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   Sophie Wörishöffer
   ONNEN VISSER – DER SCHMUGGLERSOHN VON NORDERNEY


   1

   Über den Wassern der Nordsee stand ein schweres Gewitter. Träge lief die Flut an den Strand von Norderney, tiefe Finsternis bedeckte Erde und Meer; die immer so stille, weltabgeschiedene Insel schien in dieser Frühlingsnacht wie ausgestorben.
   Und doch regte sich auf dem Wasser ein dunkler Körper, ein Kanonenboot, dessen Besatzung emsig spähend nach allen Seiten ausblickte. Einer der bärtigen Soldaten legte beide Hände an den Mund und rief mit lauter Stimme in die Finsternis hinaus:
   »Qui vive?« (Wer da?)
   Keine Antwort. Das kleine Boot, welches dicht unter dem Bug des Franzosen dahinglitt, schien steuerlos zu treiben; auch das schärfste Auge hätte in dem Rund desselben keinen Menschen entdeckt, keine Bewegung wahrgenommen. Leise wiegend und schaukelnd führten es die Wellen hinaus bis in das offene Meer, der äußersten Landspitze der Insel entgegen.
   Auf dem Kanonenboot ballte der Soldat die Faust. »Alle tausend Teufel«, rief er, »ich habe doch eine Nußschale von einem Fahrzeug hier vorbeischwimmen sehen – wo ist denn nun das Ding geblieben?«
   »Flucht nicht so lästerlich!« mahnte eine andere Stimme. »Jeden Augenblick kann der erste Blitz vom Himmel herabfahren; gebt lieber einen Schuß ab und bohrt das Schmugglerboot in den Grund. Sie paschen doch alle, diese langen deutschen Lümmel mit ihren blauen Augen und ihren Bärenkräften.«
   Der Soldat ließ sich den Befehl nicht zweimal geben. »Sehr wohl, Unteroffizier Durand«, rief er, »die Kanaille soll es haben, daß ihr Funken und Tropfen zugleich um die Ohren spritzen.«
   Er hantierte einen Augenblick bei den Geschützen herum, dann kommandierte er selbst: »Feuer!« und der Schuß krachte donnernd durch die stille Nacht dahin, daß in den Dünen am Strande die kleinen Vögel erschreckt auffuhren und durch die Luft schwirrten. Fast im gleichen Augenblick schrie der Franzose laut auf:
   »Mille tonnerres! da ist das Boot wieder. Ein Knabe liegt darin!«
   Er wollte den zweiten Schuß abgeben, aber Unteroffizier Durand fiel ihm hastig in den Arm.
   »Laßt es bleiben, Chatellier – ich habe die Erscheinung auch bemerkt. Das da ist kein Mensch.«
   Der Soldat sah sich plötzlich um, als vermute er, daß jemand ihm in den Rücken fallen werde. »Aber was könnte es denn sein, Unteroffizier?« fragte er flüsternd.
   »Ein Geist! Wir haben kürzlich zur Kirchzeit mit dieser selben Kanone ein Boot in den Grund gebohrt, wie Ihr wißt – da unten an der Wattgrenze – es war nur ein Knabe darin, ein armes Kind, das für die Badegäste Seeteufel und Muscheln gesammelt hatte, aber wir konnten natürlich das Geschehene nicht ungeschehen machen, der Junge starb und sah mich fest an – die Glocken da unten im Dorfe läuteten – er hielt im Todeskampfe den Blick auf meine Stirn geheftet. – Wißt Ihr noch, Chatellier, wir warfen den Körper ins Meer. Das Läuten wollte an jenem Tage gar kein Ende nehmen.«
   Der Soldat bekreuzigte sich. »Und Ihr glaubt, daß das sein Geist war, Unteroffizier Durand?«
   Der andere nickte. »Gerade so lag er in seinem Boot! – Er will uns hinauslocken, bis der Sturm losbricht – kein Splitter würde von der ›Hortense‹ heil bleiben, ich sage es Euch.«
   »Die heilige Jungfrau beschütze uns. Soll ich das Steuer wenden?«
   Der Unteroffizier nickte. »Das Gewitter zieht herauf, alle Offiziere sind in Norden auf dem Balle, ich mag die Verantwortung nicht tragen. Bergen wir uns, solange es Zeit ist.«
   Das Steuer der »Hortense« wurde gedreht, alle Segel vor den, übrigens kaum bemerkbaren, Wind gebracht und der Rückweg zur schützenden Reede angetreten. Wenige Minuten später war das Kanonenboot verschwunden.
   Aus dem kleinen Fahrzeuge erhob sich langsam, vorsichtig spähend die schlanke Gestalt eines etwa sechzehnjährigen Knaben. Das hübsche Gesicht lachte, die Finger machten den Franzosen eine lange Nase.
   »Ihr Esel! also das ist eure ganze Schießkunst. Ha, ha, ha, schwimme vier Fuß unter den Planken des Schiffes vorüber und ihr schleudert die Ladung fast ebenso viele Hunderte weit ins Meer hinein. Tröpfe! Welsche Schnattergänse!«
   Nachdem er sich diesen Ausbruch spöttischen Zornes gestattet hatte, ergriff der junge Norderneyer seine beiden, auf dem Grunde des Fahrzeuges versteckten Ruder und holte aus, daß sich leuchtende Streifen durch das Wasser zogen.
   Es war die Gegend unter der heutigen »Giftbude« am Herrenstrand, wo sich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts diese Szene zutrug. Die Kontinentalsperre1806 hatte Napoleon I. die Einfuhr englischer Waren in das von ihm beherrschte Kontinental-Europa verboten. hatte ein ausgedehntes Schmugglerwesen zur Folge gehabt, französische Kanonenboote kreuzten überall zwischen den ostfriesischen Inseln und hatten häufig kleine Gefechte sowohl mit den Bewohnern derselben, als auch mit englischen Fahrzeugen, welche den Schmuggelhandel unterstützten. Damals galt eben für Deutschland als Gesetz, was Napoleons Willkür beliebte – kein Wunder also, daß sich auch hier, wie überall im Leben, die List der Tyrannei entgegenstellte.
   Unser junger Freund ruderte so hastig, wie es seine Kräfte erlaubten. Am Himmel zuckten zuweilen einzelne Blitze durch das Gewölk, der Ausbruch des eigentlichen Gewitters aber schien noch fern, und eben diese Pause mußte er benutzen, um vorwärtszukommen. Der Strohhut flog auf die Bank, das Halstuch mit der Jacke folgte nach, immer schärfer und schärfer spannte der Knabe seine kräftigen Muskeln.
   Plötzlich schien es ihm, als bewege stärkerer Wellenschlag seinen Kahn. Er hielt inne und horchte, das weit geöffnete Auge sandte spähende Blicke voraus über das stille dunkle Meer.
   Ob nicht in geringer Entfernung ein Etwas, ein schwarzer Schiffsrumpf auf den Wogen lag?
   Ein Blitz zerriß die Wolken, nur ein schwacher gelber Schimmer, nicht kräftig genug, um zu leuchten, aber dennoch glaubte der Knabe, während dieses kurzen Augenblicks ein weißes Segel gesehen zu haben.
   Er trocknete den Schweiß von der Stirn, dann brachte er den kleinen Finger in den Mund und langgezogen schrillte ein lauter Ton über das Meer.
   Es war das Geschrei des Regenpfeifers.
   Sekunden vergingen, dann, während der Knabe atemlos, mit klopfendem Herzen lauschte, erklang aus ziemlicher Nähe derselbe Ton, nur anhaltender, durchdringender, als befinde sich das Tier in großer Aufregung.
   Der Knabe lächelte. Jetzt veränderte er seine Stimme. Das eintönige, ermüdende Geschrei der kleinen Möwe erfüllte die Finsternis.
   Es blieb unbeantwortet, aber statt jedes anderen Zeichens erschien auf dem Wasser ein rotes Licht, das eine Schanzkleidung und die nächsten Segel und Taue der Takelage beleuchtete. Das Gesicht eines älteren Mannes sah ängstlich über Bord.
   »Onnen«, sagte eine Stimme, »Onnen, bist du es?«
   »Allstunds, Vater!« war die Antwort. »Nehmt mich an Deck!«
   Die Schaluppe legte back und das Fallreep wurde herabgelassen, während der junge Mensch sein Boot mittels einiger geschickter Ruderschläge unter den Stern brachte. Es an das Fahrzeug zu befestigen war Sache einer halben Minute, dann kletterte er wie eine Katze zum Deck hinauf.
   Wenigstens zehn Männer empfingen ihn; sein Vater, der Kapitän des Schiffes, streckte ihm beide Hände entgegen.
   »Um Himmels willen, Onnen, was tust du hier?« »Bringst sicherlich böse Botschaft, nicht wahr?«
   »Nur heraus damit, Junge, was ist geschehen?«
   Es war ein eigentümliches Bild, das sich jetzt den Blicken des Knaben darbot. Überall an Deck standen und lagen Kaufmannsgüter jeder Art, Zuckerhüte, Kaffeesäcke, Tranfässer, Teekisten und unzählige Ballen Tabak. Zwischen diesen Gegenständen drängten sich Männer mit unruhigen, erwartungsvollen Gesichtern, während nur eine einzige kleine rote Lampe die ganze Szene mit ihrem rubinfarbenen Schimmer notdürftig erhellte.
   Onnen sah in diesem Augenblick sehr ernst aus. »Ich bringe wirklich schlimme Kunde«, sagte er, »sehr schlimme. Die Insel hat heute abend eine französische Besatzung erhalten.« »Landmilitär? – Gott verderbe die Elenden!« »Ja, es ist eine Kompanie des in Norden liegenden Regimentes unter Oberst Jouffrin, den sie dort den Schinder nennen.« Klaus Visser, der Kapitän, schüttelte den Kopf. »Bös genug, wenn wir jetzt auch noch eine Besatzung durchfüttern müssen«, sagte er, »aber bei alledem sehe ich nicht ein, weshalb du dich in dem kleinen Boote auf das Meer hinauswagtest, mein Junge. Die Kanonenboote mußten dir ja doch den Weg versperren.« Onnen lachte belustigt. »Ich bin unter dem Bug der ›Hortense‹ hindurchgefahren – die Kerle haben mir auch eine Kugel über den Kopf weggeschossen.«
   »Herrgott, Kind!«
   »Schadet ja nicht, Vater! Ich mußte euch um jeden Preis warnen; seht, ihr könnt die Waren auf keinen Fall in das Dorf bringen – überall stehen Wachtposten.«
   Diese Nachricht fiel wie ein Stein auf die Herzen der Männer; ein lähmendes Schweigen folgte den Worten des Knaben.
   »Ganz umstellt ist das Dorf?« fragte endlich der Kapitän.
   »Ganz umstellt.«
   »Und wo haben die Franzosen Quartier genommen?«
   »Im Badehause. Das ganze Dorf ist auf den Beinen – dreihundert Betten mußten noch vor Abend abgeliefert werden, sechshundert Handtücher, Kochgeräte, Stroh, Brennmaterial – der alte Amtsvogt war so außer sich, daß er weinte.«
   »Und er hat dich zu uns geschickt, Onnen, mein Junge?«
   »Nein, Vater, ich schlich mich heimlich fort, als die Wachtposten alle Straßen besetzten. Die ›Taube‹ muß gewendet werden und bis zur Wattgrenze gehen, – dann bringen wir in meinem Boot die Waren aufs Land und in die Dünen.«
   »Wo der nächste Regen alles verdirbt! – das gibt möglicherweise einen Schaden von Tausenden.«
   »Ihr müßt Fischernetze darüber legen, alte Segel und dergleichen. Es ist ja doch alles bestimmt, um über das Watt nach Hilgenriedersiel und von dort in das Binnenland zu wandern, nicht wahr?« »Bis auf das, was wir hier an Ort und Stelle brauchen, ja. Kornelius Houtrouv in Emden hat die ganze Ladung der ›Queen Elizabeth‹ gekauft, sie liegt auf Baltrum sicher geborgen – und nun müssen uns die Franzosen den Weg abschneiden.« »Der Teufel hole sie alle!«
   Wieder folgte ein längeres Schweigen, dann sagte endlich der Kapitän: »Nun, Kinder, wir müssen uns ruhig fügen, das geht nicht anders. Ehe der neue Tag beginnt, sollen die Waren sicher versteckt sein, das bedenkt.«
   Niemand antwortete ihm, aber mehrere Hände griffen zu, als er die Schaluppe zu wenden begann; eine Stunde später lag sie unweit jener Stelle, an der heute der Leuchtturm steht und die damals ganz öde, ganz verlassen war, nur von Seehunden und großen Seevögeln bewohnt.
   Die schwierige Arbeit der Ausschiffung nahm ihren Anfang. Das Boot brachte Faß auf Faß, Ballen auf Ballen auf den festen Saugsand des Watts, dann trugen die Schmuggler mit vereinten Kräften alles hinein in das unwegsame Gewirre der Dünen.
   Wer jemals auf Norderney seinen Weg über das mittlere Innere der Insel nahm, wer halb fallend, halb gleitend, immer sprungbereit, immer treulos verlassen von dem vermeintlich festen Boden unter seinen Füßen atemlos vorwärts keuchte, nicht selten der Länge nach in den Sand fallend – der kennt die Riesenarbeit, welche jetzt von den verwegenen Schmugglern vollführt wurde.
   Es gab ein Tal, von hohen Wänden umschattet, ein tiefes Tal, zu dem der Pfad durch losen Flugsand führte – dahin brachten die Männer ihr Eigentum. Der nächste Windstoß verwischte die Spur; es war unmöglich, das Nest zu entdecken.
   Blitz folgte auf Blitz, ein Donnerschlag dem andern; später prasselte auch der Regen herab. »Gott sorgt für Beleuchtung«, meinte der Kapitän. »Hurtig, Kameraden, jetzt ist die Sache bald getan.« Der Sturm wirbelte ganze Wolken von Sand empor, donnernd und brausend schlug das Meer an seine Ufer; nun brach der Aufruhr der Elemente los, daß es fast unmöglich wurde, sich überhaupt aufrecht zu halten.
   Alle verfügbaren Fischernetze waren mitgebracht und über die besseren Waren gedeckt worden; eine Schicht Sand verhüllte zuletzt alles bis zur gänzlichen Unerkennbarkeit. Die Taschenuhr des Kapitäns zeigte auf zwei, als der Heimweg angetreten werden konnte.
   Jetzt zu Fuß; die »Taube« hatten einige der Verbündeten an ihren Ankerplatz gebracht und waren dann wieder zu den übrigen gestoßen.
   Der Weg von der äußersten Landspitze der Insel bis in das Dorf, vorüber an Dünen und immer wieder Dünen, der lange, ermüdende Weg war damals dasselbe, was er heute noch ist, aber von der Bootsbauerei und der Windmühle stand kein Stein, es gab vielmehr an diesem so einsamen, so todstillen Orte nur eine einzige halbverfallene niedere Bretterhütte, die ehemals von den Fischern als Aufbewahrungsort für allerlei Geräte benutzt worden war und die man dann einer krüppelhaften uralten Frau aus dem Dorfe als Wohnsitz überlassen hatte.
   Die alte Aheltje wurde von den Bewohnern Norderneys sorgfältig gemieden, es ging die Rede, daß sie hexen könne, daß es überhaupt mit ihr nicht so recht geheuer sei, weshalb man denn sehr froh war, sich ihrer in dieser Weise entledigen zu können. Die alte Frau lebte von dem, was an jedem Tage zweimal die zurückweichende Flut auf dem Sande übrig ließ und was so viele Geschöpfe, Menschen und Tiere jahraus, jahrein ernährt – Fische, Taschenkrebse und Muscheln, daneben alle jene Geschöpfe, welche in trockenem Zustande von den damals schon seit einigen Jahren die Insel besuchenden Badegästen gekauft und gut bezahlt wurden: Seeigel, Drachen und Teufel, die hübschen Seesterne und die feinen zierlichen Algen.
   Zuweilen humpelte Aheltje in das Dorf und brachte den Händlern ihre Beute, dann gab es Geld und die Alte konnte ein Stück Fleisch kaufen, nicht für sich selbst, sondern für einen großen grauen Kater, das einzige Wesen, welches sie liebte, dem ihr einsames verarmtes Herz warm entgegenschlug und das sie auch auf jedem solchen Wege wie ein Schatten, geräuschlos schleichend, begleitete.
   Gleich nachdem links der heute noch gebräuchliche Ankerplatz der Schaluppen passiert war, kam zwischen zwei bewachsenen Dünen die Hütte der Hexe zum Vorschein; Onnen sah zuerst, daß aus dem einzigen halbzerbrochenen Fenster noch Licht hervorschimmerte.
   »Aheltje wacht bereits«, sagte er.
   In diesem Augenblick legte plötzlich der Kapitän die Hand auf seines Begleiters Schulter; ein stummer Wink genügte, um diesen und alle übrigen zu verständigen.
   In der Entfernung von kaum fünfzig Schritten stand ein in seinen Mantel gehüllter französischer Wachtposten. »Still! – Um Gottes willen, keinen Laut.« Sie schlichen alle ohne weitere Verabredung nach rechts, so nahe wie möglich an die Dünen heran, um abermals diesen beschwerlichen Weg zu verfolgen, da ihnen jetzt für die letzte Strecke bis zum Dorfe der offene Strand verschlossen blieb. Ihrer neun kletterten sie, ermüdet und durchnäßt bis auf die Haut, von Klippe zu Klippe, hart an der Hütte der Hexe vorüber.
   Rings herrschte das Dämmerlicht des beginnenden Frühlingsmorgens. Grau und trostlos lehnte halbzerfallen das Bretterhaus an den Sandmauern, auf dem schiefen Dache wuchs Dünengras und Moos, die Tür knarrte in ihren verrosteten Angeln, so oft der Wind mit donnernder Gewalt an dem morschen Bau zu rütteln begann.
   Onnen legte den Finger auf die Lippen. »Stimmen!« flüsterte er. »Aheltje hat Besuch.«
   Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Das kümmert uns nicht. Junge. Wir müssen so schnell wie möglich vorübergehen.« Onnen horchte noch immer. »Da wurde eben dein Name genannt, Vater – und Eurer, Heye Wessel – es ist Peter Witt, der da drinnen spricht.«
   »Alle Teufel – der französische Spürhund!«
   »Aber was will er bei der alten Strandläuferin?«
   Sie umringten nun, für den französischen Wachtposten unsichtbar, die Bretterhütte; der Kapitän und noch ein anderer gewannen durch das zerbrochene Fenster einen Blick in das Innere dieser trostlosen Behausung, und was sie entdeckten, war nicht geeignet, ihre einmal erwachte Unruhe wieder zu entkräften. Auf einem niederen Holzschemel saß die alte Aheltje und hielt in ihrer Rechten eine Anzahl zerrissener, fast schwarzer Spielkarten; neben ihr stand ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, groß und stattlich, in städtischer Kleidung, mit einem blitzenden Ordensstern auf der Brust – er sah aus, als sei ihm etwas Unangenehmes gesagt worden. »Dummes Zeug, alte Hexe, lauter Unsinn – ich bin ein reicher Mann, schwer reich sogar, ich besitze die Gunst Seiner Majestät des Kaisers, das siehst du wohl an diesem Orden! was könnte mir also geschehen?«
   Die Strandläuferin wiegte den Kopf. »Hier steht es, Peter Witt, die Karten kümmern sich nicht um arm oder reich! Du mußt durch Blut und Tränen gehen, du mußt leiden, leiden – anderes kann ich dir nicht berichten.«
   Der Mann schnippte mit den Fingern. »Deine ganze Kunst ist keinen roten Heller wert, Alte – wer hat dich denn um meine Zukunft befragt, he? Du sollst mir einzig und allein sagen, ob es gelingen wird, Klaus Visser und seine Genossen bei ihren Schmugglerfahrten zu ertappen, so daß man sie anzeigen könnte. Weiter will ich nichts wissen.«
   Die Strandläuferin klappte ihre Karten zusammen. »Dann erkundige dich bei Leuten, die dir darauf einen sicheren Bescheid geben können, Peter Witt. Ich halte den Kapitän für einen Ehrenmann, für einen Ostfriesen vom alten tüchtigen Schlage, er wird wissen, was erlaubt ist und was nicht. Wolltest du ihn etwa den Franzosen in die Hände liefern, Mann?«
   Peter Witt lachte. »Natürlich, Alte. Sieh nur, da auf meiner Brust ist noch Raum für mehr als einen Orden.«
   Aheltje schüttelte verächtlich den Kopf. »Solch ein buntes Ding – ein Spielzeug! Und dafür wollte ein Norderneyer Kind das andere ins Verderben stürzen? Pfui!«
   Der Mann schlug mit der Faust auf den Tisch. »Potz Blitz, Alte, nimm dich in acht!« rief er erbost. »Ich bin hier auf der Insel der reichste Mann!«
   »Und ein Strohkopf dazu, Peter Witt, das laß dir gesagt sein. Mich kannst du nicht schrecken, die Gemeindevorsteher haben mir dies Haus zinsfrei überlassen, so lange ich lebe – und den weiten offenen Strand mit seinen Gaben schenkt mir Gott; weiter als das ist nichts auf Erden mein eigen. Und nun geh, Peter Witt – ich will hinaus, mir im Freien mein Frühstück zu sammeln.«
   Der Mann schoß einen giftigen Blick. »Stehst wohl auch mit den Schmugglern in Verbindung, Hexe, was? Spionierst für sie, machst Gelegenheit, he? – Wahre deinen Kopf, die Herren Franzosen pflegen sich nicht lange bei der Vorrede aufzuhalten.«
   Mit diesen zornigen Worten öffnete er plötzlich die Tür und trat hinaus ins Freie, dem Kapitän gerade entgegen. Ein halberstickter Schreckensschrei brach über seine Lippen, er taumelte einige Schritte zurück. »Klaus Visser!« sagte er stammelnd.
   Der Fischer nickte. »Morgen, Witt. Laß dich nicht stören, Mann.«
   Der Überraschte rang noch immer mit dem ersten heftigen Erschrecken. »Was tut ihr denn sämtlich so früh hier draußen?« fragte er hämisch.
   Der Kapitän sah ihm fest und offen ins Auge. »Wollen uns wahrsagen lassen, Peter Witt, wollen Aheltjes Karten befragen, wann endlich auf Norderney alle Schufte und Vaterlandsverräter an den Galgen kommen!«
   Das Gesicht Peter Witts wurde fahl. »Spaß!« brachte er mühsam hervor.
   »Du wirst den bitteren Ernst früh genug kennenlernen, Witt. – Adjes für diesmal!«
   Er zog ein Geldstück aus der Tasche, um es dem alten Weibe in den Schoß zu werfen, dann gingen alle über die Fläche, welche heute das Ruppertsburger Gehölz umschließt, durch die Gegend der Winterstraße und der jetzt so eleganten vornehm-ruhigen Bismarckstraße in das Dorf hinab, jeder einzelne im Herzen beunruhigt und unangenehm berührt von dem lauernden, boshaften Blick des Franzosenfreundes. Noch wußte er offenbar nichts, aber er spionierte, und es galt der nahenden Gefahr gegenüber auf der Hut zu sein.
   Stumm teilten sich nach kurzer Wanderung die Genossen des nächtlichen Zuges. Hier verschwand im Morgengrauen hinter einer niederen Tür der eine, dort der andere, zuletzt Kapitän Visser und sein Sohn, die in der Campstraße wohnten.
   Hinter den verhüllten Fenstern der Fischerhütte glänzte noch Licht. Von den sechs– bis siebenhundert Menschen, welche damals das Inseldorf bewohnten, hatte wohl kein einziger während dieser Nacht wirklich geschlafen, am wenigsten aber Frau Douwe, Onnens Mutter, die jetzt weinend, mit ausgebreiteten Annen den beiden Ankömmlingen entgegenging.
   »Gottlob, daß ihr da seid, Vater, du und Onnen! Ach, wie habe ich mich geängstigst, als der Kanonenschuß fiel! – Mein Kind, mein einziger Junge!«
   Sie schluchzte so heftig, daß sich der Kapitän gerührt fühlte. »Ich hab‘ mich selbst gehörig erschrocken, als Onnen so unvermutet erschien, Mutter, aber seine Entschlossenheit wurde unsere Rettung. Am Strande stehen französische Wachtposten.« »Ach Gott, sie stehen überall, sie spionieren und schleichen zwischen den Häusern und auf den Straßen. Jetzt ist Norderney verloren.« Der Kapitän lächelte. »Mutter, du redest, als sei dem Herrgott da oben das Weltregiment über Nacht abhanden gekommen und dem übermütigen Korsen als gute Prise zugefallen! – Sei ganz ruhig, auch für ihn steht geschrieben: ›Bis hierher und nicht weiter!‹« In diesem Augenblick trat aus einer anstoßenden Kammer hervor ein Mann in Reisekleidern mit einer Ledertasche, die er über die Schulter gehängt hatte, Geerd Kluin, der Bruder der Frau Douwe und Hausgenosse der kleinen Familie. »Bist wieder da, Onnen«, sagte er nach der ersten Begrüßung, »deine Mutter hat sich schier halb zu Tode geängstigt um dich! – Brr, hier auf Norderney ist‘s ungemütlich geworden; ich gehe fort.«
   »Ganz fort?« fragte der Kapitän.
   »Ja, nach Hamburg. Jetzt kommt die Zeit der Lieferungen und Abgaben, der Erpressungen aller Art, da mache ich mich lieber aus dem Staube. Kenne das von Emden und Norden her, schlage den Herren Franzosen beizeiten ein Schnippchen.«
   Er lachte, während er behaglich den heißen Kaffee schlürfte. »Zu solchen Zeiten läßt sich gut sein Schäfchen ins Trockene bringen, man muß es nur anzufangen wissen. Ich gehe nach Hamburg, Schwager Klaus, und wenn du klug wärest, so würdest du mich auf der Stelle begleiten!«
   Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Ich? – Nein, mein guter Geerd, da habe ich doch mein Vaterland zu lieb. Was Norderney bedroht und bedrängt, das soll auch über mich kommen; was die armen Leute des Dorfes zahlen müssen, das will auch ich geben, der mich Gott mit Wohlstand gesegnet hat. Ich bleibe!«
   Kluin lächelte. »Jeder nach seiner Weise«, sagte er. »Ich habe mein bißchen Geld – ein paar armselige Sparpfennige – in den Dünen versteckt, da findet es, so lange der Hahn kräht und der Wind weht, kein Mensch. Für den immer hungrigen Säckel des französischen Eroberers war mir‘s zu schade.«
   Der Kapitän dampfte große Wolken. »Sind vielleicht hundert Familienväter auf Norderney, Kluin«, versetzte er nach einer Pause, »hundert oder noch weniger, die müssen unter sich alle Lasten und Leiden des Krieges, soweit es die Insel betrifft, teilen! – Du bist der Reichsten einer – still, still, ich weiß, was ich sage, wenn dir auch noch so viel daran liegt, für arm zu gelten! – Glaubst du denn da, daß es anständig gehandelt ist, in der Stunde der Gefahr auf und davon zu gehen? – Mir war‘s wahrhaftig, als ließe ich meine Mutter wehrlos in den Händen roher Buben, ich könnt‘s nimmermehr tun, Schwager Geerd!«
   Der andere zuckte die Achseln. »Sehr schön gedacht«, sagte er etwas spöttisch, »ungeheuer edel, aber – für mich zu teuer. Glaubst du nicht, daß die Langfinger bei dir bald genug Moses und die Propheten entdecken werden? Dann heißt es, her damit!« Der Kapitän reckte seine muskulösen Arme. »Laß fahren dahin!« rief er. »Ich kann arbeiten, kann genug verdienen, um drei Menschen zu ernähren – auch das ist Reichtum.«
   Draußen klopfte es gegen die verschlossene Haustür. Frau Douwe schrie vor Schreck laut auf, während Onnen hinaussprang und durch das kleine Schiebfenster sah. »Es ist der Vogt, Mutter«, rief er ins Zimmer hinein, »sei nur ganz ruhig.«
   Er ließ einen alten, von der Last der Jahre gebeugten Mann eintreten, einen Greis, der sich ächzend auf den nächsten Stuhl warf. »Grüß Gott miteinander! – O Kinder, welch eine Zeit!« Frau Douwe wollte ihm eine der bunten, rot und blau bemalten Tassen mit Kaffee füllen, aber er wehrte ihr sogleich. »Die Franzosen sind immer hinter mir drein, Nachbarin, hier soll ich sein und da, dies bewerkstelligen und das. Ach, großer Gott, es ist nicht zum Aushalten.«
   Er trocknete den Schweiß von der Stirn und entfaltete dann ein Blatt Papier. »Sieh her, Visser, da steht‘s geschrieben – sobald ein Trommelzeichen gegeben wird, haben sich alle Männer des Dorfes vor dem Badehause einzufinden. Etwa um sieben Uhr früh soll die erste Ansprache stattfinden.«
   »Heute?« fragte der Kapitän.
   »Gewiß. Gleich, sage ich dir, jetzt! – Adjes! Adjes, ich muß überall Bescheid bringen.«
   Er schüttelte bekümmert den Freunden die Hand und eilte weiter, um als lebende Zeitung die Hiobspost von Tür zu Tür zu tragen. Geerd Kluin erhob sich und sah seinen Schwager bedeutsam an. »Du hörst nun, was sich vorbereitet, Visser – sei vernünftig, Mann, geh mit nach Hamburg, so lange es Zeit ist.«
   Der Kapitän lächelte. »Nimmermehr!« versetzte er. »Ich bleibe, ich will stehen und fallen für meine Heimat – der Ostfriese wankt nicht und trügt nicht!«
   Kluin umarmte seine Schwester und seinen Neffen, dann drückte er die Hand des eigensinnigen Schwagers. »Lebt wohl, ihr alle. Hoffentlich sehen wir uns wieder zur guten Stunde, wenn der Franzmann aus dem Lande geprügelt ist.«
   Er ging, begleitet von den Seinigen, um sich an Bord eines nach Leer oder Emden fahrenden Schiffes zu begeben. Die Sonne schien jetzt schon hell vom Himmel; der Kapitän winkte nochmals dem Scheidenden, dann trat er in das kleine saubere Gemach zurück und breitete beide Arme aus. »Komm her, Mutter, und auch du, Onnen! Euch liebe ich zuerst und zunächst, aber danach meine Heimat. Gerade weil sie arm und klein ist, eine verlassene Sandscholle im weiten Meer, gerade darum liebe ich sie. Was meinst du, Onnen, wollen wir beide in Hamburg müßig zusehen, wenn hier unsere Brüder ringen und leiden?«
   Die Augen des Knaben glänzten hell. »Nein, liebster Vater, nein, das verhüte Gott! Wir teilen alles, Gutes und Schlimmes.«
   Der Kapitän nickte. »Das denke ich auch. ›Alle Mann auf!‹ – Ein Fuchs oder eine Memme, wer das Kommando hört und nicht folgt.«
   In diesem Augenblick ertönte draußen ein Geräusch, Onnen horchte auf. »Trommelwirbel!« rief er, »du mußt hin, Vater!« »Und du mit, Junge! Bist konfirmiert, stellst schon deinen Mann; laß dir nur die durchwachte Nacht nicht ansehen, hörst du.«
   Frau Douwe weinte. »Die Unruhe bringt mich noch um«, schluchzte sie.
   »So geh mit, Alte!« sagte lächelnd der Kapitän. »Wirst ja noch immer ein wenig frische Luft schöpfen dürfen, wenn auch die Insel eine französische Besatzung erhalten hat! – Den Kopf auf, Mutter! Die in Emden und Leer sind ja auch nicht gleich mit Haut und Haar verschlungen worden – wir kommen schon lebendig hindurch!«
   Er hatte in aller Eile den Anzug gewechselt, ebenso Onnen, dann gingen die beiden bis zu dem Platze, auf welchem heute das neue Badehaus und die Anlagen stehen.
   Die Franzosen waren in Reih und Glied aufmarschiert, Oberst Jouffrin mit seinen Offizieren ging vor der Front auf und ab und im weiten Halbkreis sammelten sich die Bewohner der Insel, alle in ihrem Fischeranzuge, mit dem »Stummel« zwischen den Zähnen, und alle schweigsam, als sei es eine Leichenfeier, die hier vorbereitet werde.
   Ein schlimmes Zeichen für jeden, der die harmlosen norddeutschen Seeleute und ihre Vorliebe für einen guten Spaß auch nur einigermaßen kennt.
   Der Vogt mit seinem Angstgesicht lugte auch hier aus der Menge hervor; ein Schreiber vom Amt in Norden stand neben dem vortragenden Offizier, und nun wurde folgendes Schriftstück in französischer Sprache verlesen und von dem Dolmetscher übersetzt.
   »Proklamation!
   Seine Majestät der Kaiser geruhen allergnädigst zu befehlen wie folgt: Die Insel Norderney bekommt eine Besatzung, welche aus den Mitteln der Einwohner erhalten werden muß und wofür die Lieferungen demnächst ausgeschrieben werden sollen. Den Herren Offizieren werden Tafelgelder gezahlt, zu deren Beschaffung aus dem Vermögen der Eingesessenen eine Schätzung von Seiten des Herrn Obersten Jouffrin zu erfolgen hat. Wer sich dieser Zahlung entzieht, erhält sogleich doppelte oder vierfache Einquartierung; wer gegen die jetzt verlesenen Anordnungen irgendwie öffentlich auftritt oder rebelliert, wer gegen die Ausführung derselben irgendwelche Schritte unternimmt, wird mit der Strafe der Auspeitschung bedroht.«
   Der Schreiber stockte. Bei den letzten entehrenden Worten überzog fahle Blässe sein Gesicht; des Vaterlandes bittere furchtbare Schmach schien ihn zu ersticken. —
   Ringsumher war alles so todesstill, daß das Summen der Mücken in der Luft deutlich hörbar wurde.
   Oberst Jouffrin hob den Kopf. »Vite! Vite!« (Schnell! Schnell!) rief er ungeduldig.
   Der Schreiber fuhr mit der Hand über die Stirn. »Ferner wird verfügt«, las er weiter, »daß zum Zweck einer gänzlichen Vernichtung englischer Waren die öffentliche Verbrennung derselben ungesäumt stattzufinden hat. Wer derartige Gegenstände besitzt, soll sie hierher abliefern; wer ihr Vorhandensein verschweigt, sie versteckt oder in irgendeiner Weise hinterzieht, wird mit denselben Strafen belegt, welche auf schweren Diebstahl stehen. Die Ablieferung der Waren hat sogleich zu erfolgen.« Der Offizier schlug das Blatt zusammen; jetzt zum erstenmal sah der Amtsschreiber seinen Landsleuten offen ins Gesicht. »Swigt still, Lüüd!« sagt er in ermahnendem bittenden Tone, »swigt um Gott‘swillen still!«
   Die lauernden Blicke des Obersten trafen ihn sofort. »Was war das?« rief er. »Was hatten Sie hinzuzufügen?« Der Schreiber blieb durchaus gelassen. »Ich forderte die Leute auf, jetzt ruhig auseinanderzugehen«, sagte er mit lauter Stimme. Dieser Ermahnung ward auch sogleich Folge gegeben, obwohl einzelne der erbitterten Bewohner die Hände rangen und sich wie Verzweifelte gebärdeten. Dieser handelte während des Sommers mit ein wenig Kaffee, Tee oder Gewürz, jener mit Kinderspielzeugen, der dritte mit Kurzwaren u. dergl. Jetzt sollte das alles verbrannt werden.
   Verbrannt! Vernichtet! Die kleine Habe des Armen, all sein Gut, seine Hoffnung, das Brot seiner unschuldigen Kinder – die Franzosen zwangen ihn, es in das Feuer zu werfen, es der Zerstörung preiszugeben. In alle Häuser verteilten sich die Soldaten, überallhin drangen ihre spähenden Blicke, ihre dreisten Finger. Sie sahen in die Schränke und Schubladen, sie krochen in Böden und Ställe, sie untersuchten die Taschen der Bewohner.
   Jedes Stück Zucker, jedes bißchen Kaffee oder Tee wurde auf den Scheiterhaufen geschleppt oder von den Soldaten für gute Prise erklärt. Holz und Stroh kam hinzu – höher und höher wurde der Berg.
   Männerfäuste ballten sich verstohlen, aus Männeraugen quoll die brennende Träne. Väter zeigten ihren Söhnen, was der korsikanische Tyrann gegen Deutschland auszuüben wagte – sie flüsterten ihnen zu von der Schuld, der ungeheuren, vermessenen, und von dem Tage der Vergeltung, die einst in späterer Zeit kommen müsse und werde.
   Nur einzelne klagten laut, die meisten schwiegen, um nicht immer ärgeres Übel heraufzubeschwören. Von fern umstanden die Beraubten den Scheiterhaufen; es war, als könne sich keiner trennen von dem, was noch vor wenigen Stunden den Mittelpunkt aller seiner Interessen bildete, die Welt, in der er lebte, dachte und arbeitete.
   Zu Hause alles leer – und hier die mühsam erworbenen Handelsartikel der Vernichtung preisgegeben. Wer mochte es glauben? Wer faßte das Schreckliche?
   Die Weiber jammerten, sie warfen sich im Übermaß des Kummers den französischen Offizieren zu Füßen. »Erbarmen, Erbarmen! Wir hatten nichts weiter als nur diesen kleinen armen Besitz – woher sollen wir Brot nehmen für unsere Kinder?«
   Niemand hörte sie, niemand achtete ihrer.
   Und doch gab es einen Schmerz, eine Klage, vor denen jede andere Stimme schwieg.
   Von Gruppe zu Gruppe ging ein bleiches Weib mit hohlen vergrämten Augen und gefalteten Händen; jeden der Männer redete es an im herzzerreißenden Tone des Wehes.
   »Habt ihr mein Kind nicht gesehen, Leute, meinen armen Knaben? – Seit vier Tagen ist er verschwunden, mein einziger! Sah ihn keiner? Ihr fahrt nach Baltrum und Juist, nach Norddeich und Hilgenriedersiel, seid ihr nirgends seinem Boote begegnet?«
   Ein Kopfschütteln, wohin sich die Unglückliche wandte. Arme Wiebke Raß! Sie hatte doch mehr verloren als alle die, deren Eigentum da auf dem Scheiterhaufen lag.
   Jetzt schlug einer der Franzosen Feuer, dann hielt er den brennenden Schwamm gegen die nächste Pappschachtel, in der Bänder und Spitzen lagen.
   Es züngelte rot und leuchtend aus der Mitte der trockenen, leicht entzündbaren Gegenstände hervor – der Scheiterhaufen brannte.
   »Jesus! Jesus! – Meine Sachen!«
   »O Nachbarin, Nachbarin, es ist doch nicht Euer Kind, Euer Fleisch und Blut! – Möchten die Franzosen meine Hütte nehmen, alles was ich besitze, und mir dafür den Knaben wiedergeben – mit nackten Füßen wollt‘ ich davongehen!«
   Die beiden Frauen standen händeringend da; die, deren kleinen Kram man verbrannte, schluchzend, außer sich, die andere tränenlos, dem Irrsinn nahe. Umsonst bemühten sich mitleidige Menschen, sie zu trösten, Wiebke Raß schüttelte nur ruhig den Kopf. »Laßt das, Leute, laßt das, mir hilft nichts auf Erden mehr.«
   Von der Seite des jetzigen Anlegeplatzes her kam ein Laufen und Rufen, eine Unruhe, die sich von Person zu Person fortpflanzte. Zwei Männer trugen eine Bahre, sie schienen den Weg rechts ab zum Dorfe nehmen zu wollen und widersprachen, als einige der Leute auf die vor dem Feuer Versammelten hindeuteten.
   Die Franzosen hatten alles gesehen; ohne Zaudern trieben sie die beiden Fischer mit Kolbenstößen vor sich her bis zum Scheiterhaufen. Was da auf der Bahre lag, das sollte dem allgemeinen Schicksal des Verbrennens nicht entgehen.
   Ein kecker Griff riß das Segeltuch herab – dann taumelte der Franzose, als habe ihn eine unsichtbare Faust gepackt »Diable!« rief er stammelnd.
   Durch die Menge ging ein Schrei des Entsetzens.
   Auf der Bahre lag die Leiche eines vierzehnjährigen Knaben, entstellt und von schrecklichem Aussehen, mit durchschossener Brust. An der linken Seite klaffte eine tiefe Wunde, der Arm hing lose und zerschmettert herab.
   »Kornelius Raß!« ging es von Mund zu Mund. »Ach, die arme Mutter!«
   Und nun hatte auch das blasse unglückselige Weib die Bahre gesehen. Ihre Arme hoben sich langsam zum Himmel empor, sie sprach keine Silbe, das Entsetzen schien ihre Zunge gelähmt zu haben.
   Hellauf loderten die Flammen, der Wind fuhr hinein und fachte sie an, ein Funkenregen hob sich spielend in die Luft, knisternd stäubte weiße Asche.
   Im weiten Halbkreis standen die Fischer und Schiffer, alle stumm, ihre kurzen Pfeifen jetzt in den Händen haltend. Da lag das schuldlose Kind mit der französischen Kugel im Herzen, purpurn überstrahlt von den Gluten, die Hab und Gut der Einwohner fraßen – es war, als verklagten die erhobenen Arme der beraubten Mutter jenen Gewaltherrscher, dem die Welt erschaffen schien zum Spielball seiner maßlosen Laune.
   Immer mehr näherte sich Wiebke Raß der Bahre, dann ließ sie sich auf ihre Knie nieder und legte die Hand auf des Knaben Wunde – leise, wie schützend, voll zärtlicher Sorgfalt. Über ihre Lippen kam ein Wimmern, das furchtbarer, erschütternder klang, als selbst der lauteste Verzweiflungsschrei.
   Niemand dachte mehr an die brennenden Sachen, in aller Augen glänzten Tränen, alle Herzen fühlten mit der unglücklichen Mutter den Jammer dieser Stunde, selbst die Franzosen schienen ergriffen.
   »Es soll eine Untersuchung eingeleitet werden«, sagte schaudernd der Oberst. »Bringt die Leiche fort, Leute – schnell, schnell!«
   Ein paar Fischer näherten sich der armen Frau, sie führten sie mit sanfter Gewalt von der Bahre nach Hause. Hier half kein Trösten, kein Zureden, das Übermaß des Schmerzes mußte sich Bahn brechen, bevor die Wunde langsam zu heilen vermochte.
   Noch flüsterten die Leute, noch standen die einzelnen Gruppen händeringend beisammen, da nahte vom Dorfe her eine halbgelähmte Greisin, die einen flachen Korb mit Putzartikeln herbeitrug, bescheidene Bänder und Tücher, Kinderschürzen, Kragen, ein paar Fingerhüte, Nähnadeln und Scheren. Sie sah immer nach allen Seiten, und als ihre Blicke das Feuer trafen, da stand sie erschreckend still – ein Schrei von den Lippen der armen Alten lenkte die Aufmerksamkeit der französischen Zollwächter auf ihren Korb.
   »Halloh!« rief einer, »englische Ware – her damit!« Die Alte schüttelte den Kopf. »Ich kann es ja doch nicht! Mein ein und mein alles – erst gestern abend ist mir mein einziges Bett genommen worden! Lieber Gott, was soll ich unglückliche Frau anfangen?«
   »Her damit! Her damit!« schrie der Franzose.
   Die alte Frau schien in Verzweiflung zu fallen. »Helft mir doch, Landsleute«, rief sie mit bebender Stimme. »Da in dem Korbe stecken zwanzig Taler – all mein Vermögen! – wenn mir‘s geraubt wird, muß ich betteln gehn!«
   »Diable m‘emporte! (Hol mich der Teufel!) was zetert die Hexe?«
   Der Franzose näherte sich mit gezücktem Säbel der schreienden Frau und würde sie vielleicht im selben Augenblick verwundet haben, wenn nicht Kapitän Visser zwischen beide gesprungen wäre. Seine sehnige Gestalt war hoch aufgerichtet, sein Auge blitzte, er schob mit unwiderstehlicher Gewalt den Soldaten beiseite und nahm zugleich den Korb der alten Frau, um ihn mittels eines einzigen Ruckes auf den Scheiterhaufen zu schleudern.
   Funken und Flammen schlugen hoch empor – die arme Händlerin schrie laut auf.
   »Sei ruhig, Folke Eils«, tröstete der Kapitän, »du mußt eben der Gewalt weichen wie wir alle. Mit deinem bunten Kram kannst du jetzt nicht handeln, denn die Franzosen würden ihn für englische Ware ansehen, gleichviel woher du die Sachen genommen hättest; aber deine zwanzig Taler will ich dir wiedergeben und außerdem wird Mutter Douwe auch ein Bett für dich in deine Hütte schaffen. Komm jeden Tag und iß mit uns, was Gott beschert, es soll dir von Herzen vergönnt sein.«
   Die Alte schluchzte halb vor Freude, halb vor Angst. Ringsumher erhob sich ein Murmeln des Beifalls, nur Oberst Jouffrin, der Kommandeur der französischen Soldaten, schien die Sache sehr übel aufgenommen zu haben. Er strich wütend den schwarzen Schnurrbart und pflanzte sich gerade vor den ihn um Kopfeslänge überragenden Kapitän auf.
   »Kewalt?« schrie er. »Aben Sie sagen: Kewalt?«
   »Ja!« antwortete mit festem Tone der Seemann. »Das habe ich gesagt, Herr Oberst. Es ist ein Akt der Gewalt, nicht des Rechtes, armen Leuten ihr Eigentum zu nehmen und es zu verbrennen. Wünschen Sie sonst noch etwas!«
   »Rebell!« schrie der Franzose. »Chien!«
   Er griff an den Degen, zögerte aber doch, ihn zu ziehen. Dichter und dichter hatten sich die Fischer um den Kapitän geschart, sie murrten, sie ballten die Fäuste – noch einen einzigen Schritt weiter und der Tumult wäre ausgebrochen.
   Oberst Jouffrin sah es und trieb es klugerweise nicht weiter. Sich abwendend, sprach er einige Worte mit seinem Adjutanten, der darauf den Leuten befahl, jetzt sogleich auseinanderzugehen. »Dieser Platz ist fernerhin nur dann zu betreten«, hieß es, »wenn irgendeine Proklamation erfolgen soll. Ungerufen darf niemand kommen.«
   Die Fischer entfernten sich langsam, einer nach dem andern bot dem Kapitän treuherzig die Hand. »Wenn du es nur nicht noch büßen mußt, Visser! Der Franzose sah dich so giftig an.« Der Seemann lachte. »Sie wissen, daß meine ›Taube‹ in ihrem Schnabel allerlei Waren nach Norderney trägt, mein Junge, und sie ärgern sich, daß sie ihnen niemals zu Schuß kommt.«
   »Beschrei dein gutes Glück doch lieber nicht, Visser!«
   »Pah, die ›Taube‹ wird noch in den nächsten Tagen nach Baltrum fliegen und dort allerlei aufpicken, was hier in den Häusern fehlt – Zucker, Tabak und Kaffee.«
   Sie nickten einander zu, mühsam durch den tiefen Sand watend. Gepflasterte Straßen hat Norderney bekanntlich auch heute noch nicht, damals aber fehlten selbst die Bürgersteige aus Ziegelsteinen, die kleinen Gärten und Rasenflecke, während Pferde und Esel, Kühe, Schweine und Hühner nach Belieben herumliefen, um sich im Dorfe oder auf den Dünen das unentbehrlichste Futter zusammen zu scharren.
   Als der Kapitän mit seinem Sohne nach Hause kam, saß die alte Folke Eils schon da, um sich nach Herzenslust auszuweinen, es nahten aber von der ändern Seite her noch sonstige Gäste, der Oberst Jouffrin in eigener Person, begleitet von fünf Soldaten, die ohne Gruß oder Frage in das Zimmer gingen und jedes Stück vorn Platze rückten, jeden Gegenstand herabwarfen, umkehrten oder auseinandernahmen.
   Sie drängten sich alle zugleich in den engen Raum; dabei wurde hier eine Fensterscheibe zerstoßen, dort der Spiegel oder die Tür des Glasschrankes. Binnen wenigen Minuten glich das saubere Zimmer einem Schutthaufen, selbst Hund und Katze hatten Fußtritte erhalten, die blühenden Topfgewächse waren zerrissen und geknickt.
   Der Kapitän beherrschte mit den Augen seine Frau und seinen Sohn. Oberst Jouffrin sollte nicht die Genugtuung haben, ein Glied der kleinen Familie verhaften zu dürfen, er wollte ihn vielmehr in den Augen der Soldaten empfindlich demütigen.
   »Da, Folke Eils«, sagte er, ruhig der alten Frau eine Handvoll Taler reichend, »da sind die zwanzig. Und das Bett bringt dir mein Junge herüber.«
   »Gewiß!« rief Onnen. »Komm her, Mutter Eils, da hast du, was meine Sparbüchse vermag. Nun weine nicht mehr!«
   Der Oberst und seine Leute mußten abziehen, ohne auch nur eine Kaffeebohne oder ein Reiskorn gefunden zu haben, das steigerte ihre Wut auf das höchste, und zwar aus einem die Menschheit schändenden Grunde.
   Einzelnen Personen, Zollbeamten wie Zivilisten, war es nämlich gegen eine Abgabe gestattet, die aufgefundenen Güter der Schmuggler zu behalten und für ein Billiges an die Offizierstische oder die Hofhaltung der französischen Fürsten zu verkaufen; es wurde daher nach unversteuerten Waren gesucht wie nach Vogelnestern; wer sie fand, der machte sich den Vorteil zum Nutzen. Frau Douwe schlug die Hände zusammen. »Klaus, Klaus – das ist doch zu arg! Leben wir denn jetzt unter Räubern?«
   Der Kapitän nickte. »Genau genommen, ja. Aber laß dich das nicht anfechten, Frau – es ging wohl schon Besseres verloren als ein paar Fensterscheiben.«
   Er suchte nach der durchwachten Nacht womöglich einige Stunden zu schlafen, während Onnen hinausging auf das Watt, um die »Taube« zu scheuern und für ihre nächste Fahrt herzurichten wie immer.
   Auch hier traf er Soldaten. Sie hatten die Kajüte erbrochen und den ganzen Raum durchforscht; der Fischkasten lag zerschlagen da – alles Ausbrüche einer gemeinen Rachsucht, die nur den Gegner schädigen will, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht.
   Onnen sah von einem zum ändern, das Blut schoß ihm heiß ins Gesicht. »Ich denke«, sagte er, »daß die Herren wohl auch den Schlüssel zur Kajüte hätten verlangen können! – Weshalb ist die Tür erbrochen worden?«
   Der kommandierende Unteroffizier lachte. »Was kräht das Bürschchen?« rief er höhnisch. »He, was willst du Grünschnabel?«
   »Ich frage Sie, weshalb die Tür in meines Vaters Schiff erbrochen wurde?«
   »Und nennst uns in deiner Einbildung Räuber und Diebe, nicht wahr? Das sind Beleidigungen! Heda, Meunier und Dubois, bringt ihn zum Amtsvogt!« setzte er hinzu. »Das soll exemplarisch bestraft werden.«
   Onnen schlug um sich. »Rührt mich nicht an!« schrie er. »Was wollt ihr Galgengesichter?«
   »Bindet ihn!« schrie wütend der Unteroffizier.
   Die fünf Männer überwältigten ohne Mühe den wehrlosen Knaben und schleppten ihn fast zur Wohnung des Amtsvogts. Unterwegs gesellten sich Leute zu dem Zuge, der Kapitän wurde geweckt und erschien selbst auf dem Schauplatz der Begebenheiten, auch Oberst Jouffrin kam fluchend und den tiefen Sand verwünschend herbei; mürrisch ließ er sich durch den Unteroffizier Bericht erstatten.
   »Der Junge soll zehn Stunden Arrest erhalten, dann mag er laufen. Vogt, Sie sperren ihn, wie es hier üblich ist, in Ihren Keller! Es sind Rebellen, die Vissers, der Vater sowohl wie der Sohn.« Der Kapitän atmete leichter. Also wenigstens keine Prügel!
   »Junge«, sagte er, »geh ruhig mit. Weshalb hast du nicht geschwiegen!«
   Und dann besänftigte er seine Landsleute. »Wer sein Vaterland liebt, der verhält sich völlig ruhig, Kinder, völlig ruhig. Der Übermacht müssen wir uns ja doch ergeben. Amtsvogt, du bürgst mir für meinen Jungen!«
   »Das tu ich, Visser, das tu ich!«
   Der Platz um die Amtswohnung dicht unter der Kirche wurde allmählich leer, und nun begann die sonderbare Strafe, welche damals für leichte, besonders knabenhafte Vergehungen auf Norderney üblich war.
   Die Kellerfenster der Amtsvogtei wurden geöffnet, um jedem Bewohner des Dorfes das Schauspiel da drinnen vollkommen deutlich zu zeigen. Auf dem Hofe lagen Backsteine, diese mußte der arme Sünder in den unterirdischen Raum hinabtragen und davon zwei Säulen oder Strebepfeiler bauen; sobald das geschehen war, legte der Wächter des Gesetzes über beide ein Brett und auf demselben saß dann der Schuldige diejenige Stundenzahl, welche ihm zuerkannt worden war.
   Onnen begann halb erbittert, halb lachend die sonderbare Arbeit. Sobald erst einmal auf der Insel alles schlief, würde ihn ja der Vogt entschlüpfen lassen, das wußte er.
   Die Steine waren bald hinabgetragen, das Brett folgte nach; heimlich ließ die Frau Amtsvögtin auch einige tüchtige Butterbrote und eine Anzahl gekochter Eier mit in die Finsternis des Kellers wandern, dann schwang sich Onnen auf seinen harten Sitz.
   Draußen war die Umgebung wie ausgestorben. Wenn sonst ein junger Bursche im Amtskeller thronte, so hänselten ihn seine Genossen, wodurch ja eben die ganze Sache erst eigentlich zur Strafe wurde, aber heute zeigte sich niemand. Auch die Rohesten wollten den Sohn des geachtetsten Mannes von Norderney nicht verspotten.
   Onnen ballte die Fäuste. »Wär‘ ich ein erwachsener Mann«, dachte er, »auf irgendeine Weise schliche ich mich von hier fort und könnte gegen die Franzosen kämpfen! Ach, fühlten doch alle Deutschen so wie ich – sie hielten zusammen und prügelten den Korsen zum Lande hinaus auf Nimmerwiederkehr!«
   Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und verschränkte seine Arme. Wenn es ganz dunkel geworden war, konnte er ein wenig schlafen; die Vögtin hatte eben erst stillschweigend eine wahre Sündflut von alten Kartoffelsäcken die Kellertreppe hinabregnen lassen – ein sauberes Leintuch flog hinterdrein, das war genug, um wie ein König darauf zu schlummern.
   Schon jetzt schloß er die Augen und fing an zu träumen. Während der vorigen Nacht hatte er, anstatt zu schlafen, gearbeitet und marschiert, dafür packte ihn nun im Dämmerlicht des stillen einsamen Kellers die Ermüdung mit verdoppelter Stärke; er sah schon die Bilder seiner erregten Phantasie, bevor noch Minuten vergangen waren.
   An der Spitze einer siegreichen Armee stürmte er vorwärts, und während tausend Schwerter im Sonnenglanz blitzten, tausend Herzen frohlockend im Rausche der wiedererrungenen Freiheit schwelgten, sah er den französischen Kaiser vollen Laufes entfliehen. Damals fanden sich die Bildnisse Napoleons überall, jedes Kind kannte sie – im Traume zeigte Onnen dem Tyrannen seine geballte Faust.
   Ein halblautes Kichern ließ ihn plötzlich auffahren. Er sah umher, ein Seufzer der Enttäuschung hob seine Brust. »Nichts!« murmelte er, »nichts! Keine Schlacht!«
   Draußen lachte es wieder und Onnen hatte nun sein volles Bewußtsein zurückerlangt.
   »Wer ist da?« rief er.
   »Dir träumte wohl recht etwas Angenehmes, nicht wahr?«
   Onnen zuckte die Achseln. »Du bist‘s, Adam Witt!« sagte er gleichgültig.
   »Ja, ich bin‘s wirklich. Die Franzosen haben dich erwischt, nicht wahr?«
   »Und du möchtest jetzt ein wenig spionieren, möchtest, daß ich mich zu Schmähreden hinreißen ließe, um sie brühwarm zu hinterbringen, nicht wahr?«
   »Was du denkst! Ich finde es höchst ergötzlich, dich da so baumeln zu sehen. Eben murmeltest du im Schlafe von gewaltigen Prügeln.«
   »Die ich dir aufzählen will, ja. Und jetzt belästige mich nicht weiter.«
   Der Sohn des Franzosenfreundes lachte. Er kannte die Faust dessen, den er im Augenblick ungestraft necken durfte; eben um dieser vielen schlimmen Erfahrungen willen freute es ihn, sich heute einmal gehörig rächen zu können.
   Sobald Onnen die Augen schloß, weckte er ihn. »Du, die Gefangenen in der Amtsvogtei dürfen nicht schlafen! – Ich werde nun bald mit meinem Vater nach Paris gehen, wollte dir‘s nur sagen, damit du siehst, wer ich bin und wer du bist! Wir sind reiche Leute, wir haben Geld die Hülle und Fülle – neulich durfte ich mit Vaters Flinte nach einer Möwe schießen – ein Hunderttalerschein war als Kugelpfropf hineingesteckt. So viel könnt ihr sicherlich in einem ganzen Monat nicht aufwenden.«
   Keine Antwort.
   »Schläfst du wieder, Onnen?«
   Alles still.
   Der Bursche mit dem gelben galligen Gesicht ärgerte sich, während er seinen Altersgenossen zu ärgern glaubte. Als völlige Finsternis herabgesunken war, glitt Onnen vom Brett und legte sich auf die Kartoffelsäcke, aber zu wirklicher Ruhe kam er nicht denn Adam Witt rief entweder mit lauter Stimme seinen Namen, oder er warf kleine Steine in das offene Fenster hinein – immer ohne von drinnen ein Lebenszeichen zu erhalten.
   Als die alte Kuckucksuhr in der Kammer des Amtsvogtes fünf schlug, da kam dieser würdige Mann bedächtig in den Keller gestiegen und erlöste seinen Gefangenen. »Du«, sagte er tief seufzend, »du, ich wollte dich schon gestern abend wegspringen lassen, aber der lange Bengel, der Adam Wirt, spionierte hier fortwährend herum.«
   Onnen lachte. »Ist er noch da, Vogt?«
   »Wie weggeblasen! Er fürchtet wahrscheinlich deine Fäuste.« Onnen nickte. »Diese Vorahnung soll ihn nicht trügen. Adjes, Vogt!«
   Er streckte sich, schüttelte dem Alten die Hand und hatte binnen wenigen Minuten seines Vaters Haus erreicht. Frau Douwe küßte ihren einzigen mit mütterlicher Liebe. »Sollst gleich Kaffee haben, mein Junge! Die Franzosen finden zwar viel, aber doch, Gott sei dank, noch lange nicht alles.«
   An Bord der »Taube« herrschte seltsames Treiben.
   Zwei mit Nachtfernrohren versehene Männer hielten scharfen Ausguck, zwei andere standen am Mast, um jeden etwa gegebenen Befehl sogleich vollziehen zu können, während sechs Fischer damit beschäftigt waren, sich äußerlich unkenntlich zu machen, indem sie Kapuzen aus schwarzem Segeltuch über die Köpfe banden und um den Hals herum befestigten.
   Nur Augen und Mund sahen aus dieser Teufelsmaske hervor, sonst waren alle Teile des Kopfes vollständig verborgen. »Für euch liegen die Kapuzen hier«, sagte einer der Männer zu denen am Ausguck und am Steuer. »Daß ihr eure Gesichter nicht sehen laßt!«
   »Haltet Ihr denn die Gefahr heute abend besonders groß, Heye Wessel?«
   Der Gefragte zuckte die Achseln. »Wenn nun Doppelposten ausgestellt wären?« versetzte er. »Man kann nie in die Zukunft sehen.«
   »Ein Kanonenboot in Sicht!« meldete mit leiser Stimme der Mann am Ausguck.
   Kapitän Visser ergriff eiligst das Fernrohr. »Ein englisches«, sagte er aufatmend. »Das ist gut, es zeigt uns wenigstens sogleich an, wenn sich etwa Franzosen nähern sollten, und verschafft uns dadurch Zeit zur Flucht.«
   Ein blaues Licht blitzte hart backbord von der »Taube« aus der Finsternis auf, der Gegengruß erfolgte in ähnlicher Weise und geräuschlos, wie es gekommen war, glitt das englische Fahrzeug vorüber, so den Schmugglern den Weg zum Wattstrande freihaltend, gleichsam ihr Vorläufer zum sicheren Ziel.
   In den schwedischen und schleswigschen Häfen lagen damals Hunderte von Kauffahrteischiffen, die ihre Ladung, der Kontinentalsperre wegen, nicht löschen konnten und die daher, wenn sie nicht Zeit und Geld verlieren wollten, lediglich auf die Schmuggler angewiesen waren. Napoleon befahl und seine Schergen, zum Teil Wüteriche wie Davoust und Vandamme, führten auf das schonungsloseste diese widerrechtlichen Anordnungen aus, ohne im allermindesten zu beachten, daß dadurch ganze Völkerschaften geschädigt, ganze Gewerbe vernichtet wurden. So erklärte z. B. der Gewalthaber alle Schiffe, die sich mit Kolonialwaren beladen in den deutschen Flüssen fanden, einfach für konfisziert.
   Immer aber, immer und überall in der Welt stellt sich dem Mißbrauch einer Macht die Umgehung, die List entgegen. Was Hände besaß, das schmuggelte; hoch und niedrig, jung und alt, nicht am wenigsten die Franzosen selbst, sobald es galt, Seidenstoffe, Samt oder sonstige Wertsachen heimlich auf die Seite zu bringen.
   Die öffentliche Moral war verdorben durch das Beispiel von oben; man hatte den Norderneyer Schiffskapitänen ihr ehrliches Gewerbe entrissen, also schmuggelten sie wie alle übrigen auch. Als ein einziges Mal der Prediger des Dorfes gegen dies Unwesen seine Stimme erhob und den Spruch: »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist!« den verwegenen Paschern zu bedenken gab, da hatten sie ihm geantwortet: »Der Kaiser ist nicht unser Landesherr, sondern ein hereingebrochener fremder Räuber!« – und seitdem wurde von der Sache nicht wieder gesprochen.


   2

   Die »Taube« glitt vor frischer Brise dem Lande entgegen. Jetzt war man nahe am Ziel; zwischen der Küste und der Schaluppe befand sich kein Fahrwasser mehr, in welchem noch ein französisches Kanonenboot hätte treiben können – die nötigen Vorsichtsmaßregeln galten daher nur noch der bevorstehenden Landung.
   Alle Männer trugen die schwarzen Larven; eine Anzahl Seile und Streifen von altem Segeltuch wurden bereitgehalten.
   Die Schaluppe hatte volle Ladung und sogar darüber, sie ging daher sehr tief, so daß der scharfe Kiel schon den Sand des Ufers streifte, ehe noch jemand in den bewegten Fluten Fuß fassen konnte. Das Boot wurde ausgesetzt, die Anker herabgelassen, und während zwei von den Fischern in der Schaluppe blieben, schlichen die übrigen nach links und rechts durch die Dünen.
   Heute galt es einen verwegenen Handstreich auszuführen.
   Am Strande schritt ein französischer Zollwächter gelangweilt auf und ab. Mit eintönigem Klatschen schlugen die Wellen gegen das flache Ufer, Möwen schrien und der Wind strich kalt über das Wasser daher; den Sohn des wärmeren Himmelsstriches fror es, er gedachte seines schönen Landes und schauderte im Angesichte der kahlen nordischen Küste, des Bildes, das ewig das gleiche blieb, jahraus, jahrein – ewig das gleiche.
   Hinter ihm erklangen Schritte; er legte im Fluge das Gewehr an und spähte scharf in die Dunkelheit hinaus.
   »Wer da?«
   »Sei doch still, Dummkopf!«
   »Ah – Perrier, du bist es! Aber wenn der Leutnant käme?«
   »Er ist fort!« frohlockte der andere. »Die Offiziere gähnen sich auf dieser Sandscholle zu Tode – dafür haben wir desto größere Freiheiten. Man kann wenigstens plaudern.«
   Die beiden Soldaten setzten sich auf den Rand einer niederen Düne. »Lorrain«, flüsterte der zuletzt gekommene, »ich möchte dir einmal einen Vorschlag machen.«
   »Gib mir lieber einen Schluck Branntwein.«
   »Da nimm, du Schlauch! und jetzt höre mich an. Hier in den Dünen soll ein Warenlager versteckt sein – wenn man es fände!«
   »Hm, das wäre verteufelt angenehm. Man löst einen Lizenzschein und verkauft die Geschichte für ein Ei und ein Butterbrot.«
   »Um dabei selbst tüchtig zu gewinnen. Wollen wir einmal die Dünen durchsuchen, du und ich?« Lorrain schüttelte den Kopf., »Weißt du denn die Stelle, Perrier?«
   »Ziemlich sicher wenigstens. Unter uns – der Peter Witt hat mir einen Wink gegeben! Er fand eine Schlucht, wo größere Vorräte gelagert haben müssen, alle vorhandenen Zeichen verrieten es, aber nun war das Nest leer, die Pascher haben ohne Zweifel ihre Beute auf dem Festlande in Sicherheit gebracht.«
   »Natürlich, natürlich. Man muß sie ganz ungestört lassen, damit neue Vorräte herbeigeschafft werden.«
   »Das denke ich auch. Die ›Taube‹ des alten Klaus Visser ist heute ausgelaufen, angeblich zum Fischen, aber Peter Witt glaubt, daß wieder eine Ladung Kolonialwaren geborgen werden soll – du, er sitzt in der Nähe des Versteckes auf der Lauer!«
   »Und gibt uns ein Zeichen?« rief Lorrain.
   »Pst! Er merkt sich den Ort, das ist alles. Morgen, wenn die Schmuggler abgezogen sind, bewacht einer von uns ihre Niederlage und der andere löst bei dem Präfekten in Norden den Lizenzschein. Wir haben das Geld so gut wie in der Tasche.«
   »Müssen aber dem langen Esel, der den ganzen Tag mit seinem Orden liebäugelt, eine tüchtige Abgabe zahlen, nicht wahr?«
   »Gar nichts!« raunte in vergnügtem Tone der andere, »gar nichts, du! Er begnügt sich mit der Ehre. Sein Rock hat ja noch mehr Knopflöcher, als nur das eine, weißt du, und für so ein buntes Ding verrät dieser Mensch seinen Herrgott und sein Vaterland!«
   Sie lachten beide, sie hatten sich in ihre angenehmen Hoffnungen auf Beute dermaßen vertieft, daß es ihnen vollständig entging, als von den höher gelegenen Dünen mehrere dunkle Gestalten langsam herabkletterten. Sowohl Lorrain wie Perrier hielten die Gewehre zwischen den Knien und den Rücken in bequemer Stellung gebogen, sie sprachen von der Möglichkeit, morgen einige hundert Taler in die Tasche stecken zu können, während ihnen ungesehen der Feind immer näher rückte.
   Vier Arme erhoben sich geräuschlos, ein dunkler Gegenstand schwebte in der Luft und fiel dann gedankenschnell herab auf die Köpfe der beiden Zollbeamten. Erstickte Laute wurden gehört, Lorrain kämpfte wie ein Verzweifelter gegen den Knebel, welchen ihm Heye Wessel, der Riese, in den Mund stopfte, während Klaus Visser seinen Genossen überwältigte.
   Perrier setzte sich in keiner Weise zur Wehr, er stieß vielmehr dem anderen fortwährend in die Rippen, um ihm zu sagen: »So laß doch alles geschehen! Die Leute bringen ja ihr Eigentum zu unserem Vorteil an Land, sie wissen nicht, daß wir ihr Versteck kennen – desto schlimmer für sie selbst.«
   Aber Lorrain verstand keinen dieser freundschaftlichen Püffe. Er kugelte mit seinem herkulischen Gegner im Sande umher und die beiden lieferten sich eine regelrechte Schlacht, ehe endlich der Franzose gebunden und geknebelt, mit einem Tuche über den Augen dalag, jetzt außerstande, auch nur noch einen Finger zu bewegen.
   Heye Wessel riß die Kapuze ab, er trocknete sich den Schweiß von der Stirn, dann winkte er den anderen; es war ja immerhin besser, wenn die Franzosen auch ihre Stimmen nicht erkannten. Sie entfernten sich etwa zwanzig Schritte vom Kampfplatze und standen nun still, um zu beraten.
   »Also der Hund, der Witt, hat unser Versteck ausgespürt!«
   »Wir können nun die Ladung nicht dahin bringen.«
   »Das steht fest, aber – wo lassen wir sie?«
   »Nach Hilgenriedersiel!« entschied der Kapitän.
   »Zu wem?« fragte hastig ein anderer.
   »Zu meiner Schwester, die gleich hinter dem Deiche wohnt. Wir müssen es wagen, oder einfach die Ladung im Stich lassen. Der Witt soll nicht triumphieren, soll nicht sagen, daß er uns überlistet habe.«
   Darin waren alle einig, und dennoch schüttelten sie die Köpfe. So im Dunkeln zu Fuß über das Watt, durch das seichte Meer zwischen der Insel und dem Festlande? – Ein schauriger Gedanke.
   »Wieviel Uhr ist es?« fragte der Kapitän.
   »Etwa zwölf. Gegen drei kommt die Flut.«
   »Wir haben also Zeit genug. Die Schaluppe kann uns später in Hilgenriedersiel wieder an Bord nehmen.«
   »Es bleibt nur dies Mittel übrig«, meinte auch Heye Wessel. »Auf! Zwei von uns sind Wattführer – die finden den Weg auch im Dunkeln.«
   Niemand antwortete, und so eilte die ganze kleine Gesellschaft zur Schaluppe zurück. Die beiden an Bord gebliebenen Schmuggler wurden verständigt und dann aus einem Versteck im untersten Schiffsraume vier kleine Räder hervorgeholt. Das Boot verwandelte sich in einen Wagen, es wurde im Fluge beladen und außerdem den Männern auf den Rücken geschnallt, was sie irgend tragen konnten.
   »Vorwärts – es muß sein!«
   »Onnen, du könntest nach Hause gehen«, meinte tief atmend der Kapitän.
   Der Knabe erschrak. »Nur mit dir, Vater; wo du bleibst, da bleibe auch ich!«
   Und so willigte Klaus Visser denn kopfschüttelnd ein, das Boot wurde bespannt, die beiden Wattführer gingen mit den gegen das Land geschlossenen Laternen voran, ihnen folgten, einer hinter dem anderen, alle übrigen.
   »In anderthalb bis zwei Stunden können wir drüben sein«, sagte der Kapitän.
   Niemand antwortete; die Gefahr des Unternehmens lähmte alle Herzen. Nur ein Gedanke beherrschte die Leute: »Wenn wir vom Wege abkämen!«
   Dünne Birkenstämme bezeichneten die Furt; rechts und links brauste das Meer, bläulich schimmerten im ungewissen Licht die einzelnen Rinnen und Lachen, deren trübe Fluten unter den Füßen der Männer hoch aufspritzten. Man war vor einem wenigstens sicher, vor jeder Begegnung nämlich, daher brauchte kein Stillschweigen zu herrschen. Weder Freund noch Feind würde sich hinauswagen in die grauenvolle Einöde, den feuchten Grund des Meeres, das einige Stunden später rollend und brandend zurückkam, um alles zu verschlingen, was seine wilden Wogen fanden und erwürgten. Unter den Füßen kroch es und flog, huschte nach allen Seiten; jede kleinste Erhöhung war bedeckt mit lebenden Wesen, die einander bekämpften. Große Mantel– und Silbermöwen, Austernfischer, Kampfhähne, Gänsesäger, Brandenten und Lummen bevölkerten das Watt, um auf demselben ihre Nahrung zu suchen; sie saßen in ganzen Scharen beieinander, flogen ab und zu, kreischten und flüchteten, wo sich ihnen die Menschen näherten.
   »Halb zwei Uhr vorüber. – Wo sind wir, Uve Mensinga? Du mußt es wissen.«
   Der Wattführer nickte. »Haben bald die Hälfte des Weges, Kapitän Visser! – Mehr nach links, Leute – drüben läuft die tiefe Rille.« Sie wechselten ab mit Schieben und Tragen; von allen Stirnen floß der Schweiß. Schien es nicht ringsumher dunkler zu werden anstatt heller?
   »Westwind!« sagte Heye Wessel. »Es gibt Regen!«
   »Ob die Teekisten dicht halten?«
   »Sind alle gut verzinkt. Die ersten Tropfen fallen schon.« Langsam zog eine schwarze Wolke am Horizont herauf, dichter und immer dichter rieselte in schweren Schauern der Regen herab. Binnen weniger Minuten schien alles ringsumher in Wasser verwandelt, es glitzerte und leuchtete, es plätscherte unter den Tritten der Männer.
   »Nach links, nach links!« ermahnte Uve Mensinga und auch der zweite Wattführer schob mit kräftigem Ruck den Karren in diese Richtung hinüber. »Siehst du die Stämme, Uve?« fragte er etwas unruhig.
   »Ich denke, daß nun gleich wieder einer kommen muß!«
   Aber im selben Augenblick brach über seine Lippen ein Schreckensruf. »Das breite Loch!« rief er. »Zurück! Zurück! Wir sind aus der Furt herausgekommen!«
   Es brauste in den Lüften wie ferner Donner, die See brandete und der Regen floß in Strömen. Das helle Lachen der Möwe klang schaurig durch all den Graus – dicht um die Köpfe der Männer strich mit schwerem Flügelschlage die große Raubmöwe, als wolle sie sich jetzt schon der Beute versichern.
   Und Mensinga schob den Wachstuchhut tiefer in die Stirn.
   »Ich muß zurückgehen und die Furt untersuchen«, sagte er.
   »Aber bleib um Gottes willen nicht lange. Noch eine Stunde, dann ist die Flut an dieser Stelle.«
   »Wir können in vierzig Minuten drüben sein! Das breite Loch liegt, wie ihr wißt, hinter zwei Dritteln des Weges.«
   »Ja! Ja! – An diese Nacht will ich denken, solange ich lebe!« —
   Dicht nebeneinander, mit pochenden Herzen standen die Schmuggler. Wasser ringsumher, bewegtes, wellenschlagendes Wasser, das schon ihre Füße netzte. Wenn jetzt eine Springflut kam, was dann? Es war der sichere Untergang für alle; sie wußten es.
   Wo nur der Wattführer bleibt? Er könnte wohl schon zurück sein!
   »Uve!« rief halblaut eine Stimme.
   Keine Antwort; nur die Möwe lachte und der Sturm brauste.
   »Uve Mensinga, wo bist du? – Gib doch Bescheid!«
   Das Licht der Laterne blitzte auf; mit todbleichem Antlitz stand der Wattführer vor seinen Genossen. »Wir müssen ganz vom Wege abgekommen sein – ich bin außerstande, einen der Birkenstämme zu finden.«
   Sekundenlang schwiegen alle, das Entsetzliche wirkte lähmend, dann aber sprachen sämtliche Stimmen zugleich:
   »Vorwärts, vorwärts, das breite Loch lassen wir rechts liegen!«
   »Wir dürfen nicht länger zögern, uns bleiben bis zum Eintritt der Flut nur noch fünfzig Minuten.«
   »Aber dann steigt der Boden allmählich an. Wir haben noch eine volle Stunde, und das genügt.«
   Wieder schoben vereinte Kräfte das Boot. Eine neue Gefahr tauchte langsam aber sicher aus dem Dunkel herauf; auch der Deich von Hilgenriedersiel hatte eine Wache französischer Zollbeamten. Nur um diesen letzteren in die Hände zu fallen, sollte der furchtbare Weg über das gefahrdrohende Watt zurückgelegt sein? – Das wäre entsetzlich.
   »Kennst du dich gar nicht mehr aus, Uve? Und auch du nicht, Lars Meinders?«
   Der letztere nickte. »Wir sind in der Furt«, sagte er, »aber zu weit rechts.«
   »Hurra!« rief in diesem Augenblick Onnens Stimme, »hier ist eine Birke.«
   Die beiden Führer eilten zu ihm. »Links hinüber!« riefen sie. »Jetzt geht noch alles gut!«
   Ein sonderbar gurgelndes Geräusch ließ die Männer aufhorchen. Breit und schaumbedeckt rollte eine Welle vor ihre Füße, um im gleichen Augenblick wieder zurückzutreten und zu verschwinden. Das war keine Rinne, keine Vertiefung – so flutete nur das ansteigende Meer, so hob und senkte sich in gemessenen Pausen die Riesenbrust – da, da, es kam wieder – ja, es war das Meer, die Flut. »Eilt euch, eilt euch, so sehr ihr euer Leben liebt!«
   Das Boot flog über den nassen Sand, die Schmuggler bissen ihre Zähne zusammen, sie sprachen kein Wort, sie flüchteten nur in toller, atemloser Hast, wie das Leben vor dem Tode flieht, vor dem entsetzlichen Gedanken der Vernichtung.
   Ein helles Pünktchen blitzte auf – in weiter, weiter Ferne. Es schien mit jeder verrinnenden Sekunde größer zu werden.
   »Licht in Hilgenriedersiel!«
   »Das ist nicht das Dorf«, keuchte Lars Meinders. »Es muß dort hinüberliegen!«
   »Auch da erscheint ein Licht!«
   »Ruhig! Ruhig!« ermahnte der Kapitän. »Wo haben wir denn unsere Augen, Kinder? – Das Meer leuchtet!«
   Überall in Nähe und Ferne schienen die Wellen mit flüssigen Feuertropfen besät, überall spielten und glühten schimmernde Brillanten, die sich in ganzen Wogen hoben und senkten. Ein brennendes Meer, brennende windgepeitschte Fluten – so entrollte sich das Bild voll wunderbarer ergreifender Schönheit.
   Jetzt leuchtete alles. Weithin von Norderney bis zum Ostfriesischen Deiche schaukelten und schwellten die blitzenden Wassermassen; jede Woge warf funkelnde Rubinen den Schmugglern vor die Füße, jede schien in ihren Flammenschoß die dunklen Gestalten hinabziehen zu wollen auf Nimmerwiederkehr.
   »Ob wir die Räder abreißen? Ob wir das Boot treiben lassen?«
   »Geduld! Geduld! Seht ihr denn nicht den schwarzen Streifen? Das ist das feste Land!«
   »Aber noch weit ab, weit ab! Jesus, mein Heiland, wenn dort Franzosen ständen!«
   »In diesem Regen? Die feinen Muttersöhnchen würden ja schier den Schnupfen kriegen! Sie sind ohne Zweifel beizeiten unter Dach und Fach gekrochen.«
   »Oder sie werden geknebelt wie drüben die beiden anderen. Alle Hagel, das Wasser steigt!«
   Wenn jetzt die Welle heranrauschte, dann standen alle Männer still und hielten sich mit beiden Händen an den Bootsrändern, bis die Gewalt des Andranges nachließ, dann wurde die kurze Pause benutzt, um mit verdoppelter Hast zu laufen.
   Ein Kampf, ein Ringen auf Tod und Leben. Jede Woge stieg höher, kam mit stärkerer, vollerer Wucht, jede erschwerte das Gehen auf dem durchweichten Grunde. Wo sich das Salzwasser mit dem vom Regen in den Kleidern der Schmuggler zurückgebliebenen mischte, da schien sekundenlang ein Kochen und Brodeln zu entstehen; Funken fielen herab, es glühte und leuchtete, bis langsam der Schimmer wich und neue Dunkelheit alles umhüllte.
   Jetzt gingen die Wogen bis an den Bootsrand. Noch einen einzigen Zoll höher und das sonderbare Fahrzeug, halb Schiff, halb Karren, mußte versinken.
   »Da ist der Deich! – Zwanzig Schritte weiter hinaus! – Haltet stand, Leute, haltet noch einige Minuten stand!«
   »Pst! – da oben können Posten stehen!«
   Die letzte Welle kam, hoch und donnernd schlug sie heran. Einer der Schmuggler stürzte, die übrigen rissen ihn mit vereinten Kräften empor – es war ein Augenblick, in dem alle glaubten, daß nun das Ende, das furchtbare, nahe sei.
   »Onnen, wo bist du?«
   »Hier, Vater!«
   Mit einer Hand hielt der Kapitän die Kiste auf seiner Schulter, mit der anderen den Knaben. Wortlos kämpften in den wenigen Augenblicken zwischen Welle und Welle die abgehärteten seegewohnten Fischer, um den rettenden Strand zu erreichen.
   Heye Wessel, der Riese, hatte festen Grund gefunden. Er warf seine Last von sich und faßte Posto, breitspurig, unerschütterlich wie der Koloß von Rhodos.
   »Gib mir die Hand, Junge!«
   Onnen kam als der zweite an das rettende Ufer, dann folgten mit dem Boote die übrigen. Ihnen nach, donnernd und brausend, stürzten die Wogen.
   Stumm, keuchend, mit dem Schweiß der furchtbarsten übermenschlichsten Anstrengung auf den glühenden Stirnen standen die Schmuggler beieinander. Wie eine Riesenflamme glühte weithin das Meer, wie Millionen Diamanten sprühte es aus jeder Woge. Durch dies brandende, ungestüm schwellende Element, durch das wilde, tobende Wasser waren sie stundenweit gewandert, hatten sie die kostbare Ware unbeschadet hinübergebracht auf das feste schützende Land.
   »Wißt ihr, wie mir ist?« raunte Heye Wessel. »Ich möchte Hurra schreien, daß alles Donnern und Brüllen der See sich ängstlich dagegen verkröche.«
   »Um des guten Gottes willen nicht! Sollen dich die Parlewus hören?«
   »Ich tu‘s ja nicht, Kamerad, aber – man möchte eben seinem Herrgott danken und das kann ich immer am besten, wenn ich einmal ganz gewaltig schreien darf!«
   Uve Mensinga versuchte umsonst, mit dem völlig durchnäßten Taschentuch seine Stirn zu trocknen. »Wie sich der Witt da oben in den Dünen ärgern mag«, sagte er grimmig lachend. »Sitzt und lauert immerfort – aber es kommt niemand!«
   »Still doch! Still doch! Bedenkt, wenn uns ein Franzose hören würde!«
   Sie standen auf dem breiten, langsam ansteigenden Fahrdamm, der von der mehr benutzten Bootstreppe einige fünfzig Schritte weit entfernt war. Hier erwartete man auf keinen Fall Gäste, es ließ sich daher hoffen, daß der Übergang ohne Hindernis möglich sei – wenigstens mußte die Sache erst einmal versucht werden.
   Lars Meinders als der schmächtigste und gewandteste von allen kroch in einiger Entfernung vorsichtig bis zur vollen Höhe des Deiches hinauf, dann sah er spähend umher; im nächsten Augenblick gab seine Hand den unten Wartenden ein Zeichen.
   »Still!« hieß es. »Feinde in der Nähe!«
   Sie horchten mit aussetzendem Herzschlag.
   »Macht das Boot leer!« raunte der Kapitän. »Wir müssen im Notfall die Kisten einzeln tragen.«
   Sie legten sämtlich Hand ans Werk, dann wurden in aller Stille die Räder abgeschraubt, aus dem untersten Grunde die Riemen hervorgesucht und das Boot zu Wasser gebracht, wo es zwei Männer an Seilen festhielten.
   Lars Meinders glitt geräuschlos vom Deiche wieder herab. »Seht dorthin«, flüsterte er, auf das Meer hinaus deutend, »da naht unsere Rettung.«
   Aller Köpfe wandten sich der bezeichneten Richtung entgegen. Ein weißes Segel schimmerte nahe am Strande; es war eine Schaluppe, die der Landungstreppe zusteuerte.
   »Die ›Taube‹!« rief leise der Kapitän. »Sie kann uns nur ohne die Kisten aufnehmen! Das ist nichts, Meinders.«
   Der Wattführer schüttelte den Kopf. »So meine ich‘s ja nicht, Mann. Onnen, mein guter Junge, gib doch einmal das Zeichen, daß sie da, wo sie jetzt sind, kreuzen und sich nicht aus Sicht entfernen, aber auch nicht näher herankommen sollen.«
   Der Sohn des Kapitäns richtete sich höher auf. Dreimal erscholl das ärgerlich klingende Geschrei des Kampfhahnes, täuschend nachgeahmt, so daß es keinerlei Verdacht erregen konnte. Die Männer sahen gespannten Blickes hinüber – an Deck der »Taube« erschien und verschwand gedankenschnell ein blaues Licht, dann war alles dunkel.
   »So ist‘s gut«, nickte Lars Meinders. »Nun gebt mir das Boot, Kameraden, und wenn ihr einen gellenden durchdringenden Pfiff hört, so bringt die Kisten in das Dorf. Laßt mich nur machen!«
   »Willst du uns nicht wenigstens einige Erklärungen geben, Lars?«
   Der Wattführer stieg in das Boot. »Wäre zu weitläufig«, sagte er. »Ihr habt eure Verhaltungsmaßregeln.«
   Und geräuschlos die Riemen in das Wasser tauchend, fuhr er der Bootstreppe zu. Unruhig spähend und horchend blieb das kleine Häuflein der Schmuggler in völliger Ratlosigkeit zurück.
   »Vater«, flüsterte Onnen wie aus gepreßter übervoller Brust, »Vater, ein ehrlich Gewerbe wäre mir doch lieber!«
   Der Kapitän nickte. »Mir auch, Kind, aber die Franzosen haben uns alle Wege verlegt, haben unser Land ausgeplündert und uns an den Bettelstab gebracht. Wenn wir in Deutschland nichts mehr zu beißen und zu brechen haben, dann müssen wir dem Himmel danken, daß das reiche Frankreich uns seine Arme öffnet, dahin soll‘s kommen, wenigstens träumt‘s der freche Korse so.«
   Onnens Augen blitzten. »Daß wir Franzosen würden; ganz und für immer, Vater? Daß es gar kein Deutschland mehr gäbe!«
   »Ja! Ja!«
   »Nie!« rief der Knabe. »Gott kann das Abscheuliche nicht geschehen lassen!«
   »Wir wollen‘s hoffen; einstweilen müssen wir schmuggeln, wenn unsere Kranken und unsere Säuglinge noch ein Stückchen Zucker behalten sollen, die alten Frauen ihren Kaffee und Tee.«
   Während dieser Unterhaltung war Lars Meinders bis zur Bootstreppe gerudert, hatte das Fahrzeug lose an einem Pfeiler befestigt und stieg nun die Treppe hinan, aber dermaßen ungeschickt, daß ihn der Wachtposten sogleich bemerkte.
   »Qui vive?« rief er aufhorchend in das Dunkel hinein.
   Lars Meinders erkünstelte einen halbunterdrückten Schreckensschrei, er polterte die Stufen hinab und plumpste in das Boot, als wolle er schleunigst flüchten.
   Der Franzose, beutegierig wie alle diese angeworbenen, durchweg moralisch verkommenen Zollbeamten – der Franzose lief sogleich in die offene Falle des schlauen Wattführers hinein.
   »Hierher!« schrie er. »Hierher! Hilfe!«
   Eine Sekunde später sah Lars Meinders den Soldaten, welcher am Fahrdamm Wache hielt, schnellen Laufes herbeieilen; über sein ehrliches rotes Gesicht flog jenes stille Lachen, das ihm eigen war, er steckte zwei Finger in den Mund – ein langgezogener Pfiff gellte durch die Luft.
   »Das war das Zeichen!« raunte Uve Mensinga.
   »Schnell! Lars Meinders ist nicht der Mann, uns irre zu führen.«
   Sie nahmen die Kisten wieder auf und Onnen schlüpfte als der erste den Fahrdamm hinan. »Alles leer!«
   Wie schwarze Gespenster glitten die Schmuggler hinüber zum Dorfe, sechsmal nacheinander, ungehindert, im Fluge – dann waren alle Teekisten geborgen.
   Der Wattführer hatte ihnen den Weg freigemacht, jetzt wußten sie es.
   Während die Beamten das Zollboot vom Pflock lösten und sich anschickten, jenes andere Fahrzeug von der »Taube« abzuschneiden, entkamen die wirklichen Pascher ungehindert über den Deich in ein grünes Gärtchen, dessen Hecken ihnen genügende und sichere Verstecke boten. Im Schutze des hohen Walles blühten hier bescheidene Blumen, wuchsen Stachelbeeren und Flieder, sogar ein paar knorrige verkümmerte Apfelbäume, denen aber der salzige Wind die Kronen verdorrt hatte, wie überall am Nordseestrande.
   Tief in der Mitte des bäuerlichen Besitzes lag ein niederes strohbedecktes Haus, dem jetzt die Schmuggler ihre Schritte zulenkten.
   »Meine Schwester muß schon aufgestanden sein«, sagte flüsternd der Kapitän. »Es brennt Licht in der großen Stube.«
   Sie schlichen auf dem schmalen Pfade zwischen dem Hause und der Stachelbeerhecke vorsichtig zum Fenster und Klaus Visser sah hinein. »Na! Na!« raunte er, »was ist denn das?«
   Drinnen in der »Döns«, der geräumigen einzigen Stube des Bauernhauses, saß eine ältliche Frau und stützte den Kopf in beide Hände. Die Ellbogen vor sich auf den Tisch gestemmt, sah sie unverwandt ins Leere, während große Tränen, eine nach der anderen, über ihre bleichen Wangen herabrollten.
   Außer dieser Frau befand sich niemand im Zimmer.
   »Da ist etwas Schlimmes geschehen«, murmelte der Kapitän. »Ich will einmal anklopfen – dann folgt mir nach, Kameraden.«
   Er ging um das Haus herum und bald sahen die übrigen, daß er Einlaß begehrt haben mußte, denn die weinende Frau fuhr plötzlich auf und schien zu erschrecken – sie öffnete die Tür wie jemand, der ein großes Glück erwartet, und ließ dann, als der Kapitän eintrat, mutlos die Arme sinken.
   Er sprach mit ihr. Die Draußenstehenden sahen ihn die Fäuste ballen. »Herrgott, Herrgott, das ist zu arg!«
   Sie alle hatten es verstanden, er winkte ihnen auch schon, und eilends, voll schlimmer Erwartung betraten sie das Haus. Frau Antje, die Herrin desselben, verhüllte das Fenster – sie weinte jetzt noch ärger als vorher.
   »Tante Antje«, rief Onnen, »was fehlt dir? Wo ist Onkel Martin?«
   Aber nur ein Schluchzen antwortete ihm. »Kinder«, sagte der Kapitän, »die Franzosen haben eine neue infame Schurkerei verübt! Das junge Volk soll zum Kriegsdienst ausgehoben werden, wie ihr wißt. Mancher hat sich beizeiten auf– und davongemacht – na und da stecken sie nun die Väter dieser Flüchtlinge einfach ins Gefängnis, als Geiseln für die Söhne. Schwager Martin Hansen ist gestern mit noch mehreren anderen aus Hilgenriedersiel abgeführt nach Norden.«
   Frau Antje weinte bitterlich. »Mein Sohn ein Flüchtling«, schluchzte sie, »und mein Mann ein Gefangener! – Was soll nun aus Haus und Hof, aus dem Geschäft und den kleinen Kindern werden?«
   Uve Mensinga näherte sich der unglücklichen Frau. »Was das Geschäft betrifft, so seid außer Sorge, Frau Antje«, sagte er, »der Lars Meinders und ich wollen schon Martin Hansens Dienst als Wattführer mit übernehmen und euch den Lohn getreulich abliefern. Die Pferde versorgt dieser oder jener aus dem Dorfe – und Fische bringen wir euch reichlich ins Haus. Getrost, Frau! Wenn die Not am größten, dann ist die Hilfe am nächsten. Der Korse stößt sich schon irgendwo ein Loch in den Kopf, so daß das Land wieder frei wird vom Übel.«
   Er bot treuherzig der Weinenden die Hand und auch Klaus Visser bemühte sich, sie zu trösten, »Laß es gut sein, Antje, ich bin ja kein armer Mann, kann wohl dir und deinen Kindern über die böse Zeit hinweghelfen. Der Martin wird es leicht ertragen, da so ein paar Wochen oder Monate im Loch zu sitzen, er ist ja ein starker, kräftiger Mann.«
   Die arme Frau trocknete ihre rinnenden Tränen. »Ich danke euch, Uve Mensinga«, sagte sie seufzend, »und auch dir, Bruder Klaus. Gott möge unser unglückliches Land beschützen! – Wißt ihr schon, was man sich Neues erzählt?«
   »Nun?« rief der Kapitän. »Heraus damit!«
   »Der Korse marschiert nach Rußland, dafür braucht er so viele Soldaten. Ach, sie sagen ja, daß er sich die ganze Welt untertänig machen will!«
   »Holl Pust! (Halte auf!)« lächelte der Kapitän. »Gott stüert de Bööm, dat se nich in‘n Heben wast!« (Gott wehrt es den Bäumen, in den Himmel hineinzuwachsen.)
   Die vermeintliche Schreckensnachricht schien den Fischern eine heimliche Hoffnung einzuflößen. Nach Rußland! Das konnte ja kein gutes Ende nehmen!
   Aber es blieb jetzt für Vermutungen und Pläne keinerlei Zeit übrig; man mußte die Teekisten nach Emden schaffen, ohne einer einzigen der zahllosen umherstreifenden Zollpatrouillen in die Hände zu fallen, und da war guter Rat teuer, bis endlich Onnen einen Ausweg gefunden zu haben glaubte.
   »Ich weiß, wie wir es machen!« rief er.
   »Nun?« fragte der Kapitän, »und das wäre?«
   »Die alte Kutsche, mit der Onkel Hansen seine wasserscheuen Badegäste über das Watt fährt, muß heraus und —«
   »Prachtvoll!« unterbrach Klaus Visser, »wir setzen die beiden großen Lederpuppen, von oben bis unten mit Tee gefüllt, hinein. Zufällig sind die Dinger hier bei dem Krämer Hildebrandt in Hilgenriedersiel.«
   »Und einen Paß habe ich auch«, meinte Heye Wessel. »Schwerenot, es kommt einem doch gut zustatten, wenn man mit den Schreibern auf der Präfektur zusammen zur Schule gegangen ist und für Geld und ein freundliches Wort so einen gestempelten Papierfetzen erhält, so oft man es wünscht.«
   Er zog einen zusammengefalteten Bogen aus der Brieftasche und las den Inhalt vor: »Reisepaß von Emden nach Norderney und auf dem Landwege zurück, für Herrn Kaufmann Poppinga nebst Sohn und Tochter!‹ – Alle Wetter, woher nehmen wir die Tochter! Meine Amke macht sonst die Fahrt mit dem alten Hansen und dreht sich und wispert wie eine richtige Dame, aber die sitzt ja jetzt zu Hause auf Norderney!«
   »Schadet nicht!« rief Onnen. »Was Eure Amke kann, das bringe ich auch fertig, Heye Wessel! – Die Base Hurtke – oder Johanna, wie sie lieber hört! – muß mir ihre Sonntagskleider leihen und fort geht es als Fräulein Poppinga nach Emden.«
   Der alte Seebär lächelte. »Das hübsche glatte Gesicht dazu hast du Schlingel, bist auch durchtrieben genug für ein lustiges Schelmenstück, aber so lang aufgeschossen sind die Mädels doch selten. Wo sollen wir‘s abschneiden, am Kopf oder an den Füßen? he?«
   »Laßt alles an seinem Platz, Gevatter, ich bleibe im Wagen sitzen und tue ganz ängstlich. Ach, ach – Bruder und Vater sind so krank, man darf sie nicht stören, kein Wort mit ihnen sprechen! Ich weine ein wenig und seufze, das macht die französischen Herzen gleich windelweich.«
   Sie lachten alle, selbst Frau Antje streichelte das blühende Antlitz ihres Neffen. »Ich will dir Hurtkes Sonntagsstaat herbeiholen«, sagte sie voll neuen Mutes. »Du mußt doch die Sachen erst probieren.«
   Ein paar Flaschen Bier und Branntwein, ein großes Brot und ein Schinken kamen auf den Tisch; dann, nachdem alle gesättigt waren, folgte die »Kostümprobe«, wie Onnen es nannte. Mit dem Hute und der seidenen Mantille ging die Sache vortrefflich, aber unter dem Kleide sahen die Wasserstiefel bedenklich lang hervor, während Base Hurtkes kleine Schnallenschuhe nicht ohne Ach und Weh den derberen Füßen ihres Vetters angepaßt werden konnten. Aber auch das würde sich machen lassen – man braucht ja im Wagen keine Schuhe. Onnen fand den Spaß prachtvoll.
   Allmählich begann unter diesen Vorberatungen der neue Tag, und die ganze Schmugglergesellschaft siedelte über in den Wagenschuppen, wo einige Stunden Schlaf die müden Glieder zu weiterer Arbeit stärkten; dann, gegen neun Uhr morgens, entwickelte sich hinter verschlossenen Türen ein eigentümliches Schauspiel.
   Frau Antje holte vom Krämer die beiden Lederpuppen, in denen der Tee durch das Land geschickt zu werden pflegte, umfangreiche Männergestalten mit Gesichtern und Perücken, die im Sitzen, namentlich bei etwas zweifelhafter Beleuchtung, von lebenden Menschen nicht so leicht unterschieden werden konnten. Man fuhr sie unter den verschiedensten Namen und auf allen Wegen des Landes schon seit langem umher, und wo sie im Dunkel des Abends hinter irgendeinem Torweg verschwanden, da wurde schleunigst eine Hinrichtung vollzogen – der Kopf fiel ab, der Rumpf neigte sich und der ganze Herr Baron oder Präsident schrumpfte zusammen zur bloßen Mumie, während vierzig bis fünfzig Pfund Tee von flinken Händen in ein sicheres Versteck überführt wurden.
   An diesem sonnigen Morgen erhielten die ledernen Herren ihre Füllung als Kaufmann Poppinga und Sohn. Heye Wessel, der Riese, stopfte mit den langen Armen so viele Pfunde Tee in die Puppen hinein, wie diese nur zu fassen vermochten, dann bekleidete man sie auf das ausgesuchteste, zog ihnen Handschuhe an, kämmte Bart und Haar und setzte sie in die große alte Kutsche mit dem tiefen Sitz, den die grünen Gardinen beinahe gänzlich verhüllten. Unterdessen hatte Onnen seine Verwandlung bewerkstelligt, etwas Mundvorrat für ihn war auch in den Wagen gebracht, ein Knecht des Wattführers setzte sich auf den Bock und die Fahrt konnte beginnen.
   Onnen hielt sein Kleid zierlich in beiden Händen, er hatte das Gesicht tief verschleiert und über die braunen derben Knabenfäuste ein Paar Handschuhe gezogen; der Paß steckte in dem Arbeitsbeutel, ohne welchen damals kein wohlerzogenes junges Mädchen zu denken war.
   »Vorwärts!« rief er lustig. »Wir können gerade bei einbrechender Dunkelheit in Emden sein, wie ich hoffe. An der Westerbutfenne bei Düke Mommsen, dem Gastwirt, gebe ich die Ladung ab, da mag sie Hans Houtrouv in Empfang nehmen.«
   Der Kapitän nickte. »Aber hüte dich, Junge, laß lieber den Tee im Stiche als deine Freiheit. Ist alles besorgt, so gehst du zum Vetter nach Larrelt und von dort hole ich dich morgen selbst mit der ›Taube‹ ab.«
   »Allstunds, Vater! Und nun: Adjes.«
   »Behüt Gott! Adjes, Adjes.«
   Der schwere Wagen rumpelte aus dem Gehöft hinaus und die Lederpuppen nickten mit den Köpfen. Onnen fühlte sich hinter seinem Schleier keineswegs behaglich; was er dachte, das war in lauter Bitterkeit getaucht. »Möchten wir doch lieber die Franzosen zum Lande hinausprügeln, als daß sie uns sämtlich zu Schelmenstücken zwingen! – Sitzt man da wie ein angezogener Affe auf dem Jahrmarkt!«
   Sobald aber eine französische Streifwache nahte, begann das Vergnügen. Der Kutscher hielt, ein bärtiger Zollwächter trat an den Schlag und fragte nach dem Passe. Onnen reichte ihm das Blatt. »Wir haben so große Eile, mein Herr! – Ach bitte, bitte, der arme Vater ist leidend.«
   Die Zollbeamten sahen seine schönen Augen, seine Seufzer und das hübsche verschleierte Gesicht, sie warfen nur einen einzigen Blick auf den Namenszug des Präfekten Jeannesson und gaben dann den Paß zurück. »Alles in Ordnung. Reisen Sie glücklich, Mademoiselle!«
   Dann wurden Onnens braune Wangen sehr rot, er ärgerte sich wieder und gab den Lederpuppen Nasenstüber, aber es freute ihn doch, daß Meile nach Meile hinter dem Wagen zurückblieb und daß gegen Abend die Türme von Emden im letzten Sonnenglanz vor seinen Blicken erschienen.
   Mehr als zweihundert Pfund Tee steckten in den beiden Puppen, das war ein barer Verdienst von 180 Frank; denn die Franzosen erhoben damals eine Steuer von 90 Frank für den Zentner. Onnen wollte bei Düke Mommsen die Ware am gewohnten Orte verbergen und dann mit Hans Houtrouv, dem Krämer, abrechnen.
   Der Wagen fuhr durch das Stadttor und ungehindert bis zur Westerbutfenne. Düke Mommsens Gasthof mit dem großen Dreimaster im Schilde und mit der weiten sauberen Toreinfahrt war erreicht, es dunkelte stark und leise stäubend begann ein feiner Regen herabzuträufeln. Onnen wollte eben mit einem Seufzer der Erleichterung fein jüngferlich aus dem Wagen steigen, als vom Hofe her ein Offizier der Zollwache langsam hervortrat und die Hand auf den Schlag legte, um ihn zu öffnen.
   »Ich bitte, mein Fräulein! – Den Paß!«
   Onnen gab ohne ein Wort das Dokument – jetzt fühlte er, daß ihm das Herz stärker schlug.
   Sollte er wirklich im Hafen Schiffbruch leiden?
   »Alles gut!« nickte der Offizier. »Wollen die Herrschaften aussteigen?«
   In der Tür erschien in diesem Augenblick Düke Mommsen, der Wirt. Er hatte den Wagen des Wattführers erkannt und beeilte sich, die Aufmerksamkeit des Franzosen abzulenken. »Ach«, rief er, »das sind meine kranken Gäste! – Schnell, Lorenz, schnell, fahre auf den Hof, der alte Herr liebt es nicht, wenn ihn die Leute so ansehen.«
   »Monsieur Renard«, setzte er hinzu, »wenn es Ihnen gefällig ist! Das Abendessen wartet!«
   Der Franzose nickte stumm; er sah immer dem verschwindenden Wagen nach und wollte dann wie zufällig durch den Torweg gehen, aber der Wirt hielt ihn zurück »Monsieur Renard, auf ein Wort!«
   »Nun?«
   »Haben Sie das junge Mädchen näher angesehen?«
   »Weshalb?« fragte stirnrunzelnd der Offizier. »Ich kenne die Dame nicht.«
   »Aber sie ist reich, besitzt viele Tausende!«
   Der Offizier zuckte die Achseln. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zum Torweg und ging hinein.
   Düke Mommsen lächelte vergnügt. Während der halben Minute, in der er den Franzosen aufgehalten, hatten seine Knechte die beiden Lederpuppen in Sicherheit gebracht, das wußte er.
   Monsieur Renard sah zuerst den leeren Wagen, dann das flatternde Kleid des vermeintlichen jungen Mädchens – der Hof lag wie ausgestorben.
   Er blieb vollkommen gelassen, aber die Sache erschien ihm verdächtig; zwei Minuten später stand er wieder neben dem Wirt im Gastzimmer.
   »Wer sind die Leute, welche soeben kamen, Herr Mommsen?«
   »Emdener Bürger«, antwortete dieser. »Ein Herr Poppinga mit Sohn und Tochter, mein werter Monsieur Renard; sie kommen von Norderney.«
   Der Franzose nickte. »Ich möchte mit den Herren sprechen«, sagte er in ruhig befehlendem Tone. »Haben Sie die Güte, mich zu melden.«
   »Sogleich! Sogleich!«
   Er verschwand, um erst einmal Zeit zu gewinnen. »Verfluchte Geschichte! Wem soll ich ihn nun vorstellen? – Onnen, Junge, gib mir den Paß und dann schäle dich aus den Weiberkleidern heraus. Der französische Schuft hat Verdacht geschöpft!«
   Er schloß aus Vorsicht die Tür ab, hinter welcher unser Freund verborgen war, und lief dann mit dem von der Präfektur gestempelten Passe zu dem Franzosen zurück. »Die Herren lassen um Entschuldigung bitten«, sagte er, »auch das Fräulein kann Sie heute abend nicht mehr empfangen, aber hier ist der Reisepaß. Das genügt, nicht wahr?«
   Der Offizier ergriff das Blatt und hielt es gegen die Lampe. Über sein Gesicht flog ein zufriedenes Lächeln.
   »Ich bestehe darauf, die Herren zu sehen«, rief er. »Wo ist das Zimmer derselben?«
   »Aber ich begreife nicht«, murmelte Düke Mommsen, »ich begreife wirklich nicht! – Monsieur Renard befiehlt, als ob —«
   »Ich diesem Befehle auch Nachdruck verleihen könnte? So ist es, Herr Wirt. In welchem Zimmer finde ich die Herren?«
   Er war auf den langen Gang hinausgetreten und wollte eben die erste Tür desselben gewaltsam öffnen, als plötzlich ein Herr heraustrat und ihn ruhigen Blickes ansah, ein junger, sehr vornehm scheinender Mann, dessen halbes Antlitz von einem bis auf die Brust hinabreichenden Barte völlig verdeckt war.
   »Mein Herr Offizier«, sagte er, »ich stelle mich Ihnen zur Verfügung. Da der Reisepaß in Ihren Händen liegt, so weiß ich nicht, woran es etwa sonst noch fehlen könnte! Bitte, befehlen Sie!«
   Monsieur Renard schien zu erschrecken, »Sie wären Herr Andreas Poppinga?« sagte er in zweifelndem Tone.
   »Ja. Wünschen Sie sonst noch etwas?«
   Die Blicke des Franzosen verrieten sein Mißtrauen. »Weshalb, wenn Sie hier in Emden wohnen, beziehen Sie ein Hotel, mein Herr Poppinga?«
   »Weil ich in einer Stunde wieder abzureisen gedenke«, war die Antwort. »Haben Sie übrigens das Recht, unverdächtige Personen derartig auszufragen, mein Herr?«
   Der Offizier drehte sich um, er ließ den Paß auf einen Tisch fallen. »Es ist gut«, sagte er, »Sie können gehen.«
   Der Fremde ergriff das Blatt, wie sich jemand auf einen mühevoll errungenen Schatz stürzt. »Lassen Sie in einer Stunde einen Wagen bereitstehen, Herr Wirt, mein Vater und ich reisen weiter nach Bremen, meine Schwester dagegen bleibt hier bei Verwandten.«
   »Sehr wohl, Herr Poppinga.«
   Der Wirt rieb sich untertänigst die Hände. Damals fand jede Lüge ein williges Ohr, der Betrug war das gewohnte Verkehrsmittel und die kecke Schlauheit das preisgekrönte Verfahren des einen gegen den anderen. Zwei fremde Herren ohne Gepäck oder Legitimation waren am vorigen Abend im Hause Düke Mommsens erschienen und hatten gesagt, daß sie unbemerkt ein paar Rasttage zu halten wünschten – jetzt bemächtigte sich einer derselben des fremden Passes und Namens, er bestellte einen Wagen und ging selbst hastig die Straße hinab, aber der Gastwirt verriet durch keine Bewegung das Erstaunen, welches er empfand, er verdoppelte nur sogleich in Gedanken die Preise der bisher aufgestellten Rechnung und bewunderte die Geistesgegenwart des Unbekannten, der sich auf so dreiste Art in den Besitz des Legitimationspapieres zu setzen gewußt hatte.
   Monsieur Renard war fortgegangen. Düke Mommsen eilte in Onnens Zimmer und erlöste diesen aus der Gefangenschaft. »Gottlob«, keuchte er, »es ist alles gut abgelaufen. Der Teufel hole die Franzosen! – So, nun bist du wieder ein Junge; komm mit hinunter, ich denke, du sollst mit den fremden Herren eine Strecke weit fahren, um nur erst einmal aus dem Gesichtskreise des schurkischen Beamten zu verschwinden.«
   Onnen folgte ihm in das Gastzimmer. »Wer sind die beiden?« fragte er.
   »Weiß ich es? Menschen, denen dein Paß vortrefflich zustatten kam. Nun iß nur erst ein wenig, hörst du – da ist wahrhaftig der eine schon wieder; er sieht aus, als sei ihm ein großes Glück begegnet.«
   Duke Mommsen umschmeichelte aalglatt den Fremden, er stellte ihm den Sohn des Kapitäns förmlich vor und erreichte es, daß dieser mitfahren durfte. »Wir werden dich nach Larrelt bringen«, sagte freundlich der Herr. »Lassen Sie nur den Wagen vorfahren, Herr Wirt, und besorgen Sie die Rechnung.«
   Von Monsieur Renard war nichts zu sehen. In völliger Dunkelheit fuhren die beiden Fremden mit Onnen auf dem Rücksitz davon und in die Nacht hinaus; sie sprachen sehr eifrig miteinander, aber immer französisch, so daß unser Freund keine Silbe verstand; erst als hinter dem Wagen ein anderes Pferd wieherte, hob einer der Herren horchend den Kopf.
   »Man verfolgt uns!«
   »Schadet nicht!« versetzte gleichmütig der zweite. »Ich bin auf der Präfektur gewesen und habe unseren Paß nach Bremen ausfertigen lassen; mögen also die Franzosen kommen.«
   Der erste sah immer noch aus dem kleinen Hinterfenster der Kutsche. »Ein Einspänner«, sagte er, »zwei Männer sitzen darin. Verfolgt man dich, mein guter Junge?«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Herr.«
   »Was bist du denn eigentlich? Ohne Zweifel ein Schmuggler!«
   Onnen schwieg. Es war, als drücke ihm eine unsichtbare Hand die Kehle zusammen. Ein Schmuggler! —jemand, der auf verbotenen Wegen ging!
   Im gleichen Augenblick schlug einer der Insassen des zweiten Wagens Feuer für seine Pfeife. Obwohl er den aufflammenden Blitz sogleich mit der Hand bedeckte, war doch dem Beobachter Zeit genug geblieben, um sein Gesicht zu sehen – er erschrak heftig und bog den Kopf zurück, als fürchte er, trotz Finsternis und Entfernung selbst erkannt zu werden. »Es ist Lemosy!« sagte er halblaut. »Bei Gott, Lemosy!«
   »O – du wirst irren. Das wäre schrecklich!«
   »Es ist Lemosy, ich sage es dir.«
   »Um Verzeihung«, warf Onnen ein, »der Herr, den Sie da soeben gesehen zu haben glauben, ist Polizeimeister des Departements Ostems.«
   »Das wußte ich nicht! Alle Teufel, was fangen wir an?«
   »Sie wollen also von diesem Herrn Lemosy nicht gesehen werden?«
   »Unter keiner Bedingung!«
   »Dann lassen Sie mich nur machen.«
   Er öffnete das Vorderfenster und befahl dem Kutscher, einen Seitenweg einzuschlagen.
   Der Mann schüttelte den Kopf. »Da kämen wir ja an das Emswatt!« sagte er verdrießlich.
   »Das ist auch unsere Absicht.«
   »Na, mir kann‘s recht sein. Hü, Lotte!«
   Er wandte das magere alte Pferd und fuhr in veränderter Richtung weiter; der Fremde beobachtete dabei klopfenden Herzens den zweiten Wagen – ohne zu zögern, nahm dieser die Verfolgung auf, beide fuhren auch jetzt wieder hintereinander.
   »Das gilt dem Knaben!« sagte leise der Fremde. »Lemosy hat uns weder gesehen, noch kann er vermuten, daß wir hier sind.«
   Der andere strich mit der Hand über die Stirn. »Zum Watt kommen wir, Junge? Werden uns da die Franzosen nicht erreichen können?«
   »Ich hoffe nicht. In Larrelt steht ein Wachtposten der Zollbeamten, dahin können Sie auf keinen Fall gehen.«
   Der Wagen fuhr auf dem ebenen Kleiwege ziemlich schnell dahin, so daß der feuchte Hauch vom Watt herüber sehr bald die Luft erfüllte. Über dem Schlick (dem zur Zeit der Ebbe trockenliegenden Grunde des Watts) ballten sich Nebelwolken; grau in grau lag baumlos in herzerkältender Öde die ganze Umgegend. Onnen stand aufrecht im Wagen. »Sobald ich deine Schulter berühre, hältst du, Landsmann! – oder ist dir selbst die Gegend genau bekannt?«
   »Ganz genau!«
   »Gut, dann laß deine Mähre bei dem tiefen Einschnitt des Weges, wo der Kanal ausmündet, ganz plötzlich stillstehen!«
   Er beobachtete fortwährend. »Jetzt kommt die Stelle! Öffnen Sie ein wenig die Wagentür und laufen Sie mir getrost nach! – Nun!«
   Das Gefährt hielt mit einem einzigen Ruck, so schnell und unerwartet, daß das Pferd des anderen Wagens mit dem Kopfe gegen das Kutschendach stieß und der Einspänner von der Wucht dieses plötzlichen Anpralls auf die Seite fiel.
   Beide Insassen stürzten unsanft auf die Straße.
   »Hurra!« schrie Onnen. »Mir nach, Poppinga und Sohn! Ha, ha, ha —«
   Er hatte mit einem gewaltigen Satz den Schlickgrund erreicht und stürmte vorwärts, gefolgt von den beiden Fremden, welche wie Schatten auf dem grauen, schlüpfrigen Watt neben ihm herliefen.
   Während auf der Straße die Kutscher schimpften und die Pferde stampften und wieherten, hatten sich Monsieur Renard und der Polizeimeister Lemosy in aller Eile aufgerafft und waren den Flüchtlingen gefolgt. Mit den genaueren Verhältnissen des fremden nordischen Landes völlig unbekannt, konnten sie Onnens Plan nicht voraussehen und verloren dadurch mindestens zwei Minuten, anderseits aber erwachten auch durch den Sturz auf den Fußboden der Ärger und Verdruß – hitziger als sonst wohl wurde die Verfolgung im selben Augenblick aufgenommen und fortgeführt.
   Onnen horchte. »Sie sind hinter uns!« flüsterte er.
   »Können aber des Nebels wegen nicht schießen! Vorwärts! Vorwärts!«
   »Um Gottes willen!« raunte der Zweite. »Da ist Wasser!«
   »Die Ems! – Wir haben Raum genug!«
   Weiter und weiter ging die tolle Jagd. Vor den Flüchtigen lag unermeßlich das öde Grau, hinter ihnen erklangen die Schritte der Feinde – näher und näher, wie einer der Herren meinte.
   »Laß sie kommen, die verfluchten Franzosen, unter deren Krallen das arme Deutschland aus tausend Wunden blutet, laß sie kommen! Wir sind unserer drei gegen zwei!«
   »Aber sie haben Schießwaffen, ich sah es!«
   Wie zur Bestätigung dieser Worte knackte in einiger Entfernung der Hahn einer Kugelbüchse. »Ergebt euch!« rief die Stimme des Zollbeamten, »ergebt euch, oder ihr erhaltet eine Kugel zwischen die Rippen!«
   Onnen lachte laut, aller Groll seines ehrlichen Herzens drängte sich auf die Lippen. »Nichts von ergeben!« rief er. »Tut euer Schlimmstes, ihr Raubgesindel!« Sie liefen auf Tod und Leben, atemlos, in äußerster Eile. Ihre Pulse jagten, ihre Herzen schlugen zum Zerspringen. —
   Hinterher die Verfolger. Langsam minderte sich der Zwischenraum, langsam, aber sicher. Onnen hätte für sich allein längst aus dem Bereich der Feinde herauskommen können, aber die beiden Fremden hielten mit ihm auf dem schlüpfrigen Boden nicht gleichen Schritt und verlassen mochte er sie um keinen Preis.
   »Ergebt euch! Steht!«
   »Ha! ha! ha!«
   Eine Büchsenkugel streifte hart an dem Kopfe des Knaben vorüber, er schwenkte die Mütze und lachte laut. »Bist ein Esel, Franzose, laß dir dein Lehrgeld wiedergeben!«
   »Wir sind verloren!« keuchte der ältere der beiden Fremden. »Ich kann nicht weiter laufen.«
   Auch der zweite taumelte. »Rette dich selbst, Knabe! Es ist umsonst, wir können nicht weiter!«
   »Nein! Nein! – Die Hilfe naht schon!«
   Im Nebel regte sich‘s wie gespenstische Formen, flog vorüber und kehrte zurück – hier ein seltsames Etwas, dort eins, mehr und immer mehr.
   Menschenaugen sahen in die Gesichter der Fliehenden, Menschenstimmen redeten sie an. »Hierher! – Schnell! Schnell!«
   »Wer seid ihr?« keuchte der vorderste Fremde.
   »Gute Deutsche wie ihr! – Die Pest über alles, was französisch ist!«
   Kräftige Arme drückten die Widerstandslosen auf einen engen Sitz und fort ging es, ins Dunkle hinein, ehe Sekunden verrannen. Alle dreie waren voneinander getrennt, aber als die beiden Franzosen aus dem Nebel auftauchten, fanden sie die Stelle leer, ihre vermeintlichen Gefangenen hatten unbeschadet den rettenden Hafen erreicht.
   Wieder krachten Büchsenschüsse durch die Nacht, wieder folgte das tolle Lachen der Sieger, diesmal vielstimmig, aus Nähe und Ferne zugleich.
   Es huschte und eilte über den grauen dampfenden Schlick, es wirbelte durcheinander von sonderbaren Gestalten. Wie ein Volk von Zwergen tummelte sich‘s auf dem Emswatt, wie Mücken im Sommer umschwärmten spöttische Zurufe die beiden erbitterten Franzosen. Sie hörten alles, sahen aber nichts.
   »Monsieur Renard«, sagte kopfschüttelnd der Polizeimeister, »wissen Sie, was ich glaube, oder vielmehr, wovon ich ganz fest überzeugt bin?«
   »Nun, Herr von Lemosy?«
   Der andere beugte sich näher zu ihm. »Diese Deutschen haben bisher geschlafen«, sagte er, »aber sie beginnen jetzt langsam zu erwachen. Wir werden dann erst die Tatze des Löwen wirklich kennenlernen.«
   »Bist du es, Heinz Thiedemann?« fragte Onnen.
   »Allstunds, junger Herr. Was tust du denn auf dem Emswatt? Willst doch nimmer ein ›Buttjer‹ (Schlammfischer) werden? Das wäre für den Kapitänssohn zu geringe, wie mir deucht.«
   Onnen schüttelte traurig den Kopf. »Das ehrliche Gewerbe ist niemals zu geringe, Heinz – du brauchst nicht zu flüchten, wenn dir französische Zollwächter begegnen.«
   »Aber du mußtest es, weil du Kontrebande bei dir führtest. Na, darum gräme dich nicht, Junge; die Gelbgesichter sind ja fremde Eindringlinge, denen wir Schoß und Zoll rechtlich nicht zu leisten brauchen, sondern nur, weil sie eben die Gewalt besitzen.«
   »Na, Onnen«, fuhr er gutmütig bittend fort, »steige aus, Junge; ich muß fischen, wenn nicht meine Kinder morgen hungern sollen.«
   Unser Freund sprang leichtfüßig aus der »Kreie«, dem sonderbaren Fahrzeuge, das seinem Baue nach unseren Kinderschlitten gleicht. Eisenreifen umgeben die unteren Ränder, am Vorderteil befindet sich ein großer offener Kasten und im Hinterteil liegt fest ein ausgehöhlter Block, in den der Buttjer das Knie preßt, um dann mit dem rechten Fuße gleichsam zu rudern oder zu schieben, wobei die »Kreie« mit der Geschwindigkeit des laufenden Pferdes über das Watt schießt.
   »Wo hast du deine Reusen, Heinz?«
   »Gleich vor uns. Wer war mit dir, Junge? Dein Vater?«
   »Nein, zwei ganz Fremde, der Himmel mag wissen, wer sie sind. Ob sie wohl glücklich davonkamen, Heinz?«
   »Natürlich. Meine Kameraden werden so wenig einen Verfolgten im Stiche lassen, wie ich selbst es täte. Aha, da beginnt die Jagd!«
   Aus dem grauen schlüpfrigen Wattgrunde erhoben sich viereckig angebrachte feste Zäune von Birken– oder Weidengeflecht, die etwa den Flächenraum eines gewöhnlichen Zimmers umschlossen und deren dichte Wände keinen noch so kleinen Fisch hindurchließen. Jede dieser Fanggruben war angefüllt mit zappelnden, ängstlich in den kleinsten Vertiefungen Schutz suchenden Meeresbewohnern, denen jetzt der Buttjer den Garaus machen wollte. »Das habe ich noch nie gesehen«, rief Onnen, mit lebhaftem Interesse die eigentümliche Jagd beobachtend. »Deine Reusen befestigst du zur Ebbezeit, nicht wahr, Heinz?«
   »Natürlich. Die Flut geht hoch darüber hinaus, und was mit derselben hineingerät, das findet nachher keinen Rückweg.«
   Er sammelte mit beiden Händen große Butten, Schellfische, Schollen, Zungen und Makrelen, endlich hoben beide mit vereinten Kräften einen großen Kabeljau in den Kasten, ein Ungeheuer, das der Schlammfischer gleich an Ort und Stelle schlachtete, um es nur mit sich führen zu können.
   Jede Reuse trug ihr Zeichen, das von den Buttjern unbedingt geachtet wurde. Wie Schatten, geräuschlos und mit Windeseile schossen sie im Nebel aneinander vorüber, keiner aber stahl dem anderen auch nur ein einziges jener kleinen silbernen Fischchen, die unter der Bezeichnung »Stinte« in den Handel kommen und die zu Tausenden in allen Rillen und Löchern umherzappelten.
   »Wie weit pflegst du zu gehen, Heinz?« fragte Onnen.
   »Bis zur Paap (Sandbank in der Ems). Dort liegt ein Langboot, das die Buttjer gemeinschaftlich halten.«
   »Und auf dem ihr mich mitnehmt nach Larrelt?«
   »Allstunds, junger Herr.«
   Die Flut mußte jetzt bald eintreten, schneller und schneller eilten der Schlammfischer und sein Kamerad über das Watt, dessen Nebel sich allmählich zu zerteilen begannen. Hell stand der Mond am nächtlichen Himmel, das Treiben auf dem Schlick beleuchtend, die Arbeit der emsig sammelnden Menschen und den Schmaus der Raubvögel, die mit dem fürlieb nahmen, was jenen zu gering erschien.
   Auch hier Kampf und Streit, Flügelschlagen und Schnabelhiebe, auch hier Feldgeschrei und heißes Ringen um den Platz an der großen Tafel, die Gott der Herr für jedes seiner Geschöpfe gedeckt hat und in erbarmender Liebe täglich neu mit Speise füllt. Aufatmend hielten zu beiden Seiten des tieferen Fahrwassers die Schlammfischer mit ihren hochbeladenen Kreien inne.
   Vor ihnen lag die Paap, eine öde, langgestreckte, bei tiefster Ebbe von den Meereswellen – die in den Emsfluß hineinströmen und ihn füllen – freigelassene Sandbank.
   Weit und breit war kein Boot zu entdecken.
   »Was beginnen wir Jetzt?« fragte etwas unruhig der Knabe. »Pst! Ich will es dir gleich erklären. Siehst du da auf dem Sande die großen, träge hingestreckten Tiere?«
   »Die Seehunde? Natürlich.«
   »Na, dann gib nur acht. Es sind jedenfalls Jäger hier und um ihretwillen ist unser Boot in der Entfernung geblieben.«
   Sie hielten sich eine Zeitlang vollkommen lautlos, dann zupfte der Buttjer seinen Genossen am Ärmel und deutete auf die Sandbank. »Jetzt gib acht, junger Herr!«
   An der anderen Seite der Paap erschienen in diesem Augenblick fünf oder sechs Männer, die sich sogleich mit lautem Geschrei und Armschwenken der Mitte näherten, wobei die scheuen Seehunde, aus ihrer behaglichen Ruhe aufgeschreckt, kopfüber in das Wasser schossen, gerade dadurch aber in die Hände ihrer Verfolger fielen.
   Sobald die großen plumpen Tiere verschwunden waren, erwachte rings umher neues Leben. Zwei Fischerboote kamen von rechts und links herbei; mit allen Kräften wurde ein großes, aus starkem Geflecht verfertigtes Netz zusammengezogen und aufgewunden.
   Unter dem Wasser schien ein gewaltiger Aufruhr zu toben. Die Wellen spritzten hoch hinauf gegen das Ufer, schäumten und brodelten, bewegten sich dermaßen, daß die Boote schaukelten; dann, nachdem ein ungeheures, von zwei Fahrzeugen zur Zeit der weichenden Flut ausgesegeltes Netz emporgehoben war, entstand eine plötzliche Stille. In den Maschen zappelten zwei große Seehunde.
   »Nur zwei!« rief Onnen. »Und wenigstens zwölf waren vorhanden.«
   »Das ist immerhin noch eine gute Jagd. Sehr, sehr häufig gelingt es sämtlichen Seehunden, nicht allein zu entkommen, sondern sogar auch das Netz zu zerreißen!«
   Die Fischer ruderten ihre beiden Boote nahe aneinander heran und fünf Männer brachten mit vereinten Kräften die gefangenen Tiere in den großen durchlöcherten Kasten, der wie ein zweites Boot hinter dem ersten durch das Wasser glitt.
   Von fernher näherte sich auch das Langboot der Buttjer und außerdem ein weißes Segel, das Heinz Thiedemann nicht gleich erkannte. »Ich glaube, es ist eine Schaluppe«, sagte er, »aber was will sie hier?«
   Onnen beobachtete scharf. »Die ›Taube‹!« rief er. »Mein Vater kommt, um mich abzuholen.«
   Die Flut rauschte auf, Kreien und Fischkörbe wurden in das Boot geschafft; von frischem Wind getrieben, kam die Schaluppe unter vollen Segeln heran. Heye Wessel hielt Wache am Steuer, er war nicht wenig erstaunt, den Sohn des Kapitäns hier in der Gesellschaft der Schlammfischer zu finden, dann aber lachte er, als ihm der Zusammenhang der Dinge erzählt wurde, recht behaglich und gab dem Buttjer ein reichliches Trinkgeld als Entschädigung für die gehabte Mühe.
   Onnens Abschied von seinem Retter war sehr herzlich; der arme Heinz hatte wohl lange keinen so guten Zug getan wie eben heute. Er schwenkte noch die Mütze, als schon die Schaluppe weit ausholte, um zu wenden und wieder in See zu gehen.
   Onnen suchte sein Lager, erzählte aber vorher dem aufhorchenden Riesen die Geschichte des letzten Tages, einschließlich des Abenteuers mit den beiden Unbekannten, welche auf so geschickte Weise den Paß erbeutet hatten.
   Heye Wessel dampfte ganze Wolken. »Muß doch ein tüchtiger Kerl sein, der Fremde«, meinte er, »einer, der sich nicht ins Bockshorn jagen läßt. Unser Paß für Poppinga und Sohn soll ihm übrigens wohl bekommen – wir hätten den Wisch doch nicht weiter brauchen können, er ist schon gar zu häufig und von den verschiedensten Leuten benutzt worden. Dein Monsieur Renard, der Schnüffler, hat ihn ohne Zweifel früher gesehen und wiedererkannt! – Gerade auf die Nase fiel er, der feine Herr?«
   »Gerade auf die Nase!« wiederholte Onnen, schon halb schlafend. »Ha, ha, ha, so sollen sie alle purzeln – alle!«


