenen Augen für den abgesandten Brief Entschuldigung zu finden. Der Husten hatte nachgelassen und das Blutsspucken sich nicht wiederholt – sollte sie am Ende gar von keinem tödtlichen Uebel befallen sein? Dieser Zweifel ergriff Eva mit einer Art Angst – denn wenn der Gerufene kam, in der Meinung, den letzten Wunsch einer Sterbenden zu erfüllen, und er fände die Rufende frisch und gesund – welche Schmach: Kam er hingegen gar nicht, dann war ihr das Leben schon vollends unerträglich; dann hätte sie so bald als möglich ins Grab sinken mögen – wäre es nur, damit der Theure sich trauernd über dasselbe neigte, wie sie das so oft in ihren düsteren Phantasten gesehen…
Fünf Tage seit der Absendung ihres Schreibens: – jetzt konnte Ralph jeden Augenblick kommen. Wenn ihn der Brief in Großstetten gefunden, und wenn er ohne Säumen abgereist, so mußte er heute noch in Nizza eintreffen. Freilich war der Fall auch nicht ausgeschlossen, daß Ralph eine seiner gewohnten Reisen unternommen; wer weiß, in welchem fernen Welttheil er eben weilte, wo ihr Brief – wenn überhaupt – ihn erst nach Wochen erreichen konnte?
Eva war ganz Erwartung. Sie konnte keinen anderen Gedanken fassen als: Kommt er, kommt er nicht? – An diesem Tage war Gräfin Koloman wieder nach Monaco gefahren. Zwar hatte das System sich neulich schlecht bewährt; aber seither war durch Anwendung sorgfältiger Rechnungen und Gleichungen die letzte verwundbare Stelle desselben weggeschafft; durch Hinzufügung einer neuen Kombination mit verbesserter Steigerungs-Skala war ein Verlust gar nicht mehr denkbar … Nur mußte man – damit der vorige Schaden hereingebracht werde – die Einsätze verdoppeln, und zu diesem Behufe war das gewisse Checkbuch von Neuem in Anspruch genommen worden. Eva zeigte sich solchem Ansinnen gegenüber um so willfähriger, als sie für die kurze Lebensfrist, die sie noch vor sich sah, die vorhandene Summe mehr als genügend fand.
In den Speisesaal pflegte sie nicht zu gehen, da in ihrer gegenwärtigen Stimmung der Anblick und die Nachbarschaft fremder Menschen ihr eine Qual war; aber in das Lesezimmer des Hotels verfügte sie sich dessen ungeachtet täglich. Es lag da die »Neue freie Presse« auf, und diese las sie regelmäßig durch, hoffend, unter den Lokalnachrichten einmal etwas über das Verbleiben der Grafen Siebeck zu erfahren.
So auch heute. Das Lesezimmer und der anstoßende Salon waren sehr gefüllt. Um das Pianino stand eine ganze englische Familie gruppirt, um einem ihrer Glieder zu lauschen, das den Walzer »Les gardes de la Reine« in Trauermarsch-Tempo vortrug. Ein paar sehr laut sprechende Polen gestikulirten in einer Fensternische: Vor dem Pfeilerspiegel oldnete ein auffallend gepudertes Dämchen ihre kupferblond gefärbten Stirnlocken; im Lesezimmer waren mehrere Personen mit Briefschreiben beschäftigt; andere saßen um die Tische und lasen Times und Figaro. In all diesem ausländischen Treiben, unter all den wildfremden Menschen, mit welchen sie durch keinerlei Interessen verbunden war, von denen sie nichts wußte, – ebenso wie Jene von ihr nichts wußten, – überkam Eva plötzlich ein namenloses Heimwehgefühl. Wie schön war es doch in Großstetten – die von ihr zuletzt bewohnte, so behaglich eingerichtete Zimmerreihe der Park, der Teich (»Barcarolen … nichts als Barcarolen«), die Bewohner des Dorfes, welche sie alle so ehrfurchtsvoll grüßten, die glänzende Nachbarschaft von Dornegg: welches Paradies müßte ein Großstetten sein, wenn sie dort als Herrin leben dürfte, an der Seite eines – Ralph. Solche seligen Geschicke giebt es hienieden auch – warum war ihr kein ähnliches zu Theil geworden? Warum hatte sie aus der Heimath fort müssen, vor einem verhaßten Gatten fliehen, mit einer unglückseligen Liebe im Herzen, um hier vereinsamt, unverstanden, ungeliebt an fremdem Orte zu – sterben.