   3

   Über die öde braune Moorfläche, wo jetzt eine breite Landstraße von Emden nach Aurich führt, zog im Sonnenbrand eine Abteilung französischer Infanterie. Zwei Offiziere ritten voraus und hintendrein rumpelte schwerfällig ein Gepäckwagen, auf dem ein Schreiber des Präfekten, ein Emdener Kind, Platz genommen hatte, um den Franzosen als Dolmetscher zu dienen.
   Vor der kleinen Truppe und hinter derselben, überall dehnte sich das nackte unübersehbare Moor. Wie auf der offenen See bemerkte der Blick keinen noch so unbedeutenden Gegenstand, keine Erhöhung irgendeiner Art, überhaupt nichts als Luft und Erde, als eine pfadlose braune Wüste, von der sich das Auge beinahe mit Grauen abwandte.
   Lautlosen Fluges erhob sich dann und wann aus den tiefen schlammigen Rissen des Bodens eine Sumpfeule mit grauem Gefieder, Bekassinen schrien ihr heiseres »Rätsch! Rätsch!« oder eine Rohrdommel erhob klagend, ohne sich zu zeigen, die Stimme: »I prumb hu hu‹ i prumb hu hu!« – bis der Ton wie eine Totenklage die Herzen der Franzosen durchkältete.
   »Sapristi!« rief einer der Offiziere, »ob das noch dieselbe Erde ist, auf der Frankreich liegt? Man glaubt sich in den Vorhöfen der Hölle zu befinden.«
   Der andere nickte. »Dabei scheint jetzt noch die Sonne hell und warm vom Himmel herab, Monsieur Renard, aber nun lassen Sie es Winter werden, denken Sie sich die Luft grau wie den Boden, eisig kalt, den Wind pfeifend, ein tolles Schneetreiben vor sich herjagend – das Herz in der Brust müßte erstarren.«
   »I prumb hu hu! – I prumb hu hu!«
   Monsieur Renard riß die Pistole aus dem Sattel. »Wo ist der verfluchte Vogel?« rief er, »ich will ihm den Hals umdrehen!«
   »Halloh! halloh! – ein Rudel Hirsche!«
   Das Rotwild war aus einer Niederung, in der es lagerte, aufgeschreckt worden und stürmte nun vollen Laufes davon. Der Leithirsch mit hoch erhobenem Kopfe eilte voran, ihm folgten mehrere jüngere Hirsche und dann das weibliche Wild mit den Kälbern, zusammen etwa zwanzig Köpfe. Die schönen flüchtenden Tiere glichen auf dem braunen Erdboden einem Gemälde, das alle Beschauer entzückte, wenn auch in sehr verschiedener Weise.
   »Endlich lebende Wesen!« rief Monsieur Renard, »es war hohe Zeit. Eine Art von Verzweiflung hatte sich meiner bemächtigt.«
   Hinter ihm krachte ein Schuß und der Leithirsch sprang hoch in die Luft, er taumelte, überschlug sich und stürzte, während seine Genossen mit wilder Hast zur Rechten und Linken an ihm vorüberstürmten, nur darauf bedacht, das eigene gefährdete Leben zu retten, unbekümmert um ihr Oberhaupt, dessen letztes Röcheln das laute Siegesgeschrei der Franzosen gewaltig übertönte.
   »Zur Jagd! zur Jagd! Kein Tier darf lebend davonkommen.«
   Monsieur Renard wandte lächelnd den Blick. Als echter Sohn seines Landes hatte er für das Großartige, Fremde dieser Moorlandschaft, dieser todesstillen Einöde kein Verständnis, er brauchte Lärm und wechselnde Bilder, um der inneren Langeweile zu entgehen; eine Jagd war dazu gerade das rechte Mittel.
   »Drauf, meine Kinder!« rief er. »Holt sie! holt sie!«
   Der Emdener Ratsschreiber auf seinem harten Sitz ballte verstohlen die Faust. »Schandbuben!« dachte er, »Raubgesindel! Da wird alles abgeschlachtet, was gut schmeckt! O die armen Tiere! – Unser schönes Rotwild!«
   Aber laut durfte er nichts sagen; die Franzosen verfolgten mit Ungestüm, ohne alle Rücksicht auf die Gesetze der Jagd das fliehende Wild. In weniger als einer Viertelstunde hatten ihre Büchsenkugeln die schutzlosen Hirsche und Kälber ereilt; durcheinanderschwatzend und lachend weideten sie dieselben aus, schnitten das Fleisch ab und beluden sich jeder mit dem, was er schleppen konnte. Breite Blutlachen bezeichneten die Stelle, an der noch vor einer Stunde das Wild so ruhig lagerte.
   »Heda!« rief der Offizier zu dem Insassen des Gepäckwagen hinüber, »kommt denn nicht bald ein Dorf, Herr? – Man möchte essen.«
   Der Ratsschreiber lächelte verstohlen. »Das Dorf kommt«, antwortete er, »aber ob sich große Vorräte finden werden, das ist eine andere Frage.«
   Ein mißtrauischer Blick traf sein Gesicht, dann ritt der Offizier schweigend weiter, bis sich nach und nach in einiger Entfernung ein dichter, dem Boden entströmender Rauch bemerkbar machte, ein Etwas, das den Atem beklemmte und Tränen in die Augen trieb.
   Monsieur Renard schnupperte. »Was ist denn nun das?« rief er. »Nirgends ein Haus und doch eine Feuersbrunst. Sapristi, wie das beißt!«
   Sämtliche Soldaten niesten und husteten. Der Qualm wurde immer ärger, bald sah man im dichten Rauche auch die Flammen und zwischen ihnen schwarze Gestalten, die mehr Kobolden oder bösen Geistern als Menschen von Fleisch und Blut glichen. Jeder dieser Leute hielt in den Händen eine langstielige eiserne Pfanne, mit der er kräftigen Schwunges die Feuerbrände nach allen Richtungen auf den Acker verteilte.
   Hände, Gesicht und Anzug geschwärzt, den Bart versengt und das Zeug zerlumpt, so erschienen die Moorbrenner vor den Franzosen, ohne von ihnen sonderlich Notiz zunehmen. Die armen Leute bearbeiteten mühsam den unfruchtbaren Boden, um da, wo die Flamme das Gestrüpp zerstört hatte, im nächsten Jahre Buchweizen säen zu können, sie schleuderten die Brände stumpfsinnig nach allen Seiten und schienen von dem fürchterlichen Rauche in keiner Weise belästigt zu werden.
   »Vorwärts! Vorwärts!« kommandierte Monsieur Renard. »Das ist nicht auszuhalten; ich will lieber vor dem Feinde stehen als hier. Sie da, Schreiber, wo bleibt denn schließlich das Dorf, he?«
   Der Emdener deutete mit erhobenem Arme nach links. »Da sehen Sie schon die Häuser, Herr Leutnant.«
   Monsieur Renard zog die Lorgnette hervor. »Das da?« rief er. »Beim Himmel, es ist eine Kolonie von Zwergen, die dort hausen muß. Lauter Hundehütten!«
   Doch dann sagte er: »Einerlei, einerlei – wo Menschen leben, da gibt es frisches Wasser, Eier, Butter, Gemüse, das Fleisch bringen wir ja schon mit.«
   Der Ratsschreiber lächelte wieder, aber er sprach kein Wort.
   Eine Gruppe von Hütten, regellos auf das Moor gestreut, trat allmählich immer klarer hervor. Aus Lehm erbaut, mit einem Binsendach versehen, glichen diese Wohnungen den Scheunen und Ställen, welche man heute noch bei besonders armen Landbewohnern trifft. Zwei kleine Fenster hingen windschief in der zerbröckelnden Wand, die Sparren standen zum Dache heraus, die Tür war niedrig und der Schornstein fehlte ganz. In einem Anbau, der unmittelbar an das einzige Gemach der trostlosen, mit grauer Erdfarbe überzogenen Behausung stieß, in einem lichtlosen schmutzigen Winkel grunzte ein Schwein, während einige zerzauste Schafe auf dem umgebenden Moor die wenigen dürren Halme suchten.
   Von Menschen war nichts zu sehen, selbst die Kinder, sonst überall zahlreich vertreten, schienen hier zu fehlen.
   Monsieur Renard ließ seine Leute halten, er wischte sich mit dem Taschentuche den Staub aus der Stirn.
   »Sucht einen Brunnen!« rief er ärgerlich.
   Der Ratsschreiber kletterte von seinem unbequemen Sitz, um sich wenigstens einen Augenblick zu strecken. »Herr Offizier«, sagte er, »Brunnen gibt es hier überhaupt nicht.«
   Der Offizier sah ihn groß an. »Mein Gott«, rief er ganz fassungslos, »was trinken denn die Leute?«
   Der Schreiber deutete auf eine Tonne, die vor dem nächsten Hause in den Boden gegraben war. »Regenwasser!« antwortete er. »Da ist die Zisterne.«
   Ein hölzerner Eimer hing an der Kette vom Querbalken herab und einer der Soldaten ließ ihn fallen um einen Trunk zu schöpfen, aber als das wenige Naß seinen Blicken begegnete, wich er schaudernd zurück. »Das ist doch kein Wasser!« rief er.
   Die Flüssigkeit war braun wie der Erdboden, undurchsichtig und mit allerlei kleinen treibenden Splittern und Halmen vermischt. Es schien unmöglich, diese dicke Suppe zu genießen.
   »Pfui!« rief der Franzose. »Sucht in den Häusern nach Bier oder Milch, Leute!«
   Die Franzosen öffneten sogleich alle Türen und durchforschten jede dieser elenden Hütten, während der Ratsschreiber den Offizieren alle mögliche Auskunft geben mußte.
   Nur einige kranke Personen oder kleinere Kinder wurden angetroffen. Der Fußboden in den Wohnungen bestand aus festgestampftem Lehm, die Möbel aus einem großen Strohlager, einem rohen hölzernen Tische und einigen Stühlen nebst Küchengerät. Keine Vorhänge verhüllten die Fenster, keine Blume blühte, kein Vogel sang – es waren Stätten der äußersten trostlosesten Armut
   »Was essen die Leute?« rief der Franzose, »was treiben sie? Mein Gott, das ist eine Stätte der Verdammnis!«
   Der Ratsschreiber nickte. »Viel besseres wirklich nicht«, gestand er seufzend. »Hier wohnt das ärmste Volk unseres Landes, häufig Gesindel, das schon mit dem Zuchthaus Bekanntschaft machte, verlaufene Strolche aller Art. Andere als nur solche würden aber in einem Moordorfe nicht leben wollen, weil doch der Aufenthalt zu unerträglich ist. Die Leute haben ihren Buchweizen und ihr Schwein – mißrät der erstere und stirbt das letztere, so sieht die Hungersnot zur Tür hinein.«
   Monsieur Renard schüttelte sich. Er ließ die Soldaten wieder antreten und tröstete sie im Hinblick auf das Fehndorf, welches ja bald erreicht sein werde. »Wo doch nur die Bewohner sind?« sagte er kopfschüttelnd. »Es ist alles wie ausgestorben.« »Die Männer haben Sie beim Moorbrennen gesehen«, antwortete der Schreiber, »die Frauen handeln in den Städten mit Besen; ihre kleinen Kinder tragen sie dabei im Tuche, die größeren müssen nebenherlaufen.«
   »Brr! – Ein schreckliches Land, dieser nordwestliche Winkel Germaniens, von dem schon Plinius sagt: die Bewohner sitzen auf feuchten Erdklumpen und haben nichts zu trinken! – Vorwärts, vorwärts, einmal muß ja das grauenhafte Moor ein Ende nehmen!«
   Der Marsch begann aufs neue; die durstigen ermüdeten Soldaten murrten laut und die Sonne schien brennend heiß vom Himmel herab. Buchweizenfelder lagen zur Seite des Weges, andere ebenso trostlose Moorhütten – dann kam endlich der Augenblick, wo Monsieur Renard durch seine Lorgnette vor sich einen etwas erhöhten Gegenstand sah.
   »Sie, Herr, was ist das da? Man könnte es wahrhaftig für eine Mastspitze halten!«
   »Und hätte damit das richtige getroffen, Herr Leutnant. Es ist wirklich eine solche.«
   »Was?«
   »Es ist eine solche, sage ich.«
   Über dem braunen Erdboden erschienen kleine bunte Fähnchen, wie Kinderspielzeug in Reihe und Glied aufgestellt, noch mehr Mastspitzen, endlich rote Ziegeldächer, helle silberne Rauchwölkchen, die sich lustig zum Himmel erhoben. Mit jedem Schritt über das öde Moor erweiterte sich das Panorama da unten, ein Dorf kam zum Vorschein, Fruchtbäume, Gärten, saubere Straßen, Schiffe und endlich ein Kanal.
   Mitten im dürren wüsten Moor, meilenweit von der See, von der Ems entfernt, tief im Herzen des Binnenlandes Schiffe! Das war ein unerwarteter Anblick.
   »Dort wird es wenigstens Lebensmittel geben!« rief Monsieur Renard.
   Der Ratsschreiber sah unruhig hinab auf das kleine blühende Gemeinwesen zu seinen Füßen. Ob die arglosen Fehnbauern ohne Plünderung davonkommen würden?
   Die Soldaten begannen schon zu singen. Da unten harrte ihrer eine reiche Beute.
   Zwischen Obstbäumen lagen Kirche und Schule, dörfliche Läden zeigten ihre bescheidenen Warenvorräte, und aus allen Enden und Winkeln strömte das kleine Völkchen herbei, um die fremden Ankömmlinge zu bewundern.
   Hinter den Scheiben erschienen bleiche Gesichter; der Vogt eilte den gefürchteten Gästen entgegen, um zu hören, weshalb sie kämen – das ganze Dorf versammelte sich auf der einzigen, den Kanal begrenzenden Straße.
   Vor jeder Haustür lag ein Fahrzeug, bald ein größeres Schiff, bald ein Langboot, das nur den kostbaren Schlick des Emswatts hierher brachte auf das unfruchtbare Moor, Torfkähne aller Art, selbst größere Schaluppen, die den Brennstoff einnahmen, um ihn den Städten zuzuführen und dafür Waren oder – Dünger nach Hause zu bringen.
   Alles glänzte in tadelloser Sauberkeit, im Schmucke bunter Blumen und Wimpel. Alles zeigte auf den ersten Blick jenen behäbigen Wohlstand, der genügende äußere Mittel besitzt, um über die nackte Plage des Daseins hinaus seine Umgebung hübsch und bequem einzurichten.
   Monsieur Renard strich sich den Bart. Er ließ den Vogt kommen und seine Leute in Reih und Glied aufziehen, dann erfolgte eine Proklamation des Präfekten Jeannesson, übersetzt vom Ratsschreiber und mit dem furchtbarsten Erschrecken von den Einwohnern vernommen. Die armen Leute glaubten ihren Augen, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen.
   Auf Norderney sollten Schanzen gegen die Engländer erbaut werden und dazu brauchte Seine Majestät der Kaiser sowohl Mannschaften wie Schiffe. Kapitän d‘Ortalan und Leutnant Renard waren beauftragt, beides herbeizuschaffen; sie zogen von einer Fehnkolonie zur andern, um sämtliche Fahrzeuge mit ihrer Bemannung nach Norddeich zu bringen. Die nötige Erde konnte hier genommen werden und dann der Bau vonstatten gehen.
   Als die Hiobspost verlesen war, ließ der Kapitän seine Leute bei den Bauern einquartieren, und nun begann ein allgemeines Gelage, in dessen Verlauf die Leute hergeben mußten, was Küche und Keller enthielten. Während gänzliche Verarmung, der Ruin alles Bestehenden durch den auf sämtliche Fahrzeuge gelegten Beschlag unausbleiblich schienen, mußten die hartbetroffenen Menschen noch ihre Vorratskammern öffnen und das Beste, was sich darin vorfand, preisgeben – die französische Willkür trat eben damals zur Befriedigung ihrer Wünsche, ihrer üppigen Genußsucht ganz Deutschland rücksichtslos mit Füßen.
   Kapitän d‘Ortalan und Leutnant Renard begaben sich in das Haus des Predigers, um jedenfalls für sich das bequemste Plätzchen zu erhaschen, aber sie wurden von dem geistlichen Herrn sehr kühl empfangen, nicht in das Familienzimmer geführt und keiner Unterhaltung gewürdigt; man gab Lebensmittel und Wohnung, aber das war alles.
   Bald erschienen auch mehrere Kapitäne und Schiffer, um gegen die angeordnete Maßregel Einspruch zu erheben; sie zeigten ihre Papiere, nach denen eingegangene Verpflichtungen zu erfüllen waren, sie baten und flehten, aber ganz umsonst, schon am nächsten Tage sollten sämtliche Fahrzeuge, Schiffe und Kähne nach Norddeich unter Segel gehen.
   Wie ein Blitzstrahl hatte die Gewaltmaßregel die Kolonie betroffen. In allen Häusern flossen bittere Tränen, rangen Männer und Frauen dem hereinbrechenden Verhängnis gegenüber die Hände. Mit den Schiffen schwand auch die Möglichkeit der Arbeit, der ehrlichen bürgerlichen Existenz.
   Die Soldaten sangen und jubilierten. Sie hatten die Hirschkeulen gebraten, das junge Gemüse aus den Gärten geraubt, die Früchte von den Sträuchern, Bier und Wein aus den Kellern; sie ließen sich‘s wohl sein, indes ihre unwilligen Wirte voll bitterer Angst die Hände zum Himmel erhoben.
   Kapitän d‘Ortalan runzelte die Stirn. »Mir scheint, daß man den Befehlen Seiner Majestät sehr unwillig nachkommt«, sagte er in scharfem Tone. »Das Volk hegt rebellische Gedanken – wäre es nicht gut, ein Exempel zu statuieren?«
   »Sicherlich!« nickte Monsieur Renard. »Je fester wir die Zügel erfassen, desto leichter wird unsere Aufgabe.«
   Das Dienstmädchen des Predigers erhielt den Befehl, schleunigst den Vogt herbeizuschaffen, und als der Geängstigte kam, da fuhr ihn Kapitän d‘Ortalan sogleich grob an, sprach von schärferen Maßregeln und strenger Handhabung der Gesetze, dann erwähnte er, daß in der Familie Seiner Majestät des Kaisers heute ein Geburtstag gefeiert werde. »Es bedarf zur Verherrlichung des Tages einer Illumination«, schloß er seine Rede, »bei Beginn des abendlichen Dunkels sollen vor jeder Fensterscheibe zwei Lichter brennen, außerdem gebe ich den Soldaten einen Ball, wozu das Dorf die nötigen Musiker sowie Getränke und Speisen zu liefern hat. Alle Frauen und Mädchen müssen in ihren Sonntagskleidern erscheinen.«
   Der Vogt wurde blaß. »Wenn sie nun aber nicht tanzen wollen!« rief er voll heimlicher Furcht.
   Ein boshaftes Lächeln kräuselte die Lippen des Franzosen. »Dann gebe ich meinen Leuten die Erlaubnis, sich ihre Damen selbst einzuladen«, versetzte er.
   Und der Vogt schwieg. Es half nichts, sich den Gewalthabern entgegenzustemmen, selbst wenn die heiligsten Rechte bedroht waren.
   Von Tür zu Tür huschte die schlimme Botschaft, von einem erschreckten Menschenherzen zum andern; als der Abend herabsank, glühten langsam, einzeln, die befohlenen Flämmchen in den Fenstern auf und warfen spielende rosige Lichter hinüber zum Kanal, in dessen Fluten es wie helle Sterne zu glänzen schien. Haus nach Haus in langer Reihe schmückte sich mit den glitzernden Lichtern, – blassen Antlitzes schlichen die Dorfmusikanten mit Fiedelbogen und Klarinette zum Tanzsaal.
   Gedrängt an den Wänden, ängstlich blickend und stumm saßen Frauen und Mädchen. Von den Männern des Dorfes hatte kein einziger den Tanzplatz betreten, aber alle standen im Hofe des Wirtshauses und in aller Herzen lebte ein trotziger, verwegener Entschluß. Wenn da drinnen eine Ungebühr geschah, sollten die Franzosen an diesem Abend erfahren, wie ihnen im Grunde die Deutschen gesinnt waren.
   Es kam nichts dergleichen. Die lebensfrohen Soldaten dachten nur an das Vergnügen, obwohl dasselbe sonderbar genug ausfiel. Stumm reichte der Wirt das verlangte Getränk, stumm erhob sich die Tänzerin, wenn der Kavalier mit zierlicher Verbeugung nahte – es lag ein Grabesschweigen auf dem ganzen Feste.
   Der Fiedelbogen glitt über die Saiten, bleiche ernste Männergesichter sahen in die Fenster hinein und im Kanal spiegelten sich die Hunderte von Lichtern der anbefohlenen Illumination.
   Es betete während dieser Stunden wohl unbewußt jegliches Herz; nur ein einziger, aber ein glühender, leidenschaftlicher Wunsch lebte in den Herzen aller. Möchte Deutschland frei werden, möchte es das verhaßte Joch des Todfeindes, des dreisten, unleidlichen, doch endlich – endlich abschütteln können.
   Am folgenden Tage gingen alle Schiffe und Kähne der ganzen Kolonie ab nach Norddeich, wo es natürlich damals noch keine von dem flacheren Strande bis zum Fahrwasser hinabführende Brücke gab, sondern wo die Erde zu Wagen an den Deich und mit dem Boote an das Schiff befördert werden mußte.
   Sämtliche Bauern und Seeleute waren zu den erforderlichen Arbeiten einfach gepreßt worden; die Franzosen hatten es mit ihrem Schanzenbau sehr eilig, sie konnten nicht warten; denn in der Nähe von Norderney lagen wieder zwei neue englische Kauffahrteischiffe voll verbotener Waren und der Schleichhandel gewann immer größeren Umfang.
   Es hatte während der letzteren Nächte sogar kleine Scharmützel gegeben; dennoch aber entkamen die Schmuggler, und nun sollte ihnen der Garaus gemacht werden. Was sich zwischen der Insel und dem ostfriesischen Festlande zeigte, das bohrten die Kanonen in den Grund, gleichviel, wen ihre Kugeln trafen.
   Ganz Norderney war in Aufruhr, alle Männer ballten die Fäuste. Lahmgelegt der ehrliche Erwerb, ausgebeutet und ausgeplündert das arme Land, nun auch noch das letzte, der Fischfang unmöglich gemacht – was sollte endlich daraus werden?
   Es gab nichts Gewinnbringendes mehr als nur den Schleichhandel. In Hamburg wurde sogar Marschall Neys Equipage tagtäglich zum Transport eingeschmuggelter Waren benutzt; das hatte jemand in Norderney erzählt und damit dem herrschenden Schmuggel neue Sympathien zugeführt. Die Schiffer verbündeten sich mit den Arbeitern am Lande – jede Karre erhielt einen doppelten Boden und jede Fuhre, welche die Franzosen umsonst verlangten, brachte den gemaßregelten Leuten einen guten Verdienst ins Haus.
   Der Kaffee kostete eine Steuer von zwei Frank das Pfund, da verlohnte es sich schon der Mühe, auch die kleinsten Mengen einzuschwärzen.
   Alle Schaluppen waren für den Schanzenbau in Dienst gestellt, aber an jedem vierten Tage durften die Fischer mit ihren Netzen auf die See hinausfahren, um den nötigen Bedarf für sich und ihre Familien einzufangen oder in Emden und Leer zu verkaufen, wobei dann ein französisches Kanonenboot jede Bewegung überwachte und bei dem geringsten auftauchenden Verdachte seine Soldaten an Bord der Schaluppe schickte, um dort nach versteckten Waren zu fahnden.
   In vielen Häusern zeigte schon jetzt der Hunger sein Schreckensantlitz. Frau Douwe Visser seufzte, wenn sie an den Winter dachte. Sonst konnte man nach beendetem Sommerfang hinübergehen in die Städte und reichlich einkaufen, Kisten und Kasten waren schwer – aber wie würde es in diesem Unglücksjahre werden?
   Dunkle stürmische Nächte folgten auf Tage voll Regen und kalter unruhiger Luft. Das Viereck für den Schanzenbau war abgesteckt und die Arbeit begann. Jede Fischerschaluppe hatte ihre Nummer, nach der Fahrzeug und Besitzer in Dienst gestellt oder auf einen Tag und eine Nacht entlassen wurden – die Franzosen gingen dabei nach dem Alphabet, so daß Klaus Visser und Heye Wessel immer miteinander frei waren, weil eben V und W zwei zusammenstehende Nummern ergaben.
   Die beiden Wattführer brauchten, da sie keine Schiffe besaßen, nur bestimmte Tagesstunden hindurch zu arbeiten, ihre Nächte blieben unbewacht.
   Es war an einem stürmischen rauhen Abend, als auf dem unruhig tobenden Wattenmeer an verschiedenen Stellen Lichter aufblitzten. Die beiden englischen Kauffahrer, bewaffnet und begleitet von einem Kanonenboot, kreuzten zwischen der Insel und dem Lande, während in ziemlicher Entfernung ein französisches Kanonenboot Wache hielt. Der erste Versuch, sich den Söhnen Albions etwas mehr zu nähern, war mit einer dem Schiffe durch die Takelage fahrenden Kugel beantwortet worden, man zog sich daher zurück im Bewußtsein, daß ja die Schanzen demnächst bewaffnet werden und das ganze Gebiet beherrschen würden, aber man beobachtete doch den Feind und auf beiden Seiten schlugen die Herzen voll todesverachtender Kampflust.
   Die drei stattlichen Engländer lagen dicht nebeneinander, ihre Laternen waren weithin sichtbar, ihre Kanonen immer bereit, das vernichtende Feuer den Franzosen auf die Köpfe zu speien. Unter dem Bug des einen der Kauffahrer glänzte verstohlener Schimmer und warf spielende Silberstreifen auf die tobenden Fluten, auf das Bild einer weißen flügelschlagenden Taube an der Gallion einer Schaluppe.
   An Deck stand der Kapitän und verstaute Kiste nach Kiste, wie sie ihm die englischen Matrosen aus dem weitbauchigen Innern des Schiffes zureichten. Der Kaffee konnte nur so, aber nicht in Säcken transportiert werden, da bei einer etwaigen Flucht oder Verfolgung von vornherein mit Durchnässung gerechnet werden mußte. Jetzt war die Schaluppe beladen, Lars Meinders und Onnen setzten die Segel, der Kapitän nahm den Platz am Steuer und nun hörte man den Schrei eines Regenpfeifers zwei– bis dreimal rasch hintereinander.
   Aus einiger Entfernung erklang das gleiche Zeichen, dann wurde die Schaluppe von dem Dreimaster gelöst und vor den Wind gebracht; der Kapitän sah unverwandt durch ein Nachtfernrohr in die Gegend des französischen Kanonenbootes hinaus.
   Zwischen diesem und der »Taube«, ziemlich weit von letzterer entfernt, segelte eine zweite Schaluppe, hochbeladen mit Kisten wie die erstere, dem gleichen Ziele, der Landungstreppe von Norddeich, entgegen. Wer sie genauer beobachtete, der mußte unwillkürlich glauben, daß dies Fahrzeug den Franzosen besser hätte aus dem Wege gehen können – es streifte fast den Lichtschein der »Hortense« und wurde von dort aus sogleich bemerkt.
   »Ein Schmuggler!« raunte Chatellier.
   Der Unteroffizier schüttelte schwermütig den Kopf. »Vielleicht der fliegende Holländer«, sagte er, »oder sonst ein Spuk. Seit jener Geschichte mit dem erschossenen Knaben verfolgt mich das Unglück auf allen Wegen.«
   Mehrere andere Soldaten kamen hinzu. »Es ist eine wirkliche und wahrhaftige Schaluppe«, riefen sie, »man muß die Verfolgung aufnehmen.«
   Der kommandierende Leutnant erhielt eine Meldung, die »Hortense« wurde gewendet und machte nun Jagd auf das langsam dahingleitende Fahrzeug. Fast im selben Augenblick schoß am Mast desselben das große Segel herauf, und wie eine Möwe flog der schlanke Bau vor dem Kanonenboot her durch die hochgehenden Wogen.
   In den Augen des Unteroffiziers blitzte es auf. »Ein Schmuggler! Es ist einer, so wahr ich lebe! Vorwärts, Kinder, wir müssen ihn fangen!«
   Alle Segel wurden beigesetzt, aber das kleinere Fahrzeug blieb dennoch bedeutend im Vorteil, da es sich schneller und gewandter zu bewegen vermochte. Sein Ziel war die Landungsstelle von Norddeich, das erkannte man auf dem Kanonenboot sofort.
   »Keinen Schuß!« gebot der kommandierende Offizier. »Wir haben ihn!«
   »Aber wenn draußen ein Engländer läge?«
   »Dann würden wir es wissen. Der Bursche hat uns für weniger wachsam gehalten – jedenfalls ist in der Schaluppe eine Ladung englischer Waren.«
   »Also gute Prise! Sollen wir ihm nicht einen Gruß hinübersenden?«
   »Nein! Nein! Wohin will er entkommen? – Da wird ein Exempel statuiert, der Schiffer verliert bei dieser Geschichte den letzten Heller.«
   Und der Franzose rieb sich zufrieden die Hände. Wie viele Verweise waren nicht schon von oben herab erteilt worden, wie viele ungnädige Bemerkungen gefallen. Noch niemals hatte man der Schmuggler habhaft werden können!
   Und jetzt liefen sie der »Hortense« so plötzlich, so besonders glücklich in den Weg.
   »Nur immer kaltes Blut! Es ist besser, wir bringen Schiff und Ladung unbeschädigt nach Emden, als daß wieder so ein paar Esel dabei sterben und die Bevölkerung immer mehr gegen uns aufgehetzt wird.«
   Er ging mit stolzen Schritten über das Verdeck. Wie angenehm, morgen früh gehorsamst melden zu können: »Hier habe ich die Schleichhändler abgefaßt!«
   Einem weißen Vogel gleich schwebte die Schaluppe, mit den Wellen stürzend und fallend, über das Meer. Am Steuer stand Heye Wessel und lächelte sonderbar, ganz sonderbar – der siegessichere französische Leutnant würde mit einigem Befremden dies stillvergnügte, vor Behagen glänzende Antlitz betrachtet haben.
   Weit hinter dem Kanonenboot, ganz im Dunkel, ganz auf der Seite lief geräuschlos die »Taube« durch das Wasser. Der Wind heulte und die Wogen sprühten hoch über Deck – auf den drei englischen Schiffen war jedes Licht erloschen.
   Die Fahrt nach Norddeich ist nicht lang; bei günstigem Winde genügen drei Stunden. Mehr als einmal während dieser Zeit hatte der französische Leutnant die Schaluppe angerufen, aber niemals eine Antwort erhalten – sie flog voraus unter dem Druck aller Segel, unaufhaltsam, als könne nur die größte Eile sie retten.
   Immer ärger polterte der Wind, immer tiefer senkte sich die Finsternis herab auf Wasser und Land. Es regnete, ein Haufen schwarzer Wetterwolken stand am Himmel – nur unter Aufbietung seiner ganzen Sehkraft vermochte es der Leutnant, das weiße Segel im Auge zu behalten.
   Der Schmuggler hoffte höchstwahrscheinlich, in der Nähe der Küste das flachere Fahrwasser zu erreichen und dadurch den Weg des tiefer gehenden Kanonenbootes abzuschneiden. Mochte er doch! Eine Menge von Schaluppen lagen in der Nähe; es ließ sich leicht genug auf Booten die Jagd fortsetzen.
   Immer weiter, immer weiter. Diese Nacht mußte eine glückliche genannt werden.
   Vorsichtig, im Bogen umfuhr die »Taube« das Kanonenboot und die Schaluppe, mit weißen Flügeln an Norddeich vorüberstreifend, weiter hinaus, bis wohin der Lichtschein von der Landungsstelle nicht mehr reichte. Da schaukelten mehrere Boote und dunkle Gestalten harrten zusammengekauert der Dinge, die da kommen würden.
   Als die »Taube« nahte, verschlang das Brausen der Wellen den dumpfen Laut, welchen der herabfallende Anker verursachte. Die tanzenden Boote schwammen heran, immer mehr Männer tauchten auf aus der Finsternis, Kiste nach Kiste glitt herab, wie Eidechsen kletterten die Seeleute an der Böschung des Deiches empor und nach einer halben Stunde war das Schiff vollständig ausgeräumt.
   »Rasch«, ermahnte der Kapitän, »wir müssen nach Norderney zurück, ehe die Flut weicht. In vier Tagen sind wir wieder hier.«
   »So Gott will!« antwortete einer der Männer.
   »Wird‘s schon wollen, Freund. Hat ja bisher immer noch geholfen. Adjes!«
   »Adjes, Visser – grüße den Heye Wessel!«
   Sie lachten beide, und unbemerkt, wie es gekommen war, schlüpfte das schlanke Fahrzeug, jetzt, wo der Ballast fehlte, mit ausgevierten Seitenschwertern wieder hinaus in das undurchdringliche Dunkel.
   Vor Norddeich war unterdessen die erste Schaluppe, der »Kampfhahn«, beim Landungsplatze angelangt, verfolgt von dem Kanonenboot, dessen Kommandeur sogleich die erforderlichen Maßregeln anordnete. Eine Kette von Booten, alle mit französischen Soldaten bemannt, umstellte das Schmugglerfahrzeug, während die »Hortense« demselben ihre eine Breitseite zugekehrt hielt und so jede Flucht zur Unmöglichkeit machte.
   Heye Wessel lachte immer noch wohlgefällig in sich hinein. Der Riese nickte sogar, als er aus seiner Flasche eine Herzstärkung zu sich nahm, ganz vertraulich nach der Richtung des Kanonenbootes hinüber. »Prosit, Franzmann, wohl bekomm‘s!«
   Als der Morgen anbrach, schickte der Leutnant einen Boten nach Norden, von wo bald darauf mehrere Offiziere und der Unterpräfekt zu Wagen ankamen. Jetzt lagen die Kisten an Bord des »Kampfhahn« offen im Sonnenschein und alle Franzosen rieben sich die Hände. Schiff und Ladung verfielen der Beschlagnahme.
   Mehrere Wagen waren zur Stelle, eine Abteilung Soldaten hielt mit aufgepflanztem Gewehr das Schmugglerschiff besetzt und vorsichtig wurden die Kisten in bereitgehaltene Boote herabgelassen. Fünfundzwanzig an der Zahl – ein hübscher Fang!
   Heye Wessel und Uve Mensinga befanden sich mit geschlossenen Händen an Bord des Kanonenbootes; jetzt begann, von dem Unterpräfekten geführt, ein genaues, peinliches Verhör.
   »Das Schiff ist Ihr Eigentum, nicht wahr?«
   »Ja«, nickte der Riese.
   »Weshalb hielten Sie nicht an, als man Ihnen vom Bord des Kanonenbootes zurief? Sie hofften zu entkommen, nicht wahr?«
   »Allerdings«, gestand sehr zerknirscht der arme Sünder.
   »Weil Sie sich der Übertretung bewußt waren? Weil Sie die Strafe fürchteten?«
   »Ja! Ach Gott, ja!«
   »Nun, das ist immerhin ein ehrliches Geständnis. An welchen Ort gedachten Sie den Inhalt dieser Kisten ursprünglich zu bringen?«
   Heye Wessel seufzte. »Ja, du lieber Gott!« zögerte er.
   »Heraus damit! Schnell!«
   »Na, wenn es denn durchaus sein muß – ich wollte ihn in Norden verkaufen!«
   »Natürlich. Und Sie dachten unbemerkt im Schutze der Dunkelheit an Land zu kommen, nicht wahr?«
   »Ja, eben.«
   Der Protokollführer schrieb, daß es knisterte, der Leutnant ging stolz wie ein Spanier in der Kajüte auf und ab.
   »So, das wäre alles«, meinte der Unterpräfekt, »Sie müssen jetzt das Blatt unterzeichnen, Schiffer Wessel. Aber halt, noch eins! Was befindet sich in den Kisten?«
   Jetzt sah Heye Wessel von einem zum andern; sein Gesicht war harmlos wie das eines Kindes. »Was darin ist?« wiederholte er, »ja, wissen es denn die Herren noch nicht? Sand natürlich, sauberer weißer Sand von den Dünen. Die in Norden kaufen ihn zum Putzen und.«
   »Kerl«, rief der Leutnant, »Kerl, wenn du noch ein einziges Wort hinzufügst, drehe ich dir den Hals um!«
   Er sprang mit drei Sätzen hinab in das Boot und riß dem nächsten besten Arbeiter die eisenbeschlagene Schaufel aus der Hand. Ein wuchtiger Hieb spaltete den Deckel der obersten Kiste – es war Sand darin, nichts als Sand.
   »Hölle und Teufel«, schrie der erboste Franzose, »das ist ein neuer Betrug!«
   Und er wühlte und wühlte, bis ihm das Blut unter den Nägeln hervordrang. »Wie ein erzürntes Kaninchen!« dachte Heye Wessel.
   Der Boden der Kiste kam zum Vorschein, aber es war weiter nichts darin als nur Sand. Die Franzosen erkannten jetzt wohl sämtlich den Stand der Dinge; sie flüsterten miteinander und zuckten die Achseln, dann empfahlen sich die fremden Herren so schnell als nur möglich, verfolgt von dem Spottlächeln der Erdarbeiter.
   Unteroffizier Durand löste mit einem Messerschnitt die Bande an den Händen der beiden Schiffer, dann schüttelte er bedeutsam den Kopf. »Allerlei Spuk!« murmelte er. »Es ist mir an Bord der ›Hortense‹ schon lange nicht mehr geheuer.«
   Der Leutnant ballte die Fäuste; er verzieh es dem lächelnden Schiffer nicht, ihn so blamiert zu haben. »Was hindert mich, dich auf dem Fleck niederzuschlagen, du Schuft?« rief er, halberstickt vom heftigsten Ärger.
   Heye Wessel zog gemächlich seine beiden Hände aus den Taschen. »Diese da!« nickte er, »und ich glaube, ein wenig auch die guten Leute, welche uns sehen und hören.«
   Die Erdarbeiter, schon aufgeregt durch das, was eben vor ihren Augen geschehen war, die widerrechtlich und jählings aus allen ihren Verhältnissen herausgerissenen Erdarbeiter riefen Hurra. »Wenn der Franzose dich anfaßt, soll er es bereuen, Heye Wessel! Hurra für Deutschland!«
   Und brausend dröhnte der Klang, hundertstimmig getragen, durch die heitere Sommerluft dahin über das Wasser.
   Des Leutnants Augen blitzten. »Ich vergelte es euch« schwor er in seinem Herzen. »Gebt acht, ich vergelte es euch! Ihr habt mich herausgefordert und die Folgen sollt ihr allein tragen.«
   Äußerlich beherrschte er sich. Die Schaluppe und das Kanonenboot mußten beide noch stundenlang warten, ehe sie wieder in See stechen konnten, dann aber, als es geschah, riefen Hunderte von Stimmen den Franzosen allerlei Spottreden nach.
   »Wollen Sie denn nicht die Kisten mitnehmen, Herr Leutnant? Es ist doch Ihre Beute – ha, ha, ha.«
   »Wartet! Wartet!« murmelte der Offizier. »Meine Stunde schlägt auch noch.«


   4

   Die breiten Gräben hinter der Schanze wurden ausgeschaufelt und dann das Seewasser hineingeleitet; Mann nach Mann schoben sämtliche Inselbewohner ihre Karren mit Klei und Erde vom Ankerplatz herauf bis an die Stelle, wo Befestigungen errichtet wurden, um Deutschlands Freunde zu vertreiben und das geknechtete Land immer ärger in die Willkürherrschaft des Korsen hineinzudrängen.
   Französische Soldaten hielten Wache mit geladenen Gewehren und deutsche Seeleute erbauten Schanzen, deren Kanonen sie selbst und ihre Brüder vernichten sollten.
   Die Abendsonne schien warm herab auf das kleine Norderney, auf die grabenden und Erde fahrenden Männer und auf die einsamen Dünen, deren lange Grashalme im Winde schaukelten.
   Langsam gleitend kroch Aheltje, die Hexe, von einem Zwerggebüsch zum andern. Hinter ihr ging die graue Katze, schleichend wenn sie schlich, stillstehend wenn ihr Fuß anhielt. Die Alte suchte Vogeleier und murmelte vor sich hin, sobald sie ein Nest gefunden hatte.
   »Zwei Eier mußt du mir geben, Vogelmütterchen, die andern laß ich dir. Weiß, wie es tut, seine Kinder zu verlieren, hab‘ fünf blühende Knaben der See opfern müssen – keiner ist zurückgekommen. Ach, ach, welch ein Leben!«
   Die Katze spann, sie suchte die Blicke ihrer Herrin, als wolle sie sagen: »Mich besitzt du ja noch, wir beide haben einander lieb!«
   Aheltje umfaßte mit beiden Armen ihren Liebling. »Es gibt Eierkuchen, Murr, hörst du, Eierkuchen und gebratene Fische!«
   »Miau!«
   »Dich freut‘s auch, was? – Ach, Murr, wenn‘s doch die letzte Mahlzeit wär! Wenn die ›Hexe‹ endlich sterben dürfte!«
   Sie drückte das blasse verkümmerte Gesicht gegen den grauen Pelz und sah traurig hinaus auf das Meer. »Sie werden die ›Zauberin‹ mit der Heugabel fassen und ohne Sarg ins offene Grab werfen, Murr – tief hinunter in den rieselnden weißen Sand, wo der Tote immer weiter versinkt, immer weiter. Kein Kreuz kommt an die Stätte, keine Blume – sie sind so böse gegen ein lahmes krankes Weib, die Menschen!«
   Aheltje weinte vor sich hin. Heute morgen war sie im Dorfe gewesen, um den wenigen Badegästen ihre Seesterne und Seeigel anzubieten, aber rohe Buben hatten ihr einen Hund entgegengehetzt; noch blutete die linke Hand von dem Bisse desselben und das zerfetzte Kleid zeigte neue Risse. Auch Murrs Ohrläppchen hing durchlöchert herab – ach, welch ein böser Tag war doch wieder einmal über die arme Alte gekommen.
   »Einerlei, Murr«, sagte sie mit zuckenden Lippen, »einerlei, wenn mich auch die Menschen hassen, weil ich so unglücklich und so verkrüppelt bin – schlecht machen sollen sie mich darum doch nicht, ich will sie immer lieb haben nach Gottes heiligem Willen! Komm, mein Tier, komm – wir müssen weiter!«
   Der Graue schlich wieder hinter ihr her und die Alte suchte zwischen allen Gebüschen, in den Graspflanzen und Erdlöchern nach Nestern. So kamen die beiden an ein enges Tal, wo hohe überhängende Wände der Umgebung ein gebirgsartiges Aussehen verliehen; auf dem Grunde wuchsen zwerghafte Erlen, während nur ein schmaler beschwerlicher Weg seitwärts hinabführte.
   Wilde Kaninchen lugten aus Erdlöchern hervor und huschten ängstlich in ihre verborgensten Spalten; Heidelerchen erhoben sich zwitschernd zum Himmel; Schwalbenpaare schossen nach allen Richtungen durch die Luft.
   Es war hier in der entlegensten Einsamkeit der Dünen so still, so feierlich wie in einem weiten, von Glanz und Gold erfüllten Dome. Die wilden Bienen sangen das Lied zu Gottes Ehre, leise rauschend flüsterten die Erlenblätter von der Vergänglichkeit alles Irdischen und jenem Frieden, den das gute Gewissen dem Menschen in aller Trübsal, aller Anfechtung sichert.
   Roter Abendschein fiel auf das Weib im Bettlergewande und umhüllte es ganz. Aheltje bog die Erlenbüsche auseinander; sie klopfte mit dem Knöchel der rechten Hand gegen einen harten Körper, daß es hell und metallisch erklang.
   »Es liegt noch da, Murr, hörst du, niemand hat es entdeckt!« —
   Dann machte sie sich wieder in den Zweigen zu schaffen, ihre Hand fuhr hinein und brachte, als sie zurückkam, blitzende Goldstücke mit sich, es war ein seltsamer Anblick, das Weib in Lumpen mit dem reichen Schatze auf dem Schoß, ein seltsamer, unbegreiflicher Anblick!
   Immer mehr, immer mehr. Es glitzerte und funkelte, es spiegelte sich wie tausend Diamanten im Abendsonnenglanz – spielend reckte Murr die Pfoten und fuhr täppisch zu, als wolle er den Reichtum haschen.
   Aus der Spalte sah scheu das wilde Kaninchen. So viel Gold – und doch Tränen im Auge, Blut an der Hand – wie kommt das?
   »Ruhig Murr, wir besehen nur einmal den Schatz, wir berühren ihn, den Götzen dieser Welt – es ist so eigen schaurig, Gold durch die Finger laufen zu lassen wie bloßes Wasser! – aber uns gehört davon nichts. Nein, nichts! Magst ruhig schlafen, Geerd Kluin, deine Tausende sind in sicherer Hut!«
   Sie wiegte den Kopf, halb lächelnd, halb schluchzend, sie legte mit leiser Hand die Münzen wieder in den eisernen Topf unter dem Wurzelgeflecht der Erlen. »Seltsame Welt, blinde törichte Menschen! Vielleicht darbt und hungert der reiche Mann im fernen Hamburg und alles, was ihn erquickt, ist der Gedanke an sein vergrabenes Geld! Vielleicht sieht er‘s nie wieder, aber das letzte Stündlein wird ihm leichter, weil er weiß, daß auch andere es nicht erlangen werden.«
   Sie deckte den Topf sorgfältig zu. »Liege, liege bis an den jüngsten Tag, bis Gott die Welt vor das Gericht fordert, Gute und Arge – alles was lebt!«
   Sie raffte ihre Eier zusammen und die Wanderung über das zerklüftete Gebiet begann aufs neue.
   Es wurde allmählich dunkel; Aheltje schlich an der Stelle des heutigen neuen Kirchhofes und der verstreuten einzelnen Häuser hinter der Marienstraße vorüber, ihrer Hütte zu; da sah sie vor sich auf dem Kamm einer Düne die hohe Gestalt eines Mannes, der seine Augen mit der Hand beschützte.
   »Peter Witt!« murmelte die Alte. »Kain!«
   Und sie lachte laut und verächtlich.
   Der Genannte wandte den Kopf. »Du bist es, Hexe! Was hast du da, he? Zauberkräuter, denke ich!«
   Er wollte ihr das zerrissene Tuch wegnehmen, aber sie schlug ihn derb auf die Finger. »Zauberkräuter!« wiederholte sie spöttisch. »Sollen deine Hände verbrennen, Peter Witt?«
   »Ist‘s wahr?« flüsterte er, einen Schritt zurückweichend. »Du bist gut Freund mit den Schmugglern, alte Aheltje, du kochst ihnen wohl gar den Trank, der unsichtbar macht?«
   »Ha, ha, ha – Murr, lachst du nicht? Das war kostbar, Peter Witt, dafür solltest du eigentlich noch einen besonderen Orden haben, einen französischen natürlich.«
   »Den bekomme ich auch noch«, rief er eifrig, »allen deinen Künsten zum Trotz, alte Hexe. Sieh dahin, die englischen Schiffe sind fort!«
   »Und was kümmert das dich, Peter Witt?«
   »Viel! Viel!« rief der Spion. »Wo wird jetzt das Gut gelandet, wo arbeiten die Schmuggler? Ich will und muß es erfahren, so kann die Sache nicht länger fortgehen. Diese beiden Haupthähne, Visser und der lange Lümmel, der Heye Wessel, führen die Zollbeamten an der Nase herum – sie stehen mit dem Teufel im Bunde.«
   Er rannte fort, verfolgt von dem Lachen der Alten, und während sie ihre Hütte aufsuchte, ging er in das Dorf hinab.
   »Ich will auf den Grund sehen«, murmelte er, »ich will es und müßte mich‘s Gott weiß was kosten!«
   Zwischen den Häusern herrschte fast vollständige Dunkelheit; Schritt für Schritt stieg der Franzosenfreund durch den tiefen losen Sand einem niederen Gebäude zu, in dem sich damals die einzige kleine Schenke des Ortes befand. Schräg gegenüber lag das Wohnhaus des Kapitäns, während neben demselben ein halbzerfallener Stall das schiefe Dach der Straße zuneigte.
   In der Wirtsstube war niemand als die Frau des Eigentümers, der sich zum Fischfang auf dem Meere befand; sie gab dem Gaste das verlangte Getränk und kümmerte sich dann mehr um ein krankes Kind, das sie in Schlaf wiegte, als um ihn.
   Peter Witt pries den Zufall; er konnte nun, selbst ungesehen, das Haus des Kapitäns beobachten, und das war es eben, was er wollte.
   Klaus Visser hatte sich heute krank melden lassen, die »Taube« lag auf dem Watt vor Anker – das schien verdächtig.
   Peter Witt spähte. Hinter den verhüllten Fenstern des Kapitäns glänzte freundlicher Lichtschein, man sah auch Schatten vorüberhuschen und zuweilen klangen Stimmen auf die Straße hinaus. Endlich, als es ganz dunkel geworden war, erschien ein Mann und schlüpfte schnell, als wolle er nicht gesehen werden, zur Tür hinein.
   Ein Strom von Hitze ergoß sich durch die Adern des Lauschenden.
   »Jakob Brahms aus Neßmersiel«, dachte er, »was kann der wollen?«
   Sein Entschluß war schnell gefaßt, er bezahlte den genossenen Branntwein und ging fort, um dann von der Hinterseite der Häuser her das Anwesen des Kapitäns wieder zu erreichen. Eine niedere Tür zum Hofe stand immer offen, Peter Witt schlüpfte hinein, gelangte in die Holzkammer und preßte nun lauschend das Ohr gegen die Tür des Wohnzimmers.
   Sein Herz schlug, als wolle es springen. Wenn er entdeckt würde, dann stand vielleicht das Leben selbst auf dem Spiel; Jakob Brahms war ein Mann, der mit sich nicht spaßen ließ, das wußte er.
   »Es geht nicht anders«, erklang in diesem Augenblick die Stimme des Kapitäns, »wir können hier nichts mehr ausrichten; es ist heute eine Verstärkung von mehreren hundert Mann und zwei Kanonenbooten angelangt. Weißt du, welch eine neue Teufelei sich die Kerle ausgesonnen haben?«
   »Nun?« fragte der aus Neßmersiel.
   »Jede Schaluppe erhält, sobald sie die Anker lichtet, vier Mann französische Besatzung. Allein dürfen wir nicht mehr in See gehen – damit ist das Geschäft zerstört.«
   Jakob Brahms schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das ist unerhört! Visser, das kann nicht wahr sein!«
   Der Kapitän seufzte. »Doch! Doch! Es ist gestern verlesen worden. So gut die Machthaber den Leuten das bißchen Eigentum aus dem Hause holen und es auf offenem Markte verbrennen, können sie auch unbescholtene Bürger wie Gefangene behandeln und sie mit Wächtern umgeben. Vier Mann für jede Schaluppe und Konfiskation des Fahrzeuges, das ohne dieselben auf offener See betroffen wird.« Der andere ließ die Arme sinken. »Das ist ja unerhört«, sagte er.
   »Gewiß ist es unerhört und wird auch im Verein mit den Kanonen von der neuen Schanze herab den englischen Handel lahm legen – nur die Waren aus diesen beiden Schiffen müssen noch an Land gebracht werden – Heye Wessel und ich haben‘s übernommen.«
   »Daß dich!« dachte der Lauscher. »Die Nachricht ist Gold wert!«
   »Aber wie führen wir‘s aus?« setzte der Kapitän hinzu. »Ich habe dir eine Botschaft geschickt, Jakob, damit du kommen und mir raten solltest. Was fange ich an?«
   Der Brahms trank den Branntwein, welcher vor ihm auf dem Tisch stand, und sah dann durch das Glas, als lese er dort des Rätsels Lösung.
   »Du, Visser«, sagte er endlich, »ist auf Baltrum noch keine Besatzung, weißt du es gewiß?«
   »Ganz gewiß; es ist keine da.«
   Jakob Brahms schlug wieder auf die Tischplatte. »Dann müssen die Engländer den Kaffee auf Baltrum landen und von dort bringen wir ihn über das Watt nach Neßmersiel.«
   Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Jakob, ganz unmöglich. Dort stehen vier Zollwächter auf dem Deiche.«
   »Die ich unschädlich machen werde, Visser, verlasse dich darauf. Wann hast du übrigens wieder deinen freien Tag?«
   »Nächsten Sonnabend!«
   »Gut, dann kannst du öffentlich auf einer der Schaluppen die Erde anfahren, nach Norddeich reisen und zu Lande weiter nach Neßmersiel; von da durchs Watt nach Baltrum – du und die übrigen. Ihr seid bei Beginn der Dunkelheit sämtlich an Ort und Stelle; für das weitere laßt ihr mich sorgen.«
   Der Kapitän wiegte den Kopf. »Du mußt mir das erst etwas deutlicher erklären, mein guter Jakob«, sagte er mit geheimer Unruhe.
   »In welchen Räumen könnten auf Baltrum ganze Schiffsladungen voll Kaffee verborgen werden?«
   »In den Ställen und Scheunen eines sicheren vertrauten Mannes, für den ich einstehe. Andreas Fokke, der Fuhrmann ist‘s.«
   Ein leises gedehntes Pfeifen verriet die Befriedigung des Kapitäns. »Andreas Fokke!« wiederholte er. »Hm, hm, Jakob, laß dir sagen, daß ich den Mann ganz genau kenne. Wir hatten schon, ehe noch eine Besatzung nach Norderney kam, unser Lager in seinen Scheunen.«
   »Sieh! Sieh! Du wolltest mich also erst ein wenig aushorchen, Schlauberger?«
   »Aufrichtig gestanden, ja. Aber nun bin ich mit dir einverstanden, Jakob – wir gehen nach Baltrum, dabei bleibt es. Nur eins beunruhigt mich! Wie gelangt die Nachricht an Bord der beiden Engländer?«
   »Dafür laßt mich sorgen. In Neßmersiel sind Handelsleute genug, die täglich hinüberfahren – einem unter ihnen gebe ich die Bestellung schriftlich mit«
   »Und du kennst auch an Ort und Stelle Räumlichkeiten, die den Kaffee aufnehmen können?«
   »Mehr als genug. Ich selbst habe Scheunen und Ställe, mehrere andere vertraute Leute auch. Wir fahren mit acht Lastwagen.«
   »Das wird genügen, Jakob. Es ist doch immer gut, wenn man mit vernünftigen Kameraden eine Angelegenheit erst überlegt!«
   »Bringe uns noch eine von den grünen Flaschen, Mutter«, setzte er dann hinzu. »Wenn das Geschäft gelingt, haben wir Tausende verdient.«
   Die alte Frau seufzte. »Ja, wenn! Mir ist bei diesen Geschichten immer himmelangst, das kann ich euch sagen.«
   »Nun, Alte, dieses Mal wird ja das letzte sein. Bitte nur den lieben Gott, daß der Fuchs, der Peter Witt, von dem allen keine Kenntnis erlange. Der Verräter schnüffelt seit Heye Wessels prachtvoller Kriegslist fortwährend zwischen den Schaluppen herum, er will sich noch solch ein buntes Spielzeug verdienen, dafür würde er ganz Deutschland an seine geliebten Franzosen ausliefern, glaube ich.«
   Jakob Brahms lächelte. »Erwischt man den Patron, so bekommt er eins auf den Kopf«, war seine kaltblütige Erklärung. »Man schlägt ihn nieder wie einen tollen Hund.«
   Der Lauscher hörte jedes Wort, er ballte heimlich die Faust, dann aber überflog ein höhnisches Lächeln sein Gesicht. Geräuschlos, wie er gekommen war, glitt er auch wieder hinaus und über den Hof auf die Straße.
   »Bete nur, Frau Douwe«, knirschte er, »bete fleißig. Wir werden ja sehen, wer den Sieg behält, du oder ich.«
   Die beiden Männer drinnen im Zimmer beredeten unterdessen alle Einzelheiten ihres Planes; auch Onnen kam hinzu und bat so lange, bis ihm erlaubt wurde, den beabsichtigten Zug mitzumachen. »Gottlob, daß es der letzte ist«, rief er. »Ich will lieber Kaffee und Zucker entbehren als meinen Vater mit den Gesetzen im Streit wissen.«
   »Du bist ein Grünschnabel«, rief halb ärgerlich der Kapitän. »Franzosengesetze verlache ich, sie sind für deutsche Männer nichts als Plunder, ich pfeife darauf!«
   Frau Douwe suchte ihn zu beschwichtigen. »Du sagst ja selbst, daß es nun zu Ende ist, Vater! – Ach, ich will ganz frei aufatmen, sobald nur diese unheimlichen Streifzüge aufhören.«
   Jakob Brahms verabschiedete sich und die kleine Familie blieb allein, um bald darauf die nächtliche Ruhe zu suchen. Aber der Kapitän konnte lange nicht einschlafen, und als er endlich die Augen schloß, da quälten ihn schwere Träume – mitten in der Nacht fuhr er plötzlich auf.
   »Mutter, Mutter, hörst du denn nichts?«
   Frau Douwe erwachte. »Was gibt es, Klaus?« rief sie sehr erschrocken.
   »Da, da, der Himmel und die Erde sind rot – über ganz Norderney schlägt eine riesige Blutwelle!«
   »Klaus, mein bester Klaus, so wache doch auf!«
   Sie rüttelte ihn am Arme, sie streichelte sein eiskaltes Gesicht.
   »Was hast du denn, Klaus? So sprich doch ein vernünftiges Wort!«
   Endlich erwachte er. Die kleine Öllampe brannte auf dem Tisch, vom Fenster herab hingen saubere weiße Vorhänge; das ganze trauliche Zimmer machte den angenehmsten, gemütlichsten Eindruck Klaus Visser schauderte.
   »Ich sah eine große Blutwelle, Mutter! Hab ich dich sehr erschreckt, du Arme? – Ach, es war schauerlich, die Woge ging hoch über unser Haus hinweg.«
   Frau Douwe weinte. »Ach, wenn du das als Warnung nehmen wolltest, mein guter Klaus, wenn du dich bitten ließest!«
   Er wandte verdrießlich den Kopf. »Ein Traum, weiter nichts! Mir träumte auch schon einmal von einem Riesenschellfisch, der nach mir schnappte – und ist später doch keinerlei Böses passiert. Ich wollte nur, es wäre erst Sonnabend.«
   Mehr wurde nicht gesprochen, aber Frau Douwe blieb verstimmt und auch am folgenden Morgen war sie sehr einsilbig.
   Die kleine Familie saß eben beim Frühstück, als auf der Straße ein plötzliches Geräusch entstand. Die Leute liefen hin und her, bald kam der Lärm näher heran – es war das Gewirbel der französischen Trommeln.
   Wieder ein neues Gesetz, irgendeine Bosheit, um den armen Leuten noch das letzte zu nehmen.
   Die alte Folke Eils schüttelte den Kopf. »Was mögen sie denn jetzt verbrennen wollen, die Unmenschen? Ach, man führt doch ein trauriges Leben! Die Waren ins Feuer geworfen, das Bett weggenommen, den Handel verboten – was soll so eine arme alte Frau anfangen?«
   Und sie weinte bitterlich, wie immer, so oft die Trommel erklang.
   Der Kapitän ging in Onnens Begleitung zur Sammelstelle. Das mußte etwas sehr Wichtiges sein, was heute verkündet werden sollte; die gesamte Besatzung war aufmarschiert, das Offizierkorps in voller Uniform, der Präfekt Jeannesson in seiner Amtstracht, der Dolmetscher mit Papieren in der Hand. Sie bildeten vor dem alten Badehause einen weiten Halbkreis, dessen letzten Hintergrund die Mastspitzen der Kanonenboote ausmachten; es glänzte und flimmerte überall von Uniformen, Waffen und Schmuck.
   Neben dem Obersten Jouffrin stand ein Unteroffizier, der die französische Fahne an einer langen Stange in der Hand trug.
   »Potz Blitz!« flüsterte der Kapitän, »das wird ja wichtig.«
   Er ließ sich nicht träumen, welch eine Verfügung eben jetzt getroffen worden war.
   Neuer Trommelwirbel, dann ein ängstliches Schweigen rings umher. Die Leute horchten voll geheimer Furcht.
   Nun begann auf ein Zeichen des Obersten der Amtsschreiber seinen Vortrag.
   »Proklamation!
   Seine Majestät der Kaiser geruhen zu befehlen wie folgt: In anbetracht der immer wiederholten und beharrlich trotz aller erlassenen Gesetzesvorschriften fortgeführten Schmuggeleien wird hierdurch nachstehende Verordnung publiziert und männiglich zur Kenntnis gebracht. Wer von heute an bei einem Unternehmen, das mit der verbotenen Einführung englischer Waren direkt oder indirekt zusammenhängt, bei irgendeiner Art von Schmuggelei oder Steuerhinterziehung betroffen wird, der soll nach Gesetz und Recht öffentlich vor allem Volke die Todesstrafe erleiden und durch Pulver und Blei verdientermaßen gerichtet werden, er sei wer er wolle.«
   Wie der Blitz in das Pulverfaß, so fielen die wenigen Worte in aller Herzen. Ein Aufschrei, ein Laut des Entsetzens, halb unterdrückt, ging durch die Menge.
   Erschossen! Hingerichtet! War es denn möglich?
   Und um einiger Pfunde Tee, um eines Zuckerhutes willen!
   Der Präfekt Jeannesson sah musternd über die Gruppen der Eingeborenen hinweg. »Leute«, sagte er mit hallender, ermahnender Stimme, »Leute, ihr wißt nun, woran ihr seid. Hoffentlich wird kein Blut fließen, kein einziger unter euch mit so ernsten Dingen ein vermessenes Spiel treiben wollen. Wir leben im Kriege, das bedenkt und hütet euch vor Übertretungen.«
   Todesstille lag auf den Versammelten, ein eisiges Grauen hielt die Herzen in Banden. Hinter den Reihen der Franzosen erhob sich ein spähendes Antlitz, aschfahl und verzerrt, aber doch voll heimlichen Triumphes. Unnatürlich glänzten die weitgeöffneten Augen, unnatürlich atmete in schweren Zügen die Brust. Es war Peter Wirt, der alles mitangehört hatte und der für sich den Erfolg, das Gelingen herankommen sah.
   Kain – wie ihn Aheltje nannte.
   Der Kapitän wandte den Blick. Es war sein eigenes Haus, über das er heute im Traume die Blutwellen dahingehen sah – jetzt fiel‘s ihm wieder ein.
   Die Leute ringsumher flüsterten, die Männer standen in Gruppen beieinander. Schlimmer, als es nun war, konnte es nicht mehr werden.
   Wieder rasselten die Trommeln; das war der Befehl zum Auseinandergehen. Es gab für die Inselbewohner keinen freien Willen mehr, sie mußten gehorchen wie Kinder.
   »Onnen«, flüsterte der Kapitän, »erzähle lieber deiner Mutter gar nichts von dem, was wir eben gehört haben. Es gibt sonst nur unnötige Aufregung.«
   »Vater!« rief erschreckend der Knabe, »du wirst doch unter den gegenwärtigen Umständen nicht mehr an —«
   »Pst! Ein Mann, ein Wort, Onnen. Sollten mich meine Freunde für feige halten?«
   »Für vernünftig und besonnen, Vater! Du kannst nicht daran denken, dein Leben auf das Spiel setzen zu wollen.«
   »Schweig!« befahl der Kapitän. »Das sind Dinge, von denen ein Knabe wie du noch nichts versteht. Ich werde schon die nötige Vorsicht im Auge behalten.«
   Sie kamen nach Hause und trafen Frau Douwe bereits in voller Verzweiflung. Das Gerücht eilt schnell – es war eher angelangt als sie selbst. Die arme Frau sah ihre Lieben schon von französischen Kugeln zerrissen und weinte bitterlich.
   Als der Kapitän eintrat, warf sie sich ihm schluchzend zu Füßen und umklammerte seine Knie. »Vater! Vater! gib mir dein Wort, nie wieder schmuggeln zu wollen, oder ich sterbe vor Furcht – sage mir, daß die Fahrt nach Neßmersiel unterbleiben soll!«
   Sie weinte so heftig, ihr Flehen hätte ein Herz von Stein erschüttern können; leise, bittende Worte stammelnd, beugte sie das graue Haupt fast bis zu den Füßen ihres Mannes und beschwor ihn, Erbarmen zu üben.
   Eine Wolke flog über die Stirn des Kapitäns; er hob die Weinende auf und streichelte gutmütig das blasse Gesicht.
   »Ich kann nicht, Mutter, bei Gott, ich kann nicht. Die Franzosen werden übrigens keinen erschießen, es sei denn, sie hätten ihn! Kümmere du dich um gar nichts, hörst du; ich bin am Sonntag unversehrt wieder hier und habe in ein paar Stunden mehr verdient, als mir der Fischfang in Jahr und Tag einbringt.«
   Jetzt mischte sich Onnen in das Gespräch. »Du meinst doch ›wir‹, nicht wahr Vater? Wo du bist, dahin gehe auch ich.«
   Frau Douwe schrie laut auf. »Um Gotteswillen, Klaus, das darfst du dem Jungen nicht erlauben!«
   »Auf keinen Fall!« bestätigte der Kapitän. »Onnen bleibt hier.«
   Unser Freund kannte diesen Ton. Für den Augenblick war nichts zu machen, das wußte er und schwieg weislich.
   Ein Schatten verdunkelte draußen die Fenster, dann öffnete sich die Tür und Heye Wessel trat in das Zimmer. Er sah von einem zum andern; die Mütze in der Hand und das kluge Gesicht glänzend vor Aufregung, so stand er da.
   »Klaus Visser«, sagte er, bei seiner Rede immer mit dem Kopfe nickend, »Klaus Visser, wie ist es, gibst du nach?«
   Der Kapitän reckte seine hohe Gestalt. »Nein!« antwortete er mit festem Tone. »Tausendmal nein!«
   Ein tieferer Atemzug hob die Brust des Riesen. »Ich auch nicht«, rief er. »Sollen uns die Hunde für Feiglinge halten? Wagen sie sich heran, dann brechen wir ihnen als ehrliche Ostfriesen die Hälse.«
   »Genau was ich denke, Heye Wessel. Du bist also mit von der Partie? Ich kann mich auf dich verlassen?«
   »Wie auf deine Augen, Visser. Ein Schuft, wer sein Wort bricht!«
   »Siehst du, Mutter, so denken alle – sollte da dein Mann zurückstehen?«
   Aber die alte Frau weinte, als müsse ihr das Herz brechen. Sie schüttelte nur den Kopf; über die zuckenden Lippen kam kein Laut.
   In Neßmersiel klang Musik durch die einzige am Kanal gelegene Dorfstraße. Es wurde eins der vielen, in damaliger Zeit noch üblichen Gelage gefeiert, das Knechtsbier, bei dem die jungen Leute zuerst einen Umzug durch das Dorf vornahmen und dann im Kruge zum Schmaus zusammentrafen.
   Derartige »Biere« gab es bei sehr vielen Gelegenheiten, z.B. der Ernte und der Beendigung des Dreschens; auf den Fehnen (Kanaldörfern) meistens nach Schluß der Torfgewinnung, die den Bauern Geld ins Haus gebracht hatte, die Knechte und Mägde aber von der sauersten Arbeit ihres Daseins auf Monate hinaus erlöste.
   Sie wollten nun nach harter Plage einmal bei Spiel und Tanz das Leben genießen. Alle Knechte des Dorfes hatten sich im Wirtshaus versammelt; Blumen und Bänder nickten von den Hüten, Spielleute gingen voran, der jüngste Bursche trug einen ungeheuren, ganz leeren Sack auf der Schulter und schon vor dem nächsten Bauernhause hielt der lustige Zug.
   Als die lustige Schar den Rundgang durch das Dorf beendet hatte, wurde der gefüllte Schnappsack in das hellerleuchtete Wirtshaus getragen und dort die eingeheimsten Schätze überzählt. Auf dem Tanzplatz, der großen Lehmdiele, versammelten sich die Mägde, eine gewaltige Tafel wurde gedeckt und der Schmaus konnte beginnen.
   Mettwurst, gebratene Kartoffeln und Warmbier bildeten die ganze Herrlichkeit, aber der Frohsinn würzte das Mahl, als enthalte es die kostbarsten Gerichte. Im Hintergrunde flammte auf dem Backsteinherd das mächtige Torffeuer, ganze Haufen von Eierschalen lagen umher und zeigten, wieviel Bier vertilgt wurde; lustig fiedelten und bliesen die Dorfmusikanten, denen immer etliche von den erbeuteten Talern in die Hände fielen, hin und her mit großen Krügen eilte Jakob Brahms, der geschäftige Wirt, dem es gelungen war, das Knechtsbier gerade auf diesen Tag zu verlegen.
   Er selbst zeigte die größte Freigebigkeit. Das Bier und die Kartoffeln wurden ihm bezahlt, aber den Branntwein schenkte er umsonst – sogar die beiden französischen Zollwächter, welche im Hause ihr Quartier hatten, wurden ganz unmerklich in das Fest mit hineingezogen und erhielten besonders reichliche Mengen Branntwein, während denen, die draußen auf dem Deiche Posten standen, ihr Anteil hinausgebracht wurde.
   »Sie sind ja auch Menschen«, sagte in gutmütigem Tone der Wirt, »was können die armen Jungen dafür, daß uns ihr Kaiser mit Krieg überzieht?«
   »Nichts!« rief der Altknecht, indem er eine ungeheure Wurst auf die Gabel spießte. »Gar nichts! – da, Jakob Brahms, bringt den Franzosen auch einen Bissen!«
   Der Wirt übermittelte das stattliche Geschenk den Empfängern und dann, als die Tafel aufgehoben war, ließ er den Tanz beginnen. Je mehr die allgemeine Fröhlichkeit überging in den Rausch, das tolle Treiben, desto leichteres Spiel hatte er selbst.
   Einer der beiden Franzosen, ein junger hübscher Pariser, war artig genug, die wohlgerundete Frau Wirtin zum Tanze zu führen, das sicherte ihm die Gunst der ganzen Gesellschaft. Er sprudelte über vor lauter guter Laune, konnte tanzen wie nie ein Knecht von Neßmersiel gewalzt und Polka getanzt hatte, er sprach das Deutsch so urkomisch, daß sich die jungen Leute vor Lachen ausschütten wollten. Monsieur Guillaume – »Gilm« nannten ihn die übrigen – war der Held des Abends.
   Ganz anders verhielt sich‘s mit seinem Genossen. Während der Pariser den Genever beinahe wie Wasser trank und am lautesten schwatzte und lachte, saß Bertrand, der andere Zollwächter, in einer Ecke und stützte den Kopf. Er hatte noch das erste Glas unberührt neben sich stehen, und als ihn Jakob Brahms aufforderte, doch an der allgemeinen Fröhlichkeit teilzunehmen, da wandte er sich ab.
   »Ich mag nicht tanzen, Herr Wirt. Nix Vergnügen!«
   »Aber warum denn nicht, Lothringer? Sie sind doch ein halber Deutscher, gehören ebensoviel zu uns wie zu den Franzosen, daher lassen Sie sich‘s wohl sein; trinken Sie und lachen mit den anderen.«
   Bertrand schüttelte den Kopf. »Ab gehabt großen Kummer«, seufzte er.
   Jakob Brahms setzte sich zu ihm. »Erzähle mir das, mein Junge«, flüsterte er vertraulich, »heraus damit! Hast du Schulden?«
   Eine fahle Blässe überzog die Wangen des jungen Menschen. »Aben ich keine Schulden«, antwortete er, »nix ich, aber alte Mutter, das bringt mir Kummer. Mag ich nicht sehen tanzen und trinken!«
   Jakob Brahms schien zu überlegen, in seinen Augen begann ein heimliches Funkeln und Glänzen.
   »Lothringer«, flüsterte er, »schreibt dir deine Mutter, daß sie sich in Not befinde? Bittet sie dich um Geld?«
   »Sie wohl wissen, ich nix haben! – Ach Gott, ach Gott, alles umsonst. Lassen ich anwerben mich pour la douane, geben alte Mutter Geld – aber sterben Vieh, große Mißernte haben in Weinstock, – nun alte Frau gepfändet werden, hinaus, fort, ganz arm. Pauvre femme!«
   Jakob Brahms rückte immer näher. »Trinke doch erst einmal, mein Junge! Der Branntwein wird nicht schlechter, weil deine Frau Mutter in Ungelegenheiten gekommen ist. Wie hoch beläuft sich die Summe, mein Lieber?«
   Bertrand seufzte wieder. »Sind große Geld, Monsieur. Fünfzig Taler!«
   »Hm, das ist allerdings eine hübsche Summe. Höre einmal, Bertrand, mein guter Freund, was würdest du sagen, wenn dir jemand noch in dieser selben Stunde die fünfzig Taler bar und blank auf den Tisch zählen wollte?«
   Der arme Junge schüttelte den Kopf, in seinem Auge glänzte es feucht. »Aben nicht so gute Freund«, seufzte er.
   »Das weißt du noch nicht, Lothringer!«
   Der Franzose mußte jetzt die Bedeutsamkeit in dem Tone des Wirtes doch wohl bemerken, etwas verlegen sah er ihn an. »Plait-il, monsieur?«
   »Ich meine, was würdest du wohl dafür tun, wenn dir jemand das Geld gäbe, Bertrand?«
   »Ach Gott, ich sein ihm dankbar ewig!«
   Die heiße Hand des Wirtes legte sich auf seine Schulter. »Läßt du mit dir reden, Lothringer? – Das Geld ist gegen eine bestimmte Dienstleistung für dich bereit, hörst du wohl, es ist bereit! Jetzt gleich, in diesem Augenblick!«
   Der junge Zollwächter horchte auf. »Große Geld!« flüsterte er. »Nix möglich! Was das sein, Monsieur Brahms?«
   »Das ist wenig genug, Bertrand, aber doch für mich sehr viel. In drei Stunden habt ihr beide draußen auf dem Deiche den Dienst, du und der Pariser, nicht wahr?«
   »Ja, Monsieur.«
   »Gut Sieh dir deinen Kameraden an, Lothringer, er taumelt schon jetzt; in drei Stunden schläft er wie ein Murmeltier und du hast die Wache allein.«
   »Diable m‘emporte! Monsieur Brahms wollen – wollen —« »Schmuggeln!« zischte der Wirt, indem er den anderen unausgesetzt im Auge behielt. »Ja, ich will schmuggeln, Bertrand, aber vorher gebe ich das Geld, welches deiner alten Mutter Haus und Hof erhalten soll. Du siehst zehn Minuten lang zufällig gerade nicht nach derjenigen Seite, von woher ein paar Lastwagen gefahren kommen – ist das so schwer?«
   Der junge Mensch nickte traurig. »Sein Betrug«, seufzte er. »Nix möglich, Monsieur!«
   Der Wirt legte sein Gesicht in die ernsthaftesten Falten. »Betrug?« wiederholte er. »Was du dir einbildest, mein guter Junge! Zuerst bist du der Sohn deiner schutzlosen alten Mutter, das ist für dich die nächste heiligste Pflicht, später kommt dann der Untertan des Kaisers, das wirst du ja nicht bestreiten wollen. Übrigens – ganz unter uns! – wer ist denn dieser sogenannte Kaiser? Puh! ein Advokatensohn, ein Emporkömmling, gar nichts!«
   »Einerlei, Monsieur, ich aben gegeben mein Versprechen und das muß halten ein ehrlich Mann notwendig.«
   Jakob Brahms nickte sehr kräftig. »Notwendig!« wiederholte er. »Bedingungslos, mein lieber Junge – denke also bitte darüber nach, wie oft du wohl deiner alten Mutter geschworen hast, ihr zu helfen, wo immer es dir möglich sei!«
   Der Franzose schien betroffen. »Das ist wahr«, stammelte er.
   »Siehst du wohl! Also nimm jetzt das Geld und du hast ein gutes Werk vollbracht. Was kümmert dich der Korse?«
   Bertrand fuhr mit der Rechten durch das dichte Haar. »Sein ich unglücklich«, stammelte er.
   Jakob Brahms hatte ihn keinen Augenblick außer acht gelassen; er erkannte seinen Vorteil und schmiedete das Eisen, weil es eben glühte.
   »Wie du willst, Lothringer«, sagte er. »Laß deine Mutter im Stiche, ich kann es nicht ändern. Vielleicht habe ich auch alles nur zum Scherz gesagt.«
   Der Zollwächter erschrak. »Monsieur Brahms«, seufzte er, »das gewiß sein, nur zehn Minuten auf die Seite sehen? Nix sprechen, nix helfen Schmuggler, keine déclaration abgeben?«
   »Durchaus nichts. Wenn du die Pferdeköpfe siehst, wendest du dich ab, das ist alles.«
   »Und Monsieur geben Geld vorher?«
   »Auf der Stelle! Aber so trinke doch, Freund!«
   Der junge Mensch nahm den Inhalt des Glases auf einen Zug. »Eh bien!« antwortete er. »Ich so tun.«
   Jakob Brahms schenkte ihm aufs neue ein. »Sieh deinen Genossen, Lothringer, er sitzt in der Ecke und singt; du hast die Wache allein. Es ist jetzt für mich die allerhöchste Zeit, ich muß fort – komm mit in mein Zimmer.«
   Er ging hinaus und der Zollwächter folgte ihm. Oben in der Giebelkammer stand die bäuerliche buntbemalte Holzkiste, diese wurde geöffnet und ein leinener wohlgefüllter Geldbeutel hervorgezogen.
   Auf dem Tisch brannte das Talglicht, die Fenster standen weit offen. Jakob Brahms zählte. »Fünfundvierzig, achtundvierzig, fünfzig! – So, da hast du noch einen Taler mehr, mein Junge, das Postgeld will ja auch bezahlt sein. Nimm hin und Gott gesegne es deiner alten Mutter.«
   »Danke! Danke!« flüsterte mit heißem Gesicht der junge Franzose. »Aber Monsieur wissen doch, was Präfekt bekannt gemacht hat? Erschießen die Schmuggler – fangen heute, exécution morgen.«
   Ein tieferer Atemzug hob die Brust des Wirtes. »Ja, ich weiß es, Lothringer! Aber das kann mich nicht schrecken – die Sache ist schon zwanzigmal, hundertmal gelungen, sie wird auch heute nicht fehlschlagen.«
   Noch während er sprach, fuhr ein Windstrom in das offene Fenster, verlöschte das Licht und streifte wie eine kalte Hand seine Stirn – er schauderte unwillkürlich, bezwang sich aber sogleich.
   »Laß mich vorausgehen, Bertrand. So, dahin – und nun: Ein Mann, ein Wort! nicht wahr, du?«
   »Gewiß! Gewiß!«
   Sie gingen zur Gesellschaft zurück, der Wirt verständigte sich mit seiner Frau und eilte dann, nachdem er die Kleider gewechselt hatte, hinab zum Meer, wo an einer dunkeln Stelle eines jener schlanken langgestreckten Fahrzeuge lag, die mit ihren weißen Segeln wie Möwen über das Wasser dahinschießen.
   Vom Sitzbrett erhob sich eine Männergestalt. »Endlich!« sagte tief atmend eine leise Stimme. »Wir werden kaum noch hinüberkommen.«
   Es war Uve Mensinga; er setzte schleunigst mit Hilfe des Wirtes das Segel, nahm die Schot selbst in die Hand, und während jener steuerte, brachte er das Boot vor den Wind. Binnen Sekunden war es in der Finsternis verschwunden.
   Auf Baltrum, im Hause des Wattfuhrmannes, harrten die Schmuggler. Damals besaß das Inseldorf, in dem noch heute keinerlei Fremdenverkehr besteht, von den gegenwärtig vierzig Häusern etwa fünfzehn; nur Fischer und Fuhrleute lebten auf dem einsamen Eilande, das seiner Bedeutungslosigkeit wegen der französischen Einquartierung entgangen war.
   Andreas Fokke, der Wirt, hatte, als die größeren Schmuggelzüge begannen, so nach und nach seinen ursprünglich kleinen Wagenschuppen durch Anbauten erweitert und mehr Pferde, mehr Lastfuhrwerke zusammengekauft. Die Zollbehörden zu überlisten, das brachte größeren Gewinn als alle Arbeit miteinander.
   Jetzt war auf acht große Wagen, in Kisten und Säcke verpackt, der Rest aus den beiden englischen Kaffeeschiffen verladen, schützende Decken lagen darüber, die Pferde standen gesattelt und man erwartete nur noch den Wattführer aus Neßmersiel, sowie den Eintritt der vollständigen Ebbe, um die letzte derartige Fahrt zu beginnen.
   Das kürzlich erlassene grausame und tyrannische Gesetz der Franzosen machte es den Familienvätern unmöglich, sich weiteren Schmuggelunternehmungen anzuschließen – nur diese, schon auf Baltrum gelagerten Güter sollten noch auf das Festland hinübergeschafft werden, dann hatte das lustige Paschergewerbe sein Ende erreicht.
   Andreas Fokke, Klaus Visser, Lars Meinders und Heye Wessel standen ungeduldig wartend beieinander, neben ihnen eine Anzahl englischer Seesoldaten, die den Zug nach Neßmersiel begleiten sollten. Jedes Gespann mußte seinen Kutscher haben, außerdem war es unerläßlich, daß die beiden Wattführer, Fokke und Brahms, vorausgingen, um in der Dunkelheit den richtigen Weg zu finden, denn nur sie allein kannten ihn.
   Die Ebbe begann jetzt einzutreten, das Geschrei der Strandvögel kennzeichnete den Augenblick, wo ihr Tisch gedeckt wurde – wenn nun das Boot aus Neßmersiel nicht kam, dann galt dies Ausbleiben als ein verabredetes Zeichen; die Zollbeamten waren in diesem Falle unbestechlich gewesen.
   Der Kapitän seufzte. »Das wäre sehr ärgerlich!« sagte er.
   Niemand antwortete ihm. Die Stunde ängstlichen Harrens, das ungewisse Auf und Ab zwischen wachsender Furcht und erbleichender Hoffnung lassen keine ruhige Unterhaltung, ja nicht einmal einen beobachtenden Gedanken aufkommen; das Herz schlägt und die Stirn glüht; man horcht, späht, hört Geräusche, die nur in der Einbildung existieren, aber man bleibt stumm.
   Leichte Schritte näherten sich dem Hause, Andreas Fokke riß die Tür auf und wollte den Befehl zum Einspannen schon geben, als er plötzlich die Arme sinken ließ. »Du bist es, Onnen? – Was willst du denn hier, Junge?«
   Der Kapitän fuhr auf. »Wie kamst du hierher, Onnen? Habe ich dir nicht ausdrücklich verboten, das Haus in dieser Nacht zu verlassen?«
   Der Knabe senkte den Kopf. »Bitte, lieber Vater, verzeihe mir. Ich konnte nicht ruhig in meinem sicheren Bette liegen, während der Tod nach dir die Hände ausstreckt. Laß mich mitgehen und an deiner Seite bleiben!«
   »Nein! Tausendmal nein! Du sollst mit dem nächsten —«
   »Nun, da seid ihr beisammen!« rief es von der Tür her. »Alles sicher, nirgend die verfluchten französischen Galgengesichter zu entdecken! Vorwärts, Kameraden! Mylords, ich grüße euch und habe auch mein bestes Faß nicht geschont, um euch einen Tropfen mitzubringen! Very well, Sir! All right!«
   Und nachdem er in dieser Weise den Söhnen Albions seinen ganzen Vorrat englischer Worte ausgekramt hatte, reichte Jakob Brahms die wohlgefüllte Geneverflasche von einem zum anderen; Fokke und Lars Meinders zogen die Pferde hervor, reges Leben herrschte überall, und in diesem Treiben gelang es dem Kapitän nicht mehr, mit Erfolg den Bitten seines Sohnes zu widerstehen.
   »So bleib denn!« sagte er. »Dieser Zug ist der letzte, darum mag dir der Ungehorsam hingehen.«
   Ein Wagen nach dem andern wurde hinausgeschoben. Das Wetter hätte nicht günstiger gedacht werden können, und so schien es, als wolle das launenhafte Glück die Fahrt über das Watt ganz besonders begünstigen. Eine stattliche Anzahl von Pfunden lag auf den Wagen und versprach, da der unerhörte, den Wert übersteigende Zoll von zwei Frank für das Pfund erhoben wurde, einen reichlichen klingenden Gewinn. Zwei englische Kriegsschiffe bewachten das offene Fahrwasser, wobei ein Kanonenschuß von der Batterie eines derselben als Signal eines etwaigen Überfalles verabredet worden war. Solange alles ruhig blieb, befanden sich keine französischen Kanonenboote in der Nähe.
   Sie glaubten es wenigstens.
   Jakob Brahms und Andreas Fokke eröffneten den Zug, dann folgten die acht beladenen Wagen, deren Führer neben den Pferden gingen, und zuletzt mehrere Engländer. Sämtliche Männer rauchten kurze Pfeifen, Brahms erzählte, in welcher Weise er die Zollwächter unschädlich gemacht, und so bildete sich nach und nach in den Seelen aller jene ruhige Stimmung, die gerade infolge durchlittener Aufregungen so unendlich wohltuend wirkt – nur als einer der englischen Soldaten ein Lied anstimmen wollte, da hielt ihn der Kapitän zurück.
   »Man muß das Schicksal nicht herausfordern, mein Junge. Der Löffel bricht zwischen Hand und Mund.«
   »Still! Still!« rief Uve Mensinga. »Wer spricht gern von dem Schlage, welcher ihn im nächsten Augenblick treffen kann!«
   »Ja, ja, es ist ein eigen Ding zu wissen, daß man die Todesstrafe verwirkt hat!«
   Die englischen Soldaten lachten. Sie hatten bei Trafalgar mitgefochten und sehnten sich sehr, einmal ihre Kräfte mit denen der Franzosen zu messen, sei es selbst auf festem Boden, wie hier.
   »Laßt sie kommen!« rief einer. »Meine Klinge ist durstig genug!«
   »Still! Still! Man soll den Teufel nicht an die Wand malen.«
   Hinter den Schmugglern erloschen die Lichter von Baltrum, während die des festen Landes noch nicht auftauchen wollten. Der Zug befand sich etwa in der Mitte des Watts, als ein Hund, den Andreas Fokke mitgenommen hatte, eine große gelbe Dogge, plötzlich stehenblieb und leise zu knurren begann.
   Wie auf Verabredung wurden bei sämtlichen Wagen die Pferde angehalten. Blasse Gesichter sahen einander an, es lief auch den Mutigsten kalt durch alle Adern.
   Der Hund zog die Luft ein, er knurrte leise, machte aber keine Miene, sich irgendeinem nahenden Feinde entgegenzuwerfen.
   »Pikaß!« flüsterte Fokke. »Komm, Pikaß, was hast du?«
   Der Hund nahm von ihm keine Notiz, er behielt offenbar einen fernen Gegenstand fortwährend fest im Auge.
   Der Kapitän zog das Nachtglas hervor; er suchte längere Zeit und reichte dann dem neben ihm stehenden Heye Wessel das Instrument. »Wahrhaftig, mir ist es, als sähe ich da drüben einen unförmlichen Klumpen, einen dunklen Gegenstand«, flüsterte er. »Sieh hin, Wessel, was mag es nur sein?«
   Der Angeredete nahm hastig das Glas. »Ich kann nichts entdecken«, antwortete er dann. »Und nun schweigt auch der Hund.«
   »Laßt uns getrost vorwärtsgehen – es mag sich ja ein Seehund hierher verirrt haben oder es kommt jemand über das Watt, um nach Baltrum zu gehen. Vielleicht der alte Fischkäufer aus Dornumersiel.«
   »Der wurde allerdings heute abend erwartet!«
   »Seht ihr wohl! – Hallo, Hidde Emken, bist du da?«
   »Laßt das Rufen«, warnte der Kapitän, »du weißt nicht, wer dich hört!«
   »Ja, und es kann auch Hidde Emken ganz unmöglich sein, denn mein Hund kennt ihn genau!«
   »Such, Pikaß! such!«
   Das Tier blieb ruhig, es hatte längst aufgehört zu knurren. Andreas Fokke wandte sich zum Weitermarsch. »Es ist nichts«, entschied er. »Aber du bist heute abend gar nicht derselbe, Klaus Visser! Wie kommt das? Hast du irgendeinen Verdacht, Mann?«
   »Durchaus nicht. Ich finde nur, daß man jedes Geräusch vermeiden müßte.«
   »Vorwärts! Vorwärts!« rief Jakob Brahms. »Sollen wir am Ende gar den hellen Morgen über uns hereinbrechen lassen?«
   Diese Ermahnung half. Der ganze Zug setzte sich wieder in Bewegung. Pikaß trabte neben seinem Herrn, ohne unruhig zu erscheinen – so rasch es der widerstandslose Boden erlaubte, bewegten sich die schweren Wagen vorwärts, und von sämtlichen Teilnehmern der kleinen Unternehmung war nur der Kapitän nicht ganz zu seiner früheren Sicherheit zurückgekehrt. Jeden Augenblick sah er durch das Nachtfernrohr.
   »Es ist eine Sünde gegen deine Mutter, Onnen, daß ich dir überhaupt gestattete, uns zu begleiten! Was gäbe ich nicht willig hin, um diese Torheit zurückkaufen zu können.«
   »Fürchtest du denn einen Verrat, Vater?«
   Der Kapitän zuckte die Achseln. »Ich erwarte ihn nicht gerade, aber – ein dunkler Gegenstand, weder Watt noch Wolke, war‘s doch, den ich da hinten sah.«
   Der Knabe erschrak. »Dann kehre um, Vater, ich bitte dich, kehre um! Auch die beiden anderen werden dir folgen und zuerst ihr Leben retten wollen!«
   Ehe der Kapitän zu antworten vermochte, schoß Pikaß plötzlich den Männern voraus ins Dunkel und begann heftig zu bellen. Ein leichter Schrei wurde ausgestoßen, es klang wie »Sapristi!« – dann war wieder alles still.
   »Franzosen!« raunte der Kapitän. »Ich dachte es!«
   Onnen umklammerte seinen Arm. »Vater, ich flehe dich an, geh nach Baltrum zurück! Um Gotteswillen, tue es, tue es!«
   Klaus Visser schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht mehr, Kind. Sollte ich meine Kameraden zur Stunde der Gefahr im Stiche lassen? – Aber vielleicht war es eine Sünde, um des Mammons willen deine arme Mutter so sehr zu kränken!«
   Während dieser eiligen, leise geflüsterten Unterhaltung schwieg der Hund wie zuvor, auch Menschenstimmen erklangen nicht weiter, wohl aber zog sich eine Kette dunkler Gestalten quer über den Weg und das, was vorhin als ein formloses Etwas erschienen war, trat jetzt in größerer Nähe scharf hervor – ein französisches Kanonenboot, das erst die nächste Hochflut wieder flott machen würde.
   »Zurück!« flüsterte Heye Wessel. »Wir müssen die Waren samt Wagen und Pferden im Stiche lassen, um nur das nackte Leben zu retten!«
   Die übrigen stimmten bei, hinter dem letzten Wagen ordneten sich die Schmuggler und begannen einer nach dem andern rückwärts zu schleichen, aber schon sehr bald mußten sie eine schreckliche Entdeckung machen. Auch von Baltrum her nahte eine Abteilung Franzosen – sie waren vollständig eingeschlossen.
   Rechts und links das Meer, hinter und vor ihnen der Feind! Während mehrerer banger Minuten herrschte ein peinliches Schweigen.
   Dann erhob Heye Wessel die Stimme zum lauten hallenden Schrei. »Ich muß es, Kinder, nun ist‘s ja auch einerlei! – So, so, nun laßt uns die Pferde besteigen und nach einer Seite hin durchbrechen – etwas anderes bleibt nicht mehr übrig.«
   Und nochmals tönte sein Kampfruf weit hinaus. »Halloh ho, ho! – Halloh!«, dann hatte er die Stränge des ersten besten Pferdes durchschnitten und sich hinaufgeschwungen; die anderen folgten seinem Beispiel.
   »So! Vorwärts mit Gott; reitet die Hunde nieder!«
   »Nach Neßmersiel! Dort gibt es bessere Verstecke!«
   »Pikaß! Pikaß! Hierher!«
   Die Dogge winselte wie im Sterben. Ein Messerstich mochte sie getroffen haben – der Ton klang matt, versagend.
   »Verfluchter Mörder!« rief Andreas Fokke, »du sollst die Untat büßen!«
   Sämtliche Pferde bildeten mit ihren Reitern eine breite gerade Linie; der Kapitän und Onnen ritten nebeneinander, ihnen zur Seite die englischen Matrosen, deren Gewehre geladen in den Händen ihrer Eigentümer lagen. Ein Zungenschlag, dann setzten sich die Tiere in Galopp.
   Aber nur für Sekunden. Das Manöver der Schmuggler war beobachtet worden, die Hähne der französischen Gewehre knackten und ein Hagel von Bleikugeln prasselte den Flüchtigen entgegen.
   Die Wirkung war eine entsetzliche. Zwei Tiere stürzten, ins Herz getroffen, mit gellendem Aufschrei tot zusammen, einer der englischen Soldaten hatte einen Schuß in die Schulter erhalten, der Kapitän war am Fuß verwundet und Lars Meinders am Arm – wild erschreckt machten die Pferde kehrt, um in regelloser Flucht davonzustürzen.
   Hinter der Linie von einer neuen Salve empfangen, stürmten sie bald hierhin, bald dorthin, überall vom Pulverblitz, dem Donner der Musketen verscheucht, dann bis an die Wassergrenze vordringend, dann zurückspringend auf die Mitte des Weges, verwundet, blutend, rasend vor Schmerz.
   Im Todeskampfe schleppte sich Pikaß herbei, noch einmal suchte sein Auge das des geliebten Herrn, noch einmal winselte er traurig und streckte dann die Glieder, während Andreas Fokke neben ihm mit zwei Franzosen rang und sich gleichzeitig der beiden erwehrte.
   »Da hast du es, Henkersknecht! Stirb, Räuber!«
   Ein schwerer Schlag mit dem Kolben zerschmetterte den Schädel des Franzosen, dann packte der erbitterte kräftige Mann den zweiten und schleuderte ihn weit hinaus in den feuchten Sand.
   Der Soldat blieb liegen wie ein Toter.
   Auf der ganzen Linie rang Mann gegen Mann. Heye Wessel hielt eine den Franzosen abgenommene Muskete am Lauf und ließ sie wie ein Rad durch die Luft kreisen; dabei schrie er aus voller Kehle, so schmetternd, so durchdringend wie ein indianischer Häuptling, wenn er dem Feinde gegenübersteht.
   Kein Franzose wagte es, sich dem Riesen zu nähern. Breitspurig stand er da; sein: »Halloh, ho, hoho!« zerriß die Luft, seine Augen funkelten, gleich einem Panther sprang er jetzt zu einer Gruppe, die in geringer Entfernung von ihm kämpfte.
   »Was machst du da, welscher Schuft?«
   Auf dem Boden lag Jakob Brahms und neben ihm, mit ihm ringend, kniete ein Franzose, in dessen Händen ein blankes Messer beständig die Brust des Wattführers arg bedrohte. Der Soldat suchte seine zusammengeschnürte Kehle aus den Eisenfäusten des derben Fehnbauern freizumachen, dieser dagegen wollte den Angreifer erdrosseln, um dann das Messer beiseite schleudern zu können.
   Sie wälzten sich beide im Sande, bis Heye Wessel hinzukam.
   »Los, du Satansbrut!«
   Aber der Franzose hörte ihn nicht. Halb gewürgt, halb besinnungslos vor Schmerz und Mangel an Luft, raffte er seine letzten Kräfte zusammen, um sich zu retten. Die Todesangst verlieh ihm übermenschliche Stärke; blutend, röchelnd erhob er in einem günstigen Augenblick den rechten Arm und bohrte das Messer gerade in das Herz des Wattführers.
   Sekundenlang griffen im Sterben die Finger des unglücklichen Mannes noch fester in das Fleisch des Mörders, dann aber erlahmten sie und ließen nach. Der Franzose riß mit einem einzigen Stoß den Arm des besiegten Gegners herab – eben wollte er sich taumelnd, blutüberströmt erheben, als ihn eine geballte Faust mit unwiderstehlicher Kraft abermals in den Sand streckte.
   Heye Wessel lachte grimmig. »Du glaubst dich frei, nicht wahr, Schuft? Da hast du sechs unversorgten Kindern den Vater geraubt – das sollte so hingehen, nicht wahr?«
   Und bei dem jedesmaligen Versuche, sich zu erheben, erhielt der Soldat von den Händen des Riesen einen Stoß, der ihn wieder zurückwarf. Heye Wessel, zum äußersten Zorn gereizt durch den Tod seines Freundes, Heye Wessel, der Riese, schleuderte jetzt das Gewehr von sich. »Komm her, Franzose, ich will dich zu Tode tanzen, will Ball mit dir spielen, du Kujon, du Räuberhauptmann – da hast du es!«
   Er packte den viel kleineren Gegner und warf ihn in die Luft, zweimal, dreimal, dann stieß er einen Schrei hervor, der halb wie Lachen klang, halb wie das Schluchzen der Verzweiflung.
   »So, der hat genug! Armer Jakob Brahms – es ist alles, alles verloren!«
   Und so war es in Wirklichkeit. Wie Ameisen krochen die Franzosen auf und neben den Lastwagen herum, sie fingen die flüchtigen Pferde ein, sie hatten den verwundeten Lars Meinders davongeschleppt und zwei Engländer zu Gefangenen gemacht.
   Fünf oder sechs andere kämpften heldenmütig mit einer überlegenen Zahl von Gegnern, ebenso Andreas Fokke und Uve Mensinga, die beide treulich den furchtlosen Briten zur Seite blieben. Heye Wessel sprang hinzu. »Macht mir Platz, Kameraden! Wo ist Klaus Visser mit seinem Jungen?«
   »Da hinaus!« schrie Uve Mensinga, auf das Meer deutend. »Sein Pferd ging durch!«
   Heye Wessel raffte ein Gewehr vom Boden und schlug blind und toll in die Reihen der Franzosen hinein. In diesen wuchtigen Hieben, in jeder seiner Bewegungen spiegelte sich das zornige Ringen des geknechteten Inselvolkes, der heiße glühende Haß gegen die französischen Unterdrücker. Hageldicht fielen die Streiche, aber wo ein Franzose fiel, da erstanden an seinem Platze sechs andere – die Sache der Schmuggler war von Anfang her zu ihrem Nachteil entschieden gewesen.
   »Halloh!« rief Heye Wessel, »wer ist denn das da?«
   Seine Faust packte einen todbleichen Mann, dessen schlotternde Knie keinen Fluchtversuch zuließen. »Aha, du bist‘s, Peter Witt! – Judas! Freust dich des gelungenen Werkes, nicht wahr?«
   Der Verräter schauderte. »Laß mich, was tat ich dir, Heye Wessel? Jeder von uns hat seine Meinung für sich!«
   Der Riese schüttelte ihn wie ein gebrochenes Rohr. »Wo ist Lars Meinders, du Elender? Wo ist Jakob Brahms? – Gute Friesen und tüchtige Männer sind gefallen um eines Verräters willen, andere werden morgen von den Schanzwällen herab erschossen – das alles ist dein Werk! Sei verflucht, Peter Witt, sei verflucht, so lange du über die Erde gehst, der Tod speit dich aus, du sollst leben, um zu leiden!«
   Er schleuderte ihn von sich und versuchte es dann, den Baltrumer Wattführer aus den Händen der Franzosen zu befreien. Uve Mensinga war verschwunden; er hatte eins der flüchtigen Pferde ergriffen und den Weg zur Insel einen Augenblick offen gefunden. Andreas Fokke schlug um sich wie ein Verzweifelter, aber nach kurzem Widerstande war auch er überwältigt. Mehr als zwanzig Franzosen fielen ihm und dem Riesen in den Rücken; sie wurden beide gebunden an Bord der »Hortense« gebracht.
   Ein frohlockender Blick traf Heye Wessels Gesicht. »Gedenkst du noch der Kisten mit Sand, dreister Schmuggler? Damals triumphiertest du, heute ist die Reihe an mir!«
   Der Leutnant drehte vergnügt das Bärtchen. Ja, ja, die Scharte war ausgewetzt.
   Und der Kapitän?
   Sein Fuß blutete stark, er war vor Schmerz außerstande, das Pferd gehörig zu lenken, es stürzte blindlings in die Finsternis hinein, verfolgt von mehreren Schüssen, und taumelte dann, als eine Kugel getroffen hatte, zusammenbrechend gegen den Rand eines größeren Tümpels, wo es liegenblieb und schweratmend verendete.
   Klaus Visser versuchte sich zu erheben, aber er fand bald, daß es ihm unmöglich sei. Der Fuß war jedenfalls gebrochen, ein entsetzlicher Schmerz folterte den eisernen Mann, er konnte sich nicht von der Stelle bewegen.
   Und dennoch wurde der Gedanke an sein eigenes Schicksal ganz in den Hintergrund gedrängt durch den an seinen Sohn. Wo war Onnen?
   Allein im Kampfe, vielleicht getötet, vielleicht gefangen, um demnächst erschossen zu werden. Der unglückliche Vater ächzte.
   Er durfte nicht rufen, kein Geräusch verursachen. Ganz abgesehen von dem eigenen Verderben konnte er durch jedes Wort, jeden Laut auch das des Knaben herbeiführen.
   Sein Herz schlug heftig; unter den brennenden Schmerzen der Wunde kreuzten sich in dem erregten Gehirn die widerstreitendsten Gedanken. War es recht, so den Gesetzen zu trotzen, nicht etwa aus Armut, gedrängt und getrieben von der bitteren Not des Lebens, sondern mit geheimer Freude an dem Verbotenen? War es recht, so alles aufs Spiel zu setzen – gewaltsam, rücksichtslos, nur aus Eigensinn?
   Aber die Reue kam zu spät. Wenn vier oder fünf Stunden vergingen, dann rauschte die Flut heran und hohe Wogen wälzten sich über die Stelle, wo er lag. Dann war alles vorbei, die Franzosen um ihren Gefangenen betrogen.
   Wie der Kampf tobte, wie Schrei um Schrei herüberklang. Das war Heye Wessel, aber in dem Tone, den er hervorstieß, lag kein Siegesjubel. »Ach, Onnen, Onnen, wo bist du? – Vergebe mir Gott die Todsünde, daß ich ihn mitgehen ließ!«
   Er tauchte die Hand in das Wasser und goß es über den brennenden Fuß. Wie furchtbar der Schmerz, wie unerträglich!
   Wenn er sich einmal, ein einziges Mal umwandte, wenn er nur für Sekunden seine Kräfte zusammenraffte, dann hatte ihn die tiefe Gate verschlungen und der Kampf war vorüber, er lag weich gebettet da unten im Wasser. Sollte er‘s tun?
   Durch sein Inneres ging schwere Erschütterung. »Nein! Sünde häufen auf Sünde, noch dem Willen Gottes widerstreben im letzten Augenblick? – Nein!«
   Er lag regungslos. Was da kam, das würde ihn vorbereitet finden.
   Über den weißen Sand fiel ein Schatten, spähende Gestalten schlichen herbei, Franzosen, die das Pferd im Todeskampfe ächzen hörten und dem Schalle nachgingen. Jetzt sahen sie den Leichnam, aber wo war der Reiter?
   Und dann hatte einer der Soldaten den Daliegenden entdeckt, ein erstickter Jubelruf brach über seine Lippen. Der Führer des Schmugglerschiffes – welch ein Fang!
   Klaus Visser war außerstande, sich selbst zu helfen, er fühlte, wie Hitze und Kälte in seinen Adern wechselten – von fern drang das Toben des Kampfes bis zu ihm; er stieß einen Schrei aus, einen einzigen qualerpreßten Schrei, und dann verlor er das Bewußtsein.
   Die Franzosen hoben ihn schleunigst auf und trugen ihn als ersten Gefangenen an Bord ihres Schiffes.
   Einer hatte den Schrei gehört, ein einziger – Onnen. Die Stimme seines Vaters war zu ihm gedrungen, ein eisiges Erschrecken lief durch alle seine Adern. Er stürzte blindlings fort, unbekümmert um die Franzosen, welche ihn sahen, um die Kugeln, welche ihm nachgeschickt wurden, aber er beherrschte sich doch genügend, um den Ruf des Vaters wenigstens nicht zu beantworten.
   Der Weg über das Watt war schmal, es konnte nicht schwer werden, hier einen Menschen, selbst einen verwundeten, aufzufinden. Onnen eilte vorwärts, das Kampfgetümmel blieb hinter ihm, er ließ sich nicht die Zeit, irgend etwas zu beobachten, sondern stürmte nur weiter, dem einmal gehörten Schalle nach – dann blieb er plötzlich erschreckend stehen. Nahe am Rande der Gate lag das tote Pferd – was war hier geschehen?
   Raubvögel flogen auf, als er kam, kreischend und flügelschlagend, das Wasser glitzerte hell – von dem Kapitän war nichts zu entdecken.
   »Vater!« rief halblaut, mit erstickter Stimme der Knabe. »Vater, wo bist du?«
   Alles blieb still.
   »Vater, um Gottes willen, gib Antwort!«
   Nichts! – So sehr er auch horchte und spähte. Nichts!
   Ein schauerlicher Gedanke hatte sich seiner Seele bemächtigt. Sollte der Kapitän, durch den jähen Sturz des Pferdes weitab in den Sand geschleudert, der Gate zu nahe gekommen sein? Sollte er da unten im Wasser liegen?
   Onnen warf sich im selben Augenblick, als die Frage entstand, platt auf den Boden und streckte den rechten Arm bis über die Schulter in das Wasser, dann, als er nichts entdeckte, kroch er vorsichtig um den Rand der Vertiefung herum und untersuchte überall den Schlick des Grundes, der für seine Fingerspitzen gerade eben erreichbar blieb.
   Während dieser eifrigen Nachforschung überhörte er es, daß sich zwei Männer der Stelle, wo das tote Tier lag, von verschiedenen Seiten näherten, beide vorsichtig schleichend, der letztere offenbar den ersteren beobachtend. Onnen kehrte ihnen den Rücken zu, er dachte im Augenblick nur an seinen rätselhaft verschwundenen Vater und ließ dabei die nötige Vorsicht ganz außer acht. Erst als der vorderste der beiden Männer das Pferd erreicht hatte, blickte er auf.
   Vor ihm stand der Unteroffizier Durand von dem Kanonenboot »Hortense«.
   Onnen erschrak heftig, der Franzose aber schien von förmlichem Entsetzen ergriffen. »Diable«, rief er, »schon wieder der Knabe!«
   Und zurücktaumelnd riß er die Signalpfeife aus der Brusttasche, um Menschen herbeizurufen, um nicht länger allein zu bleiben mit dem, den er für ein Gespenst hielt.
   Kräftige Arme verhinderten, ihn rückwärts zu Boden werfend, dies Vorhaben; die Pfeife flog weit hinaus auf das Watt, ein Knebel schloß den Mund des Franzosen, ehe er Zeit behielt, sich zu verteidigen.
   Dann noch Hände und Füße mit Schlingen umwunden, und der überraschte Soldat konnte nur ächzen, aber keinerlei Fluchtversuch unternehmen.
   Als Onnen den Kopf erhob, sah er das Gesicht seines unerwarteten Befreiers. »Uve Mensinga«, rief er aufstehend in schmerzlichem Tone, »wo ist mein Vater?«
   »Ich weiß es nicht, Junge! Was machst du hier? Aber einerlei; komm schnell, ich habe ein Pferd, wir müssen eilen, um zur rechten Zeit nach Neßmersiel zu kommen.«
   »Ohne meinen Vater? – Das kann ich nicht!«
   »Natürlich, Onnen, natürlich. Vielleicht ist er längst drüben in Sicherheit.«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Mensinga. Nein, nein, der Vater wäre nicht geflohen ohne mich!«
   Der Wattführer zuckte die Achseln. »Ich weiß davon nichts, aber mir deucht, hier lassen darf ich dich nicht. Nach einer Stunde kommt die Flut.«
   Onnen weinte. »Aber wenn nun mein armer Vater verwundet, bewußtlos hier läge – wenn er einsam und verlassen von den Wellen begraben würde?«
   Der Wattführer seufzte. »Wahrhaftig, Junge, du quälst mich!« rief er aus. »Wenn jemand für Klaus Visser durch Feuer und Wasser gehen würde, so bin ich es, aber hier ist nichts zu machen – wir müssen eilen, um selbst mit heiler Haut davonzukommen. Nebenbei können auch jeden Augenblick die Franzosen hier sein.«
   Der Knabe trocknete seine immer wieder hervorquellenden Tränen und weigerte sich nicht länger, dem erprobten Freunde zu folgen. Aber vorher deutete er noch auf den wehrlos daliegenden Franzosen.
   »Was machen wir mit ihm, Mensinga?«
   »Wir überlassen ihn seinem Schicksal, das ist einfach genug.«
   »Aber die Flut?« flüsterte Onnen. »Wollen wir ihm nicht wenigstens den Knebel aus dem Munde nehmen?«
   »Damit er uns seine Spießgesellen auf den Hals zieht? – Denke an all den Jammer, den uns die Franzosen verursachen, und laß dir den Patron nicht leid tun.«
   Er zog den Knaben ohne weitere Worte mit sich fort und zu dem Pferde, das er an einen Birkenstamm gebunden hatte. Sie bestiegen es beide, die Zeit drängte – eilig, mit lautlosen Schritten lief das Tier über den lockeren Boden.
   Der gefesselte Unteroffizier blieb allein. Eine verzehrende Angst durchflutete alle seine Adern, ließ ihm die Augen fast aus den Höhlen treten – wenn das Wasser kam, so war es um ihn geschehen.
   Er versuchte sich zu erheben und fiel wieder zurück, er wollte das Tuch aus dem Munde ziehen und konnte es nicht erreichen. All sein Blut schien Feuer, seine Glieder zitterten.
   Sollte denn niemand hierherkommen? niemand?
   Man mußte ihn doch vermissen, mußte suchen? – Wie langsam krochen die Minuten, wie unerträglich war dies Warten und Horchen.
   Er dachte an das blasse Gesicht des Knaben, den er beinahe mutwillig in den Tod gehetzt. Als Franzose, als Zollbeamter war er nirgends gern gesehen, mußte sich zurückweisen lassen, wo er eine Annäherung versuchte, mußte sich von den Männern bedrohen und von den Frauen verabscheuen lassen, mußte im ewigen Einerlei des strengen Dienstes Jahr um Jahr an den öden Küsten der Nordseeinsel ausharren, das hatte ihn erbittert und gereizt, er wurde grausam, anstatt nur einfach seine Pflicht zu erfüllen, er peinigte und quälte die Fischer, wo es ihm möglich war.
   Dann kam der Abend, an welchem ein kleines Boot über das Watt fuhr, eine Nußschale, in der ein halberwachsener Knabe saß. Er rief es an, er wollte auf brutale Weise den Gebieter spielen, und als der arme Junge nicht gleich antwortete, da ließ er das Fahrzeug in den Grund bohren. Ein leerer Raum zeigte sich, als er hinübersah, seinen Blicken, ein weißes Totenantlitz. Der Wind spielte mit blondem Haar – es war ein stilles, friedliches Bild.
   Und dann kam der Tag, wo die Wellen den Leichnam an den Strand warfen, der Tag, wo ganz Norderney mit der beraubten Mutter weinte. Was die kahlen Dünen an spärlichem Blumenschmuck besaßen, das wurde auf den Hügel des Erschossenen gelegt – jedes Herz rief zum Himmel um Rache gegen die Unterdrücker, jedes verabscheute den Grausamen, der die Hand gegen ein wehrloses Kind erheben konnte. Er vergaß das alles nie wieder. Die Szene im sinkenden Boote verfolgte ihn bei Tag und Nacht – heute noch, vor wenigen Minuten war sie ihm abermals erschienen. Er schauderte. Die Boten des Todes klopften an, nun wußte er es.
   Von fern her tönte ein Rauschen. Das war das Meer, es kam, um die altgewohnte Stätte zu überfluten, es mußte in kurzer Zeit hier sein.
   Der Gefesselte riß und zerrte an seinen Schlingen. Nur die Arme frei, nur die Arme, dann war ja alles gut.
   Aber Uve Mensingas Ledergurt hielt fest, er zerschnitt das Fleisch des Franzosen, ohne sich lockern zu lassen – es war unmöglich, diese Schlingen abzustreifen.
   Möwen und Kampfhähne erhoben sich in die Luft – der Boden unter ihren Füßen wurde unsicher. Ein Hornsignal tönte aus weiter Ferne und ließ das Blut des Franzosen schneller durch die Adern kreisen. Das verabredete Zeichen vom Bord der »Hortense!« Sie rief die ihrigen zu sich, ehe das Watt vom Meere überströmt wurde.
   Nochmals und zum drittenmal, immer dringender.
   Durand horchte. Nun waren alle auf Deck versammelt, der Bootsmann verlas die Namen – er glaubte den seinigen zu hören. »Unteroffizier Durand!« —
   Und nun schrieb der Schiffsführer in das Journal: »Vermißt!« – vermißt auf dem Watt, dem trügerischen Boden, der festes Land zu sein scheint und doch dem Wellenreiche angehört. Sie schüttelten alle die Köpfe, seine Kameraden, sie sagten halblaut: »Der kommt niemals wieder zu den Lebendigen zurück!«
   Glühende Hitze durchströmte ihn. So jung, so ganz gesund, ohne Schmerz oder Fehl – und doch binnen kurzem tot, verloren, verloren – wie schrecklich!
   Er hatte so sehr die Vorgänge auf dem Kanonenboote im Geiste beobachtet, daß ihm die Wirklichkeit zum Teil entrückt wurde. Das Rauschen des Meeres war näher und näher gekommen – jetzt lief die erste Welle, weißschäumend und langgestreckt, über seinen Körper dahin, ihn wie mit einem Strom von Eis berührend. Er schnellte auf, unfähig zu schreien oder sich zu erheben, er ächzte in schrecklicher Qual. Keine Rettung unter dem weiten Himmel, keine.
   Die Welle lief ab und wieder auf, er kannte den Vorgang, er hatte ihn aus Langeweile hundertmal beobachtet – sie würde noch oft, oft wiederkehren, ehe die Stelle erobert war – einmal aber blieb sie im Besitz – und dann?
   Und dann?
   Er sank in sich zusammen, er gab alles auf. Eine Art von Taumel bemächtigte sich seines Gehirnes, nur ein einziger Gedanke, fast ein Gebet, schwebte ihm vor: »Schneller! – Schneller!« Und Gott erbarmte sich des Unglücklichen. Eine rauschende Woge kam daher, höher als alle vorigen; auch sie sank noch einmal zurück, aber als sich der Schaum verlaufen hatte, da war die Stelle, wo der Franzose gelegen, leer.
   Tief unten auf dem Grunde der Gate umfingen ihn die Wasser mit feuchten Armen, das unruhig schlagende Herz stand still, das Hämmern hinter der heißen Stirn hätte aufgehört für immer.
   Allmählich begann die Nacht der Morgendämmerung zu weichen. Es legte sich wie ein weißer Schimmer über das Watt, erste rosige Sonnenblitze tauchten in den Nebel und verdrängten ihn immer mehr und mehr.
   Uve Mensinga zügelte das Pferd und beide Reiter saßen ab.
   »Wir müssen uns hier trennen, mein Junge; kämen wir vereint nach Neßmersiel, so könnte das Aufsehen erregen. Geh voran, Onnen!«
   Der Knabe bot ihm seufzend die Hand. »Ich danke Euch, Mensinga! – O lieber Gott, was soll ich meiner armen Mutter sagen, wenn sie mich fragt, weshalb ich allein komme?«
   Der Wattführer drückte ihm traurig die Rechte. »Ich spreche heute noch vor, Kind – hüte dich, irgendwie den Verdacht der Franzosen zu erregen. Du weißt von nichts, warst in Norden, um Verwandte zu besuchen, vergiß das nicht. Adjes!«
   Und dann ging er seitab, um den Deich an einer anderen Stelle zu überschreiten.
   Onnen blieb allein; jetzt mußte er sich zusammennehmen, mußte ein ruhiges Gesicht zeigen, obwohl ihm das Herz zum Zerspringen klopfte. Gemäßigten Schrittes näherte er sich der Treppe.
   Ein junger Zollbeamter sah ihm entgegen, ebenso blaß wie er selbst, er redete ihn an, sobald Onnen den Kamm des Deiches erreicht hatte.
   »Kommst du von Baltrum, mon ami?«
   »Ja«, antwortete der Knabe.
   »Ah, c‘est bien! Aben du gesehen monsieur Brahms? Er ist gehen gestern hinüber und nicht kommen retour!«
   Onnen sah ihn an, kaum fähig zu sprechen. »Sind Sie Herr Bertrand?« fragte er.
   »Oui! Oui!«
   »Nun, dann kann ich‘s Ihnen sagen. Jakob Brahms ist tot!«
   »Ciel! – Er sind ertrunken?«
   »Nein, Herr Bertrand. Er ist im Kampfe mit Ihren Landsleuten erstochen worden. Es ist für uns alles verloren!« Und Onnen ging weiter, so schnell er konnte. Er mußte Gewißheit erlangen über das Schicksal seines Vaters; die Unruhe tötete ihn fast.
   Der Franzose stand und sah ihm nach. Im Wirtshause waren die Töne der Musik längst verstummt; ein ödes Grau lag zwischen den Häusern.
   Tot, tot der Mann, dessen Hand noch vor wenigen Stunden so lebenswarm die seinige gedrückt, dessen Stimme so schmeichelnd zu überreden wußte. Tot – wie gräßlich!
   Scheuen Blickes sah der junge Mensch nach allen Seiten. Er hatte das gesetzwidrige Unternehmen begünstigt, er hatte für ein strafbares Schweigen Geld erhalten.
   Eine schnelle Bewegung brachte die Hand in die Tasche. Im Morgenlicht blitzte es auf, dann plätscherte unten das Meer, als sei ein schwerer Gegenstand hineingefallen – nochmals und nochmals. Der Franzose atmete tief!
   »Soll nicht aben alte Mutter das Sündengeld. Non, non, pardonnez-nous nos offenses! – Ach, arme monsieur Brahms, gute Mann, gute Vater – nun tot!«
   Und erschüttert im innersten Herzen nahm der junge Mann die Wanderung wieder auf. Diese Nacht hatte ihm mit ihren Ereignissen eine furchtbar ernste Lehre gegeben.
   Onnen eilte unterdessen vorwärts, so schnell er konnte. Ein Bauernwagen, der von Neßmersiel nach Norddeich fuhr, nahm ihn bis dahin mit, dann ging er in einer der anwesenden Schaluppen hinüber nach Norderney.
   Wie schlug ihm das Herz, wie schwer wurde es, nirgends zu fragen, sich durch keine Miene zu verraten. Er fühlte, daß seine Kräfte zur Neige gingen.
   Der Weg von der Landungsstelle bis zum elterlichen Hause war nicht weit, er legte ihn in Sprüngen zurück und öffnete die Tür, um mit einem einzigen Blick die Sachlage zu beurteilen.
   Seine alte Mutter und Folke Eils sahen ihm fragend entgegen, der Raum war leer, beide Frauen hatten geweint – sie wußten offenbar von dem Hausherrn so wenig wie er selbst. Ihn schwindelte, bunte Farben erfüllten die Luft, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben, brach er in tiefer Ohnmacht auf der Schwelle der elterlichen Wohnung wie leblos zusammen. Die böse Botschaft hat Flügel, sie durchmißt in eilendem Laufe die größten Entfernungen, sie dringt hinter die verschlossenen Türen und findet Wege, wo immer es sei.
   Das Kanonenboot lag an seiner gewohnten Stelle, auf dem Verdeck gingen die Ereignisse ihren alltäglichen Gang und nichts Besonderes wäre zu bemerken gewesen; aber dennoch wußte binnen wenigen Stunden die ganze Bevölkerung der Insel, was während der verwichenen Nacht auf dem Watt zwischen Baltrum und Neßmersiel geschehen war.
   Unten im Raume des Kanonenbootes lagen gefesselt an Händen und Füßen die Gefangenen des heißen Kampfes, Klaus Visser, Heye Wessel, Lars Meinders und Andreas Fokke, neben ihnen zwei englische Marinesoldaten mit einem Unteroffizier – jedermann auf Norderney wußte es und jeder kannte den Verräter, dessen niederträchtige Treulosigkeit die Schmuggler ihren Feinden in die Hände lieferte.
   Peter Witt sah aus, als habe er bereits im Grabe gelegen. Er schien nur zagend das Kanonenboot zu verlassen, er bebte heimlich, wenn ihm auf dem Wege in das Dorf irgendein Mensch begegnete.
   Einen Augenblick hatte er daran gedacht, abzureisen, aber war dann nicht alle seine Mühe umsonst? Jetzt mußten sich die Franzosen seiner Ansicht nach dankbar beweisen, mußten ihn mit Ehren und Auszeichnungen überschütten. Wenn das die Norderneyer nicht mit ansahen, ihn nicht im Herzen auf das äußerste beneideten, welch einen Wert hatte dann noch die Sache?
   Nein, bleiben wollte er doch um jeden Preis. Gleich nach dem Ereignis war ein Kanonenboot hinübergegangen nach Norddeich und hatte von dort aus einen reitenden Boten nach Emden geschickt. Der Präfekt Jeannesson mußte gegen Abend eintreffen – dann gewannen für ihn die Dinge ein anderes Ansehen.
   Er konnte sich nicht entschließen, sein Haus aufzusuchen, sondern bog rechts ab und wanderte ziellos an den im Bau fast vollendeten Schanzen vorüber bis zur verfallenen Hütte der alten Aheltje. Vielleicht würde ihm die Hexe den Schleier der verhüllten Zukunft ein wenig lüften, ihm sagen, welche Ehren und Freuden seiner warteten.
   Sonderbar – er hatte monatelang mit allen Kräften, allen Mitteln danach gestrebt, die Schmuggler zu entlarven, und jetzt, da es geschehen war, schlug ihm das Herz bis in die Kehle hinauf. Er glaubte immer, es stehe jemand hinter ihm – er fühlte sich mehr als nur unbehaglich.
   Und dann öffneten sich seine Augen vor Erstaunen so weit als möglich. Über Nacht war die Hütte der Alten wie vom Boden verschwunden; ein paar Trümmer lagen umher, Splitter und Fetzen, das war alles.
   »Aheltje!« rief er stillstehend, »Aheltje, wo bist du?«
   Niemand antwortete ihm, aber er hörte aus den Dünen eine schwache zitternde Stimme, eine bekannte Melodie, deren Klänge ihn vom Kopf bis zu den Füßen eisig durchschauerten.
   »Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.«
   Leise schlich er näher. Im tiefen Tal einer Düne, unter dem Schatten dichter Erlen saß Aheltje und sang. Das graue Haar hing wirr um den Kopf, eine breite Wunde klaffte an der Stinte, die Handgelenke zeigten schwarze Flecke. Im Schoß hielt die arme Alte ihren Liebling, den grauen Murr, aber tot – ein schrecklicher Anblick, da ihm der Kopf fehlte.
   Die bebenden Lippen sangen das Lutherlied voll gläubiger Zuversicht, die Hände, blutend und verkrümmt, streichelten das graue Fell des toten Tieres. Allein in dem großartigen Schweigen der Dünenwelt, ganz allein mit ihrem bitteren Weh, predigte sich die Alte von jener Gerechtigkeit, die nie erlahmt, jener Vatergüte, auf die kein Lebender vergeblich baut. Sie sang ihr wildschlagendes Herz zur Ruhe – jeder Ton trug eisiges Erschrecken in die Seele des Verräters.
   Er glitt hinab in das Tal und stand dicht vor ihr. »Aheltje!« sagte er mit unsicherer, heiserer Stimme.
   Langsam hob die Alte den Kopf, ein blasses entstelltes Gesicht sah ihn an, die blutende Hand deutete auf den Ausgang der Schlucht.
   »Hinaus!« sagte sie ruhig. »Die Welt ist groß, auch ohne diese Düne; laß sie mir, Kain, geh fort, ehe ich dich verfluche.«
   Er zuckte die Achseln, vergeblich bemüht, sich den Sinn ihrer Rede zu leugnen. »Was habe ich dir getan, Aheltje? Wo – wo ist dein Haus?«
   Sie wiegte den Kopf gleich einer Irrsinnigen. »Frage den Wind, Verräter, frage die Franzosen, deine Freunde. Sie sind zu mir gekommen und verlangten das Rezept des Saftes, der Zauberkräfte gibt, sie haben meine Hütte in Trümmer geschlagen und mich mißhandelt. Sieh da das Blut, die Wunden – nimm‘s auf dein Gewissen, Peter Witt! und mög‘s dich brennen, bis du Buße tust vor Gott.«
   Sie erhob sich mühsam von ihrem Sitz, sie trat, das tote Tier hoch emporhebend, dem erschreckten Mann näher. »Was gilt mir mein verlorenes Haus, du Unseliger, was gelten mir die Säbelhiebe der Franzosen, wenn ich diesen toten Körper ansehe? Weißt du, was mir die Katze war, Peter Witt? – Was glücklichen Menschen ihre Kinder und Geschwister, ihre Verwandten und geliebten Wesen sind! Das letzte lebende Geschöpf, an dem meine Seele hing, das letzte, welches mich liebte! – Du hast mir‘s geraubt!«
   Er ging immer Schritt um Schritt rückwärts, die Hände streckte er vor und die Blicke hielt er fest auf das Gesicht der Alten geheftet.
   »Sei doch nicht gleich so böse, Aheltje, ich habe dir die Franzosen nicht auf den Hals geschickt, und was deine Katze betrifft, lieber Gott, so schenke ich dir dafür zehn andere!«
   Die alte Frau schluchzte. »Zehn andere!« wiederholte sie. »Ach, Peter Witt, du reicher müßiger Mann, du, der du über viele Tausende gebietest – meinen armen Murr kannst du mir nicht wiedergeben. Ich hab‘ ihn neugeboren am Strande gefunden und hab‘ ihn aufgezogen wie ein Kind – womit wolltest du mir seine Liebe ersetzen? Geh, geh, Unglücksmensch, und lasse dich nie wieder hier an dieser Stelle sehen, bis ich tot bin, erlöst!«
   Sie weinte bitterlich, ihr graues Haar flatterte im Wind, ihre Hände bebten. »Fort!« rief sie. »Fort! Was willst du von mir, Peter Witt?«
   »Aheltje«, schmeichelte er, »liebe beste Aheltje, du sollst mir die Karten legen! Wenn gute Nachrichten darin stehen, lasse ich dir auch dein Haus wieder aufbauen!«
   Die »Hexe« schauderte. »Auch meine Karten«, murmelte sie, »auch meine Karten, nun erst fällt mir‘s ein. Die Kinder hatten damit gespielt, meine Knaben, ich liebte die alten Blätter so innig! – Alles dahin, alles zerstört, es sollten ja Zauberkräfte darin verborgen sein!«
   Peter Witt erschrak. »Du hast keine Karten mehr, Aheltje? – Ich will andere holen, ich komme rasch zurück.«
   Aber sie schüttelte den Kopf. »Ich mag nichts mit dir zu schaffen haben, Kain, nichts, nichts. Geh, laß mich in Ruhe mein armes Tier verscharren.«
   Sie begann, ohne die Gegenwart des Verräters weiter zu beachten, den losen Sand mit ihren Händen aufzugraben. Ob er bat und flehte, ob er Geld anbot, oder Drohungen hervorstieß, sie schenkte ihm keinen Blick, bis er endlich davonging, böse und unruhig, das Herz voll schlimmer Ahnungen.
   Nicht nach Hause – ihm graute davor.
   Und so schlich er umher, ziellos, zwecklos, bald bis zur Reede, dann an den Herrenstrand, hinauf zum schwarzen Kap. Zur Ewigkeit dehnte sich der Tag; erst gegen Abend kam das ausgeschickte Kanonenboot zurück und brachte den Präfekten nach Norderney – jetzt wurde Peter Witt ruhiger.
   Ob wohl ein neuer Orden für ihn schon in Bereitschaft lag?
   Sicherlich erhielt er doch noch heute abend eine Einladung zu Seiner Exzellenz, Herrn Jeannesson – ja, und da mußte er schleunigst an einen andern Anzug denken.
   Schnelle Schritte brachten ihn nach Hause, wo sein Sohn vor der Tür saß und einen Schwarm gleichaltriger Knaben um sich versammelt hatte. Sobald er kam, traten alle zur Seite, stumm, ohne Gruß, ohne ein einziges Zeichen des Hasses oder der Teilnahme, nur sein eigener Knabe griff nachlässig an die Mütze.
   »Jetzt sitzen die Schmuggler in der Falle«, sagte er hämisch. »Onnen Visser liegt sterbenskrank – sie haben schon aus Norden für ihn einen Doktor verschrieben.«
   Sein Vater erschrak. »Ich verbiete dir, mit irgendeinem Menschen Streit anzufangen, hörst du, Adam! Komm her und bürste meine Stiefel.«
   Der Junge reckte sich. »Das kann Frau Olters tun«, brummte er. »Wohin willst du denn schon wieder, Vater?«
   »Komm her und bürste meine Stiefel!«
   »Ich mag nicht!« gähnte der hoffnungsvolle Sohn, darauf versenkte er beide Hände in die Taschen und schlenderte davon, unbekümmert um den Vater, der ihm noch einige Male vergeblich nachrief und dann, da Frau Olters, die Wirtschafterin, nicht zu Hause war, notgedrungen seinen eigenen Kammerdiener spielte.
   Er wurde aus dieser emsigen Beschäftigung sehr unangenehm aufgeschreckt. Ein Stein flog durch die Scheiben und fiel dicht vor ihm auf den Fußboden – ein zweiter und dritter, ein ganzer Hagel von Wurfgeschossen folgte dem ersten.
   Peter Witt taumelte vor Schreck. Er sprang an das Fenster und suchte dann instinktmäßig Schutz hinter einer halbgeöffneten Tür. Auf der Straße stand Kopf an Kopf eine dichtgedrängte Menge, unaufhaltsam flogen Steine gegen das Haus, unaufhaltsam tönten Flüche und Verwünschungen. Ganz im Vordergrunde sah er Heye Wessels ältesten Sohn – ein Grauen ohnegleichen überfiel ihn, mit einem einzigen Satz war er durch die Küche und zur Hoftür hinaus.
   Der Präfekt sollte ihm helfen. Ein siedendes Donnerwetter mußte den Meuterern auf die Köpfe fallen. Atem schöpfend stand er still. Es klirrte und prasselte, es polterte, wie wenn Mauerwerk stürzt und Dachsparren brechen. Weiberstimmen riefen, Hunde bellten – die Justiz des erbitterten Volkes vollzog sich unaufhaltsam.
   Peter Witt lief, so schnell er konnte, bis zum Badehause. Dort wohnte für die nächsten Tage der Präfekt aus Emden und eben diesen wollte er zur Hilfe rufen.
   Sechs Mann Einquartierung für jedes Haus mußte es geben, Peitschenhiebe – Peter Witt bebte vor Wut. Wer ersetzte ihm sein Eigentum? Wer bezahlte den Schimpf?
   Er stürmte weiter, bis ihn ein Wachtposten anhielt. Es kostete außerordentliche Mühe, in das Zimmer des Präfekten einzudringen, vieles Bitten und Warten – Peter Witt fing an, seine persönliche Wichtigkeit für weniger bedeutend zu halten, er sah sich geradezu wie einen überlästigen Bittsteller empfangen.
   Der Präfekt sprach mit den Offizieren von der »Hortense«, auch Oberst Jouffrin war zugegen. Er sah den Verräter an. »Wer ist dieser Mann? Was will er?«
   Einer der Offiziere sprach einige französische Worte, worauf sich der Blick des Präfekten bemerklich verfinsterte. »Was wünschen Sie?« fragte er kalt. »Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen.«
   »Exzellenz«, stammelte der Verräter, »Exzellenz, ich bitte um Schutz. Man zerstört mein Haus, ich bin bedroht!«
   Der Präfekt Jeannesson, der, wenn auch Feind, doch ein ehrenwerter und menschenfreundlicher Mann war, zuckte die Achseln. »Das wundert mich eben nicht«, versetzte er. »Sie waren, wie ich höre, der, welcher die Schmuggler verriet?«
   Peter Witt drehte die Mütze zwischen den Fingern, er wurde bald blaß, bald rot. »Exzellenz«, stammelte er, »meine Verehrung für Seine Majestät, den Kaiser, meine – ich.«
   »Sie waren es, der die Schmuggler verriet?«
   »Ja, Exzellenz.«
   Der Präfekt wandte sich ab. »Dafür können Sie von Ihren Landsleuten, den Brüdern und Freunden derjenigen, welche jetzt auf der Schanze erschossen werden müssen, wahrlich keinen Dank erwarten«, sagte er.
   Der Verräter hatte eine Empfindung, als drehe sich unter seinen Füßen die Erde. »Exzellenz«, rief er, »dürfen denn die Leute mein Eigentum zerstören?«
   »Das kümmert mich nicht, es ist Sache der Polizeigewalt. Sie können jetzt gehen.« Das Tigergesicht des Obersten schob sich in den Vordergrund. »Exzellenz, man könnte einige fünfzig Mann hinschicken und die Rädelsführer verhaften lassen, nicht wahr?«
   In Monsieur de Jeannessons Augen blitzte es plötzlich auf. »Damit ein offenbarer Aufruhr entstände, mein Herr Oberst? Damit noch mehr Blut fließen müßte? – Ich habe nie gehört, daß im Kriege die Spione mit Schutzwachen versehen werden, und gedenke also auch hier keine derartige Neuerung einzuführen. Der Mann ist entlassen.«
   Ehe eine halbe Minute verging, sah sich Peter Witt draußen vor der Tür, ohne so recht zu wissen, wie er dahin gekommen war. Man hatte ihn geschoben und vorwärts befördert, bis er wieder unter Gottes freiem Himmel stand.
   War es denn möglich – ihn? Ihn selbst? Ja, und wo blieb der erhoffte Orden?
   Einfältiger war er sich noch nie vorgekommen als in diesem Augenblick. Aber eines wußte er gewiß, daß man sein Haus in Trümmer schlug; er hörte das Brechen und Krachen, das Jubeln der Menge. »Werft Feuer hinein!« rief eine Stimme.
   Das Wort lieh ihm Flügel, er lief spornstreichs zur Wohnung des Amtsvogtes und ließ sich nicht einmal erst Zeit genug, um anzuklopfen. Als er die Tür aufriß, saß gerade die Familie des Dorfbeherrschers beim Abendbrot – aller Augen sahen ihn an.
   »Guten Abend!« rief er hastig. »Vogt, du mußt gleich mit mir kommen, die verrückten Kerle ruinieren mein Haus.«
   Der Amtsvogt nahm bedächtig einen großen gebratenen Fisch von der Schüssel und zerlegte ihn auf seinem Teller in Stücke, dann begann er so ruhig seine Mahlzeit, als sei im Zimmer kein fremder Zeuge anwesend, ja er sprach sogar mit der Frau Vögtin. »Hast du noch einen Trank Nordener Bier im Keller, Mutter?«
   »Gleich, mein Alter!«
   Die geschäftige Frau ging mit einem Steinkruge und einem Bund Schlüssel an dem Verräter vorbei, als sei er leere Luft; Peter Witt fühlte, wie ihm das Blut heiß zu Kopf stieg, er zitterte.
   »Hörst du mich nicht, Vogt?«
   Keine Antwort. Auf den Gesichtern der Tischgenossen erschien ein heimliches Lächeln, etwas wie schadenfrohe Genugtuung; sie aßen fort, ohne den Verräter irgendeiner Beachtung zu würdigen.
   Peter Witt floh aus dem Zimmer, wie von Furien verfolgt.
   Rote Lohe schlug ihm entgegen – es war sein Haus, das da brannte. Er schrie laut auf, Furcht und Habsucht stritten in seiner Seele um die Oberhand. Sollte er hingehen und sich vielleicht von den erbitterten Fischern totschlagen lassen, oder sollte er müßig zusehen, wie man sein Eigentum vernichtete?
   Unwillkürlich gedachte er in diesem Augenblick der »Hexe«. Wie Aheltje verlassen und heimatlos unten auf dem Grunde der Schlucht saß, blutend, verzweifelnd, des letzten beraubt, so wurde er ohne Dach und Fach auf die Straße geworfen und niemand lebte, der ihm Beistand geleistet, ihm zu seinem Rechte verhelfen hätte.
   Noch stand er zögernd, überlegend, als sich die Tür des Amtsvogtes öffnete und der Würdenträger selbst heraustrat. Er ging mit schnellen Schritten dem Flammenscheine nach.
   Peter Wirt eilte an seine Seite. »Vogt«, sagte er, »du wirst doch die Mordbrenner zwingen, mir Schadenersatz zu leisten?«
   Der Amtsvogt blieb ihm auch diesmal die Antwort schuldig. Er ging über den ungepflasterten Weg, so schnell es der tiefe Sand erlaubte, ohne dem nebenher trabenden Verräter die mindeste Beachtung zu schenken.
   »Vogt, so sprich doch – Mensch, was habe ich dir getan?«
   Keine Silbe fiel von den Lippen des Gestrengen. Als ihn ein zufällig näherkommender Fischer anredete, war er freundlich wie immer, ja sogar gutgelaunt, wie es schien. »Was ist da unten los, Matthias?« sagte er. »Ein Feuerwerk?«
   Der Fischer bohrte förmlich die Blicke in das blasse Gesicht des Verräters. »Ja«, sagte er, »ein Feuerwerk. Schade, daß man den Lump, dem der Kasten gehörte, nicht gleich mit verbrennen kann!«
   »Sehr schade, da hast du recht.«
   Peter Witt gehörte nicht eben zu den mutigen Naturen, aber er empfand doch einen so starken Groll, daß es ihm unmöglich war, neben den beiden Männern des Weges zu gehen, er sprang daher auf die andere Straßenseite hinüber und kam im gleichen Augenblick mit ihnen bei der Brandstätte an.
   Das leichte, mit Stroh gedeckte Haus lag in Asche, nur ein etwas seitab stehender Schuppen war vom Feuer verschont geblieben; eine dichtgescharte Menge umgab die noch glimmenden Trümmer.
   Der Vogt hielt beide Hände in den Taschen. »Also Feuer«, sagte er. »Na, es hat ja weiter keinen Schaden angerichtet – ehrlicher Leute Hab und Gut ist nicht verloren gegangen. Ich denke, niemand von euch weiß, wie die Flammen entstanden sind?« Man lachte. »Natürlich nicht, Herr Amtsvogt!«
   »Das glaube ich. Nun gebt ihr aber hübsch acht, daß die Nebengebäude unbeschädigt bleiben, dafür mache ich euch verantwortlich.«
   »Verlaß dich darauf, Vogt!«
   Der Würdenträger wollte sich wieder entfernen, höchstwahrscheinlich um sich die zweite Hälfte seiner riesigen gebratenen Scholle zu Gemüt zu führen, dann aber wandte er plötzlich den Kopf, der lächelnde Ausdruck des Gesichtes verschwand, auch die Stimme klang sehr ernst.
   »Hört, Leute!«
   Eine allgemeine Stille folgte dem lauten Sprechen und Lachen, das eben noch die Menge beherrscht hatte, jeder einzelne horchte.
   Der Vogt hob warnend den Finger. »Wenn sich der Halunke, der Peter Witt hier zeigen sollte, so darf ihm persönlich kein Leid geschehen. Berührt ihn nicht, Leute, krümmt ihm kein Haar!«
   »Allstunds, Vogt. Wir verstehen dich vollkommen. Bis Klaus Visser und Heye Wessel, die besten Männer von Norderney, da oben auf der Schanze sterben, hat es Zeit.«
   Der Vogt nickte und ging dann seines Weges; Peter Witt fühlte, wie ihm die Zähne im Fieberfrost gegeneinander schlugen. Er wurde behandelt wie ein Abwesender, ein Toter, man übersah geflissentlich, daß er zugegen war.
   Der Halunke! hatte ihn der Vogt genannt, er knirschte heimlich; ein Gedanke, feige und falsch wie seine ganze Seele, gewann in ihm die Oberhand. Für Geld würden die Leute schon gefällig werden – der reiche Mann war er ja immer noch, auch wenn das Haus fehlte.
   An der anderen Seite wohnte ein Bäcker; er ging hinüber und warf mit hochfahrendem Wesen ein französisches Goldstück auf den Zahltisch. »Gib mir das Brot da, Nachbar!«
   Der Bäcker pfiff leise vor sich hin. Als sei er allein im Laden, nahm er einen Handbesen und fegte über den Tisch, wobei die Münze ihrem Eigentümer klirrend vor die Füße fiel, dann wandte er sich zu denen, die von draußen her Kopf an Kopf in die offene Tür hineinsahen, und sprach mit ihnen, als habe er den Fordernden gar nicht bemerkt.
   »Ich will Brot kaufen!«, rief dieser, jetzt völlig aus der Fassung gebracht.
   Die Leute plauderten fort; Hitze und Kälte wechselten unaufhörlich in den Adern des Verräters, er hatte ein Gefühl, als müsse er ersticken. Sobald er sich der Tür näherte, traten die Versammelten beiseite; man ließ ihn hindurchgehen ohne ein Wort, eine Bewegung, wie der Wind ungehindert passiert, wo immer er mag.
   Peter Witt erkannte jetzt, wie es um ihn stand. Er war geächtet.
   Ja, geächtet. Es würde ihm niemals möglich sein, die frühere Stellung unter den ehrlichen, aber derben Norderneyern wiederzugewinnen.
   Und doch beherrschte ihn, je länger, desto mehr, eine leidenschaftliche Sehnsucht, sich auszusprechen, von irgendeinem Menschen das Wort der Teilnahme, wenigstens überhaupt eine Antwort zu hören; er hatte schon den Verlust des Hauses ganz übersehen, er dachte nur mit Grauen an das Alleinsein, zu dem ihn die Leute zu verurteilen schienen, an die Notwendigkeit, fernerhin das Schicksal des Ausgestoßenen zu ertragen; eine wahre Todesangst kroch in sein feiges Herz.
   »Sie werden ja nicht alle so hartnäckig sein«, dachte er. »Ich muß es nur einmal an einer anderen Stelle versuchen.«
   Und er bog in eine Nebenstraße, er fragte eine Frau, ob sie seinen Sohn oder die alte Haushälterin nicht gesehen habe.
   Keine Antwort.
   Immer mehr wuchs die Bestürzung des Verräters. »Adam!« rief er, »Adam, wo steckst du, Junge?«
   Und dann begann er ziellos über die Insel zu schweifen. Ein Gedanke blitzte plötzlich auf in seiner Seele – die »Hexe« würde mit ihm sprechen; böse Worte vielleicht, aber doch etwas, doch Laute, die für ihn bestimmt waren. Dies Schweigen ertrug er nicht länger.
   Der Mond schien mit schwachem Licht vom Himmel herab; geräuschlos gleitend schlüpfte Peter Witt hinaus in die Dünen, von Kamm zu Kamm, von Schlucht zu Schlucht, spähend und horchend, mit immer heftiger jagenden Pulsen, mit kaltem Schweiß vor der Stirn.
   »Aheltje! Aheltje!«
   Niemand antwortete. Wollte auch die »Hexe«, die verachtete ausgestoßene Zauberin nichts von ihm wissen, oder war sie nicht zugegen?
   »Aheltje! Aheltje!«
   Es blieb alles stumm, er sah nichts, hörte nichts; nur der Wind strich kalt um seine glühende Stirn.
   An der ändern Seite erhoben sich die Segel und Masten der Hortense. Da, im Innern des französischen Schiffes, lagen gefesselt und zum Teil verwundet, des nahen Todes gewärtig vier Männer, deren keiner ihn jemals beleidigt oder beeinträchtigt hatte, vier Familienväter, die nun demnächst hingerichtet werden und ihre Frauen, ihre Kinder des Schutzes beraubt, vereinsamt und unglücklich zurücklassen mußten, verraten von dem, der ihr Landsmann war, ihr Berufsgenosse, der viele Jahre lang Seite an Seite mit ihnen gelebt und die Gefahren der See geteilt hatte.
   Und er murmelte vor sich hin, er sah mit trockenen brennenden Augen hinüber zu dem Schiffe, als spreche er mit den Gefangenen.
   »Ich wußte ja von dem Todesurteil nichts! – Ich dachte nur, daß der Kaffee weggenommen würde – die paar Pfund Bohnen! Ihr seid ja nicht arm.«
   Eine Möwenschar segelte über ihn hinweg; die schrillen Stimmen ließen ihn erschreckt zusammenfahren. Was riefen sie doch ? – »Zu spät! Zu spät!«
   Er sah noch einmal um sich. Er konnte es hier in der Einöde nicht länger aushalten; wie gejagt lief er hinab in das Dorf und zu der Stelle, wo bis jetzt sein Haus gestanden hatte. Das letzte Glimmen und Glühen war erloschen, die Straße leer; Peter Witt dachte zum erstenmal mit wirklicher Sorge an seinen Sohn. Wo hatte der Knabe ein Unterkommen gefunden?
   Da schimmerte ihm aus dem Schuppen ein Lichtstrahl entgegen; er kletterte hastig über die halbverkohlten Balken und sah in das einzige kleine Fenster hinein. Dies Gebäude war sein Eigentum, niemand durfte ihn hindern, es zu betreten.
   Drinnen saß auf einem Holzschemel die alte Frau Olters, während Adam neben ihr auf einem Haufen Stroh lag und, wie es schien, in sehr guter Stimmung eine Wurst verzehrte, die er zu größerer Bequemlichkeit an einem Ende gepackt hielt und ohne Beihilfe von Messer und Gabel mit den Zähnen zerriß.
   Leise öffnete der Verräter die eingeklinkte Tür; Frau Olters schrie laut auf vor Schreck. »Na, endlich kommt Ihr, Herr! Und wie seht Ihr aus! Ist Euch die Hexe begegnet?«
   Peter Witt ließ sich schwer auf das Stroh fallen; er schauderte. »Gebt mir etwas Warmes zu trinken, Frau. Ach, es ist so öde hier, so schrecklich!«
   »Heye Wessels Sohn hat den ersten Brand in das Haus geworfen, Vater!«
   »Schweig!« murmelte voll inneren Grauens der Verräter. »Ich will trinken!«
   Die alte Frau brachte ihm Kaffee, den er, von Fieberfrost geschüttelt, hastig verschluckte. »Olters«, sagte er dann, »hier kann man nicht wohnen. Geh sie aus und suche sie ein paar Stuben zu mieten, ich bezahle alles.« Aber die Wirtschafterin zuckte die Achseln. »Das nützt nichts, Herr, ich hab‘ es gleich versucht, als uns das erzürnte Volk aus dem Hause vertrieb, aber ganz umsonst. Niemand gibt euch Unterstand, auch nicht der ärmste Fischer, ich weiß es gewiß.«
   Peter Witt schwieg, er dachte an den Bäcker, welcher sein Goldstück vom Zahltisch gefegt hatte, an die stumme eilige Bewegung, womit das Volk vor ihm wie vor einem Pestkranken zurückwich. Er ließ die Unterlippe hängen und sah starr ins Leere.
   »Wie einer, den der Blödsinn gepackt hat!« dachte Frau Olters.


   5

   Einige Straßen weiter schimmerte hinter verhüllten Fenstern das Licht einer Lampe. In seinem Bett lag Onnen, die Augen waren weit offen, das Gesicht glühte, die Hände irrten unruhig auf der Bettdecke umher. Er flüsterte fortwährend.
   Neben ihm saß seine unglückliche Mutter, stumm, fast erliegend unter der Wucht des hereingebrochenen schweren Schlages. Sie dachte kaum ganz klar und nur, wenn sich ihr Sohn im Bette aufzurichten versuchte, schien sie für Augenblicke aus der gänzlichen Versunkenheit des Schmerzes zu erwachen. Ihre sanfte Stimme beruhigte das Fieber, ihre Hand legte nasse Tücher auf des Knaben Stirn, sie sprach ihm freundlich zu, wenn er durchaus aufstehen und davonlaufen wollte.
   »Hörst du denn nicht, Mutter? – Es ist des Vaters Stimme, er ruft mich! Ich muß zu ihm, aber wo mag er nur sein ? Die Gate habe ich überall durchsucht, sie war leer.«
   Frau Douwe schauderte. »Sei ruhig, mein Herzenskind, sei ruhig. Du mußt nicht sprechen, nicht grübeln – schlafe nur, das ist das beste für dich!«
   Onnen verstand kein Wort, er war im Geiste immer auf dem Watt und durchlebte die Schreckensszenen der letzten Nacht. »Uve Mensinga«, flüsterte er, »warum reitest du so schnell? Hu, wie das Pferd fliegt! Läuft uns das Wasser nach? Da ist es, ich sehe den weißen Schaum. Barmherziger Himmel, wo ist mein Vater? – Ich hörte seine Stimme, ich weiß es gewiß. Wo ist er?«
   Dann warf sich der arme Junge angstvoll von einer Seite zur andern. »Vater! Vater!«
   Frau Douwe wurde ohnmächtig; die alte Folke Eils hatte genug zu tun, um ihre beiden Schutzbefohlenen zugleich zu behüten, sie war froh, wenn hie und da eine befreundete Seele erschien, um an der Stätte des Jammers, selbst elend und unglücklich, doch ein Wort des Trostes, des Mitgefühls zu sprechen.
   Am frühen Vormittag war Uve Mensinga erschienen und von ihm hatte Frau Douwe erst erfahren, was auf dem Watt geschah. Sie brach nicht zusammen, die Unglückliche, sie mußte ja leben für ihren Sohn, aber man sah doch, wie sehr sie litt – gleich einem Lauffeuer verbreitete sich die schreckliche Nachricht durch das Dorf.
   Alle Nachbarn kamen und boten stumm oder mit den Worten eines herzlichen ehrlichen Beileids der armen Frau die Hand; auch Heye Wessels Kinder, ein Sohn, eine Tochter, mischten ihre Tränen mit denjenigen ihrer Freunde, die Mutter des von den Franzosen im Boote erschossenen Knaben kam sogar, um still und klagelos die alte Folke Eils in der Pflege der beiden Kranken zu unterstützen.
   Sie trug ein schwarzes Kleid und um den Kopf ein ebensolches Tuch; ihr volles dunkles Haar war seit jener Stunde, als man das tote Kind gefunden, eisgrau, ihr sanftes Gesicht blaß und schmal. Wie eine Klosterfrau, so ruhig und hilfreich, mit vergrämten Augen blickend; saß sie an Onnens Bett und legte wieder und wieder die nassen Tücher um seine fiebernde Stirn.
   Folke Eils wiegte den Kopf, sie seufzte tief. »Das gibt noch ein Unglück, Wieb‘, sollst es sehen – die Männer im Dorfe lassen sich‘s nicht so gutwillig gefallen. Überall drohen geballte Fäuste und finstere Mienen.«
   Die andere nickte. »Es sollen noch mehr Soldaten von Norden herüberkommen«, flüsterte sie. »In allen Häusern muß ihnen Quartier gegeben werden – natürlich, damit keine Unruhen ausbrechen.«
   »Nützt nichts, nützt nichts. Es geht ein Murmeln und Flüstern durchs Dorf – gib acht, Wieb‘, außer dem Blute der Gefangenen fließt noch anderes, noch viel mehr.«
   Wiebke Raß seufzte. »Des Lars Meinders junges Weib hat sich heute morgen mit ihrem Säugling in den Armen dem Präfekten zu Füßen geworfen«, erzählte sie, »aber vergeblich, obwohl der Herr von Jeannesson fast ebenso erschüttert gewesen ist wie sie selbst. Dem Gesetze muß Genüge geleistet werden.«
   »Schrecklich! Schrecklich! – Der gute Kapitän Visser, ein Mann mit einem Herzen, das warm für alle Armen und Elenden schlug, ein braver ehrenwerter Mann!«
   Und sie weinte bitterlich.
   Wiebke Raß dachte an das einsame Grab ihres Knaben, an die Blumen, welche darauf blühten, und an all die Teilnahme, mit der ganz Norderney seinem Sarge gefolgt war. Wieviel bitteren Jammer, wieviele heiße brennende Tränen hatten doch die Franzosen über das kleine Eiland und seine Bewohner gebracht! – Am späten Abend kam der Arzt aus Norden und erklärte den Zustand des Knaben für ungefährlich. Er hatte eine Medizin mitgebracht, meinte aber, sie brauche nicht erst zur Anwendung zu gelangen; dann sah er auch nach der, immer im halben Wachen daliegenden, schweratmenden Frau – hier schien die Sache bedenklicher.
   »Bringt sie ganz aus Norderney fort, wenn ihr könnt«, sagte er. »Es wird hier während der nächsten Tage schlimm genug hergehen, und besser wäre es, sie sähe davon nichts.«
   Dann verließ er sie und es wurde wieder still im kleinen Zimmer, bis gegen Mitternacht Frau Douwe aus ihrer Lethargie erwachte und sich vom Bette erhob. »Es ist nun überstanden«, sagte sie leise und mit Mühe die heraufquellenden Tränen bekämpfend, »ich hab‘ mich dem lieben Gott ergeben und will tragen, was er schickt. Ihr mußtet es ja auch, Wiebke Raß, als der Tod Euer Letztes forderte; ich bin nicht besser als andere.«
   Heißes Schluchzen klang durch das enge Gemach; zwischen den drei unglücklichen Frauen lag fiebernd und flüsternd der Knabe, während draußen auf der Reede und auf dem Wege zur Schanze ein buntes Treiben die Nacht zum Tage verwandelte.
   Zwei Kanonenboote hatten die Geschütze für das neuerbaute Festungsviereck von Norden herübergebracht und jetzt wurden dieselben aufgestellt. An Bord der beiden englischen Kriegsschiffe sollte eine verstärkte Tätigkeit herrschen – vielleicht plante man eine Befreiung der Gefangenen; es galt also, gerüstet zu sein. Lange Züge von französischen Soldaten begleiteten die Geschütze auf dem Wege zur Schanze; überall standen die Eingeborenen mit finsteren Mienen in Gruppen beieinander, überall sahen Blicke voll Haß den fremden Unterdrückern nach. Als der Morgen dämmerte, war das Werk vollendet und eine neue Prüfung brach über die unglücklichen Inselbewohner herein – jedes Haus mußte zwei Franzosen aufnehmen.
   Es konnte also nichts verabredet, nichts beschlossen oder unternommen werden, was nicht die Machthaber sogleich gesehen und gehört hätten; die Norderneyer waren tatsächlich in ihren eigenen Häusern zu Gefangenen gemacht.
   Draußen, im untersten Schiffsraum der »Hortense«, lagen unterdessen die verhafteten Schmuggler ohne Licht oder Pflege, ihren quälenden Gedanken überlassen. Am Morgen nach dem Kampfe waren mehrere Offiziere erschienen und hatten das erste Verhör eingeleitet; die Gefangenen mußten ein Protokoll unterzeichnen, dann wurde ihnen das Todesurteil ohne weitere Formalitäten vorgelesen und die Vollstreckung desselben auf den zweitnächsten Tag verkündigt. Bis der Präfekt des Emsdepartements aus Emden gekommen war, mußte die Sache einstweilen ruhen. Eintönig schlugen die Wellen gegen das Schiff und schaukelten es von einer Seite zur andern. Der Platz, welchen die »Hortense« bisher innegehabt, war jetzt gewechselt worden und das Fahrzeug mitten im seichten Wattmeer verankert, die Wachen an Deck verdreifacht. Vom Lande aus ließ sich nichts unternehmen, während die Kanonen der Schanze ein Vordringen englischer Langboote zur Unmöglichkeit machte.
   Hin und her schlichen die Spione der Franzosen und beobachteten unter Gott weiß welchen Verkleidungen und Masken alles, was vorging. Eins der beiden englischen Kriegsschiffe war in der Richtung nach Helgoland unter Segel gegangen – ohne Zweifel, um Verstärkung herbeizuholen. Die Franzosen hätten keine bessere Nachricht erhalten können.
   Man getraute sich nicht, die Gefangenen herauszuhauen, wohl aber war man bemüht, Zeit zu gewinnen. Ein Boot mit weißer Flagge nahte der Insel, ein englischer Offizier und zwei Soldaten erschienen als Parlamentäre, um mit dem Präfekten zu unterhandeln.
   Monsieur de Jeannesson empfing sie mit ruhiger Würde; so gern der menschenfreundliche Mann auch den Schmugglern in irgendeiner Weise das Leben gerettet hätte, so unmöglich war es ihm doch, dem klar ausgesprochenen Willen des Kaisers entgegen zu handeln; er mußte gehorchen, namentlich da auch an allen übrigen deutschen Küstenplätzen diese Hinrichtungen mit unerbittlicher Strenge vollzogen wurden; aber er wollte den Gefangenen die Qual der letzten Stunden so sehr wie möglich verkürzen, daher beschleunigte er die Ausführung des Todesurteils. Der englische Offizier bat um eine Frist, er ließ durchblicken, daß man geneigt sei, unter der Hand das Leben der gefangenen Matrosen teuer zu bezahlen, aber Monsieur de Jeannesson schien das hingeworfene Wort nicht verstanden zu haben, obwohl die Röte des Zornes seine Stirn plötzlich überflammte. Während der Franzosenwirtschaft waren zahllose Beamte und höhere Offiziere käuflich, er wußte es und schämte sich seiner Landsleute. »Ich bedaure, nicht dienen zu können«, antwortete er in ruhig abweisendem Tone.
   »Aber Eure Exzellenz werden wenigstens einige Wochen Frist bewilligen«, sagte, sich auf die Lippen beißend, der Offizier. »Unmöglich, mein Herr. Das Urteil wird morgen vollstreckt werden.« »Weshalb so schnell? Man untersucht doch jeden Rechtsfall, ehe man den Schuldigen zur Verantwortung zieht.«
   »Das ist hier überflüssig. Die Leute sind mit den Waffen in der Hand gefangengenommen worden, sie haben außerdem sämtlich gestanden und die geschmuggelten Waren samt acht Gespannen im Stiche lassen müssen. Ist das Beweis genug?«
   Der Offizier erbleichte. »Aber man sollte denn doch wenigstens den armen Leuten die Tröstungen der Religion nicht versagen«, rief er, als alle übrigen Einwände vergebens schienen.
   »Das wird auch auf keinen Fall geschehen, mein Herr. Der Ortsgeistliche mag die Gefangenen besuchen, so oft er will, und auch der Prediger Ihres Schiffes soll jederzeit Zutritt erhalten.«
   Der Engländer verbeugte sich kalt. Monsieur Jeannesson war ihm vollständig gewachsen, er hatte von Anfang her den Plan durchschaut und erkannt, daß es sich nur darum handelte, Zeit zu gewinnen und erst einmal die Verstärkung von Helgoland herbeikommen zu lassen, um dann womöglich gegen das französische Schiff einen Handstreich zu unternehmen. Als oberster Beamter des Kaisers durfte er das nicht zugeben.
   »Ich habe die Ehre, mich Eurer Exzellenz zu empfehlen«, sagte mit verbissenem Grimm der arg getäuschte Engländer.
   »Leben Sie wohl, mein Herr!«
   Draußen sahen die dichtgedrängten Gruppen der Insulaner sogleich, daß alle Versuche ihrer Bundesgenossen vergeblich geblieben waren. Die Gesandtschaft begab sich unter demselben französischen Geleite, das sie vom Landungsplatz bis zum alten Badehause gebracht hatte, wieder an Bord ihres Fahrzeuges zurück – jetzt konnte jede Hoffnung als erloschen betrachtet werden.
   Es war mittags zwölf Uhr, und am folgenden Morgen mit Sonnenaufgang sollten die Gefangenen den Tod erleiden.
   Monsieur de Jeannesson stand am Fenster und sah hinaus; seine Seele war voll Trauer und Aufregung.
   »Lauter fremde Gesichter«, dachte er, »Erscheinungen, die ich sonst niemals bemerkt habe. Ach, mein Gott, wenn Unruhen ausbrächen!«
   Er rief seinen Privatsekretär herbei, und dieser ließ einen der vielen immer im Dienst befindlichen Spione kommen. »Sind Schiffer von den anderen Inseln hier auf Norderney angelangt?« fragte etwas hastig der Präfekt.
   Die Antwort erschreckte ihn heftig. »Mehr als fünfhundert Männer, Exzellenz. Die von Juist, von Baltrum und Langerog sind geradezu sämtlich hier und von Borkum wenigstens die Hälfte.« »Bewaffnet?« fragte der Präfekt.
   »Das glaube ich kaum, aber in der ›grooten Leegte‹, jenem langgestreckten Dünental unten am anderen Ende der Insel, hat eine Versammlung stattgefunden.«
   »Heute? Waren die Norderneyer dabei?«
   »Beides, ja.«
   »Und Sie hörten, was gesprochen wurde?«
   »Leider nicht. Man hatte nach allen Seiten Wachen ausgestellt.« »Ah – also eine vollständige Organisation! – Ich lasse den Herrn Obersten bitten.«
   Der Gerufene kam herbei und nun fragte ihn Monsieur de Jeannesson, über wieviel Soldaten er gebiete.
   »Alles in allem etwa siebenhundert Mann, Exzellenz.«
   »Dann können wir es durchaus auf keinen Kampf ankommen lassen – ich will auch jedes unnötige Blutvergießen strengstens vermeiden. Herr Oberst, Sie haben die Güte, Ihre Leute in einer Stunde antreten zu lassen.«
   Der »Schinder« verbarg kaum seine innere Freude. »Exzellenz«, sagte er, »mir sind verschiedene Mitteilungen zu Ohren gekommen; ich weiß, wer außer den Gefangenen noch an der Schmuggelei —«
   Der Präfekt unterbrach ihn. »Das lassen Sie ruhen, Herr Oberst. Mein Gott, ist es denn des Unglücks noch nicht genug?«
   Oberst Jouffrin strich den Schnurrbart. »Ich habe meine Spione«, sagte er. »Es wurde in den Dünen eine Versammlung abgehalten – ich kenne den Rädelsführer. Er ist ein Mann, der auf dem Watt mit den übrigen kämpfte und dann glücklich entkam.«
   Der Präfekt schüttelte abwehrend die Hand. »Ich mag nichts von ihm wissen, Herr Oberst, nur Meutereien will ich verhindern. Die Soldaten müssen während der ganzen Nacht unter dem Gewehr bleiben. Jetzt schicken Sie jemand aus, um nachsehen zu lassen, ob sich die Einwohner irgendwo zusammengerottet haben oder anscheinend zufällig auseinandergegangen sind.«
   Der Oberst verschwand sogleich. Die Hoffnung, auf friedliche Bürger schießen zu lassen und unter Wehrlosen ein fürchterliches Blutbad anzurichten, diese widerwärtige Hoffnung erfüllte das Herz des »Schinders« mit solcher Freude, daß er nicht nur einen, sondern sechs Spione ausschickte, um in den Dünen nachzuforschen und womöglich einen erwünschten Bescheid zu bringen.
   Uve Mensinga kannte einen dieser Elenden, denselben, der ihn dem Obersten denunziert hatte; er erschrak, als er ihn zum zweitenmal sah. »Wir sind verraten«, bebte es über seine bleichen Lippen. »Swen Auckens hat uns beobachtet.«
   »Wieso verraten?« fragte ein riesiger Borkumer. »Sollte man nicht mehr in den Dünen zusammenkommen dürfen?«
   »Ich fürchte, nein.«
   »Das wollen wir erst abwarten. Wenn morgen früh die Gefangenen zum Richtplatz geführt werden, so kostet es nur geringe Mühe, sie zu befreien und an Bord des Engländers zu bringen. Schadet nicht, ob auch ein paar der Unsrigen fallen – den Herren Franzosen ist dann doch ihr Henkersgelüste versalzen.«
   »Laßt uns nur einstweilen auseinandergehen. Swen Auckens hetzt uns sonst noch heute die Soldaten auf den Hals.«
   Ein Teil der Männer suchte Verstecke in den unzugänglichsten Dünen, ein anderer in den Hütten der Insulaner – bevor aber die ›groote Leegte‹ verlassen war, hatte der Oberst den Bericht seines Spions erhalten und dieser lautete: »Sie sind immer noch da!«
   Trommeln rasselten und Gewehre wurden bei Fuß genommen. Der Präfekt hielt den Leuten vor dem Badehause eine Rede.
   »Es wird von einem Tambour und einer Abteilung Soldaten in allen Straßen bekannt gemacht, daß sich die Fremden vor Abend von der Insel zu entfernen haben«, sagte er. »Hilft das nichts, so müssen die Leute zwangsweise in die Boote geschafft werden, aber alle Feindseligkeiten sind zu vermeiden.«
   Oberst Jouffrin richtete sich höher auf, seine Augen blitzten trotzig. »Um Verzeihung, Exzellenz«, sagte er mit ärgerlichem Tone, »ich bin zur Zeit hier auf Norderney der Höchstkommandierende und habe, soviel mir bekannt ist, von den Herren Zivilbeamten keine Vorschriften zu empfangen.«
   Monsieur de Jeannesson nickte. »Im allgemeinen nicht, Herr Oberst, aber in diesem besonderen Falle unter allen Umständen. Ich übernehme die Verantwortung.«
   »Das kümmert mich wenig. Widersetzt sich die Meute, so lasse ich dazwischenschießen.«
   Der Präfekt zuckte die Achseln. »Mein Bericht an den Kaiser würde dem ersten derartigen Versuch auf dem Fuße folgen, Herr Oberst. Es käme dann so manches, was in Norden geschah, gleich mit zur Sprache – jetzt wählen Sie!«
   Der Oberst bezwang mühsam das Erschrecken, welches ihn packte. »Ich verstehe nicht«, stammelte er, »was ist gemeint?«
   »Soll ich es Ihnen hier vor der Front Ihrer Soldaten sagen, mein Herr?«
   Der Oberst zuckte die Achseln. »Irgendeine Kleinigkeit«, rief er spöttisch lachend. »Auch mein Bericht an den Kaiser wird nicht ausbleiben, Exzellenz!«
   Dann ließ er die Soldaten in geschlossenen Gliedern gegen die Dünen vorrücken, sehr zum Vorteil aller derer, welche sich von den Nachbarinseln auf Norderney zusammengefunden hatten, um in Gemeinschaft mit den Eingeborenen die Gefangenen zu befreien. Während das Militär die Sandwüsten durchsuchte, saßen die fremden Schiffer in den Kellern und Schuppen der Norderneyer, auf Böden und Höfen versteckt, alle mehr oder minder bewaffnet und fest entschlossen, den Bedrückern des Vaterlandes das Gelüst nach Hinrichtungen gründlich auszutreiben.
   Es war eine Revolution im kleinen, eine vollständige Verschwörung, welche Uve Mensinga und Georg Wessel, der Sohn des Gefangenen, in zwei Tagen geschürt und zu Wege gebracht hatten.
   Mochten sie kommen, die Henkersknechte, es sollte ihnen ein heißer Empfang zuteil werden, eine Begrüßung, welche sie so bald nicht wieder vergessen würden.
   Ein Flüstern und Raunen flog von Mund zu Mund, von Hütte zu Hütte. Einer half dem anderen, alle Hände hatten sich aufgetan, um das Werk zu fördern – wie ein einziger Mann erhob sich die Bevölkerung gegen das geplante Verbrechen der Franzosen.
   Hin und her schlichen die Spione; Monsieur de Jeannesson, der Präfekt, erfuhr alles. Es gibt ja ehrlose Geschöpfe zu allen Zeiten und unter allen Völkern; auch auf Norderney lebten solche Personen, und eben diese dienten den Franzosen als Zuträger. Für die ehrliche Arbeit zu faul, heruntergekommen durch den Trank und die eigene Untüchtigkeit, aßen sie jetzt ein reichliches, mühelos erworbenes Brot und verrieten dafür das Volk, dem sie angehörten.
   Die beiden anderen Kanonenboote, »Marion« und »l‘Empereur« legten sich rechts und links neben die »Hortense«, unaufhaltsam rasselte in den Straßen die Trommel, um dem Befehl des Ausrufers Gehör zu verschaffen, aber nicht ein einziger Fremder war zu entdecken, nicht ein Boot verließ die Reede.
   Überall entschlossene Herzen und gezückte Messer, überall die brennende Kampfbegier gegen den Todfeind. Je eher, desto besser; je heißer, um desto lieber; das Maß war voll bis zum Überlaufen.
   Etliche hundert Männer, meist von Borkum und Wangeroog, hatten in den Häusern des Dorfes keine Unterkunft mehr gefunden und waren daher in den Dünen versteckt. Swen Auckens, der Spion, den Soldaten vorausgeschickt, sah sie, aber er war auch selbst gesehen – in der nächsten Sekunde lag er am Boden und drei oder vier Schiffer knieten auf seiner Brust oder hielten die zuckenden Glieder gefesselt.
   Georg Wessel stand neben ihm; das sonnenbraune Antlitz des hübschen jungen Mannes war blaß vor innerer Erregung.
   »Ein Laut, Swen Auckens, ein einziger Schrei – und du bist des Todes!«
   Der Spion schwieg vor Entsetzen; er sah ratlos von einem zum anderen.
   »Sprich, du Schuft, hat dir mein armer Vater, wenn du hungrig und frierend umherliefst, in seinem Hause zu essen gegeben, hat er dir Kleider und bares Geld geschenkt oder nicht? hat er deiner alten Mutter Fische gebracht, deinen kleinen Geschwistern Schuhe, hat er immer und zu allen Zeiten geholfen?«
   »Ja!« ächzte der Spion, »ja!«
   »Und zum Lohn dafür verrietst du ihn, verrätst du dein Vaterland!«
   Einer der Borkumer Kapitäne drängte sich vor. »Soviel Federlesens um einen Spitzbuben!« sagte er. »Als ob Swen Auckens nicht auch bei mir schon gebettelt hätte! – Soll er sterben, Leute, was meint ihr?«
   »Ja!« hieß es rings umher, »ja! ja!«
   Der Borkumer zog das Messer hervor. Die ehrlichen, von Haus aus so gutmütigen Friesen waren durch diese langen und unerträglichen Bedrückungen dermaßen gereizt, ihr Blut am Vorabend einer schweren Entscheidung so erhitzt, daß sie nicht mehr klar zu denken vermochten. Das »Ja« der Ihrigen galt ihnen als ein rechtskräftiges Todesurteil.
   Swen Auckens krümmte sich vor Furcht. »Wenn ihr mich töten wollt, so ist das euer eigenes Verderben«, ächzte er. »Die Franzosen stehen ganz in der Nähe – sie haben scharf geladen – ein Schrei von mir und —«
   Er konnte nicht vollenden. Eine kräftige Hand legte sich schwer auf seinen Mund, ein Messer blitzte und fuhr ihm bis ans Heft in die Brust. So lange die Glieder im Todeskampfe bäumten und zuckten, hielt der Borkumer den Gerichteten fest, dann zog er die Waffe aus der Wunde und stieß sie in den weißen Sand, um das Blut zu entfernen. Swen Auckens blieb, mit dem Gesicht gegen den Himmel gekehrt, tot am Eingang der Dünen liegen.
   »Zurück!« gebot der junge Wessel. »Wir dürfen den Soldaten heute nicht begegnen!«
   Mann nach Mann verschwand zwischen den Sandhügeln. Die Franzosen mit ihrer schweren Bepackung konnten ihnen auf dem ungewohnten Boden nicht schnell genug folgen, um sie einzuholen.
   Es war wieder alles todesstill wie zuvor, nur der Gerichtete lag mit krampfhaft in das Dünengras gekrallten Händen auf dem Sand und aus seiner Brust sickerten langsam die roten Tropfen.
   Heller warmer Sonnenschein; die Lerchen sangen hoch im Blau, zur Seite flutete das Meer und hie und da schaute mit seinen roten Augen ein Kaninchen aus dem Spalt hervor. Nur das rieselnde Blut zeigte, daß der Krieg die Wirklichkeit des Lebens ist, nicht jener holde Friede, von dem das Herz im Anblick einer schönen stillen Sommerlandschaft so gern träumt.
   Die Franzosen standen in einiger Entfernung und hielten die Gewehre schußgerecht in den Händen. Oberst Jouffrin kaute an den Spitzen seines Schnurrbartes; die blutunterlaufenen Augen sandten unruhige Blicke nach allen Seiten. Wo blieb der Spion?
   Kein Laut erklang, nur die Lerche stand himmelhoch gerade über dem Kopfe des Franzosen und jubelte ihr helles süßes Lied in die Welt hinaus.
   Oberst Jouffrin pfiff leise, das war so verabredet, und Swen Auckens hätte antworten müssen. Sonderbar – ob er in einen Hinterhalt geraten war?
   Der »Schinder« schlich vorwärts. Vielleicht, wenn er angegriffen wurde, ergab sich die Notwendigkeit der Verteidigung – er konnte Ströme Blutes vergießen, konnte alle Roheit seines Innern in Taten übersetzen.
   Ein paar leichtere Dünenketten waren erklettert, dann kam die erste größere Talmulde mit scharfem Grat – ihm ins Gesicht sehend, mit starren, weit offenen Augen lag der Tote vor dem spähenden Franzosen. Er trat in die Blutlache, er wäre fast über den Körper gestolpert.
   »Sapristi – was ist das?«
   Niemand zu sehen oder zu hören. Der Wind bewegte die Erlenblätter in den Tälern, das Haar des Toten, die langen Grashalme – es flüsterte, raunte überall.
   Oberst Jouffrin trat zurück. Die Mörder mußten sich ganz in der Nähe befinden – welch eine blutige Rache hätte er nehmen können!
   Aber Exzellenz Jeannesson hatte es verboten und der Oberst kannte sehr wohl den Grund, welcher ihn zwang, diesem bestimmten Befehl zu gehorchen. Eines Tages, kurz nach seinem Einmarsch in Norden, hatte er die Väter der Stadt zu sich beschieden und mit recht verständlichen Worten erklärt, daß er ein Geschenk von einer halben Million Frank für seine Privatrechnung erwarte oder aber der Stadt gegenüber Bedrückung auf Bedrückung häufen werde.
   Als ihn dann die entsetzten Leute baten, doch von einer so verhängnisvollen Maßregel abzusehen, da antwortete er achselzuckend, er begreife nicht weshalb. Der Kaiser habe den Wunsch, daß sich seine höheren Offiziere aus dem Vermögen deutscher Bürger bereichern möchten.
   Die halbe Million schmolz zusammen bis auf zweimalhunderttausend Frank, diese aber erpreßte er und hatte, als der Präfekt die Sache erfuhr, das Geld am grünen Tische längst wieder verloren. Monsieur de Jeannesson verachtete ihn deswegen, er wußte es, und auch seine Vorgesetzten würden die plumpe Art und Weise strenge tadeln, sobald sie von derselben erfuhren. Dergleichen mußte feiner ins Werk gesetzt werden.
   »Es ist nichts«, sagte er achselzuckend, »Prahlerei, leere Worte; die Kerle fürchten sich.«
   Das Militär zog zum Dorfe zurück. Es begann eine Durchsuchung der Häuser, die aber ohne Ergebnis verlief; hier lag ein Kranker und dort war ein Schlüssel verloren, an dritter Stelle war selbst die Haustür versperrt oder der Bewohner verbat sich mit dem Messer in der Hand den Besuch der Soldaten.
   Nur mit gefälltem Bajonett hätte an den meisten Orten der Eintritt erzwungen werden können.
   Auch in den Holzschuppen Peter Witts kamen die Soldaten. Der Verräter saß in der Ecke und ließ den Kopf hängen, er ging jetzt nicht mehr aus, sprach mit keinem Menschen und schien zu erschrecken, als er hörte, daß sich Hunderte von fremden Schiffern auf der Insel befinden sollten.
   »Olters«, sagte er, »hängt ein Tuch vor das Fenster. Wenn Leute kommen, so sagt, daß ich nicht zu Hause sei. Ach, es ist so kalt hier!«
   Und in dem milden Sommersonnenschein hüllte er sich schaudernd in eine große wollene Decke. Wenn die Trommel rasselte, fuhr er zusammen, als bringe ihm der Klang die Verkündigung eines schrecklichen Schicksalsspruches.
   Oberst Jouffrin mußte melden, daß niemand gefunden worden sei. Er tat es spöttisch, mit offenem Hohne gegen den Präfekten. Siebenhundert wohlgeschulte und bewaffnete Soldaten durften es ja nach der Meinung Seiner Exzellenz mit den Messern und Knitteln einer Handvoll Matrosen nicht aufnehmen. Wahrhaftig, das ist für die Truppen des Kaisers eine große Ehre!
   Monsieur de Jeannesson würdigte ihn keiner Antwort; sein klarer Verstand erkannte sehr wohl, daß die Norderneyer und ihre Freunde der Übermacht hätten unterliegen müssen, ebensogut aber auch, daß der unerhörte Kampf des Militärs gegen friedliche Bürger doch nicht als eine Waffentat, sondern nur als eine Massenschlächterei gelten konnte. Er wollte dieselbe um keinen Preis gestatten, es war genug des Blutes, das morgen vergossen werden mußte.


   6

   Während aller dieser Vorgänge draußen im Dorfe lagen die Gefangenen im halbdunkeln Raume des Kanonenbootes und erfuhren weder, was über ihr ferneres Schicksal beschlossen worden war, noch, was die Freunde und Kameraden zu ihrer Rettung vorbereiteten. Der Schiffsarzt hatte die Wunden flüchtig nachgesehen; man brachte ihnen Speise und Trank und überließ die Unglücklichen ihren eigenen quälenden Gedanken, ohne sich weiter um sie zu bekümmern.
   Besonders die Engländer rüttelten ungeduldig, voll leidenschaftlichen Zornes an den Ketten, womit man sie gefesselt hielt. Es waren altgediente Leute, der Unteroffizier sogar ein Fünfziger mit ergrauendem Haar; sehnsüchtig spähten sie den ganzen Tag auf das Wasser hinaus, immer in der stillen Hoffnung, die Schiffe ihrer Nation kommen und den Befreiungskampf aufnehmen zu sehen.
   Aber Stunde um Stunde verstrich – es blieb alles leer.
   Dann legten sich die beiden anderen französischen Schiffe der »Hortense« zur Seite und für den Augenblick schwellte neue Hoffnung die Herzen aller Gefangenen. Waren das Vorsichtsmaßregeln einem englischen Angriff gegenüber?
   »Ich sehe nichts!« seufzte der Unteroffizier. »Das Wasser zeigt kein einziges Fahrzeug – und morgen in aller Frühe wollen sie uns den Garaus machen. Verdammt! wie ein toller Hund mit gebundenen Händen erschossen zu werden, nachdem man die Franzosen bei Trafalgar und anderswo gehauen hat, daß die Fetzen davonflogen.«
   Einer der Matrosen seufzte. »Ja, es ist bitter, Wilkie, es ist bitter. Wenn du denkst, daß zu Hause in Kent mein alter Bruder starb und daß ich das liebe kleine Gehöft antreten sollte – bald schon, bald – die Schenke zum Kegelkönig, wo so viele Fuhrleute und Viehtreiber verkehren, weißt du! – welches Geld hätte ich da verdienen können! Die Landratten werden es ja nie müde, sich Geschichten von Seeabenteuern erzählen zu lassen!«
   »Well! Well!« nickte der Unteroffizier. »Ich wollte mich ja auch verabschieden lassen; ich habe in Ehren ein kleines Vermögen erworben, dachte nun die Früchte langer Mühen daheim im gesegneten alten England zu verzehren – ach, und statt dessen werfen mich morgen die Lumpenkerle ohne Sarg in das Grab!«
   Der Dritte, ein noch junger Mann, schüttelte den Kopf. »Schweigt doch«, murmelte er traurig, »schweigt doch, Kameraden – was heißt es denn, ein Gehöft oder ein Vermögen zu verlieren? Ich bin unter euch der Unglückliche; ich habe mich erst vor Jahr und Tag verheiratet, stehe kaum vier Monate bei der Marine und erhielt ganz kürzlich von meiner armen Lizzie einen Brief, worin sie mir schreibt, daß uns der gütige Gott einen Sohn geschenkt habe, ein prachtvolles Geschöpfchen, das schönste Kind in ganz Altengland – und ich soll es niemals sehen, niemals – morgen um diese Stunde ist es eine Waise!«
   Aus dem halbdunklen Inneren des Raumes her antwortete dem unglücklichen Manne eine andere Stimme. »Und ich?« sagte Lars Meinders, »und ich, Thompson? Mein kleines Töchterchen zählt fünf Monate, es kannte mich schon, es jauchzte, wenn ich nach Hause kam und es tanzen ließ! – Ach, es ist um den Jammer meines armen Weibes und des Kindes, wenn ich heute nicht mehr standhaft bin, wenn —«
   Seine Stimme erstickte; tiefe Stille beherrschte den Raum. Es war unter den Männern keiner, dessen Seele nicht in diesem Augenblick die Teuren umschwebt hätte, von denen er nun binnen weniger Stunden getrennt werden sollte auf immer, so weit das Erdenleben reicht.
   »Mögen unsere Kinder klein sein oder erwachsen«, sagte nach einer Pause der Kapitän, »das macht für den Abschied nichts aus. Mein Onnen ist fast sechzehn Jahre alt, aber dennoch tut mir‘s unbeschreiblich weh, ihn ohne den Schutz des Vaters allein zurücklassen zu müssen, nur mit der alten Mutter, die sich zu Tode grämen wird, wenn ich erschossen bin!«
   Heye Wessel schlug mit der geballten Faust gegen die Planken, daß es dröhnte. »O dies Elend!« rief er, »dies Elend! So gefangen zu sein, wie ein Fisch im Netz! Ich wollt‘, ich wär‘ der Krake, der Riesenhai mit den Feueraugen, und könnte auf Norderney ans Land steigen, um alle Franzosen mit Haut und Haar zu verschlingen, mit Haut und Haar, daß sie fühlen müßten, was es heißt, den Stärkeren über sich herrschen zu lassen und stumm hinzunehmen, was seine Willkür gebietet!«
   Nach diesem Ausbruche eines verzehrenden Grolles wurde es still im Innern der »Hortense«, nur der junge Engländer ächzte zuweilen leise vor sich hin. Er hatte den Brief seiner Frau aus der Tasche gezogen und las zum hundertstenmal den Inhalt desselben, wobei er immer mit dem Rücken der Hand über die Augen fuhr, um den heißen Tropfen zu wehren, die wieder und wieder auf das Blatt herabfielen, so oft er sie auch abwischte – wieder und wieder.
   Etwas später legte ein Boot an und Männertritte erklangen auf dem Verdeck; es kam jemand zu den Gefangenen, der Geistliche von Norderney, dem ein Diener das Altargerät nachtrug.
   Bei seinem Anblick erhoben sich die Fischer und auch die Soldaten; der Prediger gab ihnen beide Hände, stumm, wortlos vor innerer Bewegung. Männer im kräftigen Lebensalter, Familienväter, die um eines geringen Vergehens willen den Tod erleiden sollten – wie schrecklich!
   Er sprach mit ihnen wie jemand, der frohe Botschaft bringt, Trost und Freundesgrüße, Verheißungen einer Milde und Treue, die nicht richtend, sondern erbarmend verzeihen will dem, dessen Herz nach Versöhnung ringt, er erinnerte sie an das große allgemeine Elend und die Tränen so vieler Edlen, er sagte, daß dereinst, früher oder später für die Bedrücker der Tag der Abrechnung kommen werde, hier auf Erden und vor dem Throne des Allmächtigen, dann fragte er mit vor Erschütterung unsicherer Stimme, ob es ihm möglich sei, den Verurteilten noch irgendeinen Dienst zu leisten.
   »Wollt ihr die Eurigen ein letztes Mal sehen, habt ihr Briefe zu bestellen, Botschaften oder Grüße? Gibt es geschäftliche Angelegenheiten, die ihr zu ordnen wünscht? Legt alles getrost in meine Hände, ich will es ausrichten, so wahr mir Gott helfen möge.«
   Der junge Engländer preßte den Kopf gegen die harte Schiffswand; er weinte. »O mein kleines Kind, mein süßer kleiner Knabe – wenn ich ihn nur einmal, nur ein einziges Mal gesehen hätte!«
   Der Wattführer schüttelte den Kopf. »Ich danke Euch, Herr Pastor, wahrhaftig, ich danke Euch, aber meine arme Moiken soll nicht hierher kommen – nein, nicht – ich will wie ein Mann sterben – und das müßte mich weich machen, ich ertrüg‘s nicht. Aber, Herr, wenn das kleine Mädchen größer wird und die Leute erzählen ihm, sein Vater sei gerichtet wie ein Missetäter, wollt Ihr dann ein Wörtlein für mich sprechen, wollt Ihr der armen Waise erzählen, wie das alles geschah und daß ich kein Verbrecher war, kein Dieb und Schurke?«
   Der Prediger drückte warm die Rechte des jungen Mannes. »Ich will es, Lars Meinders, ich will es, so wahr mir Gott gnädig sein möge. Dein Kind soll sich mit Liebe und Achtung des Vaters erinnern, es soll ihm ein Freund und Beschützer, so lange ich lebe, nicht fehlen.«
   Der Wattführer drückte lebhaft die Hand des Geistlichen. »Ich danke Euch, Herr Pastor«, sagte er mit bebender Stimme. »Ihr gebt mir den letzten Trost auf den Weg zum Grabe.«
   Der Unteroffizier berührte leise seine Schulter. »Kamerad«, flüsterte er, »eine Frage – ich stelle sie nicht aus Neugier. Hat dein junges Weib, wenn du dahin bist, für sich und das Kind zu leben? Hinterläßt du ihr ein Vermögen?«
   Lars Meinders stöhnte tief. »Keinen Pfennig«, seufzte er. »Meine arme Moiken muß arbeiten, um sich und die Kleine vor dem Hunger zu schützen.«
   Der Engländer nahm seine Brieftasche heraus und schrieb mit Bleistift einen kurzen Brief an den Kapitän des Schiffes, auf welchem er gedient hatte, dann reichte er das Blatt dem Geistlichen. »Gebt es ab, Sir, wenn Ihr die Güte haben wollt. Da in meiner Kabine liegt das Geld, was ich mir erworben hatte, lauter gute englische Papiere, ich hab‘s immer bei mir getragen und damit geliebäugelt und den Mammon mein Teuerstes genannt – zur Strafe dafür muß ich jetzt sterben, ehe mir‘s zugutekommen kann. Aber schadet nicht, schadet nicht, ich erlebe doch im letzten Augenblick daran noch eine große Freude. Des Malcolm kleiner Bube soll die Hälfte erhalten und dein Mädel den Rest, Freund Meinders, dann ist für beide gesorgt. So, basta, sagt kein Wort des Dankes, irgendwo muß nach meinem Tode das Geld doch bleiben und Verwandte hab ich auf Gottes weiter Welt keinen einzigen mehr, darum eben hing ja meine ganze Seele an den gestempelten Dokumenten. Es war alles, was ich besaß, nun nehmt‘s hin und Gott gesegne es den beiden Kindern!«
   Der junge Soldat war aufgesprungen. »Mein Sohn?« rief er, »du willst dein Geld meinem Sohn schenken? O, Gott gebe dir dafür in seinem Himmel den besten Platz, John Wilkie, Gott vergelte es tausendfältig!«
   Und er umfaßte mit beiden Armen den Hals seines ehemaligen Waffengefährten, er küßte schluchzend das bärtige Gesicht. »Wenn du droben einen Mann brauchst, der dir treu ist wie ein Hund, der dich lieb hat, John Wilkie, dann bin ich es, das darfst du glauben!« Auch Lars Meinders streckte die Hand aus. Er konnte kein Wort hervorbringen, große Tränen rollten über sein blasses Gesicht.
   Ebenso stumm blieb der Prediger, aber seine Augen glänzten in hoher Freude. Er sah den narbigen alten Soldaten an und durch seine Seele wehte wie freundliches Grüßen das Wort des Erlösers: »Wahrlich, ich sage dir, du wirst noch heute mit mir im Paradiese sein!«
   »Hört auf«, lächelte der Unteroffizier, »was ist es denn weiter? Ich mache mein Testament wie jeder andere auch. Sorgt nur, daß es erfüllt werde, ehrwürdiger Herr; eine Einsprache kann kein Mensch erheben!«
   Der Geistliche steckte das Blatt zu sich, er versprach gerührten Herzens, sogleich die englischen Behörden in Kenntnis zu setzen und dann das Vermächtnis des großmütigen Gebers für beide Kinder nach bestem Ermessen zu verwalten. Als diese Angelegenheit geordnet war, wandte er sich zu den älteren Gefangenen, den dreien, die bisher geschwiegen hatten, weil sie ihre äußeren Angelegenheiten geordnet zurückließen. Er kannte den Kapitän und Heye Wessel seit langen Jahren genau, den Baltrumer Wattführer wenigstens von Ansehen, hier wurde ihm also, den alten Leuten gegenüber, die Trennung schwerer. »Wir hatten heute eine außerordentliche Sitzung der Gemeindeältesten«, sagte er traurig, »ich soll euch beiden von allen die herzlichsten Grüße bringen. Es wird niemand außer mir zu euch gelassen, sonst wären schon viele Freunde hier gewesen.«
   Heye Wessel nickte. »Das glaube ich, Herr Pastor, das glaube ich, aber meine Kinder dürfen doch von mir Abschied nehmen?«
   »Und mein Junge«, setzte der Kapitän hinzu, »meine arme Frau ? – Waren übrigens unsertwegen die Gemeindeältesten versammelt, Herr Pastor?«
   »Nein, meine Freunde, ich darf euch keine falschen Hoffnungen erregen. Der Präfekt selbst hat das Urteil als ein unwiderrufliches bezeichnet – es war der alten Aheltje wegen, daß wir Rat hielten; die Franzosen haben ihre Hütte zerschlagen, ihr bißchen Hab und Gut in alle vier Winde zerstreut und die bedauernswerte Frau arg mißhandelt. Aheltje bittet, ihr ein neues Obdach zu schaffen; sie irrt ohne Heimat, ohne eine Stelle, wohin sie ihr Haupt legen möge, in den Dünen herum.«
   Der Kapitän sah auf. »Noch bin ich Gemeindeältester«, sagte er nachdrücklich, »und als solcher gebe ich der armen Alten meine Stimme. Sie soll eine neue Hütte haben.«
   »Das ist auch meine Ansicht«, rief Heye Wessel. Der Prediger nicke freundlich. »Davon war ich überzeugt«, antwortete er. »Aber nun zu euch selbst, Leute, habt ihr nichts mehr auszurichten? Auch Ihr nicht, Andreas Fokke?«
   Der Wattführer seufzte. »Meine Kinder sind klein und mein Weib ist kränklich«, sagte er. »Von Baltrum hierher ist es für alle zu weit und beschwerlich. Grüßt sie, Herr Pastor, wenn Ihr so freundlich sein wollt – tröstet die Armen! In leibliche Not geraten sie nicht, dafür ist durch die letzten guten Jahre gesorgt, wenn ich auch nun den Schmuggelhandel mit meinem Leben bezahlen muß.«
   Heye Wessel bat, seine Kinder sehen zu dürfen, und der Kapitän wenigstens seine Frau. Der Knabe lag noch krank im Bette, er würde die große Aufregung nicht ertragen können, sondern sollte lieber von dem gefällten Todesurteil noch nichts erfahren.
   Nachdem so die Dinge dieser Erde geordnet waren, versammelte der Geistliche die kleine zum Sterben geweihte Gemeinde um sich und spendete den Unglücklichen das heilige Abendmahl.
   »Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden« – viel mehr als nur diese Worte sprach er nicht, aber er bat die Gefangenen, sich den ganzen Segen der tröstlichen, darin enthaltenen Verheißung voll zu eigen zu machen, sich der ewigen Heimat zu freuen, nun ihnen die zeitliche entrissen werde.
   Dann kam der Abschied – fast stumm, aber innig empfunden. Was die Herzen in letzter Hoffnung bewegte, was noch an Erdensorgen zu erledigen war, das ruhte nun in treuen Händen. Mochte der Tod kommen, er würde seine Opfer bereit finden.
   Von den Gefangenen begab sich der Prediger unmittelbar zu dem Präfekten, Monsieur de Jeannesson; er erhielt auch bereitwilligst die gewünschte Audienz, aber er nahm keine noch so geringe Hoffnung aus dieser Zusammenkunft mit sich hinweg.
   »Glauben Sie es mir«, sagte im Tone der unverkennbarsten Wahrheit der Franzose, »ich würde Gott weiß was darum geben, wenn die Hinrichtung unterbleiben könnte, aber meine Befehle sind gemessen und nebenbei glaube ich auch, daß die zum Gewerbe gewordene Schmuggelei, nachdem diese Züchtigung der Insel widerfuhr, nun endlich einmal aufhören werde.«
   »Die öffentliche Moral ist untergraben«, setzte er hinzu, »List und Gewalt behaupten die Stelle der Gesetze; das ist ein ungesunder Zustand.«
   Der Prediger widersprach nicht, er sagte nur, daß er gekommen sei, um zu bitten, nicht um zu fordern; Monsieur de Jeannesson drückte ihm die Hand, aber er betonte, daß keine Gnade obwalten könne. »Morgen um die sechste Stunde wird die Hinrichtung stattfinden«, sagte er, »wenn also die Angehörigen der Verurteilten von diesen noch Abschied zu nehmen wünschen, so muß es vor Abend geschehen.«
   Der Geistliche empfahl sich schweren Herzens, um den beiden Familien, die er so viele Jahre hindurch gekannt hatte, die Trauerbotschaft zu bringen. Heye Wessels Haus lag ihm auf seinem Wege am nächsten, er kam also dahin zuerst und traf beide Geschwister daheim. Während Amke, das junge Mädchen, beim Empfang der Hiobspost laut aufschrie und dann ohnmächtig zu Boden sank, hatte ihr Bruder für den Prediger nur ein siegesgewisses Lächeln.
   »Es wird niemand erschossen, Herr Pastor«, sagte er. »Haben Sie es denn meinem Vater nicht gesagt, daß Uve Mensinga und ich über siebenhundert streitbare und treuergebene Männer verfügen? Das englische Kriegsschiff erscheint mit Tagesanbruch an der Ostspitze der Insel, bereit, die Verurteilten aufzunehmen – wir massakrieren die ganze Franzosenbande bis zum letzten Mann, wir hauen die braven Norderneyer heraus, ob auch Hunderte von uns fallen mögen. Vielleicht kommen doppelt soviele Wüteriche wieder hierher, aber der Vater und seine Gefährten sind vorläufig gerettet. Sie haben es ihm doch gesagt, Herr Pastor?«
   Der Geistliche schüttelte den Kopf. »Gewiß nicht, mein guter Junge«, antwortete er ruhig. »Ich glaube bis jetzt keineswegs, daß euch der tollkühne Plan gelingen werde, und bitte dich dringend, die letzten Lebensstunden deines Vaters von der Bitterkeit einer getäuschten Hoffnung freizuhalten. Er hat sich in den Willen der Vorsehung ergeben, diese Stimmung mußt du achten.«
   »Und ihm nichts mitteilen?« rief Georg.
   »Ihm nichts mitteilen, mein Junge. Gelingt dann der beabsichtigte Handstreich – nun, so ist es ja um so besser.«
   Der junge Schiffer dachte nach. »Sie haben recht, Herr Pastor«, rief er endlich. »Muß nicht auch die Freude um so herrlicher wirken, wenn sie sich mit der Überraschung vereinigt? – Die Gefangenen werden hinausgeführt bis zur Schanze, sie sehen schon die Soldaten vortreten und haben alle Hoffnung aufgegeben, da brechen plötzlich die Befreier aus den Dünen hervor, die französischen Offiziere sind zuerst niedergeschlagen, dann die Soldaten, und im Triumph geht es an Bord des englischen Schiffes – wissen Sie was, Herr Pastor? wir wollen auch den geraubten Kaffee wiedergewinnen. Die Gauner haben ihn auf den Böden des Badehauses und unter Fischernetzen auf dem Hofe gestapelt – sie sollen das gestohlene Gut herausgeben und die allerwuchtigsten Norderneyer Hiebe in den Kauf erhalten.«
   Der Prediger fühlte, wie ihm das Blut heiß ins Gesicht trat. Die Begriffsverwirrung, von welcher Monsieur de Jeannesson gesprochen hatte, war wirklich im höchsten Maße vorhanden.
   »Eins vergißt du, Georg!« sagte er in ernstem Tone.
   »Und das wäre, Herr Pastor?«
   »Du solltest hinzufügen: Wenn Gott will!«
   Der junge Mensch lächelte. »Es wird gelingen«, sagte er zuversichtlich. »Wenn ich mich jetzt auf die Straße begeben und mit lauter Stimme rufen würde: ›Heraus Kameraden, die Stunde ist da!‹ – dann sollten Sie sehen, wie schnell die Franzosen geschlagen wären, ins Meer gejagt, vernichtet! Aber es geht nicht; wir müssen warten, bis die Gefangenen am Lande sind, da wir ja leider keine Möglichkeit besitzen, die drei Kanonenboote mit Erfolg anzugreifen. Das englische Schiff hat nicht Soldaten genug und geht auch zu tief, es kann die seichte Reede gar nicht berühren.«
   Ein Gefühl des innigsten Mitleids durchflutete das Herz des Predigers. Wenn der verwegene Plan scheiterte – welch eine Verzweiflung mußte dann unausbleiblich an die Stelle dieser freudigen Zuversicht treten!
   »Sieh nach deiner Schwester, mein Junge«, sagte er, indem er dem stattlichen Burschen die Hand drückte, »und wenn du vor deinem Vater stehst, so lasse dir nichts anmerken. Er hat sich mühsam durchgekämpft bis zur Ruhe; du darfst sie ihm nicht stören!«
   Georg nickte. »Ich will mich zusammennehmen, Herr Pastor, gewiß, ich will es. Aber wenn wir losschlagen, müssen Sie dabei sein! Sie kennen doch meines Vaters Stimme? Ein Löwe muß vor ihm die Segel streichen. Ach, wie wird er ins Zeug gehen, wenn die kleinen Gaskogner vor uns davonlaufen gleich aufgescheuchten Hasen!«
   »Stille, stille – du lobst den Tag vor dem Abend und das tut niemals gut!«
   Er überzeugte sich, daß das junge Mädchen unter den Händen der Wirtschafterin zum Bewußtsein zurückgekehrt sei, und dann ging er fort, um auch die Frau des Kapitäns aufzusuchen und ihr das schwere Schicksal nach Möglichkeit tragen zu helfen. Georgs Begeisterung tat ihm weh, er wußte nicht weshalb, aber das Gefühl war unabweislich.
   In dem niederen Zimmer des Visserschen Hauses traf er eine ganz andere Szene. Frau Douwe schien zu wissen, weshalb er kam, sie stand aufrecht neben dem Tische, ruhig und gefaßt, aber bleich wie der Tod, selbst ihre Lippen waren weiß – unverwandt sah sie dem Eintretenden entgegen.
   Er grüßte sie ohne viele Worte, nur mit den Augen, den Händen, dann schloß er die Tür des Nebenzimmers, wo Onnen im sanften Schlummer der Genesung lag.
   »Er braucht nicht zu hören, was wir sprechen, meine gute Frau Visser«, sagte er leise. »Ich bringe Euch von unserem lieben alten Klaus die herzlichsten Grüße!«
   Frau Douwe nickte. Alles an ihr schien wie versteinert, sie klagte nicht, weinte nicht, aber aus dem blassen Gesicht sprach ein so furchtbarer Jammer, daß es den Geistlichen im tiefsten Herzen rührte. »Ihr dürft zu ihm kommen, liebe Frau Visser«, fuhr er fort, »jetzt gleich. Der Kapitän läßt Euch bitten.«
   Die arme Frau nickte. »Ich will‘s tun, Herr Pastor. Ich will hingehen, Klaus soll mich stark finden in der Stunde des Abschieds.«
   Der Prediger faßte sanft ihre arbeitsharte Hand; seine Stimme bebte. »Weint, arme Frau«, sagte er halblaut, »weint, damit Euch das Leid nicht überwältige. So viel Ruhe ist unnatürlich!«
   Frau Douwe schüttelte den Kopf. »Das darf ich nicht, ehrwürdiger Herr! Ach, Ihr wißt nimmer, wie sehr ich mich nach den Tränen sehne, aber sie müssen doch im tiefsten Herzen bleiben, sonst würfe mich der Jammer zu Boden, ließe ich ihn erst einmal aufkommen.«
   Sie nahm ihr Tuch und zog es durch die Hand; der Prediger sah wohl, daß sie sich kaum aufrechthielt. »Soll ich Euch begleiten, arme Frau?« sagte er freundlich.
   Sie nickte. »Wenn Ihr die Güte haben wollt, Herr Pastor!«
   Dann öffnete sie die Tür der angrenzenden Kammer. Im Bette lag Onnen und schlief ruhig; auf seine Wangen war die Röte der Gesundheit zurückgekehrt und nur ein schmerzlicher Zug um die Lippen bewies, daß er sich im Traume wie im Wachen mit dem trostlosen Schicksal seines Vaters beschäftigte. Jetzt drehte er den Kopf. »Hier bin ich!« murmelte er. »Vater! – Vater!«
   Frau Douwe streckte die Hand aus. »Für ihn ist‘s, daß ich nicht weine, Herr Pastor, daß ich so ruhig umhergehe und tu‘, als könnte es mir nichts anhaben. Ich muß ja leben um des armen Jungen willen!«
   In diesem Augenblick erwachte Onnen; er richtete sich hastig auf, sein hübsches Gesicht wurde sehr bleich. »O, Herr Pastor«, rief er, »haben die Franzosen – ist —«
   »Sei ganz ruhig, mein Junge«, beschwichtigte ihn der Prediger, »es ist bis jetzt nichts geschehen. Schlafe nur, das bringt dir am ersten die Gesundheit zurück.« Aber Onnen schüttelte den Kopf. »Ich möchte gerade jetzt aufstehen«, antwortete er, »ich fühle mich ganz wohl. Willst du ausgehen, Mutter?«
   Sie nickte nur. »Frau Raß bleibt bei dir, mein Kind. Ich komme bald wieder.«
   »Wohin gehst du denn, Mutter?«
   »Mit mir!« versetzte gelassen der Prediger. »Leb‘ wohl, mein guter Junge.«
   Er schloß die Tür und führte dann freundlich tröstend die gebeugte Frau bis zum Ufer, wo ein Boot der Franzosen sie aufnahm und an das Schiff brachte. Ein Grauen lief durch alle ihre Adern, als sie die Masten der »Hortense« sah. »Herr Pastor«, flüsterte sie, »es ist mir just, als müsse das Herz in Stücke brechen!«
   Er drückte nur leise ihre Hand. »Gott geleite Euch, arme Frau – ein Mensch, ein Freund, und wenn er es noch so redlich meint, kann da nicht tragen helfen!«
   Das Boot glitt über die Wellen und einige Minuten später war vom Bord der »Hortense« ein Stuhl herabgelassen, um die alte Frau aufzunehmen.
   Die Schiffstreppe war dunkel; ein Unteroffizier führte an seiner Hand die alte Frau in den Raum hinab zu dem bedauernswerten Manne, dessen Weib sie seit länger als einem Vierteljahrhundert gewesen und dessen Stimme sie nun zum letztenmal hören sollte. Frau Douwe ging aufrecht, festen Schrittes, aber sie wußte kaum, was um sie her geschah, es lag wie ein Nebel vor ihren Augen.
   Den Gefangenen waren die Fesseln abgenommen worden; der Kapitän konnte, obwohl er nicht aufzustehen vermochte, doch seiner Frau die Hände entgegenstrecken – er sprach kein Wort, ihm war es, als werde seine Kehle von einer Eisenfaust zusammengepreßt.
   Die beiden Kinder Heye Wessels befanden sich bei ihrem Vater; Amke weinte angstvoll vor sich hin und auch Georg hatte hier im Innern des französischen Schiffes seine frühere Zuversicht völlig verloren. Der beabsichtigte Handstreich konnte doch immerhin mißlingen oder das Leben der Gefangenen im Tumult gefährdet werden, jetzt erst fiel‘s ihm ein und verjagte aus seinem jungen Herzen den Siegesrausch, in welchem er bisher schwelgte. Auf seiner Stirn standen große Tropfen, er kämpfte mit den mächtig heraufquellenden Tränen.
   Der Engländer Malcolm stützte den Kopf in die Hand, Lars Meinders schrieb an seine junge Frau einen Abschiedsbrief, den ihm Amke besorgen wollte – nur leises Weinen, die Laute der bittersten Trauer klangen durch den halbfinsteren Raum!
   »Eins versprichst du mir, Mutter«, bat der Kapitän, »Onnen soll niemals schmuggeln! Und wenn die gegenwärtigen Verhältnisse noch jahrelang andauern – er soll sich an dem Schleichhandel nicht mehr beteiligen. Willst du ihm das sagen als letzten Gruß von mir?«
   »Ja, Vater!«
   Er küßte liebevoll ihre blassen zuckenden Lippen. »Es ist nur eine kurze Strecke Weges, Mutter – dann sind wir wieder vereint. Im Alter gehen ja die Jahre so schnell, weißt du, und vorläufig braucht dich unser Junge noch sehr notwendig – du mußt leben für ihn, meine arme Douwe!«
   »Ja! – Ja!«
   Er beugte sich näher zu ihr. »Mutter, hast du es mir recht von Herzen verziehen, daß ich gegen deinen Willen auf den Schmuggelhandel ging? Sag mir‘s, grollst du nicht?«
   Da sah sie ihn an. »Ich – dir? Ach, Klaus, zuweilen war ich heftig, hab‘ als junge Frau in früheren Tagen meine Launen gehabt – heut tut mir‘s so weh, daran zu denken. Ich möcht‘, ich wär‘ eine bessere Frau gewesen.«
   Er streichelte ihr runzelvolles Gesicht. »Uns waren friedliche, glückliche Jahre beschieden, Mutter, wir lebten einträchtig und hatten unser gutes Auskommen – du bist die beste vortrefflichste Frau, welche ich jemals kennengelernt und warst es immer.«
   Er zog von der rechten Hand den Trauring und gab ihn der unglücklichen Frau. »Da, Mutter, du hast ihn mir als junge Braut geschenkt und er begleitete mich seitdem in alle Häfen der Erde, in Not und Tod – nun trage den treuen Gefährten zur Erinnerung an mich – willst du das?«
   Frau Douwe konnte nicht antworten, ihre mühsam behauptete Kraft brach zusammen. Als der Ring nicht mehr am Finger des Kapitäns steckte, sank sie lautlos in tiefer Ohnmacht zurück.
   Klaus Visser seufzte schmerzlich. »Georg, mein Junge«, sagte er, »komm her und erbarme dich meiner armen Alten. Der Abschied wird nur schwerer, je länger wir ihn hinausschieben; geht, Kinder, und Gott sei mit euch!«
   Heye Wessel stand auf; er hielt Sohn und Tochter fest an die Brust gedrückt. »Adjes, Amke, bleib gut, hörst du! Ihr seid jung, ihr lernt vergessen, das Glück lacht auch für euch wieder. So, so, du mußt nicht weinen, Kind, dein Bruder ist fast schon ein Mann, er wird dich beschützen und von hier fort zum Onkel nach Marienhafen bringen, nicht wahr, Georg? Adjes, mein Junge, hab‘ immer Gott vor Augen, hörst du! Deine Mannesehre muß dir allezeit heilig sein!«
   Ein gepreßtes: »Ja, lieber Vater!« rang sich aus der Brust des jungen Mannes. Er, der vorher so zuversichtlich gewesen, weinte wie ein Kind, er fiel mit beiden Armen seinem Vater um den Hals. »Leb wohl! Leb wohl!«
   Der französische Unteroffizier kam und berichtete schonend, daß die Besuchsstunde vorüber sei. Wie im halben Traume reichte Georg dem Kapitän und dem Wattführer die Hand, dann half ihm der Soldat, die ohnmächtige Frau an Deck zu bringen, und alles war vorbei.
   Im Herzen des jungen Mannes erhob sich ununterdrückbar eine Stimme, die ihm zuflüsterte, daß er seinen Vater nie – nie auf Erden wiedersehen werde.
   Unterdessen stand Onnen am Fenster und spähte auf die Straße hinaus. Seine getreue Hüterin, Frau Raß, war sehr schweigsam, von ihr erfuhr er nicht viel, sondern mußte sich in die Küche schleichen, um Folke Eils zum Sprechen zu bringen.
   »Hört mal, Alte, war nicht heute morgen ein fremder Mann hier?«
   Sie seufzte kläglich. »Das geht dich gar nichts an, Kind.«
   »Aha«, rief er, »nun weiß ich schon genug! Gestern abend schlichen auch Leute in den Holzstall und Ihr habt ihnen eine Mahlzeit gebracht. Das geht gegen die Franzosen – man will den Vater und seine Gefährten heraushauen!«
   Er sprang davon. Weder Frau Raß noch Folke Eils konnten ihn halten; wie der Blitz lief er in den Holzraum und atmete tief, als ihm zwei bekannte Gesichter entgegensähen, Baltrumer Fischer, die hier versteckt waren, um morgen in aller Frühe zur Hand zu sein.
   »Abel Voß und Tieze Holtmann!« flüsterte er. »Ach, nun bin ich gesund – ich kann mit von der Partie sein. Erzählt mir alles, Leute!«
   »Sprich nur nicht so laut. Junge. Überall lauern Spione!«
   Und dann berichteten sie flüsternd von dem Plane, den Uve Mensinga und Georg Wessel entworfen hatten. Später kam der letztere selbst hinzu, Onnen erfuhr, daß sein Vater am nächsten Tage erschossen werden solle, aber wie vorher Heye Wessels Sohn, so lebte er sich ganz hinein in den Gedanken einer erfolgreichen Rettung, so berauschte er seine Seele an der Hoffnung auf ein keckes Vorhaben, von dem noch in Ostfriesland die spätesten Zeiten mit Bewunderung sprechen sollten; das bestimmt war, den Franzosen eine derbe Lehre zu geben und in erster Linie des Vaters teures geliebtes Leben vor den Kugeln der Soldaten zu bewahren.
   Georg schüttelte heimlich den Kopf. Auf seine jubelvollen Hoffnungen war ein Reif gefallen und hatte sich nicht wieder bannen lassen.


   7

   Monsieur de Jeannesson stand am Fenster seines Zimmers, regungslos wie ein Steinbild, blaß wie ein solches. Es war noch vollständig Nacht, aber trotzdem lag schon die erste Dämmerung des aufgehenden Tagesgestirnes über der Umgebung – jenes Tages, an welchem sieben Menschen den Tod erleiden sollten, eines Vergehens wegen, das an keinem Orte der zivilisierten Welt den Schuldigen auf das Schafott führt.
   Ein hartes ungerechtes Gesetz, eine Maßregel, die wohl geeignet war, den heimlichen Groll der Insulaner bis zu gewalttätigem Ausbruche zu steigern, ihnen die Rebellion gegen das Übermaß der Bedrückung als einziges Rettungsmittel erscheinen zu lassen – Monsieur de Jeannesson fühlte es, er hatte während der ganzen Nacht nicht geschlafen, sondern war immer unruhig im Zimmer auf– und abgegangen, bald mit einer Eingabe an den Kaiser beschäftigt, bald auf den Hof hinausblickend, wo die Soldaten unter voller Bepackung marschbereit standen und lagen.
   Es wurde allmählich immer heller und heller. Die Umrisse des Schiffes traten aus der Dämmerung hervor, die Bootsmannspfeife erklang, die Wache wechselte und wieder war alles still. Vier Uhr! – Noch zwei Stunden, dann mußte die Exekution stattfinden.
   Hie und da schlich jemand am Badehause vorüber, unverdächtige Gestalten, Frauen und alte Männer, auch selbst Kinder – sie faßten an der damaligen Wassergrenze, der Gegend des heutigen »Alten Deiches« Posto, offenbar in der Absicht, die Verurteilten ein letztes Mal zu sehen, vielleicht ihnen noch ein Wort der Versöhnung, des Friedens zuzurufen, ein Lebewohl auf immer.
   Mehr und mehr erschienen, jung und alt, viele trugen Blumen in den Händen, Liebesgaben für die Gräber der Erschossenen.
   Jetzt blitzte ein voller Sonnenstrahl über das Wasser dahin – der Tag hatte begonnen. Eine Abteilung Soldaten, begleitet von mehreren Unteroffizieren, rückte aus; die Leute trugen teilweise Schaufeln und Brecheisen auf ihren Schultern. Es war an der Stelle, wo heute das Hotel Bellevue steht, ein Holzschuppen für Heu und Stroh aufgerichtet; hinter denselben, also den am Strande Stehenden unsichtbar, verfügten sich die Mannschaften.
   Wieder schlich eine alte Frau vorüber, eine Jammergestalt mit zerfetzten Kleidern und eisgrauem Haar, Aheltje, die Hexe. Man flüsterte, als sie kam, man zog sich eilends vor ihr zurück, als berge die Nähe der armen Alten eine Pestgefahr.
   Aheltje nahm von keinem Menschen die geringste Notiz. An ihrer Krücke ging sie bis zu jener Stelle, wo die Boote ankerten, und blieb da ganz allein stehen, ein Bild des Elends, des äußersten menschlichen Verfalles.
   Aus der Kombüse des Schiffes wirbelte Rauch empor; man bereitete den Gefangenen das letzte Frühstück. Wie verzweifelt sie sich fühlen mochten, wie sie wohl im innersten Herzen den brutalen Siegern fluchten!
   Monsieur de Jeannesson wandte sich ab. Es war schrecklich, Familienväter, arme unwissende Fischer so um eines kleinen Fehltritts willen erschießen zu lassen.
   Kurz nach fünf wurde ihm ein Offizier gemeldet. Der Adjutant des Obersten Jouffrin bat um Verhaltungsmaßregeln den Eingeborenen gegenüber, er berichtete, daß in den Dünen hinter der Schanze gegen siebenhundert Bewaffnete versteckt lägen.
   Der Präfekt nickte. »Ich weiß es. Kein Soldat betritt das Dorf oder den Strand – es bleibt bei dem, was ich angeordnet habe.«
   Der Offizier entfernte sich mit stummem Gruße und wieder trat Monsieur de Jeannesson an das Fenster.
   Auf dem Schiff erklang die Trommel, Matrosen und Soldaten bildeten Spalier, einer nach dem andern stiegen die Gefangenen an Deck hinauf und dann in zwei bereitgehaltene Boote.
   Die Engländer sahen unwillkürlich nach rechts über das Meer. Ob denn ihre Genossen nichts unternahmen, um sie zu retten?
   Blau und sonnenblitzend flutete das Wasser – von den Kriegsschiffen war keine Spur zu entdecken.
   Der Kapitän ging zwischen zwei Stöcken; sein zerschmetterter Fuß erlaubte ihm kein festes Auftreten. Er war sehr blaß, aber vollkommen ruhig, ebenso Heye Wessel – die beiden alten Seeleute hatten dem Tode zu oft und aus nächster Nähe ins Antlitz gesehen, sie fürchteten ihn nicht mehr.
   Irgendwo läutete ein Glöckchen; man hörte die hellen Klänge weithin durch das Flüstern des Windes und das Geräusch der Wellen. Die Verurteilten gingen des Kapitäns wegen sehr langsam, so daß mehrere Minuten verstrichen, bevor sie den Fußpfad am Ufer (das damals noch keinen Deich besaß) erreicht hatten. In diesem Augenblick trennte sich von der Gruppe des harrenden Volkes ein größerer Knabe und lief, so schnell ihn seine Füße trugen, in der Richtung der Schanze davon.
   Monsieur de Jeanriesson sah es. »Er bringt den Bescheid, daß sie kommen«, dachte der wohlwollende Mann. »Ich täuschte mich nicht!«
   Und wieder sah er hinüber zum Strande. Die alte Aheltje hatte sich den beiden vordersten Gefangenen genähert, sie streckte dem Kapitän die Hand entgegen. »Ich wollt‘ Euch danken für alles Gute, das ihr an mir armem Weibe getan, Klaus Visser, und auch Euch, Heye Wessel! – Der liebe Gott hört ebensowohl das Gebet der Armen und Niedrigen als das der Großen dieser Welt – und ich bitte ihn für Eure ewige Ruhe aus Herzensgrund!«
   »Danke, Aheltje«, antwortete der Kapitän. »Grüßt mein armes Weib, Frau!«
   Sie reichten ihr sämtlich die Hand, ungehindert von den französischen Soldaten – Lars Meinders biß die Zähne hörbar zusammen, als er von fern das Dach seiner Hütte schimmern sah – dann wollten sich alle rechts ab dem Wege zur Schanze zuwenden.
   Der begleitende französische Unteroffizier deutete nach dem Holzschuppen hinüber. »Dort!« sagte er einfach.
   Die Gefangenen gingen nur eine kurze Strecke, dann entschwanden sie den Blicken der erstaunten Menge. Ein Mann lief in fliegender Eile dem früher abgeschickten Knaben nach.
   Als der traurige Zug den offenen Strand hinter dem Schuppen erreicht hatte, bot sich den Verurteilten ein Anblick, der ihnen die unwillkürlich aufgetauchten Zweifel sofort wieder rauben mußte. Etwa fünfzig französische Soldaten standen mit geladenen Gewehren in Reih und Glied – hinter ihnen gähnte ein tiefes, frisch ausgeworfenes Grab, groß genug, um in seinem Schoße sieben Menschen Raum zu gewähren.
   Etwas abseits stand der Prediger in voller Amtstracht. Mit ausgestreckten Armen näherte er sich den einem so schrecklichen Tode geweihten Männern.
   Wo heute der neue Kirchhof weiß und öde im Flugsand liegt, da hoben sich zu jener Zeit weite hohe Dünenketten mit Tälern und Schluchten, Erlengebüschen und Strauchwerk verschiedener Art Kopf an Kopf standen auf dem gleitenden unsicheren Boden die harrenden Männer, alle bewaffnet mit Beilen und Messern, mit Gewehren und Pistolen, alle fest entschlossen, womöglich keinen einzigen Franzosen lebend davonkommen zu lassen.
   Uve Mensinga war als Führer von der ganzen Schar stillschweigend anerkannt; Georg Wessel und Onnen Visser hielten sich dicht an seiner Seite.
   Ein großes Boot der Engländer, ein sogenanntes Langboot, lag hinter der Biegung, welche die Insel an der Stelle der heutigen Schiffsbauerei macht. Etwas weiter hinaus, mitten im tiefen Fahrwasser, sah man das Kriegsschiff, den »Nelson«, unter beigedrehtem Steuer leicht schaukelnd im Sommerwind treiben.
   Die Taschenuhren zeigten auf sechs – eine immer wachsende Unruhe bemächtigte sich der Versammelten. Da nahte ein Knabe, er schwenkte den Hut – das war das verabredete Zeichen.
   »Sie kommen!«
   Onnen zitterte. »Georg, Georg, wenn nun jemand unglücklicherweise die Gefangenen träfe! – Ach, laßt uns lieber nicht schießen!«
   »Sei still, Junge, sei still. Mir ist es, als wolle mein Herz aufhören zu schlagen!«
   Der riesige Baltrumer stand auf einem jener schmalen Grate, die Düne von Düne trennen. »Halloh!« rief er, »es kommt noch ein zweiter Bote.«
   »Was bedeutet das?«
   Sie horchten und spähten sämtlich. Außer Atem übersprang ein Mann die niederen Dünenketten, dann stand er mitten zwischen den Verbündeten. »Leute, sie haben die Verurteilten nach der anderen Seite gebracht – links hinaus!«
   »O Himmel«, rief Onnen, »wenn der Präfekt Gnade verkünden wollte!«
   »Was könnte es anders sein? – Ach, welches Glück!«
   »Ruhig!« rief Uve Mensinga und seine Augen blitzten, seine Stimme klang grollend, als ersticke ihn der Zorn. »Wir sind verraten, sie morden unsere —«
   Er wurde auf furchtbare Weise unterbrochen. Durch die helle Morgenluft klang das Geknatter von Schüssen – drei Salven fielen nacheinander, Pulverdampf wallte auf, dann war alles todesstill.
   Als habe die französische Kugel in jedes einzelne Herz ihren verderbenbringenden Weg gefunden, so schwiegen wie erstarrt die Verbündeten. Das Unerwartete, Entsetzliche lähmte jede Vorstellungskraft, jede Zunge.
   Und leise, leise schlug an ihr Ohr ein anderer Klang – das Armesünderglöcklein. Sie hörten es alle, bis der Schall wie ein Traum zu zerrinnen schien. Nun waren die Verurteilten gestorben – tot – nun war alles zu Ende.
   »Georg!« rief Onnen außer sich, »Georg!«
   »Laßt uns offen hingehen!« schrie der Baltrumer. »Laßt uns das Badehaus in Brand stecken und die Kanaillen mit dem Kolben totschlagen!«
   »Und was würden wir dadurch gewinnen, Leute?«
   »Rache wenigstens!«
   Das Boot der Engländer kam heran. Ein paar Soldaten näherten sich den Schiffern. »Habt ihr die Schüsse gehört? – Diese Halunken, diese Mörder – wenn der ›Falke‹ aus Helgoland wieder hier ist, sollen sie ihre Bezahlung erhalten!«
   »Ach, aber dann ist alles zu spät! – Und wir waren unserer Sache so gewiß!«
   »Laßt uns doch nur erst einmal hingehen!«
   Onnen lief voraus. Und wenn ihm keiner der übrigen gefolgt wäre, so würde er ganz allein zu den französischen Soldaten geeilt sein, ganz allein und nur beschäftigt mit einem einzigen Gedanken: »Ist mein armer Vater erschossen worden?«
   Aber sie begleiteten ihn alle; wie ein entfesselter Strom wälzte sich die ganze Masse gegen den Weststrand hinab und über die damals unbebaute Strecke der heutigen Marienstraße.
   Kein Franzose begegnete den Männern, kein Wachtposten war ausgestellt, nur jammernde Frauen und Kinder umstanden noch immer den Platz, wo die Boote anlegten; sie deuteten alle auf den Holzschuppen, hinter welchem der Zug der Gefangenen vor kurzer Zeit verschwunden war.
   Uve Mensinga nickte. »Es ist, wie ich dachte; man hat absichtlich die Schanze als Richtstätte bezeichnet, um uns irre zu leiten und ohne Störung von außen die Blutarbeit zu vollenden. Da kommt jede Einmischung zu spät!«
   »Wollen wir denn nicht erst hingehen?« rief Onnen. »O mein Vater, mein armer Vater!«
   »Laßt uns losschlagen«, riet der Baltrumer. »Immer hundert Franzosen für jeden Gemordeten.«
   »Das wäre mehr als Wahnsinn, Abel Voß! Die Soldaten haben das Haus als Schanze, sie besitzen volle Deckung, während wir ihnen die unbeschützten Stirnen darbieten müßten. Sollen ohne allen Zweck die tapfersten Männer reihenweise fallen?«
   »Und sollen unsere Freunde ganz ungestraft ermordet worden sein?« »Keineswegs!« raunte Uve Mensinga, »keineswegs! Aber laßt vorerst den ›Falken‹ wieder angelangt sein, laßt uns den Beistand der Engländer besitzen, dann wird die Sache anders. Nur Tollköpfe ohne alle Überlegung könnten die Franzosen im Badehause angreifen.«
   Georg Wessel ballte die Faust. »Ich sollte die Leiche meines Vaters da in ungeweihter Erde liegen lassen und nicht einmal erfahren, wo man sie verscharrt hat? Nie und nimmer, so wahr mir der Himmel helfe! Komm, Onnen, gehst du mit?«
   »Natürlich!« rief flammenden Blickes der Knabe. »Vielleicht haben ja die Toten nicht einmal Särge bekommen!«
   Abel Voß lachte wild. »Särge ? – Särge ? – Wie sie gingen und standen, ungewaschen und ohne Leinentuch sind sie verscharrt worden.«
   Auf Onnens Wangen kam und ging die Farbe, eiskalte Schauer durchbebten seinen Körper. »Komm, Georg«, drängte er.
   Uve Mensinga nickte. »Ich wollte eben den gleichen Vorschlag machen, Kameraden. Wir können natürlich die Leichen unserer Freunde nicht in irgendeinem Winkel, über den die Hunde dahinlaufen, unbeachtet liegen lassen, aber das ist für den Augenblick alles. Zu Feindseligkeiten darf es heute nicht kommen.«
   »Aber wenn die Halunken auf uns schießen?« rief der Baltrumer.
   Uve Mensinga lächelte. »Dann kann‘s meinetwegen losgehen, Kinder.«
   »Hoffentlich!« murmelte Georg. »Gott gebe es.«
   Und nun ordnete sich der Zug, um gemessenen Schrittes den Strand hinter dem Heuschuppen zu betreten. Kein Soldat wurde sichtbar, nur zwei schaurige Zeichen der vollstreckten Hinrichtung boten sich den Blicken der Männer – eine große Blutlache und ein frisch aufgeworfener breiter Hügel.
   »Da! da!« rief Onnen. »Ach, mein Vater!«
   »Still, Junge, still! Spare deine Kräfte für den Tag der Vergeltung.«
   Sie nahmen unwillkürlich die Hüte vom Kopf; eine gewaltige Erschütterung ging durch die Seelen aller. Die da noch warm, noch blutend unter dem Boden lagen, waren ihre Freunde und Verwandten, ihre langjährigen Genossen – und an einem Haar, einem einzigen Haar hing noch vor einer Stunde ihre Rettung. Jetzt hatte der Tod den Sieg behalten.
   Einer nach dem andern näherte sich dem Grabe; die Draußenstehenden, Frauen und Kinder drängten nach, irgend jemand brachte Schaufeln und die traurige Arbeit begann.
   Im Badehause deutete Oberst Jouffrin mit der Rechten auf den beständig wachsenden Haufen; ein lauernder, hämischer Blick traf den Präfekten.
   »Bemerken Exzellenz, was da unten vorgeht? Man raubt Leichen, wie mir scheint.«
   Monsieur de Jeannesson nickte kalt. »Ich sehe es, Herr Oberst.«
   »Ah! – und auch das soll hingehen, wenn man fragen darf?«
   »Ich denke ja. Es gibt meines Wissens kein Gesetz, das mich zwingt, die armen Leute auch noch ihrer Toten zu berauben. Mögen sie dieselben in Gottes Namen auf den Kirchhof bringen und dort zur ewigen Ruhe bestatten.«
   »Das heißt doch – uns trotzen, sich widersetzen?«
   Der Präfekt suchte den Blick des ergrimmten Offiziers. »Ich glaube, es heißt nur Mensch sein, Herr Oberst. Durch mich sollen die Leute nicht gestört werden.«
   Der Oberst ging mit hallenden Schritten davon. Monsieur de Jeannesson konnte auch gegen den Besiegten noch Milde und Nachsicht walten lassen, er wurde überall geachtet und geschätzt – dafür haßte er ihn.
   Am Watt und etwas später auch im Dorfe entwickelte sich unterdessen eine lebhafte Szene. Sechs oder acht Männer hoben aus dem kaum zugeworfenen Grabe den Sand, während ebensoviele auf dem kleinen Gottesacker die neue gemeinschaftliche Gruft wieder öffneten. Eine fieberhafte Tätigkeit herrschte auf der ganzen kleinen Insel.
   Gärten oder Gebüsche, wie sie jetzt vor den meisten Häusern befindlich sind, gab es damals zwar nirgends, aber auf den Dünen wuchs, gesät von der gütigen Hand der Natur, manch bescheidenes Blümchen, das sich zum Kranze wohl verwenden ließ, die Dünenrose, die Meerstrand-Männertreu, die Bergnelke, das Veilchen u. a. Nebenbei aber zeigt, wo deutsche Frauen wohnen, jedes Fenster seinen Blumenflor, und diesen plünderten die Norderneyerinnen bis auf die letzte Blüte, um damit das Grab der unglücklichen Opfer zu schmücken.
   Kranz nach Kranz wurde im Fluge gebunden, ganze Körbe voll Blumen herbeigetragen, während die Männer anfingen, vorsichtiger zu graben. Eine Hand ragte aus dem Sande hervor – man hatte das Bett der Toten erreicht.
   Weiße saubere Leintücher wurden ausgebreitet, liebevolle Hände wuschen die Gesichter der kaum Erkalteten. Jedes gab, was es zu geben hatte, Wagen, Bahren, Wäsche, Blumen – ihre Tränen, ihre Gebete alle – alle.
   Särge ließen sich nicht beschaffen, das war unmöglich. Noch einmal gingen in langer Reihe die Insulaner vorüber an den Leichen ihrer Freunde und denen der Engländer, noch einmal berührten sie die über der durchschossenen Brust gefalteten Hände zum letzten Abschied, dann wurde das Leintuch zusammengeschlagen und der imposanteste Leichenzug, den die Insel vorher oder nachher gesehen, nahm seinen Anfang.
   Der Weg von der Gegend des heutigen Hotel Bellevue bis zum Gottesacker im Schatten der Kirche ist ziemlich lang, aber dennoch war er bedeckt mit Blumen. Alle Kinder gingen voraus und bestreuten die Straße, welche der Zug passieren mußte; in den Häusern blieben nur die, deren Schmerz zu groß war, zu schrecklich, um ihn den fremden Blicken preiszugeben – Frau Douwe, das junge Weib des Wattführers und Amke Wessel, die ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckte, um nur nicht den Leichenzug sehen zu müssen.
   Auch ein Mann blieb zurück – Peter Witt, der Verräter. Er kauerte im dunklen Winkel seiner Wohnung und murmelte immer vor sich hin, obgleich ihn niemand hörte.
   An der Pforte des Friedhofes empfing der Geistliche die sieben Leichen. Er hatte diese Männer sterben sehen, er wußte, daß ein schneller sicherer Tod von der Hand der geübtesten Schützen ihren Leiden ein rasches Ziel gesetzt hatte – jetzt leuchtete aus seinem Antlitz eine hohe Freude.
   Er durfte an dem Grabe in geweihter Erde den Segen der christlichen Kirche sprechen, er wußte die besten Bürger seiner Gemeinde nicht länger wie gefallene Tiere an der offenen Heerstraße verscharrt.
   Die Rede, welche er hielt, war ohne Vorbereitung nur aus dem Herzen herausgesprochen, aber sie lockte dennoch Tränen in aller Augen. Des Vaterlandes Schmach und Unglück fühlte jeder einzelne gleich schwer; das Weh dieses Tages durchbebte jede Brust.
   Hochgeschichtet, das ganze Grab ausfüllend, türmten sich die Kränze der Frauen. Um den Hügel standen zunächst die Angehörigen, die vertrautesten Freunde der Verstorbenen, dann im weiten Kreise die Gefährten früherer Tage, die Nachbarn und Berufsgenossen, viele Hunderte, die sämtlich gekommen waren, um den Vielbeweinten, den Opfern der fremden Tyrannei das letzte Geleite zu geben.
   Der Prediger ließ die Kirchtüren öffnen und, nachdem seine Rede beendet war, den Küster die Orgel spielen.
   Hell und tröstlich klang es über den Gottesacker dahin, erst leise, dann immer stärker, gewaltiger erschallend:
   »O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen,
   Durch den Tod seid ihr zu Gott gekommen!
   Ihr seid entgangen jeder Not,
   Die uns noch hält gefangen!«
   So manche Stimme brach im Schluchzen. »Die uns noch hält gefangen!« – Das war in wenigen Worten das Schicksal des gesamten Vaterlandes. Französische Soldaten spielten die Gebieter in jedem Hause, französische Kanonen beherrschten den Strand, der für das genügsame Völkchen der Insulaner doch täglich den Tisch decken sollte. Sie beteten im Herzen alle, die da sangen, von Tränen unterbrochen, von dem Gedanken an die Gefahren der Zukunft tief gebeugt.
   Und dann kam am frischen Grabe der Abschied. Diese da, die Toten, sollten gerächt werden, so gewiß die Sonne hell vom Himmel herabschien.
   »Wenn der ›Falke‹ vor Baltrum Anker wirft, komme ich und bringe euch Botschaft«, sagte Abel Voß.
   Uve Mensinga nickte. »Er wird uns mit den nötigen Langbooten, mit Kanonen und Munition versehen! Sei still, Onnen, mein Junge, weine nicht, die Franzosen sollen für ihre Untat volle Zahlung leisten!«
   »Und ihr nehmt mich ganz gewiß mit euch, Mensinga? Ihr verlangt nicht, daß ich untätig zu Hause sitze, während ihr kämpft?«
   »Da hast du meine Hand, Junge. Die Rache kommt bald.« Sie trennten sich; die Fremden verließen Norderney und die übrigen kehrten in ihre Häuser zurück, Onnen und Georg Wessel erst dann, als sie einander geschworen hatten, zusammen im Kampfe gegen den Todfeind in der vordersten Reihe zu stehen.
   Dem Knaben graute es vor der verödeten Heimat. Die alte Mutter, sonst so rüstig und mutig den Fährnissen des Lebens gegenüber – jetzt war sie gebrochen. Seit jener Stunde, wo ihr der dem Tode geweihte Mann den Ring in die Hand legte, seit jener furchtbaren Stunde war ihr Haar weiß wie Silber.
   Onnen traf sie nicht allein. Die Tante aus Hilgenriedersiel war auf die Schreckenskunde der Gefangennehmung hin nach Norderney geeilt, um womöglich ihren lieben alten Bruder noch einmal zu sehen – aber vergebens. Als sie kam, fielen gerade jene Salven, welche auch seinem Leben ein Ziel setzten; sie konnte nur mit der hart betroffenen Witwe bitterlich weinen, ihres eigenen und des fremden Leides wegen.
   Onnen streckte ihr stumm die Hand entgegen, er brachte kein Wort hervor. Jetzt erst, nun er wieder zu Hause war, in der altgewohnten Umgebung, jetzt erst fühlte er die ganze Schwere des erlittenen Verlustes.
   Onkel Hansen saß noch immer für seinen geflüchteten Sohn im Gefängnis, es kamen des Krieges wegen nur wenig Badegäste, die Schmugglerfahrten waren gänzlich zu Ende und so hielt neben allem übrigen, je länger, desto mehr, auch die bleiche Sorge ihren Einzug in solche Häuser, wo sonst Überfluß herrschte. Frau Antje weinte ihre bitteren Tränen; sie und Jurtke mußten spinnen oder stricken, um nur den Kindern das trockne Brot geben zu können. Es war ein trauriger Abend, den die kleine Familie miteinander verbrachte – und dennoch sollten ihm viel, viel traurigere folgen.
   Kurz nach der vollstreckten Hinrichtung kam eines Tages ein Brief von dem Maire in Norden. Das große amtliche Siegel schien Schlimmes zu verkünden – Frau Douwe zitterte, als sie es erbrach und den Inhalt des Schreibens las.
   Auf Befehl des Kaisers waren sämtliche Güter der Erschossenen dem Fiskus verfallen.
   Die unglückliche Frau verstand nicht gleich, was sie sah, erst das mitleidige Gesicht des Nordener Amtsdieners ließ sie das neue Schrecknis erkennen. Also ausgeplündert – das war es.
   Onnen schrie laut auf. Des Vaters Dreimaster in Bremerhaven, die »Taube«, das Haus – alles. Jetzt war seine Mutter arm wie Aheltje, die Hexe draußen in den Dünen.
   Ein Verzeichnis des ganzen Nachlasses mußte am nächstfolgenden Tage dem Maire eingeliefert und die Sachen zur Verfügung gestellt werden. Wie es den Witwen und Waisen der Gemordeten erging, das kümmerte ja die Franzosen nicht.
   Uve Mensinga kam selben Abends in das Haus der Witwe. »Frau Visser«, sagte er, »Ihr gebt doch das bare Geld nicht heraus? – Laßt mich den Schatz verwahren, sonst nehmen die Schufte Euch das letzte Stück Brot. Und du, Onnen«, fuhr er fort, »geh mit mir, ich will dich auf meine Schaluppe nehmen und als Gehilfen beim Fischfang behalten, bis wir andere Zeiten bekommen. Du mußt jetzt für deine Mutter sorgen, Junge!«
   Der ehrliche Mann und treue Freund ließ den Worten die Tat folgen. Alles Geld aus dem Schranke des Kapitäns wurde versteckt, die nötigsten Einrichtungsstücke in verschwiegener Nacht hinübergetragen zum Hause des Wattführers und endlich Frau Douwe, die ganz gebrochene, trostlose, von dem Weibe desselben, der alten braven Trientje Mensinga, mit offenen Armen empfangen. Die beiden Leute hatten keine Kinder – jetzt nahmen sie Onnen auf wie einen geliebten eigenen Sohn und gaben auch aus der Fülle ihrer freundlichen Nächstenliebe der unglücklichen Mutter des Knaben eine sichere, trauliche Heimstätte; selbst Folke Eils konnte täglich mitessen von dem, was der Wattführer als solcher oder als Fischer verdiente.
   Dazwischen rasselte wieder die Trommel. Nur eine ganz kurze Proklamation wurde verlesen, aber sehr inhaltsschwere Worte. »Wer die Hand an einen französischen Soldaten legt, wer sich gegen einen solchen selbst zu verteidigen oder Recht zu verschaffen sucht, soll erschossen werden.«
   Das galt als Warnung; die Norderneyer verstanden es sehr wohl, aber sie lachten dazu. Wenn der »Falke« einlief, so durchlöcherten ihre Kugeln höchstwahrscheinlich mehr als nur diesen Tagesbefehl.
   Onnen wäre in der Schreckenszeit, welche er jetzt durchlebte, vor Qual und Gram gestorben, wenn ihn nicht der Haß gegen den Todfeind, die Hoffnung auf Wiedervergeltung immer noch aufrecht gehalten hätten. Eine Niederlage sollten die Franzosen erleiden und ob Ströme Blutes fließen mußten, eine Niederlage, die ihren Hochmut, ihre trotzige Selbstüberschätzung empfindlich züchtigte.
   Aus Hamburg kamen damals nach Norderney von den wenigen Badegästen Mitteilungen, welche den herrschenden Groll bis zum äußersten steigerten. Dort waren Schmuggler und solche, die sich nicht von den Zollbeamten in jeder Weise belästigen lassen wollten, ohne Urteil oder Verhör auf dem Heiligengeistfelde standrechtlich erschossen worden, zuweilen sechs und zehn an einem Tage; die Räubereien und Erpressungen der Franzosen hatten weder das öffentliche, noch das Privateigentum verschont.
   Uve Mensinga nickte. »Laßt sie nur, Kinder, laßt sie nur. Je eher das Maß ihrer Schuld gefüllt ist, desto früher kommt jener eine Tropfen, welcher es überfließen läßt. Wir können warten.«
   Als das Haus des erschossenen Kapitäns und seine Schaluppe unter den Hammer gebracht wurden, da hatten die Franzosen den Amtsschreiber umsonst nach Norderney bestellt und ebenso umsonst ihre Bekanntmachungen an alle Mauern geklebt; weder auf diesen Besitz, noch auf den der übrigen Gemordeten erfolgte irgendein Angebot. Die Insulaner nahmen von der ganzen Sache nicht die allermindeste Notiz, heimlich aber freuten sie sich des Ärgers, den die Franzosen ertragen mußten.
   Am Abend desselben Tages flüsterte Uve Mensinga in Onnens Ohr: »Du, der ›Falke‹ ist da. Er bringt wenigstens zwanzig Langboote!«
   »Gott sei gepriesen! – So kommt endlich die Stunde der Rache!« Der Wattführer schüttelte den Kopf. »Nicht der Rache«, sagte er sehr ernst. »Da mußt du unterscheiden lernen, mein Junge. Wer sich rächt, der will den erlittenen Schaden auf einen andern übertragen, der handelt boshaft – wir dagegen nehmen in offener Fehde gegen die Franzosen den einmal verlorenen Kampf wieder auf, wir hoffen sie in ehrlicher Schlacht zu besiegen und ihnen zu zeigen, daß sie feige Schandtaten begingen, indem ihre Kugeln wehrlose Männer töteten. Es ist gegenwärtig Krieg, das sollen die Übermütigen fühlen.«
   Onnen nickte. »Soviel ich dabei in Betracht komme, gewiß. Wir werden ihnen eine Niederlage bereiten – das walte Gott.«