Sie riß sich aus diesen Gedanken los. Jetzt war die »Neue freie Presse«, welche auch in Händen gewesen, frei geworden; sie setzte sich an den Tisch und begann zu blättern. Unter den »Hof– und Personal-Nachrichten« wieder nichts, wieder keine Notiz über die Grafen Siebeck. Dagegen fiel ihr an anderer Stelle, unter den politischen Berichterstattungen, der Name Dürenberg in die Augen. Mittelbar knüpfte dies ja auch an Großstetten an – und mit Eifer laß sie die betreffende Stelle. Es war die Wiedergabe einer Rede, mit welcher der durchlauchtige Reichsrath in der letzten Parlamentssitzung ein reaktionäres Programm entwickelt hatte. »Anknüpfend an die ehrwürdigen, alten Traditionen;« »Rückkehr zu den gesunden Zuständen des feudalen Staates;« »Wiedereinführung der Innungen;« »Schutz der Landwirthschaft durch Erhöhung der Einfuhrzölle;« »Bekämpfung des moralbedrohlichen Judenliberalismus;« »Ueberantwortung der Schule in die Gewalt des Klerus« u.s.w. Lauter Dinge, von deren praktischer Bedeutung Eva sich keine Vorstellung machte, aber von welchen sie wohl wußte, wie Ralph dieselben beurtheilen und bekämpfen würde; – bekämpfen, nicht im Interesse der Machtstellung des eigenen Standes, nicht im Namen eines anerzogenen Vorurtheils, einer Parteilosung – sondern vom Standpunkt des fortschreitenden Volkswohls. Sie sah ihn vor sich, wie damals im Dürenberg‘schen Salon, wo er mit leuchtendem Blick, mit erhobener Stimme seine politische Parole ausgegeben: Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit.
Ein Telegraphenbote, von einem Kellner hineingewiesen, trat in das Zimmer.
»Madame la comtesse Siebeck« las er laut die Ueberschrift des in seinen Händen befindlichen lichtblauen Papiers.
Eva sprang auf und nahm das Blatt in Empfang. Mit vor Aufregung zitternder Hand unterfertigte sie den Begleitschein. Sie war überzeugt: das Telegramm kam von ihm. Das wollte sie nicht hier – nicht unter fremden Leuten lesen. Sie eilte damit die Treppe hinauf; erst in der Einsamkeit ihres Zimmers wollte sie diese Botschaft, die sie in Händen hielt, vernehmen – gewiß: er kündigte ihr seine Ankunft an.
Als sie ihr Zimmer betrat, sah sie auf dem Kanapeetisch einen Brief liegen. Was sollte sie zuerst lesen? Sie entschied für die Depesche. Dieselbe lautete:
»Ventimiglia-Nizza. Bin in einer Stunde bei Dir. Ralph.«
Mit einem Schrei sank Eva auf den nächstehenden Sessel – ein Schrei heftiger Freude und bangenden Entzückens. Ihn wiedersehen! … in einer Stunde! So war er denn auf den Empfang ihres Briefes, auf die Nachricht von ihrer Erkrankung hin augenblicklich zu ihr geeilt. – Erkrankung? War sie denn auch krank? Sie schöpfte tief Athem, um zu konstatiren, daß dies ein Stechen und ein Husten zur Folge hatte – aber nichts … Würde er etwa glauben, daß sie ihn angelogen? Dieser Gedanke trieb ihr brennende Schamröthe in die Wangen.
Jetzt erblickte sie wieder den auf dem dunklen Tischteppisch weißblinkenden Brief. Sie ging hin und nahm ihn zur Hand. Was war das? Ihr eigenes an Ralph adressirtes Schreiben mit dem Vermerk: »Abgereist – – unbekannt, wohin.« Also hatten ihre Zeilen ihn nicht erreicht, er kam ungerufen, ohne von ihrer Krankheit etwas zu wissen – das war ja auch noch viel beglückender. »Geduld und Vertrauen«: jetzt sollte ihr beides gelohnt werden; wie gut, daß er es nicht erfahren, daß die »Geduld« sie schon verlassen hatte.