   8

   Drei englische Kriegsschiffe lagen unweit Norderney vor Anker, der »Falke«, der »Nelson« und der »Wellington«. Die Stimmung der Soldaten war eine sehr gereizte; sie hatten bisher gehofft, noch rechtzeitig genug zu erscheinen, um ihre gefangenen Landsleute aus den Händen der Franzosen befreien zu können, jetzt aber, als die Kunde des Geschehenen sie erreichte, drängte alles zum Kampfe, zum blutigen Waffentanz, in dem der kecke Gegner wie bei Trafalgar erfahren sollte, daß es noch Mächte gab, welche seiner unerhörten Willkür Schranken ziehen konnten.
   Uve Mensinga und der Befehlshaber des »Falken«, Kapitän Sounders, standen in ununterbrochenem Verkehr. Es wurde ein Plan verabredet, der nur langsam seiner Vollendung entgegenreifte, dafür aber auch sicheres Gelingen versprach – die Franzosen mußten sich allmählich als Herren der Lage betrachten lernen, mußten jeden Gedanken an einen Handstreich der Eingeborenen aufgeben und in ihrer Wachsamkeit erlahmen; so allein konnte man sie fangen.
   Keine Schaluppe, kein Boot lief mehr aus, ohne ein paar französische Soldaten an Bord zu haben, keine Forderung des nimmersatten Obersten stieß auf Widerstand; überall begegneten scheue Blicke oder eiliges Ausweichen den Machthabern – sie begannen bereits zu triumphieren und sich den gewohnten Einflüsterungen ihrer Eitelkeit recht behaglich hinzugeben. Die Insulaner hatten jetzt die Peitsche gefühlt, sie küßten willig die Hände, von denen der Streich kam – das zu denken war so sehr angenehm. Vom Obersten bis zum Gemeinen ließ sich‘s jeder einzelne angelegen sein, nach Möglichkeit die Fischer zu brandschatzen und, während diese oft kaum einen Bissen Brot besaßen, selbst im Wohlleben zu schwelgen. Es war ja im Dorfe alles todesstill, kein Gedanke erhob sich gegen die Tyrannen, niemand gab ihnen Gesetze oder leistete Widerstand; stolz wie die Pfauen gingen sie einher. »Le jour de gloire est arrivé.« Jeder Offizier und jeder Soldat fühlte sich in seinem Übermut durch das veränderte Benehmen der Einwohner auf das angenehmste geschmeichelt, jeder trug die Nase so hoch wie möglich und dachte je länger, desto mehr an das Vergnügen, den Genuß des Lebens in jeglicher Gestalt. Die Offiziere verbrachten ihre Zeit fast gänzlich auf dem Festlande, die Soldaten spielten und rauchten – es war ja ringsumher alles ruhig wie im tiefsten Frieden.
   Unter der äußeren Hülle glühte das Feuer. Uve Mensinga war viel in Norden, er hatte dort die ausgedehntesten Bekanntschaften und brauchte sie alle, um seinen Plan zur Ausführung zu bringen. Es kam ein Abend, wo gleichsam zufällig ein großer Ball gegeben wurde, während anderseits der Jahrmarkt mit seinen lustigen Possen und verlockenden Schaubuden das Volk aus allen umliegenden Dörfern herbeizog, ebenso die Soldaten, welche mit den Bauernmädchen tanzten und die geräucherten Aale verspeisten, als sei dieser volkstümliche Leckerbissen für sie etwas ganz Gewohntes. Der Branntwein war außergewöhnlich billig, er wurde an jeder Straßenecke feilgeboten, ja, die Franzosen erhielten ihn sogar, wenn es ihnen an Geld fehlte, ganz umsonst, kein Wunder also, daß die Heiterkeit schon am Nachmittag in ein wüstes Toben überging. Der ganze große Platz vor dem Dome von St. Ludger war mit Verkaufs– und Schaubuden angefüllt, unter den Doppelreihen uralter Bäume wogte eine lebensfrohe Menge, Musik erschallte überall, Bajazzo hatte sich sogar aus Gefälligkeit gegen die fremden Gäste bis zu französischen Witzen verstiegen und selbst der Schankwirt mit seiner Karre rief, die Flasche hoch empor haltend, immer einmal über das andere: »Voulez-vous, Kinners? Langt man to! toujours hierher! toujours hierher, ji Deubelstüg, fix watt up‘t Fell schöllt ji hemmen!«
   Die Soldaten nahmen das ihnen Unverständliche für eine liebenswürdige Schmeichelei, sie tranken und tranken, bis alle Überlegung auf den Fluten des Branntweins davontrieb und Uve Mensinga ganz ohne Hehl dem Wirte ein: »Ich danke dir, Landsmann, du machst deine Sache gut!« lächelnd zuflüstern konnte.
   Und der andre nickte. »Zur Rache für unsere Gemordeten!« gab er zurück. »Geht‘s los heute abend?«
   Der Wattführer nickte. »Heute abend!« bestätigte er. »Gott und gute Freunde mögen uns den Sieg geben.«
   Die Violine kreischte und der Baß brummte; Hanswurst balgte sich mit dem Teufel und mehreren Bären zugleich – langsam ging Uve Mensinga durch das Getümmel, hier einen Blick tauschend, dort einen Händedruck oder ein Flüsterwort, bis er in eine Nebenstraße gelangte wo Wagen an Wagen den Weg versperrte. Hierher kamen die Offiziere, es war für alles gesorgt; der »Tanz« konnte losgehen. So rasch es ihm möglich war, eilte der Wattführer nach Norderney zurück.
   Man befand sich in den letzten Tagen des Monats Mai; der Frühling ging über in den Sommer, eine milde, warme Luft wehte zwischen den Dünen, tausend und abertausend kleine zierliche Blüten bedeckten den Boden. Uve Mensinga seufzte. Seit Anfang April waren die Franzosen eingerückt – und wieviel bitteres Leid hatten sie während dieser wenigen Wochen über die Insel und ihre friedlichen Bewohner gebracht!
   Das große Grab im Schatten der Kirche sprach beredter als alle Worte; die verödeten Häuser des Kapitäns und der Familie Wessel gaben Zeugnis von der brutalen Gewalt, mit welcher Napoleons Söldlinge alles an sich rissen, was unter irgendeinem Vorwande geraubt werden konnte. Jedes Einrichtungsstück aus beiden Haushaltungen wie aus der des erschossenen Wattführers wanderte entweder in die Kaserne oder nach Norden, um unter der Hand verkauft zu werden; die Wohnungen standen leer, weil niemand darauf bot.
   Nach und nach zerschlugen die Franzosen im Ärger die Scheiben und die Türen, Regen und Wind fegten hindurch, Sperlinge bauten in den öden Räumen ihre Nester – dann kümmerte sich keine Seele mehr um das Hab und Gut der gemordeten Männer.
   Nur die heimlich Verschworenen wurden täglich neu durch den Anblick der geschändeten Stätten an ihren Schwur erinnert – heute abend sollte er ausgeführt werden.
   Der Wattführer, Georg Wessel und Onnen standen miteinander auf der jetzigen Georgshöhe neben dem schwarzen Kap. Blau und silbern schimmerte das Wasser, Möwen schossen in eiligem Fluge darüber hin; es war ein wundervoller Abend, dessen stiller Friede das Herz unwillkürlich zu ergreifen schien – und dennoch flammte Kampfbegier aus den Blicken der drei Männer, dennoch suchten ihre Augen in der abendlichen Umgebung nur einen einzigen Gegenstand, die dunklen Umrisse des »Falken«, der ganz nahe an die Küste herangekommen war und dem sie jetzt ein Zeichen zu geben beabsichtigten.
   »Laßt mich hinaufsteigen, Mensinga«, sagte Onnen. »Ich bin oft oben gewesen.«
   Der Wattführer reichte ihm eine Laterne mit roten Gläsern. »Du mußt sie nun im ausgestreckten Arm so lange festhalten, bis ich dich rufe«, ermahnte er.
   Onnen kletterte wie eine Katze an dem Holzgerüst empor, während Uve Mensinga und Georg das englische Schiff beobachteten. Nur wenige Minuten vergingen, dann glühte die rote Laterne auf dem Topp des »Falken« als Antwort für die, welche Onnen emporhielt. Ebenso schnell, wie sie erschienen war, verschwand sie auch wieder.
   »Alles gut!« rief Georg. »Hurra, unsere Freunde sind an Bord – sie kommen, sie kommen – wir werden in dieser Nacht den Franzosen heimzahlen, was sie uns Bitteres, Schreckliches zugefügt haben!«
   Er sprang den steilen Weg voraus, Onnen und der Wattführer folgten ihm nach, dann bestiegen alle drei ein bereitgehaltenes Boot, und während die Finsternis tiefer und tiefer herabsank, glitt das weiße Segel über die Wellen, einer Gruppe von Fahrzeugen entgegen, die miteinander eine förmliche kleine Flotte bildeten.
   Es waren dies die gefürchteten Langboote der Engländer, schnelle Segler, schlank gebaut und jedes mit zwei Geschützen versehen, elf an der Zahl. Die Kriegsschiffe hatten für den geplanten Handstreich, an dem sie selbst ihres Tiefganges wegen nicht teilnehmen konnten, alle vorhandenen Langboote bemannt und reichlich mit Waffen und Schießbedarf versehen; dann aber stellten auch die Insulaner wenigstens zwanzig Schaluppen und Segelboote, in denen die Männer von Norderney, Baltrum, Juist und Borkum mit vor Ungeduld schlagenden Herzen der Dinge harrten, die da kommen würden.
   Wie Glühwürmer blitzten halbverdeckt auf allen diesen Fahrzeugen die Laternen, leise Zurufe und Fragen begrüßten die Kommenden, endlich setzte sich die ganze Flotte in Bewegung, um das Ostende der Insel zu umschiffen und so in die Nähe der französischen Kanonenboote zu gelangen.
   Seit Erbauung der Schanze mit ihren weittragenden Geschützen war ja der Schmuggelhandel zum Festlande hinüber gelähmt; die Kanonenboote kamen daher aus Scheu vor den englischen Kriegsschiffen nie mehr in das offene Fahrwasser hinaus, sondern lagen auf der Reede, während die Besatzung sich‘s wohl sein ließ, soviel Ort und Zeit es erlaubten.
   An diesem Tage war nur die Hälfte der Mannschaft zugegen. Unter vollen Segeln steuerte die kleine Flotte, über dreißig Fahrzeuge stark, um die äußerste Landspitze der Insel herum und in vorsichtiger Entfernung an der Schanze vorüber. Auf Norderney waren alle Lichter erloschen, tiefe Dunkelheit umgab das Meer und die Ufer – geräuschlos näherten sich die Engländer mit ihren Verbündeten den in träger Ruhe vor Anker liegenden französischen Kanonenbooten.
   Die Leute vom »Falken«, die Kameraden der erschossenen Soldaten, wollten unter jeder Bedingung das Schiff, auf welchem man jene gefangengehalten hatte, mit dem Säbel in der Faust entern; auch die Eingeborenen dachten mehr an eine Überrumpelung der »Hortense« als der beiden anderen Schiffe. Der Gedanke an die gemordeten Freunde drängte in diesem Augenblick jeden anderen in den Hintergrund.
   Onnen war bleich wie ein Toter, sein Auge glühte. Die erste Schlacht, welche er mitmachen würde, sollte gerade jetzt beginnen – Kapitän Sounders ließ schon die Langboote ausschwärmen, um mit ihren verheerenden Geschützen den Feind von allen vier Seiten zugleich anzugreifen; leise gingen von Mund zu Mund die Kommandoworte, unhörbar trennten sich von den übrigen zwei Boote und glitten vorsichtig, wie schleichende Indianer auf dem Kriegspfade, zwischen die Franzosen und das Ufer.
   Vier kleine Ruderboote, welche dort lagen, wurden von den Ketten gelöst und trieben in der Dunkelheit weg. Die Verbindung zwischen dem Lande und den Schiffen war hierdurch vollständig abgeschnitten.
   Die Franzosen hatten immer noch nichts bemerkt.
   Kapitän Sounders lächelte verächtlich. »Das kann nur der grande nation passieren«, sagte er. »Solchen elenden Sicherheitsdienst hat kein anderes Volk.«
   »An Bord der ›Hortense‹ wird gesungen oder gespielt«, flüsterte Georg. »Horch! Da war es eben wieder!«
   Uve Mensinga nickte. »Es ist eine Gitarre!« bestätigte er. »Hübsche Mannszucht bei den guten Leuten!«
   »Die Offiziere sind sämtlich in Norden, der Sold soll schon seit Monaten rückständig sein – da glauben sie eben nicht sonderlich viele Verpflichtungen zu haben.«
   »Nun, denke ich, können wir die Unterhaltung eröffnen!« sagte der Kapitän. »Aber glaubt nicht, daß sie um Gnade bitten werden, Kinder! – Der da jetzt die Laute schlägt, weiß ohne Zweifel den Degen und die Pistolen ebenso sicher zu handhaben!«
   Und dann befahl er mit lauter Stimme: »Feuer!« Zweiundzwanzig Geschütze öffneten ihre todbringenden Schlünde; ein Donner, der die Erde erzittern ließ, rollte langhallend dahin über das Watt, Pulverdampf umhüllte Freund und Feind, Pulverblitze erhellten weithin die Nacht. – Und hinein in das Toben, in das Brüllen und Krachen mischten sich, endlich vom Zwange erlöst, die Stimmen der Eingeborenen. Aller Groll und aller Gram, alle Verzweiflung wurde laut herausgeschrien aus übervoller, gepreßter Brust, aller Haß glühte lodernd auf in dem Jubelruf aus Hunderten von Kehlen.
   »Auf sie! Auf sie!«
   Jäh abgerissen endete die Melodie des Gitarrespielers, dem das Geschoß bedenklich nahe am Kopfe vorüberflog, er taumelte, er schrie: »Jesus Maria!« und stürmte dann wie elektrisiert in die Batterie, um seine Genossen zu versammeln, um die glatte Lage der englischen Geschütze mit gleichem Gruße zu erwidern.
   Auf allen drei Schiffen wurde es lebendig. Halb angekleidet, führerlos, aufs äußerste erschreckt, liefen die Soldaten durcheinander, Kommandoworte erschallten, das Schmerzensgeschrei Sterbender erfüllte die Luft, einzelne Gewehrschüsse wurden zwecklos abgefeuert, Flüche und Geschrei erklangen überall.
   Inzwischen hatten die Langboote, dem Steuer gehorchend wie ein gut geschulter Renner dem Zungenschlag seines Reiters, ein prächtiges Segelmanöver ausgeführt, sie waren gewendet worden und gaben jetzt die zweite Salve. Überall zerrissen die Vierundzwanzigpfünder das Takelwerk und die Schanzkleidung der Franzosen, allein jetzt waren auch diese zur Besinnung gekommen. Die Ankerketten rasselten dröhnend empor, eine volle Ladung spie ihre eisernen Grüße über das Geschwader der Verbündeten dahin. Zwei Schaluppen verloren den Mast, ein Borkumer Fischer rief mit ersterbender Stimme noch einmal sein »Hurra für Ostfriesland!« – dann taumelte er und stürzte über Bord, um unter den Wellen zu verschwinden.
   Das erste Opfer war gefallen.
   »Vive la France!« schallte es von drüben. »Vive l‘empereur!« Auch am Lande hatten die Kanonen alles Lebende aus dem Schlaf erweckt. Im Laufschritt kam das Bataillon des Obersten an den Strand, ein Hagel von Büchsenkugeln schlug schon aus weiter Entfernung in die Reihen der Deutschen und Engländer, hie und da einen tapferen Mann und guten Patrioten aus der Mitte seiner Freunde reißend, meistens aber unschädlich zerstäubend im Wasser, das schaumbedeckt, weiß und unruhig die Kiele der Langboote umflutete.
   Ein Hurra der Verbündeten antwortete den Landtruppen. Sie hatten keine Fahrzeuge, um herankommen zu können – ihrer brauchte man nicht sonderlich zu achten.
   Immer neue Breitseiten, immer neues Kleingewehrfeuer zerriß die Luft. Arg zugerichtet versuchte es die »Marion«, die Linie der Langboote zu durchbrechen und an das Ufer zu gelangen, höchstwahrscheinlich, um eine Verbindung mit den dort aufgestellten Soldaten zu ermöglichen, aber Kapitän Sounders durchschaute sogleich den Plan, er gab mit lauter Stimme den Befehl zum Entern.
   Und nun entwickelte sich eine Szene voll schrecklicher, erbitterter Einzelkämpfe, nun kam es zum Handgemenge, wobei die Franzosen heldenmütig fochten, aber bei aller Tapferkeit dennoch den kürzern zogen. Das Geschütz der »Marion« konnte den Angreifern keinen wirksamen Widerstand entgegensetzen, weil alle Kugeln über die nahe unter dem Bug dahingleitenden Boote weg ins Wasser fielen, während Beile und Enterhaken, von kräftigen Armen geschwungen, das Schiff auf allen Seiten zugleich belagerten.
   Oberst Jouffrin stellte seine Soldaten so auf, daß sich das Feuer ihrer Gewehre gegen die enternden Insulaner kehrte, aber obwohl viele derselben den Tod fanden, blieb doch der Sieg auf ihrer Seite. Jede Salve rief ein höhnisches »Hurra!« hervor, in jede Lücke traten sogleich neue Kräfte und nach einem Kampfe von höchstens zehn Minuten war die »Marion« in den Händen der Deutschen. Das Verdeck triefte von Blut, Tote und Verwundete lagen umher, schrecklich mischte sich in das Ächzen der Sterbenden die Siegesfreude mit ihrem lauten jubelvollen Hurra, das brausende, donnernde: »Ostfriesland für immer!«
   Die Besatzung der »Marion« flüchtete vor dem Andrängen dieser entschlossenen, in ihrem langgenährten und gerechten Groll erbarmungslosen Widersacher, wohin es eben ging, in die unteren Räume des Schiffes, hinüber auf die »Hortense« oder gar in das schäumende Meer, überallhin verfolgt von den Feinden, überall entdeckt und hervorgezogen, um gefangen mit gebundenen Händen in die Schaluppen geworfen zu werden.
   »Bedankt euch, Kerle!« rief der riesige Borkumer, »bedankt euch, daß wir nicht solche Bestien sind wie euer Kaiser, der unsere braven Männer wie Hunde niederschießen ließ! – wir lassen euch wenigstens leben!«
   Und dabei schnürte er einem nach dem andern die Hände auf den Rücken und warf sie wie ebensoviele Bündel in die Schaluppen hinab.
   Die Geschütze der »Marion« wurden wieder geladen, diesmal aber spien sie ihren Inhalt den Landtruppen entgegen und verhinderten so das weitere Feuer derselben. Von dem prasselnden Kugelregen vertrieben, zog sich der Oberst tiefer in das Dorf zurück und erleichterte auf diese Weise den Insulanern das Vordringen gegen die »Hortense« und den »Empereur«, welche Seite an Seite der Übermacht einen verzweifelten Widerstand entgegensetzten.
   Kapitän Sounders gab von dem vordersten Langboot aus, kaltblütig im Kugelregen stehend, seine Befehle. Neben ihm kämpften Georg und Uve Mensinga, während sich Onnen unter den Enterern befand.
   Die französischen Geschütze schwiegen gänzlich; jeder Mann focht mit Gewehr und Säbel, mit dem ersten besten Messer oder Holzstück, das er finden konnte. Brust an Brust, Auge in Auge wurde hier ein Vorspiel von dem geliefert, was später in den heißen Schlachten auf französischem Boden zum siegreichen Ziel führte, der Kampf des niedergetretenen deutschen Nationalgefühls gegen die schmachvolle Fremdherrschaft.
   Ein Keil von Langbooten schob sich zwischen die beiden französischen Schiffe und drängte sie auseinander. Jetzt war die »Hortense« verloren – mit dröhnendem Hurra bemächtigten sich Briten und Insulaner des schwimmenden Gefängnisses, in welchem sieben brave Männer ihre letzten Tage in trostloser Einsamkeit verbracht hatten. Über Bord mit den Franzosen, über Bord mit allem, was sich widersetzt – nie wieder soll von diesen Planken ein französischer Kommandoruf erschallen – nie wieder!
   Kapitän Sounders ließ im Toben des erbitterten Kampfes die englische Flagge am Hauptmast aufziehen. Mit vom Pulverdampf geschwärzten Gesichtern umstanden ihn die Getreuen – auch der »Empereur« war gefallen, aber doch mischte sich bei den Eingeborenen selbst in den lebhaftesten Siegesjubel eine tiefe Wehmut; es lag auf der Freude des Errungenen ein Schatten, der sich nicht bannen ließ.
   »Hätten wir so die Schiffe erobern können, als es für unsere armen gemordeten Freunde noch früh genug war!«
   »Gott wollte es anders!« seufzte Uve Mensinga, dem ein Kolbenschlag die Schulter getroffen hatte, daß der linke Arm wie leblos herabhing. »Aber wenigstens sind sie gerächt!«
   »Auf!« rief Georg Wessel. »Auf! Laßt uns auch auf der Insel reinen Tisch machen! Wir wollen die paar Soldaten niedermetzeln oder mindestens gefangennehmen.«
   »Auf! Auf!« rief auch Onnen.
   Aber der Kapitän vom »Falken« schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich, Kinder, es wäre ein vollkommen nutzloses Blutvergießen. Drei stattliche Kriegsschiffe sind übrigens auch genug der Beute für ein einziges Treffen!«
   Er sah befriedigt nach allen Seiten. In Fetzen trieben die französischen Flaggen blutgetränkt und von Kugeln durchlöchert auf dem Wasser; an ihrer Stelle flatterten Englands Farben lustig im Morgenwind. Die ersten Sonnenstrahlen schossen herauf, rötliche Lichter huschten über Meer und Land – sie beleuchteten ein Bild der Verwüstung.
   Mehrere Schaluppen waren beschäftigt, überall die Verwundeten und Toten zusammenzulesen; der Arzt des »Falken« verband die schwersten Blessuren, Freundesworte trösteten diejenigen, welche im letzten irdischen Ringen die Augen schon halb geschlossen hielten; überall wurde nach dem Streit der verflossenen Stunden gesäubert, ausgebessert, geholfen und geschlichtet, soviel nur möglich war.
   Die Langboote hielten dabei getreulich Wacht. Ihre toddrohenden Kanonenmündungen gegen das Ufer gekehrt, verhinderten sie die Landtruppen, irgendwelche neuen Feindseligkeiten zu beginnen. Kein Franzose schien mehr zu entdecken zu sein, und als auf den Schiffen alles Notwendige geordnet war, konnte die ganze kleine Flotte zum »Falken« zurückkehren, um dort die Verwundeten im Lazarett unterzubringen und ihnen jede mögliche Hilfe angedeihen zu lassen.
   Arg verändert war der Zustand der Dinge aber doch. Zwei Schaluppen hatte man auf der Reede als gesunken zurücklassen müssen – viele treue Freunde deckte das Meer mit seinen blauen Fluten zum ewigen Schlafe.
   Es ging diesmal, der Schanze und ihrer Kanonen wegen, um den Kopf der Insel herum, in das offene Meer hinaus; unter dem goldigen Schimmer des jungen Tages wurden die drei französischen Schiffe als Kriegsbeute im Schlepptau der Langboote entführt, und wo am Ufer ein Mensch das Schauspiel mit ansah, da tönte Frohlocken und lauter Jubel. Auf den Spitzen der Dünen standen Frauen und Kinder; sie streckten die Arme aus, sie schwenkten Hüte und Tücher, sie riefen Hurra, als die französischen Kanonenboote in Sicht kamen.
   Und doch wußte jedes einzelne, daß der erfochtene Sieg im großen ganzen ohne Folgen sei, ja, daß jedenfalls die französische Rachsucht den Norderneyern gegenüber nur neue Qualen ersinnen, neue Erpressungen vornehmen werde, aber für den Augenblick war doch das Bedürfnis gestillt, der Feind, dessen Grausamkeit seit Jahren das Land bedrückte, war gedemütigt, besiegt, er hatte die Macht des Stärkeren kennengelernt und auch das erfüllte die Herzen mit hoher Freude.
   Unter der heutigen Georgshöhe begegneten die englischen Kriegsschiffe in ziemlicher Entfernung vom Lande der siegreichen Flotte. Drei mächtige langhallende Cheers begrüßten die Kameraden; man brachte in mehreren Booten die Leichen der gefallenen Franzosen an Land, um sie von ihren eigenen Genossen begraben zu lassen, und dann wurden Gefangene und Freunde auf die Schiffe überführt. Für jetzt schien es den Norderneyern nicht geraten, in ihre Häuser zurückzukehren – die Wut der Soldaten hätte ihnen übel mitspielen können.
   Kapitän Sounders landete alle Insulaner, soweit sie nicht der ärztlichen Hilfe bedürftig waren, auf Baltrum, und dann ging es hinaus in die wogende See, an Langeroog, Spikeroog und Cuxhaven vorüber nach Helgoland, um im Triumphe die genommenen französischen Schiffe dem Oberbefehlshaber der englischen Flotte zu überliefern.
   Bei der Witwe des erschossenen Wattführers Andreas Fokke verbrachten die Norderneyer den Tag, um dann im Dunkel des nächsten Abends ihre Heimat wieder zu erreichen. Es waren zusammen etwa vierzig Männer – sechs von ihnen hatte der Tod aus der Mitte der übrigen gerissen, mehrere Verwundete befanden sich auf dem »Falken« und noch andere wollten bis zur Beendigung des Krieges nicht wieder in das Vaterland zurückkehren, sondern zogen es vor, lieber unter englischem Schutze in die weite Welt hinauszugehen.
   Onnen und Georg waren eifrig bemüht, Uve Mensingas angeschwollene Schulter mit nassen Tüchern zu kühlen und dann sich selbst von den Spuren des nächtlichen Kampfes zu befreien. Sie hatten beide keine Verletzung erlitten, die Furie der Schlacht war gnädig an ihnen vorübergegangen, aber ihre Gesichter zeigten die tiefe Erregung, welche derartigen Stunden unausbleiblich folgen muß – sie waren sehr blaß.
   Die kränkliche Frau Fokke bediente an diesem Tage ihre Gäste eigenhändig, sie nahm auch für das Genossene keinerlei Zahlung, sondern bat nur die jungen Leute, einen Kranz aus selbstgezogenen Zimmerblumen auf das Grab ihres Mannes zu legen. Baltrum, die »Sandschüssel«, hat keine wildwachsenden Blüten, es gibt außer dem langhalmigen Dünengras nichts, was dort wüchse, um es für die letzten Ruhestätten geliebter Toten zum Kranze zu winden.
   Am Abend fuhren eine Anzahl Schaluppen nach Norderney hinüber, diesmal ganz öffentlich, denn die Franzosen hatten ja keine Fahrzeuge mehr in der Nähe – nur die eigentliche Landung mußte mit großer Vorsicht bewerkstelligt werden.
   An dem Punkte der Insel, wo jetzt der Leuchtturm steht, setzten die Schaluppen ihre Insassen ab, und nun schlichen diese einzeln, auf verschiedenen Wegen in das Dorf zurück. Es war alles ruhig, kein Soldat zu sehen, kein Wort zu hören. Georg und Onnen drückten sich die Hände, dann verschwand der erstere zwischen den Häusern und bald nach ihm hatte auch Onnen die Wohnung des Wattführers, in der seine alte Mutter lebte, erreicht. Uve Mensinga war noch nicht da, kam aber einige Minuten später, und nun wurde hinter sorgfältig verschlossenen Türen das Wiedersehen unter Tränen des Dankes gefeiert. Die Franzosen geschlagen, besiegt – welch ein Jubel, welch eine unverhoffte Freude!
   Auch ein ganz unerwarteter Gast hatte sich eingefunden, der Onkel aus Hilgenriedersiel, welcher jetzt, nachdem er seinen Neffen begrüßt, zunächst dem Wattführer die Hand drückte. »Ich danke dir, Mensinga«, sagte er treuherzig, »du hast meiner armen Frau beigestanden, während mich die Franzosen gefangenhielten. Das vergelte dir Gott!«
   »Sprich nicht davon!« wehrte der redliche Mann. »Wie bist du denn losgekommen, Martin Hansen?«
   »Mein Junge hat sich, als er in Hamburg von der Sache hörte, freiwillig gestellt und so mußten mich denn die Schwerenöter, nachdem er in der bunten Jacke saß, natürlich freigeben.«
   »Das ist hübsch von Vetter Feiko!« rief Onnen. »Er konnte unmöglich anders handeln.«
   »Und nun ist der arme Junge richtig Soldat?«
   »Ja, sie haben ihn gleich abgefaßt.«
   Frau Douwe seufzte. »Ob er wohl zufällig in Hamburg meinem Bruder begegnet ist?« fragte sie den Schwager aus Hilgenriedersiel.
   »Ja, richtig«, rief dieser, »das wollte ich noch erzählen. Geerd Kluin läßt bestens grüßen, er verdient in Hamburg ein hübsches Stück Geld, wie er sagt, und ist wohlauf. Wenn der Krieg zu Ende geht, kommt er mit vollen Taschen nach Norderney!«
   »So Gott will!« sagte leise die alte Frau. »Man soll nie für den nächsten Tag vorausrechnen.«
   Onnen setzte sich zu ihr und tröstete die Weinende. Er erzählte von dem Kampf und der Demütigung der Franzosen, bis spät in die Nacht hinein herrschte unter den Freunden noch eine lebhafte Unterhaltung, die besonders den Krieg und den Feldzug nach Rußland betraf. Draußen regte sich nichts; auch am anderen Morgen blieb alles ruhig.
   Die Franzosen begruben ihre Toten; aus sämtlichen Häusern wurde noch vor Mittag die Einquartierung entfernt und dafür alles Militär in schnellerrichteten Baracken bei der Schanze untergebracht. Es erschien kein neues Kriegsschiff, es geschah durchaus nichts, was auf irgendeine Gereiztheit, eine Wiedervergeltung hindeuten konnte, aber gerade das machte den Wattführer unruhig.
   »Wenn nur nicht irgendeine Teufelei im Werke ist!« sagte er einmal.
   »Aber was denn, Mensinga?«
   »Ja, das ist es eben; man rät ganz vergeblich.«
   Eines Tages kam der Amtsvogt und sah auf einen Augenblick bei den Freunden ins Haus. »Die Franzosen treffen allerlei Vorbereitungen«, sagte er, »sie haben die Futtervorräte und die Betten verkauft – der Schuppen ist abgebrochen worden.«
   »Ob sie denn die Insel verlassen werden?«
   »Der liebe Herrgott mag es wissen. Die Ordonnanzen zwischen hier und Emden fliegen immer hin und her. Man preßt die erste beste Schaluppe und zwingt die Eigentümer, nach Norddeich hinüber zu fahren. Irgend etwas Besonderes geschieht, soviel ist sicher.«
   »Aber was? – Man hört ja aus anderen Provinzen haarsträubende Berichte. In Magdeburg haben die Räuber unter Androhung, den Magistrat erschießen zu lassen, über eine halbe Million Taler widerrechtlich erpreßt, in Hamburg und Lübeck, in Bremen und anderen Städten bis jetzt fast vierzig Millionen.«
   »Dabei werden Waisenhäuser geplündert, öffentliche und Privatgebäude konfisziert, ganze Straßen in die Luft gesprengt, um Schanzen anzulegen.«
   »Und Menschen erschossen wie die Spatzen auf dem Dache. Wir leben wahrhaftig in einer grauenvollen Zeit.«
   Der geplagte alte Mann ging seines Weges und der Wattführer verbrachte aus innerer Unruhe, dem nur Vermuteten gegenüber, mehrere Stunden am Strande und in der Umgebung der Schanze, aber ohne irgend etwas Auffälliges entdecken zu können. Die Luft war schwül, am Himmel stand ein Gewitter – ob ihm deshalb das Herz so klopfte?
   Er konnte sich nicht entschließen, zu Bette zu gehen. Mit der Pfeife im Munde saß er am offenen Fenster, während alle anderen Hausgenossen bereits schliefen.
   Hätten doch die Franzosen getobt, Strafen verhängt und gewütet, hätten sie das Oberste zuunterst gekehrt, es wäre ihm lieber gewesen als diese unheimliche Stille.
   Er horchte immer – weshalb, das war ihm selbst unklar, aber er konnte es nicht lassen. Die Uhr von der Kirche schlug zwölf; im ganzen Dorfe schien kein Mensch mehr zu wachen.
   »Es ist ein Unsinn«, dachte der ehrliche Mann, »ein wahrer Unsinn, aber —«
   »Alle Teufel«, unterbrach er sich, »was kommt da?«
   Hinter den Vorhängen hervorsehend, beobachtete er mit wachsender Unruhe die Straße. Dunkle Gestalten gingen über den tiefen Sand, wenigstens hundert und noch mehr – bei jedem Hause wurde Halt gemacht und geklopft, einige Männer drangen hinein.
   »Die Franzosen«, dachte der Wattführer, »was können sie wollen? Ob sie auch hierherkommen?«
   Ein Schrei erklang drüben, wo zwei junge Fischer bei ihrer Mutter lebten, ein schriller Schrei. Was hatte man der armen Alten getan?
   Ein Strom von Hitze ergoß sich durch die Adern des Wattführers. Jetzt kam das Unglück, er wußte es, fühlte es.
   Und da klopften schon die Soldaten an sein Haus. »Aufgemacht! vite! vite!«
   Mensinga eilte hinaus. Den brutalen Zorn der Machthaber gegen sich zu erwecken, konnte nichts nützen, er öffnete also die Tür und sah den Soldaten äußerlich ruhig entgegen.
   »Was gibt es?« fragte er.
   Ein Unteroffizier ging an ihm vorüber in das Zimmer. »Hierher!« kommandierte er, »ici!«
   Der Wattführer folgte ihm ruhig. »Was beliebt den Herren?«
   »Onnen Visser!« las der Franzose, den Namen in entsetzlicher Weise verstümmelnd. »Onnan Visère! – Wo er sein?« Uve Mensinga erbleichte. Vor noch nicht acht Tagen hatten dieser Mann und er selbst einander in offenem Kampfe mit den Waffen in der Hand gegenübergestanden und er bewahrte mitten im Toben das kalte Blut, heute dagegen lief es eisig über seinen Rücken herab, nur mit Mühe beherrschte er die Stimme. »Onnen Visser lebt in meinem Hause – was soll‘s mit ihm?« »Er Soldat! conscription! Ihn herbringen!« »Ihn? – Aber er ist ein Knabe von sechzehn Jahren!« »Nix räsonnieren! Onnan Visère sogleich herkommen.« In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Frau Douwe erschien auf der Schwelle. »Was gibt es?« fragte sie erschreckend. »Ach Gott, mir ahnt ein Unglück!«
   Der Wattführer wandte sich ab. Es fehlte ihm an Mut, der bedauernswerten Frau die Wahrheit unverhüllt ins Gesicht zu sagen. Von draußen erklang ein Durcheinander verschiedener Stimmen, Schreien, Weinen, Kommandoworte, ein Flüchten und Nachsetzen. Lichter blitzten auf, Pferde wieherten. Es war, als breche plötzlich und unvermutet der jüngste Tag über die ahnungslose Menschheit herein.
   »Mensinga«, bat mit gefalteten Händen die unglückliche Frau, »Mensinga, was bedeutet das alles? Sagt mir die Wahrheit!« Ihr vergrämtes Antlitz, ihr eisgraues Haar hätten auch das härteste Herz rühren müssen. Der Franzose zuckte die Achseln. »C‘est la mère?« fragte er, »Pauvre femme! Aber nix helfen können, muß alle Soldat sein, auch Sohn! Nix helfen können!« Frau Douwe trat ihm näher, sie zitterte am ganzen Körper, »Mein Sohn? Mein Sohn? – Aber das ist unmöglich!« Er glitt an der Unglücklichen vorüber, um im Nebenzimmer selbst nachzusehen. Sowohl Frau Douwe als auch der Wattführer und dessen gleichfalls herbeigekommene Frau folgten ihm nach, als wollten sie den Knaben beschützen, ihn den Händen seiner Feinde entreißen.
   Onnen schlief den festen, gesunden Schlaf der Jugend. Er hatte einen Arm unter den Kopf gelegt, seine Augen waren geschlossen und um die Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Frau Douwe schluchzte laut, als sie ihn sah.
   Das Licht einer kleinen Lampe fiel auf sein Gesicht, er blinzelte und erwachte dann plötzlich. »Was gibt es?« rief er. »Ein Überfall!«
   »Ach Mensinga, so helft doch, helft doch! Er ist ein Kind, wie kann man ihn mir entreißen und unter die Soldaten stecken wollen!«
   Der Wattführer drängte sich vor. »Wo ist der Befehl?« fragte er.
   »Natürlich haben Sie einen solchen! – Es mag immerhin eine Aushebung stattfinden, man denkt dabei aber doch nur an erwachsene Männer!«
   Der Unteroffizier hörte ihn nicht an. Er zwang den Knaben, aufzustehen und seine Kleider anzulegen, dann zog er ihn am Arm zur Tür.
   Frau Douwe klammerte sich mit beiden Händen an ihr Kind, sie schrie laut. »Ich lasse ihn nicht, ich lasse ihn nicht!«
   Der Franzose wiegte den Kopf. »Sagen adieu pauvre mère«, gebot er. »Maken schnell das Sake – nix warten. Aben Bataillon Marschordre pour la Russie!«
   »Großer Gott! Großer Gott! Nach Rußland!«
   Das Weinen und Wehklagen von der Straße fand hier im Zimmer sein schauerliches Echo. Alles schluchzte, alles rang die Hände, nur Onnen selbst war wie versteinert. Er sollte Soldat werden – er? Und jetzt?
   Seine Mutter küßte ihn, Frau Trientje streichelte unter Tränen sein Gesicht, der Wattführer drückte ihm die Hand und sprach Worte, die er nur wie aus weiter Ferne hörte – dann stand er draußen und unter einer zahlreichen Menge, die durcheinanderwogte wie eine aufgeschreckte Herde, wenn der Wolf in die Hürde drang.
   Marschordre nach Rußland. – Das fürchterliche Wort lebte in aller Herzen, zerstörte alles Denken und Überlegen, es übte eine geradezu vernichtende Wirkung.
   »Draußen auf dem Meer liegt ein großes französisches Kriegsschiff!« sagte eine Stimme. »Sechs Boote schleppen fortwährend die jungen Leute an Bord.«
   »So muß man den Engländern ein Zeichen geben!«
   »Das ist unmöglich. Überall am Strande stehen Wachen!«
   Der Wattführer blieb an Onnens Seite, taub gegen die Fragen und Ausrufe, womit er sogleich auf der Straße empfangen wurde. Es ließ sich gegen die getroffene Verfügung nichts ausrichten, das wußte er nur zu wohl, aber doch drängte es ihn, bei dem unglücklichen Knaben zu bleiben, bis man sie beide gewaltsam auseinanderriß.
   Zwei Söhne des Vogtes wurden eben von sechs Franzosen mit Kolbenstößen vorwärtsgetrieben, Georg Wessel stand blaß wie der Tod inmitten einer Gruppe Gefesselter – überall hoben jammernde, wehklagende Menschen die Hände zum Himmel, überall tönte das Schluchzen der Verzweiflung.
   Auf einmal hörte man die Stimme eines ganz jungen Menschen. »Ich will aber nicht Soldat werden. Was fällt euch ein, ihr Franzosen – mein Vater war ja immer euer Freund und ist es auch noch!«
   Adam Witt strampelte mit Händen und Füßen gegen den Griff des Unteroffiziers, der ihn gepackt hielt. »Vater!« rief er, »Vater, bist du denn ganz täppisch geworden – so sprich doch!«
   Aber diese kindliche Anrede blieb ohne Wirkung. Peter Witt, heute seit langem zum erstenmal genötigt, sich wieder unter seinen Landsleuten öffentlich zu zeigen – der geächtete, menschenscheue Verräter stand mit vornübergebeugter Haltung und ängstlichem Blick inmitten der Franzosen, aber er sprach kein Wort, sondern spielte fortwährend mit seinen Fingern, wie kleine Kinder, wenn sie gescholten werden. Dann winkte er stumm dem Knaben.
   »Dummes Zeug!« rief dieser. »Du mußt den Obersten aufsuchen, Vater.«
   Noch während er sprach, riß ihn der Soldat gewaltsam mit sich. Ein Schreckensschrei brach über die Lippen des Knaben. »Vater! – Vater!«
   Auch Onnen und Georg Wessel mußten das Boot besteigen. Noch einmal drückte ihnen der Wattführer die Hand, noch einmal sah er ihnen zum Abschied ins Auge. »Geht mit Gott, Kinder, baut auf ihn in aller Not!«
   »Lebt wohl! Lebt wohl!«
   »Vater«, schrie Adam Witt, »warum hilfst du mir nicht?«
   Die Riemen fielen in das Wasser und die Boote schossen auf das dunkle Meer hinaus. Noch Sekunden, dann waren die Zurückgebliebenen, die beraubten Eltern und Geschwister allein. Nur ein Trupp von Zollbeamten hielt die Insel besetzt, alles Militär hatte dieselbe verlassen, um den russischen Eisfeldern, der Vernichtung in ihrer schrecklichsten Gestalt, entgegen zu gehen.
   Einsam unter den Trauernden stand Peter Witt. Niemand nahm von ihm die mindeste Notiz, niemand schien den Unseligen zu sehen, den Mann, dessen Verrat die kühnen Patrioten von Norderney ins Verderben stürzte.


   9

   Gerade heute kehrten unwillkürlich die Gedanken der Norderneyer zurück zu jenen Schreckenstagen der Massenhinrichtung. Was Schweres und Trauriges die Insel seitdem betroffen hatte, in letzter Linie das Ereignis dieser Nacht – es ging alles hervor aus Peter Witts ehrlosem Verrate, es war die Folge des begangenen argen Verbrechens gegen Gott und Menschen.
   Niemand beachtete den Geächteten, und dennoch wünschte er nur eins – zu sprechen, eine Antwort zu hören.
   Die alte Haushälterin hatte ihn längst verlassen, er war mit dem Knaben allein geblieben, aber so wenig ihn dieser auch liebte und ehrte, besaß er doch in ihm ein lebendes menschliches Wesen, das mit ihm im selben Raume aß und schlief, das mit ihm sprach und seine Verbannung in dem Holzschuppen teilte. Nun war Adam fort – ein herzbeklemmender Gedanke, eine Vorstellung, die seine Zähne aufeinanderschlagen ließ in namenloser Furcht.
   »Wie schrecklich!« sagte er beinahe ohne klares Bewußtsein, »wie schrecklich, Amtsvogt! Auch Eure beiden Jungen sind dahin!«
   Der Alte kehrte sich ab – stumm, ohne ein Zeichen, einen Laut. »Wenn sie schelten würden«, dachte der Elende, »drohen, schmähen – nur nicht dies Stillschweigen!«
   Er folgte dem Strome, obwohl ihn derselbe wieder und wieder ausstieß, er sprach und flüsterte, er wandte sich zu den Kindern, den alten Frauen, um irgendein Wesen an sich zu ziehen, um doch in der allgemeinen Trauer nicht so ganz verlassen dazustehen. Vergebens! Selbst die Kleinsten flüchteten aus seiner Nähe, die Ärmsten verschmähten den Groschen, welchen er ihnen mit zitternden Händen bot.
   Hie und da schluchzte ein Weib in bitterstem Schmerz, hie und da ballten Männer die Fäuste, aber überall tröstete eins das andere, überall trockneten Freundeshände die brennenden Tränen und linderte gütlicher Zuspruch den herzzerfressenden Groll zu stillerem Ergeben – nur er war allein, so einsam, als liege die Insel am nie erreichten Pol der Erde und als sei er auf ihrem weiten Rund das einzige lebende, atmende Wesen.
   Die Kirchtüren öffneten sich, Orgelklang flutete den Trostbedürftigen entgegen. Mitten in der Nacht betete der Geistliche mit den Gliedern seiner kleinen Gemeinde für die gnädige Erhaltung derer, welche so jählings herausgerissen waren aus dem Kreise der ihrigen, einem Ungewissen gefahrvollen Schicksal entgegen.
   Ohne Feierkleider, in ihren Alltagsgewändern, oft sogar nur mit dem Nötigsten versehen, lagen die Leute im Gotteshause auf den Knien, weinend und betend, engverbunden im gemeinsamen Weh, tief traurig, aber doch erfüllt von der Zuversicht auf den, der heute noch allen Mühseligen und Beladenen zuruft: »Kommt her zu mir, ich will euch erquicken!«
   Peter Witt stand in der offenen Tür, er wagte sich nicht hinein. So ruhig und feierlich brannten die Kirchenlichter, so trostvoll sprach der greise Priester! Ob das Gebet auch seinem, des Verräters Sohne galt?
   Er dachte an den öden halbdunklen Holzschuppen, an die leergewordene Stätte, ihm graute. Die Lichter vor dem Altare schienen zu wachsen, immer höher, höher, sie schienen ihm zu winken, ihn erfassen zu wollen, er wandte sich schaudernd ab, dem nächsten mittleren Wege zu. Jetzt hatte bereits die Morgendämmerung begonnen, bleiche Lichter fielen auf Kreuze und Steine ringsumher, auf alle die stummen Zeugen des Todes, der Vergänglichkeit.
   Ein hoher weißer Marmorblock hob sich hervor aus der Umgebung, eingeschlossen von einem niederen Eisengitter, am Fuße überdeckt von Blumen und Kränzen. »Zum Gedächtnis unserer teuren Freunde« stand darauf – und dann folgten die Namen der sieben erschossenen Männer.
   Peter Witt taumelte, seine Augen traten weit hervor, er zitterte. Auch noch ein kleines Kreuz lehnte sich an den Stein und nur zwei Worte standen darauf, zwei kurze Worte, aber voll eines trostlosen Inhaltes.
   »Arme Moiken.«
   Das war die junge Frau des hingerichteten Wattführers – der Gram hatte sie getötet. Unter Fremden, schon verwaist in der Wiege, wuchs das schutzlose Kind heran, um eines Tages auf das bitterste den schlechten Mann zu hassen, der Vater und Mutter in den Tod trieb.
   Es war ihm, als greife eine kalte Hand nach seinem Herzen, als müßten sich rings die stillen Schläfer erheben, um ihn zu verjagen von der heiligen Stätte, die seine Gegenwart entweihte.
   Schaudernd, halberstickt floh er ins Dunkel.
   »Feiko, du bist es!«
   »Onnen, mein armer Junge – auch dich haben also die Menschenräuber gepackt!«
   Der junge Mann in französischer Infanterieuniform, der helläugige Friese mit dem hübschen gutmütigen Gesicht streckte die Arme aus und zog den Knaben zu sich. »Du willst doch nicht weinen, Onnen? – Na, laß es gut sein, mit uns leiden ja alle deutschen Landsleute, soweit unsere liebe Muttersprache klingt – das macht die Sache leichter!«
   »Ach Feiko, wie ähnlich bist du meinem armen Vater! So muß er einst als junger Mann ausgesehen haben!«
   »Onkel Klaus!« sagte gerührt der andere, »meiner alten Mutter einziger Bruder. Ja, du bist hart geprüft, Onnen, wahrhaftig hart, aber doch nicht über deine Kräfte, das läßt der liebe Gott niemals zu. Nun sieh mich an und suche ruhig zu werden, Junge; die französische Fremdherrschaft, ihre Willkür sind grausamer und tyrannischer Natur, aber mit den Leuten selbst lebt sich‘s ganz erträglich. Alles lustige, oberflächliche, vergnügte Kerlchen, schon zufrieden, wenn man sie nur in ›gloire‹ schwimmen und plätschern läßt, soviel sie mögen, dabei mäßig und sauber – man kann‘s mit ihnen aushalten.«
   »Du scheinst sie nicht zu hassen, Feiko?«
   »Die Leute nicht, nur die Regierung. Auf russischem Boden wollen wir beide so bald wie möglich desertieren, nicht wahr, Onnen?«
   »Wenn – wenn etwas dergleichen möglich ist, Feiko!«
   »Das wird es werden, mein Junge. Ich erfuhr in Hamburg, daß mein Vater gefangen sei, und stellte mich sogleich, das war eine heilige Pflicht, aber außerhalb Deutschlands, in Verhältnissen, die nicht genau übersehen werden können, denke ich ebenso schnell wieder zu verschwinden – und du mit mir.«
   Onnen lächelte zum erstenmal. »Wie zuversichtlich du sprichst, Feiko! Man fühlt in deiner Nähe allen Mut zurückkehren. Wenn ich bedenke, daß ich vor zwei Stunden noch so ahnungslos schlief – und dann weckten mich fremde Stimmen, alles schrie und weinte, die Mutter war wie außer sich, Soldaten standen im Zimmer und einer derselben zerrte mich am Arm aus dem Bette. Ob wohl schon jemals eine Rekrutenaushebung in dieser Weise vor sich ging?«
   Feiko Hansen lachte. »Das war ein kleines Strafgericht für euren Langbootsieg, mein Lieber; auf den anderen Inseln hat man die Sache etwas langsamer angefangen, aber zum Militärdienst gepreßt ist die ganze junge Mannschaft zwischen sechzehn und dreißig Jahren.«
   »Alles für die russischen Totenfelder!«
   »Oho – wir wollen uns schon durchschlagen. Irgendwo gelangt man an das Meer und auf ein Schiff, dann geht es in fremde Weltteile.«
   Die Unterhaltung der beiden Vettern wurde hier gestört. Onnen erhielt seine Hängematte, das anfängliche Durcheinander auf dem Verdeck wich der früheren Ruhe und unter vollen Segeln glitt die Fregatte »Napoleon« auf das Meer hinaus, um wenigstens zweihundert junge Leute der Heimat zu entführen – viele, viele auf Nimmerwiederkehr.
   Am folgenden Morgen wurden die Rekruten eingekleidet und mit Nummern versehen, dann begann sogleich das Exerzieren. Unsere Freunde mußten sechs Stunden täglich das Gewehr handhaben, es wurde ihnen auch der übliche Sold der Linientruppen wenigstens versprochen und eine ganz erträgliche Kost verabreicht. Die letzten ostfriesischen Inseln schwanden den Blicken, das Schiff näherte sich dem von den Engländern behaupteten Helgoland, und obwohl es den gefährlichen Punkt in weitem Bogen umfuhr, so verdoppelte doch der Kapitän alle Wachen an Bord, um bei der etwaigen Entdeckung eines feindlichen Seglers sogleich gerüstet zu sein.
   »Wenn der ›FaIke‹ geflogen käme«, dachte Onnen, »welches Glück!«
   Aber es blieb alles ruhig und schon am vierten Tage war das von den Dänen behauptete Gebiet der Nordsee glücklich erreicht. Man steuerte gerade auf das Kattegatt los, um in der Ostsee den nächsten russischen Hafen anzulaufen.
   Hier herum kreuzten vielfach die großen dänischen Kriegsschiffe, man konnte sich vollständiger Sicherheit überlassen und das französische Naturell kam je länger, desto mehr zum Durchbruch. Allerlei Musikinstrumente tauchten auf; in ihren freien Stunden tanzten die Soldaten wie bei Gelegenheit eines Balles oder verfertigten bunte Stickereien, die jeder Dame Ehre gemacht haben würden. Sie sangen, malten und selbst eine Art von Liebhabertheater war errichtet worden, wobei die Deutschen als Zuschauer ihre Bemerkungen austauschten, selbst aber nicht mitwirkten – bis auf einen unter ihnen.
   Adam Witt hatte schon am ersten Tage Gelegenheit gefunden, sich bei den Unteroffizieren, dem Bootsmanne und dem Proviantmeister einzuschmeicheln, er hatte ihnen die Söhne und Gesinnungsgenossen der auf Norderney Hingerichteten bezeichnet und seines Vaters Stellung als die eines Vertrauten des Obersten Jouffrin mit den vorteilhaftesten Farben ausgemalt. Die Folge war, daß er ferner nicht zu exerzieren brauchte, sondern nur scheinbar dem Koch oder dem Quartiermeister ein wenig half, in der Tat aber den Zuträger spielte und alles hinterbrachte, was etwa die Deutschen miteinander sprachen.
   »Ich werde ihn nächstens gehörig durchprügeln«, erklärte Onnen, »schuldig bin ich ihm die Hiebe längst.«
   Die Gelegenheit zur Ausführung dieses Vorhabens kam früher, als irgend jemand an Bord geglaubt haben mochte.
   Der »Napoleon« befand sich im Kattegatt, einem der gefährlichsten europäischen Fahrwasser; das Wetter war sehr stürmisch, tiefer Nebel wechselte mit klarer Luft, heftiger Regen mit einzelnen sonnigen Stunden, der Dienst an Bord wurde beständig schwerer.
   »Weißt du, was ich glaube«, flüsterte eines Tages Feiko Hansen. »Der Kapitän und die Steuerleute sind hier noch nie gewesen, sie kennen das Fahrwasser so wenig wie den Mann im Mond, das höre ich an ihren Befehlen.«
   »Aber du kennst es, Feiko?«
   »Ich habe als Steuermannsmaat die Fahrt nach Riga schon dreimal gemacht! Wahrhaftig, hier sind ostfriesische Teerjacken genug an Bord, um die Fregatte glücklich hindurchzubringen, was aber die Franzosen erreichen werden, das steht noch dahin.«
   »Unserer sind mehr als zweihundert auf dem ›Napoleon‹«, meinte Georg Wessel. »Nehmt das Kommando, Steuermann Hansen, wir folgen Euch!«
   »Und werden von den Franzosen als Meuterer erschossen. Das will doch überlegt sein, mein Bester.«
   Die allgemeine Stimmung an Bord war ziemlich gedrückt. An irgendwelches Exerzieren oder gar an Schießübungen konnte nicht mehr gedacht werden; das Schiff stampfte und schlingerte, die See ging häufig genug über Deck und stärker und stärker heulte von allen Seiten zugleich der Sturm.
   Die Matrosen hatten fortwährend im Takelwerk zu tun, Soldaten und Unteroffiziere blieben müßig, ebenso die Deutschen, denen es aufgegeben wurde, französische Vokabeln zu erlernen, die aber anstatt dessen beieinandersaßen und heimlich dem seemännischen Wissen und Können der Franzosen das Urteil sprachen.
   »Sie sind keinen Schuß Pulver wert«, entschied einer. »Perücken machen und allerlei Wohlriechendes zusammenschmieren, das ist ihr Handwerk, aber als Seeleute taugen sie nichts.«
   »Da sieh hin, wie der Kerl drüben das Segel befestigt! Ich will doch wetten, daß es binnen einer Minute über Bord fliegt!«
   »So!« setzte er dann hinzu, »so, nun hole es wieder, wenn du kannst, Franzmann!«
   Die Leinwand war mit lautem Knall zu Fetzen zerrissen und dann auf das Meer hinausgeschleudert worden. Verblüfft sahen ihr die Franzosen, heimlich lachend die Deutschen nach – wie in einem Hexenkessel brodelte und kochte es rings in der gefahrvollen Tiefe um den Bug des »Napoleon«.
   Nur Feiko Hansen blickte sehr ernst. Er sah in der Richtung des brausenden Sturmes hinaus und dann empor in die Masten, wo eine Anzahl französischer Seeleute mit dem Einziehen der Segel beschäftigt war.
   »Es geht zu langsam«, dachte er. »Gott im Himmel, vom Kapitän bis herab zum Kajütsjungen weiß keiner dieser Leute, in welcher Gefahr wir schweben.«
   »Steuermann Hansen«, rief einer der Söhne des alten Amtsvogtes von Norderney, »Steuermann Hansen, ich will all mein Lebtage keine Erbsensuppe mehr essen, wenn nicht dieser Ton da – hört ihr es wohl?«
   »Eine Brandung!« fielen zwanzig Stimmen zugleich ein. »Das ist eine Brandung!«
   Und blasse Gesichter sahen einander an. Im Augenblick schwieg alles.
   Der Steuermann nickte. »Es ist so«, bestätigte er.
   Das Schiff knarrte und ächzte in allen Fugen, durch das Takelwerk ging ein unheimliches Heulen und Rasseln – die Fregatte stampfte mit aller Macht.
   Das Sprachrohr des Kapitäns gab Befehl auf Befehl; sämtliche Segel waren jetzt gerefft und alle beweglichen Gegenstände unter Deck gebracht. Dichte Nebel ballten sich wie bleifarbene Wolken auf allen Seiten zugleich, fernher durch die empörte Flut klang es brüllend und donnernd, hoch auf spritzte weißer Schaum gegen den Bug.
   Der Kapitän und seine Offiziere standen in einer Gruppe beisammen; Feiko Hansen verstand jedes ihrer Worte. »Es ist nichts, meine Herren«, sagte der Führer des Schiffes. »Der ›Napoleon‹ hat schon Schwereres überstanden.«
   Niemand antwortete ihm, aber in den Mienen der Offiziere zeigten sich Unruhe und Zweifel; sie beobachteten ängstlich das tobende Meer.
   »Steuermann Hansen«, rief Georg, »ich bitte Euch, wir treiben ab! Nehmt das Kommando, oder wir sind verloren.«
   »Wahrhaftig – wir sind verloren!«
   Feiko richtete sich straffer auf, sein Auge blitzte, seine Brust hob sich in schnellen kurzen Atemzügen.
   »Wollt ihr mir gehorchen, Landsleute?«
   »Ja! Ja!« riefen alle Stimmen.
   Eine schlanke Gestalt erhob sich lautlos und schlüpfte zu den Offizieren der Soldaten. »Es ist Verrat im Werke!« flüsterte Adam Witt.
   »Den Teufel auch – ich glaubte längst, es zu sehen!«
   Und dann kommandierte er: »Antreten!«
   Die Soldaten flogen durcheinander, Signale erschallten, Gewehre stampften das Verdeck, Unruhe und ungeheure Verwirrung beherrschten das ganze Schiff, Seeleute und Militärs machten einander den Platz streitig.
   Dazu tobte in immer stärkeren, immer wilderen Stößen der Sturm. Die Brandung heulte, die Wellen schlugen ganze Wolken von Schaum über Deck – das laute Spottlachen der Deutschen klang hindurch.
   »Ihr Esel! – Ihr dreifachen Esel!«
   »Aufgepaßt!« rief Feiko Hansen. »Jetzt ist der Augenblick da. Entert auf, meine Jungen – klar zum Wenden!«
   Mit lautem »Hurra« flogen die Ostfriesen an den Masten der Fregatte empor, ehe noch irgendein Mensch sich ihnen widersetzen konnte. Getrieben von der ganzen Schwere des entscheidenden Augenblickes vollführten sie mühsam atmend, die Gesichter abgewandt, den erhaltenen Befehl. Wie eine Schar von Kobolden, verhüllt durch Nebel und spritzenden Schaum, mit unheimlicher Eile bewegten sich die seegewohnten Leute im Takelwerk, während unten an Deck die Offiziere starr vor Erstaunen das Unerwartete ansahen. Einer der Herren riß blitzschnell die Pistole aus der Brusttasche und kehrte den Lauf gegen Feiko Hansens unbeschützte Brust, aber ebenso rasch kam ihm der Kapitän zuvor. Sein Gesicht war farblos, seine Lippen bebten, er erkannte als Seemann die ungeheure Gefahr des Schiffes, ohne ihr begegnen zu können. »Lassen Sie die Leute, mein Herr – ich – war im Begriff, dasselbe Segelmanöver anzuordnen. Es sind tüchtige Matrosen, diese Halbbarbaren!«
   Und zu den Soldaten sprach er in ähnlicher Weise. »Zurück! Zurück! – Es ist gut so!«
   Niemand wagte eine Widerrede; aller Augen hingen wie gebannt an den Bewegungen der deutschen Matrosen, die jetzt ihre Arbeiten beendet hatten.
   Das Steuer war leewärts gerichtet, die schweren Raaen hatten sich gedreht und der »Napoleon« schoß durch die Wellen gleich einem Vogel. Feiko Hansen beobachtete die der schwedischen Küste zugekehrte Seite des Wassers, dann sah er plötzlich zu seinen Kameraden hinüber.
   »An die Puttingen auf der Luvseite! – Du, Georg Wessel und ihr beiden da!«
   Die Genannten flogen – untätig sahen alle Franzosen, daß die Deutschen im Augenblick das Schiff beherrschten.
   »An die Brassen!« kommandierte der Steuermann. »Werft das Lot!«
   Auch dieser Befehl wurde schleunigst vollzogen. Niemand sprach; die Leute erkannten sämtlich den Ernst ihrer Lage, sie schwiegen voll banger, die Entscheidung begleitender Unruhe.
   »Sieben Faden!« berichtete mit heller Stimme Georg Wessel.
   »Gut. Werft nochmals das Lot!«
   »Fünf und ein viertel!«
   Dann, nach kurzer Pause: »Vier Faden!«
   Onnens Stimme unterbrach mit einem lauten Schreckensschrei die beklemmende Stille. »Riffe! – Riffe vor uns!«
   »Riffe in Lee!« rief im gleichen Augenblick einer der übrigen. »Mon dieu!« schrie der französische Kapitän. »Das ist ein Hexenkessel!« – und dann befahl er: »Werft den Buganker!«
   Die Franzosen schickten sich an, das Manöver auszuführen, aber Feikos gewaltige Stimme schallte dröhnend über Deck und hinderte sie, ihrem Vorgesetzten zu gehorchen. »Nichts da!« rief er. »Laßt gehen! Laßt gehen!«
   Achtzig bis hundert Hände streckten sich aus, um die französischen Seeleute zu packen. Ein kurzes Ringen endete mit dem Siege der Ostfriesen und wieder wollten die Soldaten vordringen, um sich mit blanker Waffe einzumischen – wieder hinderte sie der Kapitän.
   »Warten wir noch! – Der junge Mann kennt das verfluchte Fahrwasser aus eigener böser Erfahrung, wie mir scheint!«
   Feiko hatte während dieses Tumultes mit der Vertrauen einflößenden Ruhe des wirklichen Mutes seine Befehle gegeben und dieselben waren pünktlich ausgeführt worden. Das Steuer wurde angehalten, die Toppraaen in den Wind gebracht und das Schiff solchergestalt auf der Hieling gedreht – es lief rückwärts.
   Die einzige Möglichkeit, es zu retten, alle erkannten es.
   »Hurra für Ostfriesland! Für Feiko Hansen von Hilgenriedersiel!«
   »Still, meine Jungen, still, es ist noch nicht an der Zeit zu triumphieren. Braßt die Vordersegel! Steuer über!« Dem Kommando folgte augenblicklich die Tat, das Schiff richtete sich auf, es stellte der Wucht des Sturmes jetzt einen erfolgreicheren Widerstand entgegen, es kämpfte unter Feikos Führung tapfer gegen die Gefahr, welche ihm von allen Seiten drohte. Klippen und Untiefen, Sandbänke und Nebel, dazu die gewaltige Macht des Orkanes, alles vereinigte sich, um den Weg durch das Kattegatt zu einem sehr gefährlichen zu machen. Stundenlang behielt der junge Steuermann unangefochten das Kommando, stundenlang arbeiteten unverdrossen die Deutschen, bis dann Feiko Hansen vor sie hin trat und mit verschränkten Armen seine Freunde ansah. Aller Blicke hingen an den Lippen des unerschrockenen Mannes, jedes Ohr lauschte schon, bevor er sprach.
   »Landsleute«, begann Feiko, »ihr habt bis jetzt tapfer gearbeitet, ihr seid es, denen diese Windbeutel von Franzosen die Erhaltung ihres Lebens verdanken, aber dennoch muß ich euch sagen: Das Schlimmste steht erst bevor! – Wollt und könnt ihr nochmals alle eure Kräfte einsetzen, um das Schiff glücklich hindurchzubringen?«
   »Gewiß, Steuermann! Allstunds!«
   Und: »Allstunds!« lief es kräftig von Mund zu Mund.
   »Gut, dann gebt acht und verliert, wenn ich spreche, keine Sekunde.«
   Die französischen Offiziere hatten einiges verstanden, anderes ließen sie sich übersetzen. Welch eine abscheuliche Gegend – es sollte nun noch Ärgeres bevorstehen, als man schon durchlitten hatte!
   »Die Menschen passen für ihr Land«, meinte der Kapitän. »Alles rauh, unschön, bärenhaft – détestable!«
   »Entert auf!« befahl unterdessen Feiko Hansen. »Klüver– und Hauptsegel heraus!«
   Über hundert kräftige Männer brachten das ungeheure Leinen an seinen Platz, entrollten die Falten und befestigten sie. Der Sturm fiel hinein, das ganze Schiff bog sich wie ein schwankendes Rohr. »Es kommt es kommt!« rief Feiko, »Der ›Napoleon‹ gewinnt die Luv! – Wenn nun nur die Segel aushalten!«
   Er sprach noch, als ein Donnern und Krachen die Luft erfüllte. Etwas Weißes schoß wie eine Riesenmöwe in die Brandung hinaus – der Klüver. Er hatte nachgegeben.
   »Das große Segel hält Stand«, rief der Kapitän. »Ich weiß es gewiß!«
   »Still! – Jetzt naht die Entscheidung. Haltet Luv!«
   Der Befehl wurde vollzogen; in atemloser Spannung beobachtete jedes Auge die rollende, kochende See, deren Wogen, anstatt regelmäßig zu verlaufen, vielmehr hüpften und sprangen, vom Sturm im tollen Wirbel an die Klippen geworfen, weiß und schäumend, ein Chaos, in dem der Blick keinerlei bleibenden Anhaltspunkt zu, erfassen vermochte.
   Feiko selbst stand am Steuer und griff bald hier, bald dort in die Speichen, dabei aber beobachtete er auch jeden anderen Vorgang rings umher, und als das Schiff an einer bestimmten Stelle plötzlich vom Wind abfiel, rief er mit lauter Stimme: »Braßt die Raaen! Segel eingezogen!«
   Nur die Nächststehenden hatten den Befehl vernommen, aber er ging von Mund zu Mund, und in weniger als fünf Minuten lief die Fregatte, von den Klippen befreit, in das offene Meer hinaus, ohne einen wirklichen Schaden erlitten zu haben.
   Feiko begrüßte mit einer leichten Handbewegung den Kapitän.
   »Der ›Napoleon‹ ist gerettet«, sagte er.
   Der Franzose drückte ihm mit Wärme die Rechte. »Sie sind ein Braver, mein junger Freund«, rief er. »Sie sind wahrhaftig wert, ein Franzose zu sein. Die kaiserliche Marine wird sich glücklich schätzen, Sie den Ihrigen zu nennen.«
   Der Steuermann zuckte die Achseln, ohne eine Silbe zu antworten, als plötzlich ein ganz unerwarteter Laut die Begegnung der beiden Männer unterbrach. Ein Kanonenschuß donnerte aus nächster Nähe über die See und durch das Takelwerk fuhr eine Kugel, welche Splitter und Fetzen vor sich hertrieb, wie der Wirbelwind die Schneeflocken.
   »Alle Teufel, was ist das?«
   »Großer Gott, wenn es ein Engländer wäre!«
   Feiko sah in das Toben des Sturmes hinaus. »Ein Schwede!« entschied er. »Das Bündnis von gestern hat sich ja über Nacht schon wieder in den Kriegszustand verwandelt!«
   »Eine Nußschale!« setzte Onnen halb seufzend hinzu. »Das kleine Ding wird dem Franzosen nichts anhaben können!«
   »Ich glaube es auch nicht. Sieh, wie die braunen Gesellen in Feuer kommen!«
   »Willst du selbst dich an der Sache nicht beteiligen, Feiko?«
   »Gott verhüte es! – wenn ich an Bord des Schweden gelangen könnte, so würde ich keinen Augenblick zögern.«
   »Aber«, setzte er hinzu, »nur mit dir, Onnen!«
   Eine zweite Kugel hatte unterdessen den Rumpf der Fregatte gestreift und war seitab in das Meer gefallen. Auf dem »Napoleon« herrschte eine heillose Verwirrung; man öffnete die Behälter von Waffen und Munition, das Lazarett wurde in Stand gesetzt und die Geschütze hervorgezogen. Alles sprach, lärmte, sprang und rasselte mit notwendigen oder überflüssigen Geräten, dann öffneten sich die Stückpforten und ein schwerer Hagel von Eisen fiel auf den kecken Schweden, der es gewagt hatte, einen viel größeren Gegner anzugreifen, statt ihm klüglich beizeiten aus dem Wege zu gehen.
   »Das hat getroffen!« rief der Kapitän. »Aha – es ist um den Besan geschehen!«
   »Die armen Kerle!« flüsterte Feiko Hansen. »Glaubst du, daß sie verloren sind?«
   »Ohne allen Zweifel!«
   Von der Breitseite des schwedischen Schiffes kam eine glatte Lage und traf diesmal gut. Sechs Franzosen stürzten zu Boden, das Deck schwamm in Blut, Stengen und Raaen wurden über Bord gerissen. Eine Salve folgte der anderen, endlich erscholl ein Jubelgeschrei der französischen Soldaten – die schwedische Brigg war unter dem Wasserspiegel getroffen und begann zu sinken.
   Man sah an Bord derselben eine fieberhafte Tätigkeit. Die Pumpen spien das eindringende Wasser in Strömen wieder aus, die Zimmerleute arbeiteten und die Geschütze dröhnten. Noch schienen jene den Gedanken an Rettung nicht aufgegeben zu haben.
   An Bord des »Napoleon« wurden Segel gesetzt und die angerichteten Schäden sogleich ausgebessert. Beide Schiffe lagen im offenen Fahrwasser; sie konnten manövrieren, wie sie wollten, ohne von den Wellen gehindert zu werden.
   »Die Franzosen wollen den Schweden übersegeln!« flüsterte Georg Wessel.
   »Natürlich. Das kommt von ihrem Eigensinn! Die Leute mußten sich sagen, daß der Kampf ein ungleicher sei! Der ›Napoleon‹ hält grade auf die Brigg zu!«
   »Feiko«, raunte Onnen, »Feiko, wenn wir uns auf die Seite des Schweden stellen würden! – bedenke, wir sind unserer zweihundert!«
   Der Steuermann schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, mein Junge. Ich bin wahrlich einem tollen Stücklein nicht abgeneigt, aber etwas Aussicht auf Erfolg muß doch dabei sein! Der Schwede sinkt – aha, da treffen ihn wieder die französischen Kugeln!«
   Es wurde herüber und hinüber geschossen, der helle Tag schwand zum Dämmerlicht, die Sterne erschienen am Himmel, weißer Mondglanz flutete über das ruhiger gewordene Meer – immer noch wehrten sich die Schweden wie Verzweifelte, immer noch durchkreuzten sie mit Erfolg jedes Segelmanöver des Franzosen und fügten einem Schaden den andern zu. Auf beiden Seiten stieg die Erbitterung, man kämpfte mit Hintenansetzung aller Schonung für die Fahrzeuge, bis endlich die tapferen Nordländer unterlagen – sie konnten eine Wendung vor dem Bug des »Napoleon« nicht mehr rechtzeitig ausführen, und nun geschah das Schreckliche. Über den niederen Bordrand des halbversunkenen Schiffes ragte der Rumpf der Fregatte, hoch auf spritzte zu beiden Seiten das Meer, dann noch ein Knirschen und Krachen, ein Etwas wie der Schrei verzweifelnder sterbender Menschen – und die Stelle, wo das schwedische Fahrzeug mit der Vernichtung gerungen, war leer.
   Rings bedeckten Trümmer aller Art die empörten Fluten. Ein weißer Silberglanz lag auf der Umgebung, auf treibenden Holzstücken und Segeln, auf Streifen roten Blutes und den Gestalten schwimmender, mit den Wellen kämpfender Männer, die wegen des hohen Seegangs und der eigenen Beschädigungen der Fregatte ihrem Schicksale überlassen werden mußten.
   Mehr als zwanzig Franzosen lagen im Lazarett, ihrer fünf auf dem schwarzen Brett in der Totenkammer. Die Matrosen wuschen das Deck, banden neue Segel ein, hämmerten und sägten, der Arzt mit seinem Gehilfen verband während der ganzen Nacht die Wunden jammernder, fiebernder Soldaten, der Bottelier gab Extrarationen von Grog und Rotwein, an denen auch die Deutschen teilnehmen durften, und der Koch stand am Herd, um verschiedene Tee– und sonstige Tränke zu bereiten.
   Von den zwei– bis dreihundert Leuten an Bord des Schweden, von dem stattlichen Schiffe, auf dem sie gelebt, war nichts mehr zu sehen.
   »C‘est la guerre!« brummte achselzuckend der Kapitän. »Heute mir und morgen dir.«
   Mit dem ersten Schein des jungen Tages, als alle Unordnung beseitigt war und als sich die deutschen Rekruten allein im Schlafraum befanden, mit der wiederkehrenden Ruhe an Bord gab es noch eine kleine Privatexekution, an der nur einer tätig und einer leidend teilnahm.
   Onnen packte Adam Witt vor den Augen aller übrigen am Kragen und zog ihn zu sich.
   »Was flüstertest du mit dem Kapitän, mein Lieber? He, und wer war es, der die Franzosen von all den alten Norderneyer Geschichten in Kenntnis setzte?«
   Der Bursche sah unruhig umher. »Ich kann sprechen, mit wem ich will«, antwortete er verstockt. »Gelogen war nichts!«
   »Und gelogen ist es auch nicht, wenn ich dir sage, daß du ein wahres Ungeziefer bist, ein Kerl ohne Ehre und Gewissen! Über meine Angelegenheiten verliere künftig kein Wort, oder es geht dir schlecht.«
   Er gab ihm vor den Augen aller Deutschen ein paar schallende Ohrfeigen, die Adam Witt laut heulend empfing. »Ich sage es dem Kapitän!« schrie er schluchzend.
   »Du«, meinte Georg Wessel, »willst du nicht lieber Mama! rufen?« Ein dröhnendes Gelächter folgte diesen Worten. Der Sohn des Verräters zog sich, so schnell er konnte, in einen sicheren Winkel zurück, aber ungesehen ballte er die Faust. »Ich streiche es dir an«, dachte er, »warte nur, meine Stunde kommt auch.«
   Niemand beachtete ihn. Als der Tag anbrach, zeigten sich zwei große französische Schiffe, welche den Kanonendonner gehört hatten und, dem Schalle folgend, jetzt zu der Fregatte stießen; auch sie brachten Rekruten nach Riga, junge Leute aus Emden, Leer und Bremen, die sämtlich gepreßt waren wie unsere Freunde auf Norderney.
   Der letzte Teil der Reise verlief ohne weitere Abenteuer, die Mündung der Düna wurde erreicht, und nun mußte ein Spion gefunden werden, um auszukundschaften, wie in Riga die Verhältnisse standen.
   Alle Einwohner waren erfüllt von Liebe für die russische Regierung und demgemäß bereit, die Franzosen als Feinde zu empfangen, soviel wußte man, aber wieweit die eigentlichen Scharmützel schon begonnen hatten, das ließ sich nicht anders als durch einen ausgeschickten Spion in Erfahrung bringen.
   Der Kapitän lud den jungen Steuermann zu einer Privatunterredung in seine Kajüte. Onnen war schon da, außer den beiden Ostfriesen standen um den Tisch in der Mitte noch mehrere Schiffsoffiziere und ein Dolmetscher. Der Führer des »Napoleon« hatte eine Flasche Wein bestellt; er zeigte sein verbindlichstes Lächeln.
   »Monsieur«, sagte er nach der ersten Begrüßung, »mon cher ami, ich fand während unserer Reise in Ihnen und Ihrem jungen Verwandten zwei tüchtige und entschlossene Leute, die sehr wohl imstande sind, sich im gegebenen Augenblick als Männer zu bewähren. Sie sehen beide dem Tode ins Auge, wie man auf einen gleichgültigen Gegenstand sieht – eiskalt. N‘est-ce pas?«
   »Ich glaube es, Herr Kapitän«, antwortete Feiko Hansen in durchaus bescheidenem Tone. »Wir nordischen Seeleute sind an Furchtlosigkeit gewöhnt.«
   »Eh bien!« nickte der Kapitän. »Sehr schön, sehr schön. Sagen Sie mir, Monsieur Hansen, Sie und dieser junge Knabe, Ihr cousin – Sie würden sehr gern nach Deutschland zurückkehren und von der Militärpflicht ein für allemal befreit werden, nicht wahr?«
   »Sehr gern!« antwortete Feiko.
   »C‘est bien, très bien, mes amis! Sie brauchen Seiner Majestät dem Kaiser, dem ja das Departement des Ostens oder Ostfriesland als Eigentum gehört, wie Sie wissen, heute nur einen geringen Dienst zu leisten und ich schicke Sie beide mit gefüllten Taschen sogleich nach Deutschland. Was sagen Sie dazu?«
   Feiko wurde rot wie ein Mädchen, seine Augen blitzten auf. »Der Herr Kapitän mögen mir den Dienst, wovon Sie sprechen, näher bezeichnen«, sagte er ruhig.
   »Erst geben Sie ein bindendes Zugeständnis, Monsieur Hansen! oder nein doch, zu allererst trinken Sie ein Glas Wein!«
   Feiko hob die Hand, er trat unwillkürlich etwas zurück »Ich bitte, Herr Kapitän – welches ist der Auftrag, mit dem Sie uns beehren wollten?«
   »Der Ihnen Geld und vor allen Dingen Freiheit bringen wird, mein Braver!«
   Feiko schwieg.
   Der Kapitän wurde ungeduldig. »Die Sache ist die, Freund Hansen. Wir müssen jemand an Land schicken – in irgendeiner Verkleidung natürlich, wir müssen erfahren, wie es in Riga aussieht. Dazu kann, wie Sie begreifen, kein Franzose gewählt werden, ein Deutscher aber kommt und geht, ohne Verdacht zu erregen! – Sie haben die Fregatte gerettet, als unser Leben keinen Sou wert schien, tun Sie jetzt das gleiche, mein Freund!«
   Feiko sah ihn an, bescheiden, aber mit ruhigem Stolze. »Indem ich für Sie den Spion mache, Herr Kapitän?«
   »Für Ihren Kaiser, mein Lieber – ja!«
   Feiko schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Kapitän. Ich habe den ›Napoleon‹ durch das Kattegatt gebracht, weil das Schiff einen ortskundigen Führer brauchte, wenn wir nicht sämtlich an den Klippen unser Leben einbüßen sollten – keineswegs aus Neigung für die Franzosen.«
   »Während Sie selbst ein französischer Untertan sind, mein Herr!«
   »Lassen wir das!« wandte der Steuermann ein.
   »Aber bedenken Sie doch, Herr – de l‘argent et la liberté! – kann man noch mehr bieten? Bestimmen Sie die Summe.«
   »Es gibt keine, für die ich einen so ehrlosen Auftrag übernehmen würde, Herr Kapitän. Wir Deutschen können nie die wahren Freunde Ihres Kaisers sein, das mag ich Ihnen in diesem Augenblick nicht verhehlen.«
   »Ah – das ist deutlich, mein Herr! Vielleicht fügen Sie in Ihrer Aufrichtigkeit auch noch hinzu, daß es Ihr eifrigstes Bestreben sein wird, baldmöglichst zu desertieren?«
   Feiko verbeugte sich. »Ja, Herr Kapitän. Baldmöglichst.« »Sehr gut, sehr gut, man wird seine Maßregeln zu treffen wissen. Sie können jetzt gehen.«
   Der Steuermann wandte sich zu seinem jungen Vetter. »Onnen«, sagte er, »du bist natürlich an meine Entscheidung nicht gebunden. Gib dem Herrn Kapitän deine Antwort ohne Rücksicht auf mich.«
   Onnen lächelte. »Das ist nicht erst notwendig«, versetzte er. »Ich wäre gern, unsäglich gern bei meiner armen alten Mutter, aber um solchen Preis würde auch sie mich nicht zu gewinnen wünschen. Die Franzosen haben meinen Vater erschossen, das kann ich niemals vergessen.«
   Der Kapitän war rot vor Ärger. »Eine hübsche Gesinnung«, sagte er spöttisch. »Das ist also die berühmte deutsche Treue! – sie verleugnet ihren Souverän!«
   Er deutete zur Tür und die beiden Ostfriesen verließen ohne ein weiteres Wort die Kajüte.
   Draußen sahen sie einander an. »O Feiko, Feiko – wir hätten die Freiheit erlangen, hätten nach Norderney zurückkehren können.«
   Der Steuermann atmete tiefer. »Es hat mich nicht so kalt gelassen, wie du vielleicht annimmst, Onnen! aber – für den Preis einer ehrlosen Handlungsweise wäre mir das höchste Gut zu teuer erkauft. Die Bündnisse deutscher Fürsten mit dem Kaiser Napoleon sind erzwungen durch unsere Notlage – wer es aber von Herzen mit den Franzosen hält, den nenne ich seines Vaterlandes unwert, einen Verräter und Schurken.«
   »Ich auch!« rief Onnen. »Gewiß ich auch. Und doch wird der Kapitän einen Boten finden.«
   »Du denkst an Adam Witt! – Vielleicht setzt er das ehrenvolle Handwerk seines Vaters hier auf eigene Faust fort.«
   Es schien wirklich so. In der Abenddämmerung verließ ein Boot, gerudert von einem einzigen Manne, das Schiff, und während der ganzen Nacht blieb Adam Witts Hängematte leer, dann gegen Morgen kam der Bursche zurück, um sofort vom Kapitän in dessen Kajüte empfangen zu werden. Eine allgemeine Siegesfreude beseelte die Franzosen. In der Ostsee befand sich, den russischen Küsten nahe, seit mehreren Tagen eine englische Flotte, die stündlich vor Riga erwartet wurde, aber noch war der Hafen unbeschützt; zu beiden Seiten des Dünaflusses standen die Preußen unter General Gravert und belagerten die Stadt – diesen konnten die deutschen Rekruten überliefert werden.
   Unter dem Schutze der preußischen Kanonen erreichten die französischen Schiffe den Hafen, schickten die junge Mannschaft an Land und verschwanden dann so rasch wie nur möglich, um den in der Ostsee kreuzenden Engländern zu entrinnen. Adam Witt war unter den übrigen Ostfriesen geblieben, er hatte also nicht nach Hause gehen wollen, sondern dachte wahrscheinlich, im Verlauf der Dinge ebenso hübsche Summen zu gewinnen wie eben jetzt, wenigstens klingelte er mit französischem Golde in den Taschen und sah sehr zufrieden aus.
   Die Leiden des Krieges sollten indessen für ihn ebenso schnell beginnen wie für alle übrigen Glieder der großen Armee, welche in welterobernder Absicht auszog und zerschmettert und zerschlagen, ein Trümmerhaufen, aus Rußland zurückkehrte. Für Riga war der Kriegszustand erklärt. Von den Wällen wehte die rote Fahne, der russische General Essen hielt Stadt und Vorstädte besetzt, während die Preußen ringsumher in Zelten lagen und vergeblich den Eingang zu erzwingen suchten. Kleinere Scharmützel hatten vielfach stattgefunden, für den morgigen Tag, den 11. Juli 1812, aber sollte ein Handstreich bestimmt sein; die Preußen beabsichtigten, bei Jungfernhof über die Düna zu setzen und die Vorstädte mit blanker Waffe zu erobern. Dann mußte, von allen Seiten eingeschlossen, die Stadt selbst fallen. Eine unerträgliche Hitze lag in der Luft, das Trinkwasser war schlecht, die Rationen mehr als sparsam. Das Lieferungswesen war in voller Unordnung, den Preußen wurde von der Armeeverwaltung nichts geliefert, sie mußten alles mit dem Säbel in der Faust auf den umliegenden Dörfern und Landgütern requirieren; Betten gab es für sie gar nicht, Geld ebensowenig und selbst die Kleidung war zerfetzt und unzulänglich.
   Feiko Hansen, Onnen und zehn oder zwölf andere Rekruten hatten ein gemeinsames Zelt erhalten, einige Brote, rohes Fleisch, einen Ledereimer voll Wasser und einen Haufen Stroh; das war alles. Für den Augenblick verlangte man von ihnen noch keinerlei Dienst, am anderen Morgen aber wurde der Weitermarsch angetreten, um zur Armee nach Witebsk zu gelangen. Adam Witt hatte einen Platz auf dem Gepäckwagen gefunden, die übrigen Ostfriesen gingen zu Fuß, geführt von einigen französischen Kompanien, die mit den Preußen den Hafen von Riga besetzt gehalten hatten. Unaufhörlich ergänzten derartige Zuzüge, zur See und durch Preußen anlangend, von allen Gauen Deutschlands gepreßt und geworben, das große Heer des Kaisers, dem auf russischem Boden jenes: »Bis hierher und nicht weiter!« des ewig gerechten Schicksals entgegentönen sollte. Es regnete trotz heißer schwüler Luft, die Mücken stachen und die Zungen klebten am Gaumen. Unsere Freunde glaubten sich in eine völlig fremde Welt versetzt; sie sahen nur Trümmer, wohin das Auge blickte.
   In verlassenen Dörfern hauste schlimmes Gesindel, Diebe, Spione, Wegelagerer und Zigeuner, während sämtliche Bauern geflüchtet waren und ihr Vieh mitgenommen hatten. Die Brunnen steckten bis an den Rand voll von Gerümpel und Holzblöcken, die Wege waren aufgerissen, die Räder an den Ackerwagen zerbrochen und die Hausdächer größtenteils abgedeckt.
   Aus den scheibenlosen Fenstern sahen Galgengesichter hervor; ein Heer von Spionen bot überall seine Dienste, freilich nur für Geld, und die Franzosen besaßen nichts, die Armee war schon damals, im Beginn der Feindseligkeiten, ohne Ordnung und geregelte Verwaltung.
   Sobald am Wege ein Dorf erschien, wurde Halt gemacht, um womöglich etwas Proviant zu erlangen. Ihrer zehn oder zwanzig durchsuchten die Deutschen jedes Haus, jede Scheune, klopften an alle Mauern, an alle Türen, gingen sogar durch die Kirchen – aber nirgends fand sich Brot oder Fleisch. Die Wohnungen waren ausgeräumt, die Heiligenbilder von den Wänden genommen – überall gähnte öde Leere.
   Der französische Oberst Jouffrin stampfte mit dem Fuße. »Zum Teufel«, rief er zornig, »wir müssen doch essen! Wo stecken denn die Esel von Bauern?«
   Ein junger Bursche, zerlumpt und mit listigem Blick, die Pfeife zwischen den Zähnen, näherte sich den Offizieren.
   »Ich weiß es, Herr!« sagte er.
   Der Oberst musterte das hübsche, aber verschmitzte Gesicht. »Sind schon vor uns Franzosen hier durchgekommen?« fragte er.
   »Viele, Väterchen, mehr als Mücken in der Luft spielen. Und daran fehlt es nicht, sollte ich denken.«
   »Gut. Waren damals diese Dörfer noch bewohnt?«
   »Ja, ja. Das ist‘s eben – die Bauern sind klug geworden. Sie wollen ihr Fleisch und ihre Feldfrüchte selbst essen.«
   »Wo stecken sie denn, du Schlingel?«
   Der junge Taugenichts wiegte den Kopf. »Die Sonne scheint auf ihre Zelte, Herr; der Regen trifft ihre Stirnen – weißt du es nun?«
   »Soll ich dir fünfundzwanzig Hiebe aufzählen lassen, Bursche?« Der Russe kicherte. »Das wirst du nicht tun, Väterchen, du willst ja vor Nacht noch Fleisch essen und Bier trinken, glaube ich. Iwan Troikoff kann dir das alles verschaffen.« »Für wieviel Geld?« fragte, gerade auf das Ziel losgehend, der Oberst.
   Die Augen des jungen Menschen blitzten plötzlich in aufloderndem Zorne. »Ganz umsonst«, rief er, »ganz umsonst, aber du mußt Iwan Troikoff beschützen gegen seine Feinde, du mußt ihm einen Platz neben deinem eigenen Zelte, deinen Wachen geben.«
   »Aha, ich merke schon«, lächelte der Offizier. »Es ist Rachsucht, die dich treibt, nicht wahr, man hat dich irgendwie beleidigt?«
   Der Russe nickte. »Peter Semenoff schlug mich«, knirschte er, »sein Weib nannte mich einen unnützen Esser, einen Tagedieb – dafür will ich sie strafen!«
   »Aha – mir sehr erwünscht, mein Bester. Sind denn alle Dorfbewohner miteinander im Walde versteckt?«
   »Ja – und auch alles Vieh. Kein Franzose kann sie finden.« »Vorwärts, vorwärts!« befahl ungeduldig der Oberst »Nicht aus den Pfützen trinken, Leute! In dem faulen Wasser steckt das Fieber.«
   Er ritt wieder voran, ihm zur Seite marschierte Iwan Troikoff und müde und zerschlagen folgten ihm die Soldaten. Seit dem Morgen waren sie bei trockenem Brote, ohne Wasser oder Fleisch, durchnäßt bis auf die Haut, über holperige Wege gegangen und erschöpft zum Umsinken. Keiner pfiff oder sang, keiner scherzte, selbst die Pferde der Offiziere ließen ihre Köpfe hängen.
   Vor dem Zuge dehnte sich unübersehbar ein schwarzer Sumpf und der Bursche ging geradewegs den Rändern desselben entgegen. »Mir nach«, rief er, »immer zwei und zwei Mann – ich führe euch hindurch.«
   Der Oberst legte die Hand an seine Pistolen. »Und ich bleibe immer hart auf deinen Fersen, Iwan Troikoff, das merke dir! Bei dem ersten Anzeichen des Verrates hast du meine Kugel im Nacken!«
   Der Russe lachte hell auf. »Wenn ich heute abend schon sterben wollte, brauchte ich nicht erst stundenlang durch den Sumpf zu wandern, Herr! – Sieh dorthin, die dunkle Wand – das ist der Wald.«
   »Und in ihm finden wir Lebensmittel? Weißt du es gewiß, Iwan?«,
   Der Junge fing an zu tanzen, er schnippte fortwährend mit den Fingern. »Peter Semenoff hat fette Ochsen und eine Geldkatze so dick wie der Mond! Ha, ha, ha, du sollst fett werden, Herr!«
   Und nun verfiel er in einen Gesang, den zwar die Ostfriesen nicht verstanden, der aber das Schelmenlied deutlich erkennen ließ. Dabei behielt er die kleinste Krümmung des Weges im Auge, warnte vor solchen Stellen, an denen die Binsen lang hervorschossen, und führte Unterhaltungen mit den vielen großen Vögeln, die im Röhricht nisten mochten und angstvoll aufflogen, sobald der Zug nahte.
   »Heisa, da gehen sie hin, die dicken grauen Gänse! Grüßt den Peter Semenoff, hört ihr wohl – er soll die Geldkatze fester schnallen! – Ha, ha, ha, wie wird er pusten und schnaufen, der Geizhals!«
   Und dann tanzte er wieder. Der Gedanke an seine Rache schien ihn förmlich zu berauschen.
   Fester und fester trat aus dem Dämmergrau des Regentages die schwarze Wand hinter dem Sumpfe hervor, aber trotz dieser in größere Nähe gerückten Oase erschien doch die Wüste, durch welche das Regiment dahinzog, im höchsten Maße schauerlich und öde. Oft genug stand Iwan Troikoff plötzlich still, hob den Finger und deutete auf eine schwarze, feuchte Stelle unmittelbar neben den Hufen des Pferdes. »Aufgepaßt, Herr! Wer da hineinfällt, den fassen kalte nasse Arme und ziehen ihn hinab, immer tiefer, tiefer, und Blasen steigen auf, eine nach der anderen – das sind seine letzten Seufzer.«
   Er ließ einen kleinen Stein auf die trügerische Erde fallen. Wie zäher Teig ging die Masse auseinander und schloß sich wieder, Iwan Troikoff lachte. »Da unten wohnen böse Geister, Väterchen, sie lauern und lauern, daß ihnen fröhliche Menschenkinder in die Arme sinken mögen – ach, wie oft habe ich sie geneckt! Jeden Schritt über den Sumpf kenne ich, hundertmal hüpfte ich an den bösesten Stellen dahin und sie dachten immer, ich werde fallen! Ha, ha, ha, dann dehnte sich Iwan Troikoff behaglich auf sicherem Boden und lachte! – Zuweilen in Mondnächten habe ich die Dämonen auch gesehen; sie tragen lange braune Gewänder und Kronen auf den Köpfen. Oftmals —«
   »Vorwärts, Schlingel, was für Dummheiten schwatzest du da! – Hütet euch, Leute; links hinüber! links!«
   Die gefährliche Stelle war passiert. Iwan Troikoff machte dem Obersten eine Faust. »Laß nur die argen Worte, Herr, hier bin ich König und du bist Knecht! Fliegt mir‘s durch den Kopf, so führe ich euch alle auf eine Strecke, wo ihr versinken müßt wie die Ratten. Hoho, je mehr ihr lauft, desto eher; je mehr ihr euch sträubt, desto gewisser! Willst du jetzt hören, was ich oftmals gesehen habe? – In Herbstnächten, wenn der Wind pfeift und Eissplitter durch die Luft wirbeln?«
   Der Oberst blieb die Antwort schuldig. Iwan Troikoff tanzte rückwärts vor den Pferdeköpfen, mit beiden Händen fortwährend hierhin und dahin deutend.
   »Dann schleichen die Seelen der Versunkenen auf dem Sumpfe herum«, sagte er in geheimnisvollem Tone. »Sie sehen aus wie kleine Flämmchen, blaß und kümmerlich – sie suchen die verlorenen gestorbenen Körper und finden sie nie. Man kann solch einer armen Seele nicht nahe kommen, sie verkriecht sich gleich, und wenn der Morgen hinter dem Walde die Luft rötet, dann fließen alle Nebel auseinander.«
   Oberst Jouffrin nickte. »Nun bist du zu Ende, nicht wahr, Schelm? Gott sei Dank, ich glaube, die größere Hälfte des Weges ist jetzt überstanden.«
   »Aber die bessere, Väterchen! Hier kann nur ein Mann reiten oder gehen! Gib her die Zügel.«
   Der Offizier überließ sie widerstrebend dem lachenden Burschen. »Du hast die Pistole immer hart am Kopfe, Iwan«, sagte er mit warnendem Tone.
   »Ha, ha, ha, meinst du wirklich, Fremder? Wenn ich ein ganzes Regiment Franzosen in den Tod schicken würde, dann schenkte mir doch der Zar einen Orden so groß wie eine Tischplatte – aber lieber will ich den dicken Peter Semenoff ärgern!«
   Er übersah den Zug. »Bunt wie eine Jahrmarktsgesellschaft! – J‘ai faim! Das ist französisch, nicht wahr?«
   Und pfeifend führte er das Pferd des Obersten, dem alles Lebende, Tiere und Menschen, ängstlich in gerader Spur nachging. Kein Auge sah den Unterschied des festen und des trügerischen Bodens, dennoch aber erkannte ihn der Sohn dieser wilden Gegend mit solcher Sicherheit, daß er völlig unbekümmert schien. Eine bange herzbeklemmende Viertelstunde verstrich, dann war diese Gefahr vorüber, es wuchs Gras und Strauchwerk, endlich kamen Bäume und Blumen, ein grünes Laubdach, das erste, unter dem Onnen jemals ging.
   »Wie schön!« flüsterte er. »Man vergißt alle Müdigkeit!«
   »Ich nicht«, erklärte Georg. »Ach, wenn es eine Quelle gäbe!«
   »Freund Iwan«, rief Feiko Hansen, »weißt du nicht hier herum irgendeinen Bach oder etwas dergleichen?«
   Der Junge schüttelte den Kopf. »Peter Semenoff hat auch Kühe«, versetzte er. »Heisa, ihr sollt essen!«
   »Aber jetzt«, fügte er hinzu, »seid ruhig. Ich möchte den Dicken überraschen!«
   »Ist denn das Lager schon so nahe?«
   »Da! Seht ihr nicht den Rauch? Die alte watschelige Manja kocht Grütze. Werden die Leutchen aber Augen machen!«
   »Du reitest voran, Herr«, raunte er, behende zwischen die Pferde und die Soldaten schlüpfend. »Ich habe dein Versprechen!«
   Seine Torheiten schienen plötzlich vergessen, er spähte durch das Laub und horchte nach allen Seiten. Weiches Moos quoll unter den Füßen, Vögel sangen und Blumen blühten – ein heller Ton, weich und süß, aber leise, durchdrang die Luft.
   »Geigenspiel!« flüsterte Oberst Jouffrin. »Sind die russischen Bauern so verwöhnt, daß sie selbst in den Wäldern Konzerte haben müssen?«
   Der Junge nickte lächelnd. »Zigeuner!« gab er zurück »Jasko und Mikosch und der kleine Luiz. Sie spielen und der Bär sammelt.«
   »Also Bärenführer? Eine wandernde Bande?«
   »Ja. Der alte Mikosch hat Europa schon zweimal vom Norden bis zum fernsten Süden durchzogen – die beiden anderen sind seine Söhne.«
   Der weiche Moosboden dämpfte den Schall, sonst hätten die Spielenden längst hören müssen, daß sich ein Zug von fast tausend Menschen näherte. Immer reiner drangen die Töne zwischen den Blättern der Bäume hervor, endlich auch ein Brummen, das lustige Lachen von Kindern und einzelne Stimmen.
   »Da, alter Ruff, da, bring deinem Herrn!«
   »So, schön, nun mußt du auch danken!«
   »Ruff, magst du Zucker?«
   Ein Brummen schien den Kindern als »Ja« bekannt zu sein; sie jubelten laut. »Ruff, nun mußt du auch tanzen«, hieß es.
   Der Oberst hatte sein Pferd dem Diener überlassen und schlich näher hinzu; rechts und links von ihm die Soldaten, so viele ihrer Platz fanden. Iwan Troikoff hielt sich ganz in der Mitte der Deutschen; er war völlig verstummt.
   Unter den Bäumen auf einer Lichtung bot sich ein friedliches, heiteres Bild. Dicht gedrängt standen im Hintergrunde große Leinwandzelte, während vor denselben Frauen und Mädchen mit ländlichen Arbeiten beschäftigt waren; es wurde Butter bereitet, gesponnen, gewebt und gekocht. Zwei Männer hatten soeben einen Ochsen geschlachtet und schnitten jetzt das Fleisch in kleine Stücke, um es den einzelnen Haushaltungen zu überliefern. Im Vordergrunde lagerte eine Schar von Zigeunern, deren Zelte den bunten Putz und leider auch die geringe Reinlichkeitsliebe des wandernden Stammes zur Schau trugen. Mehrere Frauen kochten an einem offen brennenden Feuer eine Suppe, deren Duft die Herzen der Soldaten mit stiller Sehnsucht erfüllte.
   Was endlich den Bären betraf, so fraß er Zucker, den seine Zähne hörbar zermalmten und den ihm die Kleinen von allen Seiten herbeibrachten.
   Ruff war so zahm, daß keine Mutter Bedenken trug, ihre Lieblinge unbekümmert in seinem braunen Pelz wühlen zu lassen. Die Schnauze steckte in einem Maulkorb aus Eisendraht und zwischen den Vordertatzen trug er eine dicke Stange von gleichem Metall; so ausgerüstet war das gewaltige braune Tier der beliebte Spielkamerad aller Kinder.
   Die Zigeuner lagen im Moos und geigten mehr, wie es schien, zu ihrer eigenen als zur Unterhaltung der Bauern, die entweder rauchten oder irgendeine Handarbeit betrieben, bis plötzlich die allgemeine Ruhe durch den Schrei eines Knaben gestört wurde. »Soldaten!« hatte der Kleine gerufen, »Soldaten! O, einer hat eine Trommel!«
   Und dann ging es von Mund zu Mund, von einer entsetzten Gruppe zur ändern: »Die Franzosen sind da! – Die Franzosen sind da!«
   Sämtliche Männer sprangen auf, die Frauen kreischten, die Kinder flüchteten zu ihren Müttern, die Hunde bellten, die Zigeuner ergriffen schleunigst den Bären und sogar die wilden Vögel in den Baumzweigen begannen ängstlich zu flattern. Es war eine Szene voll Schreck und Verwirrung, keine Stimme konnte sich geltend machen, kein einzelner gehört werden, bis endlich der Oberst dem Tambour winkte und nun ein scharfer Trommelwirbel alles andere übertönte.
   Das half. Es entstand ringsumher die Stille banger Erwartung.
   Iwan Troikoff drängte sich an den Obersten heran. »Der Dicke da ist Peter Semenoff«, raunte er. »Laß ihn nicht entschlüpfen, Herr, er hat schöne blanke Rubel! – Mich mußt du beschützen; die Leute danken mir‘s nicht, daß ich euch hergebracht habe!«
   »Schweig, Hasenfuß, oder ich rufe den Profoß!«
   Dann wandte er sich zu den Bauern. »Ich komme nicht in feindlicher Absicht, Kinder! Frankreich führt mit friedlichen Bürgern keinen Krieg, dagegen aber bedürfen meine Leute dringend der Ruhe und ebensowohl werdet ihr Lebensmittel in genügender Menge herbeischaffen. Tummelt euch, Freunde, schlachtet Ochsen, bringt Brot und Butter, Stroh und Leinwand zu Zeltdecken! Ich hoffe, daß ihr mich nicht erst im Tone des Herrn sprechen laßt!« Einer der Bauern trat mit der Mütze zwischen den gerungenen Händen schüchtern heran. »Herr Offizier«, sagte er demütig, »mit Verlaub, aber wie lange gedenken die Soldaten in dieser Niederlassung zu bleiben? Wir sind arme Flüchtlinge, die —«
   »Ihre Häuser abgedeckt und ihre Wagen zerbrochen haben, um dem Heere des Kaisers von Frankreich den Durchmarsch zu erschweren, ich weiß es. Die Ochsen aber nahmt ihr mit, die Feldfrüchte und das bare Geld – jetzt schafft ein Abendessen für tausend Männer, aber rasch. Wir bleiben nur bis Sonnenaufgang.«
   Diese letztere tröstliche Verheißung schien den Mut der Leute neu zu beleben; es entwickelte sich ein buntes Treiben, dem man wahrscheinlich nicht ansah, daß bei demselben die Truppen im feindlichen Lande lagerten und daß jeder Bissen, den sie genossen, den heimlich zähneknirschenden Bauern mit keinem anderen als dem Rechte des Siegers entzogen wurde.
   Hinter den Zelten floß ein klarer Bach, in dessen Wasser Menschen und Pferde ihren Durst löschten; die Feldflaschen wurden gefüllt, die Oberkleider zum Trocknen an das Feuer gehängt und die müden Glieder ausgestreckt. Halbe Ochsen brieten am Spieß und verbreiteten weithin ihren angenehmen Duft, Flaschen und Krüge spendeten das schäumende Bier, Brot und Butter stapelten sich zu ganzen Bergen.
   Die Soldaten aßen wie ausgehungerte Menschen; sie gedachten weise des kommenden Tages und stopften in die Tornister, was irgend Platz finden wollte, dann kamen die leeren Pfeifen zum Vorschein und nun mußten die erbitterten Bauern auch ihren Tabaksvorrat herausgeben. Schließlich legten einige ganz verwegene Unteroffiziere einen Haufen von Brettern auf dem Moosboden sorgfältig auseinander, die Zigeuner spielten einen flotten Walzer und mit echt französischem Leichtsinn verbeugten sich die jungen Leute vor den russischen Frauen und Mädchen, um mit ihnen zu tanzen.
   Die Alten ärgerten sich sehr, es fehlte nicht an Blicken und Winken, aber trotzdem trug doch das Vergnügen den Sieg davon. Man walzte, daß die Bretter wie ein Pelotonfeuer klapperten und daß die Herzen höher schlugen in harmloser Freude.
   »Sechsundzwanzig Ochsen!« grämelte Peter Semenoff, der reichste Mann des Dorfes. »Sechsundzwanzig Ochsen und gegen zweihundert Pfund Butter, von Brot und Käse gar nicht zu reden! O du heilige Mutter Gottes, welch ein Schade!«
   »Und das Bier und der Tabak«, sagte ein anderer.
   »Und was sonst noch nachfolgt!« »Wie meinst du das, Loris Zdenko?«
   Der andere wiegte bedächtig den Kopf. »Ja, ja, Väterchen, wer so eine Kriegszeit schon einmal durchlebte, der weiß, was Kontributionen sind, hm, hm – in Barem nämlich.«
   »Ach Gott! —«
   Und Peter Semenoff vollführte jene Bewegung, welche gewöhnlich auf vorhandene Magenschmerzen hindeutet; seine kleinen Augen funkelten vor Zorn. »Das ist der Taugenichts, der Iwan Troikoff«, sagte er, »diese unnütze Kreatur hat uns die Buntröcke herbeigezogen, natürlich weil wir den Müßiggänger nicht durchfüttern wollten und weil ich ihm diese unsere Meinung mit dem Peitschenstiel beibrachte. Vielleicht treibt er sich nun in Zukunft auf der Landstraße umher und führt alle vorüberziehenden Rotten in unser Versteck – bloß um sich zu rächen.«
   »Daran dachte ich eben auch, Peter!«
   Der Dicke beugte sich weiter vor. »Zdenko«, flüsterte er, »wir könnten ja geschunden werden bis auf die Knochen. Wollen wir uns das gefallen lassen?«
   »Pst, der Oberst kommt! Nachher sprechen wir weiter.«
   Der Offizier machte sich in den Zelten zu schaffen, sah alles, untersuchte alles und fand schließlich, daß Peter Semenoffs Wohnung für ihn gerade passend sein werde; die fünf oder sechs benachbarten Zelte dagegen für seine Offiziere.
   Der »Schinder« sprach in diesem Augenblick sehr leutselig; der allgemeine Wohlstand, dem seine Blicke begegneten, tat ihm äußerst wohl, er gab gewissen Plänen, die den Braven beschäftigten, eine solide, beruhigende Basis.
   Das Zelt wurde in Beschlag genommen; Frau Manja mit ihren Sprößlingen mußte sehen, wo sie ein Unterkommen fand, und auf dem sauberen Leinen ihrer Betten lagen unbekümmert die schlammüberzogenen Reiterstiefel des Obersten.
   Draußen tanzten die jungen Leute und lachten und scherzten, während die alten wetterten und fluchten. Unsere Norderneyer Freunde nahmen an dem allgemeinen Vergnügen keinen Anteil, sondern lagen ausgestreckt im Moos und genossen die Ruhe des Augenblickes, so gut es eben ging. Onnen und der alte Zigeuner hatten sich in ein lebhaftes Gespräch vertieft, während Ruff, der Bär, wie ein Hund neben den Menschen am Feuer lag.
   Mikosch war auf seinen Kreuz– und Querzügen auch zweimal nach Ostfriesland und darunter einmal sogar nach Norderney gekommen; Ruff war es gewesen, dessen Andenken im Herzen aller Norderneyer Kinder unvergänglich fortlebte, er, der einzige Bär, den sie je gesehen. Auch Onnen erinnerte sich jenes großen Tages und anderseits wußte der Zigeuner noch genau, wie reichlich Frau Douwe seine Kleinen beschenkt hatte, wie gut ihm die Mahlzeiten des gastfreien Hauses damals schmeckten.
   Die Geige verfiel in eine leise wehmütige Melodie; ungesehen rollte Träne um Träne aus Onnens Augen in das Moos. Unter den rauschenden Wipfeln des Buchenwaldes erschien ihm das Bild der einsamen Sandinsel, des frischen Grabes, in dessen Ruhe sein Vater schlief; er fühlte das Herz mächtig klopfen im Gedenken an die geliebte, teure Heimat.
   Feiko Hansen drückte ihm leise die Hand. »Nur Geduld, Vetter, der liebe Gott verläßt keinen Deutschen. Wir kommen glücklich davon, eine innere Stimme sagt es mir.«
   »Aber du siehst doch, daß wir offenbar bewacht werden! Unser Zelt liegt in der innersten Mitte derer, welche von den Franzosen besetzt sind.«
   »Weil ich dem Kapitän des ›Napoleon‹ rund heraus erklärte, daß wir zu desertieren beabsichtigen. Oberst Jouffrin weiß es ohne Zweifel, aber trotz aller Sorgfalt entwischen wir ihm doch, wenn auch erst später.«
   Allmählich erloschen die Wachtfeuer; eine Kette von Posten, natürlich aus lauter Franzosen bestehend, umgab rings das Lager, und Tiere und Menschen schliefen fest, selbst der Bär lag an seiner Kette wie ein harmloser Hund, und wenn irgendwo ein Geräusch ertönte, dann erhob er den Kopf, um zu knurren.
   Einmal, kurz nach Mitternacht, wurde sein Brummen stärker. Mikosch erwachte und spitzte die Ohren – klang es nicht aus dem dichteren Walde herüber wie ein klagender Ton, ein Ächzen?
   Dürre Äste krachten; mehrere Männer schienen sich eiligst davonzuschleichen. Der Zigeuner sah, daß seine beiden Söhne ruhig schliefen, er kümmerte sich also um den Vorgang nicht weiter und erst später am Morgen fiel ihm das Ereignis der Nacht wieder ein.
   Man fragte und suchte – Iwan Troikoff war wie in den Boden hinein verschwunden.
   Oberst Jouffrin schien mit dieser Entdeckung nicht unzufrieden, er trieb zur Eile und befahl, sich um den vermißten Burschen nicht weiter zu bekümmern, dann hatte er mit Peter Semenoff, seinem unfreiwilligen Gastgeber, eine Unterredung ohne Zeugen, in deren Verlauf eine Geldkatze geöffnet und, ziemlich schlank geworden, wieder verschlossen wurde. Die Gesichter der beiden Männer wichen in ihrem Ausdrucke bedeutend voneinander ab; das des Obersten glänzte in vollkommenem Behagen, während das des Bauern mehr einem durchschnittenen Käse glich. Es war fahl vor Gram.
   Die Trommeln rasselten; eine Schar Ochsen und Kühe stand marschfertig, hie und da wurde noch von den Franzosen irgendein Gegenstand, den sie gerade gut brauchen konnten, wie zufällig mitgenommen, und dann kam der Abschied.
   »Lebt wohl, ihr Zigeuner! und wenn ihr je nach Norderney kommt, grüßt mein Heimatland!«
   »Wir werden Euch selbst begrüßen, junger Herr!«
   Onnen lächelte. »Wie Gott will, Alter!«
   Der Zug setzte sich in Bewegung. Bauernburschen in langen Blusen und plumpen Schuhen trieben die Ochsen und Kühe nebenher, während ein anderer vorausging, um in einem dichten Walde als Führer zu dienen.
   Iwan Troikoff war und blieb verschwunden.
   Während das Regiment durch den taufrischen Wald marschierte und Hirsche und Rehe vor sich aufjagte, stand unter den Zelten des Dorfes ein armer Sünder mit weißem Gesicht und schlotternden Knien zwischen einer Gruppe von ernstblickenden Männern. Etwas seitab befestigte jemand an einem starken Baumstamme eine Hanfschnur, fortwährend beobachtet von dem jungen Menschen und auch von einem Popen, dessen Hände ein Kreuz aus Ebenholz hielten.
   »Ihr solltet doch einen anderen, weniger grausamen Ausweg suchen, meine Kinder«, sagte in ermahnendem Tone der Geistliche.
   Niemand hörte ihn. Peter Semenoff stand mit geballter Faust vor dem aschbleichen Sünder. »Iwan Troikoff«, sagte er, »gestehst du, die Franzosen hierhergeführt zu haben?«
   »Sie zwangen mich«, stammelte der Bursche.
   »Das lügst du, denn es ist unter ihnen niemand, der unser Versteck kannte. Du bist ein Verräter an deiner Dorfgemeinschaft, du hast aus Rachsucht gehandelt!«
   »Ein Bubenstreich sondergleichen!« rief Zdenko.
   »Der uns Tausende von Rubeln kostet und dessen Wiederholung wir vermeiden wollen. Bereite dich zum Tode.«
   Der junge Mensch kreischte laut auf. »Ich verlange nach Gesetz und Recht behandelt zu werden«, schrie er.
   »Die gibt es im Kriege, wenn feindliche Horden das Land besetzt halten, nur insofern, als sich die Bürger ihrer eigenen Haut nach Möglichkeit wehren. Du mußt sterben.« Sie führten ihn ungeachtet seines heftigen Sträubens bis zu dem Baume, dessen untere Äste die Schlinge trugen. Während ihm der Pope laut betend das Kreuz an die Lippen hielt, warfen entschlossene Hände das Seil um seinen Hals und die Hinrichtung war vollstreckt.
   Iwan Troikoff zuckte nicht mehr. Die Todesangst mochte schon vor dem letzten schauerlichen Akte sein verwirktes Leben geendet haben.
   Peter Semenoff strich über die Geldkatze. »Noch einmal und sie wäre leer gewesen«, murmelte er. »Das ging so nicht, nein, das ging unmöglich.«