Es dauerte keine Stunde, so hörte Eva einen nahenden Schritt – seinen Schritt, unter Hunderten hätte sie ihn gekannt —; die Thür ging auf, und Ralph Siebeck trat herein.
Er öffnete ihr die Arme und sie flog an seinen Hals.
»Evinka!« »Mein König!«
So fanden sie Beide nichts Anderes zu sagen. Und doch, wie deutlich sprachen ihre Küsse, daß es Seligkeit, einander wiederzuhaben, daß die vergangene Trennung ein unerträglich bitteres Leid gewesen.
Er zog sie zu dem Kanapee hin und setzte sich neben sie.
»Jetzt laß uns reden, Evinka – ich habe Dir so viel, so viel zu sagen und so Großes! So Unglaubliches, daß ich Dir es erst mittheilen wollte, bis es zur Gewißheit geworden … Ich habe es schon kommen sehen, als ich Dich fortgeschickt; aber so lange noch ein Zweifel bestand, wollte ich Dir keine falsche Hoffnung machen – daher die gewaltsame Trennung.«
Eva schaute erstaunt und verständnißlos zu dem Sprecher auf. Was konnte das nur sein, was sie da erfahren sollte? Ralph fuhr fort:
»Was würdest Du dazu sagen, Eva – wenn ich Dir den Vorschlag machte, nach Großstetten zurückzukehren, nach kurzer Frist – nehmen wir an: vier Monate – als Gräfin Ralph Siebeck?«
Ein zweitesmal stieß Eva einen Freudenschrei aus, aber schnell besann sie sich:
»O König, das ist ja unmöglich.« Er zog sie wieder an sein Herz:
»Es ist möglich, mein Schatz – meine Geliebte – meine süße – Frau. Ja, Gattin sollst Du mir sein vor dem Gesetz, vor aller Welt – und so Gott will, die Mutter meiner Kinder – würdigere Erben meines Namens als —«
»Das ist ja ein Traum! Ein wahnsinniger Traum!«
»Wahrheit ist es. Wirklichkeit, positive, unbestreitbare und dabei herrliche Wirklichkeit. Laß Dir erklären– —«
Jetzt folgte eine lange, durch viele Fragen und Ausrufungen – auch durch verschiedene Küsse unterbrochene Auseinandersetzung, deren Inhalt in Kürze folgender war.
Doktor Süller hatte jenes Papier, auf welchem Ralphs Frau ihre Beichte niedergelegt, nicht vertilgt, sondern zu sich genommen und sorgfältig aufbewahrt. Als er in Großstetten Zeuge des Auftritts zwischen Vater und Sohn gewesen, und als Ralph hierauf dem alten Freunde anvertraut, wie unglücklich er sich fühlte in seinem Haß zu Robert und seiner Liebe zu Roberts Frau – da rief der Doktor: »Euch kann geholfen werden!« Und er holte das kostbare Dokument hervor. Dann ließ er aus der Bücherei das Gesetzbuch bringen und wies auf § 58, worin es heißt, daß ein Ehemann, dessen Gattin noch vor der Trauung von einem Andern in gesegnete Umstände gekommen, das Recht habe, die Ehe für ungiltig erklären zu lassen. Und auf einen nächsten Paragraphen, der dieses Recht auch nach dem Tode der betreffenden Gattin gelten läßt. War einmal festgestellt, daß Robert nicht aus rechtmäßiger Ehe entsprossen, so war auch seine Ehe ungiltig, da in derselben ein »Irrthum in der Person« vorlag. Somit konnte erreicht werden, daß Eva ihre Freiheit wiedererlange, und ihrer Verbindung mit Ralph Siebeck war kein Ehehinderniß im Wege, da ihr erster Mann mit dem zweiten ja thatsächlich gar nicht verwandt war. Der eine Theil des Prozesses – die Ungiltigkeitserklärung von Ralphs Ehe – war in den vergangenen drei Monaten erledigt worden; die zweite Frage – die Auflösung der Ehe Evas war nur mehr eine Formsache.