   10

   Mit klingendem Spiel durchzog das Regiment ein Dorf nach dem anderen, eine kleine Stadt nach der anderen.
   Weitere französische Streifkorps stießen zu dem des Obersten Jouffrin; auch in den preisgegebenen russischen Provinzen wurde wie in Deutschland alles junge Volk zum Militärdienst gepreßt und mitgenommen, wohin der Weg führte, aber unter durchaus verschiedenen Verhältnissen und mit einem Erfolge, der den Franzosen selbst den größten Schaden zufügte.
   Nur das Gesindel war in den Städten und Ortschaften zurückgeblieben; jeder ehrenwerte junge Mann hatte sich der Aushebung rechtzeitig entzogen, und so entstand denn unter der stolzen Bezeichnung »Nationalgarde« ein Korps von Bummlern und besitzlosen Abenteurern, das eher allem anderen als einem militärisch gewöhnten Regimente glich. Jeder trug sich, wie es ihm gefiel, führte eine beliebige Ausrüstung an Waffen und kam und ging so ziemlich nach Laune. Der französische Kaiser konnte den Leuten durchaus nichts geben; sie waren vollständig auf Raub und Plünderung angewiesen.
   »Nehmt es, wo ihr es findet, meine Jungen«, sagte mit innerem Behagen der Oberst. »Das Land ist mit allem, was es besitzt, euer Eigentum.«
   Er beeilte sich mit dem Marsche auf Smolensk nur äußerst wenig. So brandschatzend von Ort zu Ort zu ziehen; ohne nahe Kriegsgefahr, aber doch ausgerüstet mit allen Freiheiten des Krieges – das war es, was er liebte.
   Die buntscheckige Truppe, zügellos, zusammengewürfelt aus aller Herren Länder, mehr Strauchdieben als Soldaten gleich, hatte ein Städtchen am Waldessaume erreicht und überzog wie ein Bienenschwarm die Straßen. Spanische und italienische Hilfetruppen, die Kinder der russischen Steppe, dazu Pariser, Elsässer, Ostfriesen, Bremer und französische Bauern, so wogte es in allen Farben und Gestalten durcheinander.
   Die Einwohner sahen angstvoll aus den Fenstern; sie flüchteten scharenweise in die Kirche, um dort zu beten oder in der unbestimmten Hoffnung auf den Schutz des Himmels, der ihren gläubigen Herzen hier näher schien. Ein Ruf der Gewalttätigkeit, der Roheit ging dem französischen Heere schon voran; was in Ostfriesland zu den seltensten Ausnahmen gehört hatte, persönliche Ausschreitungen der Mannschaften, das war hier in Rußland, wo alle Disziplin aufhörte, völlig an der Tagesordnung, aus Soldaten hatte die Lockerung aller gesetzlichen Verhältnisse bloße Straßenräuber gemacht.
   Mit blanker Waffe wurden die Leute aus ihren Häusern vertrieben und dann Besitz ergriffen von allem, was sich darin vorfand. Wo im Stalle ein Schaf, eine Kuh oder eine Ziege stand, da fiel sogleich der glückliche Finder darüber her und schlachtete das Tier, um es mit seinen Freunden zu verzehren, ganz ohne Rücksicht auf andere, die vielleicht keine Brotrinde besaßen, oder nach bestandenem Strauße mit denen, welche den ursprünglichen Räubern den Braten mit vereinten Kräften wieder entreißen wollten.
   Eine Schar der Verwegensten eilte in die Kirche. Ringsumher an den Wänden des kleinen Gebäudes brannten unter den Heiligenbildern die ewigen Lampen; Andächtige knieten überall, der Pope sprach den schluchzenden Frauen, den blassen erschütterten Männern Mut ins Herz, er tröstete die Unglücklichen und beruhigte die Zagenden – da erschienen unter der Tür die Galgengesichter, aus denen sich alle diese Streifkorps zusammengesetzt hatten, und ein lautes Gespräch, ein Waffenklirren und Lachen störte die Andacht. »Gebt eure Bänke her, ihr Leutchen«, rief ein Franzose, dem man den Pariser Taugenichts auf den ersten Blick ansah, »wir brauchen Brennholz!«
   »Aha«, fügte er dann hinzu, »die alten Herren und Damen da an den Wänden langweilen sich entsetzlich, wie ich sehe. Kommt, Kameraden, wir wollen sie mitnehmen und ihnen von der lustigen Welt da draußen ein wenig zeigen.«
   Er deutete auf einen der zahllosen hölzernen Heiligen, welche die Russen in ihren Kirchen verwahren, und gab der verschwärzten alten Puppe einen Schlag mit der flachen Hand, daß sie taumelte. »Seht ihr wohl, Freunde, der gute alte Michael oder Fedor, wie er heißen mag, stimmt mir bei. Er will mit uns ziehen!«
   Ein dröhnendes Gelächter folgte diesen unverschämten Worten. Die Franzosen ergriffen sämtliche Heilige und schleppten sie hinaus auf den Lagerplatz, dann folgte zuletzt, dem wehrlosen Popen entrissen, der silberne Abendmahlskelch und die Statue der heiligen Jungfrau mit ihren zahllosen Schmuckgegenständen und Gliedern von Wachs, Händen, Füßen, Augen und Herzen, selbst ganzen Köpfen, die von Gläubigen geopfert worden waren, um durch die Fürsprache des Gnadenbildes eine Heilung ihrer Krankheiten zu erlangen.
   »Platz für Madame!« rief ein braunschwarzer Spanier. »Holt ihr einen Sessel!«
   Er hob das Bild hoch empor; die Seidenkleider rauschten, der Schmuck glänzte im Sonnenlicht. »Madame hat keinen Hut«, rief der freche Patron, »als galanter Mann leihe ich ihr also meine Mütze und dafür gibt sie mir das hübsche Kettchen. Merci, Madame!«
   »Moitty!« rief ein anderer, »du schändest die Heilige!«
   »Bah, sie ist ja keine rechtgläubige Katholikin!«
   Und er setzte der Wachspuppe seine Militärmütze auf, um ihr dabei mit schneller Bewegung eine schwere goldene Kette zu entreißen. »So, Madame, jetzt nehmen Sie Platz und sehen Sie sich die Welt an – flotte Jungen, des Kaisers Soldaten, nicht wahr?«
   »Mir könnte die gute Mutter wohl den hübschen Ring schenken – sie hat ja wenigstens zwei Dutzend!«
   »Und mir diesen!«
   »Halt, halt, du bist ein wahrer Greifenberger! Laß andere Leute auch einmal darankommen, Geselle!«
   »Was sagtest du da soeben?«
   »Daß du unverschämt wirst, mein Bester!«
   Die Degen flogen aus der Scheide und rotes Blut spritzte über das Rauschgold an dem Kleide der Wachspuppe. Andere Soldaten warfen sich zwischen die Streitenden; aus reinem Übermut wurden die Kirchenstühle zerschlagen und an dem entfachten riesigen Feuer allerlei glücklich eroberte Tiere gebraten. Binnen Sekunden hatte der Gold– und Silberschmuck des heiligen Bildes den Weg in die Taschen dreister Räuber gefunden, wogegen den hölzernen Heiligen allerlei unliebsame Geschenke gemacht worden waren,, z.B. riesige Knebelbärte von Kohle, ungeheure Nasen aus Lehm und was dergleichen mehr ist. Hier trag der heilige Iwan einen Soldatenmantel und um die Stirn einen Frauenschleier, dort hatte der heilige Prokop einen Wassereimer auf dem Kopf und unter dem Arm einen Reiserbesen. Das gewaltige Feuer sandte seine Rauchwolken zum Himmel hinauf; schwarz und drohend wälzten sie sich durch die glühende Luft, Riesengestalten gleich, die den schamlosen Frevel da unten vor Gott zu verklagen schienen.
   Lautes Toben und Lachen schallte über den Platz; in der ausgeplünderten, geschändeten Kirche beteten weinende Menschen – mit tief innerer Empörung wandten sich unsere deutschen Freunde von einer Szene, die jedes fühlende Herz erbittern mußte.
   »Komm«, sagte Feiko Hansen, »laß uns die Stadt besehen! Wenn wir essen wollen, so ist es überdies notwendig, irgendwo einem Bäcker oder einem Gastwirt in die Tür zu fallen!«
   »Und zu stehlen, Feiko?«
   Dieser zuckte die Achseln. »Was willst du – wir können den Magen nicht bis zum Friedensschlusse vertrösten.«
   »Das ist allerdings wahr, aber besitzen wir nicht noch einiges Geld, Feiko?«
   »Pst – das Wort sprich lieber in diesem Lande nicht aus. Wir müssen die wenigen Goldstücke sorgfältig aufheben für den hoffentlich nahen Tag unserer Flucht.«
   »Ach, wenn wir sie heute schon unternehmen könnten!«
   »Ich habe Umschau gehalten«, flüsterte Feiko, »es geht nicht. Eine Postenkette umzieht eng und fortlaufend unser ganzes Lager; die Straßen, die Flußufer, die Wälder, alles ist abgesperrt. Oberst Jouffrin weiß ohne Zweifel, daß die Zivilbehörden der preisgegebenen Provinzen auf einzelne Plünderer fahnden lassen – er will sich die Verfolger vom Leibe halten.«
   »Und uns an der Flucht nach Deutschland hindern. Sieh, da kommt Georg Wessel!«
   Der junge Mann schloß sich den beiden Vettern an und alle drei suchten eine Schenke, um Lebensmittel zu erlangen. Das war freilich nicht so leicht ausgeführt wie beschlossen; überall fanden sie die Plätze besetzt, die Speiseschränke leer, bis endlich ein lauter Tumult ihre Blicke einem stattlichen Hause am Marktplatz zulenkte.
   »Hierher, Kameraden«, rief mit hallender Stimme ein Soldat. »Hierher, ich habe eine wohlgefüllte Niederlage entdeckt!«
   Ein älterer Herr mit dem russischen Kaftan und langem schon ergrauenden Barte suchte vergeblich, den Franzosen zum Schweigen zu bringen. »Sei doch ruhig, Mensch«, bat er mit ängstlichem Tone, »bekümmere dich doch nicht um fremde Angelegenheiten. Iß und trinke, was dir beliebt, aber ziehe mir nicht all das fahrende Gesindel auf den Hals!«
   »Hierher, Kameraden, hierher!«
   »Wirst du schweigen, Bursche!«
   Der alte Mann in seiner Verzweiflung packte den Soldaten, um ihn zu Boden zu werfen, aber ein wohlgezielter Faustschlag streckte ihn auf das Pflaster, dessen Steine sich mit seinem Blute färbten. Der Soldat legte beide Hände an den Mund, um desto lauter rufen zu können. »Hierher, Kameraden!« ertönte es wieder und wieder, »hierher!«
   Von allen Seiten nahten die buntscheckigen Gestalten, junge und alte, hübsche und häßliche – von allen Seiten tönte Jubelgeschrei. »Lebensmittel hast du gefunden, Planchard? Auch solche in Flaschen? Wo sind sie? Wo? Wo?«
   »Mir nach!« rief der Soldat. »Hierher!«
   An dem wie leblos daliegenden alten Manne vorüber stürmte die ganze Schar in einen dunkeln überwölbten Torweg und von dort durch einen Hof zu einem hohen, langgestreckten Hintergebäude, das anscheinend als Holzlager diente. Man sah Bretterstapel im Erdgeschoß und an den Fenstern, kurz allerorten.
   »Das ist für den Schein«, rief Planchard. »O ihr Herren Russen, ein Pariser Kind betrügt man so leicht nicht – ich witterte hinter den Stapeln sogleich die kostbare Beute!«
   »Paris soll leben! Planchard soll leben!«
   Wie die wilde Jagd wälzten sich immer größere Massen den ersten nach; auch unsere Freunde sahen einander an. »Sollen wir mitgehen?«
   »Ich denke es! Man muß doch essen.«
   »Aber erst tragen wir den Verwundeten in das Haus!«
   »Da kommen schon Leute und holen ihn!«
   Mehrere weinende Frauen und Kinder traten scheuen Blickes auf die Straße hinaus, laut jammernd, als sie den blutüberströmten Mann sahen, dann faßten sie ihn sorgfältig und trugen mit vereinten Kräften den Bewußtlosen in das Haus. Eine Greisin mit schneeweißem Haar, wahrscheinlich seine Mutter, hob wie in Verzweiflung beide Arme gen Himmel; mehrere jüngere Mädchen führten sie weinend und schluchzend die Treppen hinauf.
   »Schrecklich!« sagte Onnen. »O Gott – es ist schrecklich!«
   »Laßt uns nur vorläufig sehen, etwas Fleisch und Brot zu erlangen. Kommt! Kommt!« Sie folgten den Vorausgegangenen und fanden eine Szene voll wilden Übermutes. In dem großen Holzspeicher lagen Lebensmittel für Tausende; die kleine Stadt hatte sich verproviantiert, um unter den Bedrängnissen des Krieges wenigstens nicht hungern zu müssen, und da sie die Waren nicht verteidigen konnte, dieselben versteckt. Der ganze große Raum war ausgefüllt mit Mehl, Fleisch, Speck, Wurst und Tee, außerdem fanden sich Berge von Hülsenfrüchten und Reis, sowie Fässer mit Wein und Branntwein.
   Letztere wurden auf den Hof hinausgewälzt und ihnen der Boden eingeschlagen. Die verwegensten Rädelsführer drangen durch die Hintertür in das Haus und plünderten die Küche; aus Schüsseln, Tassen, Töpfen und selbst Eimern wurde der Branntwein an Ort und Stelle getrunken, so daß bald alles taumelte.
   »Wo sind aber die Sitzplätze?« rief eine Stimme. »Das Stehen habe ich satt!«
   »Die Russen haben keine Stühle!«
   »Bah, das sind nur die Bauern – ihr sollt sehen, daß ich Stühle finde.«
   »Aber hüte dich, Planchard, hüte dich, Oberst Jouffrin spaßt nicht, wie du weißt! Wir dürfen den Einwohnern kein Leid zufügen!«
   Der Pariser schlug ein Schnippchen. Kecklich das Haus betretend, dessen Gebieter er vor wenigen Minuten tödlich verwundet hatte, erschien er bald darauf an den Fenstern und klatschte in die Hände. »Aufgepaßt! Ihr da unten.«
   »Halloh! Halloh! – Her mit den Schätzen!«
   Ein großer bunter Teppich flog herab, Bettstücke, Pelze, Mäntel und Decken, nützliche und unbrauchbare Gegenstände, Frauenmützen, Handschuhe und Lampenschleier, alles mit Jubel begrüßt und sogleich verwendet. Planchard schüttete einen förmlichen Regen von Kleinigkeiten aus den Fenstern, und als sich dann nichts mehr vorfand, erschien er mit einem Sessel in jeder Hand auf dem Hofe. Zwölf andere folgten nach, endlich ein Sofa und einige Bänke, aber der Bedarf konnte dadurch nicht gedeckt werden, und so beschloß man, zum Platze vor der Kirche überzusiedeln. Dort lag Stroh zu Bergen geschichtet; für die Bequemlichkeit der Soldaten war gesorgt, also mußte möglichst viel Proviant zur Stelle geschafft werden.
   »Silence!« rief Planchard. »Tambour, einen Wirbel!«
   Die Trommel rasselte; der Pariser, eine bänderreiche Haube auf dem Kopfe und einen Teppich wie einen Fürstenmantel um die Schultern geschlagen – der kecke, nicht mehr ganz nüchterne Pariser schwang als Kommandostab einen riesigen Kochlöffel.
   »Avantgarde vor! – Ihr mit den Sesseln!«
   Vierzehn Soldaten traten an, jeder einen Stuhl auf dem Kopfe, dann tönte Planchards Stimme zum zweitenmal und so fort, bis der ganze Zug aufgestellt war. Fleisch, Tee, Zucker, Branntwein und Brot, alles wurde fortgeschleppt.
   »Vorwärts marsch!«
   Trommler und Pfeifer voran, so bewegte sich die Schar, bunt geschmückt wie Harlekine, zum Torweg hinaus. Eine Wache blieb bei den Schätzen im Speicher, ein Bote an den Obersten wurde abgeschickt, um ihm von dem kostbaren Funde Meldung zu machen, und fort ging es, dem Kirchplatz entgegen.
   Als Planchard die vordere Straße erreicht hatte, öffnete sich die Haustür und auf der Schwelle erschien jene alte Frau, welche vorhin ihrem Kummer in so rührender Weise Ausdruck verlieh; sie stieg die Stufen hinab und trat den Soldaten entgegen. »Komm«, sagte sie leise, Planchards Arm berührend, »komm, ich will dir etwas zeigen!«
   Er grüßte militärisch, halb betrunken und von dem wilden Taumel des Tages fortgerissen. »Madame«, sagte er, »der Pariser vergißt nie die Höflichkeit gegen Frauen: Womit kann ich Ihnen dienen?«
   »Du sollst mir folgen, das ist alles!«
   Eine Handbewegung forderte die Soldaten auf, mitzugehen. »Aber ohne Musik, Kinder! Respekt vor den Damen!«
   Er stieg, die bunten Falten des Teppichs hinter sich herschleppend, mit stolzen Schritten die Treppe hinauf und betrat dann, geführt von der alten Frau, ein Zimmer im Erdgeschoß, wo mehrere Personen weinend ein Bett umstanden. Auf demselben lag der Mann, den die Faust des Parisers vorhin getroffen, mit klaffender Wunde an der Schläfe, offenen Auges, von Blut überrieselt – tot.
   »Sieh dahin, Franzose«, sagte die alte Dame, indem sie ihre Hand gegen den Mörder erhob. »Sieh dahin! Der, den du erschlugst, war mein einziger Sohn; der Ernährer einer großen Familie, der Freund und Beschützer aller Armen im Orte. Du hast ihn den Seinigen geraubt, wie dein Kaiser Land um Land an sich reißt, wie er Volk nach Volk ins Elend stürzt! Geh, vor Gottes Thron werden wir einander wiedersehn!«
   Die Anwesenden weinten sämtlich; still in der Ruhe des Todes lag der Erschlagene. Man hörte in dem großen düsteren Zimmer nur das Schluchzen der Frauen und Kinder, sonst keinen Laut.
   Planchard wich zurück; unter der bunten Haube war er leichenblaß geworden. »Ein Toter«, stammelte er, »was glotzt denn der? was will er von mir?«
   Mit geschicktem Griff eine Tischdecke erfassend, warf er sie über das Gesicht des Ermordeten und atmete dann tief auf. »Er soll mich nicht ansehen, er soll es nicht! – Einen Wirbel, Tambour! Tüchtig, tüchtig!«
   Und dann entfernte er sich, immer den Blick fest auf die Leiche gerichtet. »Mehr Lärm!« rief er beinahe kreischend, »mehr Lärm!«
   Trommel und Pfeife taten ihr Bestes, aber doch war die frühere Ausgelassenheit dahin. Der seltsame Zug, beladen mit allen möglichen Gegenständen des Alltagsgebrauches, bewegte sich gegen die Kirche und sein Führer schritt mit Kochlöffel und Teppich voran, aber das weiße, von Entsetzen zeugende Gesicht paßte wenig zu dem possenhaften Aufzuge, es war verzerrt und farblos – eine Totenmaske.
   Unsere drei Ostfriesen sahen den Franzosen nach. Sie hatten sich an Brot und Fleisch satt gegessen, weil es eben nicht anders ging, den angebotenen Branntwein aber ausgeschlagen und nun wandten sie sich einer anderen Richtung zu, um nicht etwa in den breiten Strom der Roheit mit hineingerissen zu werden. Alle drei fühlten sich von dem wüsten Treiben durchaus abgestoßen.
   »Wo der Schuft, der Adam Witt stecken mag?« meinte Onnen. »Ich habe ihn während des ganzen Tages noch nicht gesehen!«
   »Er plündert natürlich auf eigene Faust. Um sich zu betrinken ist er nicht einfältig genug.«
   Onnen seufzte. »Und in dieser Weise soll es nun fortgehen, bis wir mit den Russen zusammentreffen? Immer Raub und Plünderung, wohin wir kommen?«
   Feiko lächelte spöttisch. »Später, wenn erst Fürsten und Generale unsere Höchstkommandierenden sind, dann wird das alles anders«, versetzte er, »die Sache bekommt dabei einen höchst geschäftsmäßigen Namen, sie heißt ›Kontribution‹ und hat eine gewaltige Amtsmiene. Kein Soldat darf ohne Befehl auch nur einen Strohhalm nehmen, aber – die Einwohner verlieren das ihrige ganz so wie hier, wo eine Räuberbande in der Stadt haust.«
   »Da sehe ich eine grüne Wiese«, rief Georg Wessel, »ach, und auch ein Gewässer! Wenn ein Boot zu finden wäre!«
   »Laßt uns einstweilen suchen!«
   Sie gingen durch hohes üppiges Gras, zwischen dem bunte Sommerblumen auf langen Stielen blühten. Es duftete nach frischem Heu, über das Wasser kam ein angenehm kühler Hauch; hier, eine Stunde von der eigentlichen Stadt entfernt, atmete alles jene Ruhe und Stille, jene friedevolle Reinheit der Natur, die das Herz unter allem Weh des Lebens so angenehm, so tröstlich berührt Nichts erinnerte an Krieg und Hader, an das rohe Toben einer aus den schlimmsten Elementen zusammengesetzten Rotte von Abenteurern; in den Gebüschen sangen Vogelstimmen, Feldhühner huschten durch die Wipfel, ein Hase sprang dicht an den Füßen der jungen Leute auf und eilte in langen Sätzen dem Dickicht zu.
   Schnell wie der Gedanke riß Feiko das Gewehr von der Schulter und zielte. Lang widerhallend donnerte der Schuß, dann schlug Lampe einen Purzelbaum und ward nicht mehr gesehen – einige Minuten später hielt Onnen die Jagdbeute triumphierend empor.
   »Hurra!« rief er, »ein Braten, den wir ehrlich erworben haben!«
   »Vielleicht kommt noch ein Stück zum Schuß – laßt uns das Revier vollständig abstreifen!«
   Sie drangen zuerst durch weite Strecken hohen Grases und dann über eine frischgemähte Fläche, auf der das Gras in Schwaden lag, aber kein Hase ließ sich sehen. Es war alles ringsumher kirchenstill.
   Plötzlich blieb der vorausstürmende Onnen zwischen den Schwaden stehen. »Was ist das?« rief er, »hier liegt ein kleines Kind!«
   Die beiden anderen kamen hinzu und alle drei sahen einen Säugling, der auf einem ausgebreiteten Tuche ahnungslos schlief und das eine seiner purpurroten Fäustchen auf den Mund gepreßt hielt. Kein lebendes Wesen schien in der Nähe.
   »Wahrhaftig ein junger Russe!« rief Feiko. »Können wir ihn so allein hier in der Wildnis seinem Schicksal überlassen?«
   »Ach, jetzt schlägt es die Augen auf!« rief ganz entzückt der Knabe. »Ein hübsches Kind! – wollen wir es nicht in das nächste Haus tragen?«
   »Ja, ja, das kleine Wesen scheint durstig. Sieh doch, es fährt immer mit dem offenen Mündchen umher und sucht!«
   Onnen bückte sich, um das Kind vom Boden aufzuheben, als plötzlich eine junge Frau aus dem nächsten Gebüsch hervorsprang und das kleine Geschöpf an sich riß. Sie war sehr rot, ihre sonnenbraunen Arme hielten das Kind fest umfaßt, die Augen blitzten scheu und trotzig zugleich. Was sie eilig hervorsprudelte, das verstand von den Deutschen natürlich keiner.
   Hinter der Frau erschienen am Waldsaum mehrere Männer mit Sensen und Knitteln bewaffnet; sie verwandten von den Soldaten keinen Blick, ohne jedoch vorzurücken. Eine düstere Entschlossenheit malte sich in ihren bärtigen Gesichtern. Feiko streckte die Hand aus. »Guten Tag, Leute!« rief er.
   Niemand antwortete.
   Dann streichelte er das kleine Kind und sah dabei zu den Männern hinüber. »Wir führen nichts Böses im Schilde, ihr Leute! Gut Freund!«
   Die Männer sprachen miteinander, dann lief einer von ihnen in den dichteren Wald hinein und kam gleich darauf mit einem anderen zurück. Dieser letztere war jung und besser gekleidet als alle übrigen; er sah aus wie ein Pächter oder Verwalter; in seiner Hand lag eine doppelläufige Pistole.
   »Sind die Herren Deutsche?« fragte er in dieser Sprache. »Die Bauern glauben es.«
   »Hurra!« rief Georg Wessel. »Ein Landsmann! Von welcher Gegend, Freund?«
   Der Verwalter lächelte. »Ich selbst bin aus dieser Provinz gebürtig«, versetzte er, »aber meine Eltern waren Hannoveraner.«
   »Daß dich! Dann sind wir so gut wie benachbart, befreundet, stammverwandt! – Sagen Sie den guten Leuten, daß wir nichts Schlimmes beabsichtigen, Herr —«
   »Hildebrandt!« lächelte der Verwalter. »Ich habe es schon getan, ihr Herren. Aber jetzt ist vielleicht ein kleiner Imbiß gefällig, nicht wahr? Wir hausen im Walde, wie Sie wissen müssen, aus Furcht vor den Truppen des französischen Kaisers.«
   »Die sich wenigstens auf uns nicht zu erstrecken braucht, Herr Hildebrandt! Sie sind gewiß ein Gutsbesitzer oder dergleichen.«
   »Nur der Verwalter eines solchen. Mein Gebieter, Fürst Woronzoff, hat es vorgezogen, den Drangsalen des Krieges aus dem Wege zu gehen; er lebt in der Schweiz, während ich sein Gut bewirtschafte. Diese Bauern sind Leibeigene.«
   »O die Armen!« rief Onnen. »Der Fürst kann mit ihnen machen, was er will?«
   »Nicht ganz, aber doch beinahe. Kommen Sie indessen jetzt mit mir; ich möchte Ihnen eine kleine Erfrischung vorsetzen lassen.«
   Er führte seine unerwarteten Gäste in den Schatten des Waldes, wo ein großes Zelt, geschieden nur durch Querwände, die zeitweilige Wohnstätte der Leibeigenen bildete. Hie und da in Dickichten versteckt standen große Rinderherden, während alle Pferde, bis auf die zur Landwirtschaft unentbehrlichen, rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden waren.
   Sechzehn Männer und ebensoviele Frauen besorgten gegenwärtig die Heuernte, aber nirgends sah man einen Wagen oder ein Gespann, und doch waren schon weitgedehnte Strecken am Flusse abgemäht. »Wo bleiben denn die ungeheuren Vorräte?« fragte Feiko.»Werden sie auch versteckt?«
   »Natürlich«, lächelte Herr Hildebrandt. »Später will ich Ihnen das alles zeigen.«
   Er befahl einer Frau, den Hasen zu braten, während er vorerst eine Flasche Wein herbeibrachte und sich bis zur Tafel mit den fremden Gästen unterhielt. »Ich selbst bin ein freier Mann«, sagte er, »aber die Bauern, welche Sie hier sehen, sind das Eigentum des Fürsten. Ihnen gehört nichts, sie können nur auf Befehl kommen und gehen und sogar auch verkauft werden, freilich nur mit der Scholle, auf der sie leben, ohne dieselbe nicht. Mann und Frau, Eltern und Kinder müssen immer beieinander bleiben, doch kann ihr Besitzer die Familie hinschicken, wohin es ihm beliebt, sie vermieten, verleihen und bestrafen lassen – je nach Laune.«
   »Schrecklich! – Abscheulich!«
   »Bei einem gewissenlosen Herrn, ja. Unsere Leute haben es besser als so mancher freie Arbeiter in anderen Ländern.«
   »Wozu Sie gewiß nicht wenig beitragen, Herr Hildebrandt! – Auf Ihr Wohlsein.«
   Die Gläser klangen aneinander, dann kam der Hase mit verschiedenen Nebengerichten, Obst und Käse, nebst einer zweiten Flasche. Gesund aussehende Kinder umspielten das Zelt, Bienen summten in der warmen Luft und Blumen bedeckten den Boden; fernher durch das Grün schimmerten sonnenbeleuchtet die weißen Mauern des Schlosses.
   »Hatten Sie schon französischen Besuch, Herr Hildebrandt?« fragte Feiko.
   »Nein, bis jetzt nicht. Die Stadt schützt uns gegen eine Überrumpelung, aber für morgen vormittag ist der Kastellan des Schlosses zum Obersten beschieden worden; es handelt sich also jedenfalls um eine Kontribution.«
   »Das ist höchst wahrscheinlich. Oberst Jouffrin hat eine kleine Schwäche für gemünztes Metall, wie wir mit gutem Gewissen behaupten können.«
   Der Verwalter lachte. »Bei uns wird er nichts erlangen, es ist alles über die Grenze geschafft, selbst die besseren Möbel und das Inventar der Landwirtschaft.«
   »Aber jetzt«, fügte er hinzu, »will ich Ihnen das Heu zeigen. Unser Viehstand müßte im Winter zugrunde gehen, wenn wir es verlören, daher die besondere Sorgfalt.«
   Er führte seine Gäste durch das schattige Holz bis an eine Bucht, wo der Fluß tief in das Land hineindrang und beinahe einem kleinen See glich. Wald und Wasser berührten einander, Binsen von Manneshöhe schaukelten im Wind, weiße und gelbe Wasserrosen bedeckten die Oberfläche, auf der Hunderte und aber Hunderte von Möwen ihre schrillen Stimmen ertönen ließen.
   Das Seltsamste dieses ganzen anmutigen Bildes war indessen ein Schiff, oder vielmehr ein schwimmendes hölzernes Haus von wahrhaft unglaublicher Ausdehnung, eine Riesenarche mit einem Dache und vier Säulen, die dasselbe trugen. Plump und viereckig, ohne Kiel, spottete es in seiner Kastenform aller Gesetze der Schiffsbaukunst, wie denn auch nicht etwa ein Anker es auf seinem Platze festhielt, sondern lange Seile, welche an die stärksten Uferweiden geknüpft waren.
   Hölzerne Stege führten vom Bord dieses sonderbaren Baues zum Lande und sechs bis zehn Leibeigene waren beschäftigt, das duftende Winterfutter in großen runden Bündeln auf ihren Köpfen einzuheimsen. Frauen trugen es von den Wiesen herbei, während Männer mit Heugabeln es sorgfältig aufschichteten.
   »Das ist unser Versteck«, lächelte Herr Hildebrandt. »Wir haben alle Boote anderweitig untergebracht, die Herren Franzosen können also, selbst wenn sie diese Bucht überhaupt finden sollten, doch das Heu nicht erlangen, denn an Wagen fehlt es hier ebensosehr wie an Landstraßen.«
   »Sie bringen also immer das Heu zu Schiff an die Scheunen?« rief Onnen. »Auch in Friedenszeiten?«
   »Auch dann. Sechs bis zehn Boote schleppen das Schiff, dem, wie Sie sehen, die Masten fehlen, bis an den Schloßgarten und von dort tragen die Leibeigenen das Heu auf ihren Köpfen weiter.«
   Unsere Freunde bestiegen selbst die sonderbare Arche und genossen vom Bord derselben eine herrliche Aussicht auf die grünen Wälder und das stille blaue Wasser mit seinen Tausenden von Blumen, seinem wehenden Schilf und den Vogelscharen, die es umkreisten. Auf all dieser Prachtfülle lag das rote Sonnengold gleich einem Zauberschleier; schmeichelnd und süß drangen die Stimmen der Natur in die Herzen unserer jungen Freunde.
   »Feiko«, flüsterte Onnen, »Feiko, so schön es hier immer sein mag, so grün der Wald und so buntglänzend die Blumen – mein armes Norderney ist mir tausendmal schöner! Ach, könnte ich jetzt die Dünen sehen, das Branden des Meeres – allen Schmuck von Wäldern und Wiesen gäbe ich dafür hin!«
   Der ältere Vetter drückte liebevoll seine Hand. »Du hast Heimweh, Onnen, aber das mußt du überwinden lernen. Ich bin in Indien, in Brasilien und Afrika gewesen – du sollst, so Gott will, als tüchtiger Seemann auch noch dahin kommen, also nimm dich zusammen, mein Junge!«
   Er zog ihn freundlich mit sich fort, der Weg zur Stadt war noch weit, sie mußten sich verabschieden und tüchtig marschieren, ehe sie anlangten. Herr Hildebrandt gab ihnen das Geleit bis zur Gutsgrenze, beschrieb den Weg und empfahl sich dann mit der Bitte, ihn in gutem Andenken zu behalten.
   Die jungen Leute hatten einen angenehmen Nachmittag verlebt; nur widerstrebend näherten sie sich dem Schauplatz der wüsten Szenen, deren Geräusch schon von weitem zu ihnen herüberdrang. Musik und Lachen, lauter Jubel tönte aus den Gassen, in denen nur Soldaten zu erblicken waren; alle Einwohner hatten sich in ihre Häuser geflüchtet.
   Ziemlich am äußersten Ende der Stadt standen in Gärten vereinzelte niedere Gebäude, alle dunkel, als fürchteten die geängstigten Menschen, durch das kleinste Licht schon die Aufmerksamkeit des Feindes zu erregen: Blumen blühten auch hier, Rosen und Reseda dufteten, aber zwischen den Beeten spionierten dunkle Gestalten, lüstern nach Schätzen, nach dem Hab und Gut des schutzlosen Nächsten, Soldaten, die ihre Uniform schändeten, Menschen, die wie Raubtiere wüteten.
   Aus einem jener Häuser drang das Schluchzen einer Frauenstimme hervor. Russische Worte, in flehendem Tone gesprochen, wurden hörbar, dazwischen eine Männerstimme, die zu befehlen, zu drohen schien – und zwar in deutscher Sprache.
   »Alle Teufel, so schreie nicht, Weib, oder du sollst es bereuen!«
   Georg Wessel stand still. »Onnen«, flüsterte er, »höre doch! – Wer ist das?«
   Sie lauschten alle. Durch die offenen Fenster klang wieder das Weinen und Poltern. »Her mit dem Kasten, sage ich oder —«
   »Das ist Adam Witt, so wahr ich lebe!«
   »Ich glaube es auch. Er plündert.«
   »Wollen wir ihm ein wenig auf die Finger sehen?«
   »Natürlich. Da prügelt er eine Frau, der Schuft!«
   Sie eilten alle durch den vorderen Mittelweg des Gartens ins Haus und in ein Zimmer zu ebener Erde, wo ein Soldat eine alte Frau mit beiden Händen auf den Boden drückte und dann seinen Fuß zur Hilfe nahm, um mit der Rechten in ihrer Tasche etwas zu suchen.
   »Gib den Schlüssel, verdammte Hexe«, schrie er, »ich will in den Koffer hineinsehen! Da steckt bei euch geizigen Bauern das Geld, ich weiß es aus Erfahrung!«
   Er hatte offenbar ganz vergessen, daß die Alte von seiner Rede kein Wort verstand; mit roher Gewalt suchte er sich des Schlüssels zu bemächtigen und würde diesen Zweck auch wohl im nächsten Augenblick erreicht haben, wenn nicht Onnens kräftige Fäuste ihn gepackt und in den Winkel des Zimmers geschleudert hätten.
   »Was machst du hier, Elender?«
   Adam Witt schäumte vor Zorn. »Was geht es dich an, Sohn eines —«
   Er kam nicht weiter, Onnens Faust schnürte ihm die Kehle zusammen. »Was wagst du da nur zu denken, Spion?« zischte unser Freund. »Warte, ich will dich lehren, meinen gemordeten Vater noch im Grabe zu beschimpfen!«
   Feiko und Georg rissen ihn mit vereinten Kräften von seinem taumelnden todblassen Opfer. Adam Witt schien völlig die Sprache verloren zu haben, er ächzte nur in gurgelnden Tönen und ballte ohnmächtig die Faust.
   Was die alte Frau betraf, so hielt sie ihre Hände gefaltet und seufzte tief. Was sie in russischer Sprache vor sich hin murmelte, hieß ohne Zweifel: »Du großer Gott, jetzt sind es ihrer vier, die mein bißchen Hab und Gut stehlen wollen!«
   »Der Bursche da begleitet uns«, gebot Feiko, indem er auf den Sohn des Verräters deutete. »Marsch vorwärts!«
   »Ich will nicht!« rief Adam Witt, »ihr habt mir nichts zu befehlen!«
   »Hinaus!«
   »Nein!«
   Feiko packte ihn am Kragen und schob ihn zur Tür. »Wo meine Freunde und ich gegenwärtig sind, da prügelt man keine Frauen, du Unverschämter! Hinaus mit dir!«
   Aber Adam Witt sträubte sich, es kam zu einem Ringen, bei dem er den kürzeren zog, er taumelte und fiel – ein Regen von Goldstücken ergoß sich durch das Zimmer.
   »Mein Geld!« schrie der Bursche. »Großer Gott, mein Geld!«
   Feiko lachte. »Nimm es auf, ich gebe dir fünf Minuten Zeit. Rasch! – ein Sündenlohn ist ja doch jeder Pfennig!«
   Adam bückte sich schleunigst, er sprang umher wie ein aufgeschrecktes Kaninchen. »Mein Geld muß ich wiedererlangen, oder ihr seid mir ersatzpflichtig! – Noch fehlen zehn Napoleons und ich finde sie nicht! – Was ging es euch an, wie ich zu dem meinigen kam?«
   »Sei ruhig!« befahl Feiko. »Deine fünf Minuten sind nahezu verstrichen.«
   »Macht, daß ihr fortkommt«, schrie, vor Wut halb außer sich, der Sohn des Verräters. »Geh vom Fenster weg, Onnen Visser! Meine Goldstücke liegen unter deinen Füßen, du willst sie mir bei guter Gelegenheit stehlen, mich betrügen!«
   »Das ist doch, weiß der Himmel, zu arg!«
   Und Onnen packte zum zweitenmal seinen Widersacher, um ihn zur Tür hinauszuwerfen. Wie ein Ball flog Adam über die Schwelle, draußen aber richtete er sich auf und ballte die Faust; seine Augen funkelten in dem weißen Gesicht wie die einer Katze.
   »Das sollst du mir büßen, Onnen Visser, das verzeihe ich dir nie, so lange ich atme. Wenn deine besten Wünsche scheitern, wenn deine und deiner Genossen Pläne zuschanden gemacht werden, dann denk an mich, hörst du!«
   »Und wenn du einmal wieder eine wehrlose alte Frau prügelst, dann denke nur getrost auch deinerseits an uns, du Schurke! Wir werden hinter dir stehen wie heute.«
   Adam Witt antwortete keine Silbe, er verschwand in der Dunkelheit gleich einem Schatten, höchstwahrscheinlich, um sich in der Nähe versteckt zu halten.
   »Er kommt sicherlich zurück, sobald wir fort sind«, meinte Feiko. »Wenn man das nur der Alten begreiflich machen könnte.«
   Onnen näherte sich ihr, deutete auf den Koffer und auf sie selbst, dann schließlich zur Tür. Er winkte lebhaft mit der Rechten.
   Die Frau nickte; sie erfaßte das nächste Stück ihres Hausrates und vollführte eine Bewegung, als wolle sie sagen: »Ich bringe nur die Sachen nicht fort.«
   »Aber wir können es!« rief Onnen, indem er sich auf die Brust schlug. »Wir!«
   Die Alte erschrak. Dieser Vorschlag erschien ihr offenbar sehr fragwürdig.
   Im selben Augenblick öffnete ein Mann die Tür und sah suchend umher, dann, als er die Alte erblickte, brach von seinen Lippen ein Freudenschrei; er umfaßte sie und sprach ihr lebhaft zu wie jemand, der dem anderen sagt: »Nun beruhige dich ganz; ich bin bei dir.«
   »Ihr Sohn!« dachten zu gleicher Zeit unsere Freunde, und Feiko sagte: »Jetzt können wir gehen, glaube ich. Kommt der Plünderer wieder, so findet er ohne Zweifel einen warmen Empfang!«
   Sie wollten sich eben entfernen, als ihnen der Fremde beide Hände reichte und sie treuherzig ansah. Miteinander sprechen konnte man nicht, aber Blick um Blick sagte alles; auch das Mütterchen lächelte mit Tränen in den Augen einen Abschiedsgruß und dann gingen die jungen Leute fort.
   Durch das Dunkel der Gebüsche schlüpfte ein menschliches Wesen. Jedenfalls lauerte Adam in der Nähe, um das unterbrochene Werk wieder aufzunehmen, sobald die Gelegenheit günstig schien.
   »Viel Glück auf den Weg«, lachte Onnen. »Laß dir die Prügel wohlschmecken.«
   Sie gingen langsam durch die Stadt zum Platz vor der Kirche zurück. Eine rote Lohe schlug ihnen schon von weitem entgegen, Musik und Getöse aller Art. An einem riesigen Feuer, genährt durch Möbel aus den umliegenden Häusern, an einer rauchenden knisternden Glut wurde gekocht und gebraten, während das geplünderte Magazin die Vorräte dazu liefern mußte. Eine völlig wahnsinnige Verschwendung dessen, was zur Ernährung einer ganzen Stadt bestimmt war, ein toller Frevelmut kennzeichnete diese Vorgänge.
   Ganze Zuckerhüte lagen in Pfützen von Wein und Branntwein, zertreten von tanzenden Füßen, schmelzend, unbeachtet wie wertloser Staub; Pfunde kostbarer Gewürze waren unter den Hufen der Pferde zermalmt, der Inhalt zahlreicher Teekisten mutwillig verschüttet, Fässer mit Pökelfleisch oder Mehl ins Feuer geworfen.
   Auf Stroh und Bettstücken lagerten im roten Scheine des Feuers die Soldaten, während in einiger Entfernung die geängstigten Bürger mit Ledereimern und langen Leitern Aufstellung genommen hatten, um im Falle einer ausbrechenden Feuersbrunst sogleich tätig einschreiten zu können.
   Es war ein ernstes, erschütterndes Bild. Auf einer Seite die betrunkenen Franzosen in vandalischer Zerstörungsfreude, auf der anderen die blassen Gesichter der Bürger, welche ohne irgendeinen Widerspruch mitansehen mußten, wie ihre Häuser geplündert und ihre Vorräte vernichtet wurden. Sie schwiegen zu allem, was geschah, und hielten nur Wache, um die unglückliche Stadt mit ihren hölzernen Gebäuden vor einer Feuersbrunst zu beschützen oder doch wenigstens ein etwa entstehendes Unglück auf das kleinste Maß zu beschränken.
   Oberst Jouffrin ging langsam durch das Lager. Sein rohes Gesicht zeigte große Zufriedenheit; so gefielen ihm die Dinge, so fand er das Dasein angenehm. Seit langen Jahren im Dienst des eroberungslustigen Kaisers, hatte er sich daran gewöhnt, die Welt als einen einzigen großen Kriegsschauplatz zu betrachten und eine recht ergiebige Plünderung als Zweck langer, mühevoller Märsche oder blutiger Schlachten anzusehen. Man zog umher und ließ sich‘s wohl sein, das war das Glaubensbekenntnis dieses edlen Ritters von der Landstraße.
   Er selbst hatte im Hause des Bürgermeisters sein Quartier aufgeschlagen und einen Doppelposten vor die Tür stellen lassen. Hierher durfte kein Soldat kommen, hier wurde die Behaglichkeit der Einrichtung durch nichts gestört – wo er selbst wohnte, da schätzte der tapfere Mann Ordnung und Sauberkeit sehr hoch; nur andere Leute durften derartige Ansprüche nicht erheben.
   Unsere drei Genossen suchten sich ihr Nachtlager am entferntesten Punkte des Marktplatzes, obwohl Lärm und Geschrei auch hierher drangen. Die Heiligen der geplünderten Kirche dienten jetzt einem anderen Zwecke: sie mußten Wäsche trocknen. Hemden und Strümpfe, Taschentücher und Uniformstücke, alles war ihnen angezogen und die alten Holzbilder nahe an das Feuer gestellt worden, um als Ständer zu dienen.
   Einer hatte von der Glut schon Nase und Ohren eingebüßt, was die Franzosen sehr zu belustigen schien; sie verbanden ihm den Kopf, nannten ihn pauvre père und spielten schließlich Ball mit ihm.
   Der Abendmahlskelch ging, unablässig neu gefüllt, dabei von Hand zu Hand; endlich fand sich sogar ein Soldat, der auch den Pferden Wein anbot und, als diese schnaubend und kopfschüttelnd den Trunk zurückwiesen, ihnen denselben gewaltsam einflößen wollte.
   Ein anderer entriß ihm das silberne Gerät. »Daraus trinkt kein Tier«, schrie er.
   »Dann ist es also nichts für dich!« war die freundliche Antwort. »Gib her!«
   »Hier hast du das Ding!«
   Ein schwerer Schlag, ungeschickt ausgeführt, traf nur die Degenkuppel, das Altargefäß dagegen flog in die Glut, daß sie zischend aufspritzte.
   Taumelnd, mit trunkenem Lachen stolperte der Soldat seines Weges.
   Die Nacht sank herab; stiller und stiller wurde das Toben. Über dem verglimmenden Feuer, mitten auf den Platz mit seiner grauenhaften Verwüstung herabsehend, erschien der volle Mond; weißes und purpurnes Licht mischten ihre Strahlen, wie Schattenspiele huschten die Wolken hin und her über das glänzende Rund.
   Auch auf die Kuppeln und Türme der Kirche fielen weiße Streifbänder, auf bunte Glasfenster und Nischen mit erzenen Figuren. Drinnen las der Pope die Messe und zeigte den Andächtigen das Allerheiligste; Weihrauch drang aus den offenen Türen, leiser Glockenklang, leises Schluchzen.
   Draußen verstummten nach und nach die Stimmen der Soldaten; aus befreitem Herzen atmeten die bleichen Stadtbewohner. Nun war die ärgste Gefahr vorüber.
   Stille, tiefe Nacht. Schmetterlinge huschten um halbverkohlte Trümmer, hie und da sammelten, leise schleichend, Frauen und Männer die Überreste der gestohlenen, zerstreuten Lebensmittel. Ein Verbrechen wird die Mutter des anderen; nachdem das Vorratshaus geplündert worden war, nachdem fremde Gewalthaber in den erbeuteten Schätzen schwelgten, hielten sich auch die Ärmsten der Stadt für völlig berechtigt, ihrerseits zu nehmen, was immer die tastende Hand erbeuten konnte.
   Ganze Lachen von Branntwein standen in den Vertiefungen zwischen den Steinen. Das niedere Volk, Leibeigene und Arbeiter, selbst Frauen bückten sich, um gierig zu trinken – taumelnde Gestalten schlüpften durch die Reihen der Schläfer.
   Mückenschwärme spielten im Feuerschein, unerträgliche Schwüle lag auf allen Stirnen. Aus den Reihen der ostfriesischen Rekruten erhob sich ächzend eine schlanke Gestalt und ging zum Brunnen auf der Mitte des Platzes, um ein Leinentuch frisch zu benetzen. Eine lange Schramme lief von der Schläfe bis zu den Lippen über das ganze Gesicht – der Bursche schluchzte halb vor Schmerz, halb vor Wut.
   »Mußte mich mein eigenes Messer verwunden! Wie ein Bär drückte mir der Kerl die Arme zusammen, nur weil ich mein Geld wiederfinden wollte, das da unter den Tischen herumlag! – Warte, Onnen Visser, warte, es kommt die Stunde, wo du mir die Niederlage dieser Nacht teuer bezahlen sollst!«
   Adam Witt legte das Tuch um sein blasses Gesicht, trocknete sich die Augen und suchte einzuschlafen. Immer zählte in der Tasche die Hand. Zehn Napoleons fehlten, soviel er auch kneifen und drücken mochte – aufs neue, stärker als vorher, rannen die Tränen.
   Hie und da krähte ein Hahn, murmelte einer der Schläfer im Traume. Drinnen klang das Glöckchen, duftete der Weihrauch – die heilige Stätte wurde nicht leer; immer neue Scharen drängten herzu, immer neue Herzen beteten: »Herr, laß diesen Kelch vorübergehen.«
   Und ein Wort fiel von den Lippen des Popen, ein zündendes, begeisterndes Wort. »Die Frevler schlafen – laßt uns hinausgehen und das Muttergottesbild retten!«
   Verhaltenes Schluchzen antwortete. Einer drängte den anderen, Hunderte glitten geräuschlos aus den Türen. Männer der besten Stände, junge Mädchen, selbst Kinder betraten das weite Rund, wo die Soldaten schliefen; endlich hatte jemand das Marienbild gefunden.
   »Hier! Hier! – O Greuel der schrecklichsten Sünde!«
   Wie ein lebendes geliebtes Wesen trugen schützende Hände das Bild. »Ich schenke der Gebenedeiten ein neues Seidenkleid! – Ich eine Strahlenkrone! – Ich einen Schmuck!«
   Im Triumphe wurde das gerettete Gut zurückgebracht in die Kirche, im Triumphe die mißhandelten Heiligen den Frevlern entrissen.
   Hie und da erwachte ein Schläfer. »Kirchengesang! – Wie lange ist‘s, seit ich betete?«
   Und ein Herz schlug schneller; der Schlaf war verscheucht. »Wie lange ist‘s, seit ich betete? – Herr, gehe nicht ins Gericht mit uns Sündern, unter denen ich der vornehmste bin!«
   Ein Rosenschimmer umflutete den lächelnden Mond; sein Glanz schien zu erbleichen, schien weiß, statt des goldigen Hauches. Frische kühle Luftwellen trug der Wind über das Aschenfeld und die schweren Augenlider der Soldaten.
   Trommelwirbel hie und da. Rataplan! Rataplan! – Es ist die Reveille; noch ein neuer harter Schlag steht der heimgesuchten Stadt bevor. Das ganze Regiment muß aufmarschiert sein, wenn er fällt, denn die Sache braucht ein amtlich Antlitz – als die Tat eines einzelnen wäre sie ein Frevel, der Gottes Langmut in Groll verwandeln könnte.
   Ordonnanzen trugen in jedes Haus den Befehl des Obersten, der allen Bürgern gebot, um zehn Uhr vormittags in der Bürgermeisterei zu erscheinen, immer zwölf und zwölf zur Audienz bei ihm. Von Haus zu Haus schlich das Erschrecken, die bange Furcht. Was konnte der Plünderer, der Mann mit dem Tigergesicht weiter noch wollen?
   Geld? Sie hatten keins mehr. Für die geraubten Vorräte war‘s draufgegangen; alle Arbeit stockte ohnehin. Was konnte er wollen?
   Der Apotheker und der Materialwarenhändler mußten ihre schweren Eisenmörser zur Stelle schaffen. Neues Rätsel, neue quälende Sorge.
   Das Regiment stand aufmarschiert, klingendes Spiel erfüllte wie zum Hohn den jungen Morgen. Vor der Tür der Bürgermeisterei sammelten sich blaß und unruhig die Bürger. Es liegt in der Luft, es wird mit allen Nerven empfunden, wenn ein Unglück naht.
   Schlag zehn Uhr kam ein Unteroffizier und ersuchte die ersten zwölf Herren, ihm zu dem Herrn Obersten zu folgen.
   Der »Schinder« lächelte äußerst herablassend, er bot den Leuten Stühle und kam dann endlich auf den Zweck dieser Zusammenkunft. »Seine Majestät der Kaiser braucht Geld, viel Geld, der Krieg verschlingt Unsummen – es muß etwas geschehen, um die leeren Kassen zu füllen.«
   Niemand antwortete ihm. Sie wußten es ja, Geld war nicht vorhanden, auch der gestrenge Oberst würde in ihren leeren Taschen nichts finden können.
   Dieser lächelte sehr milde. »Und da habe ich denn den Befehl erhalten«, fuhr er fort, »alle Gold– und Silbersachen der Bevölkerung einzuziehen. Es ist mir außerordentlich schmerzlich, die Bürger und besonders die Frauen derselben ihrer liebgewordenen Kleinodien berauben zu müssen, aber der Befehl des Monarchen erfordert, wie Sie wissen, blinden Gehorsam. Die Herren mögen also nach Hause gehen, den Draußenstehenden sagen, um was es sich handelt, und den Besitz jeder einzelnen Familie herbeibringen. Von dieser Verordnung ist kein Stück ausgenommen, weder des persönlichen noch des öffentlichen Eigentums, das bedenken Sie wohl und hüten sich, die Strafe, welche einer Hinterziehung folgt, leichtsinnigerweise herauszufordern! – Der Herr Bürgermeister ist für die Ausführung dieser Maßregel verantwortlich gemacht worden.«
   Eine Handbewegung verabschiedete die Geplünderten, sie konnten gehen und auf dem Korridor in das blasse Gesicht des Bürgermeisters blicken oder verstohlene Flüsterworte mit ihm tauschen.
   »Da hilft kein Federlesens, ihr Leute! Er hetzt euch seine Horden ins Haus und läßt wegnehmen, was ihr etwa verweigern möchtet. Seht her – da liegen die Löffel und die Schmucksachen meiner Frau, alle ihre Hochzeitsgeschenke! Ich hab‘s kurz gemacht, die Schränke gestürzt und herausgegeben, was darin war. Tut das gleiche, meine Freunde!«
   Ein Kopf schütteln, ein Knirschen des Ingrimms folgte diesen Worten: »Zuviel, zuviel – das Menschenherz sträubt sich! – Und was will denn der Wüterich mit den Eisenmörsern?«
   »Das erratet ihr nicht? Seine Soldaten werden darin unsere Gold– und Silbersachen zu Splittern zerstampfen. So läßt sich das gestohlene Gut besser fortschaffen.«
   »Allmächtiger Himmel!«
   »Schnell!« drängte der Bürgermeister. »Ich bitte euch, verursacht keine Gewaltmaßregeln! – Dieser Mann lechzt nach dem Augenblick, wo er eure Häuser, das Leben eurer Frauen und Kinder seinen Horden preisgeben kann!«
   Diese Ermahnung half. Die geängstigten Bürger eilten fort, um den ihrigen die Kunde einer neuen unerhörten Gewalttat zu überbringen. Niemand empfand mehr das Verlangen, den Herrn Obersten persönlich zu sprechen; die Menge verteilte sich und der Platz wurde leer, aber nur für kurze Zeit, dann kamen Männer und Frauen, die ersteren stumm, leichenblaß, letztere weinend, alle mit dem, was sie an Kostbarkeiten besaßen. Jede Hand stapelte auf große Tische im Empfangszimmer der Bürgermeisterei die Löffel und Ringe, Ketten, Uhren, den Schmuck und das Tafelgerät – gierigen Blickes wog und zählte der habsüchtige Franzose, gierigen Herzens überschlug er, wieviel davon unbemerkt in seine eigenen Taschen fließen könne.
   Draußen gaffte das Volk. Die nie im Leben etwas Silbernes oder Goldenes ihr eigen genannt, die ganz Armen brauchten heute keine Tränen zu vergießen; sie empfanden ein gewisses Behagen in dem Gedanken, daß nun der zinnerne Teelöffel seine Einkehr auch bei den Reichen, Bevorzugten halten würde.
   Und dann begann der Eisenmörser seine Tätigkeit. Der Oberst selbst zählte die einzelnen Gegenstände, er stellte doppelte Wachen aus und ließ von den zuverlässigsten Leuten seines Regiments das Metall zu Klumpen zerstampfen.
   Als die letzten Bürger verabschiedet waren, ließ der gebietende Herr den Bürgermeister rufen. »Ich vermisse zu meinem großen Erstaunen das Silber des Kirchenschatzes«, sagte er ziemlich streng. »Weshalb wird derselbe willkürlich zurückbehalten?«
   Der unglückliche Bürgermeister bekreuzte sich. »Das Altargerät?« stammelte er, völlig aus der Fassung gebracht.
   »Natürlich!«
   »Ich werde es herbeischaffen, Herr Oberst!« Wieder näherte sich ein Volkshaufen der Bürgermeisterei, aber diesmal tobend, aufgeregt, zornig, mit wilden Bewegungen. Inmitten des erbosten Knäuels ging aufrecht der Pope und in seiner Hand trug er unverhüllt die Monstranz, das Allerheiligste, das Gefäß, in dem die Hostie aufbewahrt wird. Ein Kirchendiener begleitete ihn, in einem Korbe das übrige Gerät tragend. Oberst Jouffrin stand vor dem Fenster; seine Augen leuchteten plötzlich auf. »Brillanten«, murmelte er, »ich dachte es mir.« Draußen fielen die Leute dem Popen in den Arm. Er sollte das Allerheiligste beschützen, er sollte es verteidigen gegen jeden Angriff.
   »Nicht herausgeben!« rief eine Stimme, und »nicht herausgeben!« wiederholten Hunderte, Tausende. Geballte Fäuste kehrten sich gegen das Haus, ein wildes Geschrei erfüllte die Luft. Wie der Blitz war Oberst Jouffrin auf der Straße. Sein Kommando schallte donnernd über die Reihen der Truppen und der Bürger dahin – binnen einer halben Minute lagen mehr als tausend Gewehre in Anschlag.
   Der Bürgermeister riß ein Fenster auf. »Leute«, rief er, »bedenkt die Folgen! Gebt nach, gebt nach! Eine Monstranz können wir für Geld wiedererlangen, das vergossene Blut niemals!«
   Tiefe Stille unten, dann ein Murren, Ächzen, ein Laut der bittersten Seelenpein. Sie küßten das heilige Gefäß, sie berührten es scheu und andächtig; zum letztenmal gab der Pope im Angesichte des Heiligtums dem versammelten Volke seinen Segen, dann war der Weg frei und er konnte die Treppe hinaufgehen, um den uralten Schmuck des Gotteshauses dem fremden Gewaltherrscher zu überliefern.
   Die Truppen blieben unter den Befehlen ihrer Offiziere bereit, in jedem Augenblick loszuschlagen – unterdessen prüfte der Oberst mit Kennerblicken das bedeutendste Wertstück der ganzen Beute, dann ließ er schleunigst durch den diensttuenden Unteroffizier einen Goldschmied herbeiholen und in seinem Beisein die Brillanten, welche das Silber im Kranze umgaben, sorgfältig aus der Fassung brechen.
   Als später die Monstranz in den Mörser kam, prüfte er selbst das fortschreitende Werk, bis die Form zerstört war und kein Auge mehr entdecken konnte, wo an dem plattgeschlagenen Klumpen ehedem Brillanten und Topase wie Sterne vom Himmel erglänzten.
   Die unglückliche Stadt hatte nun hergegeben, was sie besaß; man konnte also füglich den Stab weiter setzen. Des Obersten Hand glitt prüfend über die Brusttasche des Waffenrockes – er lächelte. Da war eine hübsche Anzahl edler Steine versammelt, große und kleine, weiße und farbige – er wußte am besten, für wen.
   Mit klingendem Spiel zog das Regiment des Weges. Wie angenehm, den Sieg so leicht zu erkaufen, so mühelos!
   Sein Pferd tänzelte lustig, eine französische Melodie flog windgetragen durch die sonnige Morgenluft, ein grüner majestätischer Wald zeigte von fern den Wanderern die rauschenden Wipfel. Immer weiter, weiter, mitten hinein ins Herz des Landes – vor ihm Genuß und Gewinn, hinter ihm Tränen und Aschenfelder. Was kümmerte es den Mann ohne Herz, wieviel andere litten? Er hatte schon in Ägypten geplündert und die Dörfer verwüstet, schon in Ägypten im Kugelregen gestanden, ohne getroffen zu werden – das gleiche würde auch hier geschehen. Und halblaut summend fiel er ein in die Melodie der Soldaten.


   11

   Noch heute ist der russische Urwald zum größten Teil ohne Forstkultur; damals war er es ganz. Bären und Wölfe, Auerochsen und Füchse beherrschten das Gebiet. Der Mensch kam nur hinein, um Holz zu fällen, unbekümmert, wer jungen Nachwuchs ziehen, wer das Vorhandene pflegen und sich um das Künftige bemühen werde.
   Eine solche Wildnis, undurchdringlich im Winter, ist im Sommer malerisch schön und anmutig, dennoch aber fanden die Soldaten den Weg durch dieselbe sehr unbequem: Dichter Efeu spann seine grünen Arme von Baum zu Baum, Dickichte und Flächen voll stachliger Gebüsche nötigten nicht selten zu Umkehr oder zu weiten Umwegen.
   Hie und da glänzte silbern ein stiller See, aber keine Menschenwohnung zeigte sich in der Nähe. Das Regiment lagerte gegen Mittag an den Ufern eines klaren Flusses; große Feuer wurden entzündet, um die mitgenommenen Vorräte zu kochen, Wachtposten umgaben nach allen Seiten den ausgedehnten Platz. Ein tiefer Waldesfriede lag auf der Umgebung. Wie lichtgrüne Quasten hingen die Blüten des Hopfens überall von den Bäumen herab, in brennendem Rot glänzten die Fruchtbüschel der Eberesche; ein dichtes Blätterdach hinderte die Sonnenstrahlen, den weichen Moosboden zu treffen – nur hie und da zitterte auf den Blüten ein goldiger Schein oder fiel wie ein hell schimmerndes Band von dem Stamme einer uralten, vielfach zerborstenen Eiche herab.
   Gegen den Fluß hin waren keine Wachtposten ausgestellt. Das Wasser schien seicht und sein Lauf vielfach gekrümmt, überall hingen Baumzweige bis auf die hüpfenden Wellen herab. Es sang und flötete, es zwitscherte und lockte, aus jedem lauschigen grünen Versteck.
   Das Feuer begann zu erlöschen, die Pfeifen wurden als Nachtisch in Brand gesetzt. Unter einer Rieseneiche lagen die Freunde langgestreckt im Moos und plauderten von der Heimat, der nächsten Zukunft, von allem, was ihre Herzen bewegte.
   »Hast du den Fluchtplan aufgegeben, Feiko?« fragte Onnen.
   Der Steuermann lächelte. »Durchaus nicht, mein Junge. Aber ich will die günstige Gelegenheit erwarten und diese fehlt bis jetzt.«
   »Das ist auch meine Ansicht«, stimmte Georg Wessel ein. »Wir müssen erst zur Armee stoßen und geduldig ausharren, bis ein Hauptschlag gefallen ist – natürlich gegen die Franzosen. Dann, auf dem Rückzuge, verschwinden wir eines Tages.«
   »Ach«, seufzte Onnen, »wie lange ist das noch! Und vielleicht —«
   »Pst! – da unter den Zweigen regte sich etwas Lebendiges!«
   »Wo?«
   »Unter den Weiden!«
   Sie beobachteten alle den angedeuteten Punkt; Feiko nahm leise das Gewehr zur Hand und richtete sich auf. »Vielleicht ein hungriger Wolf!« flüsterte er.
   »Die wagen sich am hellen Tage nicht so nahe herbei!«
   »Da! da!« rief Onnen. »Ein schwarzer Kopf!«
   In diesem Augenblick teilten sich die Zweige und eine große, plumpe Gestalt trat, das Wasser durchwatend, auf den Uferrand. Ihr folgten mehrere etwas kleinere und schließlich ein paar unbeholfene Tierchen, die kaum mit den Schnauzen aus dem Wasser hervorragten.
   »Eine Wisentfamilie!« rief Feiko. »Auerochsen!«
   Hunderte von Stimmen erhoben sich zugleich; die Jagdlust war geweckt, alle Müdigkeit vergessen. Der Hornist blies ein Signal zum Angriff, wenigstens zwanzig der verwegensten jungen Leute sprangen in das Wasser, um den Tieren den Rückweg abzuschneiden.
   Der alte Leitstier warf den Kopf auf; er schien erstaunt. Aus seiner mächtigen Brust drang ein Ton wie fernes Donnergrollen; er scharrte mit dem Vorderfuße das Moos auf.
   Zwanzig Schüsse krachten zugleich. Das gewaltige Tier drehte sich im Kreise, taumelte und raffte dann alle seine Kräfte zusammen; mit gesenktem Kopfe stürzte es sich gegen die Reihen der Soldaten.
   Alles flüchtete, alles geriet in Bewegung; man umstellte den verwundeten Stier, scheuchte ihn mit Feuerbränden, mit Trompetengeschmetter und Geschrei, bis er in ein Dickicht getrieben war und dort zusammenbrach. Ein Schuß aus nächster Nähe setzte seinem Leben ein plötzliches Ziel.
   Die übrige Herde hatte unterdessen versucht, an irgendeiner günstigen Stelle durchzubrechen. Führerlos, auf das äußerste erschreckt, stampften die Tiere den Boden, kläglich brüllend und schreiend, dabei unablässig verfolgt von den Jägern, die weit über die Postenlinie hinaus nachsetzten und immer erbitterter ihre Beute verfolgten, je weniger sie auf dem unebenen beschwerlichen Wege hoffen durften, derselben habhaft zu werden.
   Feiko und Onnen jagten ein halbwüchsiges Kalb. Das Tier lief behende unter den Gebüschen dahin, es war schneller als seine Verfolger und wäre auch ohne Zweifel entkommen, wenn nicht irgendein unerklärbares Etwas plötzlich die eilende Flucht gehemmt hätte. Das Kalb fuhr wie im Erschrecken zurück, drehte sich kurz um und lief den beiden Jägern gerade in den Schuß.
   Die Gewehre knallten zu gleicher Zeit; das hübsche Tier sprang hoch empor und fiel dann tödlich getroffen zu Boden.
   »Hurra!« rief Onnen. »Das ist ein annehmbarer Braten.«
   »Aber was war es wohl, vor dessen Anblick das Tier so heftig erschrak?«
   Feiko prüfte das nächste Gebüsch, er horchte und spähte, aber ohne irgend etwas Auffälliges entdecken zu können; dann kehrte er zu dem erlegten Kalbe zurück und beide glückliche Schützen trugen es unter Aufbietung aller ihrer Kräfte ins Lager.
   Von einem Baume herab sah Adam Witt unruhig nach allen Seiten. Er hatte noch das weiße Leinentuch um den Kopf gebunden und glich so mit dem blassen sorgenvollen Gesicht einer alten Frau in französischer Infanterieuniform wie ein Wassertropfen dem anderen. Die beiden Jäger grüßten ihn laut lachend; gaben ihm die Versicherung, daß alle Feinde erlegt seien, und forderten ihn auf, zum frischen Kalbssteak herunterzukommen; er antwortete nur durch eine Grimasse.
   Oberst Jouffrin ging den jungen Leuten entgegen. »Gute Beute, meine Kinder«, sagte er schmunzelnd, »gute Beute! Ich bitte mich bei euch zu Gaste. Aber was war das da unten, hm? Dies Tier witterte ohne Zweifel einen Feind; es hatte einen Grund, so plötzlich umzukehren!«
   »Das ist auch unsere Ansicht, Herr Oberst, aber zu entdecken war nichts.«
   »Einerlei, einerlei, wir müssen uns überzeugen. Es ist immerhin möglich, daß russische Streifkorps hinter den Gebüschen stecken.« Er ließ dann seine Leute antreten und gebot: »Freiwillige vor!«, worauf mehr als hundert der verwegensten Gesellen sich meldeten und nun mit geladenen Gewehren die Rekognoszierung unternahmen.
   Eine Spitze von zwei Mann eröffnete den Zug. Schritt um Schritt wurde möglichst geräuschlos zurückgelegt, immer tiefer drangen die Franzosen in den grünen Urwald hinein, über gestürzte mächtige Baumriesen kletternd, vorbei an Sümpfen, an Schilf und Binsen, aber nichts Besonderes zeigte sich.
   Meister Reineke im roten Pelz, haarlos und schäbig, strich über den Weg, Scharen von wilden Hühnern, Tauben und Sumpfvögeln flogen auf, eine Hasenfamilie verschwand schattengleich vom Weideplatz. Überall herrschte tiefe Stille. Plötzlich legte ein Soldat den Finger auf die Lippen; er winkte. Die ganze Schar stand wie gebannt; aller Augen blickten hinüber zu einer Stelle, die der Vordermann angedeutet hatte. Dort erhob sich, nur mit einer einzigen Ecke sichtbar, ein Brettergebäude, eine roh behauene Hütte ohne Fenster – was war das? Rings kein betretener Weg, kein freier Plan, nichts, das auf eine menschliche Niederlassung hinzudeuten schien; nur das graue niedere Bauwerk sah aus dem Gebüsch hervor. Vielleicht lag hinter demselben noch eine ganze Reihe ähnlicher Hütten, ein Lager, in dem die Russen steckten.
   »Sucht Deckung!« befahl der mitgegangene Offizier. »Zwei Mann zum Rapport an den Obersten, aber rasch!«
   Hie und da im Unterholz, hinter Baumstämmen und Gebüschen verschwanden die Soldaten. Der Raum wurde leer, eilenden Schrittes liefen die Ordonnanzen ins Lager zurück. Feiko und Onnen standen beieinander; beide beobachteten das sonderbare Haus – da sahen sie plötzlich, daß sich ein Brett verschob und daß im Rahmen desselben ein bärtiger Kopf erschien. Blitzschnell zog sich der Mann nach kurzer Umschau wieder zurück.
   Der Bau war also doch bewohnt, aber seine Insassen wollten nicht bemerkt sein.
   Die Herzen schlugen schneller. Vielleicht stand jetzt das erste kriegerische Abenteuer unmittelbar bevor, vielleicht würde binnen wenigen Viertelstunden das Moos rot gefärbt scheinen vom Blute der Opfer.
   Im Geschwindschritt näherte sich das Regiment. Man hatte alles Gepäck zurückgelassen und sammelte sich jetzt in einiger Entfernung vor dem verdächtigen Gebäude; Oberst Jouffrin befehligte selbst die Truppen.
   »Das Haus wird umzingelt, Leute! Die eine Hälfte geht nach rechts, die andere links. Sucht unter Deckung zu kommen.«
   Das Militär schwärmte aus. Onnen und Feiko schlichen mit ihrem Zuge an den Ufern des Flusses dahin, in weitem Bogen um das Gebäude herum – plötzlich klang ein heller Ton durch die Sommerluft; es wieherte ein Pferd.
   »Aha!« flüsterte der Offizier. »Es sind also doch Soldaten!«
   »Wo hält sich Adam Witt versteckt?« forschte Onnen. »Ich sehe ihn nicht«
   »Er ist bei dem Gepäck geblieben«, lächelte ein anderer. »Seine Wunde hatte sich plötzlich so sehr verschlimmert, daß es ihm unmöglich war aufzustehen.«
   »Ach, der Arme!«
   Und alle drei lachten leise. Adam Witt war viel zu schlau, um dahin seine Schritte zu lenken, wo möglicherweise Kugeln durch die Luft fliegen konnten.
   »Es scheint eine ganze Reihe von Holzgebäuden nebeneinander zu stehen«, meinte wieder der Leutnant. »Ich sehe die gekreuzten Latten.«
   »Wir auch«, nickten die Soldaten.
   »Also ganz geräuschlos, ganz langsam, Kinder!«
   Der Vortrab des an der anderen Seite marschierenden Zuges war erreicht und somit die Niederlassung umzingelt.
   »Zusammentreten!« befahl der Oberst.
   Das Kommando lief von Mund zu Mund; schleichend wie Katzen zogen die Soldaten den Kreis immer enger und enger.
   Drinnen im feindlichen Lager rührte sich nichts.
   Die gekreuzten Latten schimmerten in langer Linie durch das Grün; es mußten nach der Schätzung des Obersten mindestens fünfzig oder sechzig Baracken vorhanden sein.
   »Wir wollen den Fuchs zum Loche heraustreiben«, rief er. »Zielt gut Kinder! – Feuer!«
   Ein Hagel von Gewehrkugeln schlug prasselnd in die Holzdächer, der Donner widerhallte mit zehnfacher Stärke, blauer Pulverdampf umzog die Baumwipfel.
   Und dann geschah etwas ganz Unerwartetes. Anstatt einer antwortenden Salve tönte ein einziger gellender Schrei, anstatt der vermeintlichen russischen Truppen erschien vor dem zuerst entdeckten Hause die in Lumpen gehüllte Gestalt einer alten Frau. Sie trug russische Bauernkleidung und schien mit der kurzen Pfeife zwischen den Lippen außerordentlich häßlich, ihre Faust drohte ins Leere, der zahnlose Mund sprudelte offenbar bitterböse Worte.
   Einen Augenblick waren die Soldaten vor Erstaunen sprachlos, dann aber schallte durch die Reihen ein dröhnendes Gelächter, unaufhaltsam drangen die jungen Leute gegen das Holzgebäude vor und an der zeternden Alten vorüber zur Tür.
   Sechs Männer standen in dem inneren Räume, eine kranke ächzende Frau lag auf einer Bank und in der Hütte neben dem größeren Hause fanden sich zehn Pferde – die vermeintlichen sonstigen Baracken dagegen waren große Holzstapel, weiter nichts.
   Oberst Jouffrin mußte schließlich selbst lachen, obwohl ihn die Erbitterung des Gefopptseins immer noch beherrschte. »Alle Teufel«, rief er, »was macht ihr hier, Leute?«
   »Wir sind Heimatlose, Herr!«
   »Was ist das – Heimatlose?«
   »Ja. Wir arbeiten für einen Holzhändler in Petersburg und ziehen im Walde hin und her, wo gerade die besten Stämme stehen. Unsere Pferde bringen im Herbst das Holz bis an einen größeren Fluß und von da treibt es in die Newa.«
   »Ihr habt also kein Dorf, keine feste Wohnstätte?«
   »Nein. Der Holzfäller kauft im Herbst und im Frühling seine Vorräte, sonst aber lebt er einsam im Walde, meilenweit von den Wohnungen der Bauern.«
   Oberst Jouffrin wandte sich ab. »Détestable!« murmelte er. »Herr Leutnant, führen Sie die Soldaten wieder zu unserem Lagerplatz zurück.«
   Dann ging er fort, die armen Holzfäller verwünschend. Sein ganzes Regiment lachte noch immer, das verdroß ihn gewaltig.
   Alle Balken ringsumher waren mit Flintenkugeln gespickt. Die Soldaten fanden das Abenteuer außerordentlich spaßhaft, sie drangen in die Hütte und besahen dieselbe von allen Seiten. Eine schreckliche Wohnung! Vier Pfähle in die Erde gerammt, ein paar vermorschte Bretter als Fußboden, Bänke aus unbehobeltem Holz an den Wänden, ein Heiligenbild, ein Tisch und ein Ofen – mehr fand sich darin nicht vor.
   Unter den Bänken lagen in Säcken Mehl und Hülsenfrüchte, sowie Kartoffeln, die einzige Nahrung dieser armen Nomaden, denen damals wie heute noch von dem Holzhändler ein erbärmlicher Lohn bezahlt wurde, kaum genug, um sich an trockenen Gemüsen sättigen zu können.
   Manche Gabe floß aus den Händen der jungen Leute in die der Heimatlosen. Es war ein zu bejammernswürdiges Dasein, das sie führten; nicht einmal einen Schornstein besaß das Bretterhaus, kein Fenster, keine wirkliche Tür, sondern nur ein Loch in der Wand, aus dem der Rauch den Ausweg fand und das in der Nacht durch eine Art Luke verschlossen wurde.
   »Aber wie macht ihr es denn im Winter?« fragte Onnen. »Ihr müßt ja erfrieren!«
   »O nein, Herr«, lächelte der Mann. »Wir haben unsere Schafspelze – und dann schneit auch die Hütte ein.« »Herr des Himmels, welch ein Los! Dagegen sind wir Norderneyer, denen so oft im Winter der Verkehr mit dem Festlande abgeschnitten wird, doch noch reiche Leute!«
   »Hört einmal«, meinte Feiko, »wir haben einen Wisent geschossen – wollt ihr ihn haben? In unserem Besitze ist augenblicklich noch Fleisch genug.«
   Die Leute küßten in überströmender Dankbarkeit die Waffenröcke ihrer jungen Gönner. Man hatte ihnen von den Franzosen soviel Böses erzählt, und nun waren sie die liebenswürdigsten Leute von der Welt, verschenkten sogar Fleisch! Die armen ungebildeten Arbeiter nannten den Tag ihrer ersten Begegnung mit den Feinden des Landes einen wahren Glückstag.
   Als der ganze Zug singend und lachend den Lagerplatz wieder erreicht hatte, fand sich der Stier unverletzt vor; es gelüstete offenbar keinen der Soldaten nach dem harten Fleische, die Holzfäller dagegen nahmen dankbar den ungeheuren Körper in Empfang, schlachteten ihn aus und schleppten den Braten in ihre schreckliche Höhle. Sie wollten jede Hand küssen, die ihnen erreichbar war.
   Unter allen diesen Vorgängen rückte die Dämmerung heran, das saftige Kalbssteak prasselte in der Blechpfanne, eine kräftige Suppe sandte ihre Dampfwolken gen Himmel, und Brot und Branntwein kamen aus den Tornistern hervor. Es war für den Weitermarsch jetzt zu spät geworden, man mußte im Walde biwakieren und sich behelfen, so gut es ging. Das Regiment besaß keine Zelte oder Baracken, nicht einmal Decken. Es zog plündernd durch das Land, dem allgemeinen Sammelpunkte bei Smolensk entgegen und durfte keine anderen Ansprüche erheben als nur solche, die es auch mit eigenen Kräften befriedigen konnte.
   Der Mond bildete, so gut seine weißen Strahlen das Laubdach zu durchdringen vermochten, die einzige Beleuchtung, das Kissen war ein grüner Moosteppich und die Decke der Mantel. An drei Seiten brannten große Feuer; Wachtposten mit aufgepflanztem Bajonett standen überall. » Weißt du, was ich immer denken muß?« flüsterte Onnen. » Wenn doch die Hütte der Heimatlosen unentdeckt geblieben wäre, das heißt, wenn wir allein sie aufgefunden hätten!«
   »Um uns darin zu verstecken, ich weiß es wohl. Aber tröste dich, Vetter, die rechte Stunde kommt früher oder später doch!«
   Onnen seufzte. »Meile nach Meile führt uns immer tiefer in das Herz des Landes hinein – die Flucht wird täglich schwerer.«
   Auch Georg Wessel war verstimmt. »Hätte man doch bei den Holzfällern bleiben können! Es ist zu trostlos, als Räuber im Lande herumzuziehen.«
   »Wohin wir nun wohl morgen verschlagen werden?«
   »Das weiß ich zufällig von den beiden Führern, welche der Oberst mitgenommen hat. Am Saume dieses Waldes liegt ein uraltes reiches Mönchskloster.«
   »Aha, da stehlen wir wieder Altargeräte!« »Wenn diese nicht vorher in Sicherheit gebracht worden sind! Wahrscheinlich liegen sie in den Gewölben des Kreml oder der Peter-Paulsfestung.«
   Ein blasses Gesicht erhob sich und horchte nach den Dreien hinüber. Es war Adam Witt, der sie nie ganz aus den Augen verlor, ihr Hüter, ihr Todfeind, der sie dem Verderben mit lachendem Munde ausgeliefert haben würde – lieber in dieser, als in der nächsten Stunde.
   »Bemühe dich nicht, Adam«, rief Onnen, »wenn es zur Flucht geht, sagen wir‘s dir!«
   Der andere duckte sich, ohne eine Silbe zu erwidern.
   Allmählich senkte sich der Schlaf auf die müden Augen. Eine ruhige Nacht folgte dem beschwerlichen Marsche des letzten Tages; erst spät am folgenden Morgen wurde Reveille geschlagen.
   Noch gab es Vorräte – für das weitere mußte der Himmel sorgen.
   Die beiden Führer brachten das Regiment auf dem kürzesten Wege aus dem Walde heraus und zur Landstraße, die nach dem Kloster führte. Dörfer mit Holzhäusern schimmerten hie und da herüber, dann kam ein wüster Heidestrich und zuletzt eine belebtere Gegend.
   Hie und da lagen Bauernhöfe ohne Gärten und Bäume, kahl in kahler ärmlicher Umgebung, mit unverhüllten Fenstern und niederen Dächern. An eine dieser Türen wurde vergeblich geklopft, und dann der ganze Raum durchsucht – es war offenbar niemand daheim.
   Nur in der »Isba« (der großen Stube) schimmerte unter dem Heiligenbilde die ewige Lampe, sonst war kein Lebenszeichen zu entdecken.
   Auf einem zweiten Gehöfte ging es ähnlich, so daß der Oberst voll Erstaunen den Kopf schüttelte. »Wo mögen sich die Leute befinden?«
   Ein junger Eingeborener der Nationalgarde konnte Auskunft geben. »Im Kloster wird heute das Fest des heiligen Gregor gefeiert«, sagte er. »Das Bild desselben gilt als wundertätig und die Bauern beten es an.«
   »So daß wir eine große Volksmenge versammelt finden werden?«
   »Ja, höchstwahrscheinlich.«
   Der Oberst schwieg. Die Nachricht hatte ihn sehr verstimmt, wie es schien. Wenn Hunderte von handfesten Bauern die Schätze des Klosters verteidigten, so konnte er sie nicht erlangen, ohne den Leuten eine förmliche Schlacht zu liefern – und das würde doch der Kaiser schwerlich verziehen haben.
   Verdrießlich ritt er weiter. Die sogenannte Landstraße war ein roh aufgeworfener, holperiger und lückenhafter Damm, der im Winter vollkommen unpassierbar sein mußte. Nirgends stand ein Baum, ein Meilenstein, ein Wegweiser, nirgends konnten die Soldaten dem glühenden Sonnenbrande, den Legionen von Stechmücken auch nur einen Augenblick lang ausweichen.
   Auf den Gepäckwagen lagen mehrere Fieberkranke, andere schleppten sich nur noch mühsam fort, alle ohne Ausnahme litten unter der Hitze und dem Mangel an irgendwelchen Erquickungen.
   Es gab keine Gärten, keine wildwachsenden Früchte, ja sogar nur wenige Gräben, in denen sich ein schmutziges Wasser fand. Weite Felder dehnten ihre unübersehbaren Flächen, dazwischen lagen Sümpfe, Moräste – wüste Striche.
   Endlich traten die Umrisse der Klostergebäude fern am Horizont deutlich hervor und nun wurde die Aufmerksamkeit unserer Freunde auch in anderer Weise gefesselt.
   Auf niederen Karren, mit einem einzigen Klepper bespannt, hockten ganze Familien, von der alten Großmutter bis zum Säugling; Frauen, Mädchen und Kinder, die den Sack mit Lebensmitteln zwischen sich stehen hatten. Neben dem Gefährt gingen die Männer und Dienstboten.
   Je weiter die Soldaten vorrückten, um so mehr derartiger Züge begegneten ihnen, stattliche Bauern und reichgekleidete Frauen, hübsche blonde Kinder, die den bunten Gestalten unbefangen ihre Händchen entgegenstreckten.
   Alle diese Leute erschraken, sobald sie der Franzosen ansichtig wurden, auf das äußerste. Einige wendeten das Pferd und entflohen schleunigst, andere warfen sich am Wegesrande auf die Knie, als erwarteten sie, im nächsten Augenblick angegriffen zu werden.
   Dazwischen erschienen wieder einzelne zu Fuß gehende Frauen, in Lumpen gehüllt, blaß und vergrämt, meistens mit einem kleinen Kinde im Tragetuch und mehreren größeren neben sich; diese streckten den Soldaten ihre Hände entgegen.
   »Eine Kopeke, Väterchen, eine kleine Kopeke! Die arme Wjera hat kein Haus, nichts zu essen für ihre Kinder, keine Schuhe an den Füßen, sie ist so unglücklich!«
   Die Leute gaben hie und da ein paar Kupfermünzen oder ein Stück Brot. »Hast du denn keinen Mann mehr, Wjera?« fragte einer von der Nationalgarde, aber er lachte dabei, als wolle er sagen: »Mich hintergehst du nicht, Frau, ich kenne den Schwindel!«
   Die Bettlerin wiegte den Kopf. »Gewiß, Herr, gewiß. Der arme Dimitri sucht ein paar Kopeken zu verdienen!«
   »Das heißt doch, er bettelt mit derselben Leidensmiene wie du? Weshalb seid ihr beide denn so außerordentlich unglücklich?«
   »Unser Haus ist abgebrannt, Herr, das ganze Dorf. Es war von Holz.«
   Der junge Gardist lachte wieder. »Ich konnte mir‘s denken!« rief er. »Na, gehab dich wohl, Wjera, und bringe das Geld nicht in die nächste Schenke.«
   Die Bettlerin antwortete nichts; sie schien den Spott keineswegs übel genommen zu haben, sondern streckte die Hand gleich dem nächsten Wagenzuge entgegen. Nach ihr kamen andere, und wenn der Gardist zum Spaße wieder fragte: »Was fehlt dir denn, Mütterchen?«, so erhielt er die Antwort: »Unser Dorf brannte ab; es war von Holz.«
   Die Deutschen hörten von den Eingeborenen zu ihrem größten Erstaunen, daß an den meisten dieser Behauptungen kein wahres Wort sei, sondern daß ganze Niederlassungen mit zum Teil wohlhabenden Grundbesitzern nur vom Bettel lebten. Sie bereisten mit eigenem Fuhrwerk die Volksfeste und Feierlichkeiten aller Art, solange die gute Jahreszeit andauerte, und kehrten dann, beladen mit Geld und Lebensbedürfnissen, in die Heimat zurück Das wußten alle, deren Wohltätigkeit in Anspruch genommen wurde, aber sie gaben trotzdem mit vollen Händen. Das Gnadenbild im Kloster sollte ja heute ihnen selbst irgendeinen langgehegten Wunsch erfüllen, sie von einer Sorge oder einem körperlichen Leid befreien – wie konnten sie da die Bettler unbeschenkt lassen?
   Je mehr man sich dem Kloster näherte, desto zahlreicher wurden die Pilgerscharen. Auch arme Bauern kamen herbei, langbärtige Männer mit Stöcken; Frauen, die kaum notdürftig bekleidet waren, barfuß und ohne Hut, aber in der Hand irgendeine Opfergabe und wenn es nur ein paar Eier waren, ein Pfund Wolle oder ein selbstgefangener Hase.
   Hell und klar zeigten sich als einziger Trost auf dem ermüdenden, endlos scheinenden Wege die Kuppeln und Türme des Klosters. Ein uralter Bau in Kreuzform aufgeführt, aus der ersten christlichen Zeit, graue eisenfeste Mauern, hinter deren weitem Rund schon ganze Dörfer Schutz und sichere Zuflucht gefunden hatten, wenn wilde asiatische Horden das Land überfluteten. Hoch und majestätisch erhoben sich Kuppeln und Rundbogen, ein wetterfestes graues Dach, an dem die Jahrhunderte spurlos vorübergezogen waren. Um den ganzen Besitz herum lief weitgedehnt eine unübersehbare Mauer aus behauenen Felsen.
   Das vordere Tor stand heute offen. Wagen nach Wagen, Zug nach Zug verschwand hinter den eichenen, eisenbeschlagenen Flügeln, und als endlich auch die Spitze des Heereszuges anlangte, da mußte die Meldung von seinem Kommen dem Prior des Klosters schon hinterbracht worden sein, denn er selbst mit mehreren Mönchen stand auf der Treppe, um die Gäste zu empfangen.
   »Vorsichtig!« ermahnte der Oberst. »Es darf nichts erzwungen werden!«
   Der ganze Hof war mit Bauern angefüllt. Sie lagerten auf ihren Karren, auf Stroh und Decken, sicher des gewaltigen Schutzes, den ihnen das Kloster gewährte, neugierig der Dinge harrend, die da kommen sollten.
   Ein Greis mit weißem, lang herabwallendem Barte begrüßte den Obersten. Er trug das wie ein Frauenkleid bis auf die Füße reichende Klostergewand mit dem am Saume eingenähten Kreuze, die Kapuze und die Sandalen, außerdem auf der Brust eine schwere goldene Kette, an der das Kreuz hing. Ruhig und ernst erwartete er die Anrede des Soldaten.
   Dieser verfuhr sehr schlau; er bat zunächst nur um Aufnahme für einige Stunden, um Lebensmittel und eine Streu für Menschen und Tiere.
   Der geistliche Herr nickte Gewährung. »Das Kloster selbst kann so viele Gäste nicht beherbergen«, sagte er, »aber in dem zu demselben gehörenden Dorfe werden Sie ein Unterkommen finden. Dort liegen die Gehöfte!«
   Er deutete zu einer Anzahl von Gebäuden hinüber und fügte dann bei, daß die Herren Offiziere ihm in den Gastzimmern willkommen sein würden.
   Der Oberst zögerte noch. »Meine Leute beanspruchen nichts als ein wenig Stroh, Herr Prior«, sagte er, »sie nehmen fürlieb mit einem Platze im Klostergarten.«
   Der geistliche Herr zuckte die Achseln. »Auch dort ist der Raum beschränkt, Herr Oberst! Ich kann Ihre Soldaten nicht auf das Gemüseland betten.«
   Dabei blieb es. Die beiden Männer maßen einander mit Blicken, in denen mehr enthalten war, als alle Worte sagten, die aber doch an dem Entschlüsse des geistlichen Herrn nichts zu ändern vermochten. »Dürfen meine Leute auch an der stattfindenden Feierlichkeit keinen Teil nehmen?« fragte endlich der Offizier.
   »O natürlich, natürlich«, war die schnelle Antwort. »Sie sind Christen wie wir und das Haus des Herrn steht ihnen jederzeit offen.«
   Oberst Jouffrin verbeugte sich. Er kehrte zu den Truppen zurück, ließ die Unteroffiziere vortreten, um ihnen gemessene Befehle zu erteilen, und bezog dann mit dem gesamten Offizierskorps die kühlen hochgewölbten Klosterzellen, in denen der geistliche Wirt seine Gäste willkommen hieß und ihnen Küche und Keller freigebig zu Gebote stellte.
   Draußen waren Tausende versammelt, um dem wundertätigen Bilde des heiligen Gregor ihre Ehrerbietung zu bezeugen.
   Zwei Laienbrüder gaben den Soldaten das Geleite und quartierten sie in aller Form bei den Bauern ein, so daß niemand unter freiem Himmel zu schlafen brauchte. In jedem Hause brannte unter dem Bilde des Schutzheiligen die ewige Lampe, überall wurde mit Amuletten, Rosenkränzen, Weihwasser und Heiligenbildern gehandelt, natürlich für Rechnung des Klosters, dem das Dorf gehörte.
   Eine Kette von Vorposten bezog die erhöhten Punkte der Umgegend; jeder Unteroffizier ließ seinen Zug antreten und verbot den Leuten, sich außerhalb dieser Linie zu bewegen. Es herrschte eine Mannszucht, die auf erhaltene, sehr strenge Befehle hindeutete. Nachdem unsere Freunde ein derbes, doch reichliches Mittagsessen eingenommen hatten, begaben sie sich in das Kloster. Die feierliche Prozession sollte erst bei Kerzenlicht stattfinden, es blieb daher Zeit genug, um das Innere des alten Baues und den Garten vorher zu besehen.
   Der letztere war so groß wie eine ganze, nicht allzuweit gedehnte Stadt; er enthielt den Gottesacker mit versunkenen, moosüberwucherten Steinen und Inschriften aus dem achten und neunten Jahrhundert, dann eine lange Reihe von Gemüsefeldern, welche die Mönche selbst bearbeiteten. Hacke und Spaten lagen in allen Händen, Männer jedes Alters gruben den Boden, pflanzten und säten, als gäbe es keinen Krieg, der im nächsten Augenblick mit seinen ehernen Schritten das Weck des Menschenfleißes vernichten könne; sie banden hier ein schwankendes Reis an den Stamm, dort beschnitten und begossen sie Blumen, während die ältesten unter ihnen, Greise mit weißem Haar, sich auf lange Stöcke stützten und, im Sonnenschein sitzend, die Ruhe ihrer letzten Tage behaglich genossen.
   Überall herrschten Ordnung und Sauberkeit, überall wurde das Auge erfreut durch Bilder des Friedens und des Wohlstandes inmitten einer Bevölkerung, die sich größtenteils in den Wäldern versteckt hielt oder allen Unbilden der Fremdherrschaft schutzlos preisgegeben war.
   Drüben im Hofe hatten die Bauern ihre Vorräte ausgepackt und hielten eine allgemeine Mahlzeit, bei der es indessen schweigsam herging. Die Nähe der Franzosen schien den Leuten ein heimliches Grauen einzuflößen.
   Nach und nach sank ein weiches Dämmerlicht auf die Erker und Zinnen des alten Klosters. Mit ihren Geräten in den Händen kamen die Brüder von der Arbeit, irgendwo erklang ein Glöckchen, Licht nach Licht blitzte auf und der gewaltige Mittelbau lag glanzumflutet in tausendfältigem, ganz weißem Schimmer.
   Ringsumher lief ein Säulengang, in dem Bänke standen; hier versammelten sich die Soldaten, welche als bloße Zuschauer gekommen waren, ohne an der Feier teilzunehmen. Ein weiter, von gekreuzten Rundbogen getragener Kuppelbau zeigte sich den überraschten bewundernden Blicken, spielende Engelsgestalten sahen aus weißen Wolkenschichten hervor, Blumengewinde umzogen jede Säule. Kanzel und Altar waren von den prachtvollsten Samtstickereien verhüllt; auf letzterem, unter dem lebensgroßen Bilde des Heiligen, stand das Silbergerät der Kirche.
   Und nun nahte aus einer Seitentür die Prozession.
   Voran der Prior im langen, am Boden schleppenden Prachtgewande mit Orden und Ketten, in der Hand eine Laterne am goldenen Stocke, dann zwei Fahnenträger und nach ihnen sämtliche Mönche, alle mit Laternen. Es glänzte und schimmerte, daß die Augen kaum den Glanz ertrugen. Überall Gold und edle Steine, überall helles Licht und bunte Farben; wie der Königszug des Märchens entrollte sich das vielgestaltige Bild.
   Eine sanfte Musik begrüßte die Eintretenden; stärker und stärker quollen, langsam anschwellend, die leisen Stimmen, bis brausender Orgelton den ganzen großen Raum erfüllte. Mehr als achtzig Mönche, Greise mit dem Aussehen Hundertjähriger und junge Laienbrüder, die kaum zwanzig zählen mochten, ernste Männer und Knaben zogen mit ihren Laternen an dem wundertätigen Bilde vorüber und jeder einzelne neigte sich zum Gruße gegen den Schutzpatron des Klosters.
   Nach den Geistlichen kamen die Bauern in ihren dunklen plumpen Kleidern, mit dem scheuen Wesen solcher Personen, die sich ungeschickt zwischen Höherstehenden bewegen, Männer und Frauen, Kinder jedes Alters, alle mit einer Opfergabe, die sie dem Heiligen zu Füßen legten. Die verschiedenen Lebensmittel fielen auf eine zu diesem Zweck angebrachte Klappe, welche sie sogleich in den Keller weiterbeförderte; das Geld dagegen blieb auf einem Tische liegen und bildete bald einen so ansehnlichen Haufen, daß es dem Obersten schwül ums Herz wurde. Gerade bares Geld, der Zauberschlüssel, dem sich alle Türen öffnen, bares Geld war bis jetzt nirgends zu erlangen gewesen.
   Er überlegte. Das Kriegsrecht ist nur das des Stärkeren, weiter nichts; wer gab den Mönchen, der sonstigen Bevölkerung gegenüber, ein besonderes Vorrecht?
   Die Rubel und Kopeken klirrten, da lagen Pfunde edlen Metalles, Berge von Gold und Silber. Das Kloster mußte unermeßliche Reichtümer besitzen.
   Der Oberst atmete schneller. Er wollte doch nicht abziehen, ohne von dem Prior eine Kontribution verlangt zu haben; vielleicht ließ sich die Sache machen.
   Ausgeschickte Spione waren an diesem Tage zu ihm zurückgekehrt und hatten berichtet, daß die französische Armee siegreich bei Witebsk stehe, daß ungeheure Massen russischen Fußvolkes in der Nähe seien – es galt, rechtzeitig diesen gefährlichen Punkt zu verlassen und zur Hauptarmee nach Witebsk zu gelangen; er durfte keine Zeit verlieren.
   Das Geld auf dem Tische verwirrte seine Begriffe; er wollte, er mußte es um jeden Preis den Mönchen entreißen.
   Der letzte Bauer hatte sein Scherflein gespendet, die Lichter erloschen und im Mondschein entwickelte sich auf dem Hofe eine belebte Szene. Die Bauern bereiteten ihr Nachtlager; sie wollten erst am anderen Morgen den Rückweg antreten.
   Der Oberst hätte am liebsten diese Leute, wenn es nur irgend möglich gewesen wäre, durch einen einzigen haßerfüllten Blick getötet.
   Er ging hinaus, um die Vorposten zu inspizieren. »Nichts gesehen oder gehört, Guichard?« fragte er einen auf einer Hügelspitze stehenden Soldaten.
   Der Mann salutierte. »Zu Befehl, Herr Oberst – ich sah einen Reiter, der in gestrecktem Galopp während des Gottesdienstes den Klostergarten verließ.«
   »In welcher Richtung?« fragte hastig der Oberst.
   »Dort hinaus, Herr Oberst!«
   »Hm – nun, es ist gut, mein Junge, du sprichst von der Sache sonst mit keinem Menschen, hörst du?«
   »Zu Befehl, mon colonel!«
   Die sämtlichen aus Ostfriesland und Bremen gepreßten Mannschaften mußten antreten und wurden einzeln aufgerufen; der Oberst wiederholte nachdrücklich, daß sie zu den Vorpostendiensten nicht verwendet werden dürften, dann gab er den Befehl, jeden, der es etwa wagen werde, sich über die streng gezogene Linie hinauszubegeben, ohne Verzug und ohne Gnade auf dem Fleck niederzuschießen.
   Nach allen diesen Anordnungen ging er zum Kloster zurück. Die Mönche führten in ihren Kellern vorzügliche Marken und er war ein Liebhaber derselben.
   Die Nacht verfloß ohne Störung. Mit dem ersten Tagesschein stand der Oberst schon an seinem Fenster und sah auf den Hof hinaus; die Bauern fütterten ihre Pferde, oder schliefen gar noch – sie schienen bis jetzt nicht an den Aufbruch zu denken. Vom Dorfe her kam eilenden Schrittes ein Unteroffizier und klopfte an das vordere Tor, dann suchte er einen Klingelzug, er klatschte in die Hände und rief, sein Gesicht war sehr rot, sehr unruhig.
   Der Oberst riß das Fenster auf. »Roquette!« rief er, »ich bin hier!«
   Der Mann ließ sich kaum Zeit zum Gruße. »Herr Oberst«, tönte gedämpft und in französischer Sprache seine Stimme. »Herr Oberst – der Feind.«
   »Was sagst du?«
   »Der Feind! Eine Abteilung russischer Soldaten!«
   Einen Augenblick schien selbst dieser keine Furcht kennende Mann wie betäubt, dann zwang er sich gewaltsam zur Ruhe und winkte dem Unglücksboten mit der Hand.
   »Antreten lassen, Roquette! Ohne Trommeln! Sogleich.«
   Der Unteroffizier salutierte. »Ist bereits geschehen, Herr Oberst Die Deutschen stehen in der innersten Mitte.«
   »Ah – sehr gut, Roquette. Im Geschwindschritt hierher!«
   Der Unteroffizier verschwand.
   Oberst Jouffrin blieb am Fenster stehen und sah gedankenlos hinab auf die schlaftrunkenen Bauern. Hatte man sie zur Verteidigung der Klosterschätze hier behalten?«
   Und jener Reiter, den Guichard gesehen – sicherlich war er ein Bote der bedrängten Mönche an irgendeinen russischen General. Es konnte nach langer Pause an diesem Morgen einmal wieder bitterer Ernst werden mit dem Kriegsspiel.
   Er dachte an Deutschland und an die schönen Tage der Freiheit und Zügellosigkeit, in denen er dort geschwelgt. Hier war das alles weit schwieriger, weit gefährlicher.
   Dann schlich er den langen gewölbten Korridor vor seinem Zimmer hinab und spähte am Ende desselben aus einem Fenster, das nach der Richtung des Dorfes hinausführte.
   Im Morgengrau zeigte sich ihm eine Abteilung russischer Infanterie ohne Geschütz; es war ein Häuflein, vielleicht einige hundert Mann, halb so viele Soldaten, wie er selbst befehligte – ein Frohlocken zuckte durch seine Seele.
   Mochten sie kommen! dann brachte er außer der Beute noch eine Siegesbotschaft mit in das Hauptquartier des Kaisers.
   Drüben erklang ein Hornsignal; die Kolonne setzte sich in Bewegung.
   Der Oberst flog zurück zu seinem Zimmer, das Regiment stand fast unter den Mauern des Klosters, dessen Pforte immer noch verschlossen war. Mehrere Mönche sprachen lebhaft mit den Bauern, die in einer Gruppe zusammenstanden. Sie schienen dem, was die Geistlichen ihnen sagten, ohne Rückhalt beizustimmen.
   Der Oberst ging die Treppen hinab und bat einen im Gange stehenden dienenden Bruder, ihn schleunigst dem Prälaten zu melden.
   Der Mönch öffnete die Tür des Sprechzimmers, ließ den Offizier eintreten und entfernte sich dann, um den erhaltenen Auftrag auszurichten. Kaum eine Minute später betrat von der entgegengesetzten Seite her der Kirchenfürst das Gemach. Beide Würdenträger, der kirchliche und der militärische, begrüßten einander äußerst förmlich, beide waren blaß und ihre Augen glänzten stärker. »Hochwürdigster Herr«, begann der Franzose, »ich komme, um mich zu verabschieden und zugleich im Namen des ganzen Regimentes für die erhaltene gastfreie Aufnahme zu danken. Es erübrigt jetzt nur noch diejenige bare Kontribution, welche ich im Namen Seiner Majestät des Kaisers zu fordern leider beauftragt bin. Schätzen wir etwa das reiche Kloster auf einmalhunderttausend Rubel! Das wird, wie ich glaube, ein mäßiger Ansatz sein.«
   Der Prior verbeugte sich kühl. »In welchem Verhältnis diese Summe zu den Einkünften des Klosters steht, darüber zu streiten, wäre müßig, Herr Oberst – ich bezahle von der sogenannten Kontribution nicht eine einzige Kopeke.«
   »Ah – das ist Ihr unwiderruflicher Entschluß, Hochwürdigster Herr?«
   »Völlig unwiderruflich, ja.«
   »Gut. Ich sehe mich in diesem Falle genötigt, das Geld zwangsweise beizutreiben. Meine Leute stehen vor der Pforte des Klosters.«
   Er ging mit hallenden Schritten hinaus zu den Offizieren, welche ihn im Hofe schon erwarteten. Bereits innerhalb der heiligen Mauern entspann sich ein Handgemenge zwischen mehreren Franzosen und dem plötzlich überrumpelten Bruder Pförtner, dem der Schlüssel gewaltsam entrissen wurde. Einer der Leutnants erkannte ihn zufällig, vereinte Kräfte überwältigten spielend seinen Widerstand und das Tor flog auf.
   Mehrere Bauern, die sich mit Peitschen, Messern und Stöcken den Franzosen entgegenwarfen, wurden durch die Degen der Offiziere verwundet; es floß schon Blut, ehe noch ein Befehl erfolgt war.
   Die Russen kamen im Laufschritt, empfangen von einem Kugelregen der Franzosen. Ihre weit schlechteren Schießwaffen antworteten nur ungenügend, zehn oder zwölf Franzosen stürzten, während wenigstens sechzig Russen gefallen waren. Mit lautem Siegesjubel ergoß sich der Strom der Angreifer in den Klosterhof.
   »Vorwärts, meine Jungen!« rief der Oberst. »Mir nach!«
   Er stürmte dem Gebäude zu, wild die geschlossenen Glieder der Bauern durchbrechend; ein allgemeines Getümmel, ein Durcheinander von Soldaten wogte überall. Draußen kämpften die russischen Infantristen mit der Nachhut der Franzosen, drinnen der Vortrab derselben mit den erbitterten Bauern.
   Trommeln und Hörner gaben ihre schallenden, schmetternden Signale, Blut floß in Strömen, Kampfrufe und Todesröcheln mischten sich im schauerlichen Verein. Immer weiter und weiter rückten die Franzosen vor.
   »Nehmt das Kloster, meine Jungen, nehmt es! Ihr sollt den Löwenanteil der Beute erhalten!«
   Der Bau war umzingelt; mit den Kolben ihrer Büchsen zerschlugen die Franzosen eine Seitentür, um von dort in die Sakristei einzudringen und an dem vorderen Hauptportal den Bauern, welche dasselbe besetzt hielten, in den Rücken zu fallen.
   Schon wankte das eiserne Tor, als sich plötzlich die Szene in unerwarteter Weise veränderte.
   Ein donnerndes Krachen erfüllte die Luft, eine Kanonenkugel schlug zischend in die Reihen der stürmenden Franzosen und ließ hinter sich eine breite blutrote Spur zurück. Oberst Jouffrin taumelte – was war das?
   Ein zweiter Schuß folgte dem ersten – durch den Klostergarten nahten russische Soldaten in unübersehbarer Menge.
   »Verrat!« rief der Oberst. »Zurück! Zurück!«
   Schuß folgte auf Schuß, die Kirchtür sprang plötzlich auf und auch von innen heraus drangen russische Bajonette. In regelloser Flucht suchten die Franzosen den Ausgang.
   Eine kleine Pforte in der Umfassungsmauer öffnete sich, die russischen Infantristen wurden hineingelassen und dann der Querbalken wieder vorgelegt – tiefe Stille folgte auf das eben noch so laute, erbitterte Toben.
   Welch einen Anblick bot die Straße! Russen und Franzosen, Tote und Sterbende lagen untereinander, Blut sickerte durch den ausgedörrten Sand, Wehklagen erfüllte die Luft. Die Bauern hatten das große Tor verrammelt, kein Feind war mehr zu sehen, kein Schuß zu hören.
   Der Oberst blutete aus einer tiefen Schramme an der Stirn. Die russische Kanonenkugel hatte einen Stein aus dem Sand des Klosterhofes aufgewirbelt und dieser traf ihn, als er eben den Sieg in der Hand zu halten glaubte. Die roten Tropfen rannen einzeln und schwer über sein todbleiches Gesicht.
   Drinnen tönte das Sterbeglöckchen. Der Gesang der Klosterbrüder, feierlich und gehalten, drang durch die stille Morgenluft deutlich herüber zu den Soldaten – er ließ sie schauern, ließ die Herzen höher schlagen.
   Viele, viele, die vor einer kurzen Stunde noch lachend und lebensfroh in ihrer Mitte standen, viele junge kräftige Männer waren nun dahin auf immer, starr und tot lagen ihre Leichen, von den frommen Klosterbrüdern in die Kirche getragen, um morgen schon unter den uralten Bäumen tief hinten im Garten zur ewigen Ruhe gebettet zu werden.
   Ein paar Schaufeln voll Erde, ein Gebet und eine Seelenmesse – dann war alles vorüber, ein neues Grab zur Reihe der früheren gekommen, ein junges Leben geknickt und vielleicht daheim in Frankreich oder Deutschland ein Mutterherz gebrochen in tiefem, unnennbarem Weh.
   Eisern fallen die Würfel.
   »Uns bleibt keine Zeit«, sagte, sich aufraffend, der Oberst. »Laßt die Toten und Verwundeten auf die Wagen bringen! – Mein Pferd her!«
   Seine Befehle wurden schleunigst ausgeführt, aber als man auch die russischen Verwundeten mit aufpacken wollte, da schüttelte er den Kopf. »Wir haben keine Zeit, die barmherzigen Samariter zu spielen – laßt sie liegen. Ihre Genossen mögen ihnen helfen.«
   Dann war alles zum Weitermarsche bereit. Im glühenden Sonnenbrande zog das Regiment des Weges, schweigend und unruhig. Kundschafter ritten voraus, jeden Augenblick kamen und gingen Ordonnanzen; es galt, die Straße des großen russischen Heereszuges zu vermeiden.
   »Morgen abend haben wir die Armee erreicht«, tröstete der Oberst. »Den Kopf hoch, Kinder! Frankreichs Sterne können nicht untergehen!«
   Aber der Ruf, welcher seinen Worten folgte, klang matt und vereinzelt; ein abergläubischer Schrecken hatte sich der Herzen bemächtigt, nur die Deutschen frohlockten im Herzen – Feiko Hansen pfiff immer vor sich hin.
   »Es wird noch alles gut, Vetter«, sagte er zuversichtlich. »Von uns ist kein einziger tot oder verwundet.«
   »Weil wir immer in der Mitte marschieren.«
   »Das ist ja gut. Hier können wir doch nicht flüchten; dazu muß erst eine große Stadt erreicht sein, Winkelgassen, käufliche Menschen, irgendwelche Verhältnisse, in denen anderes zu Gebote steht als nur Felder und Moräste.«
   »Sieh«, fügte er hinzu, »es kommt wieder eine Ordonnanz!«
   Ein Reiter sprengte heran und überbrachte dem Obersten eine Meldung, aber diesmal eine gute, wie es schien. »Kinder«, rief der Offizier, »wir haben nun das Ärgste ertragen! Die russische Armee ist vorübergezogen – gestern schon. In Witebsk lagert unser Kaiser!«
   »Dann war auch jede Anordnung der Mönche schlau berechnet!« flüsterte Onnen. »Sie erbaten sich Schutz bei der unfern die Straße kreuzenden Armee und behielten sämtliche Offiziere hinter den Mauern des Klosters, um sie von uns abzuschneiden. Hätte der Oberst kein Lösegeld verlangt, so wäre nichts geschehen.«
   »Und hätte er den Russen Stand gehalten, so wären wir bis auf den letzten Mann vernichtet worden!«
   »Das sah er wohl, der Schlauberger! In solchen Fällen heißt dann das Reißausnehmen die Taktik des gewiegten Feldherrn.«
   Feiko lachte. »Vorläufig möchte ich ausruhen«, sagte er, »und zwar im Schatten, in der Nähe einer Quelle. Wir marschieren nun seit sechs Stunden!«
   »Und hier ist der Weg, den die russischen Heeresmassen genommen haben!«
   Eine breite, zerstampfte und zerfahrene Straße zog sich von links nach rechts vor den Franzosen dahin, Hufspuren und Geleise bedeckten den Boden, allerlei fahrendes Gesindel, wie man es im Rücken jeder großen Armee findet, Vagabunden, zerlumpte Weiber, Zigeuner und Plünderer trieben sich zwecklos auf dem Wege umher. Lüsterne Augen blickten auf die Gepäckwagen, dreiste Räuber fragten sich, ob der Angriff möglich sei.
   Berittene Soldaten sprengten unschwer den Haufen von Spitzbuben und Lungerern auseinander; in den Reihen der Nationalgarde war so mancher, der irgendeinen Klepper besaß, und diesen ließ man mitreiten wie die andern mitliefen – Oberst Jouffrin benutzte das Häuflein Kavallerie gewöhnlich zu allerlei Botendiensten.
   Auch jetzt kam wieder einer gesprengt und hatte in der Nähe ein Dorf entdeckt, armselige Holzhütten mit windschiefen Giebeln und blinden Fenstern. »Es sieht da schlecht genug aus, Herr Oberst, kein Stück Vieh steht in den Ställen, kein Baum, keine Blume bei den Häusern, aber am Wege springt ein lustiger Quell.«
   Der Oberst nickte ingrimmig. »Wir müssen die Toten begraben«, sagte er. »Einen Gottesacker wird doch das Nest hoffentlich besitzen?«
   »Ja, Herr Oberst!«
   »Nun gut, dann führen Sie das Regiment, Scharkoff!«
   Der junge Nationalgardist lenkte sein fragwürdiges Roß an die Spitze des Zuges und dieser bog ein wenig nach links in eine Niederung, die von elenden Hütten bedeckt war. Ein Schindeldach schmückte das Kirchlein aus Feldsteinen, ein Heiligenbild mit greulich verzerrten Zügen, plump aus Holz geschnitzt, hing unter einem Wetterdache am Eingang des Dorfes, und vor den Wohnungen im Schmutze wälzten sich magere, halbverhungerte Schweine – Menschen waren vorläufig nicht zu entdecken.
   Erst als sich die Franzosen näherten, erschien hier oder dort hinter den Scheiben ein Gesicht, huschte jemand von Hütte zu Hütte, oder bildeten sich Gruppen auf den Straßen. Man deutete auf die Soldaten und sprach lebhaft miteinander.
   »Du«, sagte Onnen, »es sieht aus, als würden wir äußerst freudig empfangen!«
   »Dasselbe dachte auch ich, aber – wie wäre es nur möglich?«
   Das Rätsel sollte sich sehr bald lösen. Ein ganzer Menschenhaufen, Männer und Frauen, kam dem Obersten entgegen; alle sprachen zugleich, alle schienen um irgendeine Vergünstigung zu bitten, eine Klage anbringen zu wollen. Es entstand ein Getöse, dem erst die Trommel Halt gebieten mußte.
   »Kommen Sie her, Scharkoff!« rief der Oberst. »Was wollen diese Leute?«
   Der Nationalgardist mit seinem phantastischen Anzuge und den langen, höchst unsoldatisch flatternden Haaren ritt herbei, um den Dolmetscher zu spielen. Weinende Frauen, erbitterte Männer umringten sein Tier – stolz wie ein Spanier saß er mit der Hand in der Hüfte und ließ sich erzählen, was die Gemüter so sehr aufregte.
   Eine Schar von Nachzüglern des russischen Heeres, Marodeurs der schlimmsten Art, hatten sich in den Dorfhütten festgesetzt, alle Lebensmittel an sich genommen und die Bewohner einfach zur Tür hinausgeworfen. Jedes Haus beherbergte sechs bis zehn dieser Unholde, während dagegen die rechtmäßigen Eigentümer vollkommen heimatlos geworden waren.
   Scharkoff übersetzte und der Oberst war wütend. »Da sollen wir uns also mit Dieben und Zigeunern herumbalgen? – Wahrhaftig eine nette Aussicht!«
   »Nun, Kinder«, setzte er dann hinzu, »macht es rasch. Gesunde und Kranke müssen in diesem Sonnenbrand zugrunde gehen.«
   Der Zug näherte sich dem Dorfe, und nun begann bei der ersten Hütte die »Austreibung der bösen Geister«, wie Scharkoff sagte. Zwölf bis zwanzig Soldaten drangen mit gefälltem Bajonett in die Tür, deren Bretterverkleidung häufig erst mit dem Kolben eingeschlagen werden mußte, und schoben ohne Umstände das Gesindel hinaus. Ihre wenigen Lumpen oder Kochgeschirre warf man ihnen nach, die Widersetzlichen erhielten Püffe und Schläge, die schimpfenden Weiber wurden ausgelacht und dann der ganze Trupp von dem Kavalleriehäuflein des Regimentes aus dem Dorfe geführt. Zigeuner in Menge, Bettelmusikanten, Scherenschleifer, Wahrsagerinnen und Kesselflicker, alles stob vor den nachrückenden Pferden auseinander und war verjagt, ehe wenige Viertelstunden dahingingen. Dann kam ein ernsteres, trauriges Geschäft – man mußte seine Toten beerdigen, den wimmernden, ächzenden Kranken Linderung gewähren.
   Schonend wurden die Leichen verhüllten Antlitzes in die Kirche getragen und dort niedergelegt, bis das große gemeinschaftliche Grab ausgeworfen war, die Verwundeten dagegen der Obhut der Frauen übergeben. Selbst arm und ohne Hilfsmittel, versorgten die dankbaren Bäuerinnen dennoch in dem einsamen nordischen Dorfe die Söhne Frankreichs, so gut es eben ging; ja, der Oberst wurde sogar gebeten, doch noch einige Tage zu bleiben und Schutz gegen die umherstreifenden Vagabunden zu gewähren, aber das konnte er unmöglich bewilligen; schon folgenden Morgens sollte der Weitermarsch auf Witebsk stattfinden.
   Am Nachmittag klang gedämpfter Trommelschall durch die Dorfstraßen. Das Regiment zog hinter den beiden Gepäckwagen, auf denen die Toten lagen, zum Kirchhofe und gab so den Kameraden das letzte irdische Geleite.
   Särge hatte man nicht herbeischaffen können, aber die mitleidigen Frauen schenkten weiße Tücher, so daß wenigstens die Erde keins dieser blassen, schmerzverzogenen Gesichter unmittelbar berührte.
   In russischer Sprache gab der greise Dorfpope den Heimgegangenen als Christ den Sterbesegen der christlichen Kirche, obwohl im Leben ihr und sein Bekenntnis weit auseinandergingen, obwohl sie keines seiner Worte verstanden haben würden.
   Dann folgten die drei Salven. Mit den Mützen in den Händen standen die Bauern; weinend in unbestimmter Furcht und Sorge die Frauen. Es war der Feind, dem sie hier ein Obdach gewährten, der Feind, dessen Wüten in dem benachbarten Witebsk so schrecklich gewesen sein sollte, der keine Menschlichkeit, kein Erbarmen kannte und der doch heute das Dorf aus den Händen von Räuberhorden befreite.
   Hinter den nächsten Hecken lauerte das Gesindel; freche Lästerungen klangen herüber, Drohworte, die eine gründliche Rache verhießen.
   »Wartet, ihr Bauern«, riefen die Zigeuner, »wartet, bis auf euren Dächern der rote Hahn kräht, dann werdet ihr schon die Lust verlieren, fremde Soldaten gegen eure Landsleute zu hetzen!«
   Dergleichen wilde Drohungen schienen aus der Luft zu kommen; wenn die Bauern hinzusprangen, um den dreisten Burschen zu erfassen, dann war gewiß die Stelle leer und niemand zu entdecken, aber im nächsten Augenblick erscholl die Stimme von einer anderen Seite her. Einige der mageren Schweine mußten an diesem Abend ihr Dasein beschließen, Hühner und Enten wurden gebraten, der Mehlvorrat verzehrt und die wenigen Kartoffeln zum Fleische gegessen. Dann versuchte in der öden, reizlosen Umgebung jeder, so gut es ging, zu schlafen.
   Die Nacht sank herab, der Mond kämpfte mit den schnell dahinsegelnden Wolken um die Oberherrschaft und drückend lastete trotz der späten Stunde immer noch die herrschende Schwüle – da schlichen dunkle Gestalten durch die Reihen der Wachtposten, katzengleich, vorsichtig, auf leisen Sohlen. In ihren Händen glimmte Zunder, Lumpen bedeckten die verhungerten Leiber, ein freches, teuflisches Lächeln kräuselte die Lippen.
   Hinter der nächsten Holzhütte stieg leichter Rauch aus einem Strohhaufen hervor, dann knisterte es – rote Flammen leckten gierig an den ausgedörrten Brettern hinauf.
   Hie und da wiederholte sich das gleiche Schauspiel. Ein herber Geruch, wie von Harz, durchdrang die Luft, jemand rief: »Feuer!«
   »Holt die Franzosen, um es zu löschen!« sagte eine andere Stimme.
   »Ha, ha, ha —«
   Das freche Lachen weckte die Schlafenden, alarmierte die Wachtposten. Feuer! Feuer! Ein schreckliches Wort.
   »Rettet die Kranken!« übertönte des Obersten Stimme jeden anderen Laut.
   Hunderte von Händen streckten sich aus, um die Bedrohten zu schützen. Eine Anzahl der kecksten ostfriesischen Seeleute, Männer, die es gewohnt waren, im tosenden Sturm die Masten des Schiffes zu erklettern, furchtlose deutsche Männer stiegen auf das Kirchendach und hielten die Flammen dem alten Baue fern, indes wieder andere die Verwundeten, überhaupt alles, was schwach und krank war, in die schirmenden Steinmauern brachten. Alle Habe der Einwohner warfen die Soldaten beizeiten hinaus, aber die Hütten selbst konnten sie nicht retten – als der Morgen dämmerte, bezeichneten Aschenhaufen die Stelle, an der früher das Dorf gestanden.
   Betend und schluchzend lagen die Bauern vor dem Heiligenbilde auf ihren Knien; zornig, erbost wie nie, befahl der Oberst den Aufbruch. In sechs bis acht Stunden mußte Witebsk und mit dieser Stadt zugleich das augenblickliche Hauptquartier des Kaisers erreicht sein – in welchem Zustande sollte er das Regiment dem kommandierenden General zuführen?
   Mehrere Säcke voll Silber und Gold lagen auf den Gepäckwagen, aber die Soldaten tragen zerfetzte Kleider und Stiefel, sie waren ungenügend mit Waffen versehen und präsentierten sich, was die Nationalgarde betraf, wie wahre Harlekine. Oberst Jouffrin rückte die Mütze in die Stirne. »Vorwärts!« befahl er.
   Der Weg über die trostlos unwirtliche Gegend wurde wieder aufgenommen, obwohl die Soldaten an diesem Morgen nur Wasser gefrühstückt hatten, sonst nichts. Ärmer noch als sie, des Letzten beraubt, sahen ihnen die Bauern nach – fern in den Hecken und Gebüschen der Landstraße frohlockte das Raubgesindel.
   Gibt es auch etwas Schrecklicheres als den Krieg? Und wieder, gibt es eine heiligere, unveräußerlichere Pflicht, als mit dem Schwert in der Hand das Vaterland, das teure, geliebte, gegen den Frevelmut des Eroberers zu schützen?