»Und Robert?« fragte Eva, nicht ohne Schaudern – wie nahm er das hin? Seines Namens, seines Erbrechts beraubt zu werden, Alles zu verlieren?«
Ralphs Gesicht verfinsterte sich.
»Robert ist abgefunden«, antwortete er. »Er hat sich bitter zur Wehr gesetzt … Bewaffneten Armes ist er in meine Wohnung eingebrochen, um jenes Papier zu entwenden, und schon hatte sich seine mörderische Hand gegen mich erhoben, als mein Freund Söller mir rechtzeitig zur Hilfe kam, und wir uns dann des Räubers bemächtigten. Wir hatten nun die Möglichkeit, ihn den Gerichten auszuliefern. – Da flehte er um Gnade, und diese wurde ihm unter der Bedingung gewährt, daß er verschwinde und niemals in die Heimath zurückkehre. Mit einer genügenden Geldsumme versehen, hat er sich nach Brasilien eingeschifft, wo ich ihm – mit Hilfe früherer Beziehungen – einen Posten in der Armee verschafft. Doktor Söller ist jedoch der Ansicht, daß Robert nicht lange leben könne. Das angeerbte Laster des Trunkes hat ihn schon zu sehr geschädigt … Du bist frei, Eva, und Du bist mein. Die Zukunft —«
Bei diesem Worte bedeckte Eva, laut stöhnend, ihr Gesicht mit beiden Händen. Ihr war das Todesurtheil eingefallen, welches sie in der letzten Zeit über sich gesprochen wähnte.
»Was ist Dir, Kind? rief Ralph erschrocken.
Sie zeigte auf den Brief, der vor ihr auf dem Tische lag:
»Da – lies.«
»Wie? – Du hattest mir geschrieben?« sagte er, den Umschlag betrachtend; und dann, nachdem er den Inhalt gelesen:
»Um Gottes Willen!« schrie er auf – »das ist nicht möglich! … Du – brustkrank? Eva – wie kannst Du glauben? Hast Du mit einem Arzt – – —«
»Nein, ich habe keinen gefragt; aber —«
Ralph drückte an den Telegraphenknopf.
»Bitten Sie den Herrn,« sagte er zu dem an der Thür erscheinenden Kellner, »den Herrn, der mit mir gekommen ist, und der unten im Salon blieb, er möge sich heraufbemühen.«
Eine Minute später trat Doktor Söller in das Zimmer – und zum zweiten Mal erwies er sich als der Wohlthäter des liebenden Paares. Nachdem er Eva ausgefragt und untersucht, konnte er nämlich die bestimmte Erklärung abgeben, daß Brust und Lungen der jungen Frau vollständig gesund seien; daß das einmalige Blutspucken eine zufällige Erscheinung – ein gesprengtes Aederchen oder so etwas – gewesen; daß ihr leidender Zustand, das nervöse Husten miteinbegriffen, nur als Folge der gedrückten Stimmung, der ungestillten Sehnsucht, des tiefen Liebeskummers sich eingestellt. Diese Ursachen waren nunmehr gehoben, somit —
»Somit«, schloß Doktor Süller seine Diagnose, »Wird unsere Patientin in kurzer Zeit wieder in blühender Gesundheit strahlen.«
»Schon jetzt fühle ich mich lebenskräftig und wohl wie noch nie«, sagte Eva.
Ralph schüttelte des Doktors Hand:
»Und was verordnen Sie zunächst?«
»Sofortige Einreichung des Gesuchs bei den zuständigen Behörden um Auflösung der Ehe wegen »Irrthums in der Person« aber zuerst – wenn Sie nichts dagegen haben – es ist 12 Uhr … könnten wir ein ordentliches Frühstück …
»Einverstanden!« unterbrach Eva. »Und nachher wollen wir eine Kahnfahrt machen – Du mußt rudern, König … Und auf dem Klavier spiele ich fortan nurmehr Barcarolen – nichts als Barcarolen.«