   12

   Glühende Sonnenstrahlen versengten die Stirnen, ermattet blieb hie und da ein Soldat am Wege liegen, unfähig, sich weiter fortzubewegen, dem sicheren Tode überliefert.
   Niemand bekümmerte sich um ihn. Bisher waren nach militärischem Gebrauche zwei Mann kommandiert, um bei ihm zu bleiben und ihn seinem Regimente wieder zuzuführen, aber diese Rücksicht hatte jetzt gänzlich aufgehört. Man ließ den Gefallenen am Wege liegen und war nur bedacht, vorwärts zu kommen, den französischen Heeresmassen entgegen – nur bedacht, sich selbst auf dem Gebiete der russischen Operationsarmee in Sicherheit zu bringen, ehe vielleicht ein Zusammenstoß und damit die Vernichtung erfolgte.
   Massen von Landstreichern bedeckten die Straßen; von Viertelstunde zu Viertelstunde erstatteten die vorausgeschickten Späher ihre Berichte.
   Am Wege floß kein Wasser, stand kein Haus – die Sonne brannte in immer heißeren Gluten.
   Man mußte rasten, wenn nicht die Leute vor Ermattung sterben sollten.
   Auf den Gepäckwagen fieberten die Kranken; stumm, verdrossen lagen die Gesunden, mit den Köpfen auf ihren Mänteln, am Wege. Eine Anzahl Franzosen wurde ausgeschickt, um Wasser zu suchen; die militärische Mannszucht hatte sich bereits derartig gelockert, daß Dinge geschahen, die im Frieden undenkbar wären. Der verhängnisvolle Schritt von dem siegreichen Heere im feindlichen Lande bis zum Räuberzuge schien halb und halb getan; die hungernden unbezahlten Soldaten hielten es nicht länger für notwendig, den Befehlen ihrer Vorgesetzten zu gehorchen.
   »Wasser! Wasser!« seufzte Onnen; »es ist mir immer, als sähe ich vom schwarzen Kap auf Norderney hinab zum Meere, als hüpften die weißen Wellen und sprängen hoch auf, wenn sie den Strand erreichen.«
   Georg Wessel drückte das Gesicht in die heißen Hände; er murmelte etwas, das wie ein halberstickter Zornesausbruch klang. Feiko zuckte die Achseln. »Und wäre unsere liebe alte Nordsee hier, Kinder, wären ihre Fluten wirklich im Bereiche unserer Hände – trinken könnten wir sie ja doch nicht.« »Da unten bei dem Kieferngebüsch kräuselt eine Rauchwolke«, setzte er dann hinzu, »vielleicht gibt es dort Wasser!« Onnen sah auf. »Jedenfalls Landstreicher«, seufzte er. »O Gott, welch ein entsetzliches Dasein.«
   »Laß uns erst einmal hingehen, mein Bester. Komm, komm, man hält es in der glühenden Sonne nicht mehr aus.«
   Onnen erhob sich und die beiden Vettern gingen langsamen Schrittes durch ganze Schwärme von Stechmücken zu einem dichten Gebüsch, in dessen Mitte das Feuer brannte. Mehrere magere Pferde weideten das verdorrte Gras, eine Anzahl Wagen stand zusammengeschoben am Rande der Kiefern, zerlumpte Kinder und zahlreiche Hunde tummelten sich auf dem Boden und unter den Rädern umher.
   »Zigeuner!« sagte Onnen. »Ich dachte es wohl!«
   »Bärenführer!« setzte Feiko hinzu.
   Er hatte kaum das Wort ausgesprochen, als ein schlaues Gesicht zwischen den Kiefern hervorlugte. Ein Mann kam zum Vorschein, hinter ihm, auf den mächtigen Pranken stehend, ein Bär. »Ruff! – Das ist Ruff!«
   Mikosch, der Zigeuner, lächelte. »Ihr seid durstig«, sagte er, »kommt und trinkt, aber verratet es euren Kameraden nicht! Der arme Bärenführer hat nur wenig Wasser, er kann unmöglich allen Soldaten davon geben.«
   »Kennst du mich denn nicht, Mikosch?«
   »Gewiß! Du bist der Sohn der barmherzigen Frau, die einst im eisigen Winter auf Norderney meine Kinder kleidete und speiste – um dieses Tages willen gebe ich dir jetzt den Labetrunk, obwohl es die letzten Tropfen sind.« »Habt ihr übrigens auch Hunger?« fuhr er fort »Da liegen Fleisch und Brot – laßt‘s euch wohlschmecken!«
   Die beiden jungen Leute langten zu wie ausgehungerte Wölfe. Kauend und schluckend führten sie die Unterhaltung mit ihren braunen, verschmitzt blickenden Gastfreunden.
   »Ziehst du denn auch dem Kriegsschauplatz entgegen, Mikosch?« fragte Onnen.
   »Natürlich, natürlich. Viele Köpfe, viele Sinne, weißt du! – Da gibt es allerlei zu verdienen, woran im Frieden kein Mensch denkt.«
   »Und sehr viel Beute, nicht wahr!«
   Der Zigeuner kniff die Muskeln seines Gesichtes dermaßen zusammen, daß ein Auge gänzlich darunter verschwand. »Der arme Bärenführer ist auch ein Mensch!« antwortete er ausweichend.
   Die beiden Deutschen lachten. Sie dehnten sich, gesättigt und durch den Rauch gegen die Mücken geschützt, behaglich auf dem Gras, während Ruff, halb schlummernd, neben ihnen lag. »Höre einmal, Mikosch«, sagte Onnen, »du hältst es mit den Russen, nicht wahr?«
   Der Zigeuner wiegte den Kopf. »Wir müssen leben, Herr, wir suchen unsere Freunde, wo wir sie finden – der Krieg kümmert uns nicht.«
   »Ah – das ist schade. Ich hielt dich für gut russisch gesinnt, Mikosch!«
   Jasko, der ältere Sohn des Bärenführers, hob den Kopf. »Wenn wir es wären«, fragte er blinzelnd, »was könnte dir daran liegen, Herr?«
   »Hm – ich suche auch Freunde, ebenso wie ihr! Ich möchte fliehen.«
   Feiko sah von einem zum anderen. »Ihr seid russische Spione, Kinder, gebt euch nicht die Mühe, das zu leugnen. Ihr zieht hin und her, um Botschaften zu überbringen; euer Bär ist dabei nur ein Aushängeschild, mehr nicht.«
   »Das glaubst du!« lächelte Jasko.
   »Nein, das weiß ich ganz gewiß. Hätten wir Geld oder Wertgegenstände irgendeiner Art, so würden wir sie euch bieten, um auf euern Wagen einen Platz zu erlangen und in Zigeunerkleidern aus Rußland zu entkommen.«
   Jetzt rückte Mikosch näher. »Geld und Gut braucht es dafür nicht«, sagte er halblaut, »nur Aufrichtigkeit. Ich bin ein Deutscher wie ihr selbst!«
   »Du?«
   »Ja, ich. Irgendwo trugen die Engel das Kind in die Arme der braunen Mutter, irgendwo tragen sie einmal den Greis zurück in die ewige Heimat; eine bleibende Stätte besitzt der Zigeuner auf Erden nicht. Aber ich liebe die Deutschen und ich bin auch deinen Eltern vielen Dank schuldig – damals war ich sehr, sehr arm! – Deshalb zieht mit uns, ihr beiden Knaben, wohin und auf wie lange Zeit ihr wollt. Der die Sperlinge unter dem Himmel ernährt, wird auch eurer nicht vergessen.«
   Das war ehrlich und aufrichtig gemeint; die jungen Leute erkannten es vollkommen, dennoch aber legte Feiko, ehe er einwilligte, die Hand auf den Arm des Zigeuners. »Einen Augenblick, Mikosch! – wir können allenfalls deinen Bären an der Leine führen oder, wenn es hoch kommt, Messer und Kaffeemühlen schleifen, aber die Spionage, und ob es auch gegen unsere Feinde, die Franzosen ginge – die Spionage, mein guter Mikosch, teilen wir mit dir auf keinen Fall.«
   Der Zigeuner lächelte behaglich. »Ob ihr‘s auch verständet, he? Dazu gehört mehr als ein hausbackener Verstand. Man muß sowohl ein altes Bettelweib wie einen Mönch oder einen Blödsinnigen vorstellen können, man muß den Blinden oder den Lahmen spielen und namentlich selbst des Teufels Großmutter nicht fürchten! – Das überlaßt mir, ich bin der König meines Stammes, die Ehre bei der Sache ist für mich allein! Ha, ha, ha, selbst mit den beiden Jungen da, mit meinen eigenen Söhnen teile ich sie nicht!«
   Feiko und Onnen wechselten einen verstohlenen, aber sehr zufriedenen Blick. Seine Majestät, König Mikosch mit dem schwärzlichen Antlitz, der Stummelpfeife und den Messingnägeln in den Ohrläppchen, Seine zerlumpte, blinzelnde, schmutzüberzogene Majestät beanspruchte die Ehre des Spiones für sich allein!
   »Jeder nach seinem Geschmack!« nickte Feiko. »Du nimmst uns also mit dir, königlicher Herr? Du malst uns braun und leihst uns Gewänder aus der Garderobe deiner Prinzen? Für alle diese Wohltaten soll dir in Deutschland ein klingender Lohn zuteil werden, dessen sei sicher!«
   »Aber noch eins!« rief Onnen. »Georg Wessel geht mit uns!«
   »Mag auch der Dritte kommen!« nickte Mikosch. »Überall stehen leere Häuser, in denen man schlafen kann, überall ist das verlassene Feld reif zur Ernte und niemand schneidet die Frucht. Kommt nur, kommt nur – dem Napoleon drei Soldaten zu entführen, das ist‘s gerade, was mir gefällt!«
   Feiko sah zum Lagerplatz hinüber. »Wir verkaufen das Fell des Bären, bevor er erlegt ist, wie mir scheint. Erst gilt es zu fliehen!«
   »Man wirft sich hin und steht nicht wieder auf, das ist einfach genug.«
   Mikosch zeigte mit der Pfeife in die Ferne. »Da unten läßt sich‘s besser ausführen als hier auf der ebenen Fläche, Kinder. Es kommt ein Tannengrund ohne Straße, lauter Gebüsch und Unterholz, eine wüste Schlucht – dort versucht euer Glück. Der Franzose mit dem Katzengesicht hat Eile, er weiß, daß hier herum jeden Augenblick die Russen auftauchen können.«
   Drüben erklang jetzt die Trommel. Es war kein Wasser gefunden worden; die Kranken ächzten, die Gesunden murrten laut – Oberst Jouffrin hielt den Leuten eine Anrede, aber ohne sie wirklich beruhigen zu können. Hunger und Ermüdung sind zwei Feinde, die sich durch Worte nicht verscheuchen lassen.
   »Wir müssen fort!« rief Onnen. »Sollen wir dich hier finden, Mikosch?«
   Der Zigeuner schüttelte den Kopf. »Ich fahre bis an die Grenze des Tannengrundes – euch zuliebe. Unser Weg geht dann rechts ab, nach Smolensk.«
   Feiko und Onnen gaben dem alten Fürsten vom Schleifstein und Schmiedehammer die Hand. »Leb wohl also! Auf Wiedersehn!«
   »Auf Wiedersehn!«
   Die Trommel rasselte nochmals, dann begann der Weitermarsch. Kleine Vögel flogen vom Boden auf, hie und da segelten Krähenscharen durch die Luft; leise grollend erhob in der Ferne der Donner seine gewaltige Stimme. Eine Wolkenschicht verhüllte das Antlitz der Sonne, hie und da fielen schwere Tropfen.
   Die Tannenzweige rauschten und bogen sich im Wind. Kein Weg führte durch die Schlucht – grün und schwärzlich erhob sich das Unterholz vom Boden – nur einzeln, ohne Ordnung, konnten die Soldaten vordringen.
   »Mut, Kinder, Mut! In zwei Stunden ist Witebsk erreicht!«
   Dichter und dichter fiel der Regen, flammend zuckten die Blitze vom Himmel. »Dieser Tag bringt uns Glück«, raunte Feiko, »wir entkommen schon heute!«
   »Wo ist Georg Wessel? – Ich sehe ihn nicht mehr!«
   »Jedenfalls hat er sich auf und davon gemacht. Nun bist du an der Reihe, Onnen – wirf dich hin!«
   »Erst du, Feiko!«
   »Ich will unbedingt der letzte sein! – Ah, sieh da den Blitz!«
   Eine große uralte Tanne war getroffen und in der Mitte auseinandergespalten. Dichte, beinahe schwarze Nadeln bedeckten die bis auf den Erdboden herabreichenden Zweige; unter den schweren Massen knisterte es und zischte, dann schlug rote Lohe heraus und der schöne königliche Baum, harzreich und ausgedörrt, brannte von der Wurzel bis hinauf zur Krone.
   Der Sturm peitschte die Funken, daß sie sprühend auseinanderflogen; Schlag folgte auf Schlag, Blitz auf Blitz. Hie und da fiel der feurige Regen in eine grüne Krone – gleich einer Fackel streckte der Baum, glutumflossen, seine Zweige zum Himmel empor, feuertriefend und glitzernd, bis die nächsten Stämme erfaßt waren, bis alles brannte, von der heißen blitzdurchfurchten Luft bis auf den Boden, dessen dürres Moos die Funken auffing und weitertrug.
   Der Sturm drang den Soldaten entgegen; je schneller sie vorwärtseilten, desto sicherer entrannen sie dem Verderben. Es bedurfte in diesem Augenblick keines Kommandos; trotz Hunger und Müdigkeit liefen alle, um dem toddrohenden Bereiche der Flammen zu entkommen.
   Gebüsche und Stämme trennten den einen von dem andern; Offiziere und Unteroffiziere mußten ihre Kompanien zerstreut sehen, der Marsch war binnen wenigen Minuten zur regellosen Flucht geworden.
   »Jetzt, Onnen – krieche dort durch die Büsche und halte dich dann an einer sicheren Stelle verborgen!«
   Unser Freund übersah die Umgebung. Hinter ihm brannte alles, vor ihm führte eine Art von Schlucht bergab in das Tal – er stürzte vorwärts auf gut Glück hin, schien zu stolpern, fiel und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen.
   Neben ihm, über ihn hinweg sprangen andere. Das Rauschen der brennenden Tannen drang schauerlich nahe in sein Ohr, immer mehr Bäume wurden ergriffen, heiße Luftwogen schlugen über ihn hinweg – eine Hand rüttelte seinen scheinbar leblosen Körper.
   »Steh auf, Kamerad, steh auf, du kannst hier nicht bleiben!«
   Es war ein Landsmann, der sich mitleidig über ihn herabneigte; Onnen fühlte, wie sein Herz zum Zerspringen schlug. Um keinen Preis durfte er antworten.
   »Mille tonnerre, lassen brûler den Kerl! En avant! En avant!«
   Ein Unteroffizier trieb mit blanker Waffe die Soldaten vor sich her. Einige Nachzügler folgten, dann wurde es still um den wie tot Daliegenden. Roter Schein fiel auf das Moos, glühende Luft prickelte seine Stirn, der starke Duft des brennenden Harzes versetzte den Atem.
   Vorsichtig sah Onnen umher.
   Die letzten Schritte der Soldaten waren verhallt, niemand befand sich mehr in der Nähe, kein Auge konnte ihn sehen, kein Ohr ihn hören.
   »Feiko!« rief er.
   Keine Antwort.
   Es war unmöglich, noch länger so liegen zu bleiben. Die nächsten Gebüsche brannten schon, der Sturm trieb nach allen Seiten ganze Schauer von Funken; Onnen sprang auf, packte das Gewehr und eilte fort, nach den ersten Schritten aber blieb er schon wieder stehen. Sollte er die Waffe mitnehmen?
   Nein! Sie flog in das Gebüsch samt Kaskett und Seitengewehr, ebenso Patrontasche und Riemen – nun war er frei.
   Vor ihm brannte es überall. Er schlug sich nach der Seite hin durch das Unterholz, durch regennasse Zweige, über umgestürzte Baumstämme und mit Gestrüpp bewachsene Erdwälle. Welche Richtung war die, in der er den Wagen des Zigeuners zu finden erwarten durfte?
   Wie die Blitze blendeten! Das Rollen des Donners und das Brausen in der Luft mischten sich zu einem einzigen anhaltenden Getöse; nach der unerträglichen lähmenden Schwüle folgte ein Unwetter, dem die stärksten Stämme nicht zu widerstehen vermochten.
   Es erfüllte die Seele des einsamen jungen Mannes mit unabweislichem Grauen. Im fernen Lande so ganz allein, so ganz verlassen, der einzige Freund ein Zigeuner, die einzige Hoffnung die auf seine Treue – wahrlich, viel ärmer konnte er nicht mehr werden.
   Aber doch bewahrte er einen ruhigen Mut. Wenigstens die Franzosen, die Mörder seines armen Vaters, würden ihm nun nichts mehr anhaben, ein quälender Gedanke war jetzt von seiner Seele genommen. Neun oder zwölf Leute aus dem Regimente des Obersten hatten damals auf Norderney die Exekution an den Schmugglern vollzogen, aber welche? – Das wußte er nicht; vielleicht gingen sie Seite an Seite mit ihm, vielleicht scherzte und lachte er mit ihnen. Gottlob, das war vorüber.
   In der Ferne erhob sich zwischen Stämmen und Gebüschen plötzlich Feikos hochgewachsene Gestalt; mit einigen schnellen Sprüngen hatte er den jüngeren Vetter erreicht. »Da bist du ja, Onnen! Komm rasch, der Zigeuner wartet.«
   »Und Georg – ist er auch da?«
   »Wohlbehalten. Der brave König verwandelt ihn eben in einen braunen Sohn der wandernden Bande.«
   Onnen lachte. »Dem Himmel sei Dank, Feiko. Nun sind wir frei!«
   »Hurra, hurra! – Gott verläßt doch keinen Deutschen.«
   In geringer Entfernung standen die Klepper des Zigeunerkönigs, seine Wagen, Kinder und Hunde samt den drei Frauen, alles von Schmutz überzogen, bunt in Lappen und Fetzen gehüllt, aber lustig und treuherzig. Die ganze Familie jubelte den beiden jungen Leuten entgegen, Ruff spendete ihnen sogar eine Bärenverbeugung und erschien, in der Meinung, fremde Gäste vor sich zu haben, mit dem Sammelteller.
   Hinter einem der wie bewegliche Trödelbuden aussehenden Wagen zeigte sich ein schlanker junger Zigeuner mit dem Ring, an welchem Messer und Scheren hingen. »Nichts zu schleifen, meine Herrschaften?«
   Die Stimme verriet ihn. »Georg Wessel! – mein Gott, wir hätten dich wahrlich nicht erkannt.«
   »Das ist mir sehr lieb. Fahrt nur gleich selbst in die braune Haut hinein, damit wir einmal vom Fleck kommen.«
   Die Verwandlung war schnell vollbracht, irgendwo in den Tiefen der Wagen fanden die französischen Uniformen ein Versteck; seltsame Kaftane und lange Großvaterröcke umhüllten die jungen Leute, dann ging es fort, so schnell die Gäule laufen wollten.
   Der Regen fiel unablässig auf die schutzlosen Menschen, aber trotz dieser Sintflut schienen alle in der besten Laune. Ach, wie behaglich lag sich‘s auf dem nassen Stroh, wie schön war es, die Franzosen nun so weit entfernt zu wissen!
   Allmählich sank der Abend herab; nach dem Gewitter glänzte blau und sternenhell der Himmel, wie ein freundliches Gesicht lächelte der Mond.
   Alles Leben entfaltete neu erfrischt seine Schwingen. Über das Feld lief hurtig der Hase und spitzte horchend die Ohren, sobald das Fuhrwerk nahte; Scharen von Hühnern schwirrten durch die Luft, große Nachtfalter taumelten zwischen Blatt und Blüte.
   Immer weiter, weiter. Erst gegen Morgen konnten die Wagen ihr Ziel erreichen, Stunden mußten noch vergehen, bis die Klepper wieder ausruhen durften.
   Zuweilen streiften große gelbgraue Tiere den Weg, dann bellten alle Hunde, die Pferde schüttelten schnaufend die Köpfe und Mikosch schlug mit der Peitsche, daß es knallte.
   »Wölfe«, sagte er, »feiges Gesindel. Im Sommer fürchtet sie niemand.«
   Onnen schloß die Augen. Schlafen wollte er nicht, nur so recht behaglich in vollen Zügen die kühle Nachtluft genießen. Eine der Zigeunerinnen sang mit halber Stimme ihr kleines Kind in Schlummer, – merkwürdig, wie die leisen getragenen Töne das Bewußtsein umhüllten. Onnen wachte nach seiner eigenen Meinung ganz vollständig, aber doch mischten sich in seine Gedanken die Bilder ferner Tage, er sah das Meer und die Dünen, er schaukelte auf den Planken der »Taube« über dem Ozean und sprach mit den Freunden längst entschwundener glücklicher Kinderzeit. Wie seltsam, auch der tote Vater lebte wieder und legte ihm lächelnd seine Hand auf die Stirn. »Ich bin immer bei dir, Onnen, mein Junge, immer!«
   Leise sang die Zigeunerin, leise, bis auf ihren Lippen der Laut erstarb. Im nassen Stroh schliefen Kinder und Erwachsene, nur Mikosch wachte und sah spähend durch das Halbdunkel der Mondnacht, zuweilen lächelnd, als erwarte er etwas sehr Angenehmes.
   Die kleinen Pferde trabten unermüdlich. Es wurde heller und heller, ein Stern nach dem andern erblich, da glaubte Onnen im Schlafe plötzlich ein dumpfes Rollen und Brausen zu hören. »Sturm!« flüsterte er im Schlafe, »Sturm! – Und wir fahren durch das Kattegatt! Feiko, laß wenden, ehe es zu spät ist!«
   Dann erwachte er jählings. Die ersten Strahlen der Sonne fielen auf ein buntes bewegtes Bild, auf Bärenmützen und lange glitzernde Lanzen; unübersehbar zeigte sich die Straße bedeckt von den kleinen windschnellen Steppenpferden.
   »Kosaken!« sagte Mikosch. »Donsche Kosaken! Heisa, ein stattliches Heer!«
   Tausende bevölkerten die Straße, schöne kräftige Männergestalten mit sauberen Uniformen und in strammer Haltung. Da gab es keine Risse und Flecke, keine verhungert aussehenden Gesichter; dem Zuge folgte eine Reihe von Gepäckwagen, auf denen sich starke Vorräte stapelten; die Leute sangen mit den Pfeifen zwischen den Lippen, sie riefen allerlei Scherzworte herüber, die Mikosch ebenso lustig zurückgab.
   In einiger Entfernung erhob sich ein Kirchturm und bald darauf auch die Dächer eines großen, ganz aus Holz erbauten Dorfes. Das Morgenglöcklein erklang, die Bauern eilten zur Frühmesse in die Kapelle, deren Türen weit offen standen.
   Beim Anblick der Kosaken brachen Jubelrufe über aller Lippen. Ein brausendes Hurra empfing die Söhne der Steppe auf ihrem Wege zum Kriegsschauplatz, zur Befreiung des Landes von Not und Verderben; jeder Bauer führte sich so viele Soldaten, als seine Isba fassen wollte, unter das Dach von Stroh und Schindeln, jede Frau spendete, was Küche und Vorratskammer vermochten.
   Hierher waren die Franzosen bis jetzt nicht gekommen, aber man hatte schon längst in großer Furcht gelebt und freute sich nun doppelt der schützenden Nähe treuer Freunde.
   Auch die Zigeuner erhielten aus den vollen Schüsseln und Krügen ihren Anteil. Man wußte, daß Mikosch und seine Söhne die Geige zu spielen verstanden, ein paar junge Burschen schlossen sich ihnen an und durch das ganze Dorf erklangen die lustigen Weisen.
   Vor Abend sollte der Zug weiterreiten, aber bis dahin hatte man Zeit, ein Fest zu feiern, das schon seit länger als einer Woche im Kalender angezeigt war, dem sich die Leute aber unter dem Druck der bangen Ungewißheit nicht hinzugeben wagten – das Totenfest.
   Die Kosaken verstummten, als der Dorfälteste das Wort aussprach, die Musikanten fiedelten nicht mehr, tiefer Ernst legte sich auf alle Gesichter. »Das Totenfest! Nicht viele Russen können es in diesem Jahr feiern.«
   »Auch wir nicht, wir nicht! Es ist weit bis zu unserer Stanitza am Don!«
   »Und doch brauchen wir die Fürbitten der Toten so notwendig.« »Alle Heiligen beschützen uns!« fuhr der Dorfälteste fort. »Wir Russen sind Brüder, Freunde, ob auch des einen Wiege am Don stand und die des andern an der Wolga – feiert euer Totenfest mit uns, ihr Kosaken und betet zu den eurigen, indes ihr auf unseren Gräbern sitzt. Die seligen Geister hören‘s und sehen‘s überall, denke ich!«
   Der Vorschlag wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen, und nun entwickelte sich eine Szene, die in ihren Vorbereitungen den Deutschen so unverständlich blieb, daß sie sogleich Erkundigungen einzuziehen begannen.
   »Mikosch, bist du eigentlich ein Christ?« fragte Onnen.
   »Ganz gewiß. Meine Kinder sind sämtlich getauft, eins in Ungarn, eins hier, das dritte in Schottland. Weshalb interessiert dich das?«
   »Weil ich wissen möchte, was diese Leute unter dem Totenfest verstehen?«
   Mikosch lächelte. »Ihr könnt ja hingehen und euch auf dem Gottesacker die Feierlichkeit nach Belieben ansehen. Nur vergeßt nicht, ein Stück Brot und Fleisch mitzunehmen.«
   »Brot und Fleisch?« wiederholte Onnen. »Auf den Kirchhof?«
   »Ja. Geht nur hin. Man gibt auch dem armen Zigeuner auf jedem Grabe gern ein Plätzchen, um zu beten.«
   Onnen schüttelte den Kopf; Das klang merkwürdig genug.
   Unterdessen vollzog sich zwischen den Dorfhütten eine komische Szene. Vorsichtig wie alle Bauern hatten die Leute ihre Vorräte aus Angst vor den raubgierigen Franzosen vergraben und öffneten nun die unterirdischen Vorratskammern, um Würste und Schinken, Speck und Butterfässer, Brot und dickbäuchige Branntweinkruken hervorzuholen. Auch Eingemachtes kam zum Vorschein, trockene Fische, Früchte – die Lebensmittel türmten sich auf den die Hütten umgebenden Höfen zu ganzen Bergen.
   Jeder Kosak bekam seinen Anteil, ebenso die vermeintlichen und wirklichen Zigeuner; ein Ackerwagen wurde mit Garben beladen, einige Stücke Vieh aus den Ställen hervorgeholt und zu guter Letzt eine Drehorgel herbeigeschafft. Die Einwohner ergriffen Tische und Stühle, und mit flatternden Fahnen setzte sich ein Zug in Bewegung, wie ihn die christliche Glaubensgemeinschaft keines Landes der Welt jetzt noch kennt und besitzt.
   Voran schritt der Pope, hinter ihm die Fahnenträger und das ganze Volk samt Tausenden Donscher Kosaken. Mütter hielten ihre kleinen Kinder auf den Armen, Blinde wurden geführt, Greise und Lahme wurden getragen – so ging es zum Gottesacker.
   »Begreifst du die Geschichte?« flüsterte Feiko.
   »Ich bitte dich, auch die Ochsen werden hierher getrieben!«
   »Und da kommt der Schutzheilige des Dorfes!«
   Ein großes Kirchengemälde, den heiligen Nikolaus vorstellend, wurde von mehreren Männern in der Mitte des Gottesackers aufgerichtet, und nun begann die Prozession der Gläubigen, während der Pope betete und die Anwesenden segnete. Viele von den bärtigen Kosaken küßten inbrünstig die Füße oder das Kleid des Heiligen, viele Frauen weinten laut; die Furie des Krieges durchzog ja mit lodernder Fackel das Land – es gab wenige Personen, die nicht für diesen oder jenen Angehörigen, für ihren Besitz oder ihre persönliche Sicherheit fürchteten.
   Dann folgte das Gebet auf den Gräbern. Jede Familie brachte Tische und Stühle in die Nähe des Kreuzes, unter dem ihre Angehörigen schlummerten, und zu jeder gesellten sich so viele Kosaken, wie der Raum zu fassen vermochte. Auf einem Hügel im Hintergrunde stand der Erntewagen mit den Ochsen; von Gruppe zu Gruppe ging spielend der Orgeldreher.
   Zwischen den Gräbern tummelten sich lachende Kinder, pflückten Blumen und tanzten, während alle Erwachsenen aßen und tranken, den abgeschiedenen Seelen ihrer Toten zu Ehren. Was jeder einzelne wünschte, das vertraute er in Gedanken oder laut redend den Gestorbenen, die im Leben seine Nächsten waren, das erzählte er ihnen und bat sie, die Sache vor den Thron des Weltenschöpfers zu bringen.
   »Du ruhst weit von hier an den Ufern des Don, mein alter Vater mit dem weißen Bart und dem Herzen voll Gerechtigkeit, du ruhst weit von hier, aber die Ohren des Geistes hören durch alle Entfernungen, sagt der Pope – ich bitte dich also, sprich für mich bei dem heiligen Sergius, daß mein Roß und ich glücklich heimkehren in die Stanitza auf der Steppe!«
   »Heilige Barbara, meine Schutzpatronin, sieh, ich esse hier ein großes Stück Fleisch auf dem Grabe meines Kindes, damit du dem Engelchen, das ja, als es starb, noch nicht sprechen konnte, freundlich den Weg zeigst zu Gottes und des Herrn Christus Thron. Auch mein zweites Kind ist kränklich und schwach, aber ich liebe es doch so sehr, ich wollte es so gern behalten! Heilige Barbara, hilf, daß die Bitte eines armen Weibes erhört werde!« »Pawlik!« schluchzte eine Frau in Witwenkleidern, »Pawlik, laß deine Seele mir beistehen, wie es deine Fäuste zu Lebzeiten immer taten! Man pfändet meine Hütte, ich bin in großer Not, Pawlik – hilf mir doch!«
   Zwischen jedem Satze würgte das arme Weib irgendeinen Bissen von etwas Genießbarem hinab, offenbar bemüht, dem Heimgegangenen damit die landesübliche Ehrenbezeugung zu erweisen, obgleich sie vor Kummer kaum zu schlucken vermochte. Neben ihr stand ein blondes Mädchen mit gefalteten Händen und blassem Gesicht, ohne zu essen oder zu trinken.
   »Mütterchen, mein süßes Mütterchen, verschaffe mir doch einen Dienst bei guten Christen, ehe der Herbst und die Kälte kommen. Niemand will mich nehmen, weil meine Brust so krank ist, Mütterchen – ich kann auch nichts essen, gar nichts, Mütterchen, es ist mir so weh ums Herz, aber du weißt ja, wie sehr dich dein Kind liebt!«
   Weiterhin standen zwei halberwachsene Knaben. Ihre jungen Augen glänzten, ihre Gesichter waren gerötet, sie verzehrten große Portionen Pfannkuchen.
   »Heiliger Christoph, du weißt, daß von unserer Familie niemand gestorben ist, wir können also auch zu keinem Toten beten, aber schenke du selbst uns scharfe Schwerter und gute Kugelbüchsen; wir möchten gern die Franzosen zum Lande hinausjagen helfen. Amen!«
   Luiz, der junge Zigeuner, übersetzte unseren Freunden alle diese verschiedenen, mit Inbrunst und leidenschaftlichem Flehen vorgebrachten Bitten – die Deutschen fühlten schon nach ganz kurzer Zeit, daß sie unvermerkt in den Bann der Stunde mit hineingezogen wurden.
   Auf Gräbern zu essen und zu trinken, das schien ihnen anfänglich eine empörende Entheiligung, aber der erste Eindruck verwischte sich bald. Die armen unwissenden Menschen beteten so innig, waren von der Wirksamkeit dieses Festessens auf dem Kirchhofe so vollkommen überzeugt, daß schon die Weihe einer solchen Empfindung sie beglücken mußte. Das Gebet aus gläubigem Herzen ist immer echt, es enthalte was es wolle, es erscheine dem andern töricht oder gut – Gott wird es hören.
   Sie dachten an die Gräber ihrer ermordeten Väter, die beiden jungen Leute; Georg Wessel durchlebte im Geiste die bittere Abschiedsstunde im Schiffsraum der »Hortense« – ihre Herzen schlugen höher, ihre Lippen hatten das Lächeln vergessen.
   Dann sprach der Pope ein Gebet für alle, zu allen. Er schilderte die drohenden Gefahren des Krieges, er bat die ewigen Mächte, den russischen Waffen zum Siege zu helfen, und andächtig, lautlos horchten die Bauern. Dieser Teil der Feier war ein gemeinschaftlicher, diese Bitte betraf das geliebte Vaterland und alt und jung stimmte freudig in das Amen, dessen dreimalige Wiederholung den Gottesdienst beschloß.
   Die Sonne sank langsam herab, purpurne Lichter verstreuend, ein runder Ball, dessen Strahlen in einen blauen stillen See zu tauchen schienen. Wie ein Feuermeer unter dem Wasser brannte die Glut, den Gottesacker hell umleuchtend, die betenden Menschen und die Ochsen, denen zuletzt der Inhalt des Erntewagens preisgegeben wurde. Das Vieh und die Felder, die seelenlose und die unbelebte Schöpfung waren auf diese Weise mit hineingezogen in den Kreis des Flehens, das zu Gott empordrang, zu dem Schöpfer und Erhalter aller Dinge.
   Ein Hornsignal erklang vom Dorfe. Die Kosaken mußten weiterziehen, der Begegnung mit dem Feinde, dem gehofften Siege entgegen. Alles gab ihnen das Geleite, jede Hand spendete Gaben, bis zu den kleinen Kindern, die Blumen brachten, zu den Knaben, die Eichenzweige an die Bärenmützen befestigten und sehnsuchtsvoll mit scheuer Hand die Waffen, die stählernen, glänzenden, berührten.
   »Lebt wohl, lebt wohl und alle Heiligen beschützen euch!«
   »Betet für Rußland, ihr Leute. Hoch unser Zar!«
   Ein brausendes Hurra durchlief die Reihen, Abschiedsgrüße flogen herüber und hinüber; wie Millionen Goldfunken glitzerte und glühte es auf den Lanzenspitzen.
   »Lebt wohl! Lebt wohl!« Tiefe Stille folgte dem Scheiden des Regiments. Kopfschüttelnd sah Mikosch den Reiterscharen nach. »So viele, viele tapfere Knaben werden untergehen, so viele glänzende Augen im Tode brechen müssen! – Ach, es ist traurig, unsagbar traurig.«
   »Aber doch eine geheiligte Aufgabe, Alter! – Möchten wir so daher sprengen und die Franzosen über Deutschlands Marken hinauswerfen können, ich bezahlte es gern mit meinem Leben.«
   Der alte Mann seufzte. »Ein Zigeuner hat kein Vaterland«, sagte er. »Seine Augen sehen Europas Reiche von Finnland bis nach Italien, sie lernen hier diese Schönheit kennen und dort jene, hier die eine Völkertugend, dort die andere – weshalb muß es Krieg und Zerstörung geben? Gott wollte die Menschen zu Brüdern erschaffen!«
   Er ging fort, um seine Pferde anzuschirren. Die Nacht mußte mondhell werden; man konnte reisen und unterwegs im dichten Walde zu einer anderen Abteilung wandernder Zigeuner stoßen. Das Stelldichein war verabredet; König Mikosch wollte Wort halten.
   »Wohin fahren wir eigentlich?« fragte Onnen.
   »Über Smolensk nach Moskau. Das weitere wird sich finden; wir müssen sehen, wer den Sieg behält, Napoleon oder der Zar.«
   »Und schließlich bringst du uns an die deutsche Grenze, Alter?«
   »Oder an ein Schiff, wie sich‘s eben macht. Ich kenne in jeder Stadt zuverlässige Leute, ich habe Freunde überall.«
   Ruff ging, nachdem er getanzt und verschiedene Kunststücke vorgetragen hatte, mit dem Sammelteller umher und erntete reiche Gaben. Die Leute standen vor den Türen, sie sprachen von Krieg und Frieden, sie trugen noch alle die Erinnerung an den durchlebten Tag frisch im Herzen – solche Stimmung macht freigebig, verwischt den Geiz und den Ärger.
   Die Wagen krochen im Schneckenschritt davon. Kinder und Erwachsene hatten reiche Geschenke erhalten, alles zählte Geld und sang und sprang vor Vergnügen.
   Jasko spielte die Geige. »Es geht jetzt durch den Wald«, sagte er, »wir haben wenigstens acht Tage vor uns, in denen kein weißer Mensch und kein Haus uns begegnet.«
   »Aber dafür andere Zigeuner?«
   »Der ganze Stamm, ja.«
   »Könnte man doch nach Hause schreiben!« dachte Onnen. »Was würde meine arme gottesfürchtige Mutter sagen, wenn sie mich unter Halbwilden wüßte!«
   Aber er sprach es nicht aus. Die braunen Nomaden waren im Augenblick seine einzigen Freunde und er hütete sich, sie zu beleidigen.
   Ein stolzer, echt nordischer Wald zeigte sich den Blicken. Hohe uralte Eichenstämme wiegten ihre Kronen im Wind, ein brauner Blätterteppich bedeckte den Boden, hie und da erschienen zwischen dem Grün die ersten, vom Sonnenbrand rotgefärbten Schattierungen. Der Specht hämmerte an den Rinden, die Taube gurrte; im tiefsten Schöpfungsfrieden lag unter den Strahlen des aufgehenden Mondes die Natur.
   Dichtes Moos bedeckte den Weg. Im Walde war es fast dunkel; die Zigeuner führten jetzt ihre Tiere und befestigten auf den Wagen kleine Laternen, während Ruff ohne Maulkorb an der Kette ging.
   »Das ist der Wölfe wegen«, erklärte Mikosch. »Sie fürchten den überlegenen Feind ihres Geschlechtes.«
   Es flatterte und zwitscherte unter den Zweigen, es raschelte im Moos. Hie und da zeigten die Wurzelüberreste stolzer Stämme, daß der Mensch seinen Bedarf an Brennholz da genommen hatte, wo er ihn zunächst fand; endlich hörten auch diese letzten Spuren menschlicher Tätigkeit ganz auf und das Gebiet des Urwaldes begann.
   Füchse bellten in weiter Ferne; es raschelte und ein Geweih durchbrach die Zweige. Flüchtig wie der aufgeschreckte Vogel setzte ein Hirsch in Sprüngen davon.
   »Jagt ihr niemals das eßbare Wild?« fragte Feiko.
   »Nie. Irgendwo bei den Bauern findet sich schon etwas Fleisch; im Lager unserer Freunde wird es euch an nichts fehlen.« Die Deutschen sahen einander an. »Man jagt in den Hühnerhöfen oder Ställen der Landleute«, raunte Onnen. »Das ist bequemer.«
   Mikosch besaß eine Uhr und diese zog er jetzt hervor. »Gleich elf! – Etwas nach Mitternacht werden wir den Stamm erreicht haben.«
   Seitwärts zwischen den Bäumen sprang eine Quelle aus dem Boden hervor und plätscherte lustig zu Tal. Ein Höhenzug begrenzte den Weg, ganz oben wob der Mond seine Silberschleier um die Wipfel.
   Zuweilen richtete sich der Bär plötzlich auf und brummte, dann erklang aus den Büschen ein Ton wie verdrießliches Wimmern – die Wölfe flüchteten in ihre Verstecke.
   Breiter, immer breiter wurde der Quell; Blumen blühten an seinen Rändern, üppiges Schilf und Binsen mit wehenden Schäften. Wilde Schwäne tauchten auf und erhoben sich mit lautem Schrei hoch in die Luft, Scharen von Enten schwammen schnatternd zwischen den Halmen, gefolgt von ihrer zweiten Brut, kleinen gelbgefiederten Vögelchen, die hastig den Alten nachsegelten.
   Durch die Stämme schimmerte ein heller Punkt wie ein Auge oder wie ein Stern, zuweilen verdeckt und dann plötzlich wieder erscheinend, größer, glänzender, endlich ein Feuer, dessen Flammen den Rauch wie eine halbgeneigte Riesenfeder hinaufsandten gegen den sternenbedeckten Nachthimmel.
   Mikosch deutete mit dem Peitschenstiel hinüber. »Da sind sie!« sagte er.
   Der Wald wurde offener, freier, der Bach dehnte sich zum See, von nickendem Schilf umrahmt; eine weite Lichtung lag vor den Blicken der Ankommenden. In dem inneren Teile derselben brannte das Feuer, zwölf bis zwanzig Zelte standen nebeneinander, man sah die hingestreckten Gestalten mehrerer Männer, aber kein Ton wurde gehört, kein Willkommenruf begrüßte den Anführer des Stammes.
   Mikosch schien unruhig zu werden. »Hallo!« rief er. »Alexei!«
   Ein hochgewachsener Mann erhob sich und ging den Wagen entgegen. »Vater Mikosch«, sagte er, »du kommst zu den deinen in böser Stunde.«
   »Weshalb?« fragte hastig der Zigeuner. »Ist jemand gestorben?«
   »Du errätst es«, zögerte Alexei. »Das Unglück wird dich sehr betrüben, Mikosch.«
   Der Alte ließ den Peitschengriff aus der zitternden Hand fallen. »Barbarin, mein Bruder!« stammelte er.
   Das Schweigen des anderen bestätigte seine schlimme Ahnung. »Wie konnte es nur geschehen?« fragte er hastig. »Barbarin war jünger als ich!«
   »Er ist auch keines natürlichen Todes gestorben, Mikosch. Uns begegneten Franzosen, sie hielten Barbarin für einen russischen Spion – ihre Kugel steckt in seiner Brust.«
   Unter den Zeltdächern war es während dieses kurzen Gespräches lebendig geworden; eine Anzahl von Männern umringte den Häuptling, spannte die Pferde aus und brachte Nahrungsmittel herbei. Die Leute schienen auf den ersten Blick die Verkleidung der Deutschen zu durchschauen, sie stellten keinerlei Fragen, sondern boten ihren Gästen Brot und Fleisch neben den Überresten einer schwärzlichen Suppe, die im Kessel am Feuer brodelte.
   Wo sie schlafen wollten, das schien man ihnen selbst zu überlassen. Die Zelte beherbergten offenbar nur Frauen und Kinder; jeder Mann streckte sich auf das Moos, wo er gerade ging und stand.
   Mikosch nahm von alledem keine Notiz. Auf einer kleinen Anhöhe, etwas vom Feuer entfernt, lagen Bärenfelle ausgebreitet und auf diesen ruhte, verhüllt von einem roten Tuche, eine menschliche Gestalt. Blumen und bunte Bänder waren phantastisch ringsumher ausgebreitet, mehrere Waffen lagen zu Füßen des Toten, ein großer Wolfshund kauerte daneben, ohne sich von seinem Platze entfernen zu lassen.
   Mikosch zog mit leiser Hand das Tuch herab. »Barbarin«, sagte er traurig, »o mein Bruder, mein letzter Bruder!«
   Er setzte sich neben den Toten und nahm eine seiner erstarrten Hände. »Wie mich das Unglück erschreckt hat, Alexei! – O lieber Gott, vor wenigen Wochen verließ ich ihn gesund und lebensfrisch!«
   »Er war es noch bis gestern nacht, Mikosch. Die Franzosen haben ihn gemordet.«
   Der Zigeuner senkte den Kopf. »Auch ihn«, murmelte er, »auch ihn. Die Schuldenlast wächst furchtbar und sie soll getilgt werden, ja, sie soll getilgt werden!«
   »Wie kam es?« setzte er dann hinzu. »Was begehrten die Franzosen von dem armen Barbarin?«
   Alexei ballte die Faust. »Wir begegneten einem ihrer Regimenter«, antwortete er, »es war vom Wege abgekommen und in einen Sumpf geraten, ihm fehlte ein ortskundiger Führer. Da winkte der Kommandeur deinem Bruder und gebot ihm, die Truppen nach Witebsk zu bringen, aber Barbarin weigerte sich dessen. Als Russe wollte er den Feinden des Vaterlandes keine Dienste leisten. Du würdest ebenso gehandelt haben, Mikosch!«
   »Gewiß!« nickte der Zigeuner, »gewiß!«
   »Barbarin behauptete, selbst den Weg nicht zu kennen«, fuhr Alexei fort, »und da erschoß ihn der Franzose auf dem Fleck. Es war nur eine einzige schnelle Bewegung, niemand konnte voraussehen, was folgen würde.«
   Mikosch sah schweren Blickes empor. »Hat keiner von euch den Namen des Mörders erfahren?« fragte er die übrigen.
   »Doch, Mikosch. Er heißt Oberst Jouffrin.«
   Das Auge des Zigeuners blitzte plötzlich auf. »Der also!« rief er. »Ich kenne ihn wohl, ich finde ihn unter den Tausenden, die unser armes Land überfluten! Ich finde ihn!«
   Niemand antwortete. Leise rauschte in den Baumkronen der Wind, stumm trauernd saß das Haupt des wandernden Stammes neben dem Toten und hielt dessen Hand. »Schlaft!« flüsterte Alexei den Deutschen zu, »schlaft oder eßt! Wir bleiben jedenfalls noch bis übermorgen an dieser Stelle.«
   Er deutete nochmals auf die gehäuften Vorräte, dann brachte er einige Decken herbei und überließ die jungen Leute sich selbst.
   »Ohne Zweifel war auch Barbarin ein russischer Spion«, meinte Feiko. »Der Zweck der ganzen Reise ist für Mikosch vereitelt. Die beiden unterrichten das Generalkommando in Smolensk von der Stellung der französischen Truppen; sie bilden mit allen ihren Helfershelfern eine Kette von Spionen, die das ganze Land überzieht.«
   »Dann wird wohl Alexei jetzt an die Stelle des Erschossenen treten.«
   »Seht einmal«, flüsterte Georg, »kommt euch das nicht ein wenig heidnisch vor?«
   Ein Kreis von Frauen umgab die Leiche, unaufhörlich murmelnd und mit den Oberkörpern von einer Seite zur anderen wiegend.
   »Er verstand die geheimsten Künste«, raunte die eine, »er konnte in den Sternen und in den Linien der Menschenhand lesen; Barbarin stillte mit drei Worten das rinnende Blut, er heilte alle Wunden.«
   »Er war der schnellste Reiter seines Volkes, er konnte den bösen Blick beherrschen und verstand die Zauberei aus dem Grunde.«
   »Barbarin ist tot. Seine Seele schreit um Rache an dem Mörder!«
   »Rache! Rache!« wiederholten alle.
   Aus dem Kreise erhob sich eine uralte Frau, eisgrau und wankend; sie ging zu einem der Wagen und ließ sich durch einen jungen Burschen ein Kästchen reichen, das sie öffnete und dem ihre Hand einen unkenntlichen Gegenstand entnahm.
   »Führe mich«, murmelte sie, matt die Arme ausstreckend, »führe mich!«
   Zwei Zigeuner geleiteten die Hundertjährige zum Feuer, an dessen Rand sie zusammensank. Das bunte Tuch war von ihrem Kopfe herabgeglitten, das dunkle Gesicht glich dem einer Mumie; nur die Augen sprachen von einem verborgen glimmenden, leidenschaftlich angefachten Hasse, der die Seele der Alten erfüllte.
   Ihre dürre Hand hielt ein wächsernes Herz, wie man es in katholischen Ländern vielfach trifft, bestimmt zum Opferdienst an heiliger Stätte – hier aber ein Zaubermittel, das Werkzeug einer Rache, deren Ausführung halb komisch erschien, halb grauenvoll.
   Alexei reichte der alten Frau ein langes spitzes Messer, das sie mitten in das wächserne Herz hineinstieß. Dann hielt sie es in die Nähe des Feuers und fing an zu murmeln.
   »Ich war seine Mutter, ihr Götter des braunen Volkes, ich habe ihn auf meinen Armen in das Leben hineingetragen – Barbarin liebte mich! Jetzt liegt er erschlagen, tot; ich werde nie wieder seine Stimme hören, nie sein Auge sehen. Zieht den Mörder an das Tageslicht, ihr Götter – ich überliefere ihn euch!«
   Von dem wächsernen Herzen flossen langsam schmelzende Tropfen und fielen hinab in das Feuer. »Blut!« murmelte die Alte, »Blut! So soll es vergossen werden, so soll sein Leben zum Opfer dienen für das, was er geraubt hat.«
   Alle Zigeuner aus den Zelten schlichen sich herbei, Männer und Frauen, alle umstanden düsteren Blickes das Feuer und beobachteten, wie der Wachsklumpen langsam schmolz. Nur Mikosch hielt ganz allein die Totenwacht und der Wind spielte mit den bunten rauschenden Bändern zu Füßen der Leiche.
   Als die Zauberszene beendet war, trugen kräftige Arme die alte Frau wieder in ihr Zelt. Barbarins Antlitz wurde mit dem Tuche bedeckt, der große Hund kauerte unbeweglich neben dem Körper seines toten Gebieters.
   »Wenn das der Oberst wüßte!« sagte Onnen.
   »Er erfährt es, sobald ihn das Messer trifft. Ich bin überzeugt, er entgeht der Rache dieser braunen Heiden nicht so leicht.«
   Der Mond trat hinter eine Wolke, Schatten fielen auf das Zeltlager und den See mit seinen rudernden Schwänen – leise murmelten und raunten die kauernden Frauen ihren Zaubersegen.
   Unsere Freunde suchten zu schlafen. Inmitten aller Gefahren des Krieges und der Wildnis tröstete doch ein Gedanke ihre Herzen – sie waren aus dem französischen Joche erlöst.
   Der Wind rauschte Schlummerlieder, die Augen fielen zu, die Gedanken verschwammen zum unklaren Bilde. Tief im russischen Urwalde schliefen die drei Deutschen den Schlaf der gesunden Jugend bis an den hellen Morgen. Als sie erwachten, fand sich keine Spur der nächtlichen Szene mehr vor, auch die Leiche und ihr Schmuck war weggebracht, der große Hund fehlte und an der Stätte der gestrigen Feier tummelten sich Scharen von braunen Kindern.
   Eine ältliche Frau kochte in einem großen Topfe das Frühstück, die Männer saßen stumm und rauchten oder schnitzten irgendeinen hölzernen Gegenstand, aber das laute Treiben, das Durcheinander, wie es sonst unter dem wandernden Völkchen herrschte, alle die lebensfrohen Stimmen fehlten gänzlich.
   Unsere Freunde nahmen den schlanken, klug blickenden Alexei beiseite und fragten ihn, ob er nicht einige Gewehre besitze. »Wir möchten ein wenig jagen!« gestand Onnen.
   »Hm – aber ihr findet nicht wieder zum Lager zurück.«
   »Wenn du mitgingest, ganz bestimmt«
   Der Zigeuner schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht; Mikosch würde sich beleidigt fühlen.«
   Das dunkle Gesicht des Häuptlings sah hinter der Zeltwand hervor. »Lauft nur, Kinder«, sagte er in gütigem Tone, »lauft nur. Wenn ihr so alt seid wie ich, wenn ihr das Leben kennengelernt habt, ist es für die Freude an Jagd und Abenteuern zu spät, also genießt sie jetzt. Geh mit unseren Gästen, Alexei; die Gewehre liegen unter dem Stroh in meinem Wagen.«
   Der junge Zigeuner eilte fort, um die Waffen herbeizuholen, und dann zog die ganze kleine Schar in den Wald hinaus.
   »Ich habe gestern eine Bärenfamilie gesehen«, erklärte Alexei, »junge Tierchen von der Größe einer Hauskatze. Wie wäre es, wenn wir sie einfingen?«
   »Prachtvoll!« rief Onnen. »Wie viele waren es?«
   »Zwei Junge mit der Mutter. Diese letztere müssen wir töten.«
   »Erschießen?« fragte Feiko.
   Alexei schüttelte den Kopf. »Das wäre zu gefährlich«, antwortete er, »und überdies gebraucht der Zigeuner nicht gern Feuerwaffen.«
   »Ich weiß schon!« rief Onnen. »Ihr macht es wie die nordamerikanischen Indianer, ihr fangt den Bären mit Honig, indem ihr ihn von einem vor die Waben gehängten schweren Block erschlagen laßt.«
   »Oder in der Grube!« setzte Georg hinzu.
   »Auch nicht. Kommt nur mit, ihr werdet es schon sehen.«
   Jenseits der Lichtung begann wieder tiefdunkler ragender Wald mit dichtem Gebüsch und zahllosen kleinen Wasseradern. Zuweilen mußten die Jäger seichte Stellen durchwaten, zuweilen auf einem der vielen umgestürzten Bäume über den Bach gehen oder gar ihren Weg von Zweig zu Zweig hoch über dem flutenden Elemente quer durch die Luft nehmen. Das war eine Vergnügungsreise, bei der die Herzen jubelten und die gelenkigen Glieder der seegewohnten jungen Leute selbst den Zigeuner in Erstaunen setzten.
   »Alexei, bist du aber auch sicher, dich von dieser Irrfahrt wieder ins Lager zurückzufinden?« fragte Feiko.
   »Sei ganz ruhig, Herr, ich durchziehe den Wald nicht zum erstenmal.«
   Onnen wollte den Sitz hoch oben in den Wipfeln gar nicht verlassen. »Hier fehlt mir das Meer«, erklärte er, »aber auf Norderney wird mir künftig der Wald ebenso fehlen. Es ist doch gut, wenn man von der Welt etwas mehr zu sehen bekommt als nur seine allerengste Heimat.«
   Die übrigen lachten. Während Alexei ganz Europa mehrfach durchzogen hatte, waren die beiden jungen Seeleute in den Tropen gewesen und kannten aus eigener Anschauung die schönsten Punkte der Erde, Tahiti, Brasilien, Fernando Po usw. Onnen dagegen sollte seine erste Reise mit des Vaters Dreimaster gerade antreten, als die Franzosenwirtschaft den deutschen Handel lahmlegte – er sah zum erstenmal über das flache Ostfriesland hinaus und die lange unterdrückte Jugendlust durchbrach alle Schranken.
   Er wiegte sich auf seinem Aste über dem Wasser und bedeutete den Genossen, sich ruhig zu verhalten. Dann kroch er höher hinauf. »Ein Eichhörnchennest mit fünf Jungen! Seht doch! Seht doch!«
   Er zeigte den anderen ein Tierchen wie eine Maus, rot behaart und mit klugen Augen, dann legte er es vorsichtig wieder in das Nest; auf einem nahestehenden Baum sprang die Alte so angstvoll wimmernd hin und her, er konnte es nicht über das Herz bringen, sie noch länger zu quälen, sondern kletterte wie ein Seiltänzer von Zweig zu Zweig an das jenseitige Ufer hinüber, während oben in der Krone die geängstigte Mutter ihre Kleinen zu beruhigen suchte und die ganze Familie miteinander um die Wette pfiff und krabbelte.
   »Ist es bis zur Bärenhöhle noch weit, Alexei?«
   »Ein halbes Stündchen. Die kugelrunden Gesellen werden dir besser gefallen als das rote Völkchen da oben.«
   Onnen riß das Gewehr von der Schulter. »Da war eben ein Tier!« rief er.
   »Wo?«
   »Hier unter den Baumwurzeln. Ein ganz weißes Geschöpf.«
   »Ach – ein Hermelin! Möchtest du es sehen, Herr?«
   »Gehorchen dir etwa die Hermeline, wenn du sie rufst, Alexei?«
   »Natürlich. Der Zigeuner ist der König des Waldes. Aber wir alle müssen uns verstecken, sonst kommt das Tierchen nicht zum Vorschein.«
   Der Vorschlag wurde angenommen, im nächsten Augenblick schien die Stelle leer und nur ein leiser, ganz leiser Ton durchschwirrte die stille, warme Sommerluft. Es klang wie das Pfeifen einer Maus. »Alexei, weshalb —«
   »Pst! Pst!«
   Onnen schwieg und der Zigeuner begann wieder zu pfeifen, ganz täuschend wie eine hungrige Maus, die vergebens nach Nahrung sucht. Nur wenige Minuten vergingen, dann zeigte sich schon der gewünschte Erfolg.
   Eine weiße Schnauze sah aus dem Gebüsch hervor, noch eine, die Köpfe kamen zum Vorschein, endlich zwei weiße hübsche Tierchen mit hellbrauner Rückenfärbung.
   Immer stärker und stärker, in ungeduldigem, ärgerlichem Tone pfiff der Zigeuner.
   Die kleinen, kaum fußlangen Marder liefen schnuppernd von einer Baumwurzel, einer Erdspalte zur anderen, sie suchten die Maus, ohne dieselbe finden zu können, sie erhitzten sich immer mehr und begannen zuletzt in feindseliger Weise gegeneinander aufzuspringen. Die scharfen Zähne griffen in den Pelz, daß die Haare nach allen Seiten flogen, kopfüber und kopfunter kugelten die erbitterten Geschöpfe auf dem Moos herum, ohne zu gewahren, daß das Mäuschen schon längst nicht mehr pfiff; erst als die versteckten Zuschauer laut lachten, fuhren sie plötzlich auseinander und verschwanden schattengleich unter den Wurzeln des hohen Stammes.
   »Alexei«, rief Onnen, »weshalb fängst du die kleinen Tiere nicht ein?«
   »Weil ihr Pelz im Sommer nichts taugt, Herr. Im Winter legt man ein Tellereisen mit einem Ei oder einer Maus in der Mitte neben ihren Bau; sie fangen sich darin sehr zahlreich.«
   »Überhaupt scheinen eure Wälder viel Wild zu enthalten!«
   »Unermeßlich viel. Laßt uns nur jetzt die Bären aufsuchen. Ich glaube, die Jungen sind noch nicht imstande, sich vom Lager zu entfernen.«
   Sie drangen durch Gestrüpp und Ranken bis zu einem Platze, wo sich tiefe Wagenspuren zeigten. Diesen Weg hatte gestern der Zug der Zigeuner genommen und den Einschnitten gingen die vier Jäger etwa eine halbe Stunde lang nach. Eine Krümmung des den ganzen Wald durchfließenden Baches trat wieder aus dem Gebüsch heraus, wilde Enten schnatterten, ein Luchs strich dicht vor den Füßen der jungen Leute über den Weg.
   Alexei deutete auf einen riesigen, in halber Höhe abgestorbenen Baumstamm, dessen blattlose Äste schwarz und dürre aus dem umgebenden Grün hervorragten. Am Erdboden war das ganze Innere hohl und zum Teil vermorscht, kleine Splitter bedeckten ringsumher das Moos.
   »Dorthin!« flüsterte der Zigeuner. »Ihr müßt jetzt eure Waffen laden; jeder Mann stellt sich so gegen einen Baum, daß der Rücken gedeckt ist.«
   Er wählte drei Stämme, an denen die Jäger Posto faßten, dann nahm er selbst den vierten, in einiger Entfernung dem hohlen Baume gegenüberstehenden, und zog das lange spitze Messer aus der Scheide, worauf er die Jacke ablegte und Hand und Arm bis zum Ellbogen fest umwickelte.
   Als das geschehen war, warf er ein Stück Brot dicht vor die Höhle.
   Allen Jägern klopfte das Herz zum Zerspringen. Was würde in den nächstfolgenden Minuten geschehen?
   Alexei ließ sich auf ein Knie nieder; er beobachtete mit Falkenblicken die Umgebung nach allen Seiten hin.
   Aus der Höhle kam ein wolliges dunkelfarbiges Tierchen hervor, rund wie ein Muff, unbehilflich gehend und springend; ihm folgte ein zweites ebenso aussehendes, beide berochen das Brot, rupften an demselben, zerrten es hin und her und warfen sich auf den Rücken, um mit den kleinen emporgehaltenen Pfoten brüderlich zu spielen.
   Die Tiere konnten allenfalls drei oder vier Wochen zählen.
   Unbekümmert um die Nähe der Menschen, noch völlig ahnungslos der Gefahr gegenüber, torkelten sie umher, während die Jäger in lautlosem Schweigen verharrten.
   Alexei sah zu den anderen hinüber, dann bewegte er langsam die Hand. Das Zeichen war deutlich – sie sollten die kleinen Bären, sobald sich dieselben wieder in die Höhle begaben, greifen und festhalten.
   »Wenn nur die Alte ausbliebe«, dachte Onnen. »Es ist doch so sehr gefährlich!«
   Er sah nach allen Seiten und dann brach über seine Lippen ein Schrei des Entsetzens. Aus dem hohlen Baume hervor blickten die funkelnden Augen der Bärin – sie hatte offenbar versteckt gelegen und war jetzt im Begriff, hinauszuspringen.
   »Still!« gebot mit lauter Stimme der Zigeuner.
   Ein wütendes Brüllen erschütterte die Umgebung; aufgeschreckt, ratlos flüchteten die beiden kleinen Bären zur Höhle, während das alte Tier, in diesem Augenblick unbekümmert um seine Jungen, Miene machte, sich Onnen als dem nächststehenden entgegenzuwerfen und ihn zu packen.
   Gedankenschnell ergriff der Zigeuner mit der linken Hand einen Stein und schleuderte ihn dem gereizten Tiere gerade an den Kopf.
   Die Wirkung erfolgte augenblicklich. Petz drehte sich um, setzte an und sprang seinem Widersacher entgegen. Das Ganze war Sache einer halben Minute und doch genügte diese kurze Frist, um den Kampf zu entscheiden. Mit weit aufgerissenem Rachen hatte das Ungeheuer den gewandten Zigeuner packen wollen, anstatt dessen aber traf das Messer, von sicherer Hand gestoßen, sein Herz und taumelnd sank es zurück.
   Der Anblick dieser Szene war grauenhaft. Bis an den Ellbogen steckte Alexeis rechter Arm in dem Rachen des Bären, dessen Todeszuckungen schon begannen; er konnte die beiden furchtbaren Zahnreihen nicht schließen, sondern brachte nur ein dumpfes Röcheln hervor und dann streckte er die Glieder, um sich nie mehr zu erheben. Über ihm, siegreich und stolz blickend, stand der Zigeuner. Bis an das Heft steckte die Klinge im Körper des Tieres, Herz und Lungen durchschneidend; ein breiter Blutstrom sprang hervor, aber dennoch wartete Alexei – wenn er die Waffe zurückzog, konnte der Schmerz des Augenblicks noch eine halb unwillkürliche Zusammenziehung der gefährlichen Pranken veranlassen; das wollte er verhüten.
   Ebenso gespannt, so unruhig wie er selbst beobachteten auch die Weißen.
   Endlich lockerte Alexei die Klinge. Das Tier war tot, es regte sich nicht mehr.
   Ein Bann schien von den Seelen der jungen Leute genommen, sie eilten zur Höhle und versicherten sich zunächst der beiden kleinen Bären, die Alexei in seine Jacke hüllte und sich auf den Rücken band, wo sie mit den Schnauzen hervorsahen, ohne entfliehen zu können.
   »Aber jetzt ist noch der Papa dieser braunen Familie übrig geblieben«, rief Onnen. »Wollen wir seinen Besuch erwarten?«
   »Keineswegs«, versetzte der Zigeuner, indem er hurtig das Fell der getöteten Bärin abzog. »Ich möchte nur diesen Pelz vor den Wölfen bewahren, dann gehen wir. So, das Fleisch können die hungrigen Bestien nehmen – morgen hole ich das Fell.«
   Er befestigte es in angemessener Höhe zwischen zwei derben Ästen und die ganze kleine Gesellschaft machte sich wieder auf den Weg.
   Die Sonne war schon im Sinken begriffen; der Magen knurrte gewaltig. »Gibt es denn hier herum keinerlei menschliche Ansiedlung?« fragte Georg. »Ich finde, daß die mitgenommenen Vorräte nicht so ganz ausgereicht haben.«
   Alexei lächelte verschmitzt. »An der Außenseite des Waldes liegt ein Frauenkloster«, versetzte er. »Da können wir um eine Gabe bitten.«
   »Aber man wird uns nicht hineinlassen.«
   »O doch, die armen Nonnen erfahren in dieser bösen Zeit gar zu gern ein wenig Neues über Krieg und Frieden; dafür geben sie schon eine Mahlzeit.« »Dann laßt uns den Versuch machen«, lachte Onnen. »Zu Hause in Deutschland erfährt es ja keiner.«
   Sie kletterten über einen Höhenzug und dann durch ein steiniges Tal; es war doch noch ein Marsch von zwei starken Stunden, ehe das Kloster mit seiner düsteren, altersgrauen Mauer vor ihnen lag. Die Menschen seufzten und die kleinen Bären quiekten, nur Alexei schien weder Hunger noch Erschöpfung zu kennen.
   Ein hoher alter Kuppelbau ragte zum Himmel empor. Bunte Glasfenster schmückten das Dach, zierliche Galerien umgaben Türme und Türmchen, die sich über tiefe Nischen und offene Plattformen erhoben. Überall im Abendschein glänzten Kreuze, unübersehbar nach rechts und links dehnte sich die Mauer, deren glatte Fläche wie ein fester Ring das Klostergebiet zu umschließen schien.
   Kein Laut drang aus dem Inneren der heiligen Hallen hervor.
   Alexei ging sicheren Schrittes einer kleinen versteckten Pforte entgegen; er mochte hier schon mehr als einmal geklopft haben. Der Ton einer Glocke erklang drinnen auf dem Hofe und bald danach verschob sich in der Mauer eine Eisenplatte – das Gesicht einer alten Frau sah hervor.
   Sie musterte die ganze kleine Gesellschaft mit mißtrauischen Blicken, dann stellte sie in russischer Sprache eine Frage, welche Alexei sofort lebhaft bejahte. Schwere Riegel klirrten, ein Schlüssel drehte sich im Schlosse, dann war die Pforte offen und wurde hinter den jungen Leuten sofort wieder geschlossen.
   An dieser Seite besaß das Kloster kein einziges Fenster; eine zweite, niedrigere Mauer trennte den Vorhof vom Garten und nur eine einzige eiserne Tür führte von hier in das Gebäude. Die Schwester Pförtnerin mit ihrem großen Schlüsselbund und ihrer weißen Kapuze deutete auf eine Bank, die den Stamm einer uralten Rieseneiche rings umgab, dann begann sie mit dem Zigeuner eine Unterhaltung, bei der er sehr lebhaft erzählte, während sie nur zuweilen ein Wörtchen einwarf oder die Hände vor Erstaunen zusammenschlug – jedenfalls berichtete er ihr von den Franzosen, den gefürchteten, den unliebsamen Gästen, die aller Herzen mit Angst erfüllten und das Interesse der Leute von jeder anderen Frage abzogen.
   Endlich hatte die gute Frau genug gehört, um drinnen im Kloster den Nonnen die Schauermär wiederholen zu können; sie brachte schleunigst Suppe, Brot und Fleisch, sprach einen Segen und lief davon, begierig, nun ihrerseits lauschenden Ohren zu verkünden, was sie soeben selbst erfahren. Die eiserne Tür flog ins Schloß und unsere Freunde waren allein.
   »Die Suppe ist gut«, erklärte Onnen, indem er den Löffel immer aufs neue eintauchte, »ach, das ist einmal wieder ein Essen, Pflaumen mit Klößen, mein liebstes Gericht. Alexei, hast du auch der würdigen Schwester Pförtnerin ganz und gar die Wahrheit gesagt?«
   Der Zigeuner lächelte. »Ich habe ihr gesagt, was sie zu hören wünschte, Herr, daß die Franzosen nicht hierherkommen werden.«
   »Das gebe der Himmel! – Du, Alexei, fressen die Bären Pflaumen?«
   »Ich glaube wohl, aber sie haben ja noch keine Zähne, Herr.«
   Onnen zerkaute also die gekochten Früchte und stopfte das Gemisch den hungrigen Tieren in die Mäulchen, dann kam das Fleisch und den Beschluß machte eine heiße Tasse Tee, welche die Schwester Pförtnerin herbeibrachte.
   Aus der Klosterkirche erklang jetzt eine leise angenehme Musik Die Nonnen sangen ein geistliches Lied und kaum erkennbar begleitete eine Orgel, von Frauenhand gespielt, die fromme Weise. In den Baumwipfeln jubilierten die Vögel, der Wind rauschte zwischen den Blättern, rot und goldig versank der Sonnenball hinter die Kuppeln und Zinnen des Klosters.
   »Und nie kommt ein fremder Mensch in dies Haus hinein?« flüsterte Feiko, »nie sehen, nie hören die Nonnen von der Außenwelt das Allergeringste?«
   »Nie!« bestätigte der Zigeuner. »Die kleine Pforte da hinten öffnet sich nur dann, wenn eine neue Schwester einzieht. Hinaus geht sie nicht wieder.«
   Der feierliche Gesang verstummte, Schwalben huschten um das Gemäuer – die Schwester Pförtnerin spielte mit ihren Schlüsseln, als wolle sie sagen, daß nun die Fremden gesättigt sein könnten.
   »Laßt uns gehen«, mahnte Alexei, »zur Mitternachtsstunde wird Barbarin begraben und der Weg ist noch weit.«
   »Müssen wir ganz durch den Wald zurück?«
   »Das nicht, aber auch am äußeren Rande ist es keine kleine Strecke.«
   Sie dankten der Schwester Pförtnerin, bekamen noch einen Zehrpfennig, den natürlich Alexei erhielt, mit auf die Reise und verließen die Stätte eines nie gestörten Friedens, um das Lager im Walde wieder aufzusuchen.
   Der Mond schien hell vom Himmel, zwischen den Zelten brannte kein Feuer, der ganze Platz war sauber gefegt und die Wagen zusammengeschoben.
   Drinnen, im Zelte des Toten wehklagten leise Stimmen, unruhig winselnd umkreiste ausgesperrt der große Hund die Stelle, wo sein geliebter Herr in den bunten Fetzen tot und kalt auf Blumen lag. Eine Bahre aus jungen Zweigen war von den Zigeunern im Walde angefertigt worden, Pelze darüber gedeckt und das Ganze mit grünen Girlanden geschmückt. So harrte der eigentümliche Sarg des Gestorbenen.
   Unsere Freunde ordneten, so gut sie konnten, ihre Anzüge, Alexei gab die beiden jungen Bären einer Frau in Verwahrung, und dann erwarteten alle schweigend den Beginn der Mitternachtsstunde, um den toten Genossen zur letzten Ruhe zu betten.
   »Ist das Grab denn schon ausgeworfen?« fragte Onnen.
   »Ja, längst. Wenn der Mond gerade über unseren Köpfen steht, brechen wir auf.«
   Bis dahin mußte noch eine halbe Stunde vergehen, und Onnen schloß die Augen, um wachend zu träumen. Seine frühere Spannkraft schien zurückgekehrt, er atmete freier, fühlte sich wohler, seit die verhaßte französische Uniform nicht mehr an das Unglück des Vaterlands, an das eigene tiefempfundene Weh stündlich erinnerte. Was hinter ihm lag, mußte er überwinden lernen – so vielen Tausenden ging es ja auch nicht besser; die Edelsten, Vortrefflichsten bluteten aus unheilbaren Wunden.
   Und lebte ihm nicht daheim auf Norderney das treue alte Mütterchen? – Gewiß, gewiß, er wollte ringen und zum Sieg gelangen, schon dieser Teuren wegen.
   Eine leise Melodie, ernst und wehmütig, weckte ihn aus seinem Sinnen. Wenigstens zehn Zigeuner umstanden die Bahre und spielten mit den braunen vielfach von Ringen geschmückten Fingern ihre Geigen, während vier andere, unter ihnen die Söhne des Hauptmanns, den Toten aus dem Zelte trugen und ihn auf die Bahre legten.
   Das Gesicht war und blieb verhüllt, die Hände lagen auf der Brust übereinander. Leise klagten und weinten die Geigen.
   Zwei Frauen führten zunächst hinter der Bahre die greise Mutter des Erschossenen. Sie ging aufrecht mit verhülltem Antlitz, ihr bitterliches Weinen hätte auch das härteste Herz rühren müssen.
   Nahe am See, auf unfruchtbarem Kiesgrund war eine Grube gegraben, weit genug, um die Bahre zu fassen; alle Erde aber mußte in das Wasser geworfen sein, denn es fand sich nur ein ganz kleines Häufchen, während eine stattliche Menge von Feldsteinen zusammengetragen worden war. Zwei alte Bretter, von grünen Ranken umwickelt, lagen neben der offenen Grube; außerdem die Leiter, auf welcher Frauen und Kinder die Reisewagen zu erklettern pflegten.
   Alexei ergriff sie und stellte sie an den Rand der Grube, dann stieg er mit noch einem anderen jungen Mann hinab und beide empfingen die Bahre, um sie unten auf den Grund zu legen. Als das geschehen war, kehrten sie zu den übrigen zurück.
   Jetzt entstand unter den Frauen eine Bewegung, auch Mikosch schien die alte Mutter von irgendeinem Vorhaben zurückhalten zu wollen, er umfaßte sie zärtlich und flüsterte mit ihr, aber sie schüttelte immer wieder den Kopf. »Laß mich, mein Sohn, laß mich!«
   Und so halfen denn Sohn und Enkel der alten Frau, zu dem Toten in die Grube hinabzusteigen. Ihre bebenden Hände ordneten die verschobenen Falten seiner Hülle, legten die wachsfarbenen Fingerspitzen auf der Brust übereinander und entfernten dann zögernd das Tuch von dem braunen, mit grauem Barte umgebenen Gesicht.
   Leise flüsternd erklangen die Geigen. Von den Lippen der Zigeunerinnen quoll zum letztenmal gedämpft und wehmütig die Totenklage. – Drinnen im Grabe warf sich die alte Frau auf ihre Knie und küßte die kalte Stirn dessen, den sie einst als hilfloses Kind auf ihren Armen getragen. Ein letzter Abschied, ein Gruß vor dem Scheiden, dann zog sie mit fester Hand die Falten des Tuches zusammen und legte auf den Körper des Toten jene beiden Bretter, die zur Seite der Bahre standen. Mikosch reichte ihr zwei Steine, den einen legte sie auf die Stirn, den anderen auf die Füße ihres gestorbenen Sohnes – erst als diese letzte Pflicht erfüllt war, half ihr der Häuptling wieder zur Oberwelt empor.
   Ganz erschöpft, bitterlich weinend sank die alte Frau in sich zusammen und widerstrebte jetzt nicht mehr, als man sie zu den Zelten zurückführen wollte. Unterdessen warfen die Männer langsam und feierlich Stein nach Stein in die Grube, bis diese ganz ausgefüllt war; erst an der Oberfläche wurde das Ganze mit Kies bedeckt, festgetreten und dem umgebenden Boden so vollständig gleichgemacht, daß kein Auge den Punkt, an welchem ein Mensch begraben lag, jemals hätte entdecken können. Zuletzt wurde Wasser über den Kies gegossen, so daß sich auch die kleinste Unebenheit verwischte – nun war jede Spur des Geschehenen ausgetilgt.
   »Weshalb setzt ihr auf das Grab kein Erinnerungszeichen?« fragte Onnen den jungen Zigeuner. »Ihr könntet doch einen Baum pflanzen oder ein Kreuz zimmern.«
   Alexei schüttelte den Kopf. »Auf unseren Gräbern darf nichts wachsen«, antwortete er.
   »Sind sie denn immer so aus Stein aufgebaut? Warum wohl?«
   Der Zigeuner zuckte die Achseln. »Das ist so ein alter Brauch, weißt du, Herr – ich selbst glaube nicht daran. Wenn die bösen Geister der Seele eines Gestorbenen etwas anhaben wollen, so wirft er nach ihnen und vertreibt sie.«
   »Alexei! – der Tote?«
   »Ja, ja, ich habe dir schon gesagt, daß das mein Glaube nicht ist, Herr. Nun komm, wir müssen noch ein paar Stunden schlafen; morgen mit Tagesanbruch geht es weiter.«
   Er zog den jungen Deutschen mit sich fort und bald lag alles in tiefster Ruhe; nur Onnen konnte nicht aus dem Halbwachen herauskommen. Das seltsam geheimnisvolle Begräbnis, der Kampf mit der Bärin und die stillen Klostermauern, alles beschäftigte seine lebhafte Phantasie, er hörte die Nonnen singen und dazwischen ein Mäuschen pfeifen, aber er wußte schon, das war Alexei mit den Schelmenaugen – die beiden Hermeline sprangen ja vor ihm auf dem Boden herum und zausten einander.
   Erst das Geräusch des Aufbruches weckte ihn. Pferde wieherten, Hunde bellten und dürres Holz prasselte in den Flammen. Weiter, weiter auf der abenteuerlichen Fahrt durch das fremde Land, neuen Gefahren, neuen Erlebnissen entgegen.


   13

   Hell schien der Mond herab auf die alte, mit Moos und Halmen bewachsene Mauer, welche Smolensk zur Zeit unserer Erzählung umgab und an dreißig Stellen durch hohe runde Türme mit Schießscharten verstärkt wurde. Wer von den Lesern Lübecks herrliche alte Tortürme gesehen hat, der kann sich von diesen, jetzt den Feuerwaffen unserer Zeit gegenüber wirkungslosen Verteidigungsmaßregeln einen Begriff machen und zugleich erkennen, wie interessant der Anblick einer so gleichsam umpanzerten Stadt dem Fremden gewesen sein mag.
   Ein Graben floß, wieder ähnlich denen von Lübeck und Hamburg, nahe dem bedeckten Wege am Fuße der Mauer; jenseits desselben lagen Vorstädte.
   Napoleons Heeresmassen, zerlumpt und verhungert, in jeder Beziehung sittlich verwildert, befanden sich noch einige Stunden von der Stadt entfernt, als am späten Abend des dritten August ein Mann bei der Torwache am Fuße der Königsbastion Einlaß begehrte und zu diesem Zweck dem Wachtkommandanten ein beschriebenes Blatt Papier zeigte.
   »Vom General Rajewski!« nickte dieser. »Passiert!«
   Der Mann verschwand schleunigst, nach einigen Stunden aber sah man ihn mit sehr zufriedenem Gesicht wieder fortgehen und in die Vorstadt eilen. Ein unglaublich schmutziges Wirtshaus, leer und verlassen, aller Vorräte beraubt, lag hier in einer dunklen schmalen Gasse; über dem Haustor baumelte ein Schild mit einem gemalten Bären, rostig und verblaßt, im Eingang stapelte sich allerlei zerbrochenes Geschirr, die Fensterscheiben waren zerschlagen; nirgends zeigte ein menschliches Antlitz, daß der düstere alte Bau wirklich bewohnt sei.
   Der Fremde schritt mit der ganzen Sicherheit dessen, dem die Örtlichkeit vollkommen bekannt ist, durch das Vordergebäude und über den Hof in einen weitläufigen Wagenschuppen, dessen Tür er öffnete.
   Schwacher Lichtschein drang aus dem Hintergrunde hervor. Da regte sich‘s, Tier– und Menschenstimmen wurden laut, braune schlanke Gestalten erhoben sich vom Strohlager.
   »Endlich kommst du, Mikosch! Dürfen wir in die Stadt hinein?«
   »Alles gut«, nickte das Stammeshaupt. »Macht euch fertig, Kinder!«
   Jasko trat näher an den Alten heran. »Sprachst du den General, Vater?«
   Statt aller Antwort griff Mikosch in die Tasche. Ein Strom von Goldstücken floß durch seine braunen Finger, er blinzelte schlau.
   Jasko richtete sich höher auf, seine schwarzen Augen blitzten. »Du mußt mich an Barbarins Stelle treten lassen, Vater – ich bin ebenso gewandt und zuverlässig wie er.«
   »Pst! Pst! – Es gibt noch heute nacht Arbeit.«
   Das Gold verschwand wieder und unter Aufbietung aller Kräfte wurden die beiden Wagen, mit denen ein Teil des Stammes gekommen war, zur Weiterfahrt bereit gemacht. Frauen und Kinder hatte Mikosch an einem sicheren Orte zurückgelassen; nur seine beiden Söhne, Alexei und die beiden Deutschen begleiteten ihn auf dem gefahrvollen Zuge hinter die Wälle einer belagerten Stadt.
   Die mageren Klepper setzten sich wieder in Bewegung, unter den Rädern dröhnte die Brücke, welche über den Dnjepr führte und knarrend schloß sich hinter den Ankömmlingen das Tor. Jetzt waren sie in der eigentlichen Stadt, und die Schrecken des Krieges begannen sich ihren Blicken mehr und mehr zu enthüllen.
   Wer Geld genug besaß, um unabhängig von äußeren Rücksichten dem eigenen Wunsche folgen zu können, der hatte Smolensk beizeiten verlassen; nur die ansässigen Bürger und das niedere Volk waren zurückgeblieben, im ganzen lagerte eine düstere Stille auf den Straßen, die Läden waren geschlossen, die Gotteshäuser dagegen weit geöffnet. Für die nächsten Tage wurde eine entscheidende Schlacht erwartet.
   Hinter der Kirche zur Verkündigung Mariä lag eine schmale Straße, unbeleuchtet und ungepflastert, mit hohen, spitzgiebeligen Häusern und engen Torwegen; dahin lenkte Mikosch die Gespanne. Geigenspiel drang aus dem Innern eines der Gebäude hervor, Gläserklingen und Gelächter, jedenfalls verkehrten hier wandernde Zigeuner, wie es deren in Rußland bis auf den heutigen Tag viele Tausende gibt.
   Mikosch stieß die Tür auf. Heiße Luft schlug den Ankömmlingen entgegen, ein Gewirr von verschiedenen Stimmen und Klängen. Affenbesitzer lagen mit ihren Tieren in den Ecken, weiße Mäuse und Meerschweine krochen in vergitterten Käfigen herum, Wahrsager schlugen die Karten, Kurzwarenhändler trugen Kasten mit Seifen und wohlriechenden Ölen, sogar ein Scherenschleifer drehte in dem bunten Durcheinander sein Rad. Dazwischen lungerten Kesselflicker, Roßärzte, Gaukler und Gauner aller Art, sämtlich ruhend, musizierend, trinkend und schwatzend, daß keine einzelne Stimme aus dem Toben und Treiben hervorklang. Unsere Freunde sahen ein Bild, das sich ihrer Erinnerung unverlöschlich einprägte.
   Alle diese Söhne des wandernden, heimatlosen Stammes, die braunen Nomaden sammelten sich da, wo der bürgerlichen Ordnung im Augenblick eine Gefahr drohte, alle wollten ernten, wo sie nicht gesät hatten, wollten Vorteile erringen, die ihnen im gewohnten Verlaufe der Dinge nicht zugänglich wurden.
   Händereibend kam ein schlaublickender schmutziger Wirt mit langem Barte und dem bekannten russischen Kaftan den neuen Gästen entgegen. Zwei Kammern waren noch frei, die konnten sie bekommen – ganz nahe unter den Fenstern der Kirche. Für Ruff fand sich ein Stall, wo bereits fünf seiner Schicksalsbrüder einen Platz erhalten hatten.
   Mikosch schien sehr guter Laune. »Laßt euch geben, was ihr zu essen und zu trinken wünscht, Kinder, aber geht heute abend nicht mehr aus. Morgen könnt ihr die Stadt besehen – ich selbst habe noch einen Geschäftsgang.«
   Die Deutschen sahen einander an. Mikosch verrichtete Spionendienste, er drängte sich in das Lager der Franzosen und hinterbrachte ihre Aufstellung dem General Rajewski, das unterlag keinem Zweifel. Aber wie kam er durch die feindliche Vorpostenkette?
   Sie fühlten sämtlich etwas wie Neugier. Mikosch ließ ihnen eine Kammer mit einem Strohlager einräumen, er selbst und die seinigen nahmen das anstoßende größere Gemach in Besitz. Onnen hörte, daß der Schlüssel im Schloß gedreht wurde.
   »Ich möchte ihn beobachten«, flüsterte er.
   Feiko Hansen deutete auf einen hellen Schimmer über dem Ofen. »Da ist in der Wand ein Riß – du kannst hindurchsehen.«
   »Aber wie komme ich hinauf?«
   Feiko zeigte auf seine Schultern; Georg half nach, und Onnen stand schon in der nächsten Minute wie ein Seiltänzer auf dem schwankenden Gerüste.
   »Mikosch ist allein«, berichtete er, »neben ihm liegt ein großes Bündel, er schneidet seine Haare kurz am Kopfe ab.«
   »Dann will er jedenfalls die Rolle eines Soldaten spielen!«
   »Er wäscht sich gründlich«, meldete Onnen.
   »Gott stärke ihn in dieser löblichen Gewohnheit!«
   »Ah, jetzt kommt der Inhalt des Bündels zum Vorschein, eine französische Offiziersuniform mit Orden und Epauletten. Welche Miene der Mikosch annehmen kann! – jeder Zoll ein Fürst. Wahrhaftig, er ist ein schöner stattlicher Mann.«
   »Der vielleicht sogar Handschuhe anlegt?« flüsterte Feiko. »Du bist übrigens eine recht süße Last, mein Vetterchen.«
   »Einen Augenblick noch. Die Handschuhe sind da, auch der Degen und ein weißes Taschentuch. Seine Söhne könnten, glaube ich, an dem Alten vorübergehen, ohne ihn zu erkennen!«
   »Siehst du nichts wie eine Depesche?« flüsterte Georg.
   »Wahrhaftig! Ein ganz sauberes weißes Blatt – Mikosch lächelt, er versteckt es – ah, und nun hüllt er sich in einen Kaftan, der bis auf den Boden reicht, er zieht eine Perücke hervor. Der Märchenprinz ist wieder in das Bettlergewand gekrochen.«
   Onnen sprang leichtfüßig herab. »Ob wir nun nicht bald ein Pferd hören werden?« raunte er.
   Sie lauschten alle drei. Mikosch ging auf den Flur hinaus und zum Hofe; im nächsten Augenblick tönte Hufschlag – es war ein Renner von edelstem Blute, der da lief.
   »Wenn wir nun den Alten nicht mehr wiedersähen!« sagte Onnen.
   »Dann müßten wir eben den russischen Generalen alles bekennen; sie können uns keine Strafe zumessen.«
   »Nein, aber wir wären Kriegsgefangene.«
   Der Eintritt Alexeis störte die Unterhaltung. »Laßt uns schlafen«, gähnte der Zigeuner. »Für den Augenblick gibt es nichts zu tun.«
   Sie nahmen aus seiner Flasche noch einen Schluck Branntwein und legten sich dann auf das Stroh, obwohl vom Gastzimmer her ein wüster Lärm fortwährend herüberschallte. Es schien Streit zu entstehen, Geschrei und Toben, dazwischen klang aus der nahen Kirche Gesang und Orgelton – an Schlaf war kaum zu denken.
   Und dann gegen Morgen zogen Regimenter und Schwadronen vorüber, alle im Laufschritt; Kanonen rasselten die Straße hinab, Kommandos erklangen, Massen von Soldaten wälzten sich gegen die Wälle unter der Stadtmauer.
   Es war ein Jagen und Eilen, ein Durcheinander, wie es dem entscheidenden Augenblick voranzugehen pflegt; die Herzen der jungen Leute schlugen schneller, die Augen blieben offen vor lauter Aufregung.
   Gegen fünf Uhr morgens durchbrach plötzlich ein Kanonenschuß die allgemeine verstärkte Bewegung in der Stadt. Erst einer, dann mehrere und sehr bald ganze Salven. Kleingewehrfeuer folgte nach – von vielen tausend Lippen brach der Schrei des Entsetzens. Jetzt hatten die langerwarteten offenen Feindseligkeiten begonnen.
   Im Gastzimmer ging unaufhörlich die Tür. Hier kam ein Mann mit bleichem Gesicht, um einen Tropfen Branntwein zu erhalten, dort meldete jemand, daß die ersten Toten unter der Königsbastion lägen, dann stürzten mehrere Personen zugleich herbei und eine Schreckensbotschaft folgte der anderen.
   »Napoleon selbst steht vor Smolensk und mit ihm sind seine berühmtesten Generale gekommen – Murat, Ney, Davoust und viele andere. Rußland ist verloren!«
   Aus dem Nebenzimmer scholl die Stimme Mikoschs. »Ihr seid doch alle da, Kinder?«
   Onnen öffnete die Tür und sah hinein. Auf dem Strohlager ausgestreckt, in Lumpen gehüllt, verschmitzt blickend, mit der Stummelpfeife zwischen den Zähnen, war Mikosch so ganz der Proletarier, der vagabundierende Bärenführer, daß Onnen förmlich erschrak. Hatte ihn am letzten Abend ein Trugbild geneckt?
   Aber nein; das kurzgeschnittene Haar konnte Mikosch nicht verbergen, ebensowenig diejenige gute Laune, welche einen gelungenen Streich zu begleiten pflegt.
   »Laßt sie schießen, Kinder«, sagte er lächelnd, »hierher fliegen die Kugeln so leicht nicht. Hei, wie das brummt! Massen von Kanonen hat der Napoleon mitgebracht!«
   »Woher weißt du das, Mikosch?«
   »Ha, ha, ha – es träumte mir, Kleiner. Aber daß unser Zar siebzig Geschütze auf die Wälle bringen lassen kann, weiß ich gewiß.«
   Wieder kam jemand in das Gastzimmer gestürzt. »Die ganze französische Armee steht vor unserer Stadt. Leute, helft, die verwundeten Russen aus der Schlachtlinie zu schaffen!«
   Wie eine Feder schnellte Onnen empor. »Komm, Feiko, das ist eine heilige Pflicht! – Ach, wie die Unglücklichen im Sonnenbrande leiden mögen!«
   Der Steuermann nickte. »Mikosch«, sagte er, »gibst du dazu deine Einwilligung? Es ist dein Brot, was wir essen, also —«
   Der Zigeuner winkte lächelnd. »Ihr eßt mein Brot, weil ich eine Schuld der Dankbarkeit an Onnens Mutter abzutragen habe, junger Freund. Sie kleidete in Tagen größter Not, als mir das einzige Pferd gestorben war, meine Kinder, sie speiste die Hungernden und tröstete einen Verzweifelnden – von dieser Schuld tilge ich heute ein Teilchen, weiter nichts. Ihr seid eure eigenen Herren, und wenn ihr auf die Wälle hinausgehen wollt, um arme Verwundete zu erquicken, so geleite euch Gott; ich habe nichts dagegen.«
   »Gut also!« rief Onnen. »Du bist doch ein Ehrenmann, Mikosch, trotz deiner – Träume von Napoleons vielen Kanonen. Auf Wiedersehen!«
   Sie stürmten alle drei davon. Menschenhaufen füllten die Straßen, Jammern und Wehklagen ertönte überall, in ganzen Scharen zogen Männer und Frauen hinaus auf das Glacis, um den Verwundeten beizustehen.
   Dazwischen erschien im Sonnenlicht des hellen Morgens jener unterste Pöbel, den jede große Stadt beherbergt und der sonst nur in vereinzelten Fällen tagsüber sichtbar wird – Menschen mit bleifarbenen Gesichtern und schlotternden Knien, Gewohnheitstrinker, Diebe und Bettler, Weiber von abschreckendem Aussehen.
   Diese standen in geschützten Winkeln gruppenweise beisammen. Sie dachten nicht daran, den tapferen Verteidigern Rußlands zu Hilfe zu eilen; ihre gierigen Blicke, ihre leisen Flüsterworte verrieten vielmehr eine ganz andere abscheuliche Hoffnung, die auf den Fall der Stadt und damit verbundene Plünderung derselben. Der Feind sollte siegen, weil sie die Vorräte in den Branntweinlagern trinken und mit erhobener Faust an sich reißen wollten, was ihnen eben gefiel.
   Je näher die Deutschen an die eigentliche Schlachtlinie herankamen, desto stärker wurden das Getöse und der Pulverdampf. Zwei und zwei Einwohner trugen zwischen sich einen blutenden Soldaten ohne Kopfbedeckung, hie und da lagen Waffen, Uniformstücke, hie und da standen Blutlachen mitten auf der Straße, schwankten Verwundete, unterstützt von Bürgern, mühsam an den Mauern dahin.
   Überall herrschten Angst und Entsetzen, überall weinten die Frauen, eilten Männer auf die Wälle, um den Truppen Erfrischungen zu bringen oder mit ihnen zu kämpfen. —
   Ein heißer Tag ging zu Ende, ohne eine Entscheidung gebracht zu haben, ebenso der zweite und dritte. Während dieser Frist hatte Napoleon mehrere Artillerieregimenter herbeizuschaffen gewußt und nun ließ er Bresche schießen.
   Vergebens. Die Mauern aus der Zeit des Zaren Godunow widerstanden.
   »Smolensk hält sich!« sagten aufatmend die Leute.
   Mikosch dampfte große Wolken. »Seht ihr das Feuer? – Solch ein Regen von Granaten reißt alles nieder.«
   Smolensk brannte an zwanzig Stellen zugleich. Von den Türmen klang das Sturmgeläute; in allen Kirchen wurde das Abendmahl verteilt. Jene düsteren Gestalten auf den Straßen mehrten sich und erschienen kecker; unter ihnen tauchten andere auf, gutgekleidete Personen, die von dem Untergange Rußlands, von Gottesgericht und Strafe sprachen – es waren Polen, Leute aus den besseren Ständen, die in den Reihen jener Elenden Bundesgenossen suchten.
   Unverdrossen standen die Deutschen im Feuer, trugen Verwundete in die Häuser, halfen, trösteten und pflegten nach Möglichkeit. Das russische Heer wich und wankte nicht; wenn zuweilen ein Häuflein tollkühner Feinde im plötzlichen Anlaufe gegen einen der Tortürme vordrang, dann bedeckten Berge von Leichen die Unglücksstätte – kein einziger kam mit dem Leben davon.
   Schreckliche, entsetzliche Tage, in denen Brust an Brust gekämpft wurde. Von den nahen Bergen widerhallte der Donner der Geschütze, glühend rot hingen über der unglücklichen Stadt die Sommerwolken, von den Dächern floß geschmolzenes Blei.
   Man löschte nicht mehr, man hatte jede Hoffnung aufgegeben. Trommelwirbel klang durch die Straßen; eine gedruckte Bekanntmachung wurde überall verlesen und angeklebt.
   »Mitbürger! Noch hat der Feind unseren tapferen Heeren keinen Fußbreit Bodens abgewinnen können, aber dennoch erscheint es geboten, die Stadt zu räumen. Viertausend brave russische Soldaten gaben ihr Leben dahin; wir dürfen nicht noch mehr Opfer bringen. Nehmt eure Habe, soviel sich fortbringen läßt, und geht fort; das Militär rückt in der Nacht vorsichtig und ohne Geräusch nach den umliegenden Höhen ab.«
   Eine ununterbrochene Kanonade begleitete diese traurige Ankündigung. Stärker und stärker wurde geschossen, ganze Schauer von Kugeln überschütteten die Straßen.
   Auf den Wällen verrammelten und versperrten die Soldaten sämtliche Eingänge, zerstörten die Brücke über den Dniepr und brachten alle vorhandene Munition in die Stadt. In Massen lagen am entgegengesetzten Ufer die erschossenen Franzosen, die tödlich Verwundeten, um welche sich kein Mensch bekümmerte, die Sterbenden, denen in ihrer Qual selbst ein Tropfen kalten Wassers fehlte.
   Ein einziges Brausen und Donnern, gleichsam ein Sturm, der nicht mehr aufhörte, erfüllten rings die heiße, mit den schrecklichsten Gerüchen beladene Luft.
   Unsere drei Freunde trugen aus der Stadt große Steine und Balken herbei, um die Zugänge zu versperren. Es galt, die räuberischen Franzosen fernzuhalten, bis sich das Volk geflüchtet hatte. Wie Sklaven, geschwärzt vom Pulver, umstrahlt von den Gluten zahlloser Brände, mit Aufopferung ihrer besten Kräfte arbeiteten die Soldaten.
   Mädchen und Frauen aus allen Ständen brachten ihnen Erfrischungen. Einander völlig Fremde drückten sich die Hände und schluchzten in gemeinsamem Schmerz.
   Mikosch war ausgegangen, um seine Schützlinge zu suchen; endlich fand er sie bei der Zerstörung der Brücke beschäftigt. Pfahl an Pfahl wurde eingesägt, Brett an Brett gelockert, die Steine herausgehoben. Mochten Napoleons Soldaten das unsichere Gefüge betreten und in den Wellen des Flusses den Tod finden – desto besser für die Stadt, für die Tausende von Unglücklichen, welche jetzt verurteilt waren, ihr Heim, ihren Erwerb, all ihre irdische Habe aufzugeben, nur um des nackten, aber unersetzlichen Lebens willen.
   Sappeurs und Zimmerleute, Bürger, Zigeuner, selbst Frauen, alles arbeitete um die Wette. Hell schien der Mond auf den Fluß, betäubend knatterte das Kleingewehrfeuer und brüllten die Kanonen. Onnen meißelte an einem Stein, bis er ins Wasser fiel, der letzte seiner Reihe. Er bemerkte nicht, daß Mikosch vor ihm stand und ihn anredete, so groß war die Aufregung der Stunde.
   »Komm, komm«, drängte der Zigeuner. »Jetzt gibt es keine Menschen mehr zu retten – du setzest dich nur der Gefahr aus, selbst von einer französischen Kugel niedergestreckt zu werden, das aber wollte ich doch nicht gern.«
   Onnen sah auf. »Wo sind die anderen?« fragte er verwirrt. »Ich habe sie bereits nach Hause geschickt – komm rasch, Herr, komm!«
   »Wollen wir denn abreisen, Mikosch?«
   »Keineswegs, aber die Gefahr ist hier zu groß.«
   Er zog ihn mit sich und Onnen sah voll Erstaunen das veränderte Äußere der Stadt. Vor den brennenden Häusern, inmitten von Trümmern und Leichen kniete betend auf den Straßen das Volk, unempfindlich vor Schmerz oder rasend, je nachdem.
   Die Kreuze auf den obersten Spitzen der brennenden Türme begannen sich zu neigen, Bäume verbrannten wie stehende Riesenfackeln, hie und da waren Kornspeicher von den Flammen erfaßt worden und gossen nun einen Sprühregen wirbelnder, stäubender Funken über die ganze Umgebung. Auf den Straßen loderten dann plötzlich die Kleider der Betenden in heller Glut empor, sie sprangen auf, liefen voll sinnloser Angst vorwärts und stürzten schreiend zusammen, eine einzige Feuermasse, der niemand zu nahen wagte.
   Mit erhobenen Armen stand auf einer Treppe ein Mönch und blickte wie verzückt zum Himmel. »Der jüngste Tag naht; meine Brüder, die Welt ist im Untergange begriffen! Betet, betet, draußen tobt der Antichrist, das Ende aller Dinge ist da!«
   Ein Schrei aus Hunderten von Kehlen antwortete ihm; Frauen warfen sich kreischend mit den Stirnen auf den Erdboden, andere sangen, noch andere beschworen ihre Schutzheiligen, für sie einzustehen.
   »Der Antichrist! Der Antichrist! Das sind die Posaunen des jüngsten Gerichtes! – Hört ihr‘s? Hört ihr‘s?«
   »Der Teufel und seine Scharen kämpfen für den Widersacher!« rief der Mönch. »Rette dich, mein Volk, rette dich! Das Brodeln der Hölle klingt herüber, die Engel der Finsternis frohlocken! Laß sie deine Seele nicht umgarnen, mein Volk, tue von dir, was dich von dem Erbarmen des Gottessohnes scheidet!«
   Spottlachen klang hinein in die begeisterte Rede. »Tor der du bist, dreifach verblendeter Tor! Der da den Einlaß begehrt, ist nicht der Antichrist, sondern der Befreier, der Erlöser, der, welcher die Ketten des Tyrannen zerbricht. Juble, du verdummtes, geknechtetes Russenvolk, juble, denn das Morgenrot der Freiheit geht für dich auf! Hörst du nicht die Freudenschüsse? Hurra, hurra für den Kaiser Napoleon!«
   Ein Pole war‘s, ein hübscher junger Fant von zwanzig Jahren mit schwarzen Augen und schwarzem Kraushaar; er schwang hoch durch die Luft den blitzenden Schläger. »Laß sie nur die Tore verrammeln und die Brücke zerstören, dies Volk von Sklavenseelen! Er kommt doch, der Gewaltige, Polens Befreier, er kommt, noch ehe die Sonne des neuen Tages aufgeht!«
   Das Gesicht des Mönches war farblos, eine halb wahnwitzige Begeisterung leuchtete aus seinen Zügen; mit vorgestrecktem Arm ging er dem polnischen Studenten entgegen.
   »Hebe dich von dannen, Satanas, hebe dich von dannen! Was verführst du mein Volk?«
   Der Pole lachte. »Du verführst es, Lügenprophet! Du willst —«
   Seine Rede wurde plötzlich abgeschnitten. Eine Kugel fiel auf die Straße und riß ihn mit sich fort; hoch auf spritzten rote Blutwogen, schrecklich verstümmelt lag zehn Schritte weiter hinaus die Leiche des Unglücklichen auf dem Pflaster.
   »Sehet! Sehet!« frohlockte der Mönch. »Gott hat gesprochen!«
   Feuergarben schossen über den Himmel, ein Brausen und Knistern erfüllte die Luft. Alles Volk betete laut, Gesänge wurden gehört, Flüche, wilde unzusammenhängende Reden. Fortwährend predigte der begeisterte Mönch.
   Mikosch zog seinen Schützling mit sich fort. »Wir haben unser Eigentum in eine sichere Straße gebracht«, flüsterte er. »Die Häuser stehen einzeln unter Bäumen, da brennt es nicht so leicht wie in den anderen Vierteln. Komm nur; Smolensk ist verloren.«
   »Also du meinst es wirklich? Und was wird aus uns, Mikosch?«
   »Ich werde euch schon beschützen. Da sei ganz ruhig.«
   Um die Kirche zu Mariä Verkündigung wogte ein dichter Menschenhaufen. Oben, ganz oben auf der Kreuzblume züngelte die Flamme, um sich verheerend durch das Innere des schönen alten Baues zu ergießen – drinnen walteten geschäftige Hände zur Rettung des kostbarsten Gutes.
   Der gedrängte Menschenhaufen begann sich zu teilen; vor dem vorderen Portal entstand eine breite Gasse. Trauermusik erklang aus dem Inneren der Kirche, florumhüllte Fahnen wurden von Priestern auf die Straße getragen, dann erschien der Archimandrit im vollen geistlichen Ornate.
   Silberweiß wallte bis auf den Gürtel der Bart, bedeckt mit edlen Steinen waren Gewand und Schärpe; ein hochgewachsener stolzblickender Mann und doch tief erschüttert von dem Jammer der Stunde, so ging der kirchliche Würdenträger hinaus aus dem Tempel Gottes und trug in seinen Händen ein Bild, das allen Einwohnern von Smolensk als ihr teuerstes Besitztum galt, das nimmermehr der Wut des fränkischen Eroberers zum Opfer fallen durfte.
   Lebensgroß, mit dem Strahlenschein über dem braunen Haar, mild lächelnd sah das liebliche Antlitz der Gottesmutter aus dem Rahmen hervor. In ihren Armen lag das Jesuskind, Engel spielten zu seinen Füßen, Engel schwebten in weißen Wolken über seinem Kopfe.
   Alles Volk fiel, als das wundertätige Bild sichtbar wurde, auf die Knie, alle Stimmen schluchzten. »Wohin geht unsere Schutzheilige?« jammerten die Frauen. »Wohin bringt ihr sie?«
   »Nach Moskau«, antworteten die Priester. »Dort ist sie sicher.«
   Die Kirchtüren blieben weit geöffnet; drinnen walteten treue Hände ihres Amtes. Wer den Trost der Religion, wer Segen und Abendmahl begehrte, der fand das alles, während draußen die Flammen der einzelnen brennenden Gebäude ineinanderflossen und ein großes Feuermeer bildeten, eine Glut, die in Funken und Tropfen von den Dächern fiel, das Straßenpflaster versengte und die unglücklichen, aus ihren Häusern Vertriebenen jetzt auch noch in die Weite jagte, heimatlos, besitzlos, oft ihrer Liebsten beraubt, ohne Hoffnung oder irgendeinen Trost.
   Immer neue Schauer von Kugeln schlugen in die Stadt hinein, neue gewaltige Anläufe krachten und donnerten gegen die Torbefestigungen; langsam, Zug nach Zug, rückte die russische Armee ab nach den umliegenden Höhen.
   Mikosch und Onnen fanden die Ihrigen in einem leerstehenden Gartenhause. Die Stätte, an der sie während der letzten Nacht geruht, war längst eine Beute des tobenden Elementes geworden; jetzt hatten sie eine von den Bewohnern verlassene Villa in Besitz genommen, Räume, welche wenig geeignet schienen, herumziehenden Zigeunern als Wohnung zu dienen.
   Ruff streckte seine gewaltigen Glieder in einem Salon, dessen Spiegelwände vom Boden zur Decke reichten und das Bild des Pelzträgers fünffach wiedergaben. Glänzende Fußböden, lackierte Fenster und Türen, Kamine aus Marmor, alles zeigte den Reichtum der Besitzer, die es vorgezogen hatten, ihre fahrende Habe in Sicherheit zu bringen und dafür das Haus der Zerstörung zu überlassen.
   Alexei und Jasko schleppten Stroh herbei, Kochgeschirre, Lebensmittel und Decken, dadurch war die neue Wohnung eingerichtet, und man machte sich‘s bequem. Auf dem Herd brodelte eine Suppe, Ruff erhielt eine Mahlzeit aus Früchten und Fleisch. Die Männer rauchten.
   Feiko Hansen stützte den Kopf in die geschwärzte Hand. »Sechsundfünfzig Verwundete habe ich von den Wällen getragen«, seufzte er, »Helden, die noch mit zerschossenen Gliedern kämpften – Hunderte, Tausende von Soldaten habe ich tot auf dem Pflaster liegen sehen, und alles, alles ist umsonst gewesen.«
   »Aber auch die Franzosen mußten bluten«, rief Georg. »Unter der Königsbastion lagen Berge von Toten!«
   »Horch, die Kanonade wird schwächer!«
   »Sie erlischt ganz, glaube ich!«
   Nur das Prasseln und Zischen der Flammen klang herüber, das tausendstimmige Angstgeschrei der gemarterten Volksmenge; die Geschütze dagegen schwiegen vollständig. Das Knattern der fallenden Kugeln war verstummt; eine verhältnismäßige Stille folgte dem Donner, welcher seit drei Tagen und Nächten nicht mehr aufgehört hatte.
   »Die Franzosen ziehen ein«, nickte Mikosch. »In einer Viertelstunde werden wir sie sehen, vielleicht hier in diesen Räumen sogar.«
   Onnen erschrak »Und wenn uns Oberst Jouffrin erkennen sollte, Mikosch? Was geschieht dann?«
   Der Hauptmann spielte mit dem Messer an seiner Seite. »Oberst Jouffrin ist nicht hier«, antwortete er endlich.
   »Weißt du das ganz gewiß?«
   Er nickte. »Ganz gewiß, Herr. Ich würde sonst hinausgehen, um ihn zu suchen, um die Schuld, von der du ja Kenntnis hast, abzutragen.«
   Ein düsterer Ernst sprach aus seinen Worten. Barbarins vergossenes Blut war ungerächt – der Mörder konnte sich also nicht in der Nähe befinden.
   »Ich möchte doch wieder auf die Straße hinausgehen«, gestand Onnen. »Jetzt ist ja auch keine Gefahr mehr dabei.«
   »Wenn wirklich das Regiment des Obersten nicht gegenwärtig wäre«, zögerte Feiko.
   »Wirklich nicht, Herr.«
   »Dann komm, Onnen!«
   Georg Wessel schlief schon, er war auch nach der ungeheuren Anstrengung des Tages nicht zu erwecken, daher gingen die beiden Vettern allein fort, in solche Stadtteile, wo das Feuer bis jetzt noch nicht oder doch nur vereinzelt wütete.
   Eine wahre Völkerwanderung bewegte sich zu den Toren. Wer noch einen Wagen oder einen Karren erreicht hatte, der bemühte sich, das bißchen fahrender Habe in Sicherheit zu bringen, während Frau und Kinder neben dem Pferde gingen, meist bitterlich weinend, ratloser als je. Andere, weniger Glückliche trugen auf dem eigenen Rücken Betten, Tische und Stühle, oft das ärmlichste Hausgerät, Dinge, die nicht Wert genug besaßen, um vom Boden aufgehoben zu werden; sie ächzten unter der Last alter Bretter, einer Gartenbank, schwerer Körbe oder Säcke, sie trugen den Käfig eines Kanarienvogels, ein Kätzchen oder einen Hund. Von allen diesen Bedauernswerten wußte kein einziger, wohin er flüchten, wo er in der Nacht sein Haupt zur Ruhe betten sollte.
   Ein langer Zug kam des Weges, lauter Kinder in blauen leinenen Kleidern und unter Begleitung mehrerer ernstblickender Männer. Es waren die Waisen der Stadt; jedes dieser armen Verlassenen trug sein Bündelchen über dem Arm, irgendein Spielzeug oder ein Buch, jedes hielt die Hand des anderen, auf allen Gesichtern lag jene geheime verzehrende Angst, von der Kinder, sobald sie nicht sprechen, nicht fragen dürfen, im Augenblick der Gefahr jedesmal ergriffen werden.
   Die kleinen Mädchen beteten das Vaterunser; ihre Lehrerinnen folgten weinend, mit gerungenen Händen. Wohin? Wohin? – Gräßliche Frage, wenn die Beantwortung drängt und doch nirgends, nirgends aufzufinden ist, umso gräßlicher, wo es gilt, anvertraute schutzlose Geschöpfe vor allen Gefahren des Leibes oder der Seele zu behüten.
   Ein langer, langer Zug; wer ihn sah, der weinte oder rief den Zorn des Himmels herab auf den dreisten Eroberer, dessen Frevelmut ganz Europa in Blut und Tränen badete. Dort drüben stürzten die rauchenden Trümmer des Waisenhauses krachend zusammen; verbrannt war die Stätte, an der arme elternlose Kinder eine Heimat gefunden, verbrannt das Bett, in dem sie geschlafen, der Tisch, an dem sie gegessen, verbrannt der Altar, an dem sie beteten. Hie und da gaben barmherzige Menschen den armen Kleinen ein Geldstück; jammernde Mütter, die ihre eigenen Lieblinge zitternd vor Furcht ans Herz drückten, schluchzende Frauen beugten sich hinab zu den Waisen und küßten sie. »Gott geleite euch! Gott schütze Rußland!«
   »In Ewigkeit Amen!«
   Einer antwortete dem anderen, ganz Fremde mischten ihre Tränen, ihre Gebete. Rot wie Blut leuchtete über dem brennenden Häusermeer der Himmel, glühend versengte die Luft, prickelnd und voll stäubender Asche, die Haut. In das Dunkel verschwunden waren die Waisen, andere Unglückliche nahmen ihre Stelle ein, alte Leute, alleinstehende Krüppel, denen niemand half, Frauen mit kleinen Kindern, lange Züge von Männern, die zwischen sich kranke oder verwundete Soldaten trugen.
   Alles floh vor den menschlichen Hyänen, die nun einrückten, den Teufeln, deren Wüten die Bürger von Witebsk erfahren hatten. Ihnen in die Hände zu fallen, war tausendmal schlimmer, als unter dem Glanz der Sterne am Wegesrande einsam und verlassen zu sterben.
   Was regte sich da am Markt in der Ecke neben dem steinernen Heiligen? – Doch nicht alle schienen geflohen.
   Ein großes hochgiebeliges Haus brannte in den oberen Etagen, während unten noch alles unversehrt schien. Ein Knäuel von Menschen umstand den Eingang zum Keller, schreckliche Gestalten mit erdfahlen bleifarbenen Gesichtern und tief in den Höhlen liegenden Augen, ihre begehrlichen Finger rüttelten an den Eisenstangen vor der Tür.
   »Man muß sie einschlagen!« rief eine Stimme.
   »Aber die Polizei!« warnte eine andere.
   »Die bekommt erst recht Schläge!«
   Brüllendes Gelächter folgte dieser Bemerkung. Wie ein Funke in das Pulver fällt und es hell aufflammen läßt, so entfesselt ein keckes Wort die schlummernden Leidenschaften des Menschenherzens, das Böse, dem bisher zum Ausbruch nur die Gelegenheit fehlte. Ein baumlanger Kerl erkletterte die Statue des Heiligen und setzte sich rittlings auf dessen Schultern.
   »Meine Herrschaften, ich schlage vor, Beile zu holen!« schrie er.
   »Bravo! Bravo!«
   »Aber woher? Hier ist für Beratungen keine Zeit. Das Feuer brennt tiefer herab und die großen Fässer da im Keller zerplatzen, ohne uns ihren Inhalt gegeben zu haben.«
   »Den Branntwein!« rief eine, an der Krücke humpelnde alte Frau, »ach den Branntwein – er läßt alle Schmerzen vergessen.«
   »Wir wollen ihn auf jeden Fall haben! Ich frage, weshalb die Franzosen das Labsal trinken sollen? Es ist russischer Branntwein, er gehört uns!«
   »Ja, ja, er gehört uns!«
   Und nun wurden Steine aus dem Straßenpflaster gerissen, nun hatte schon jemand ein Beil herbeigeholt und das Bombardement begann. Schlag nach Schlag dröhnte gegen die Kellertür, immer größer wurde der Haufen, immer wilder der Lärm.
   »Da drüben brennt die ganze Reihe – eilt euch, eilt euch, das Feuer kommt in weniger als zehn Minuten hierher.«
   Der lange Kerl sprang vom Rücken des Heiligen und schleppte einen ungeheuren Pflasterstein herbei. Das Geschoß flog donnernd gegen die Tür, der Halt derselben war erschüttert, sie wich und stürzte zersplittert in den Keller hinab. Mit lautem Jubel, einander drängend und stoßend, folgten die Massen.
   »Hurra, Hurra – sechs große Fässer!«
   »Holt Licht, Trinkgeschirre!«
   Der Boden des vordersten Behälters war schon eingeschlagen und mehrere Kannen und kleinere Gefäße, die im Keller lagen, mit der ersehnten Flüssigkeit angefüllt. Wie die Wahnwitzigen stürzten Männer und Frauen von der Straße her die Treppen hinab, um einen Anteil der Beute zu erlangen.
   »Und oben brennt das Haus«, sagte Feiko. »Gott sei denen gnädig, die da im Keller betrunken liegenbleiben.«
   Onnen schauderte; »Welch eine grauenhafte Nacht!«
   »Man kann sie nicht warnen – unser bißchen russisch reicht gerade zum notdürftigen Verstehen, aber nicht zum Sprechen!«
   Und da brennt bereits das Erdgeschoß!
   »Leute! Leute!« rief Feiko, »rettet euch!«
   Niemand hörte ihn. Sie waren schon vollständig berauscht, die da drinnen, sie zerschlugen die Fässer und tanzten wie die Wahnwitzigen in dem herausfließenden Spiritus. Hinter dem vorderen Lagerraum befanden sich mehrere andere, Liköre und feine Weine wurden entdeckt – immer brausender erschallte der tolle Jubel. Das Feuer war vergessen; die trunkene Menge dachte an nichts als an das heiße Getränk, welches hier in Strömen floß.
   Aus den Fenstern des Erdgeschosses drangen Wolken von Rauch hervor; der Fußboden brannte – plötzlich erschien unten im Keller ein Lichtstreif, eine Flamme sprang auf und ein Schrei aus hundert Kehlen klang zu den beiden jungen Leuten herüber.
   »Allmächtiger Gott!« rief Onnen.
   Die Worte wurden verschlungen von dem Toben da unten. Aus dem Erdgeschoß regnete es Feuer, die Kleider der im Keller Befindlichen wurden erfaßt, dann der Spiritus am Boden – haushoch schlug mit donnerähnlichem Knalle die blaue Flamme zur Tür heraus.
   Und dann war plötzlich alles still. In einen Glutenmantel gehüllt, brennend vom Keller bis zum Dache stand das Haus, eine tiefe Todesruhe folgte dem Tumult in den unterirdischen Räumen, wo noch wenige Minuten vorher verblendete Toren die irdische Glückseligkeit aus Spiritusfässern zu schlürfen wähnten.
   »Gräßlich!« sagte schaudernd der Steuermann. »Komm, laß uns auf die andere Seite hinübergehen! – Ich glaube, auch da tobt der Pöbel!«
   Aus den Fenstern einer Weißwarenhandlung flogen unaufhörlich allerlei Putzgegenstände auf die Straße hinab, Kleinigkeiten, die zu der Garderobe von Frauen und Kindern gehörten, Spitzen, Schleifen, Hüte, alles wurde mit lautem Jubel in den Straßenschmutz getreten oder auseinandergerissen. Ein Pöbelhaufen wälzte sich durch alle Räume, und Splitter und Trümmer bezeichneten seine Bahn.
   Einmal hatte es ein Polizeibeamter gewagt, den Wütenden in den Weg zu treten – seine entsetzlich verstümmelte Leiche lag mitten auf der Straße.
   Weiterhin stand unter allen den brennenden, verkohlten und halbzerstörten Holzhäusern ein steinerner Bau, den vorher einer der höchstgestellten russischen Heerführer bewohnt hatte und dessen Türen verschlossen waren. Man mochte an den Abschied nicht gedacht haben; zwei Diener befanden sich im Hause, sämtliche Einrichtungsstücke waren zurückgeblieben – jetzt stürmte das wilde Heer auch diese Schwelle und zerschlug gewaltsam die Tür.
   Eine Schar polnischer Studenten kam von der entgegengesetzten Seite und hob drohend die blanken Klingen. »Fort mit euch; das Haus gehört uns!«
   Steinwürfe antworteten. »Ihr lügt! Wir sind Russen, ihr seid Polen, Reichsfeinde – macht, daß ihr fortkommt!«
   Der Streit ging sofort über in ein Handgemenge; es floß Blut, der Pöbel wich und mit Triumphgeschrei nahmen die Polen das Haus, dessen Hüter inzwischen durch eine Hinterpforte das Freie gewonnen hatten. Den Studenten nach drängten die Massen und auch unsere Freunde gingen mit, um zu sehen, was nun folgen würde. Unten im Erdgeschoß befand sich das Arbeits– und Empfangszimmer des Eigentümers, ein elegant eingerichtetes Kabinett mit Schreibtisch und Bücherbrettern, einem prachtvollen Löwenfell, dessen Kopf als Fußkissen diente, und dem lebensgroßen Ölgemälde des Zaren. Neben dem Sessel stand noch ein Korb mit Weinflaschen, Papiere und Druckschriften lagen umher.
   Die Polen fielen wie Wölfe in die Herde hinein in diesen kleinen, behaglich ausgestatteten Raum. Das Bild des Zaren wurde unter ihren Absätzen zu Staub zermalmt, Bücher und Papiere in tausend Fetzen zerrissen, dann folgten die Luxusstücke der Einrichtung.
   »Da!« rief einer der Studenten, indem er den Löwenkopf emporhob, »da, ein Schemel für die Füße des Herrn Generals, ein Spielzeug, das mehr als hundert Rubel gekostet hat. So verwendet man die Steuern, das Blutgeld, dem Volke erpreßt!«
   Die Pöbelmasse heulte vor Wut. »Man muß sie totschlagen, die Räuber!«
   »Ja, ja, totschlagen!«
   Jedes einzelne Haar des prächtigen Löwenfelles wurde auseinandergezerrt, der Schreibtisch zerschmettert, die Spiegel und Polstermöbel vernichtet; dann folgte das anstoßende Zimmer mit einem wertvollen Flügel, Noten und eingelegten Tischen – selbst zwei silberne Leuchter waren auf dem Instrument stehengeblieben. Die Studenten zerschlugen alles; der Pöbel stahl, was ihm des Mitnehmens wert erschien.
   »Aha«, rief eine Stimme, »hier kommt das Zimmer der Frau Gemahlin! Seht, Leute, das ist der Ort, wo sie ihre leibeigenen Sklavinnen bei schlechter Laune als Nadelkissen benutzt, oder, wenn so ein armes Ding nach ihrer Ansicht zu wenig Flachs versponnen hat, denselben der Säumigen um die Finger wickelt und dort verbrennt!«
   Ein neues Geheul folgte dieser Rede. Solch ein kostbares Bette mit Seidengardinen und Kissen aus Eiderdaunen; feine Salben und Essenzen, tropische Blumen, Konfekt, ein armes seidenweiches Schoßhündchen, das sich zitternd verkroch, ein Betaltar aus Silber und Elfenbein – hei, so eine Generalin kann es schon aushalten, indes die Menge hungert!
   Man raufte um die Kleinigkeiten, ohne sie brauchen zu können, Bettlerinnen hüllten sich in samtne Mäntel, Fischweiber packten Ballhandschuhe und Spitzenschleier in ihre schmutzigen Schürzen – das wehrlose Hündchen schleuderte jemand hinaus auf die Straße, dann wurde der Plünderungszug weiter fortgesetzt und die Vorratskammern ihres Inhaltes beraubt.
   Halb betäubt gelangten Feiko und Onnen wieder auf die Gasse. Überall brannte es, überall wütete der Pöbel. Die ersten Strahlen des jungen Tages schimmerten durch all den Graus, durch Rauch und lodernde Flammen; auf den Straßen befand sich kein anständiger Mensch mehr – wer nicht die Stadt schon vor diesem Zeitpunkte verlassen hatte, der suchte Schutz in einer der vielen Kirchen.
   Dicht gedrängt standen und saßen hier die ihrer Heimat beraubten Menschen. Jeder Platz war besetzt, jeder Winkel barg schluchzende Unglückliche. Mütter mit kleinen Kindern, Alte, Kranke, Krüppel und Blinde, alle Hilflosen und Elenden hatten sich hier zusammengefunden.
   Mutige Männer, Helden, den edelsten Vaterlandsverteidigern gleich, waren auf die bedrohten Kirchtürme gestiegen und hatten das Feuer im Entstehen gelöscht. Rings lagen ganze Straßen, ganze Stadtteile in Asche; die Gotteshäuser blieben verschont.
   Horch – Trommelklang! Und da begannen auch wieder die Kanonen ihre gewaltige dröhnende Sprache.
   Was war das?
   Der Morgen dämmerte rosig und golden; Napoleon übersah die geräumten Stellungen der Russen, er fand den Weg frei und zog ein in die unglückliche Stadt. Aber der Feind war doch noch näher, als er geglaubt haben mochte; von den umliegenden Höhen begannen Kugeln einzuschlagen in die Reihen der Soldaten – es schien, als solle der Kampf abermals eröffnet werden.
   Napoleon ritt den Truppen voraus durch menschenleere brennende Straßen, begleitet von den beiden Marschällen Ney und Davoust; er übersah finsteren Blickes das Gebiet, von welchem sich die Russen zurückgezogen hatten, ohne eigentlich besiegt zu sein.
   Der Pöbel scharte sich um die Reiter, die Polen jauchzten ihnen voll stürmischer Freude entgegen. »Hoch Napoleon! Hoch der Befreier!«
   Die Geschütze donnerten; heller und heller wurde der Morgen. Dicht am Wege, inmitten der Menge standen unsere Freunde; sie sahen aus nächster Nähe in das Antlitz des Gewaltigen, in Davousts hartes grausames Gesicht. Blut rieselte unter einer Stirnbinde hervor: der Marschall war verwundet, er schwankte vor Ermattung auf dem Pferde.
   Orgelklang tönte aus dem Innern einer Kirche – Napoleon blickte auf, er setzte das Glas an die Augen, dann sprach er mit den Generalen.
   »Von hier aus müßten sich die Geschütze da oben zum Schweigen bringen lassen!«
   Ein Adjutant sprengte davon, vier Kanonen rasselten herbei, Soldaten öffneten die Flügeltüren der Kirche.
   Jählings zerriß der Akkord, ein Schrei des Entsetzens trat an seine Stelle. Pferdeköpfe unter dem Portal des Gotteshauses, Pferdehufe in seinen heiligen Hallen?
   O der Entweihung, des Greuels!
   Mit erhobenen Armen warf sich ein Geistlicher den Eindringenden entgegen, mit flammenden Worten bat er um Schonung, um Gerechtigkeit.
   Napoleon winkte den Soldaten. »Beiseite mit dem verrückten Pfaffen!«
   Die Pferde zogen an; wie im Wahnsinn flüchteten drinnen die dichtgedrängten Scharen zu den anderen Ausgängen. Über zuckende Menschenkörper trieb man die Räder, schonungslos hinein in die Massen der Unglücklichen.
   Kalt, ungerührt übersah der Kaiser vom Pferde herab das grauenvolle Blutbad, bei dem Zahllose, meist Frauen und Kinder, ihren Tod fanden. Die Geschütze wurden an vier Fenster gebracht, sämtliche Hindernisse entfernt und so von der auf einer Anhöhe gelegenen Kirche aus die russischen Batterien beschossen.
   Onnen wandte sich ab, schaudernd, leichenblaß. »Komm, Feiko. Das zu ertragen ist mehr als ich vermag.«
   Sie suchten das Haus, in dem die Zigeuner lagerten, und sanken ermattet auf die Streu. Von allem Furchtbaren, was sie bis jetzt gesehen, waren die Ereignisse dieser Nacht das Furchtbarste.
   Sobald die Truppen ihren Einzug gehalten hatten, ließ der Kaiser den Brand löschen und die Toten beerdigen, ebenso wurde in aller Eile die völlig verbrannte Brücke wiederhergestellt und die Mauer ausgebessert. Bei der Abwesenheit aller Behörden, dem gänzlichen Mangel an Geld und Lebensmitteln mußten die Soldaten zusammenstehlen, was sie zu ihrer Sättigung brauchten. Äpfel und Birnen, auf den Bäumen gebraten, Gartengemüse, Feldfrüchte, alles wurde verzehrt und zerstört, alle Möbel aus den geretteten Häusern hervorgeholt und, nachdem die noch vorhandenen Einwohner hinausgetrieben worden waren, die Kirchen als Wohnräume in Besitz genommen oder zu Stallungen benutzt.
   Ein großer Teil der Soldaten lagerte aber trotzdem im Freien, überall waren Zelte aufgeschlagen, Strohhaufen geschichtet und Feuerstellen angelegt; die totenstille, verbrannte Stadt glich einer ausgestorbenen Welt, in der nur von Zeit zu Zeit getrommelt und geblasen wurde, die aber keine fröhlich jauchzenden Kinder mehr barg, keine arbeitenden, schaffenden Menschen, kein Glück irgendeiner Art.
   Selbst die Kirchenglocken schwiegen, die Predigt und die Orgel; über Aschenhaufen wehte der Wind durch verödete, erstorbene Straßen.
   Mikosch rüstete zum Aufbruch. Ringsumher an verschiedenen Orten wurde gekämpft, die Franzosen nahmen Punkt nach Punkt – es galt also, den russischen Befehlshabern ihre Stellung, ihre Bewegungen und Pläne zu hinterbringen.
   Damals wie heute beschäftigten im Kriege die beiderseitigen Heerführer zahlreiche Kundschafter, und zu diesen gehörten in erster Linie Juden und Zigeuner, die Angehörigen zweier besonders durch Schlauheit hervorragenden Völkerschaften. Alles, was wanderte, handelte und gern Geld verdiente, das zog als Parteigänger von Ort zu Ort.
   Jetzt kam die Zeit, wo Ruff als Hauptperson im Vordergrunde der Handlung stand. Die Zigeuner trugen ihre schlechtesten Lumpen, fuhren mit dem abgetriebensten magersten Klepper, welcher sich auffinden ließ, und baten unter den kläglichsten Gebärden um ein Stück trockenes Brot. Dabei aber hielt Mikosch die Augen offen, und in gar mancher Nacht verschwand er heimlich, um dann erst nach vielen Stunden oder Tagen wiederzukehren, immer sehr vergnügt und freigebig, so daß in verborgenen Winkeln auf Rußlands Wohlergehen verschiedene Flaschen Wein getrunken und leckere Braten dazu verspeist wurden.
   Einmal kam er von einem solchen Streifzuge mit sehr ernstem Gesichte zurück. »Der Korse unternimmt das Unerhörte, Kinder, er marschiert nach Moskau!«
   Feiko Hansen klatschte in die Hände. »Hurra!« rief er. »Das bricht ihm den Hals!«
   Mikosch wiegte den Kopf. »Aber vielen andern Leuten auch!« seufzte er, »und das ist das Traurige.«
   »Einerlei, einerlei – wir sehen die französische Armee noch auf der Flucht! In sich zersetzt und zerfallen, vom Hunger aufgerieben, vom Geiste der Zügellosigkeit erfaßt ist sie schon heute. Außer seiner Garde hat Napoleon keine wirklichen Soldaten mehr, hier in Rußland sind sie zu Räubern geworden.«
   »Vater!« warf Jasko ein, »gehen wir nach Moskau?«
   »Sicherlich. Den Franzosen voraus sogar. Und soll ich dir noch eins sagen? In Moskau begegnet uns Oberst Jouffrin.«
   Der jüngere Mann sah auf; seine und des Vaters Blicke trafen einander. Beide schwiegen, aber sie verstanden sich vollkommen.
   Mikosch kannte, wie es schien, jeden Schlupfweg, jede Niederlassung rings umher. Wo ein französisches Regiment biwakierte, dahin lenkte er den Leiterwagen und Ruff begann seine Kunstleistungen. Die armen Zigeuner erschienen dann so bemitleidenswert, sie erhielten nirgends Geld oder Geschenke – es war eben für sie eine recht böse Zeit. Ruff tanzte, er exerzierte mit dem Stock, er konnte eine Pistole abschießen und besaß sogar eine Gitarre, deren Saiten sich den Griff seiner gewaltigen Tatzen gefallen ließen.
   In neuester Zeit hatte ihm Mikosch noch verschiedene andere Kunststücke beigebracht. Ruff lernte Zählen und – Singen. Auf Kommando öffnete er den furchtbaren Rachen und stieß langgezogene melancholische Töne hervor, bis sich die Soldaten vor Lachen wälzten. Dann regnete es gute Bissen, Mikosch erfuhr dieses oder jenes; das Nachtquartier durfte in der Nähe der französischen Feuer aufgeschlagen werden.
   Vor den Truppen, ihnen voraneilend, durchzogen Angst und Schrecken das weite Land. Wo eine Hütte oder ein Edelhof allein am Waldesrande lagen, da waren sie verlassen; in kleinen Dörfern sahen bleiche Gesichter den Zigeunern entgegen, oft hatten die unglücklichen Bewohner alle ihre Habe im Stiche gelassen und waren in die Wälder geflüchtet.
   Mit dem Beginn des Monats September veränderte sich das bisher heiße Wetter so plötzlich, daß schon kalte Tage eintraten; der Wald zeigte sein Herbstkleid, die Wellen der Oka gingen hoch und ganze Schauer von gelben und roten Blättern tanzten im Wind.
   Es war an einem Nachmittage, als Mikosch mit den seinen in dem Dorfe Borodino anlangte. Ein feiner Nebel hing in der Luft, die Sonne sandte keinen Strahl zur Erde – kalt und heimlich durchfröstelnd kam in Pausen ein stärkerer Hauch von den Höhen herab.
   Die Glocke des Kirchleins läutete wie zur Totenfeier. In langen Zügen wanderten die Bauern bis an das Ufer eines kleinen Sees, der am Waldesrande seine Wellen kräuselte; hier scharten sie sich stillschweigend und warteten mit gesenkten Köpfen, während auf dem Wasser ein Boot schaukelte und die Glocke fortwährend leise Trauerklänge hinaussandte in das graue Nebeltreiben des Tales.
   Der Wagen hielt und die Zigeuner mischten sich unter das Volk Weinende Frauen, Männer mit bleichen Gesichtern bildeten einen Kreis, der nicht allein den See umschloß, sondern auch den Weg zur Kirche noch besetzt hielt; endlich ertönte der Ruf eines jungen Mannes: »Sie kommen!«
   Stärker wurde das Schluchzen, eins nach dem anderen warfen sich die Leute auf ihre Knie und beteten.
   Grau unter dem grauen, nebelverhüllten Himmel erschien ein Zug von Mönchen, die auf ihren Schultern einen größeren Gegenstand trugen. Es glänzte und blitzte – ob es Gold war?
   Jede Stirn neigte sich zur Erde, alle Hände waren gefaltet. Langsam auf den Schultern der Geistlichen erhob sich ein Kreuz aus massivem Golde, meterhoch, von unschätzbarem Werte, das Kreuz des heiligen Iwan, vor Jahrhunderten der Kirche von frommen Gebern gestiftet, ihr teuerster Schmuck, ihr Kleinod – jetzt sollten sie es dem ungewissen Schicksal preisgeben, vielleicht verlieren.
   Langsam wurde die Reliquie zu Boden gelassen, dann näherte sich das Volk, um sie zu berühren, zu küssen. »Schütze uns, heiliger Iwan, gib, daß die Feinde an unserem Dorfe vorüberziehen, daß wir gerettet werden!«
   Rings Schluchzen und bitteres, tiefes Weh. Weithin schlug der See seine grauen Wellen; hoch in den Wolken schrie heiser ein Rabe.
   Von Hand zu Hand ging das Kreuz bis in den schwankenden Kahn. Zwei Mönche legten es auf den Boden, dann nahmen sie in Empfang, was sonst noch vor der Raubgier des Feindes an heiligem Gute geflüchtet worden war, das Altargerät, die Monstranz. Leise klirrten kleine goldene und silberne Glöckchen; ein halberstickter Laut der Herzensangst ging durch die Reihen des Volkes.
   Und dann stieß der Kahn ab. Mitten auf den See hinaus trieben ihn die Mönche – unter tiefer Todesstille wurden die Heiligtümer der Kirche hinabgesenkt in den Schoß des Wassers; Stück nach Stück verschwand, bis sich die Wellen murmelnd schlossen, bis das graue Einerlei alles bedeckte, alles verhüllte.
   Wie von einem Leichenbegängnis kehrten die Leute in ihre ärmlichen hölzernen Häuser zurück. Auf den Anhöhen standen die Russen, von Smolensk her wälzten sich Massen französischer Truppen; eine dumpfe Verzweiflung schnürte die Herzen zusammen.
   Smolensk gefallen und Mütterchen Moskwa bedroht – das Ende aller Dinge schien nahe.
   Unsere Freunde gelangten noch vor Abend in das russische Lager und setzten dann durch Fichtenwälder ihren Weg weiter fort. Hier verstummte zum erstenmal der laute Lärm des Krieges; von den französischen Horden war noch keine einzige so weit vorgedrungen, der äußere Friede durch nichts gestört. Grüne Nadelhölzer dehnten sich scheinbar endlos, unter den Füßen knisterten abgefallene Sprossen; kälter und kälter ging der Wind.
   In den wenigen Walddörfern waren die Bewohner guten Mutes. Nur vereinzelte Nachrichten über den Gang der Dinge hatten ihre Einsamkeit hier oben unterbrochen; sie hielten sich für ganz sicher und meinten, der russische Winter werde die Gäste aus dem Süden schon vertreiben.
   Den Zigeunern überließen sie willig ihre Scheunen als Nachtquartier, luden sie an ihre wohlbesetzten Tafeln und schenkten ihnen wärmere Kleider. So hoch hinauf in die Berge würden sich ja die Franzosen nicht versteigen.
   Es kam jetzt die Zeit zum Beginn der Winterjagd. Bär und Wolf, Luchs und Wildkatze hatten ihren Sommerpelz abgestreift; die Fallen waren gestellt und neuer Schießbedarf eingekauft. Hier oben lebte alles von der Jagd und dem Pelzhandel – man rüstete sich, den ersten Fang einzuheimsen.
   Mikosch saß am flackernden Feuer und lötete das Hausgerät der Frauen. Alljährlich kam er auf seinem Zuge durch Rußland in diese weltabgeschiedenen Jägerdörfer, wo er als lebende Zeitung galt, als langerwarteter und gern gesehener Berichterstatter, nebenbei aber auch als ein Tausendkünstler, der alles heilte und ergänzte, was im Laufe des Jahres schadhaft geworden war. Mikosch konnte kranke Pferde kurieren, zerbrochene Scheren flicken, Lederzeug ausbessern und zur Not ein Flintenschloß wieder instandsetzen; er verstand es aber auch, den Neugierigen im Dorfe wahrzusagen, kannte allerlei Zeichen, die auf einen strengen oder milden Winter schließen ließen, und musizierte endlich im Verein mit seinen Söhnen so prächtig, daß die alten Frauen weinten und die jungen tanzten – je wie er‘s machte.
   Diesmal hatte man ihn schon nicht mehr erwartet; er war über die gewohnte Zeit hin ausgeblieben und fand daher gehäufte Arbeit, die nun neben dem Kohlenbecken im offenen Schuppen an seiner Seite lag. Altersschwache Teekessel, Kinderspielzeug, Schlittschuhe, Küchengerät, alles harrte in buntem Durcheinander der Hand, die jeden Schaden ausbesserte, jeden Riß flickte und überall heilend und glättend eingriff.
   Die Armen erhielten ihre Siebensachen umsonst; wer nicht zahlen konnte, der gab ein »Gott lohn‘s« als Dank und Mikosch nickte ihm freundlich zu. »Lauf nur, Alte, trink deinen Tee mit Gesundheit! Ich hab‘s gern getan.«
   Auch die drei anderen hämmerten und feilten fleißig mit, während die Deutschen auf die Jagd gingen, aber außer den überreich vorhandenen Vögeln, namentlich den Hühnern, keinerlei Wild erlegten. Erst am dritten Tage nach ihrer Ankunft brachte ein unvorhergesehener Zufall ihnen das ersehnte Vergnügen im vollen Maße.
   Es war kalt, der offene Schuppen hatte eine Strohwand erhalten und das Feuer, durch starke Eichenklötze genährt, brannte lichterloh – da sprengte ein Reiter auf einem der kleinen eingeborenen Pferde über die Dorfstraße daher, aber noch bevor er die ersten Häuser erreicht hatte, taumelte das Tier, strauchelte, erhob sich wieder und stürzte, um nicht mehr aufzustehen. Ein Strom von Blut drang aus dem Maul hervor – es zuckte noch ein paarmal, dann starb es.
   Der Reiter, ein junger Bauer, sprang gewandt zu Boden und näherte sich den Häusern, aus denen Männer und Frauen neugierig herbeiliefen; auch die Zigeuner gesellten sich zu den übrigen und Mikosch besah zuerst das verendete Pferd. »Es ist tot, mein Söhnchen«, sagte er, sich zu dem jungen Manne wendend, »was trieb dich denn zu so übermäßiger Eile?«
   »Rede! Rede!« drängten auch die Dorfbewohner. »Was gab es, Kasimir Strakosch?«
   Der Bauer schöpfte tief Atem. »Ich bin mit genauer Not dem Tode entronnen«, versetzte er, »achtzehn Wölfe waren auf meinen Fersen!«
   »Achtzehn Wölfe?«
   »Ja! – Unser Dorf wird belagert!«
   »Von den Franzosen?« rief Onnen.
   »Was? Franzosen?«
   »Nein! Nein!« erklärte Mikosch. »Das kennt ihr nicht, Kinder. Die Wölfe belagern ein Dorf, um zu den Herden zu gelangen, aber sie wagen sich nicht hinein, sondern lungern nur hinter den Häusern herum, so daß die Bewohner gefangen sitzen. In solchem Falle werden dann der keckste Reiter und das schnellste Pferd ausgesucht, um von draußen Hilfe herbeizuholen.«
   »Das heißt, Leute, welche den Wölfen zu Leibe gehen?«
   »Natürlich!«
   »Wir werden es sein!« rief Onnen. »Wir, nicht wahr, Alexei?«
   »Vielleicht nimmt man uns mit!« lächelte der Zigeuner. »Die Sache ist nicht ganz so leicht, wie du dir denken magst, Freund Onnen.«
   Auch die trägen, schwerfälligen Bauern rings umher waren lebendig geworden. Ein von den Erzfeinden, den Wölfen, belagertes Dorf ist im Walde ein Ereignis, das die tatkräftige Hilfe der Nachbarschaft wie kein anderes herausfordert. Vielleicht konnten die Eingeschlossenen nicht einmal zur Quelle gelangen, jedenfalls waren ihre Kinder, ihre Herden bedroht – da durfte auf keinen Fall länger gezögert werden.
   Ein paar lange schmale Wagen kamen zum Vorschein, Jagdwagen, die nur zur Wolfshetze dienten, alle Hände regten sich, alle Stimmen sprachen durcheinander.
   Der fremde Bauer wurde gastfrei bewirtet, das gefallene Pferd schleunigst abgehäutet und verscharrt, die Wagen mit Waffen, Munition und Lebensmitteln versehen, dann ein starkes Bündel Heu an ein Seil gebunden und das andere Ende dieses letzteren an das Hinterteil des Wagens befestigt.
   Aus einem Stalle holten während dieser Vorbereitungen die Frauen zwei kleine junge Schweine hervor und steckten sie, jedes für sich, in Säcke, die oben fest zugeschnürt wurden.
   »Was bedeutet das?« fragte Onnen.
   Alexei kniff lächelnd eins der Tierchen, und als dieses sogleich zu schreien begann, sagte er: »Das bedeutet es! – Du wirst nun die russische Wolfsjagd aus dem Grunde kennenlernen, Herr.«
   Zwei nicht mehr ganz junge Bauern hatten mittlerweile ihre Pelzröcke angezogen und die langen Stöcke, mit denen man in Rußland die Pferde antreibt, herbeigeholt. Jetzt wurden beide Wagen bespannt, die Säcke mit den Schweinen hineingelegt und die besten Schützen ausgesucht.
   »Mikosch, willst du mit?«
   Der Alte schüttelte den Kopf. »Nehmt den Alexei«, entschied er, »der versteht‘s. In jeden Wagen außer dem Kutscher vier Männer, denke ich, also meine Freunde und vier von euch Bauern.«
   »Du, Michael, du, Jakob und ihr beiden da drüben! Jetzt wären wir fertig!«
   Vier Bauern hatten in dem ersten Wagen auf dem einzig vorhandenen Mittelbrett Platz genommen, und zwar so, daß sie zu zwei und zwei einander den Rücken kehrten. Auf diese Weise konnten unbehindert beide Seiten des Weges beobachtet werden.
   Die drei Deutschen und Alexei nahmen den zweiten Wagen, der Bauer aus dem fremden Dorfe setzte sich zum Kutscher und fort ging es.
   »Werden wir nun die Wölfe offen angreifen?« rief Onnen, bei dem die Hoffnung auf das erwartete Vergnügen bis zur Aufregung stieg. »Weshalb konnten sich denn die belagerten Bauern nicht selbst auf die Jagd begeben?«
   »Das wirst du schon sehen, Herr. Man braucht für diese Hetze eine vollkommen freie Bahn, um sie glücklich zu Ende zu führen.«
   Die beiden Wagen mit ihren niedrigen Rädern flogen über den ebenen Weg dahin, so schnell die Pferde zu laufen vermochten; nach einer kleinen Stunde kam das belagerte Dorf in Sicht. Die ärmlichen Holzhütten standen in einem von Bergschluchten umgebenen Tal, Hohlwege führten überall hinein, ein steiniger umbuschter Grund lag vor der Fahrstraße, die sich vollständig leer den Blicken der Jäger darbot. Weder hier noch zwischen den Hütten sah man ein lebendes Wesen.
   Beide Kutscher hielten gleichzeitig still; der Führer der ganzen Expedition, ein älterer Bauer, stand im Wagen und übersah die Lage mit dem Blicke eines kommandierenden Generals.
   »Sensen heraus!« gebot er.
   Man gehorchte ihm schnellstens. Auf dem Grunde jedes Wagens lagen fünf Sensen, deren Strohumhüllungen herabflogen, um die blanke Schneide freizulassen. In den Holzgriffen befanden sich Ösen, an den Wänden der Fuhrwerke starke eiserne Pflöcke, – es war alles auf die Notwendigkeit energischer Selbstverteidigung im voraus berechnet und wurde in kürzester Zeit fertiggestellt. Zwei, die Schärfen nach oben kehrende Sensen deckten gekreuzt jede Längsseite, die fünfte schwang sich wie ein Halbmond quer über den Wagen. So von einer Mauer geschliffener Messer umgeben, waren die Jäger gegen das unvermutete Anspringen eines besonders dreisten Wolfes vollständig geschützt – der Räuber würde sich gespießt haben, ehe er seine Beute erfassen könnte.
   »Jetzt nehme einer unter euch das Heubündel«, befahl der Bauer.
   »So, und nun du das Schwein, aber vorsichtig, noch darf es nicht schreien!«
   Nachdem in dieser Weise alles vorbereitet worden war, lenkten die beiden Kutscher ihre Gespanne nebeneinander, auf die Mitte der Landstraße, an welcher das Dorf lag, oder, besser gesagt, auf den elenden erhöhten Damm, der im Sommer Risse und im Winter Pfützen zeigte.
   Ein Zungenschlag, dann flogen die Pferde dahin.
   »Los!« befahl der Führer.
   Ein jämmerliches Geschrei folgte diesem Befehl. Beide Männer, welche die kleinen Schweine auf den Knien hielten, ließen dieselben jetzt zwischen ihre Füße hinabgleiten, wobei sie die Ohren der Tiere einige Male kräftig zausten. Nach bekannter Weise ihrer Gattung schrien die Ferkel, als gehe es ihnen bereits ans Leben.
   Die Wagen flogen nur so dahin.
   Alle Gewehre lagen schußfertig in den Händen der Männer. Jedes Auge spähte, jedes Herz schlug schneller.
   »Wieviele Wölfe zähltet ihr, Strakosch?«
   »Es mögen immerhin dreißig sein, die unser Dorf belagern.«
   »Da sind sie! Heisa, die ganze Räuberfamilie ist uns auf den Fersen!«
   Aus jedem Gebüsch, aus den Hohlwegen und Steinbrüchen, aus dem Waldesdickicht hervor sahen die spitzen Gelbnasen. Lange rote Zungen lechzten, ein Kläffen und Wimmern erfüllte die Luft – Isegrim und seine Sippe hatten den hingeworfenen Fehdehandschuh aufgenommen.
   Die Pferde schnauften heftig. Ohne Zuruf oder Peitschenhieb rasten sie dahin – ebenso schnell, mehr und mehr den Vorsprung der beiden Wagen überholend, folgten mit der Kraft des nagenden Hungers die Wölfe.
   »Gebt Feuer!« rief der Anführer.
   Acht Gewehre sandten den bleiernen Hagel in die Reihen der Feinde, aber nur ein einziger Wolf fiel und blieb getötet liegen, die übrigen, nicht gerade in den Kopf oder das Herz getroffenen, setzten trotz der Kugeln, welche sie erhalten hatten, die eifrige Verfolgung fort, obwohl ihr Blut den Boden färbte und das eigentümliche Schnappen nach bestimmten Körperstellen den Jägern deutlich verriet, wo die Wunde schmerzte. Ohne Zeitverlust wurde wieder geladen, drei oder vier Wölfe wälzten sich in ihrem Blute, aber immer noch stieg die Anzahl der Verfolger, immer noch mehrte sich von allen Seiten das wilde Heer, dessen Glieder den beiden Wagen unaufhaltsam nachsetzten.
   Schuß auf Schuß, Todesschrei auf Todesschrei. Die Hälfte der Räuber war erlegt, der Rest derselben rückte jedoch den Jägern bedenklich näher. Wenn der Wagen überholt und die Pferde angegriffen wurden, dann war es um die Menschen geschehen.
   »Das Heubündel heraus!« gebot der Führer.
   Zu gleicher Zeit flogen beide Seile weit in die Luft und gierig fielen, einen Augenblick Halt machend, die Wölfe über ihre vermeintliche Beute her. Ein Heulen und Bellen, ein ärgerliches Geschrei folgten der Täuschung, neue Schüsse krachten, neue tödlich getroffene Räuber wälzten sich in ihrem Blute, aber mehrere von ihnen stürmten mit ungeschwächter Erbitterung den beiden Wagen nach, gereizt, zur Wut gebracht, in immer längeren, immer drohenderen Sprüngen.
   Die Zahl der Bestien vergrößerte sich indessen nicht mehr; es war klar, daß alle, die vorhin das Dorf von den Steinbrüchen belagert hatten, jetzt den Jägern folgten.
   Der Führer stand wieder aufrecht im Wagen; trotz der rasenden Fahrt hielt er sich festen Fußes im Gleichgewicht und übersah mit ruhigem Blick die Lage.
   »Wir müssen rechts herum, Kinder, rechts herum – zu unserem Dorfe zurück. Das ist der beste Ausweg.«
   »Ganz wohl, Väterchen, ganz wohl! Aber während wir um die scharfe Ecke biegen, gewinnen unsere Verfolger einen Vorsprung.«
   »Das ist richtig. Im gefährlichsten Augenblick opfern wir ihnen die Schweine!«
   Arme kleine Geschöpfe – sie zitterten in ihren dunklen Gefängnissen schon jetzt, sie stießen Töne hervor, die eine entsetzliche Angst bekundeten.
   »Achtung! – Hinaus damit!«
   Die schreienden Tiere wurden auf den Damm geworfen, unter den Wölfen entstand ein Kampf auf Leben und Tod; sie rissen die blutenden Fleischstücke einander aus den Zähnen, sie fielen sich gegenseitig an in maßloser Wut. Die Kugeln der Jäger flogen hinein in das wüste Getümmel – es war eine Szene voll abschreckender Wildheit, die sich den Blicken darbot
   Aber beide Wagen hatten ihren Vorsprung gewonnen. Die neue Richtung konnte eingeschlagen und einige Minuten lang verfolgt werden, ehe sich das Raubgesindel wieder zeigte – dann erschienen zwei Wölfe mit lechzenden roten Zungen, große gewaltige Tiere, die fast ebensoschnell wie die Pferde dahinstürmten. Gespannten Blickes beobachtete der Führer den Weg – es waren wirklich nur zwei Tiere.
   »Schießt!« rief er. »Schießt!«
   Die Kugeln flogen, aber ihre Wirkung schien zweifelhaft. Bei der Eile der Fahrt war an ein richtiges Zielen nicht mehr zu denken. Hie und da schnappten die Wölfe nach getroffenen Stellen, ihre Wut, ihre Verfolgung erlitten jedoch keine Milderung – der Kampf ging auf Leben und Tod, für die Menschen sowohl als für die Tiere.
   An beiden Wagen wurde eine hellklingende, bisher verborgene Glocke in Bewegung gesetzt, das Zeichen für die Dorfbewohner, den bedrängten Jägern zu Hilfe zu eilen. Betäubend hallten die Schläge, untermischt mit andauerndem Schießen; heftiger und immer heftiger schnauften die ermatteten Pferde.
   »Horch! Klang das nicht wie ein antwortendes Glockensignal?«
   »Sie haben uns gehört! – Gott sei Dank!«
   »Wenn die Hilfe nämlich noch früh genug kommt!«
   »Das eine der beiden Pferde scheint zu hinken!« rief Alexei.
   »Beim Himmel, ich sehe es auch!«
   Der Wagen, auf dem unsere Freunde saßen, blieb etwas zurück, während der andere in unverminderter Eile dahinjagte. Kasimir Strakosch sah die Gefahr, in welche seine Jagdgenossen so plötzlich geraten waren; er riß aus Leibeskräften an den Zügeln, er versuchte jedes Mittel, um die Pferde zum Stehen zu bringen, aber umsonst, die geängstigten Tiere verweigerten den Gehorsam, sie liefen für die eigene Sicherheit, nicht mehr auf das Gebot der Menschen.
   Eine Handbewegung des Russen zeigte den anderen, daß es ihm unmöglich sei, ihnen zur Hilfe zu eilen.
   Alexei zog gedankenschnell den Pelzrock aus und warf ihn den anstürmenden Wölfen entgegen. Alle Munition war verschossen – in jedem Augenblick konnte das Ärgste geschehen.
   Eine halbe Minute Vorsprung, noch eine halbe, als Onnens und die Röcke der beiden anderen jungen Leute auf den Weg fielen, dann ließen sich die Bestien nicht mehr täuschen. Sämtliche Gewehre wurden umgedreht und zum Schlage erhoben – bange, bange Augenblicke folgten jetzt, Sekunden, in deren Schoß die Entscheidung beschlossen lag. Von dem ersten Wagen war nichts mehr zu sehen, aber heller und heller erklang die antwortende Glocke.
   Niemand sprach. Es funkelte vor den Blicken der Jäger wie auf– und absteigende Wolken von bunter Farbe – sie fühlten, daß das Entsetzen ihre Seelen packte.
   Da strauchelte plötzlich das bisher gesunde Pferd und fiel, seinen Genossen mit sich zu Boden reißend, schwer auf die Vorderfüße, dann in Todesangst auf die Seite, um mit den scharfen Hufeisen den letzten möglichen Widerstand zu leisten.
   »Hallo!« rief in diesem Augenblick die Stimme eines Mannes, »hallo, Kinder! Jetzt kommt der rechte Freund, um euch zu befreien.«
   Mikosch war‘s. Sein schwarzes Haar flatterte im Wind, er lief ohne Rock und Mütze in Sturmeseile über den Damm und vor ihm her in gewaltigen Sprüngen jagte Ruff, der Bär, dessen Kette und Maulkorb daheim in der Schmiede liegengeblieben waren.
   Ein furchtbares Gebrüll aus seinem weitoffenen Rachen begrüßte die Todfeinde – er packte den vordersten Wolf am Kragen und riß ihn mitten im Sprunge zurück, gerade im gleichen Augenblick, als die Bestie ansetzte, um über die Sensen hinweg in das Innere des Wagens zu gelangen und dort die Menschen – diese zarteste, erlesenste Beute – mit ihren mordgewohnten Zähnen zu ergreifen.
   Beide, der Bär und der Wolf, fielen rücklings zur Erde. Ruff lag unten, Isegrim über ihm und nun schien es, als sei für den tapferen Freund der Zigeuner ein verhängnisvoller Augenblick herangekommen. Blind und toll vor Wut schlug der zweite Wolf seine Zähne in das Fleisch des Bären, ihn zugleich mit den Krallen packend – Ruffs Kehle färbte sich rot, Blutstropfen drangen hervor. Das gewaltige Tier brüllte, es ließ in unerträglichem Schmerz den Widersacher fahren.
   Dieser Gruppe zunächst stand Onnen. Ganz der Eingebung des Augenblicks folgend, sprang er federleicht vom Sitzbrett des Wagens über die gekreuzten Sensen und ließ mit aller Macht, deren seine jungen kräftigen Arme fähig waren, den Kolben der Büchse auf des Wolfes Schädel niederfallen. Auch einen Ochsen hätte dieser von der äußersten leidenschaftlichen Erregung geführte Schlag zu Boden strecken müssen, wieviel mehr also nicht den Wolf, dessen Kopf buchstäblich gespalten wurde. Ruff konnte jetzt, alle seine überlegene Gewalt dem einen noch gebliebenen Gegner zuwenden; im nächsten Augenblick hatte er ihm die Kehle durchbissen.
   Die Menschen sahen einander an, stumm, schwindelnd, halb betäubt. An einem einzigen Haare hing über ihren Köpfen das Verderben; noch eine halbe Minute und alle Hilfe von Freundeshand wäre zu spät gekommen.
   Mikosch untersuchte die Kehle seines Lieblings. Vier Zähne waren eingedrungen, aber nicht sonderlich tief, da das dichte Fell kräftig widerstanden hatte; Ruff konnte sich bei einiger Pflege von dieser Verwundung sehr bald wieder erholen – der Zigeuner gab ihm alle möglichen Schmeichelnamen, er sah mit blitzenden Augen zu dem jungen Deutschen hinüber. »Das vergesse ich dir nie, Herr, du hast meinen Bären vom Tode errettet!«
   Onnen lachte. »Im Gegenteil, Mikosch, du und dein Tier, ihr kamt für uns gerade zur rechten Zeit! Hörtest du die Notglocke?«
   Der Alte nickte. »Ich war euch mit dem Bären schon ein gutes Stück Weges entgegengegangen«, versetzte er. »Mir lief eine schwarze Spinne über die Hand, das bedeutet allemal Böses, und da dachte ich denn natürlich zunächst an euch!«
   »Eine schwarze Spinne, Mikosch?«
   »Sicherlich!« rief Feiko. »Weshalb sollte denn der liebe Gott nicht neben allen übrigen Geschöpfen auch einmal dies als Boten benutzen? – Du nahmst dem Bären Kette und Maulkorb ab, Alter, und machtest dich auf den Weg?«
   »Ganz gewiß, Kinder. Hab‘ ja so manche Wolfshetze mit angesehen, bin so oft selbst nahe am Rande des Verderbens gewesen – da wird man vorsichtig.«
   »Und nun seht dorthin«, fügte er bei. »Die ganze Dorfschaft ist ausgerückt, um euch von den Bestien zu befreien.«
   Auf zwei raschen eingeborenen Pferden näherten sich, allen voraus, Jasko und Luiz, dann kamen die Bauern aus beiden Dörfern zu Wagen und zu Fuß, alle bewaffnet, alle voll Kampflust, die nun freilich ohne Anwendung verrauchen mußte. Das belagerte Dorf war erlöst, die Eingeschlossenen konnten sich wieder frei bewegen und der Jubel kannte keine Grenzen.
   Nachdem Mikosch die Pferde untersucht und im Verein mit mehreren älteren Bauern für unbeschädigt erklärt hatte, wurden einige junge Leute in das Dorf zurückgeschickt, um sie langsam zum Stalle zu führen, die übrige Gesellschaft dagegen zog mit fünf oder sechs Wagen zum zweiten Male aus, um die Kadaver der erschossenen Wölfe einzusammeln, teils der wertvollen Felle wegen, teils weil das Fleisch und das eingetrocknete Blut verscharrt werden mußten, damit nicht etwa der scharfe Geruch anderweitige unliebsame Gäste dieser Sippe herbeiladen möge.
   Reihenweise lagen an der Landstraße die gelben Gesellen mit zerschmettertem Schädel oder durchschossener Brust, manche längst erstarrt, manche noch zuckend, als sie den Gnadenstoß erhielten, um dann abgezogen und an Ort und Stelle verscharrt zu werden. Die Kugeln hatten furchtbar aufgeräumt, beinahe dreißig Wölfe waren erschlagen.
   Wie Sieger vom Schlachtfelde kehrten die Bauern in das Dorf zurück, jubelnd empfangen und mit dem Besten bewirtet, was Küche und Keller hergaben. Auch aus der belagerten Ortschaft kamen die Leute, um zu danken; es floß Branntwein in Strömen, und erst spät nach Einbruch der Nacht trennten sich die Festteilnehmer.
   Früh am nächsten Morgen schickte der Dorfälteste den Deutschen einen Boten und ließ sie auf den Abend zu sich einladen; es sollte, wie der Mann sagte, nochmals eine Wolfsjagd stattfinden, aber anderer Art natürlich.
   »Es ist noch eine von den Bestien zurückgeblieben«, erklärte Mikosch. »Die fängt man dann im Fuchseisen.«
   Unsere Freunde gingen in Alexeis Begleitung hinüber und fanden die Bauern eifrig beschäftigt, ihre Jagd einzuleiten. Eng gedrängt standen die hölzernen Hütten beieinander, alle ohne Gärten oder irgendwelche Beete, aber umgeben von weiten Scheunen, die das Vieh, Wintervorräte und Aussaat enthielten, ebenso die Ackergeräte, obwohl das bebaute Feld kaum der Rede wert schien. Diese, die Wirtschaftsgebäude, kehrten ihre glatte Rückseite ohne Türen oder Fenster den Steinbrüchen entgegen.
   Auf dem Dache einer Scheune stand ein Bauer und lockerte die Bretter, so daß dieselben durch einen einzigen Griff zu beseitigen waren, dann zogen mehrere Männer einen Ackerwagen in den Steinbruch hinaus und schoben ihn unmittelbar unter die Wand des Gebäudes. Als die Dämmerung herabsank, legten sie in die Scheune, gerade unter das Loch im Dache ein an allen vier Füßen gebundenes, stark blökendes Lamm. Die übrige Herde, lauter Schafe, gingen frei im Stall umher, nur von dem Mittelpunkte durch einige ausgespannte Seile getrennt. Hier lagen, versteckt unter Stroh, die Fuchseisen.
   Die Schafe waren unruhig, sie liefen durcheinander und drückten sich ängstlich in die Ecken. Der Bock stieß mehrere Male heftig mit dem Kopfe gegen die Mauer, als wollte er seiner gereizten Stimmung Ausdruck verleihen.
   Heller Mondschein glänzte vom Himmel herab. Draußen tanzten die ersten Flocken aus klarer Luft einzeln über das schweigende Dorf dahin; in einer nahegelegenen Scheune beobachteten unsere Freunde die Dinge, welche da kommen würden.
   »Ein Wolf ist nur noch übrig geblieben«, hatte der Dorfälteste gesagt. »Eine große, ausgehungerte Bestie, die uns sogleich ihre Kameraden wieder hierherzieht; wir müssen sie schleunigst zu töten suchen.«
   So warteten denn eine ganze Menge Bauern mit den Deutschen, alle wohlbewaffnet, auf das Erscheinen des Räubers. Sämtliche Schäferhunde waren an Ketten gelegt und den Dorfbewohnern anbefohlen, sich hinter verschlossenen Türen zu halten; der Wolf sollte zum Angriff ermutigt werden.
   »Nach wenigen Tagen würde wieder ein ganzes Rudel vorhanden sein«, sagte Kasimir Strakosch. »Wir müssen ihm unbedingt den Garaus machen«
   Ein tiefes Schweigen beherrschte die Versammlung; außer dem angstvollen Blöken der Herde drang kein Laut durch die Stille der Nacht. Zuweilen zog eine Wolke über das Sternengeflimmer da oben, dann fielen die sechseckigen Flocken und der Wind fuhr mit plötzlichem Rauschen in die kahlen Baumwipfel, später eine um so drückendere Ruhe zurücklassend.
   Da erschien über dem Rande des niederen Daches eine spitze Schnauze. Isegrim war auf den Wagen gesprungen und besah sich die Gelegenheit.
   Alle Schafe blökten, alle Hunde bellten, das gefesselte Lamm schrie herzzerreißend. Kasimir Strakosch hob wie beschwörend die Hand. »Keinen Laut, Freunde! Wenn uns der Wolf bemerkt, so nimmt er Reißaus.«
   Mehrere Pferde in der Nachbarschaft rissen an ihren Halftern und wieherten heftig, die Hunde bellten in unbezähmbarer Jagdlust, Isegrim horchte.
   Dann hob sich der langgestreckte Leib den Vordertatzen nach. Das Tier stand auf dem Dache, es schnupperte, prüfte die Festigkeit der Schindeln.
   Eine derselben fiel mit lautem Geräusch zu Boden. Aus dem offenen Stalle drang warmer Geruch hervor und dem lüsternen Räuber gerade in die Nase – er vergaß, umnebelt von heftiger Begierde, die nötige Vorsicht und riß gewaltsam alle losen Bretter hinweg. Mit einem gewaltigen Sprung erreichte er den Stall und die ersehnte Beute.
   »Hurra!« schrie Kasimir Strakosch, »den hätten wir.«
   Ein Jammergeschrei schien seine Worte zu bestätigen. Isegrim saß mit beiden Vorderfüßen in den Eisen, aus denen er nicht wieder loskommen sollte; als die Männer den Stall betraten, riß er so verzweifelt an seinen Fesseln, daß das Blut herabrann, aber ganz umsonst, die Bauern erschlugen ihn an Ort und Stelle mit großen hölzernen Keulen, die sich eigens zu diesem Zweck in einer Ecke vorfanden.
   Es war kein Schaf beschädigt; der Räuber hatte das arme, als Lockspeise dienende Lämmchen nicht mehr erreichen können. Onnen löste mitleidig seine Bande und trug das zitternde Tier in die entfernteste Ecke, wohin ihm das Mutterschaf sogleich folgte, um »Baby« trinken zu lassen und ihm durch die eigene vertraute Nähe einigermaßen seine verlorene Zuversicht wieder zurückzugeben.
   »Im Augenblick sind wir nun von den Wölfen befreit«, seufzte der Dorfälteste, »aber auf wie lange? Es gibt einen strengen Winter; da werden wir also noch manche Belagerung aushalten müssen.«
   »Wiederholen sich denn diese Vorgänge alljährlich?«
   »Immer. Der Landmann kennt keinen Winter, in dem nicht die Wölfe versucht hätten, sogar sein Haus zu stürmen und womöglich das Kind aus der Wiege zu stehlen.«
   »Und das sagt Ihr so ruhig, als könnte es gar nicht anders sein?«
   »Das kann es auch wirklich nicht. Viele Geschlechter mögen noch geboren und wieder begraben werden, ehe die Wölfe aus unseren Dörfern verdrängt sind!«
   »Das ist ja schrecklich! – Komm, Feiko, laß uns eilen; die Bestien lungern vielleicht in der nächsten Nähe.«
   »Aber sie greifen bis jetzt keine erwachsene Person tätlich an, das heißt, wenn dieselben zu Fuß gehen; den Wagen laufen sie nach.«
   Eine Anzahl Fackeln wurde herbeigebracht, noch einmal ging die Branntweinflasche von Hand zu Hand, dann verabschiedeten sich die Deutschen, um das Dorf, in dem sie augenblicklich wohnten, wieder zu erreichen.
   Unter den Füßen knisterten die Flocken, schwarze blattleere Zweige rauschten im Wind. Hie und da strich ein Häschen, lüstern nach den Kohlfeldern der Bauern, eilig über den Weg, während Scharen von Krähen und Raben aus den Höfen aufflogen, wo sie die Küchenabfälle durchwühlt und alles Genießbare gierig verschlungen hatten.
   Wie schnell war auf den glühenden Sommer der kalte Herbst gefolgt. Unter sengender Sonne verbrannte Smolensk – und schon jetzt, so kurz danach, wirbelten wenigstens hier oben in den Bergen Eisnadeln durch die Luft.
   Alles so kirchenstill und friedlich, so das Bild vollkommenster ländlicher Ruhe – und doch donnerten unten in den Ebenen des Landes die Geschütze, doch zog die Furie des Krieges in blutrotem Mantel durch alle Gaue und trieb Angst und Schrecken millionenfach vor sich her.
   Was mochte geschehen sein seit den Tagen von Smolensk?
   Ein Licht bewegte sich zwischen den Bäumen, dunkle verhüllte Gestalten trugen einen schweren Gegenstand hinaus in den Wald; leiser Gesang erscholl von dem düsteren Zuge her.
   »Was bedeutet das, Alexei?«
   »Raskolnijken sind‘s!« erklärte der Zigeuner. »Altgläubige, die weder den Kaiser noch die Kirche, weder das Gesetz noch die Familie anerkennen. Sie leben, ihrem Gelübde nach, als Nomaden und dürfen nicht innerhalb geschlossener Wände sterben.«
   »Deshalb tragen die Männer dort einen Kranken hinaus in den schaurigen blätterlosen Wald zu den wilden Tieren?«
   »Ja. Es ist der alte Michailow, er war schon lange krank und hinfällig.«
   »Herr des Himmels, welcher Unfug!«
   Die Deutschen waren jetzt dem Zuge ganz nahe gekommen. Männer mit langen Mönchsgewändern und dichtanschließenden Kapuzen von gleichem Stoffe, alle ein Kreuz in den Händen, folgten der Bahre; mehr als fünfzig ältere Leute, offenbar aus der Umgebung des Dorfes hierher berufen, um den Glaubensbruder in ihrer Mitte sterben zu lassen. Jeder Mann trug ein Öllämpchen, keiner nahm von den Zigeunern irgendeine Notiz.
   Als der Zug vorüber war, schlossen sich die Gebüsche. Der Wald hatte sein Opfer empfangen, um es nicht wieder zurückzugeben. »Und wenn nun der Kranke noch bis morgen, ja wenn er noch Tage lebt, Alexei? Was geschieht dann?«
   »Die Raskolnijken halten bei ihm aus, und erst wenn sie den Genossen begraben haben, zerstreuen sie sich wieder nach allen Himmelsrichtungen.«
   »Um zu vagabundieren, zu betteln?«
   »O, durchaus nicht. Meistens sind die Leute Holzfäller, oder sie leben, solange es das Wetter erlaubt, als Einsiedler in der Nähe von Klöstern und flüchten erst bei dem Eintritt der Kälte in die bewohnten Dörfer.«
   »Michailow handelte mit Holzschuhen, die er im Sommer schnitzte«, fügte Jasko hinzu.
   »Und jetzt kämpft er den letzten Kampf auf eisiger Erde, ohne Kopfkissen, ohne Decke – wie traurig!«
   Feiko schüttelte sich. »Ich habe in den letzten drei Jahren keinen nordischen Winter mehr gesehen“, sagte er, „dieser Ostwind behagt mir nicht ganz.«
   Alexei lachte. »Das hier nennst du also den Winter, Herr? Wie wird dir‘s ergehen, wenn er erst wirklich hereinbricht?«
   »Dann sind wir hoffentlich nicht mehr in Rußland! Vorwärts, vorwärts, ich sehne mich nach einem tüchtigen Feuer und wärmenden Decken.«
   Der Wind pfiff um die Hütten, alle Fenster waren dunkel, nur aus dem des alten Zigeuners glänzte noch schwacher Lichtschein. Mikosch lag mit gestütztem Kopfe und sah in die Flamme, neben ihm kauerte auf dem Stroh der Bär.
   Eine wohltätige Wärme drang den jungen Leuten entgegen. Sie schliefen nach der Anstrengung der letzten Tage doppelt tief und nahmen dann etwas später von ihren freundlichen Wirten den letzten Abschied. Mikosch hatte es eilig, nach Moskau zu kommen, er überschlug sogar mehrere Dörfer und beschleunigte, je näher er der Zarenstadt entgegenging, umso mehr seine Schritte.
   In der Ebene herrschte bange Furcht vor den heraufziehenden Ereignissen; alle Leute lebten in peinvoller Unruhe. »Er kommt, der Antichrist, er kommt! Wenn ganz Rußland besiegt und niedergeworfen daliegt, dann bricht der jüngste Tag herein!«
   »Moskau soll nicht verteidigt werden«, meinten einige. »Der Räuber findet es offen und leer, er mag einziehen, wann er will.« Die große Schlacht bei Borodino war geschlagen und das Volk tief entmutigt. »Gott hat Rußland verlassen«, sagten alle Leute. Noch war bis hierher kein Franzose vorgedrungen, aber dennoch herrschten die Schrecken des Krieges. Flüchtige verließen ihre Häuser, Wertsachen wurden vergraben, Viehherden weggetrieben, Kähne und Fuhrwerke beladen.
   An russischem Militär fand sich nichts mehr vor. Um Moskau sollte nach des Kaisers Willen nicht gekämpft werden. Mikosch schien sehr zufrieden. »In der Hauptstadt machen wir gute Geschäfte«, erklärte er. »Vielleicht wird Moskau unser Winterquartier.«
   »So daß wir erst im Frühling nach Deutschland zurückkämen?« Der Zigeuner zuckte die Achseln. »Um einige Monate darf nicht gerechnet werden, Kinder. Ich muß Geld verdienen, um eine große Familie zu ernähren und habe dafür gerade jetzt eine günstige Gelegenheit – was euch betrifft, so seid ihr hier in Rußland vollkommen sicher, in Deutschland dagegen würde man euch erkennen und als Deserteure behandeln.«
   »Mikosch hat recht!« rief Georg. »Wir sind ihm zu größtem Danke verpflichtet.«
   Feiko schwieg. Seine Sehnsucht nach dem Meere verließ ihn nicht, aber er sah ein, daß sie jetzt unerfüllbar sei; mit heimlichem Seufzer bestieg er den Wagen des Zigeuners und teilte gleich den beiden anderen die Mahlzeiten, welche den wandernden Bärenführern und Bettelmusikanten von gutmütigen Menschen geschenkt wurden.
   Niemand tanzte mehr, wenn die Geigen der Zigeuner so süß und lockend erklangen, niemand brachte zerbrochenes Geschirr oder kranke Tiere, aber die weinenden Frauen öffneten bereitwillig ihre Speiseschränke und ließen die Söhne des braunen Volkes im Winkel der Isba schlafen. Es war ja eine traurige Zeit – vielleicht galt es schon über ein kleines, unter den Streichen der Feinde zu erliegen und vor Gottes Thron zu erscheinen; da hatte man denn an den armen Zigeunern vorher ein gutes Werk getan.
   Nach mehreren Tagen war der Berg des Heils erreicht und von seiner Höhe herab sahen die Reisenden Moskau im Tale zu ihren Füßen daliegen. Helle, kalte Luft wogte um die zahllosen Türme und Kuppeln, um Schlösser und Kirchen; helle, kalte Luft zeigte die Riesenstadt im ganzen Schmucke ihrer unvergleichlichen, morgenländischen Pracht. Aber neben dem blendenden Glanze des Reichtums und der Schönheit erregte auch ein anderer Anblick das Gefühl der Trauer, der Beklemmung. In langen Zügen verließen mit hochbeladenen Wagen die Einwohner ihre Heimat; man flüchtete und ließ hinter sich die Öde zurück, jene Reihen stolzer Paläste und altehrwürdiger Kaufmannshäuser, die dazu bestimmt waren, wenige Wochen später als lodernde Riesenfackeln den ewig denkwürdigen und schmachvollen Rückzug Napoleons aus dem nie wirklich bezwungenen Rußland grell und schrecklich zu beleuchten.


   14

   In tiefer Totenstille lagen die Straßen. Leere Fenster zeigten, daß alle Häuser verlassen waren, daß Handel und Geschäft ruhten, daß man den Wert in jeder Gestalt beizeiten versteckt hatte. Wer Vermögen genug besaß, um in das Innere des weiten Reiches oder in ein fremdes Land zu entkommen, der hatte längst die Heimat verlassen; wer ein Geschäft führte, der schloß es, wer ein Amt verwaltete, der ging müßig, weil in der allgemeinen Verwirrung und Not auch die bürgerlichen Gesetze ihre Bedeutung mehr und mehr verloren.
   Nur jene Armen, die durch den Mangel an Geld oder Freunden in der bedrohten Stadt zurückgehalten wurden, die ganz Hilflosen gingen mit bleichen Gesichtern umher. Zu verdienen gab es nichts mehr, fast alle Läden und Werkstätten waren geschlossen, kein Trödler kaufte die ärmlichen Einrichtungsstücke, keine milde Hand öffnete sich den Bedrängten. An den Straßenecken standen angsterfüllte Menschen in Gruppen beieinander; bleiche Lippen flüsterten und baten Gott um Trost, selbst der großstädtische Pöbel verhielt sich schweigend dem allgemeinen Unglück gegenüber. Mikosch hatte mit den seinen eine Herberge bezogen, Ruff lag im Stalle an der Kette, und sein Herr ging aus, um sich die Stadt anzusehen. Noch konnte ja jeder einzelne auf den Straßen frei umhergehen; die Gefahr erschien erst mit dem Einzüge des Feindes in die offene wehrlose Stadt.
   Mikosch wußte offenbar in Moskau ebenso vollständig Bescheid, wie früher in Smolensk und auf den Dörfern. Er wandte sich zu einem der wenigen noch bewohnten Paläste an einer der Hauptstraßen und fragte nach dem Gebieter desselben, dem General Grafen Rostoptschin.
   Anfänglich wurde ihm der Zutritt verweigert, dann aber, nachdem der Diener dem Grafen ein versiegeltes Blatt übergeben hatte, die nachgesuchte Audienz sofort bewilligt. Mikosch blieb über zwei Stunden lang bei dem Kommandanten von Moskau und der Erfolg dieser Unterredung schien für beide Teile ein sehr befriedigender. Der Zigeuner konnte noch am selbigen Abend bei dem Magazinverwalter der kaiserlichen Lebensmittelniederlage eine Karte vorzeigen, laut welcher ihm täglich geliefert werden mußte, was er für sich selbst und die Seinigen an Lebensmitteln notwendig brauchte.
   Branntwein, Tee, Fleisch, Brot, Butter, alles wanderte in die Wohnung unserer Freunde, sehr zum Erstaunen der Deutschen, die nicht begriffen, für welche Dienstleistungen in der dem Hunger preisgegebenen Stadt solche Vorräte als Zahlung geliefert werden konnten. Nachdem ihnen aber der gutmütige Mikosch sogar auch einige blanke Rubel geschenkt hatte, da vermochte Onnen die Neugier nicht länger zu bezwingen.
   »Was leistest du denn hier, Mikosch? Und wem? Wessen Brot ist es, das wir im Augenblick essen?«
   Der Zigeuner hob zwei Finger empor. »Russisches Brot, Herr, ich schwöre es dir. Es ist bei der Sache von Spionage oder Überträgerei keine Rede.«
   »Aber um welche Art von Dienstleistung handelt es sich denn?«
   Der Alte lächelte. »In dieser Nacht wirst du etwas davon sehen, Herr – kannst auch selbst mit Hand anlegen, obwohl ich dich dazu gewiß nicht zwingen, ja nicht einmal ernstlich auffordern will. Geh jetzt und betrachte dir Moskau, amüsiere dich, solange es dazu noch Zeit ist.«
   »Mehr willst du uns also nicht sagen, Mikosch?«
   »Vorläufig nicht, Herr!«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Erratet ihr es ?« fragte er die andern.
   »Wahrhaftig nicht. Aber Luiz sagte, daß der Vater an den General Rostoptschin empfohlen sei – er schien auf große Belohnungen zu hoffen.«
   Feiko sah sehr ärgerlich aus. »Diese Nacht behalte ich die Augen offen«, nickte er. »Der Zigeuner ist ein guter Kerl, ich mag ihn gern, aber über die Ehre hat er so seine eigenen Ansichten. Wir müssen ihm auf die Finger sehen,«
   Nach dieser Unterredung versorgten sich die drei mit großen Fleischbutterbroten und einer Anzahl Äpfel, dann begannen sie, den Proviant in den Taschen, ihre Wanderung nach dem Kreml, dem innersten, ältesten Teil der Stadt, dessen wundervolle Fürstenschlösser und Kirchen längst schon ihre Neugier erregt hatten. Einige wenige Wachtposten standen in den Straßen, öde und leer lagen die Paläste des Kreml, nur in den Kirchen herrschte ein reges Leben. Orgelklang tönte hervor, Prozessionen von Geistlichen bewegten sich durch die Gassen, tief verschleierte Frauen eilten in die Gotteshäuser.
   So großartige Pracht, so verschwenderischen Luxus der Ausstattung hatten die drei nie gesehen. Fahnen und Symbole, Gemälde, wundervolle Bildhauer– und Goldschmiedearbeiten, alles blendete förmlich den Blick. Andächtig knieten die Beter, Weihrauch durchzog den heiligen Raum, leise erklang das Glockenspiel der Monstranz.
   Weiter, immer weiter von einem Palast, einem Gotteshause zum ändern, bis die Sinne ermüdeten und nach Abwechslung verlangten. Da lag der Moskwafluß mit Kähnen und Fahrzeugen beladen; Wagen voll Waren oder Hausgerät wurden unaufhörlich an die Landungstreppen gebracht und in die Schiffe entleert – hier flüchtete man die Wiege mit dem Säugling, dort Zuckerhüte oder Weinfässer, an dritter Stelle Samt und Seide, Silber und Edelsteine in goldener Fassung. Müßige, frierende und hungernde Menschen standen dabei, aber es wurde nichts gestohlen, denn in ganz Moskau lebte kein Mensch, der sein Geld gebraucht hätte, um Waren zu kaufen.
   Wer noch einige Rubel besaß, der nähte sie in seine Kleider, fest entschlossen, den Schatz mit dem Leben selbst zu verteidigen.
   Unsere drei Freunde setzten sich auf die Stufen einer Kirchentreppe, um im spärlichen Sonnenschein erst einmal das mitgebrachte Vesperbrot zu verzehren. Sehr anständig war das allerdings nicht, aber man befand sich im fremden Lande und zudem knurrte der Magen. Nichts schärft das Verlangen nach Speise und Trank so sehr wie ein zielloses Umherwandern, bei dem der Geist fortwährend neue Nahrung in sich aufnimmt und alle Sinne zugleich beschäftigt. Die Fleischbutterbrote wurden in Angriff genommen, als sei diese Mahlzeit nach vierundzwanzigstündigem Fasten die erste.
   »Sieh doch da drüben den Knaben«, flüsterte Onnen, »gewiß hungert ihn sehr. Er beobachtet uns unausgesetzt, auch in diesem Augenblick.«
   An den Stufen eines Denkmals lehnte ein schlanker Knabe von etwa fünfzehn Jahren. Er war ärmlich, aber sauber gekleidet und schien sehr blaß, die großen blauen Augen lagen tief in den Höhlen, die ganze Gestalt schauerte unter den Stößen des kalten Ostwindes. Georg Wessel hob ein Stück Brot empor und zeigte es dem Unbekannten. »Komm her, Freund, du kannst mitessen!«
   Der Knabe schrak auf. Er schien sich hastig abwenden und davonlaufen zu wollen, dann aber zögerte er, blieb stehen und kam endlich näher, offenbar unwiderstehlich angezogen von der Aussicht auf das ihm gebotene Stück Brot. Heiße Gluten überströmten sein blasses Gesicht, als er sich den Treppenstufen und damit den drei jungen Leuten näherte.
   »Wie hübsch er ist!« flüsterte Onnen.
   Der Fremde sah plötzlich auf. »O!« rief er, »Sie sind Deutsche?«
   »Gewiß. Und du auch, armer Schelm?«
   »Still!« flüsterte der Fremde, »still! Die Deutschen sind hier im Augenblick sehr schlecht angeschrieben, das wissen Sie doch?«
   Feiko Hansen machte ihm neben sich Platz auf den Steinstufen. »Iß erst einmal, mein Junge«, sagte er gutmütig. »Da hast du Brot und Fleisch und zwei Äpfel. So, wenn jetzt jemand kommt, dem unsere liebe deutsche Sprache nicht behagt, dann geben wir ihm deutsche Ohrfeigen, nicht wahr, ihr andern?«
   Sie lachten und Onnen wollte eben den Fremden mit sanftem Zwange auf die Steinstufen herabziehen, als dieser leise den Kopf schüttelte und die erhaltenen Lebensmittel unter neuem glühenden Erröten in die Tasche steckte. »Ich nehme das nicht für mich«, sagte er stammelnd, »gewiß nicht – aber da ist meine arme alte Mutter und das kleine Schwesterchen!«,
   Er kämpfte sichtlich mit den hervorbrechenden Tränen. »Sie haben schon seit gestern nichts mehr gegessen«, setzte er kaum verständlich hinzu.
   »Dann laufe! Laufe!«
   Und alle drei beluden ihn sogleich mit ihren noch übrigen Vorräten. »Wohnst du weit von hier?« rief Onnen.
   »Nur zehn Minuten, Herr!«
   »Dann komm zu uns zurück. Willst du das?«
   »Gewiß! Gewiß! – O, ich danke Ihnen tausendmal!«
   Er stürmte fort, als trügen ihn Flügel. In wenigen Augenblicken hatten die Zurückgebliebenen seine schlanke Gestalt aus den Augen verloren.
   »Wenn er dankbar und ehrlich ist, dann wird er wiederkommen, nicht wahr, Feiko?«
   »Ja – wenn, Vetterchen. Aber man darf in dieser Beziehung nicht zuviel erwarten.«
   »Ich glaube es – er hatte ein so gutes Auge.«
   Sie tranken noch verstohlen, einer hinter dem Rücken des anderen, den Schluck Branntwein, welchen ihnen Mikosch aufgeschwatzt hatte, und gingen dann die Straße hinab, dem Fremden entgegen. Er kam schon vollen Laufes daher, sein Gesicht glänzte vor Vergnügen.
   »Ach, wie sich die kleine Marie über die Äpfel freute!« rief er, »wie sie hineinbiß!«
   »Wie alt ist dein Schwesterchen?« lächelte Onnen.
   »Sechs Jahre, Herr! Ach, es ergeht der Mutter so traurig; sie ist Witwe und ernährt sich als Wäscherin; aber seit alle Deutschen verschickt wurden, fehlt es ihr an Arbeit. In Moskau sind nur wenige Damen zurückgeblieben und diese geben einer Deutschen nichts zu verdienen – auch das Kontor, wo ich arbeitete, ist geschlossen.«
   »Wie heißt du denn?« fragte Onnen.
   »Otto Müller. Vater war Steuermann; er ist auf hoher See gestorben und ließ uns ohne alle Mittel zurück.«
   »Ich sage das«, fügte er bei, »um Ihnen zu beweisen, daß ich kein Bettler bin. Alles wollte ich arbeiten, alles übernehmen, wenn es mir nur möglich wäre, auf ehrliche Weise Geld zu verdienen!«
   »Heute kannst du unser Führer werden«, lächelte Feiko. »Wir möchten Moskau ein wenig genauer kennenlernen und werden dir natürlich deine Mühe bezahlen.«
   »O«, rief Otto, »das haben Sie ja schon getan! Ich zeige Ihnen alles, was Sie zu sehen wünschen.«
   Und so wanderten denn die vier wieder von einem bemerkenswerten Punkte zum anderen, gegenseitig fragend und erzählend, so daß sie schon die besten Freunde geworden waren, als endlich gegen Abend die Ermüdung zum Umkehren zwang.
   »Wo wohnst du?« fragte Onnen den Führer.
   »In der Kreuzgasse.«
   »Wir auch. Das trifft sich ja gut«
   Als sie dann vor dem hohen alten Torweg der Herberge standen, da brauchte doch kein Abschied stattzufinden. In den unteren Räumen wohnten die Gäste des Wirtes, in einer bescheidenen Kammer, die auf den Hof hinausging, eine Treppe hoch die Witwe Müller mit ihren beiden Kindern. Nun entsann sich Otto auch des Bären, den er beim Einzuge gesehen hatte; Mikosch gab gutmütig den Schlüssel zum Stalle und Ruff mußte seine Kunstfertigkeit den neuen Freunden zeigen – selbst Mariechen, so sehr sie sich auch anfangs fürchtete, wurde doch zuletzt vertraulich und legte das rosige Händchen getrost in die furchtbare Tatze des braunen Riesen. Onnen hatte schon von dem Zigeuner das Versprechen erhalten, täglich einige Lebensmittel den armen Leuten hinaufbringen zu dürfen, er begrüßte auch die Witwe in ihrem eigenen Zimmer und verließ die liebenswürdige Familie erst dann, als der Abend in Nacht überging. Mikosch sprach ja heute früh von einer Arbeit, die vor dem anderen Tage beschafft werden sollte!
   »Nimm mich mit!« bat Onnen. »Wohin gehst du?«
   »In mehr als nur ein Haus, Herr. Aber schlafe vorläufig erst einige Stunden – ich wecke dich und deine Genossen zur rechten Zeit.«
   Er selbst legte sich auf das Stroh und schloß die Augen; es blieb also nur übrig, seinem Beispiel zu folgen, obwohl doch der Schlaf nicht kommen wollte. Sobald nur einer der Männer etwas lauter als gewöhnlich atmete, sobald ein Mäuschen durch das Zimmer lief, fuhr Onnen auf und sah umher. Wann endlich würde er Näheres erfahren?
   Die Uhr schlug drei, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Ein trübes Flämmchen erhellte notdürftig das Zimmer, die vier Zigeuner standen, zum Ausgehen gerüstet, am Tisch, auf dem einige Lebensmittel lagen, und jetzt weckte Mikosch auch die Deutschen.
   »Kommt, Kinder, aber versprecht mir, über die ganze Angelegenheit gegen jedermann zu schweigen. Ich habe in dieser Beziehung meinen Eid geleistet!«
   »Und es betrifft keine Spionage, Mikosch?«
   »Nein. Auf mein Wort, nein.«
   Sie folgten alle den vorausschreitenden Zigeunern, und nun wurde ihnen klar, um welche Arbeit es sich handelte. Mikosch besaß einen Hauptschlüssel, der schon in der nächsten Straße eine große braune Tür öffnete; zwei Feuerspritzen standen in dem inneren Räume, Schläuche hingen an den Wänden, Ledereimer, lange Seile und Leitern. Alles das packten schnelle Finger zusammen, vier Männer spannten sich vor die Räder und geräuschlos wie Diebe entführten sie die Rettungsgeräte auf die dunkle ungepflasterte Straße hinaus.
   Feiko legte die Hand auf des Zigeuners Schulter. »Soll Moskau in Flammen aufgehen, Alter?«
   Mikosch zuckte die Achseln. »Der Ingrimm aller guten russischen Vaterlandsfreunde gegen die Franzosen ist sehr groß, Herr. Kennst du übrigens das beliebteste hierzulande gebräuchliche Sprichwort? Es heißt: ›Wenn‘s uns nicht gehören kann, dann keinem!«
   »In diesem Falle finde ich es begreiflich. Von Riga bis Moskau hinterläßt der Verächter alles Rechtes und alles menschlichen Fühlens eine einzige Flammen– und Blutspur, er, der schon in Deutschland brave Männer ermordete, nur weil sie einige Pfunde Kaffee eingeschmuggelt hatten!«
   »Still! Still!« warnte der Zigeuner. »Man braucht vertraute Leute zur Ausführung solcher Aufträge, aber man liebt es nicht, daß sie viel flüstern. Dort der Mann in blauer Bluse ist ein hochgestellter Offizier, er überwacht die Sache.«
   Das Spritzenhaus wurde sorgfältig wieder geschlossen; ohne Licht oder Pferde, vollkommen geräuschlos, fuhren unsere Freunde die Spritze mit den Rettungsgeräten hinaus in die Nacht. Schon sehr bald begegneten ihnen andere ähnliche Züge; in jeder Straße rollten die Räder, überall zogen schweigende Gestalten die Wagen mit den Löschvorrichtungen hinter sich her, während Invaliden von Witebsk und Smolensk als Bewaffnete die Arbeiter geleiteten und hie und da ein Blusenmann aus dem Dunkel auftauchte, um zu zählen und zu notieren.
   Neunundachtzig Feuerspritzen wurden während dieser Nacht von vertrauten Leuten aus Moskau entführt.
   Vor dem der Straße nach Smolensk entgegengesetzten Tore trafen alle Verschworenen zusammen. Hier wartete eine Anzahl Pferde; die bisher von Menschen vollbrachte Arbeit wurde von diesen übernommen und fort ging es, zur Stadt hinaus. Etwa eine Meile weiter fanden sämtliche Löschgerätschaften in einem Walde ein sicheres, den Franzosen vorläufig gut verborgenes Asyl.
   Einer der Blusenmänner hielt eine kurze Anrede. »Ich danke euch, Kinder«, sagte er, »das Vaterland dankt euch! – Die Feuerspritzen sind entfernt worden, ohne durch diese Maßregel einen Auflauf zu erregen oder die Bürger unnötig zu erschrecken. Moskau soll lieber in Feuer aufgehen als den Feinden zur Zufluchtsstätte, zum Winterquartier dienen. Der Anfang dazu ist gemacht«
   Mikosch drängte sich an Onnens Seite. »Das ist der General, Graf Rostoptschin!« raunte er.
   »Und in seinem Auftrage soll —«
   »Still! Man muß nie laut denken.«
   Der Rückweg zur Stadt wurde angetreten. Schweigend, in tiefem Dunkel zog die ganze große Schar des Weges, Zigeuner, Invaliden, langbärtige Juden, Offiziere und sogar entlassene Verbrecher, denen im Angesichte des Feindes die Freiheit geschenkt worden war, die aber dafür dem Vaterlande gewisse Dienste leisten mußten und auch wirklich mit der größten Opferwilligkeit leisteten.
   Am Tore harrte eine angstvoll blickende Menge. Hie und da hatten unberufene Blicke einiges erspäht, anderes erraten, hie und da war ein Flüstern entstanden. »Sie kommen!« ging es von Mund zu Mund, »sie kommen!«
   Einige Weiber schluchzten, andere warfen sich den Offizieren zu Füßen. »Ist es denn wahr, was die Leute sagen, daß morgen der Feind einzieht? Und sollen wir alle elendig verbrennen?«
   »Seid ruhig!« gebot mit starker Stimme der General. »Geht nach Hause, ihr guten Leute, schickt euch in die schwere Zeit und seid ganz sicher, daß alles nur Mögliche zu eurem Besten geschehen wird. Gott und der Zar wachen über euch!«
   »Aber es heißt, daß Graf Rostoptschin abreisen wird! Dann ist die Stadt ohne Schutz.«
   Niemand kannte den verkleideten General, aber die Macht seiner Rede beruhigte das Volk. »Geht nach Hause, Kinder«, gebot er, »geht und fragt nicht nach Dingen, die bis jetzt unentschieden sind. Wenn der General mit den letzten noch vorhandenen Truppen Moskau verläßt, so weicht er der Notwendigkeit – und gegen diese läßt sich nicht streiten.«
   Die armen Leute verstummten, aber sie waren nicht getröstet; ein düsterer Groll, eine Art von Verzweiflung hatte die Herzen erfaßt. Viele, viele wurden in diesen Stunden äußerster Angst und Unruhe zu Selbstmördern, viele verfielen in Irrsinn.
   Auch unsere Freunde waren tief erschüttert. Sie gedachten des Tages, wo die Franzosen auf Norderney ihren Einzug hielten, wo die Besitztümer der Einwohner verbrannt und geraubt, ihre Häuser durchspäht und sie selbst geknechtet wurden – des letzten schrecklichen Tages, wo man alle jungen Leute aus den Betten riß und sie gewaltsam entführte, dem Kriege, dem sicheren Tode entgegen. Sie schliefen nur wenig, ihre Seelen waren zu sehr erregt; am frühen Morgen begann dann eine neue Arbeit, die unter dem Schütze bewaffneter Soldaten ausgeführt wurde und durch ihre Gewaltsamkeit unter dem großen Haufen eine immer stärkere, wachsende Erbitterung hervorrief.
   Lange Züge von Wagen aller Art brachten an das Ufer des Moskwaflusses die in der ganzen Stadt befindlichen Fässer mit Spiritus und Branntwein. Haufen um Haufen stapelte sich, ein berauschender Duft durchzog die Umgebung, flehend erhoben halb verhungerte, frierende Menschen ihre Hände.
   »Soll das alles verschickt werden? Gebt uns ein paar Tropfen, nur wenig, ganz wenig, es ist so bitter kalt und wir haben nichts zu essen!«
   Immer dichter wurde der Knäuel, immer ungestümer das Drängen. »Was wollt ihr denn mit dem Branntwein? Es liegen ja keine Schiffe hier.«
   »Vielleicht soll die Gottesgabe in das Wasser gegossen werden!«
   Ein Geheul der Wut erhob sich ringsumher. »Tausende erfrieren fast, und doch will man den Branntwein verschütten!«
   »Da kommen wieder neue Wagenladungen voll! Eins, zwei, sechs – zehn große Stückfässer!«
   »Nehmt sie! Nehmt sie!«
   Aber die Soldaten versperrten den von Mangel und Furcht halb sinnlosen Leuten energisch den Weg. Die Fässer wurden abgeladen und jetzt begannen einige fünfzig Männer, darunter Mikosch mit den Seinen, die Arbeit. Graf Rostoptschin hatte für dieselbe die zuverlässigsten, nüchternsten Personen ausgesucht – alle geistigen Getränke, aller Spiritus sollte in das Wasser gestürzt werden.
   Die drei Deutschen arbeiteten freiwillig mit. Als das erste Faß, des Bodens beraubt, fiel, übertönte ein Schrei der Wut das Geräusch, welches die Hammerschläge verursachten.
   »Man bestiehlt uns! Man bestiehlt uns!«
   »Es sind Deutsche dabei, ich selbst habe es gehört! Schlagt sie tot, die Hunde, unsere Erzfeinde, schlagt sie tot!«
   »Nein, nein, laßt uns lieber Boote herbeischaffen, weiter flußabwärts liegen mehrere.«
   »Hurra, das ist wahr! Das ist wahr!«
   Der ganze Haufen stürmte fort, nur von einem Gedanken beseelt, den an den erwärmenden, sehnlich herbeigewünschten Branntwein. Einige wenige blieben zurück, außerstande, sich von dem Anblick der Fässer zu trennen, außerstande, den immer mehr um sich greifenden Duft des starken Getränkes wieder aufzugeben, sie scharten sich um den durch Soldaten abgesperrten Raum und bildeten so den Kern einer immer mehr anwachsenden unzufriedenen Menge, die über alles klagte und eiferte, ja sogar mit einer Volksbewaffnung drohte und denen Rache schwor, welche die Stadt an die Franzosen ausliefern wollten.
   Ununterbrochen strömten Spiritus und Rum, alle möglichen feinen Liköre, Branntwein und Kognak in das Wasser hinab. Es rauschte und flutete, Wellen von Schaum schlugen gegen die Ufer – da erschienen unter dem Hurra der Menge mehrere Boote, deren Insassen mit Töpfen und Kannen, ja selbst mit ihren Hüten und Stiefeln das starke Getränk ausschaufelten und gierig verschlangen. Jedes Fahrzeug war bis auf den letzten Platz gefüllt, es lag fast ganz im Wasser und zeigte kaum zwei oder drei Zoll Bordhöhe; auf jedem schlugen sich die betörten Menschen um das erbeutete Naß, mochte dieses auch ein scheußliches Gemisch sein, bei dem das völlig schlammige Flußwasser allein hinreichen konnte, einem anständigen Menschen den Appetit gründlich zu verderben.
   Bis zur Stelle, an der die Fässer ausgeleert wurden, rückten kecklich die Boote vor; man wollte achtgeben, um den Nektar unverfälscht aufzufangen.
   »Spiritus!« rief ein robuster Kerl,; »das ist von Jermolow und Sohn, ich habe selbst die Fässer gebrannt – laßt laufen!«
   Das Fahrzeug schaukelte in die Spritwellen; noch andere Massen folgten nach, dann kam ein starker Kognak an die Reihe.
   »Aufgepaßt!« schrie der Speicherarbeiter. »Das ist etwas Feines!«
   »Schaukelt doch nicht so! Alle Teufel, Peter Askewitsch, willst du wohl endlich stillsitzen!«
   »Hast du mir Befehle zu geben?«
   »Das will ich dir zeigen!«
   Und vier Fäuste wirbelten um die Wette. Rechts und links schlug die Flut in das Boot hinein, jemand wollte Frieden stiften und nun kehrte sich wie gewöhnlich der beiderseitige Groll gegen ihn. Alle Hiebe und Stöße fielen auf seinen Kopf, seine Schultern – schon nach Minuten lag er unter den Füßen der übrigen.
   In diesem Augenblick wurde das Faß mit Kognak ausgeschüttet; die braunen Wogen spritzten um: das Boot – alles trank, trank wie unsinnig, wie von seinem guten Geiste verlassen.
   Noch ein Faß, zwei, drei, noch mehr Boote mit durstigen, verblendeten Menschen. Die entsetzliche Feier hatte ihren Höhepunkt erreicht; Kannen und Flaschen wurden den am Ufer Stehenden zugeworfen, ein Durcheinander von Stimmen erfüllte die Luft, man raufte und schrie, man begehrte mehr, .immer mehr —
   Da nahten von der entgegengesetzten Seite her zwei Boote mit Soldaten. Kommandoworte erschallten; ein Offizier befahl mit lauter Stimme den Leuten, sich sogleich zurückzuziehen. »Fort, oder ich lasse Feuer geben!«
   Die zur äußersten Leidenschaftlichkeit Aufgestachelten antworteten mit einem Hohngelächter. »Den Franzosen entgegenzutreten seid ihr nicht tapfer genug, ihr unnützen Brotfresser; von Witebsk nach Moskau habt ihr euch jagen lassen wie die Hasen, aber auf friedliche Bürger könnt ihr schießen, nicht wahr?«
   »Bohrt die Wahnwitzigen in den Grund!« rief der Offizier. »Vertreibt sie!«
   Die beiden großen Boote begannen die Jagd. Mit den Kolben wurden jene anderen Fahrzeuge vorwärtsgestoßen, mit Rudern und langen Stangen. Nach wenigen Augenblicken wäre der Platz gesäubert gewesen, das erkannten ebensowohl die in den Kähnen als die auf dem Lande Befindlichen; ein allgemeiner Wutschrei, betäubend und gellend, brach los.
   Aus einer Wärterbude hart am Ufer näherte sich laufend ein altes Weib in Lumpen; das rote Gesicht und die triefenden Augen zeigten deutlich jene Verhängnisvolle Leidenschaft für den Branntwein, das eisgraue Haar flatterte im Wind, die dürren braunen Hände hielten einen Rost, auf dem flammende Späne lagen.
   »Da!« rief die Megäre, »wollt ihr uns den Branntwein nicht geben, so soll auch kein anderer Mensch ihn haben!«
   Während sie sprach, schleuderten ihre hexenartigen Krallen das brennende Holz in die Tiefe hinab. Die Flammen faßten den Spiritus, eine ungeheure Lohe schlug empor – der Fluß trieb glühende, knisternde Wellen.
   Ein Schrei des Entsetzens scholl von den Booten. Die Soldaten retteten sich, obwohl versengt und mit blutenden Händen, in freies Fahrwasser, die Insassen der anderen Fahrzeuge dagegen schienen offenbar verloren. Durch die lodernden Flammen schoß Kahn nach Kahn – einer landete, die drei anderen, von Gluten umhüllt, selbst brennend in dem brennenden Flusse, schwanden den Blicken der Zurückgebliebenen. Nur ein Plätschern und Ringen, eine jähe heftige Bewegung der Wellen zeigte die Stelle, wo sie versanken.
   Eine längere Pause folgte dem entsetzlichen Vorgange. Bis alles verglüht war, konnte kein Faß mehr entleert werden; stumm sahen alle die Teilnehmer der traurigen Katastrophe in das erlöschende Feuer hinab, stumm zerstreute sich der Pöbelhaufen am Ufer, als Soldaten anrückten und mit gefälltem Bajonett den Platz säuberten.
   Die erbitterten Menschen wichen der Gewalt, aber sie ballten die Fäuste in den Taschen; eine dumpfe, drohende Stimmung beherrschte die ganze Stadt.
   Mikosch und die Seinigen erhielten Verstärkung; Boote mit bewaffneter Mannschaft besetzten den Fluß, der Platz wurde im weiten Umkreise abgesperrt und vor Abend war der letzte Tropfen Spiritus oder Rum flußabwärts auf meilenweitem Wege dem Ozean entgegengeführt, vernichtet und zerstört.
   Onnen saß wie gewöhnlich bei seinem neuen Freunde, mit dem er jede Mahlzeit teilte. Draußen fegte ein kalter Wind, der Staub schlug gegen die Scheiben; von der benachbarten Nikolosamskajaschen Kirche tönten die Glocken im harmonischen Zusammenspiel feierlich und ernst durch den dunklen Abend. Frau Müller rang heimlich weinend die Hände. »Gott sei uns gnädig«, seufzte sie, »in diesem Augenblick verläßt General Rostoptschin mit den letzten noch gebliebenen Soldaten die Stadt. Jetzt sind die Wachen unbesetzt – der Pöbel regiert.«
   »Dann kommen also jedenfalls morgen die Franzosen!«
   »Es heißt so. Ach, meine armen Kinder, was wird aus euch!«
   Die unglückliche Mutter weinte heftig. Hinter der Mauer, welche den ganzen Hof begrenzte, lag die offene Landstraße und auf dieser sah man Fuhrwerk nach Fuhrwerk davoneilen. Arme Leute gingen zu Fuß, ganze Scharen zogen vorbei, alles, was nur irgend loskommen konnte, flüchtete aus der Stadt ohne Militär oder Behörden; in ganz Moskau gab es an diesem Abend vor dem Einzuge der Franzosen alles in allem keine zehntausend lebenden Seelen.
   Immerfort erklang das Glockenspiel der Kirche. Es war, als riefen die Töne, als lockten sie; Onnen konnte nicht länger widerstehen. »Laß uns hingehen, Otto«, bat er.
   Auch Feiko und Georg standen schon im Flur. Die ganze kleine Gesellschaft begab sich zur Nikolosamskajaschen Kirche, an deren Vorhalle die Truppen in langsamem Schritt vorüberdefilierten.
   Das weite, von Säulen getragene Portal war hell erleuchtet und in der Mitte desselben ein Altar hergerichtet. Von Blumen, Fahnen und zwölf brennenden Wachskerzen umgeben, stand auf letzterem das Bild des heiligen Nikolai und ihm zur Seite eine Gruppe von Priestern im vollen, fürstlich reichen Ornate. Einer derselben hielt das Altarkreuz, der andere den Weihkessel, während zwischen beiden ein Greis von fast achtzig Lebensjahren, der Metropolit Platonow, den Truppen seinen Segen spendete.
   Er besprengte die einzelnen Züge mit Weihwasser, er betete laut zum Himmel für die Errettung Rußlands aus Not und Gefahr. In den Augen ernster, kriegserprobter Männer blitzten Tränen, Offiziere und Soldaten beugten schluchzend ihre Stirnen unter die segnende Hand des Greises.
   Ringsumher irrten verzweifelnde Menschen. Frauen warfen sich den Offizieren zu Füßen und flehten sie an, die Ihrigen mitzunehmen, sie vor dem drohenden Feinde zu beschützen, Mütter wollten mit Gewalt ihre kleinen Kinder den Soldaten in die Arme legen.
   »Seht doch die Unschuldigen, ihr Männer, erbarmt euch ihrer! Seid ihr denn nicht selbst Väter? Seid ihr keine Menschen mehr? Schützt die armen Kleinen vor der Wut der Mörder!«
   »Wohin sollen wir gehen?« jammerten andere. »Welche Straßen sind noch frei? – O mein Gott, mein Gott, ich rufe dich, aber du bleibst taub!«
   »Mit den Soldaten!« schrie jemand, »mit den Soldaten! Sie sind Russen und müssen für ihre Landsleute kämpfen.«
   »Ja, ja, mit den Soldaten!«
   Und der Strom wälzte sich fort in der Richtung des abziehenden Militärs. Ohne Hut oder Mantel, den Einwirkungen des Schreckens blindlings folgend, liefen die Unglücklichen überlegungslos in die Nacht hinaus, gleichviel, wohin sie gelangen würden, gleichviel was ihrer harrte, nur beseelt von dem einen Wunsche, den grausamen, erbarmungslosen Feinden zu entrinnen.
   Ganze Familien hatten auf die Nachricht von dem Abzuge des Militärs hin ihre Wohnungen verlassen, so daß sich nun die einzelnen Glieder getrennt sahen und einander in dem drängenden Treiben der Straßen nicht mehr wiederfinden konnten.
   Kinder suchten ihre Eltern, hier eine Frau den Mann, dort ein Greis den Enkel, der ihn führen sollte; herzzerreißendes Jammern tönte überall, Ohnmächtige lagen auf den Treppenstufen der Häuser, Kranke und Sterbende beteten um Erlösung, Wahnsinnige schrien gellend und voll Todesangst in die Finsternis hinein.
   Ein Weib mit aufgelöstem Haar irrte zitternd umher. Ihr Gesicht war totenblaß, ihre Augen blickten wild und drohend; sie folgte einem nur in ihrer gestörten Phantasie bestehenden Zuge, sie sah Dinge, die sich niemals zugetragen hatten.
   »Da kommt der Napoleon, der Mörder, der Erzfeind! Heisa, jetzt erschlägst du keine unglücklichen Menschen mehr, Tyrann ohne Herz und Gewissen – aus dem Jäger wurde das Wild, das gehetzte!«
   Sie lachte schauerlich. »Alle Furien sind ihm auf den Fersen, in ihren Händen ringeln sich Schlangen! – Ha, ha, ha, er läuft, sie setzen ihm nach bis an den Abgrund! Spring hinein, du Verfluchter! Spring hinein! – Meinen Mann und meine beiden Söhne hast du umgebracht – jetzt schlägt die Stunde der Vergeltung!«
   Sie stürzte vorwärts und andere folgten ihr nach. Ein Getümmel und ein Gewoge bedeckte alle Straßen; solange die Soldaten zu sehen waren, umtobte eine schreiende, wild durcheinanderstürmende Masse jeden ihrer Schritte.
   Dann aber folgte Totenstille. So ohne Schutz, ohne Licht oder die Nähe anderer fühlten die erschreckten Menschen draußen in der schneidenden Kälte ihre Verlassenheit noch stärker als am wärmenden Feuer des eigenen Herdes; sie flüchteten in die eben erst aufgegebenen Häuser zurück und begannen dieselben zu verrammeln, als könne eine Barrikade aus Möbeln und Geräten dem Feinde den Einzug verwehren. Als die Deutschen in das Quartier zurückkamen, sahen sie sämtliche Zigeuner ruhig schlafen, doch fiel es ihnen auf, daß sich keiner entkleidet hatte. »Was kann Mikosch beabsichtigen?« dachte Onnen. »Er will ohne Zweifel noch in dieser Nacht ausgehen!«
   Die beiden anderen zuckten, als er sie fragte, die Achseln. »Laß ihn laufen, wohin er mag! Wir sind todmüde.«
   Sie streckten sich auf das Lager und schliefen sofort ein; Onnen dagegen wachte und beobachtete heimlich; er konnte kein Auge schließen, so gern er auch wollte.
   Gegen ein Uhr nachts regte sich Mikosch und tastete nach der Hand seines neben ihm schlummernden ältesten Sohnes.
   »Jasko!«
   »Ja, ja – ich komme schon.«
   »Laß die Fremden nichts merken, mein Junge. Solch ein jugendliches Gewissen ist oft überzart – sie könnten uns hinderlich werden.«
   »Das dachte ich selbst, Vater.«
   Auch Luiz und Alexei wurden geweckt, dann stahlen sich alle geräuschlos davon, so leise, daß weder Feiko noch Georg erwachten.
   Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sprang Onnen vom Lager auf; sein Herz klopfte schneller, sein Atem flog. Ob die Zigeuner auf– und davongingen, heimlich, um sich ihrer Gäste bei guter Gelegenheit zu entledigen?
   Aber nein, es war undankbar, gegen den gutmütigen Mikosch einen solchen Verdacht in sich auf kommen zu lassen.
   Und doch konnte Onnen nicht mehr schlafen; er versuchte umsonst, die beiden anderen zu erwecken, sie antworteten mit einigem Murmeln und schliefen sofort wieder ein.
   Onnen lief ungeduldig die Treppe hinauf; er rüttelte ganz leise an der Tür der Witwe Müller. »Otto!«
   Sein Freund antwortete ihm zwar nicht, aber er erschien persönlich. »Was gibt es, Onnen? – Die Zigeuner sind alle im Hofe beschäftigt.«
   »Das hast du gehört, Otto?«
   »Gehört und gesehen! Sie hantieren noch bei dem Bären herum.«
   »Willst du mich begleiten?« raunte Onnen. »Ich möchte sehen, wohin sich Mikosch begibt.«
   »Gleich!«
   Nach kaum zwei Minuten erschien er auf dem Flur und beide schlichen hinunter in den Torweg, wo sie sich auf die Lauer legten. »Otto«, flüsterte Onnen, »kannst du dich ohne Licht in Moskau zurechtfinden?«
   »Vollständig. Ich bin seit sechs Jahren hier.«
   »Dann geh mit mir, ich bitte dich.«
   »Das brauchst du nicht erst. An dem Tage, als deine Hand mir das Brot und die Äpfel gab, da – «
   »Ach, sprich doch nicht davon!«
   »Ich muß es, Onnen. Meine Mutter und das kleine Mariechen hungerten; du hast sie gerettet und dadurch bleibe ich, solange ich lebe, dein Schuldner.«
   »Mein Freund willst du sagen, Otto! – Aber still, sie kommen!«
   Die beiden drückten sich in das Dunkel des Treppenaufganges und kamen erst wieder zum Vorschein, als die Zigeuner vorübergegangen waren. »Was trugen die Leute?« raunte Otto. »Sie waren alle vier schwer beladen.«
   »Gott weiß es. Aber Ruff war nicht dabei und den würde Mikosch um keinen Preis im Stiche lassen; sie kommen jedenfalls hierher zurück.«
   »Laß uns ihnen einstweilen folgen«, riet Otto. »Komm, du kannst dich überzeugen, wohin sie gehen und was sie betreiben.«
   Onnen nickte. »Immer zu«, sagte er. »Ja, ja, das ist das beste.«
   Sie schlichen den Männern nach und sahen dieselben in eine Seitenstraße einbiegen. Man näherte sich dem reicheren, eleganteren Viertel; Kirchen und stolze Paläste lagen in erhabener Ruhe da, hohe Eisengitter trennten die Häuser von der Straße, Türen und Erker in morgenländischer Pracht ragten zum Himmel empor.
   Die Zigeuner hielten inne, sie trennten sich und schlichen einzeln in die Türen der dunklen Gebäude, offenbar mit Hauptschlüsseln versehen, welche alle Pforten und Tore öffneten; ihr Aufenthalt dauerte immer nur kurze Zeit, dann kamen sie wieder zum Vorschein und eilten weiter. Mikosch ging in die offene Vorhalle einer Kirche, er machte sich im Hintergrunde derselben zu schaffen und trat dann hinaus auf die Straße, indem er das Gitter offen ließ. Wo die Männer gewesen waren, da blieben hinter ihnen alle Zugänge geöffnet.
   »Laß uns nachsehen«, flüsterte Onnen. »Das begreife doch ein anderer!«
   Sie schlugen mit Stahl und Stein einen Funken, den der bereitgehaltene Zunder auffing, und setzten dann eine kleine Blechlaterne in Brand. Das Gitter wurde geöffnet; uralte steinerne Heilige, Männer und Frauen, standen an den Wänden, eine Sammelbüchse aus Eisen befand sich in der Mitte, rechts und links führten hohe, dunkle Gänge in das Innere der Kirche.
   »Sieh da!« flüsterte Otto, »ich dachte es mir!«
   Hinter einem Heiligenbilde, bedeckt von Spänen und Lumpen lag ein Haufen leicht entzündbarer Stoffe; Schwefel, Teer und Pech, alles mit Spiritus getränkt. Weiterhin waren die Eichentäfelungen dick mit Teer überstrichen; es bedurfte nur eines Funkens, um das Ganze in Brand zu setzen.
   Im Innern der Kirche lagen an mehreren Stellen dieselben Anhäufungen von Zündstoffen – Onnen sah bei dem schwachen Schein der Laterne die wundervolle Bilderpracht ringsumher, den Samt und das Gold der Stickereien; er schauderte.
   »Soll das alles verbrennen, alles in Asche zerfallen? – Wie schrecklich!«
   Otto schüttelte den Kopf, seine jungen Augen blitzten. »Mag ganz Moskau in Flammen aufgehen«, rief er, »wenn nur der Feind unter den Trümmern erschlagen wird!«
   Onnen hob die Laterne. Kristall und Gold glänzten von der Wölbung herab, üppige, wundervolle Schönheit blendete das Auge, wohin es sah. Ein Kreuz aus Elfenbein mit dem dornengekrönten Heiland schmückte den Altar – wie anklagend, unsäglich traurig blickte das Auge des Gottessohnes zum Himmel empor. Ein Lichtstreifen fiel gerade auf das Bild und unten am Boden auf die Zündmassen, welche es vernichten sollten. —
   »Komm fort«, sagte flüsternd unser Freund. »Das ist schrecklich.«
   Draußen war jetzt von den Zigeunern nichts mehr zu entdecken; die beiden jungen Leute gingen noch in einige leerstehende Paläste, wo sie die gleichen Vorbereitungen zu einer allgemeinen Feuersbrunst wieder antrafen, dann wollte Onnen nach Hause zurückkehren, als Otto auf ein hohes altes Gebäude zeigte und leise flüsternd sagte: »Da wohnt mein Brotherr, ein unermeßlich reicher Kaufmann, in dessen Kontor ich arbeitete. Er will die Stadt nicht verlassen!«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Das Haus ist leer, ich wollte darauf wetten – und da kommt Luiz zum Vorschein, er hat Brandstoffe hineingetragen.«
   Der Zigeuner verschwand und die beiden jungen Leute näherten sich der offenen, im Winde klappernden Tür. »Wenn ich wüßte, daß niemand zugegen ist, so würde ich hinaufgehen in den Gesellschaftssaal«, raunte Otto. »Dort steht eine große Spieluhr; ich habe sie einmal angehört!«
   »Wir können es ja versuchen«, antwortete Onnen. »Begegnet uns jemand, so fragen wir nach dem Besitzer und helfen uns irgendwie durch. Aber das Haus ist leer, glaube mir‘s, sonst würden doch die Fenster verhüllt und die Tür geschlossen sein.«
   Sie betraten das Parterre – auf allen Stufen der mit kostbaren Teppichen belegten Treppen fanden sich Teer und Hobelspäne. Im ersten Stock standen sämtliche Türen weit offen, verschiedene Gegenstände lagen am Boden, alles machte den Eindruck, als sei das Haus von den Bewohnern erst kürzlich und in fliegender Hast verlassen worden.
   Onnens Laterne beleuchtete den Gesellschaftssaal mit seinen grau und violetten Samtmöbeln, seinen Kronleuchtern und Wandgemälden – auch hier hatten emsige Hände der Zerstörung vorgearbeitet. Unter den reichen Falten der Vorhänge und Portieren, unter Schränken und Tischen lagen die Späne, ja sogar im Gehäuse der Spieluhr.
   Otto riß Werg und teergetränkte Lumpen mit schnellem Griff heraus. »O, das ist schändlich, du solltest nur die wundervollen Töne hören! Ob ich sie aufziehe, Onnen?«
   »Weshalb nicht? Laß sie ihr Schwanenlied singen; vielleicht steht schon morgen um diese Zeit kein Stein mehr auf dem anderen.« Ottos Hand drehte den Mechanismus; erst leise, dann in gewaltigen Akkorden erklangen die verborgenen Stimmen des Kunstwerkes.
   Es war ein geistliches Lied, dessen Melodien das stille, verlassene Haus durchrauschten, ein Gebet zu dem, dessen Auge alles sieht, dessen Wille die Schicksale der Völker und der einzelnen mit gleicher unbeirrbarer Treue lenkt. Als solle das Räderwerk, ehe es von der Vernichtung ereilt wurde, noch einmal trösten, noch einmal das zagende Herz an Gottes Thron führen, so verklangen im leisen, nur geahnten: »Herr, dein Wille geschehe!« die letzten beiden Töne. Onnen und Otto sahen einander an. Seltsames Gefühl, so in der dunklen windigen Herbstnacht ganz allein im fremden, dem Untergange geweihten Hause, ganz allein in der Stadt, wo es kein Gesetz und keine Behörden mehr gab, niemand, der Recht sprach oder Unrecht verhinderte, wo der Schritt der Zeit gleichsam zögerte und das hereinbrechende furchtbare Unglück seine Schatten voraussandte.
   »Horch!« flüsterte Onnen, »eine Kirchenuhr! Vielleicht ist auch für sie diese Nacht die letzte.«
   »Aber der Turm erschlägt im Fallen eine Schar unserer Feinde – nur einen, einen einzigen! Dafür mag er stürzen.«
   Eine Tür öffnete sich, ein schlaues braunes Gesicht blickte in den Saal. »Mikosch!« rief Onnen, »du bist es!« Der alte Zigeunerhauptmann blinzelte und nickte. »Wolltest du dich überzeugen, wohin wir gegangen waren, Kleiner? Schon gut, schon gut, ich nehme dir‘s wahrhaftig nicht übel, hätte es selbst an deiner Stelle so und nicht anders gemacht.«
   »Kümmert euch um das, was wir vornehmen, gar nicht«, setzte er freundlich hinzu. »Der Eigentümer dieses Hauses ist, als das Militär die Stadt verließ, in der Begleitung desselben fortgegangen, ohne von seinen Sachen irgendetwas mitnehmen zu können. Im Nebenzimmer steht ein gedeckter Tisch. – Speist, was euren Schnäbeln paßt, oder die Herren Franzosen verzehren es morgen.«
   »Sie kommen also wirklich?«
   Der Zigeuner hob den Kopf, sein Auge blitzte, seine geballte Faust schien zu drohen. »Sie kommen«, sagte er, »Oberst Jouffrin kommt!«
   Und immer leise nickend, als bestätige er sich den einmal gefaßten Entschluß, ging Mikosch ohne ein weiteres Wort die Treppen hinab und zum Hause hinaus. Onnen und Otto sahen einander an; der letztere öffnete, auf den Zehen schleichend, die Tür zum Nebenzimmer.
   Eine prächtige Tafel war gedeckt, große Braten prangten in der Mitte, von Weinflaschen, Brot und Früchten umgeben. Die Stühle standen an ihren Plätzen, Servietten in silbernen Bändern lagen auf den Tellern, im Ofen schimmerte noch der verglimmende Rest eines Kohlenfeuers, die ganze Luft war erfüllt von leisem angenehmem Wohlduft.
   »Komm«, rief Onnen, »diese guten Dinge wollen wir deiner Mutter und dem kleinen Mariechen nach Hause bringen!«
   »Meinst du, daß wir es dürfen?«
   Die Augen des Knaben leuchteten vor Freude. »Wenn Mama etwas von diesem Wein trinken würde – ach Onnen, sie ist so krank, so vergrämt, sie weint oft die ganzen Nächte hindurch.«
   Onnen packte mit raschem Griff die Weinflaschen und wickelte sie in eine Serviette. »So, Otto, jetzt nimm du den Braten und das Huhn da. Ich stecke indessen die Trauben zu mir.«
   »Ach Gott – Trauben für Mariechen!«
   »Und eine für Ruff. Er brummt vor Vergnügen, wenn man ihm eine süße Frucht bringt.«
   Sie rafften zusammen, was in Taschen und Servietten hineinging, dann eilten sie schwer bepackt nach Hause. Frau Müller stand schon unruhig wartend an der Treppe, sie zitterte vor Furcht. »Wo seid ihr denn gewesen, ihr bösen Kinder? Ich mußte mich so sehr um euch ängstigen!«
   »Sieh nur, Mütterchen, sieh!«
   Er packte strahlend vor Freude die mitgebrachten Herrlichkeiten auf den Tisch der ärmlichen Kammer, wo solcher Luxus bisher nie geherrscht hatte. »Iß, Mama, iß und trinke, ohne lange zu fragen, woher die Sachen kommen. Gott hat sie uns – dir und dem kleinen Mariechen geschickt!«
   Frau Müller wollte offenbar noch eine weitere Auskunft erlangen, aber ihr Sohn beruhigte sie mit der Erklärung, daß ihm Mikosch diese Dinge geschenkt habe. Es blieb auch keine Zeit zu langen Erörterungen, denn das kleine Mädchen erwachte und setzte sich im Bette aufrecht hin. »O Mama«, rief die unschuldige Stimme, »liebe Mama, ist der Weihnachtsmann gekommen?«
   Onnen legte ihr eine große Traube auf die Decke. »Das hat er für dich gebracht, Mariechen! Freut es dich, Kleine?«
   Und als sie laut aufjubelte, da ließ er mit freundlichem Gutenachtgruß die kleine Familie allein, um in seiner eigenen Kammer die Zigeuner aufzusuchen. Jasko und Luiz schliefen bereits, auch Mikosch kam sehr bald, unruhig erwartet von unserem jungen Freunde, der dem Alten beide Hände auf die Schultern legte und ihn fest ansah.
   »Mikosch, du sagst, daß Oberst Jouffrin morgen nach Moskau kommt! Wohlan, wenn er mich selbst oder einen meiner Genossen erkennen sollte, was würdest du tun?«
   Der Zigeuner lächelte. »Dich verteidigen, Herr, dich retten! Ich schwöre es dir!«
   »Ganz gewiß, Mikosch?«
   »Bei meinem Leben, ja!«
   Onnen drückte ihm die Hand. »Gut, nun bin ich beruhigt. Ich danke dir, Mikosch!«
   »Hat nichts zu sagen, Herr!«
   Sie streckten sich beide auf das Lager und schliefen, indes draußen an den Straßenecken flüsternde Gruppen beieinander standen. Die einen mit geballten Fäusten, Tränen in den Augen und ersticktes Schluchzen im Herzen, die anderen heimlich frohlockend. Morgen kam der Feind, alle Bande der Zucht und Ordnung waren gelockert, alle Gesetze außer Kraft, da winkte die Plünderung, die wohlfeile Beute, bei der es nur Gewinn gab, nur Genuß ohne Arbeit, nur müßiges Schwelgen ohne Anstrengung.
   Langsam durchdrang der junge goldige Morgen das Grau des Aufganges. Rußlands Schreckenstag, der vierzehnte September 1812, brach an.


   15

   Die braune Farbe auf den Gesichtern der drei Deutschen war erneuert worden; Mikosch hatte es sogar verstanden, ihre Haare kohlschwarz zu beizen, und so ausgerüstet wagten sie es, mit den Zigeunern dem Einzuge der Franzosen entgegenzugehen.
   Napoleon selbst, Murat und Davoust sollten in die Dorogomilowsche Barriere einrücken – das wollten sie ansehen.
   Nur Gesindel befand sich hier in der Gegend des äußeren Tores auf den Straßen; vor dem Kreml, der innersten ältesten Stadt, hatten sich fünfhundert Bewaffnete aufgestellt, nicht in dem eigentlichen Gedanken, durch ihre geringe Anzahl dem Eindringen der französischen Armee einen erfolgreichen Widerstand entgegenzusetzen, sondern getrieben von jener bitteren Verzweiflung, die nicht tatenlos bleiben kann, eben weil sie lieber untergehen, als das Gefürchtete, Untragbare ruhig geschehen lassen möchte.
   Aber auch selbst das Gesindel schämte sich im hellen Lichte des Morgens seiner schlimmen nächtlichen Pläne. Stumm, mit zusammengebissenen Zähnen standen die Männer, drohend ballten die Weiber ihre Fäuste.
   »Sie können wohl einziehen, die sauberen Herren Franzosen, die Räuber von Smolensk, aber ob alle, die heute unsere Stadt betreten, später auch mit heiler Haut aus derselben wieder herauskommen – dafür will ich nicht bürgen.«
   »Sie haben es verschuldet, daß sich in ganz Moskau kein Tröpfchen Branntwein mehr befindet!«
   »Hoho! Hoho! Ich allein will wenigstens zehn von diesen Mordgesellen in die Ewigkeit schicken. Man sagt, daß so ein Franzose ein Flederwisch sei, ein Kerlchen, das jeder kräftige Russe auf seinen Armen davonträgt! Ich nehme ein paar von den Schurken und werfe sie in den Moskwafluß, gerade da, wo der Branntwein verschüttet wurde; ihr alle sollt es sehen.«
   Ein Gelächter folgte diesen Worten. »Dann hättest du nach Smolensk gehen und sie dort in die Kolotzscha werfen sollen, langer Peter!«
   Ein Kanonenschuß zerriß plötzlich die Luft; atemlos horchten alle. Die Weiber schrien laut auf, sie rissen ihre Kinder an sich, viele flohen wie sinnlos. »Seht ihr etwas? – Seht ihr etwas?«
   Ein paar halbwüchsige Jungen waren auf die nächsten Bäume geklettert; sie überwachten die Landstraße. »Noch ist alles leer.« Banges Schweigen beherrschte die Gruppen, selbst der lange Peter hatte seine Prahlereien eingestellt, mehr als nur ein Schreier und Großsprecher war in aller Stille verschwunden. Der Kanonenschuß hatte die Wirklichkeit den Leuten nähergerückt, sie fühlten ihre Herzen schlagen und verstummten.
   »Es entstehen große Staubwolken!« riefen die Wächter auf den Bäumen.
   Ein Kreischen antwortete. »Das werden sie sein, die Räuber, das werden sie sein! Heilige Mutter Gottes, stehe uns bei!«
   »Ja, ja, sie sind es, ich sehe die blanken Gewehrläufe!«
   »Und die Pferde! – Einer reitet voraus!«
   »Herrgott! Herrgott, verlasse uns nicht!«
   Jetzt flüchteten auch die Mutigeren. Nur wenige blieben zurück; lang und öde, verlassen von allem Lebenden, dehnte sich die Straße.
   »Mikosch«, flüsterte Onnen, »wenn nun Oberst Jouffrin zufällig unter den ersten wäre!«
   »Dann denkt er sicherlich an anderes als an ein paar deutsche Deserteure. Übrigens ist es lauter Kavallerie, die ich kommen sehe.«
   Allmählich traten die Gestalten der Reiter und ihrer Tiere deutlicher aus den wallenden Staubwolken hervor. Ein unübersehbarer Zug näherte sich der Stadt, Generale in voller Uniform, Offiziere jeder Waffengattung, Fürsten und Marschälle mit prachtvoller, im Sonnenglanze blitzender Ausrüstung. Allen voraus ritt ein breitschultriger, untersetzter Mann mit einem dreieckigen Hute und dem Ordensbande, auf der Brust – Napoleon, der letzte Eroberer, den die Geschichte der zivilisierten Völkerschaften zu verzeichnen hat.
   Er schien auffallend blaß; seine Hand bewegte sich heftig, seine Augen schossen Blitze des Zornes. Langsam näherte er sich dem offenen Tore.
   Beinahe niemand war jetzt noch zugegen. Halbversteckt standen die Zigeuner und außer ihnen noch hie und da einige andere Personen – der sieggewohnte Kaiser der Franzosen zog in eine von ihren Bewohnern verlassene Stadt. Er, der erwartet hatte, alle Militär– und Zivilpersonen zum Empfang versammelt zu finden, der von einem Triumphzuge sondergleichen träumte, er sah nur die Staubwolken, welche der Wind durch die Gassen trieb und hie und da einen Haufen des niedersten Volkes, das in Gängen und Kellern verschwand, sobald der Reiterzug nahte.
   Die Zigeuner begleiteten ihn. Es war keine Infanterie dabei und folglich für die Sicherheit der drei Deutschen nichts zu fürchten. »Der Empfang beginnt erst an den Toren des Kreml«, flüsterte Mikosch. »Sieh, Onnen, dort kommen zwei Herren, sie verneigen sich tief – ob es Franzosen sind?«
   Napoleon hielt das Pferd an; er winkte den beiden. »Wer sind Sie, meine Herren?« fragte er in scharfem, den inneren Groll verratendem Tone.
   Einer der Männer verbeugte sich tief. »Ich bin Franzose, Sire. Ein in Moskau ansässiger Buchhändler.«
   »Ah, mein Untertan also! Wo ist der Senat!«
   »Nicht anwesend, Sire!«
   »Und die Verwaltungsbehörden, der Zivilgouverneur?«
   »Auch fort!«
   Napoleon griff in die Zügel, daß das Pferd sich plötzlich bäumte.
   »Aber wo ist denn die Bevölkerung? – Man sieht keinen Menschen.«
   »Alle weggezogen, Sire!«
   »Zum – – Aber wer ist denn endlich noch hier, mein Herr?«
   »Nur das Proletariat, Sire!«
   Die Lippen des Kaisers bebten vor Zorn. »Es kann nicht sein!« rief er.
   »Ich schwöre es Eurer Majestät auf Ehre und Gewissen.«
   »Schweigen Sie! Aus dem Wege!«
   Dann wandte er sich zu den Generalen. »Vorwärts!«
   Der Zug setzte sich wieder in Bewegung; von Mund zu Mund lief die unerwartete Nachricht, daß Moskau verlassen sei. Offiziere und Soldaten teilten die Erbitterung des Kaisers, ein lautes Murren durchzog die Reihen, so daß der Befehl, unter keiner Bedingung vom Pferde zu steigen, in jeder Schwadron den Leuten eingeschärft wurde. Nur Napoleon selbst, wohl unfähig, so still dazusitzen und die bittere Beleidigung schweigend hinzunehmen; Napoleon sprang vom Pferde und nahm für seine Person in einem ganz gewöhnlichen, leerstehenden Hause Quartier, wahrscheinlich um allein zu bleiben und die ungeheure Täuschung erst einigermaßen überwinden zu lernen.
   Mehrere Regimenter besetzten die umliegenden Straßen, Kanonen wurden überall aufgepflanzt und Wachen ausgestellt, während König Murat mit dem Rest der Truppen weiterzog, um den Kreml zu besetzen.
   Unsere Freunde folgten dieser letzteren Heeresabteilung. Der Kreml bildete den Kern der Stadt – hier mußte es zur eigentlichen Entscheidung kommen.
   »Ob sich die wenigen ungeübten und schlecht bewaffneten Bürger auf einen Kampf einlassen werden, Mikosch?« Der Alte wiegte den Kopf, »Es sind Verzweifelte darunter, Leute, die schon Vermögen und Stellung infolge des Krieges verloren haben; sie wollen vielleicht untergehen, indem sie den gehaßten Feinden zu guter Letzt noch soviel wie nur irgend möglich schaden.«
   »So würde auch ich handeln«, sagte Feiko. »Gebt acht, diese bunten Scharen flüchten als Bettler, zerschmettert und zerschlagen, nach Frankreich zurück.«
   »Still – laßt das keinen hören.«
   Langsam zogen die Reitermassen durch Moskau. Totenstille Straßen lagen vor ihnen und hinter ihnen, selbst der Pöbel blieb ruhig, die Kinder wurden von den Eltern in den Häusern zurückgehalten, die Hunde eingesperrt – man ließ die Franzosen einziehen, wie man denen weicht, welche durch Anwendung brutaler Gewalt und ohne einen Schein des Rechtes zum Ziele gelangt sind – stumm und verachtend.
   Endlich traten in der Ferne die dunkeln Umrisse des Nikolskischen, zum Kreml führenden Tores deutlicher hervor, zugleich sah man eine Menschenmenge, die dort anscheinend ruhig wartete. Ohne Umformen zu besitzen, trugen die Leute doch Gewehre und Säbel in den Händen.
   König Murat nahm das Glas und beobachtete ziemlich lange, dann gab er einem Adjutanten einen Befehl. Einige Minuten später sprengte ein junger polnischer Offizier in reicher, ja fürstlicher Uniform an seine Seite, das ganze Regiment Uminski rückte vor und bildete so die Avantgarde, welche, allen Franzosen voraus, das Allerheiligste des russischen Reiches, den Kreml betrat.
   Nicht ohne wohlüberlegte Absicht war diese Verfügung erlassen worden – Rußlands unversöhnlichste Feinde, die Polen, sollten hier einen Triumph genießen, der sie den Franzosen auf Tod und Leben verbünden mußte.
   Das Pferd des schönen jungen Offiziers tänzelte, das schwarze Auge des Reiters blitzte in übermütiger Jugendlust. Wie der Kriegsgott der Alten, ein Bild frischester Kraft und Anmut, so saß der Jüngling im Sattel, kecken Blickes, voll Erwartung dessen, was nun folgen würde, in der Hoffnung eines Triumphes, an dem sich seine Seele jetzt schon berauschte.
   »Ein schöner Mann!« flüsterte Mikosch. »Schade um ihn!«
   »Weshalb?« fragte Onnen. »Gehört er nicht zu den Siegern?« Das tiefliegende Auge des Zigeuners flammte düster. »Die Linke trägt einen Handschuh«, raunte er, »aber siehst du wohl die Rechte? – Sie ist dir ganz nahe.« —
   »Eine weiße feine Hand, ja!«
   Mikosch nickte. »Weiß und fein!« wiederholte er, »weiß und fein! – Aber doch wird sie heute noch im Tode erkalten – bald, gleich sogar!«
   »Mikosch!«
   »Still, Herr! Siehst du, wie der Pole die Mähne des schwarzen Hengstes durch seine Finger zieht ? – Wie er die innere Fläche der Hand betrachtet? – Jetzt wieder! Durch das weiße zarte Fleisch zieht sich eine blutrote Linie, sie fühlt sich heiß an, sie —«
   Ein Büchsenschuß unterbrach die seltsame Prophezeiung! Murats Pferd schüttelte den Kopf, es war nicht getroffen, aber erschreckt.
   Vor den Reitern lag fest geschlossen das Nikolskische Tor, umstanden von etwa fünfhundert Bewaffneten, deren totenbleiche Gesichter das Ärgste zu verkünden schienen. Der Schuß war fehlgegangen, jetzt aber sprang aus dem Haufen hervor ein herkulischer Mann, der das Gewehr von sich warf und mit einem einzigen, völlig unerwarteten Ruck den Polen vom Pferde herabriß. Ein Messer drang dem Unglücklichen tief bis an das Heft in die Brust; sein Gegner beugte sich über den Sterbenden und zerbiß ihm die Kehle, zerfleischte mit seinen Zähnen das schöne jugendliche Antlitz. Er selbst wurde im gleichen Augenblick von zehn, zwanzig Säbeln buchstäblich in Stücke zerhackt.
   »Da hast du es!« sagte tief atmend der Zigeuner.
   »Wie gräßlich! – O Gott, wie gräßlich!«
   Im Augenblick herrschte die äußerste Verwirrung. Jener Geist der Zügellosigkeit, welcher die französischen und polnischen Truppen längst schon zersetzte, jene immer mehr um sich greifende Insubordination trat hier wieder offen zutage. Ohne Befehl sprangen die polnischen Reiter von den Pferden und schlugen mit den Steinen der Straße das Tor in Splitter, während andere den Befehl Murats ausführten und die Mündung einer Kanone den Bewaffneten entgegenkehrten.
   Noch ein Offizier wurde erschlagen, grade als er »Feuer!« kommandierte, aber der Schuß fiel trotzdem, und als die Menge nicht wich, noch zwei andere.
   Blut in Strömen floß über das Pflaster, zuckende Menschenkörper lagen hie und da, geballte Fäuste drohten in ohnmächtigem Grimm den Feinden. Über Tote und Verwundete hinweg ritten die Sieger in das gewaltsam geöffnete Tor.
   Mikosch hob die Hand des gemordeten Polen. »Schon kalt!« sagte er. »Siehst du die Linie, Herr? Rot und heiß! Von der Fingerwurzel bis zum Arm! – Nein, nein, du brauchst die deinige nicht zu suchen, sie ist noch weit vom Ziel!«
   Er gab mehreren Verwundeten eine etwas bequemere Lage und dann gingen alle den Soldaten nach in den Kreml.
   Murat bezog eins der elegantesten, obwohl gänzlich ausgeleerten Schlösser, und von der Stunde ihres Erscheinens an plünderten die Truppen auch in Moskau ebenso rücksichtslos, so grausam wie vorher in allen anderen Orten, die sie als Sieger besetzten. Ein unerhörtes Treiben herrschte während dieser und vieler folgenden Tage in der unglücklichen Stadt
   Napoleon selbst hatte den Befehl zur Plünderung gegeben. »Moskau ist ein Leichnam«, sagte er zähneknirschend, »mögen ihn meine Soldaten zerfleischen.« Das wurde buchstäblich befolgt. Wie ein Heuschreckenschwarm fielen die Truppen, zu allen Toren hereinziehend, über das her, was an Besitztümern noch geblieben war, Offiziere und Gemeine, Hohe und Niedere, kurz, jeder einzelne Mann plünderte. Die Offiziere eilten zu der sogenannten Wagenreihe, suchten sich nach Belieben die ihnen zusagenden Equipagen aus und zeichneten dieselben sogleich mit ihren Namen – die Soldaten forderten Lebensmittel, und wenn die unglücklichen Einwohner erklärten, keine mehr zu besitzen, so antworteten sie durch Mißhandlungen.
   Das Regiment Uminski und noch drei andere Kavallerieregimenter hielten den Kreml besetzt; besonders die Polen wirtschafteten in dem alten Zarenschlosse auf die schrecklichste Weise, sie zerschnitten die Samtpolster des Thronsessels und zerstreuten die Splitter in alle vier Winde; draußen auf den weiten Höfen, in den Kellern und Gärten gruben sie nach Schätzen.
   Alle Kostbarkeiten des alten Schlosses, die Kronen der früheren Zaren, die Silber– und Goldgeräte, die Heiligenbilder waren längst in die entlegensten Provinzen geflüchtet worden, dennoch aber durchwühlten gierige Hände den Boden, um zu stehlen, in der eitlen Hoffnung, Juwelen und schimmerndes Gold zu finden, wo nur die schwarzen Schollen der geduldigen alten Erde ihnen entgegenstarrten.
   Bei jedem Trupp hielten mehrere Offiziere ängstlich Wacht. Was etwa entdeckt wurde, das durfte doch keineswegs denen gehören, die es zutage förderten, sondern ihnen selbst, ihnen, die den Grundsatz des Kaisers kannten: »Meine Offiziere sollen sich in den eroberten Ländern jeder ein Vermögen erwerben.«
   Die Soldaten gruben mit trotzigen verbissenen Mienen. In ihren Seelen wohnte heimlich der feste Entschluß, sich nichts rauben zu lassen; bei dem ersten Erblicken eines goldenen oder silbernen Gegenstandes würden beide Parteien übereinander hergefallen sein und sich die Beute streitig gemacht haben.
   Aber die Erde barg nichts, gar nichts. Was man so emsig suchte, das lag wohlverwahrt in den festen Schlössern der nördlichsten Städte.
   Unaufhaltsam zog Regiment auf Regiment in die Tore. Keine Quartiermacher waren den Soldaten vorausgegangen, keine Behörden empfingen sie, kein Brot oder Nachtlager harrte ihrer; sie standen auf den Straßen und sahen einander an.
   Wohin nun?
   Andere kamen ihnen entgegen, Kranke und Verwundete auf Wagen, Ausgehungerte und Heimatlose, Leute, die seit gestern nichts mehr gegessen hatten und deren Füße bluteten. Wohin? fragte ein jeder den ändern – und niemand konnte Auskunft geben, niemand wußte, was die nächste Stunde bringen würde.
   Leere Fenster starrten unheimlich den Soldaten entgegen, verschlossene Türen bereiteten ihnen Hindernisse – von Minute zu Minute wuchs der Unmut. Da kamen aus einer Straße Kameraden, die schon Beute gemacht hatten; Leute mit großen Bündeln und Körben.
   »Hurra!« riefen sie, »die Stadt gehört uns. Der Kaiser hat erlaubt, alles zu nehmen, was uns gefällt!«
   »Ist das wahr?«
   »Gewiß und wahr!«
   Wie der Funke das Pulver entzündet, so wirkten diese Worte auf die ausgehungerten, ermatteten Truppen. In wenigen Augenblicken waren die Türen der umliegenden Gebäude mit dem Kolben zerschlagen und die Bewohner ausgetrieben. In Kellern und Höfen kämpften die Soldaten um das Einzige Bett oder die geringen Vorräte der armseligen Behausung, draußen rangen die des letzten beraubten Menschen voll Verzweiflung ihre Hände.
   Wohin nun?
   Fort, fort aus der unglücklichen, dem Verderben geweihten Stadt!
   Ganze Züge wandten sich den Toren zu, andere kamen von allen Seiten herbei, beladen mit wenigen, noch geretteten Lebensmitteln, mit dem Stück Brot oder Fleisch, das sie vor dem Hunger schützen sollte. Alles flüchtete, lief, gejagt vom Entsetzen, alles trachtete nur danach, aus der Stadt und in die schützende Nähe der eigenen vaterländischen Behörden zu kommen. Durch das Tor zog mit klingendem Spiel eine neue unübersehbare Menge. »Brot!« – Die Soldaten hatten es in den Händen der Vertriebenen gesehen, hatten es in Taschen und unter Lumpen entdeckt. »Her damit! Der Stärkere hat recht!«
   Und auch Schuhe trugen die Heimatlosen, auch Geld besaßen noch einige von ihnen.
   »Her damit! Gebt‘s gutwillig oder —«
   Kolbenstöße und Schläge vervollständigten den Satz. Ganz ausgeplündert, aller irdischen Habe beraubt, verließen die Unglücklichen ihre Vaterstadt, aufs Geratewohl in das offene Feld hinausgehend, ohne Hoffnung oder Trost, verarmt an jedem Gute des Lebens.
   Die Soldaten brachen in alle Häuser. Straßenkämpfe entstanden, Kranke und Verwundete wurden rücksichtslos hinausgeworfen, es starben Menschen unter freiem Himmel – die Anarchie, der Zustand vollkommener Gesetzlosigkeit, hatte ihren Einzug gehalten.
   In langer Reihe standen die Equipagen, welche Napoleons Offiziere bereits als ihr Eigentum betrachteten; in dichten Gruppen daneben die Eigentümer mit Pelzmützen und blauen Kitteln. »Sollen wir gearbeitet haben, gespart und gerungen, sollen wir unser Geld dahingegeben haben, um den fremden Räubern Chaisen und Kutschen zu verschaffen?« fragte einer.
   Ein anderer schüttelte den Kopf. »Gott verderbe die Schurken! – Was können wir beginnen, um unsere Wagen zu retten?«
   »Jetzt gibt es keine Mittel mehr; man läßt die Gespanne nicht zum Tore hinaus. O lieber Gott, und ich dachte, gerade in dieser Zeit könnte man ein paar Rubel verdienen!«
   Der erste Sprecher blickte langsam um sich her. »Kein Mittel?« wiederholte er. »Ich halte es hier in der Hand.«
   Und er zeigte den übrigen einen Haufen Werg nebst Stahl und Stein.
   »Feuer?« flüsterte eine Stimme. »Wir sollten unser Eigentum verbrennen?«
   »Ja. Ehe die Franzosen es nehmen, möge es zu Asche werden!«
   »General Sebastiani«, las der eine. »Ob nicht dieser Dieb von einem Franzosen seine Visitenkarte schon an die Kissen geheftet hat!«
   »Oho, der Name an meinem Wagen besitzt ebenso vornehmen Klang. Marschall Mortier steht hier zu lesen.«
   »Und hier: Herzog von Auerstädt, Prinz von Eckmühl, Marschall von Frankreich. Ein Tausendsassa, dieser Prinz, macht lange Finger!«
   Der erste Sprecher legte Werg und Späne auf die Polster seines Wagens, dann schlug er Feuer und die leichte, bläuliche Flamme züngelte empor. »So, Kinder, mein Eigentum ist den Franzosen entzogen – nun macht mit dem eurigen, was ihr wollt!«
   »Meins sollen sie ebensowenig haben!« – »Auch meins nicht!«
   Und die Wagenbudenreihe brannte lichterloh. Ihr gegenüber erhoben sich vom Kaufhof die Flammen, hie und da in den Straßen glühte es auf – der Brand von Moskau, das entsetzlichste Ereignis unseres Jahrhunderts, hatte begonnen.
   Den französischen Soldaten war eine reiche Stadt zur Plünderung versprochen worden – sie fanden leere Räume, in denen die wenigen Einwohner selbst Hunger litten; kein Tropfen Branntwein war aufzutreiben, kein bares Geld, kein Brot. Aus den leichtherzigen, im Grunde nicht bösartigen Südländern wurden Teufel, die auf jede mögliche Weise vorgingen, um sich die notwendigsten Lebensbedürfnisse zu verschaffen, die Dinge unternahmen, von denen der Chronist wörtlich sagt: »In Tausenden von Jahren gab es gewiß keinen einzigen Tag, an welchem die Sonne Zeuge solcher Greuel war, und gewiß keine einzige Nacht, deren Finsternis so viele Verbrechen barg. Es war kein bürgerliches Gesetz, kein heiliger Gebrauch, welche die Feinde nicht beschimpften, keine Schandtat, die sie nicht begingen, keine Grausamkeit, die nicht verübt wurde. Als Mongolen und Tataren in Rußland einbrachen, da achteten sie die Tempel unseres Gottes; die Hand des heidnischen asiatischen Kriegers berührte nicht das Heiligtum derselben, allein während der französischen Herrschaft sahen wir Christen, welche die Kirche Christi beschimpften und besudelten.«
   Ganze Straßen brannten; das geschmolzene Metall floß wie Lava über die Steine. Leichen von Menschen, die Körper toter Tiere lagen durcheinander, Arme, Köpfe, Stücke von allen Körperteilen bedeckten die Wege.
   Hie und da fand sich ein totes Pferd, ein verbrannter oder erschlagener Hund – Scharen französischer Soldaten rauften in erbittertem Kampfe um die willkommene Beute. Es entstanden Krankheiten der schrecklichsten Art; Hungersnot und pestartige Leiden befielen die unglückliche Stadt, in welcher Napoleon mehr als zwanzigtausend Soldaten im vollständigsten Frieden durch Fieber, Totschlag, Hunger und Verbrennen einbüßte.
   Die Straße, in welcher unsere Freunde wohnten, war vom Feuer verschont; Mikosch verstand es meisterhaft, seine Vorteile wahrzunehmen. Er hatte sich da einquartiert, wo unter den Ärmsten der Bevölkerung keine Schätze gesucht wurden, und kamen trotzdem die Soldaten in das Haus, um zu plündern, so ging ihnen Ruff auf den Hinterbeinen und ohne Maulkorb entgegen. Das Mittel wirkte gewöhnlich schnell – die Räuber verschwanden, ohne sich in dieser unheimlichen Nachbarschaft erst weiter umzusehen.
   So blieben nicht allein sämtliche Hausbewohner von der Plünderung verschont, sondern es konnten sogar Vorräte gesammelt werden. Grütze, Brot, Speck und Hülsenfrüchte lagen in Menge auf den Höfen und in den Kellern der Häuser vergraben – wer Geld besaß, der konnte zu verschwiegener Stunde kaufen, was er brauchte.
   »Wer zwei Röcke hat, der soll seinem Bruder einen geben! Das ist ein gar schöner Spruch«, sagte lächelnd der alte Zigeuner, welcher zwar tatsächlich ein Heide, aber dabei ein guter Mensch war. »Ich habe mit den Meinigen so manches Stück deutsches Brot gegessen; nun nehmen Sie dafür von mir ein bescheidenes Teil, liebe Frau Müller, und Gott gesegne es Ihnen.«
   Die arme Witwe konnte nur weinen, nur stumm dem Zigeuner die Hand darbieten; er war es, der in den schrecklichen Septembertagen ihr eigenes und das Leben ihrer Kinder erhielt.
   Näher und näher rückten die Flammen, das Straßenpflaster begann sich zu erhitzen, die Luft wurde den Lungen unerträglich. Mikosch wanderte überall umher, er sah alles, wußte alles und brachte eines Tages auch die Nachricht, daß Oberst Jouffrin in Moskau sei.
   Dann verschwand Alexei aus der Herberge – er beobachtete den Feind.
   »Aber vergiß nicht«, ermahnte Mikosch, »ich bin der Goel!«
   Alexei nickte. »Du bist es«, bestätigte er. »Sei ohne Sorgen, Vater.«
   Onnen hörte die Worte, aber ohne sie zu verstehen; später fragte er den jüngeren Sohn des Alten und erhielt nun eine Auskunft, die ihn innerlich erbeben ließ. »Brauchst‘s ja dem Vater nicht zu sagen«, meinte Luiz, »die Alten hängen so sehr an ihren Geheimnissen; wie du weißt, sie möchten uns immer noch ein wenig wie Kinder behandeln. Der Goel ist der Bluträcher.«
   »Wahrscheinlich der nächste Verwandte eines Ermordeten?«
   »Wie gut du zu raten verstehst!« lächelte Luiz.
   »Und kein anderer darf an den Täter die Hand legen?«
   »Durchaus nicht. Die Blutrache ist ein heiliges Gesetz; genau so, wie der Mörder an seinem Opfer das Verbrechen verübte, wird ihm selbst von dem Goel geschehen.«
   Onnens Herz schlug höher. Der unbarmherzige Mann, die Geißel von Norderney sollte also mit dem Messer in der Brust unter freiem Himmel sterben!
   Mikosch trat ein und unterbrach die Stille, welche nach den letzten Worten des Zigeuners eingetreten war. »Kommt rasch«, sagte er, »es gibt ein Stück Geld zu verdienen. Wo sind die übrigen? Schnell, ihr Herren! Auch du, Jasko!«
   »Was ist denn los?« fragte dieser letztere. »Soll ich den Bären holen?«
   »Nicht doch, nicht doch! – Wir wollen löschen!«
   Der Weg zur Nikolajamskajaschen Kirche wurde eingeschlagen, eilenden Schrittes gingen die Männer vorüber an den schwarzen Ruinen des Palastes, aus dessen Innerem am Abend vor dem Einzüge der Franzosen die Spieluhr ihre süßen Klänge zum letztenmal hervorsandte, wo die gedeckte Tafel zum Genüsse einlud und die Bettchen der Kinder schon geöffnet, mit Wärmflaschen versehen, dastanden.
   Heute wirbelte im scharfen Ost die schwarze stäubende Asche von der verödeten Stätte; angebrannte Balken ragten aus den Mauern hervor, in wüstem Durcheinander lagen Steine und Trümmer. Ganze Reihen stolzer Paläste waren hier den Flammen zum Opfer gefallen, ganze Straßenseiten verwüstet. Mitten in einem großen Garten, bedeutend hinter der Straßenflucht, lag unversehrt ein großes Gebäude, dessen Nebenhäuser, nur durch die Anlagen geschieden, lichterloh brannten. Ein kleinerer Bau, gleichsam im Schatten des größeren, war an das brennende Haus zur Linken fest angefügt.
   »Die Knabenerziehungsanstalt der Kaiserin Maria Feodorowna«, sagte Mikosch. »Der Staatsrat Tutolmin ist mit den jüngeren Kindern hiergeblieben und hat von dem französischen Kommandanten Duronel zwölf Mann mit einem Leutnant als Schutzwache erhalten, aber er fürchtet, daß ihm die Funken, welchen die Soldaten doch nicht wehren können, trotz aller Fürsorge das Dach entzünden, und daher braucht er vertraute Leute, um ihm zu helfen. Geht nur durch die Pforte.«
   Der kalte Ostwind allein ermöglichte es, in den Gluten, welche die brennenden Häuser ausströmten, überhaupt zu atmen; er rettete während jener Schreckenstage ungezählten Menschen das Leben. Heiße Wogen schlugen über die Straßen dahin, aber der tapfere nordische Ost brauste hinterher und schlug immer wieder den hinterlistigen Gegner. Die Zigeuner und unsere Freunde kamen glücklich durch die Feuerlinie und in das bedrohte Haus, wo der Staatsrat Tutolmin, ein würdiger alter Herr, ihrer bereits ungeduldig harrte.
   »Auf das Dach!« gebot er. »Auf das Dach! – O lieber Himmel, hätten wir doch etwas wie einen Spritzenschlauch!«
   »Es wird auch so schon gehen, Exzellenz!«
   »Meinst du, guter Freund? Der Herr General Graf Rostoptschin hat dich mir als unerschrockenen ehrlichen Mann geschildert; tue also jetzt, was in deinen Kräften steht, es soll dein Schade nicht sein.«
   »Ich danke im voraus, Exzellenz!«
   »Nur schnell, nur schnell, die Funken fallen in ganzen Schauern.«
   Über drei Treppen ging es hinauf zum platten Dache des Hauses, wo schon drei Lehrer und etwa zwanzig Knaben die Feuerwache hielten. Die armen Kleinen, lauter Kinder unter zwölf Jahren, zitterten vor Furcht, sie trugen in den Händen blecherne Eimer, die ihnen von den Genossen immer wieder frisch gefüllt wurden, und spritzten jedesmal, sooft ein Funke geflogen kam, mit Lappen oder Bürsten Wasser auf die bedrohte Stelle, ohne jedoch selbst immer ganz unbeschädigt davonzukommen. Ihr Haar, ihre Gesichter, Nacken und Hände waren versengt, große Blasen zeigten sich auf der Haut.
   Die kleinen Waisen, meistenteils Söhne gefallener Offiziere, wurden hier auf Kosten der Kaiserin erzogen; ohne Eltern oder Freunde, nur ihren Lehrern überlassen, sahen sie sich von den schwersten Gefahren umgeben und hefteten jetzt die ängstlichen Blicke bald auf das Feuermeer vor sich, bald auf die fremden Männer, welche ihnen sogleich die vorläufig nicht bedrohten Plätze auf den Treppen anwiesen.
   Die Kinder mußten, indem sie kleine Eimer von Hand zu Hand gehen ließen, das Wasser herbeischaffen; die Männer blieben auf dem flachen, unerträglich heißen Dache und wehrten den Funken, sich festzusetzen.
   Staatsrat Tutolmin brachte in eigener Person eine große Gartenspritze auf das flache Dach. »Wir müssen unsere Apotheke beschützen«, sagte er. »Dort in dem Nebengebäude lagern kostbare und unentbehrliche Waren – ob es wohl möglich wäre, den Wasserstrahl aus dieser Spritze hinüberzusenden?«
   Mikosch probierte, und es ging vortrefflich, kostete aber sehr viel Wasser. Die Kinder des Staatsrats, die Dienstboten, die Soldaten und sogar der Leutnant, kurz, alle im Hause befindlichen Personen brachten in Eimern und Küchengeräten die kalte Flut herbei, Ströme nach Strömen ergossen sich über das Dach und das Nebengebäude, um von den Steinplatten des Hofes als heißer Dampf wallend und wirbelnd wieder aufzusteigen. Das fünfstöckige Nachbarhaus neigte sich, brennend wie es war, nach der Windseite, in jedem Augenblick konnte das Dach stürzen und die Apotheke mit glühenden Trümmern überschütten.
   Alle Kräfte vereinten sich, um die Bleiplatten des Daches vor dem Schmelzen zu bewahren. Das Wasser kam eiskalt aus der Erde; es verhinderte das Metall, sich bis zu einem gefährlichen Punkte zu erhitzen. Nur noch kurze Zeit, dann war das Ärgste überstanden.
   Auf den Treppen weinten die Kinder; es wurde den armen Kleinen an diesem Tage mehr aufgebürdet, als ihre Kräfte erlaubten.
   »Haltet aus, Leute!« rief der Staatsrat, »haltet aus, die Entscheidung ist nahe!«
   Da übertönte plötzlich das Geräusch einer Explosion seihe Worte. Die Luft schien zerrissen, die Grundfesten des Hauses bebten; ein Summen und Klirren entstand vor den Augen aller.
   Und dann folgte ein zweiter Donner, ein dritter und vierter; das Getöse dauerte ununterbrochen fort, es verschlang alles übrige.
   War die Hölle losgebrochen, um ihre Schrecken den schon vorhandenen hinzuzufügen? Himmel und Erde schienen ein einziges Feuermeer, es schwankte und stürzte alles, das Brausen in der Luft wurde zum Donner, der den erschreckten Menschen wie die Posaune des letzten Gerichtes erklang.
   Mikosch deutete mit der Hand nach Westen; sprechen konnte unter dem betäubenden Knattern und Toben niemand.
   Wie die Schwärmer eines Riesenfeuerwerkes flogen unaufhörlich ganze Massen explodierender kleiner Körper in die Luft empor, um, wenn sie erloschen, ebensoschnell von anderen ersetzt zu werden. Dann kam die bengalische Flamme, haushoch, turmhoch, in blutrotem Glänze – der westliche Himmel schien einem purpurnen Teppich gleich; schwarze und blaue Wogen schlugen wie ein buntes Muster darüber hin.
   Im Kreml hatten die Munitionswagen des polnischen Regimentes Feuer gefangen und waren einer nach dem anderen in die Luft geflogen. Ein schrecklich-schönes Schauspiel, das die Herzen der Zuschauer erbeben ließ.
   Als verhältnismäßige Ruhe zurückgekehrt war, sah der Staatsrat nach der Apotheke – das brennende Nebengebäude stand nicht mehr, anstatt aber nach der Seite zu fallen, war es in sich zusammengesunken. Die steinerne Seitenmauer konnte der Apotheke keinen besonderen Schaden mehr zufügen.
   »Gottlob!« rief der alte Herr, »Gottlob, das Haus ist gerettet!«
   Mikosch zog ehrerbietig die Mütze. »Aber was geschieht dort, Exzellenz? Eine Rotte von Plünderern stürmt die Pforte!«
   »Herrgott, auch das noch!«
   Und der Staatsrat eilte hastig die Treppen hinab. Bald danach sahen die Zigeuner ihn und das Häuflein französischer Soldaten am Gitter erscheinen. »Entfernt euch!« rief der Leutnant, »dies Haus steht unter dem besonderen Schütze des Kommandanten Duronel!«
   Die Draußenstehenden antworteten mit einem Hohngelächter. »Der Kaiser hat uns diese Stadt zur Plünderung übergeben«, riefen sie, »daran wird auch General Duronel nichts ändern können. Macht auf, wir wollen hinein.«
   Steinwürfe flogen in den Garten, das Geschrei und Toben wurde immer ärger. Die Soldaten standen hinter ihrem Anführer, aber sie schienen seine Befehle nicht zu hören; selbst als er: »Feuer!« kommandierte, regte sich keiner von ihnen.
   Der junge Offizier wurde blaß wie der Tod, er riß den Degen aus der Scheide und würde sich im nächsten Augenblick unter gänzlicher Nichtachtung der eigenen Gefahr auf die Widersetzlichen geworfen haben, wenn nicht von draußen die Pforte zerschlagen worden wäre.
   Wie eine Schar brüllender Teufel, versengt, zerzaust, von Rauch geschwärzt, in Lumpen und mit ausgehungerten Gesichtern, so stürzten sich die Plünderer in den Garten und seltsamerweise nicht auf das Hauptgebäude, sondern auf die Apotheke.
   »In dem großen Hause sind nur Kinderbetten zu finden«, rief eine Stimme, »ihre Schätze haben die verdammten Russen hier untergebracht.«
   »Es ist eine Apotheke – man findet da Spiritus und feine Liköre!«
   »Auf! Auf! – Weshalb zögert ihr noch?«
   Der Staatsrat hob die Hand, er gab dem Zigeuner ein Zeichen und dieser handelte statt seiner, ebenso umsichtig wie er selbst. »Luiz, mein Junge, du läufst, so schnell dich deine Füße tragen, zum Stadtkommandanten und bittest um Verstärkung! Du, Jasko, bleibst mit den Herren Lehrern hier oben und wir drei gehen hinab!«
   Georg und Onnen waren schon vorausgeeilt. Durch eine Hintertür gelangten alle in die Apotheke, wo zunächst sämtliche Fensterläden geschlossen und die Zugänge mit Eisenstangen gesperrt wurden. Schießwaffen besaßen die Plünderer nicht; wenn der erbetene Beistand zur rechten Zeit kam, konnte es immerhin gelingen, das Haus und seine Güter vor den Stürmenden zu beschützen.
   Wo sich eine Hand den Türen oder Fensterläden näherte, da floß Blut; wo aber auch ein losgerissener Pflasterstein durch die halbzersplitterten Läden flog, da klirrten drinnen Gläser und Flaschen. Endlich brachte der Staatsrat eine Kugelbüchse; Mikosch legte an und der ärgste Schreier stürzte mit dem Gesicht zu Boden, um nicht wieder aufzustehen.
   Der Haufen erschrak und wich etwas zurück, sehr bald aber ermutigte einer den anderen; die ganze Schar drang wieder vor, obwohl Mikosch den bleiernen Willkommengruß zum zweitenmal hinaussandte.
   »Welche Schätze mögen wohl in dem alten Gerümpel verborgen sein, da es die Russen so hartnäckig verteidigen?«
   »Gewiß Gold– und Silbergerät! Bares Geld!«
   »Und alter Wein. Solch eine Exzellenz hat immer einen guten Keller!«
   »Vorwärts! Vorwärts!« Wieder folgte ein Anlauf, wieder antworteten neue Schüsse, während sämtliche Pflastersteine, welche die Angreifer hineinwarfen, von den Verteidigern ebenso prompt wieder hinausgeworfen wurden. Letztere standen unter sicherer Deckung, erstere dagegen mußten dem Bombardement schutzlos entgegengehen, und gerade das verstärkte die anfängliche Raublust bis zum Ingrimm.
   »Weshalb zögern wir denn noch lange?« rief einer der Strolche. »Es ist ja doch an Feuer wahrhaftig kein Mangel! Steckt die Giftbude in Brand.«
   »Hurra, das ist auch wahr!«
   Mehrere Plünderer stürzten fort und zur nächsten Brandstätte. Gegen siebentausend Häuser lagen in Asche – es war wirklich an Feuer kein Mangel.
   Woher sollte für die Rettung der Apotheke das nötige Wasser genommen werden? Im Hauptgebäude war eine Pumpe, hier aber fehlte jede Möglichkeit, ein etwa entstehendes Feuer zu löschen. Der Staatsrat war leichenblaß geworden, er ließ mutlos die Arme sinken. »Nun sind wir verloren«, stammelten die bleichen Lippen. Mikosch antwortete nicht; er überlegte, wie es möglich sein würde, wenigstens das eigene Leben zu retten. Drei Türen ließen sich schließen, ehe die Angreifer bis zum rückseitigen Ausgange vorgedrungen waren, dadurch gewann er mit den Seinen allerdings Zeit zur Flucht, aber auf dem Hofe würden alle gepackt werden. Luiz blieb lange aus. Wahrhaftig, die nächsten Minuten schienen sich sehr lang zu gestalten.
   Da kam auch schon ein riesiger Unteroffizier mit einem Stücke hellbrennenden Holzes herbei. Andere trugen Splitter, verkohlte Stämme aus den Gärten, Möbeltrümmer – vor der Haustür schlug die Flamme lustig empor.
   »Aha, jetzt haben wir die Schufte in der Hand!«
   Der Rauch drang in die inneren Räume der Apotheke, das Holz knisterte und bog sich – noch immer war von dem ausgeschickten jungen Manne nichts zu sehen.
   »Ihr beide«, flüsterte der Zigeuner, »macht euch davon, hört ihr! Die Räuber sind vor der vorderen Tür versammelt, ihr könnt über den Hof entkommen.«
   Sowohl Onnen als auch Georg weigerten sich bestimmt, ihren tapferen alten Freund im Stiche zu lassen; sie blieben an seiner Seite, fest entschlossen, das zu teilen, was etwa über ihn hereinbrechen würde.
   Da durchdrang ein lauter schriller Schrei das Toben ringsumher; der alte Zigeuner atmete plötzlich leichter. Sein Sohn gab ihm ein Zeichen; die Hilfe in höchster Not war nahe.
   »Luiz kommt!« rief er. »Sucht Deckung, Kinder!«
   Die Tür war durchgebrannt, Steinwürfe beschleunigten das Werk der Zerstörung, über Splitter und brennende Balken drangen die Stürmer in das belagerte Haus, zunächst in die Apotheke, wo nur Scherben und ausgeflossene Präparate aller Art ihrer harrten. Mikosch war mit den beiden Deutschen in die hinteren Räume geflüchtet, der Laden dagegen stand leer.
   Über den Hof kam im Laufschritt ein Häuflein französischer Infanterie und kehrte den Plünderern das gefällte Bajonett entgegen. Sie, deren Roheit bisher jedes Gesetz zu verachten schien, sie, die Tolldreisten, begannen zu flüchten, aus den Fenstern zu springen und sich auf jede Weise in Sicherheit zu bringen.
   Die Tür zum Hintergrund wich dem vereinten Drucke mehrerer Männer, sie flog auf und der ganze Schwarm stürzte hinein; hinterher die Soldaten.
   Es war ein wüstes Durcheinander von kämpfenden und ringenden Menschen, die sich in dem alles verhüllenden Rauche überhaupt nur aus nächster Nähe erkennen konnten. Das Haus brannte lichterloh, niemand dachte daran, es zu löschen, hie und da explodierte ein Glasgefäß mit verschiedenen Flüssigkeiten, wie sie in der Apotheke zur Anwendung kommen; es stürzte ein Schrank oder klirrte ein Flaschenstand – immer noch wühlten die Hände der Räuber in allen Ecken und Winkeln, um verborgene Schätze zu entdecken.
   »Da ist ein Ausgang«, raunte Mikosch. »Schnell!«
   Er sprang über brennende Trümmer gewandt wie ein Jüngling hinweg, ihm nach folgte Georg, während Onnen der letzte war. Eben im Begriff, auch seinerseits das Freie zu suchen, fühlte er, daß sich eine Hand auf seine Schulter legte, und wandte den Kopf.
   Ein mageres braunes Gesicht tauchte aus den ziehenden und wallenden Rauchwolken herauf, ein Paar haßerfüllte Augen blitzten ihm entgegen.
   »Hab ich dich, Onnen Visser!«
   Und die Hand wollte fester zugreifen, die andere packte mit an, da zerriß der Bann des Erschreckens, in welchem sich Onnens Seele bisher befunden. »Adam Witt!« rief er, »Schurke, laß los, oder —«
   »Ich lasse dich nicht! Hierher, Kameraden, hierher!«
   Weiter kam er nicht. Onnens kräftige Arme packten ihn und schleuderten ihn mit der Kraft der Aufregung in das brennende Haus zurück. Noch einen Augenblick und unser tapferer Freund war den beiden Vorausgegangenen nachgeeilt.
   Das Haus des Staatsrates nahm sie auf. Der Leutnant hatte seine widersetzliche Schar einer Militärpatrouille überliefert, andere Soldaten waren zum Schutze der Erziehungsanstalt befehligt und auch eine starke Feuerwache auf das Dach gestellt, dennoch aber konnte sich Onnen nicht beruhigen.
   »Adam Witt ist hier!« sagte er. »Er hat mich erkannt.«
   »Er war natürlich unter den Plünderern?«
   »Jedenfalls – wir haben jetzt den Wolf auf unserer Fährte.«
   Auch Feiko und Georg waren unruhig geworden. »Mikosch«, flüsterte ersterer, »ist es nicht möglich, Moskau zu verlassen?«
   Der Zigeuner wiegte den Kopf. »Oberst Jouffrin ist hier!« sagte er endlich.
   »Aber ob er dir jemals ins Garn laufen wird, Alter?«
   Mikosch nickte. »Er wird, Herr, er wird. Alexei bewacht ihn wie der Hund die Fährte des Wildes, fünf Männer von unserem Volke leisten ihrem Haupte Späherdienste. Ich bin der Goel, ich muß meinem ermordeten Bruder die Ruhe des Grabes verschaffen; Barbarin wacht und wacht, bis mein Messer die Brust des Verbrechers durchbohrt, dann erst schließt er die Augen und träumt vom Paradiese.«
   Onnen seufzte. »Aber wenn wir entdeckt werden, Alter?«
   »So rette ich dich, Herr! Du hast meinen Eid.«
   Der Staatsrat ließ ein gutes Mahl und mehrere Flaschen Wein auf den Tisch setzen. Die Apotheke war bis auf den Erdboden herabgebrannt und die Plünderer aus dem Hofe verjagt; eine verhältnismäßige Ruhe herrschte wieder in den Räumen, die noch kurz vorher so heißen Kampf gesehen. Mikosch bekam eine reichliche Belohnung, die er mit den übrigen gewissenhaft teilte.
   Als die frühe Dämmerung des Herbstes herabsank, wollten die Zigeuner in ihr Quartier zurückkehren. Jasko und Luiz gingen daher voraus, um die Straßen zu beobachten und einen etwaigen Hinterhalt rechtzeitig zu entdecken. Wenn nichts Verdächtiges ihnen begegnete, so sollte Luiz wiederkommen und den anderen Nachricht bringen.
   Onnen schüttelte den Kopf. »Das nützt nichts«, meinte er. »Adam Witt ist viel zu klug, um uns allein oder mit seinen Spießgesellen anzugreifen. Er kommt in Begleitung einer Militärpatrouille, dann hat die Sache ein dienstliches Aussehen.«
   »Insofern wir als Deserteure standrechtlich erschossen werden; das ist sicher.«
   »So muß man die Herberge wechseln«, erklärte Mikosch. »Morgen ziehen wir um.«
   Das Wort sollte sich erfüllen, aber anders, als der Zigeuner dachte. Jasko und Luiz gingen langsam durch die Straßen, sahen in jeden Garten, jeden Keller und Torweg hinein, ohne irgendein Zeichen von etwaigem Verrat entdecken zu können; Luiz kehrte daher in die Erziehungsanstalt zurück und alle fünf Männer machten sich, bewaffnet mit Messern und starken Stöcken, auf den Heimweg. Auch diesmal sahen und hörten sie nichts.
   Die Umgebung der Herberge, Hof und Torweg, die nächsten Ecken und Winkel wurden vor Nacht nochmals gründlich durchforscht, aber wieder umsonst.
   »Vielleicht ist der Bursche in dem brennenden Hause zu Grunde gegangen«, meinte Feiko, »Vielleicht hast du ihn erschlagen, Vetter!«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Er fiel auf zwei Räuber, die am Boden mit einem der Befreier kämpften – es ist ihm kein Leid geschehen.«
   »Nun, dann hat er einfach unsere Spur verloren.«
   Onnen schwieg, aber er wußte sehr wohl, daß sich Adam Witt die Gelegenheit zur Ausübung seiner Rache nicht so wohlfeilen Kaufes entgehen lassen würde. Während die übrigen aus ihren kurzen Pfeifen rauchten und halbliegend in Ruhe die Ereignisse des Tages besprachen, saß er oben und unterhielt sich mit seinen deutschen Freunden. Einige Näschereien von der Tafel des Staatsrates hatte er dem kleinen Mädchen mitgebracht und verabredete nun mit Otto einen Ausflug nach dem Kreml. Die von den in die Luft geflogenen Munitionswagen verursachte Zerstörung sollte entsetzlich sein; die beiden jungen Leute beschlossen daher, alles persönlich in Augenschein zu nehmen, und sprachen lebhaft von den Zuständen, die in der unglücklichen Stadt herrschten. Es war jetzt so weit gekommen, daß die Franzosen, wenn sie mehr zusammengeraubt hatten, als ihre Arme tragen konnten, dann die Einwohner ohne Umstände als Lasttiere benutzten. Was vielleicht ihnen selbst gestohlen worden war, das mußten die armen Menschen aufpacken und, dem brutalen Befehl ihrer Peiniger gehorchend, tragen, wohin es den letzteren beliebte.
   Unten sprachen Mikosch und Feiko von den Vorbereitungen, welche man getroffen hatte, um einem etwaigen Überfall rechtzeitig begegnen zu können. Das vordere Tor war geschlossen, die Haustür auch; eine kleine Treppe zum Nebenhause dagegen offen gelassen. Über die Stufen derselben gelangte man zu einem benachbarten Boden und von da unbehindert ins Freie.
   »Klopft jemand an das vordere Tor, so ruft ihr Onnen und verschwindet mit ihm«, gebot der Zigeuner. »Luiz kann euch begleiten, damit wir einander nicht verlieren.«
   »Ach, es kommt nichts, Alter«, meinte Feiko. »Zuerst geriet ich selbst in Unruhe, aber seitdem scheint mir die Sache nicht gefährlich. Der Bengel denkt an Beute und Plünderung, aber nicht an einen Feldzug, der ihm keinen Pfennig einbringen könnte.«
   Er sprach noch, als es mit starken Schlägen an die Haustür klopfte. Man rüttelte am Schloß und pochte zugleich gegen die Scheiben.
   »Sie sind da!« raunte Feiko. »Also doch!«
   »Pst! – Ich will sie aufhalten. Ruft Onnen!«
   Mikosch erhob sich und ging zur Tür, aber ehe er das Zimmer verlassen hatte, flog das Haustor auf und blanke Waffen zeigten sich seinen Blicken. Die Franzosen besaßen offenbar einen Dietrich, mit dem sie vorher den Torweg und jetzt die Haustür geöffnet hatten. Ein Offizier und etwa zwanzig Mann betraten den Flur. Mikosch erschrak heftig; aber er verstand die schwere Kunst, selbst wenn es in ihm stürmte, doch äußerlich ganz gelassen zu bleiben. Feiko und Georg hatten sich ohne Zweifel schon längst über die Hintertreppe in Sicherheit gebracht – aber Onnen? Was sollte aus ihm werden, wenn die Franzosen das Haus durchsuchten?
   So ruhig wie möglich sah er den Soldaten ins Gesicht. »Was wünschen die Herren?«
   Der Offizier spähte umher. »Es ist hier ein Deserteur versteckt«, sagte er, »möglicherweise sogar mehrere. Du weißt davon, Zigeuner!«
   Mikosch zuckte die Achseln. »Ich, Herr? – Suche, soviel du willst; dies hier ist das Zimmer, welches ich bewohne.«
   Der Franzose nahm von ihm keine weitere Notiz, sondern befahl einem Teile der Soldaten, im Torweg Wache zu halten, während er selbst mit den übrigen das Erdgeschoß des Hauses durchspähte. Die Tür zur Treppe war jetzt geschlossen und die beiden jungen Deutschen ohne Zweifel längst in Sicherheit; desto schlimmer dagegen schien Onnens Schicksal sich zu gestalten. Er war verloren, wenn nicht ein Wunder ihn rettete.
   Mehrere andere Bewohner der Herberge wurden aus dem Schlafe aufgeschreckt, sogar die Keller durchforscht, der Stall und der Hof, aber natürlich alles ohne Erfolg; nun wandten sich die Soldaten zu den oberen Stockwerken.
   Jasko war früher als sie in das Zimmer der Witwe gekommen. »Sie sind da«, raunte er, »verstecke dich, Herr!«
   Onnen wurde blaß. »Wohin denn? – Es ist unmöglich.«
   Geräuschlos erhob sich Otto von seinem Platze und ging an den großen Schornstein, der in einer Wand der Mansarde lag. Er öffnete stumm die Klappe und deutete hinein – unten am Fuße der Treppe sammelten sich bereits die Franzosen.
   Onnen kroch in die gähnende Tiefe hinab, eine Eisenstange und verschiedene vorspringende Steine, für die Sicherheit der Essenkehrer angelegt, gaben ihm den nötigen Halt, die Luft in dem engen, vollständig dunklen Raume aber erstickte ihn fast. Der späten Stunde wegen brannte in den Öfen und auf den Herden des Hauses kein Feuer mehr, sonst wäre er langsam geröstet worden.
   Jasko hatte die Klappe geschlossen; jetzt ging er mit den Händen in den Taschen die Treppe hinab und pfiff leise vor sich hin, während Frau Müller im Fluge das Zimmer aufräumte und jede Spur der Anwesenheit eines Dritten mit geschickten Händen verwischte. Die Tasse, aus der Onnen seinen Tee getrunken, der Stuhl, auf dem er saß, alles verschwand im Augenblick.
   Otto nahm ein Buch und sah mit gestütztem Kopfe hinein, aber ohne zu lesen. In seinem Herzen lebte der feste Entschluß, den Freund eintretenden Falles bis zum letzten Atemzuge zu verteidigen.
   Jetzt klopften die Franzosen. »Herein!«
   Der Offizier grüßte flüchtig, dann sah er unter alle Möbel und betastete sogar das Bett, in welchem die Kleine friedlich schlief. »Ich warne Sie, Madame«, sagte er, der Witwe gegenüber unwillkürlich in einen höflichen Ton verfallend, »ich warne Sie! Einen Deserteur zu verstecken ist für den Helfershelfer sehr gefährlich.« Frau Müller blieb vollkommen gelassen. »Suchen Sie, mein Herr, ich halte in diesen Räumen weder einen Deserteur noch sonst irgendjemand verborgen.«
   Es war so, der Offizier mußte wohl oder übel den Rückzug antreten. Nachdem er noch Licht verlangt und auch den Hausboden durchstöbert hatte, zog er brummend mit den Soldaten ab. Ottos Herz schlug so, daß er nicht zu sprechen; vermochte. Wenn eine Wache in das Haus gelegt wurde!
   Fast schien es so. Der Offizier ging allerdings fort, aber es blieb ein Doppelposten im Torweg zurück: Wenn sich im Hause irgendetwas regen sollte, würden natürlich die Soldaten sogleich erscheinen.
   Und doch konnte Onnen nicht viel länger mehr in dem finsteren, von Rauch erfüllten Schornstein gefangen sitzen. Jasko kam leisen Fußes die Treppen herauf; er hatte um den Leib ein starkes neues Seil geschlungen, wenigstens achtmal – das löste er jetzt ab und bat die Witwe, ihre Tür zu verschließen. »Onnen muß auf den Hof gelangen, ohne die Treppe hinabzugehen«, sagte er flüsternd. »Unten brennt eine Lampe und die Kerle beobachten alles.«
   Otto sah auf. »Ganz gut«, versetzte er, heiser vor Aufregung, »aber wie wollen wir es anfangen?«
   »Hiermit«, nickte der Zigeuner, auf das Seil deutend. »Sie haben, wenn ich mich nicht vollständig täusche, einen großen Wäschekorb, nicht wahr, Frau Müller? Darf ich ihn einmal näher besehen?« Otto brachte das Gewünschte herbei und Jasko nickte befriedigt, »So wird es gehen. Mein Vater spannt gerade jetzt das Pferd an den Wagen und zieht es aus der Pforte hinter dem Schuppen – wir müssen den Gefangenen, damit er zu ihm gelangt, im Korbe hinablassen.« Die Witwe erschrak »O Gott, welch ein Gedanke! Ihr werdet ihn sicherlich nicht halten können.«
   Jasko lächelte. »Ich nehme es auf mich, das Doppelte zu leisten, liebe Frau Müller – holen Sie nur jetzt unseren Freund hierher.« Auch Otto sagte, daß für den Flüchtling keine Gefahr zu fürchten sei. Onnen wurde aus seinem Gefängnis hervorgezogen und in aller Eile von dem Vorhaben der Verbündeten unterrichtet. Nachdem er sich gewaschen hatte, ging es zum Abschied.
   »Lebe wohl, Onnen, und wenn du glücklich gerettet wirst, so laß einmal von dir hören.«
   »Gewiß, liebe Frau Müller, gewiß; ich danke Ihnen herzlich.«
   »Nein, nein, Onnen, wir sind es, die dir danken müssen. Du und der gute alte Vater dieses jungen Mannes, ihr habt uns gerettet.«
   »Sprechen Sie doch davon nicht. Leb wohl, Otto, behalte mich lieb!«
   Der Knabe schluchzte. »Onnen, Onnen, wie sehr werde ich dich vermissen. Gott sei mit dir, Gott beschütze dich!«
   »Das wird er. Lebt wohl! Lebt wohl!«
   Jasko hatte bereits zum Fenster hinausgesehen und von seinem Vater ein Zeichen erhalten; es war die höchste Zeit.
   Der Korb wurde aus dem Fenster gehoben und das Seil durch beide Griffe gezogen, dann kletterte Onnen hinein. Frau Müller hielt voll Herzensangst die Hände gefaltet, während der Zigeuner und Otto mit festem Griff das Seil an beiden Seiten packten und Zoll um Zoll durch die Finger gleiten ließen.
   Da erklangen im Torweg Schritte. Einer der beiden Soldaten kam auf den Hinterhof hinaus und rief den Zigeuner. »Eh, Burschäh, was maken du mit die cheval?«
   »Danke der Nachfrage, Herr. Ich will hinausfahren und nachsehen, ob nicht irgendwo einige Lebensmittel aufzutreiben sind.«
   »Du wollen escamoter! Je me meurs de faim – bringen mir einige Brot, oui?«
   »Wenn ich mit Beute beladen zurückkomme, sollst du deinen Anteil erhalten, Soldat, darauf verlasse dich!«
   Er hantierte an dem Geschirr herum und warf einige Säcke auf den Wagen, alles um nur die Zeit hinzubringen. Der Franzose stand neben ihm; hätte er zufällig emporgesehen und auf halber Höhe der Mauer den Korb bemerkt, so wäre das Schicksal des Flüchtlings beschlossen gewesen.
   Mikosch fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen pochte.
   Der Soldat gähnte. »Nicht oublier le pain!« wiederholte er.
   »Gewiß nicht.«
   Der Franzose schlenderte zum Torweg zurück und Mikosch gab nach oben hin ein Zeichen. So schnell es anging, wurde der Korb herabgelassen, dann band Jasko das Seil an das Fensterkreuz und kletterte daran wie eine Katze auf den Hof hinunter.
   Während Frau Müller das Fenster schloß, gab der Zigeuner seinem Sohne einen wohlgefüllten Beutel. »Hole den Bären, Jasko, schnell, und sieh dann zu, daß du die beiden anderen Deutschen an die Grenze oder an ein Schiff bringst. Ich hinterlasse dir an allen Orten, wohin ich komme, unser Zeichen.«
   »Es ist gut, Vater, ich werde deinen Willen befolgen.«
   Der Alte beugte sich näher zu seinem Sohne herüber. »Jasko«, sagte er feierlich, »bis wir wieder beisammen sind, verleihe ich dir die Rechte und Pflichten des Goel. Willst du dessen eingedenk sein?«
   »Ich schwöre es dir, Vater.«
   »Gut, dann lebe wohl!«
   Ruff war auf den Wagen gesetzt, die letzten Händedrücke wurden gewechselt, dann schloß sich leise knarrend die Pforte. Jasko warf zur Vorsicht den Schlüssel über die Mauer und lachte befriedigt vor sich hin. Gottlob, die List war gelungen!
   Eine bittere Kälte ließ die beiden auf dem Wagen befindlichen Männer zusammenschauern. Mikosch hatte Decken mitgebracht, in deren eine er sich hüllte, während Onnen die andere erhielt. So mit der funkensprühenden Stummelpfeife und den gänzlich vermummten Gliedern sah der Zigeuner aus wie irgendein Unhold des deutschen Märchens, der in halbdunkler Nacht über die Heide fährt und einen kostbaren Schatz oder ein noch kostbareres Königskind seiner unterirdischen Räuberburg zuführt.
   Und doch schlug das Herz des Alten so warm. »Lehne dich an den Bären, Herr«, sagte er, »sein Pelz kann dir nützen.«
   »Ich umschlinge ihn schon mit beiden Armen«, lachte Onnen. »Ruff ist doch ein guter Kerl, er soll auch Zucker haben.«
   Irgendwoher aus den Falten seiner Gewänder brachte Mikosch ein Stückchen dieser vielbegehrten Näscherei und Ruff verzehrte es voll Behagen. Fernher leuchtete die Glut der brennenden Stadt, weiße Flocken tanzten im purpurnen Schimmer, eisig durch blattleere Äste fuhr sausend und brausend der Ostwind.
   »Mikosch«, rief Onnen, »welch ein Opfer bringst du mir!«
   »O nicht doch, Herr, nicht doch! Du bist mir lieb geworden, ich will dich deiner Mutter erhalten, der guten Frau mit den sanften Augen und dem Herzen voll Mitleid. Freue dich, jetzt sind wir aus dem von den Franzosen besetzten Gebiete heraus.«
   »Schon ganz heraus, Alter?«
   »Was das besetzte Gebiet angeht, ja. Aber die Herren unternehmen Beutezüge, um Lebensmittel zu erhalten, und in dieser Weise kommen sie dann allerdings auch hierher.«
   »Was uns hoffentlich nicht schaden wird. Sollten wir wohl vor Tagesanbruch noch ein Haus antreffen, Mikosch?«
   »Einen Landsitz, dessen Eigentümer freilich den Zigeunern nie Einlaß gewährt. Wir müssen aber unser Heil versuchen!« Onnen erwiderte nichts. Der unerschrockene Mann da vor ihm, der keinen Menschen fürchtete und vor keiner Mühe zurückbebte – er sollte ihn an Mut nicht übertreffen.
   Die Gegend war flach und öde, die Luft kalt und Ruffs Pelz so wundervoll warm. Onnen versank immer tiefer in die große Wolldecke und lag endlich mit dem Kopfe auf dem Rücken des Bären, sanft schlafend, ob auch die Flocken ihn von allen Seiten umhüllten und den alten Zigeuner schier in einen Schneemann verwandelten.
   Meile nach Meile blieb hinter dem Wagen; vor ihm in einiger Entfernung erhob sich das Herrenhaus eines stattlichen Landgutes. Ein Eisengitter umgab den Park und den Hof, mehrere Hunde bellten schon von weitem den beiden Zigeunern entgegen.
   Es konnte jetzt sechs Uhr morgens sein; hinter den Fenstern des vornehmen Hauses brannte bereits Licht.
   Mikosch übersah die Gegend, als er plötzlich mit einem halberstickten Schreckensschrei zurückfuhr. Ein Trupp Franzosen, alle in Infanterieuniform, aber trotzdem beritten, ein Trupp von etwa vierzig Mann, näherte sich in gleicher Richtung wie er selbst dem Herrenhause.
   »Plünderer!« dachte der Zigeuner. »Nun ist guter Rat teuer – das nächste Dorf liegt zwei Stunden von hier.«
   Er sah zu seinem Schützling hinüber. Onnen schlief fest; er war derartig verhüllt, daß ihn kein Auge entdecken konnte.
   Mikosch fuhr weiter. Die Franzosen nahmen von ihm gar keine Notiz, sondern ritten der Pforte entgegen, obwohl aus größerer Entfernung als der Zigeuner, welcher um mehrere Minuten früher an das Ziel gelangen konnte.
   Der Gaul erhielt ein Zeichen, die Räder drehten sich schneller und Mikosch klopfte an das Tor, ehe einer der Reiter herangekommen war. Zu seinem Erstaunen fand sich die Pforte offen, er fuhr daher hinein und rief mit lauter Stimme einen Knecht, der eben zwei große Hunde an die Kette legte und nun, als er den Reitertrupp sah, heftig erschreckend zur Eisenpforte lief, um dieselbe zu schließen.
   Er kam nicht schnell genug. Der vorderste Franzose hatte bereits den Eintritt gewonnen, eine Kugelbüchse wurde dem Leibeigenen entgegengehalten, und unfähig zu irgendeiner Verteidigung mußte er die Schar das geöffnete Tor passieren lassen. Sein lautes Angstgeschrei klang gellend über den Hof dahin. Die Haustür öffnete sich und ein mit einer Kugelbüchse bewaffneter Mann trat heraus, zunächst dem Wagen des alten Zigeuners entgegen.
   »Aha!« rief er zornig, »wieder einmal dies Gesindel! Sprich, du Hund, hast du es gewagt, die Franzosen hierherzuführen?« Während er sprach, hatte er eine kleine Metallpfeife hervorgezogen und ließ jetzt kurz nacheinander mehrere schrille Pfiffe ertönen. Der Hof füllte sich mit Leibeigenen; Säbel, Gewehre, Lanzen und Dreschflegel kamen zum Vorschein. Ehe Mikosch Zeit fand, dem fremden Herrn zu antworten, standen mehr als fünfzig Bauern, alle bewaffnet, zwischen dem Hause und den eingedrungenen Franzosen.
   »Herr«, sagte Mikosch, »mir sind diese Leute ganz unbekannt, Ich komme aus Moskau und bitte dich nur um einen Trunk Wasser und einen Platz im Stall, damit mein Tier und ich einige Stunden schlafen können.«
   Während dieser Worte war Onnen erwacht und sah voll Erstaunen in das feine, energische Antlitz des Fremden. Wo hatte er diese Züge schon früher kennengelernt?
   Dann sprach der Gutsbesitzer, gab dem Zigeuner die verlangte Erlaubnis und mit dem ersten Ton seiner Stimme zerriß der Schleier, welcher bis dahin Onnens Erinnerung gefesselt hielt – er wußte jetzt, wer der Fremde sei.
   Poppinga und Sohn! —
   Zum letztenmal hatte er ihn gesehen in jener Nacht, wo ihn selbst und die beiden Unbekannten die Buttfischer auf ihren Schlitten entführt hatten, als sich der Nebel zum Gebirge türmte und das laute fröhliche Lachen der Schlickfahrer von allen Seiten erschallte.
   Dieser Herr war derselbe, welcher in Düke Mommsens Gasthof zu Emden den gefälschten Paß an sich nahm und damit seinen Verfolgern entrann.
   Onnen sprang aus dem Wagen und die wenigen Stufen der Treppe hinauf. »Kennen Sie mich nicht mehr, Herr Poppinga?« fragte er lächelnd.
   »Was sagen Sie da?«
   »Denken Sie an Emden, an einen Knaben, den damals die Franzosen verfolgten, an den Polizeidirektor Lemosy!«
   »Alle Wetter – dieser Knabe waren Sie?«
   »Ich selbst!«
   »Und jetzt brauchen Sie Schutz gegen irgendeinen Feind?« »Wenn auch nicht gerade das, so doch ein Obdach – nur für wenige Stunden!«
   »Für so lange, wie Sie wünschen, mein junger Freund; am liebsten behielte ich Sie ganz hier. Jetzt kommen Sie schnell herein – auch der Zigeuner mag in die Küche gehen.«
   Mikosch hatte voll Erstaunen diese ihm unverständlichen Worte mit angehört; als er aber bemerkte, daß sich die beiden Männer kannten, pries er im stillen das glückliche Zusammentreffen und wollte gerade den Wagen zum Hofe lenken, als er sah, daß einer der Franzosen vom Pferde sprang und die Stufen hinaufeilte.
   »Hab ich dich, Onnen Visser! Zum zweitenmal in vierundzwanzig Stunden«, frohlockte Adam Witt. Hier führte ihm das Schicksal den Gesuchten entgegen, hier fand er den, welchen alle List in Moskau nicht umgarnen konnte.
   Seine Hände krallten sich in Onnens Rock. »Mein Herr«, rief er, dem Gutsbesitzer zugewandt, »dieser Mensch ist ein Deserteur, Sie müssen ihn herausgeben!«
   Ein gehöriger Stoß mit dem Kolben war die Antwort. Der Herr des Hauses öffnete die Tür, schob ohne weiteres seinen Gast hinein und schloß sie wieder, dann wandte er sich an den Führer der Franzosen mit der Anfrage, was die Herren wünschten.
   Der Offizier hatte schon während der ganzen Unterredung Onnens mit dem Gutsherrn seinerseits den Verwalter bestürmt, Lebensmittel und Futter für die Pferde herauszugeben, jetzt wandte er sich an den Eigentümer und drohte mit Gewaltmaßregeln, wenn nicht seinem Wunsche sofort entsprochen werden würde.
   Es entstand eine Unruhe, eine Art Vorbereitung zum Kampfe; Gewehre wurden angeschlagen und Säbel geschwungen, herüber und hinüber flogen erbitterte Worte, als plötzlich Mikosch einen Ton hörte, von dem er glaubte, daß derselbe nur in seiner erregten Phantasie bestehen könne.
   Es klang, als wenn jemand eine Sense schärft. Einmal und nochmals – der Ton war wirklich vorhanden.
   »Alexei!« rief der Alte. »Alexei – sollte er hier sein?«
   Und wirklich sah er plötzlich den jungen Menschen. Neben den Pferden der Franzosen erschien das listige Gesicht, sein Abgesandter winkte ihm.
   Unvermerkt, während der Streit zwischen dem Gutsherrn und dem Offizier in immer verstärktem Maße fortgeführt wurde, unvermerkt näherten sich einander die beiden Söhne des braunen, wandernden Stammes.
   Alexeis Augen glänzten triumphierend. »Goel!« sagte er bedeutsam.
   »Was? – Was?«
   »Goel, sieh dorthin. Der Mann mit dem Tigergesicht ist Oberst Jouffrin!« »Ah!«
   Nur dieser eine Laut drang aus der Kehle des Zigeuners hervor, aber es lag darin eine Welt von Befriedigung, ein Rausch des errungenen Sieges.
   Mikosch lockerte das Messer in der Scheide.
   Alle Hintersassen des Gutsherrn, Leibeigene und gemietete Tagelöhner, über siebzig an der Zahl, hatten sich jetzt auf dem Hofe eingefunden; es kam zum Handgemenge und von da zum Kampfe; die Franzosen versuchten anfänglich, ihre Gegner niederzureiten, aber das mißlang ganz und gar, darum saßen sie ab und kämpften Mann gegen Mann.
   Vier Arme streckten sich aus, um den Obersten zu Boden zu reißen, vier Arme hielten wie eiserne Schrauben seinen zuckenden Körper. Er konnte nicht schreien, ein Knebel steckte ihm zwischen den Zähnen; er konnte nicht aufspringen, denn die Füße waren eng umschnürt.
   So trugen sie ihn hinter die Ecke eines Nebengebäudes, ganz wehrlos, jählings überfallen und zu Boden geschlagen, wie das Schicksal den Schuldigen ereilt, gleichviel durch welches Werkzeug, auf welche Weise.
   Und hier nahmen sie ihm das Tuch aus dem Munde. Im Donner der Musketenschüsse, des Schreiens, Stampfens und der Pferdehufe ging seine Stimme völlig verloren.
   Mikosch beugte sich über ihn, das blanke Messer in der Hand. »Tyrann!« sagte er mit tiefer, vor Erregung unsicherer Stimme, »Tyrann, entsinnst du dich jener Stunde, wo ein armer harmloser Zigeuner mit seinem Wagen dir begegnete und wo du ihn nach dem Wege fragtest? Als guter russischer Patriot konnte und wollte er dir keine Auskunft geben. Was tatst du da, elender Franzose?«
   Der Oberst hob den Kopf. Bei allen seinen Lastern war er doch keineswegs feige, auch jetzt loderte in seinen Blicken ein ungemessener Zorn, er lachte höhnisch. »Ich behandelte den Hund, wie er es verdiente. Ein Wolf mehr oder weniger in der Welt, wen kümmert es?«
   »Da hast du recht«, nickte Mikosch. »Und nun wisse, du bist der Blutrache meines Volkes verfallen, du mußt jetzt sterben!« Oberst Jouffrin versuchte eine gewaltsame Anstrengung, um sich zu befreien, aber das Messer des Zigeuners hatte bereits seine Brust durchbohrt. Noch einmal öffneten sich die Lippen – ob zum Beten oder Fluchen – aber kein Ton drang hervor. Der »Schinder« hatte aufgehört zu leben.
   Unter freiem Himmel, mit durchstochenem Herzen, wie er Barbarin getötet, so ereilte ihn die Rache.
   In den Augen des Zigeuners erschien ein Freudenblitz; langsam zog er das Messer aus der Wunde und reinigte es an den Kleidern des Gerichteten. »Das wäre abgetan, Alexei, nun kann mein armer Bruder schlafen, schlafen – und von dem ewigen Glanze träumen! – Auf, Alexei, auf, wir müssen da vorn den Bären ins Treffen führen; es scheint, als wollten die Bauern den französischen Freibeutern erliegen.«
   Die Leiche des Obersten ihrem Schicksal überlassend, eilten die beiden Männer auf den Kampfplatz, wo die Soldaten Fuß für Fuß das Terrain eroberten. Wildgewordene Pferde sprengten verwundet, blutend und reiterlos überall umher, die Gartenbeete waren zerstampft, die Fensterscheiben zerschlagen, die Obstbäume beschädigt; der Gutsbesitzer kämpfte mit dem Säbel in der Faust gegen die Feinde, denen im Handgemenge keine Zeit blieb, sich ihrer Feuerwaffen zu bedienen – sie schlugen mit den Kolben gegen die Dreschflegel der Bauern oder rangen mit diesen, bis einer den anderen erwürgt hatte.
   Die Kampflinie umgehend, eilte Mikosch zu seinem Wagen und setzte den Bären in Freiheit. Der Maulkorb wurde abgestreift, Stock und Kette entfernt, dann sprang Ruff schwerfällig zu Boden. »Auf, mein Tier«, ermunterte der Zigeuner, »auf! Das sind Feinde!«
   Der Bär spitzte die Ohren. Mit einem lauten, gewaltigen Brüllen stürzte er sich in das Getümmel und erreichte sofort, was sein Herr beabsichtigte: die Bauern flüchteten nach einer, die Franzosen nach der anderen Seite.
   Mikosch hob ermutigend die Hand. »Diese da, mein Alter, diese sind‘s! Gib es ihnen!«
   Ruffs furchtbare Tatzen streckten die nächsten Gegner zu Boden; den Bauern schien durch diese unerwartete Wendung neues Vertrauen eingeflößt, sie drangen mit verdoppelter Kampflust vor und schon nach wenigen Minuten waren die halbverhungerten, vor Kälte schaudernden Franzosen aus dem Hofe vertrieben.
   Krachend flog das große eiserne Tor ins Schloß; eine Wache, aus sechs Leibeigenen bestehend, postierte sich nahe am Gitter, und nun begann alles, was auf dem Gute noch Hände regen konnte, zunächst den vielen Verwundeten zur Hilfe zu eilen. Man trug Freund und Feind in ein Zimmer des Erdgeschosses, wo der Gutsherr selbst die ersten Anordnungen traf; ein Knecht ritt zum Arzte, zehn oder zwanzig andere teilten sich in Gruppen, um die flüchtigen Franzosenpferde einzufangen und sofort zum Tore hinauszujagen. Jedes einzelne trug am Sattel mehrere aufgerollte Leinwandsäcke, in denen jedenfalls die Beute nach Moskau transportiert werden sollte; stattdessen mußten nun viele der Tiere, den Spuren ihrer Genossen folgend, leer in die Hauptstadt zurückkehren.
   Der Vorgarten sah aus wie ein Schlachtfeld; Blut stand in Lachen zwischen den Vertiefungen der Steine, Blut hatte die Erde durchsickert; in ganzen Haufen lagen zertretene, zerknickte Büsche und Gesträuche umher. Jetzt kam auch das weibliche Personal des Hauses zum Vorschein, die Gutsherrin und ihre Mägde; man säuberte, glättete und fegte, bis die frühere Ordnung einigermaßen wiederhergestellt war.
   Die Toten, vierzehn an der Zahl, lagen sämtlich in einer Scheune, wohl gewaschen und mit gefalteten Händen, jeder ein Sträußchen vom Lebensbaum auf der Brust; so sollten sie am Abend, wenn der Pope des nächsten Dorfes die Einsegnung vollzogen hatte, im gemeinschaftlichen Grabe der Mutter Erde übergeben werden.
   Auch Oberst Jouffrin war dabei. Die stumpfsinnigen Leibeigenen glaubten, daß er sich mit der Todeswunde in der Brust noch so weit fortgeschleppt haben könne – sie fragten nicht weiter, sondern trugen ihn zu den übrigen Leichen.
   Mikosch und Alexei wurden in der Küche auf das beste bewirtet; Onnen dagegen hatte ein Zimmer im Herrenhause erhalten und stand jetzt nach Beendigung aller dieser aufregenden Szenen, noch geschwärzt vom Pulverdampf, mit zerfetzten Kleidern dem Gutsherrn gegenüber. Sein Auge leuchtete vor Vergnügen; er lachte, als ihm Herr von Bojanoff Vorwürfe machen wollte.
   »Aber wie konnte ich denn ruhig und im gesicherten Versteck ansehen, daß alle Männer des Gutes gegen die Franzosen kämpften, während ich selbst untätig dastand!« rief er. »Das durften Sie nicht verlangen, mein Herr!«
   Der Edelmann lächelte. »Nun, nun, vielleicht hätte ich ja an Ihrer Stelle gehandelt wie Sie, mein junger Freund, aber dennoch – der Paß, welchen ich damals in Emden aus Ihrer Hand nahm, dieser Paß für Poppinga und Sohn rettete damals meinem Vater und mir das Leben; ich möchte also die Schuld gern so viel wie möglich abtragen, ich will nicht, daß Ihnen unter meinem Dache ein Leid geschieht!«,
   »Nun aber«, setzte er hinzu, »machen Sie sich‘s vor allen Dingen bequem. Hier ist Ihr Zimmer; wenn Sie ausgeruht haben, so kommen Sie zum Essen wieder herunter. Später soll Ihnen dann der Schneider einen neuen äußerlichen Menschen anmessen.«
   Onnen dankte gerührt. »Will Mikosch so lange hierbleiben?« fragte er.
   »Mikosch? Wer ist das? – Ah so, der Zigeuner. Nun, über alle diese Dinge wollen wir später in Ruhe sprechen; jetzt vergönnen Sie sich nur zunächst eine gründliche Wäsche.«
   So war denn Onnen plötzlich aus dem Schmutz und der Niedrigkeit der Zigeunerherberge in die eleganten Räume des freiherrlichen Schlosses versetzt; er aß von Porzellantellern und trank aus geschliffenen Gläsern, die vier Kinder des Gutsherrn kamen zutraulich an ihn heran, alles atmete Wohlhabenheit und Sicherheit, alles stand im schärfsten Gegensatz zu den wilden und schrecklichen Szenen, welche er seit so vielen Monaten durchlebt hatte.
   Beim Kaffee erzählte Herr von Bojanoff seinem jungen Gaste die Geschichte der damaligen Reise nach Emden und der Gefahr, welcher er so glücklich durch Heye Wessels Paß entronnen war. »Ich bin aus einer russischen Familie«, sagte er, »aber persönlich von Geburt ein Österreicher. Als Generalleutnant geriet ich bei Wagram in französische Gefangenschaft, wo mir die leitenden militärischen Kreise, namentlich dieser Viktor Lemosy, zu verstehen gaben, daß es für mich von größtem Vorteil sein werde, wenn ich über gewisse Einzelheiten österreichischer Armeeverhältnisse eine vertrauliche Auskunft geben wolle. Meine einzige Antwort war eine schallende Ohrfeige, die Lemosy in Gegenwart dritter Personen erhielt – das verzieh er mir natürlich nicht. Ich wurde sehr streng behandelt, fand aber dennoch Gelegenheit zur Flucht und entkam nach Amerika, wo ich mehrere Jahre lebte; dann starb ein älterer Verwandter, welcher mir dies Gut hinterließ; ich nahm den Platz auf einem nach Hamburg gehenden Schiffe und wollte von dort, mit einem amerikanischen Passe versehen, über Dänemark und Schweden hierher gelangen, aber das Schicksal hatte es vorläufig anders beschlossen. Mein Vater war mir nach England entgegengereist; wir kamen glücklich durch den Kanal und litten dann auf der Höhe von Borkum Schiffbruch. Der Paß und mit ihm mein ganzes Gepäck gingen verloren, ich hatte nur das bare Geld gerettet, allerdings vorläufig das notwendigste, aber dennoch war ich in Verzweiflung; die französischen Behörden ließen niemand ohne Paß des Weges gehen.
   »So saßen wir im Gasthof zu Emden, mein Vater und ich, ratlos, immer grübelnd und doch ohne Auskunftsmittel; immer neue Pläne ersinnend und doch überzeugt, daß einer ebenso unausführbar sei wie der andere, bis – Sie kamen!«
   »Gottlob!« schaltete Onnen ein.
   »Ja, gottlob!« wiederholte innig der Gutsherr. »Wir hatten aus unserem Zimmerfenster gesehen, wie die beiden Lederpuppen in Sicherheit gebracht wurden, wir hörten, wie der Wirt den Leutnant hinter das Licht zu führen suchte, und durchschauten unschwer den Zusammenhang der Dinge. Dieser Paß, zu dem die Inhaber fehlten, mußte in unseren Besitz gelangen!
   »Als der Wortwechsel gerade vor unserer Tür immer heftiger wurde, da erschien ich und nannte meinen Vater und mich selbst ohne Umstände Poppinga und Sohn, ich sprach auch von meinem Hause in Emden und – das Weitere wissen Sie.
   »Ich kann Ihnen sagen, daß mir das Herz den Kanonen der Feinde gegenüber nie so mächtig schlug wie in dem Augenblick, wo ich Lemosys Züge erkannte! Ein schmachvoller Tod von Henkershand wäre mir im Fall der Entdeckung gewiß gewesen.«
   Er nahm die Zigarre aus dem Munde und sah minutenlang stumm vor sich hin; sein Gesicht schien blaß.
   »Solche begünstigten und völlig gewissenlosen Kreaturen Napoleons haben leider überall, wohin sie gelangen, gegenwärtig eine unheilvolle Macht«, sagte er dann; »ich hätte jene Ohrfeige mit den ärgsten Martern büßen müssen. Gut, daß Sie kamen, mein junger Freund, gut, daß die braven Buttfischer mit ihren Kreien zur Stelle waren! – Ich habe die Leute später reichlich entschädigt und will auch Ihnen nach Möglichkeit beistehen. Bleiben Sie hier, werden Sie das älteste meiner Kinder und seien Sie mir als solches tausendmal willkommen.«
   Er streckte die Hand aus – es zuckte in Onnens Fingerspitzen, als müsse er sie hineinlegen, aber nur einen Augenblick, dann schüttelte er kräftig den Kopf. »Ich danke Ihnen aus Herzensgrund, gnädigster Herr, es ist mein eigenes Glück, das ich hier verscherze, aber – daheim betet die verwitwete Mutter zu jeder Stunde, daß ihr Gott den Sohn wieder in die Arme führen wolle! Ich kann die, welche so Schreckliches ertragen mußte, in dieser letzten Hoffnung nicht täuschen.«
   Herr von Bojanoff streichelte lächelnd das erglühende Gesicht seines jungen Gastes. »Ich kann Ihnen nur beipflichten, lieber Visser«, sagte er freundlich, »Sie handeln so, wie es einem guten Sohne geziemt, und der Lohn dafür wird nicht ausbleiben.«
   »Da sehe ich aber den Arzt kommen«, setzte er hinzu. »Jetzt muß ich ihn und wahrscheinlich auch gleich den Popen empfangen; das Grab für die Toten wird auf dem Gottesacker schon ausgeworfen.«
   Der Nachmittag brach an und die Leichenfeier sollte, sobald der Arzt die Körper der Gefallenen besichtigt hatte, vor sich gehen. Nach und nach kamen aus dem Dorfe die sogenannten Klagefrauen, solche Bäuerinnen, die eine besonders schöne Singstimme haben und daher die Totenlieder vortragen, Dichtungen, von denen man sagen kann, daß sie, nie geschrieben und nie gedruckt, unvergänglich im Herzen des Volkes fortleben und gerade dadurch ihren wahren Wert erhalten. Die Frauen trugen ihren besten Sonntagsstaat und hielten weiße Taschentücher in den Händen; sie wurden zunächst alle in der Küche freigebig bewirtet, dann begann die eigentümliche Feier.
   Der Pope hielt eine Rede, in der er von den Wechselfällen des Krieges sprach und von dem Lohne, welcher im ewigen Leben die treuen Diener erwarte, denen hier das schöne Los zuteil geworden, für ihren Herrn und Gebieter sterben zu dürfen; er segnete die Leichen ein und übergab darauf den nun folgenden Teil der Totenfeier den Frauen.
   Der Gutsherr und seine Gemahlin hatten in der großen Vorhalle mitten unter dem Gesinde Platz genommen; vor ihnen standen die Klagefrauen und neben diesen lagen in langer Reihe die Opfer des heutigen Morgens.
   Eine ganz in Schwarz gekleidete, mit wallendem Schleier umhüllte Frau trat vor. Sie sang an Stelle der hinterlassenen Witwen aller dieser Toten, ihre Hände waren gefaltet, ihre Augen rot vom Weinen; das was sie sagte, kam aus dem tiefsten Herzen, wie denn auch diese Sterbegesänge nie bezahlt, sondern immer nur erbeten werden.
   »Die rote Sonne«, so begann der Gesang, dessen Worte Onnen notdürftig verstand, »die rote Sonne hat sich hinter hohen Bergen, hinter wallenden Wolken und rauschenden Bäumen versteckt, sie hat unter den östlichen Sternen ihren Platz gesucht. Mein Mann, mein Ernährer ist dahin, ich bin eine Witwe geworden und meine Kinder sind Waisen! O ich Arme, ich Unglückliche, weshalb ließ ich den Tod in das Haus hinein, weshalb erkannte ich ihn nicht zur rechten Zeit, den Lügner, den Betrüger! Ach, es wäre mir ja gewiß gelungen, ihm sein Opfer zu entreißen, er hätte mit einem minder kostbaren Leben fürlieb genommen, er hätte sich erweichen lassen! – Ich Arme besitze nicht einmal das Bild meines Gatten; was soll ich nun seinen Kindern zeigen, wenn sie erwachsen sind?« Ringsumher seufzte alles. Schwankenden Schrittes näherte sich die Sängerin einer Gruppe anderer Frauen, welche die Nachbarinnen der beraubten Witwe vorstellten. Sie warf sich ihnen zu Füßen und umklammerte ihre Knie. »Verlaßt mich nicht, um Jesu willen, verlaßt mich nicht, sonst bin ich der Verzweiflung überliefert!« In diesem Augenblick trat der Gutsherr vor. »Tröste dich, arme Frau«, sagte er,»tröste dich, suche den Schmerz zu überwinden.« Aber die gesungene Klage wurde nur noch heftiger. »Laß mich weinen, laß mich jammern, oder der Schmerz rafft auch die Mutter dahin, macht unschuldige Kinder ganz zu Waisen, raubt ihnen das letzte!«
   Die Nachbarin, deren Knie jene umfaßt hielt, übernahm jetzt die Fortsetzung des Gesanges. »Was soll wohl eine arme Witwe beginnen?« tönte es von ihren Lippen. »Woher soll sie Brot und Kleider nehmen, womit die Söhne unterrichten und die Töchter aussteuern? – Wehe, wehe, auch mein Gatte ging dahin; ich kenne das Los der Verlassenen!«
   Sie machte sich mit sanftem Zwange aus den Armen der ersten Sängerin frei und trat zu den Toten. Ihre Hände, weit vorgestreckt, waren gefaltet, ihr Kopf zurückgebogen. »Ach, warum ist der Tod so stumm, so kalt, warum ist es euch nicht gestattet, einen Brief mitzunehmen an meinen Gatten? Ich hätte ihm so gern von den Kindern geschrieben, von der bunten Kuh und dem Pferdchen, das er aufzog, das er liebte! – Ihr könnt keine Briefe besorgen, denn eure Hände sind kalt und eure Augen gebrochen, aber in den Ländern des ewigen Sonnenscheines werdet ihr meinen Gatten sehen – grüßt ihn von seiner Witwe, seinen Kindern, von der bunten Kuh und dem Fohlen!«
   Damit war die Trauerfeierlichkeit im Hause beendet; der lange Zug bewegte sich in Sturm und Schneegestöber hinaus zum Dorfkirchhof, wo das große weite weiße Grab wie die verkörperte Öde und Einsamkeit unter den kahlen Baumstämmen dalag. Das ganze Dorf hatte sich eingefunden; viele beraubte Mütter, Frauen und Kinder weinten an den Bahren, viele Männer hatten ihre Brüder, ihre Freunde verloren. Der Pope sprach wieder einige Worte, worauf ihm die erste Sängerin für seinen Segen im Namen der Toten dankte und dann ihre verzweifelten Klagen abermals erschallen ließ. Während derselben wurden die Toten in das letzte Bett gelegt und nun warf sich die Sängerin am Rande der Grube auf ihre Knie, laut den Himmel anrufend, daß er die Heimgegangenen zu neuem Leben erwecken und den Angehörigen zurückgeben möge. »Wir werden sie am Morgen erwarten, am Mittag und am Abend«, schloß sie die rührende Klage, »wir werden uns in der Nacht wachzuhalten suchen, um ihre Ankunft nicht zu versäumen. Gib sie uns wieder, Herr, gib sie uns wieder!«
   Schauerlich im Pfeifen und Ächzen des Ostwindes klang die bange Weise; es ging gewiß von allen Teilnehmern des Zuges kein einziger ohne tiefe nachhaltige Erschütterung in das Dorf zurück – für Onnen sollte indessen noch ein unerwarteter Augenblick der Erregung bevorstehen. Als er mit dem Schloßherrn nach Hause kam, da hatten die Knechte in einem Gebüsch vor dem Tore noch eine Leiche aufgefunden, einen jungen Mann, dessen krampfhaft verschlungene Finger das dürre Gras erfaßt hielten, dessen Züge den schweren Todeskampf deutlich erkennen ließen. Eine Kugel war ihm in die Brust gedrungen – er mußte furchtbar gelitten haben. Mikosch sah ihn zuerst, dann winkte er unserem Freunde. »Schau einmal den Burschen an, Herr, ich denke, du wirst ihn kennen!«
   Onnen kam näher. »Ist es Adam Witt, Alter?«
   Der Zigeuner nickte. »Fühle seinen Rock, Herr! Die Knechte waren schon ganz erstaunt.«
   Vor Onnens Blicken lag auf Stroh die Leiche dessen, den er im Leben so tief verachtet, der ihm ohne allen Grund ein Feind und Widersacher gewesen. Adam Witt war tot, der Verräter hatte seine gefährliche Macht verloren.
   »Fühle den Rock, Herr«, wiederholte Mikosch.
   Onnen fuhr auf; er streckte mechanisch die Hand aus. »Du, Alter, ich glaube, hier sind Goldstücke in das Futter genäht!«
   »Hm, ich glaube es auch. Unten und oben, im Kragen und in den Ärmeln, überall sitzen die runden Dinger. Auch die Weste ist ausgestopft, und um den Leib liegt ein breiter Ledergurt! Wenn das die Herren Kameraden gewußt hätten!«
   Onnen schüttelte den Kopf; er zog über das entstellte Gesicht des Toten ein Tuch und machte dann dem Gutsherrn die Meldung dessen, was er gesehen hatte. Herr von Bojanoff spielte mit dem Stift in der Hand; er seufzte. »Hat dieser junge Mensch daheim auf Norderney eine arme Familie?« fragte er nach längerer Pause.
   »Nur noch seinen Vater, Herr Baron, und dieser ist sehr reich.«
   »Gut; dann soll das zusammengeraubte Geld den Witwen und Waisen der heute morgen gefallenen Männer zugute kommen. Wenn wir – was mir allerdings das liebste wäre! – den Schatz mit dem Toten begraben wollten, so würde das nur zu neuen Räubereien Veranlassung geben. Eines Tages wäre das Grab aufgewühlt und die Leiche herausgezerrt – wir wollen das Geld den Hinterbliebenen meiner Bauern geben.«
   Für diesen Tag war es zu einer neuen Beerdigung zu spät geworden. Die Kammer, in welcher der Tote lag, wurde verschlossen und eine Wache vor die Tür gestellt; dann versperrte man mit doppelten Eisenstangen das vordere Tor und ließ die beiden großen Bulldoggen schon in der Dämmerung frei umherlaufen.
   Während der Nacht schliefen alle Bewohner des Gutes wie Menschen, die geistige und körperliche Anstrengungen durchlitten haben; am folgenden Morgen ließ dann der Gutsherr den Dorfgeistlichen, sowie den Verwalter und den Schreiber kommen, um in Gegenwart dieser Zeugen festzustellen, wieviel Geld bei dem Toten gefunden sei.
   Die durchnäßten, blutbefleckten Kleider wurden von den erstarrten Gliedern geschnitten und dann der ganze Inhalt auf einen Tisch gehäuft. Silberne und goldene Münzen, edle Steine und Stücke zerbrochener Schmuckgegenstände, alles von dem Blute des mißleiteten jungen Menschen überströmt, so quoll unaufhaltsam das gestohlene Gut aus den Nähten und dem Futter der Kleidungsstücke, aus dem Ledergurt und den Stiefeln hervor. Tausende lagen da beieinander – ein eisiges Grauen ging durch die Seelen der Männer. Wie viele Tränen mochte der nun Gestorbene um dieser Schätze willen erpreßt haben? Wie viel Elend anderer verklagte ihn vor Gott! —
   Das Antlitz der Leiche blieb bedeckt. Die zerfetzten Uniformstücke wurden vergraben und dann ein Sarg gezimmert, um ohne die üblichen Totenklagen und die Begleitung dritter Personen den Verstorbenen, der ja nicht zur russischen Kirche gehörte, am folgenden Tage zu beerdigen.
   Nur Onnen gab ihm die letzte Ehre; er begleitete den Sohn seiner Heimatinsel zum Grabe und warf die erste Handvoll Erde auf den Sarg. Mochte ihm Gott ein gnädiger Richter sein! —
   Etliche Stunden später ging es dann zur Abreise. Die geschlagenen und stark aufgeriebenen Freibeuter konnten immerhin in Moskau von dem Geschehenen Mitteilung gemacht haben; der Oberst wurde vielleicht vermißt und andere Streifpartien zogen aus, um seinen Tod zu rächen, es war also besser, denselben aus dem Wege zu gehen. Onnen hatte von der Güte des Schloßherrn neue derbe Pelzkleidung erhalten, Mikosch außerdem eine größere Barsumme und alle drei vorzügliche Waffen; so ausgerüstet machten sie sich, nachdem die Räder abgenommen und der niedrige Wagen in einen Schlitten verwandelt worden war, nach herzlichem Abschied wieder auf den Weg.
   Herr von Bojanoff hatte sich durch einen reitenden Boten eine Abteilung Kosaken erbeten und auch erhalten. Das Gut war also jetzt vollständig beschützt und vor der Rache der Franzosen gesichert. Unsere Freunde hörten noch, daß das alte Zarenschloß des Kreml teilweise in die Luft gesprengt worden sei, dann flog der Schlitten durch die wirbelnden Schneemassen dahin, und als Onnen den Alten fragte, welchen Weg er jetzt einschlagen wollte, da lachte dieser wohlgefällig. »Es wird überall für uns Brot gebacken, Herr – zunächst muß ich nun in den Winterquartieren meines Volkes vorsprechen, muß sehen, wie die Frauen und Kinder leben.«
   »Ganz gut«, rief Onnen. »Wo liegt der Ort?«
   »Weit hinaus – und noch weiter geht unsere Fahrt. Laß dir sagen, Herr, daß die Stunde der Befreiung schon heraufzieht, für dein Land sowohl wie für das meinige. Napoleon leidet in Moskau Höllenqualen, er kann die glühende Luft kaum noch atmen, er findet für seinen Tisch keine Speisen mehr, er erhält von unserem Zaren, mit dem er unterhandeln will, keine Antwort.«
   »Sprachst du mit den Kosaken, Alter?«
   »Ja. Sie waren sehr guten Mutes. Napoleon kann sich in Moskau nicht halten, seine Leute werden reihenweise, tausendweise ermordet – sie gehorchen ihm nicht länger, sie lachen ihren Vorgesetzten ins Gesicht und schlagen die Wachtposten, sie ziehen bandenweise umher und erbrechen ohne Umstände die von ihm errichteten Magazine. Kann es noch ärger werden? Der Tyrann Europas zittert, ich sage es dir!«
   Er knallte mit der Peitsche und ließ lustig die Schlittenglocken klingen. Milliarden von Flocken wirbelten durch die Luft und häuften sich auf die Pelzkappen der Männer, hoch in der grauen bleifarbenen Luft krächzte der Rabe und aus den öden Waldungen bellten Fuchs und Wolf.
   Wie ein Schatten huschte der Schlitten hindurch.


   16

   Das Winterdorf des Zigeunerstammes lag an der Waldgrenze, geschützt von Felsabhängen und in ziemlicher Nähe einer kleinen Stadt. Die Zelte aus Schafspelzen waren fußhoch mit Schnee bedeckt, alles erglänzte in weißem Schimmer, unter einem großen Bretterschuppen loderte das mächtige Feuer, an dem einzelne Männer die Kessel der Stadtbewohner flickten, andere Pferde beschlugen oder das Eisen schmiedeten.
   Mikosch hatte seiner alten Mutter das Messer in den Schoß gelegt und ihr gesagt, daß Barbarins Tod gerächt sei. Ein Freudenfeuer erglänzte aus diesem Grunde in der ersten Nacht auf den umliegenden Höhen und ein heidnisches Opfer versammelte um einen großen platten Stein die braunen Gaunergestalten.
   Blut war in das Feuer gespritzt, ein Herz und ein Hirn vom Pferde verbrannt – nun hatten die alten Heidengötter ihren Dank erhalten.
   Gesprochen wurde davon und dabei kein Wort; Onnen sah es auch nur von weitem, aber er wußte doch, daß es geschehen sei.
   »Wenn nun Oberst Jouffrin glücklich entkommen wäre?« fragte er seinen Freund Alexei.
   »Dann hätte ihm Mikosch nach Frankreich folgen müssen.«
   »Er hätte aber auch in der Schlacht fallen, auch an einer Krankheit sterben können?«
   »Gewiß – dann wäre sein ältester Verwandter der Blutrache verfallen gewesen; wenn dagegen Mikosch die Pflicht des Goel aus irgendeinem Grunde unerfüllt lassen mußte, so trat Jasko an seine Stelle. Oft ist erst der dritte oder vierte Erbe statt des Schuldigen zur Rechenschaft gezogen worden.«
   »Ein grausames, ungerechtes Gesetz!«
   »Kümmere dich nicht darum; Herr! In dieser Nacht wollen wir Hühner jagen.«
   »In der Nacht?«
   »Gewiß. Der Schnee liegt seit vierzehn Tagen und schmilzt nun vor dem Frühling nicht wieder – sie haben sich jetzt eingebettet.«
   »Die Hühner?« »Ja. Es wollen außer mir noch mehrere andere junge Leute hinaus; begleitest du uns, Herr?«
   »Natürlich. Aber weshalb muß es denn in der Nacht geschehen?«
   »Weil wir sonst die Tierchen nicht finden würden. Schlafe nur einige Stunden, damit du munter bist.«
   Onnen fand das Treiben in dem Winterdorfe keineswegs nach seinem Geschmack; er erwartete vielmehr sehnlichst die Stunde, wo Mikosch den Reisewagen wieder bespannen und weiterfahren würde. An Reinlichkeit war bei dem braunen Völkchen nicht zu denken, an Ehrlichkeit ebensowenig; es kamen Kälber, Schafe, Enten und Gänse in die Kochtöpfe, es erschienen sogar Pferde und Rinder, die irgendein flinker Geselle entführt hatte, ehe ihn jemand daran zu hindern vermochte – und Mikosch und Alexei wußten das sehr wohl. Sie luden mit der größten Freundlichkeit den zu Tische, der weniger besaß als sie selbst; aber woher der Braten gekommen war, das verursachte ihnen nicht die geringste Sorge.
   Aus allen Hütten erschallten am Abend die lustigen Melodien; das Völkchen lebte nur der gegenwärtigen Stunde, ohne darüber hinauszudenken. Fast an jedem Tage kamen wandernde Stammesgenossen, Bärenführer, Affenbesitzer, Wahrsagerinnen und Hufschmiede, die auf ihren Zügen durch das Land bei den Gesinnungsverwandten einkehrten und gleichsam ihre lebendige Zeitung bildeten. Auch aus Moskau kam ein Zauberkünstler mit seinen Spielereien und brachte Botschaft von den beiden Söhnen des alten Häuptlings. Sie waren bis jetzt noch in der Hauptstadt, auch Feiko und Georg ließen grüßen; die Franzosen bereiteten den Rückzug vor, während die Unordnung in ihren Reihen von Tag zu Tag wuchs. Das Heer war nur noch eine Horde von Räubern und Zerstörern.
   Mikosch lächelte zufrieden. »Dies Jahr hat guten Verdienst gebracht«, nickte er. »Ich werde mir eine Schenke pachten und für den Rest meiner Tage ausruhen.«
   »Aber erst bringst du mich an die Küste, Alter?«
   »Ich bringe dich bis an die Schwelle deines Vaterhauses auf Norderney, Herr!«
   »Wenn Gott will!« fügte Onnen hinzu. »Ist es dir jetzt für die Hühnerjagd dunkel genug geworden, Mikosch?«
   »Noch nicht«, lächelte der Zigeuner, »aber geh nur hinaus zum Schlitten, Alexei hat schon angespannt; wir wollen aus einem anderen Dorfe einige Freunde abholen.«
   Onnen schnürte den Pelz von oben bis unten zusammen, zog die Handschuhe an und half den Schlitten bepacken. Riesige Stöcke mit daran befestigten Netzen wurden aufgeladen, hölzerne Keulen und endlich Mundvorrat und Fackeln. Noch mehrere andere Schlitten standen vor den verschneiten Hütten reisefertig da und endlich, als die Dämmerung herabsank, setzte sich der Zug in Bewegung.
   Gebirge zu beiden Seiten, enge Felswege, durch die kaum das Gefährt sich drängen konnte, schwindelnde Höhen und tiefe Abgründe – so ging es dahin. Alles weiß von oben bis unten, weiß der Kamm, dessen letzte Ausläufer in die Wolken zu ragen schienen, weiß die unübersehbare Wölbung des Grundes, aus deren verborgenstem Inneren der Gebirgsstrom rauschend und donnernd hervorschoß, sich tief unter der Erde mit gleicher Schnelle ein Bett höhlend, verschwindend, wie er gekommen war, immer neu in jeder Minute und doch derselbe seit Anbeginn aller Tage bis zu dem, welcher einst der letzte sein wird.
   Schneebeladen streckten uralte riesige Tannen ihre Arme über den Abgrund dahin, glitzernd und flimmernd bauten sich leichte Brücken von Zacke zu Zacke, spielende kleine Bäche, deren Wasser an der Oberfläche im eisigen Ost gefroren war.
   Tiefe bleierne Stille ringsumher; selbst der Rabe schwieg hoch oben im Duft – er hatte Schutz gesucht unter irgendeiner Felsspalte, Schutz vor der erstarrenden, unerträglichen Kälte.
   Der Weg erweiterte sich, Musik klang durch die Nacht, hie und da blitzte Feuerschein, zog eine blaue leichte Rauchwolke, die an der Felswand eine schwarze Spur hinterließ. Wohin sie kam, da schmolz der Schnee.
   Die Schlitten hielten; Onnen sah voll Erstaunen umher. »Wo ist denn nun aber das Dorf?« rief er.
   »Gerade hier. Da hast du gleich ein Wohnhaus, Herr!«
   Eine Spalte, nur hoch genug, um sie kriechend zu passieren, führte in das Innere des Felsens hinein. Ein Strom von Rauch drang daraus hervor; aber dieser Umstand schien die Zigeuner keineswegs zu genieren; Alexei schlüpfte voran und Onnen eilte ihm aus bloßer Neugier auf allen Vieren nach.
   Eine große offene Höhle lag vor seinen Blicken, die frühere Wohnung wilder Tiere, aus der die Zigeuner die alten Inhaber vertrieben hatten, um selbst Besitz zu ergreifen. Auf dem ungeebneten und ungefegten Boden kauerte um das in der Mitte brennende Feuer eine bunte Gesellschaft von Männern, Frauen und Kindern. Alte hexenartige Weiber kochten eine Speise, bei welcher der Zwiebelduft vorherrschte; kleine, völlig nackte Kinder krochen überall umher und junge braune Burschen spielten, auf Stroh liegend, in all dem Durcheinander von Geräuschen, Düften und beweglichen Wesen ihre süßen, herzerfrischenden Melodien.
   In einer Ecke tanzten größere Mädchen, während ihre Hände den Takt schlugen oder mit Kastagnetten klapperten. Ihre Haare hingen in zahllosen schwarzen Locken und Zöpfen herab, ihre nackten Arme und Füße waren zierlich geformt; rote Röcke und vielfacher silberner oder gar goldener Schmuck kennzeichneten den Reichtum des Stammes, obwohl außer einigen Schüsseln und Töpfen keinerlei Hausgerät vorhanden war.
   Die jungen Leute begrüßten mit lebhaften Zurufen ihre Jagdgenossen, die Kinder klammerten sich an sie, die alten Frauen tischten das furchtbare Zwiebelgericht auf, eine brachte sogar eine weitbauchige Branntweinflasche, aus der ihre holden Lippen dem Gaste zutranken und zwar in einer Weise, mit der auch ein durstiger Fuhrmann zufrieden gewesen wäre.
   Onnen hatte genug gesehen, auch das grunzende Rüsseltier in der Ecke und dreist gewordene Mäuse, die in ganzen Zügen durch das Stroh raschelten; er dankte für jede Vergünstigung oder Bewirtung und kroch schleunigst wieder ins Freie, um mit langen Atemzügen die kalte Luft einzusaugen.
   Wie konnten menschliche Wesen in solcher Umgebung leben! Draußen standen schon die Schlitten, jetzt mehr als zehn an der Zahl; wenigstens sechzehn Zigeuner hatten sich der Jagdpartie angeschlossen.
   »Wir haben für heute außer dem Hühnertreiben noch einen Bären in der Falle und vier Fuchshöhlen«, sagte einer. »Damit vergeht die ganze Nacht und vielleicht noch ein Teil des Morgens. Vorwärts!«
   Alle Fackeln waren entzündet, eine Anzahl von Hunden mitgenommen und so ging es, zwar ohne Horridoh und Hussasah, aber doch wie die wilde Jagd hinab in das verschneite waldige Tal.
   Die Rüden bellten und die Glocken klingelten; rot wie Blut fiel der Fackelschein auf den weißen gefrorenen Pfad. Rings weckte der Lärm die Tierstimmen umher, das Heulen der Wölfe, das Krächzen der Raubvögel – ängstliches Kreischen der kleineren aufgeschreckten Wesen. Gleich einem schnaubenden, dampfenden Ungeheuer glitt der vielgestaltige Zug durch den Wald.
   Hasen sprangen auf, Lemminge, Füchse; die Augen der Jäger glänzten. »Jetzt ist die Zeit gekommen – laßt uns absitzen.«
   Den Pferden wurden Schafspelze übergelegt, die Hunde angebunden und nach rechts und links zerstreuten sich die Männer in den Wald.
   »Zuerst Hühner und Füchse!« hieß es. »Die Hasen kommen später.«
   »Und der Bär?« fragte Onnen.
   »Wir werden schon hören, wenn er die Füße in das Eisen steckt! – Aha, da sind bereits etliche Winternester!«
   Die Fackeln beleuchteten den Erdboden; gleich einem roten Schleier lag der Glanz auf dem Schnee, aus dem hie und da eine seltsame Erscheinung hervorblickte, das braune Köpfchen eines Rebhuhns, dessen schwarze, perlenartige Augen erschreckt umhersahen, dessen kleine Brust einen Klagelaut von sich gab, den letzten auf Erden. Der lange Stock wurde geschwungen, das Netz spannte seine Maschen und das Vögelchen flatterte angstvoll noch einen kurzen Augenblick, dann hatten es die Finger des Jägers erdrosselt.
   Wer sich auf diese Jagd nicht besonders verstand, der konnte an den kaum bemerkbaren braunen Punkten ahnungslos vorübergehen; den Zigeunern dagegen fielen Hunderte von Vögeln zum Opfer, sie füllten ihre Taschen, ehe noch eine Stunde verstrichen war.
   Mitunter erschien in geringer Entfernung ein Wolf, der dann jedesmal erlegt wurde. Die heulenden, lungernden Bestien waren so zahlreich, daß der glückliche Schütze, auf das Fell ganz verzichtend, nur die Klauen abschnitt, um dafür den von der Regierung ausgesetzten Preis zu erlangen.
   Jetzt wurde die Fuchsjagd vorbereitet. Der weiße Pelz, viel wertvoller als der des Wolfes, verdiente es wohl, daß sich die Jäger seinetwegen keine Mühe verdrießen ließen. Vier verschiedene Gruben waren vorher schon durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet; nun wurden sie umstellt.
   Der weiße Fuchs sucht sich im Beginn des Winters eine Schlucht oder Höhle, welche tief in die Erde hinabgeht; während der eine Zugang ganz verschneit, erhält er den anderen halb geöffnet, aber so versteckt, daß ihn die größeren Raubtiere nicht finden. Zusammengerollt verbringt er in diesem Bau seine Tage, angenehm erwärmt trotz der draußen herrschenden Kälte, absichtlich taub, wenn die Jagdhunde bellen, ganz gesichert, wie er wähnt, da ja Millionen von Flocken niederfielen, seit er zuletzt dem Schnee seine leicht verwischten Spuren eindrückte.
   Doch mit des Geschickes Mächten kann auch Meister Reineke, der Schlauberger, den ewgen Bund nicht flechten – Adams Söhne sind »ihm über in der Fixigkeit«.
   »Hier ist der dürre Ast an dem Baumstamm befestigt – dort die leichte Erhöhung kennzeichnet den Eingang zum Bau.«
   »Wo aber ist der Ausgang?« fragte Onnen.
   »Den müssen wir erst ermitteln. Still!«
   Eine Schaufel entfernte den Schnee. In weitem Kreise war der Platz umstellt, alle Hähne gespannt, alle Messer in Bereitschaft.
   Als die Höhle bloßlag, warf man Werg, Harz und Pech hinein; eine Fackel setzte das Ganze in Brand, dann wurde hinter dem glimmenden, stark räuchernden Feuer der Zugang wieder verschüttet. Wo jetzt die Rauchwolke sich Bahn brechen würde, da lag das entgegengesetzte Ende des langen Ganges.
   Mikosch zeigte auf das Gewehr, welches auch er in der Hand trug. »Nicht schießen!« warnte er halblaut. »Die Waffe ist nur für den Notfall.«
   »Des Pelzes wegen«, ergänzte Alexei. »Ist eine Kugel hindurchgefahren, so müssen wir ihn viel billiger verkaufen.«
   »Und wie tötet ihr denn den Fuchs?«
   »Wenn wir ihn erst einmal im Netz haben, so wird er mit Stöcken erschlagen.«
   Ein allgemeines Schweigen folgte diesen leise geflüsterten Worten; alle Jäger beobachteten mit der Fackel in der Hand den Schnee ihres nächsten Umkreises.
   Da schien an bestimmter Stelle die Oberfläche zu sinken, eine Art von Grau, von Schmutzfärbung durchzog das reine Weiß und dann brach sich die Rauchwolke Bahn. Meister Reineke und Familie waren umstellt.
   Schnellen Schrittes näherten sich von allen Seiten die Jäger. Ein dichtes, starkes Netz wurde vor den Ausgang gespannt und drüben, nachdem das Feuer hinweggeräumt worden war, die ungeduldig wartenden Hunde in den Gang gehetzt. Ihrer sechs stürzten sie hinab, wimmernd und bellend vor Eifer; wie aus dem Schoße der Erde hervor tönte das Geräusch ihrer Stimmen.
   Vier Männer hielten das Netz, um dessen Schnüre sogleich zusammenziehen zu können, aber vorläufig ließ sich freilich der Fuchs nicht blicken. Wie böse Geister tobten, bellten und kratzten drinnen im Felsen die Tiere, hie und da erhob sich ein Schmerzensgeheul, aber an den Ausgang kam weder Fuchs noch Hund.
   Einer der Jäger stieg in die Grube hinab. Eine noch größere, stärkere Glut wurde angefacht und endlich ein loser Schuß in den Gang hineingefeuert; das half. Wie die wilde Jagd erschienen alle in der Höhle befindlichen Geschöpfe, ineinander verbissen der männliche Fuchs und ein Hund, dann die Füchsin mit ihren Jungen und hinterher vier kläffende Rüden, die schon aus mehreren Wunden bluteten. Selbst die halbwüchsigen Jungen hatten sich tapfer verteidigt, wenn auch größere Mengen von Haaren aus ihren Pelzen gerissen waren und das zarte weiße Fell hie und da blutige Streifen zeigte.
   Und nun kam eine grausame Szene. Im Netz, gefangen, völlig wehrlos, wurden die beiden alten Füchse von den Zigeunern erschlagen; dann ging es an die Jungen. Mikosch hielt den Kopf hinter den Ohren und Alexei brach ihnen ein Bein, um sie an der Flucht zu verhindern.
   »Was machst du da?« rief Onnen. »O die armen Geschöpfe – sie schreien vor Schmerz.«
   »Morgen sollst du sie ganz munter herumhinken sehen, Herr. Wir ziehen sie sorgfältig auf, des kostbaren Pelzes wegen.«
   »Das heißt, ihr tötet dann auch die ausgewachsenen Tiere?«
   »Ja. Schießen oder schlachten können wir sie nicht; das Fleisch genießt man ja nur im äußersten Notfall.«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Eine abscheuliche Jagd – brr!«
   Die Hunde kamen arg zerzaust aus dem Netz hervor; dann wurde der zweite Fuchsbau in Angriff genommen. Wieder standen die Jäger im weiten Kreise, als plötzlich mitten unter ihnen eine spitze weiße Schnauze aus dem Schnee hervorragte und wenige Augenblicke später der ganze Körper zum Vorschein kam. Blitzschnell stürzten vier Füchse durch die Reihen, einer nach dem ändern, aber doch so eilig, daß an keine Verfolgung gedacht werden konnte. Mehrere Schüsse knallten ihnen nach, eine Blutspur färbte den Schnee, aber alle vier Tiere entkamen in die unwegsamen Schluchten, wohin ihnen keiner der Jäger zu folgen vermochte.
   Neue Fackeln waren an den herabgebrannten entzündet, mehrere Zigeuner hatten die Beute zu den Schlitten gebracht und dabei zugleich an den Proviantkorb gedacht. Eine Flasche ging von Hand zu Hand, Brot und Fleisch wurden stehend gegessen, dann kam die dritte Fuchsgrube an die Reihe.
   Während der allgemeinen Stille hob plötzlich Alexei den Kopf. »Horch!« rief er, »was war das eben?«
   Ein zweiter Ton folgte dem ersten, kläglich und grollend zugleich; es klang wie heraufziehender Donner und war trotzdem ein Schmerzenslaut; ein durchdringendes Gebrüll aus nicht allzu weiter Entfernung.
   »Unser Bär!« riefen mehrere Stimmen.
   »Laßt uns ihn holen! Gestern noch sah ich eine Bande von Jagddieben in dieser Gegend herumstreifen.«
   »Sind sie heute wieder da, so muß man ihnen einmal tüchtig heimleuchten. Mir haben sie erst ganz vor kurzem zwei Wölfe aus der Grube geholt.«
   Und die braunen Gesellen, dieselben, denen das Eigentumsrecht so wenig galt, die Langfinger von Profession machten sich schleunigst auf, um womöglich den Freibeutern anderer Art und anderen Namens eine gehörige Schlacht zu liefern.
   Mehrere Männer blieben bei den Schlitten, die übrigen drangen tiefer in den Wald, wobei ihnen das Brüllen des Bären als Wegweiser diente.
   Der Schnee lag an offenen Stellen so tief, daß die Männer nur mit Mühe hindurchklettern konnten. Wie sonderbar der Bär brummte! Immer abgerissener, dann und wann, immer schwächer.
   »Wenn sie ihn nur nicht schon erschlagen haben!«
   »Die Landstreicher, die Schufte.«
   »Ich rieche Rauch«, rief Mikosch.
   Sie standen sämtlich still. »Ja, es ist so – und da, da unten glimmt zwischen den Bäumen ein heller Punkt.«
   »Aha, also man brät bereits unser Eigentum.«
   »Alexei«, flüsterte Onnen, indem er den jungen Burschen am Ärmel zupfte, »Alexei, hast du nie fremdes Eigentum gebraten?«
   Der Zigeuner lachte. »Ach, weißt du, die Bauern sind reich und geizig, die können schon einmal ein Huhn oder eine Gans hergeben, aber wir sind arme Leute.«
   »Die also ihren Bären notwendig behalten müssen, nicht wahr, Alexei?«
   »Still, Herr, du sollst den Schinken essen. Ich sage dir, das ist ein Leckerbissen.«
   »Sechs Männer!« berichtete zurückkehrend ein vorausgeschickter Kundschafter. »Sie haben den Bären getötet, können aber das Eisen ohne Schlüssel nicht öffnen.«
   »Sind es hiesige?«
   »Allerlei Volk, wahre Galgengesichter.«
   Die Zigeuner drangen geräuschlos vor. Das Feuer schimmerte hell durch die Stämme, ein größerer Platz war vom Schnee gesäubert und ein paar rohe Schafsfelle ausgebreitet. Darauf lagen sechs in Pelze gehüllte und sämtlich bewaffnete Männer vom verschiedensten Aussehen, Jagddiebe, deren Handwerk es war, die Fallen anderer Jäger zu plündern, den Braten an Ort und Stelle zu verzehren und dann weiterzuziehen, bis der Zufall irgendwo eine neue Beute spendete oder ein einsames Gehöft den Heimatlosen, immer Wandernden eine Mahlzeit brachte – lediglich gegeben, um nicht der Rachsucht dieser Vagabunden, die sich in ganz Rußland bis an die Grenzen des Tschuktschenlandes hinauf vorfinden, früher oder später einmal zu verfallen.
   Diese Leute haben keine Wohnung, keine Familie, keinen irdischen Besitz irgendeiner Art; sie sind meistens bestrafte oder entflohene Verbrecher, zuweilen Verbannte, denen es gelang, wieder in die Heimat zu entkommen, zuweilen Mörder, die sich in den Wäldern oder Einöden dem Arme der Gerechtigkeit zu entziehen wissen; immer aber solche, die allen menschlichen Gesetzen den Krieg erklärt haben und vor keiner Untat, keinem Verbrechen zurückschrecken.
   Ihre Gesichter waren braun und von Narben zerfetzt, die Haare struppig, die Hände krallenartig, sie trugen Pelz vom Kopf bis zu den Füßen und Stiefel, deren Schäfte über die Knie hinaufgingen.
   »Alle Teufel«, rief einer, »so laß doch endlich einmal das Fangeisen, Boleslav, mich hungert, schneide irgendwo in die Bestie hinein und brate ein Stück Fleisch – den Rest kann der mit dem Pferdefuß holen.«
   »Oder auch wir selbst nehmen ihn. Das Fell ist zu gut, um so mir nichts dir nichts hineinzuhacken; ich breche das Eisen schon noch auf.«
   »Gib dir keine so große Mühe, Kamerad, hier steht der Mann, welcher den Schlüssel in der Tasche trägt und dem also wohl Falle wie Bär gehören!«
   Die Räuber fuhren auf, alle zugleich, sie griffen nach ihren Waffen und scharten sich vor dem Feuer zusammen. »Zigeuner!« rief verächtlich lachend der eine.
   »Das bist du doch, den sie den blutigen Ossip nennen, nicht wahr? Der Schrecken aller ehrlichen Leute!«
   »Als ob du jemals mit ehrlichen Leuten verkehrt hättest, Kesselflicker!«
   »Immer noch besser als ein Gurgelabschneider.« Während dieser freundlichen Begrüßungen hatte man sich gegenseitig genähert und nun begann der Kampf. Am Baum mit dem Honigtopf zwischen den untersten Zweigen lag hintenübergefallen der Bär, dem wuchtige Hiebe den Schädel zerschmettert hatten. Seine beiden Hinterfüße steckten in dem Fangeisen und eine breite zerstampfte Blutlache bedeckte neben ihm den Schnee.
   Beide Parteien, Zigeuner wie Jagddiebe, hatten ihre Messer hervorgezogen. Brust an Brust rangen beide Teile in stummem, aber erbittertem Kampfe, bei dem von vornherein die Räuber unterlagen. Mehr als fünfzehn Zigeuner standen ihnen gegenüber, sie wurden allmählich vom Lagerplatz verdrängt und in die Flucht geschlagen, wobei einer Zeit fand, das Gewehr zu laden und einen Schuß abzugeben, der einen Zigeuner an der Schulter verwundete.
   Außer sich vor Schmerz und Wut kehrte dieser die Kugelbüchse um, drang rücksichtslos gegen den Angreifer vor und streckte ihn mit einem einzigen wuchtigen Schlage zu Boden. Aus dem zerschmetterten Schädel sprang in roten Wellen das Blut hervor – noch einige Male schien es, als wollte der Getroffene sprechen; dann aber schlossen sich die Augen, das Gesicht wurde fahl und der Räuber hatte aufgehört zu atmen.
   Seine Genossen flohen nach allen Richtungen.
   Mikosch nickte sehr zufrieden: »Es ist der blutige Ossip«, sagte er: »Hast ihn brav getroffen, Junge, der setzt niemals wieder den roten Hahn auf das Dach eines Bauernhauses.«
   »Aber für heute müssen wir umkehren«, fügte er hinzu. »Die Schlitten sind ohnehin voll bis zum Rande. Morgen kann dann Meister Lampe an die Reihe kommen.«
   Der Bär war inzwischen arg zerschunden aus dem am Baume befestigten Fangeisen gelöst worden und wanderte nun in den Schlitten des glücklichen Besitzers. Ehe man den Kampfplatz verließ, sah Onnen noch einmal in das aschgraue Gesicht des Toten. »Mikosch, sag mir, willst du die Leiche hier so unbedeckt, ohne eine Handvoll Erde liegenlassen?«
   Der Zigeuner schmunzelte. »Gewiß, Herr, die Wölfe müssen ja auch leben.«
   Unser Freund fragte nicht weiter. Über den eisigen Schnee, durch die kalte rauhe Luft tobte der Ost, schwarze Baumstämme schlugen aneinander wie im Zorne, und weit und breit gab es in der winterlichen Öde keine Stätte zum Ausruhen, keinen Schutz, kein Dach – wie trostlos war das Schicksal derer, welche nichts mehr auf Erden besaßen, als das Versteck in der pfadlosen Schneewüste.
   Sie ließen nun den toten Genossen liegen, wo ihn das Ende aller Dinge ereilt hatte, den Wölfen und Raben zur Beute – selbst flüchtend, bis wieder ein Diebstahl, ein Verbrechen für ein paar Tage die nötigen Lebensmittel lieferte, bis auch ihre Stunde geschlagen hatte und der von der menschlichen Gesellschaft Ausgestoßene nun ohne ein Grab, ohne Sarg oder Leichentuch in irgendeinem Dickicht starb, vielleicht in den Qualen der letzten Augenblicke bitter bereuend – und dann zu spät. Ein schreckliches Los!
   Wolfsaugen spähten schon durch das Gebüsch, große Raben schlugen mit den Flügeln und ließen ihre heiseren Stimmen erschallen; sobald sich die Menschen entfernt hatten, begann der entsetzliche Schmaus.
   Mikosch verband mehrere Wunden; die letzten Fackeln wurden entzündet und dann ging es dem bleichen Tagesgestirn entgegen. Im Lager schlief noch alles, auch Onnen streckte sich auf seine Pelze und suchte die Augen zu schließen, aber bunte Bilder zogen immer aufs neue vorüber, er sah den öden einsamen Wald, die flüchtenden Räuber, die geneigten Köpfe der hungrigen Raben; ein Schauder ging durch seine Seele.
   Wie eine Oase in der Wüste erschien ihm das Andenken der stillen deutschen Heimatinsel. Langgezogen fluteten dort die Wellen der Nordsee an den weißen Strand, ein ruhiger ungestörter Friede lag auf der Umgebung. Da wurde nichts gestohlen, da betrog kein Nachbar den anderen; zwischen den niederen Fischerhütten hatte das Verbrechen keine Stätte.
   Liebes altes Norderney! Ob er es jemals wiedersehen würde? »Wir gehen jetzt nach Kiew«, hatte Mikosch gesagt, »und von dort nach Odessa. Im April sind wir auf dem Meere.«
   Wie lange noch, wie viele Wochen! – Jetzt war man erst im Beginn des Monats Dezember.
   Onnen seufzte. Ein einfacher trauriger Weihnachtsabend, welcher ihm bevorstand. Ob er wohl weiße Menschen sehen würde, brennende Tannenbaumkerzen und glückliche Kindergesichter?
   »Alexei«, flüsterte er, »was wollen wir denn eigentlich in Kiew?«
   Aber der Zigeuner schlief bereits und auch ihm fielen die Augen zu. Er erwachte erst, als der Duft bratender Rebhühner vom Feuerherd herüberdrang; die wandernden Gesellen rüsteten sich, einen Jahrmarkt im Städtchen zu beschicken; bis auf die kleinsten Kinder herab wollte jedes einzelne Glied der braunen Völkerschaft in seiner besonderen Weise verdienen, Geschenke erhalten oder Geschäfte anknüpfen, sogar die alten Frauen hatten ihre erträglichsten Gewänder angelegt und bereiteten sich vor, den Allerdümmsten im Orte Zaubermittel zuzuflüstern oder ihnen aus den Linien der Hand die Zukunft und ihre Schicksale zu deuten.
   Natürlich sollte Ruff bei alledem die Hauptrolle spielen. Sein Publikum fand er immer, so oft ihn auch jung und alt schon gesehen hatte; der Blechteller, mit dem er sammelte, blieb nie leer.
   Mikosch band die Hühner mit den Füßen aneinander und fort ging‘ es zu Schlitten und auf des Schusters Rappen in die benachbarte Stadt, wo eben der Weihnachtsjahrmarkt abgehalten wurde.
   Onnen hatte den stillen langweiligen Ort schon früher gesehen; heute erkannte er ihn nicht wieder. Alle verschiedenen zur russischen Krone gehörigen Völkerschaften, alle Nachbarn und Geschäftsgenossen waren reichlich vertreten; die Vorräte für das ganze Jahr schienen hier zu Markt gebracht.
   Langbärtige Juden mit schwarzen Locken wie Korkzieher, in Schmutz getaucht, in zerschundene zerfetzte Pelze gehüllt, schlaublickend und geschmeidig, gingen zu Hunderten umher, verkauften und tauschten, behaupteten, daß sie zu Grunde gerichtet würden und strichen dabei den ansehnlichen Gewinn ein, mischten sich in alles und kannten alles, von den großen politischen Vorgängen bis herab zu dem Werte einer Partie vorjähriger, zweifelhaft gewordener Hülsenfrüchte.
   Halbwilde, in Felle gehüllte sibirische Pelzjäger waren vorhanden, Gold– und Diamantendiebe jener wüsten Eisfelder brachten in kleinen Lederbeuteln die mühsam zusammengeraubten Schätze; es gab Wild aller Art, namentlich aber waren die Verkäufer von Näschereien, Spirituosen und Obst, die Besitzer von Schaukeln, Karussells und Schießbuden sehr stark vertreten.
   Auch Bärenführer, Sängergesellschaften, Affenbudenbesitzer und solche, welche eine Menagerie mit sich führten, Riesen und Zwerge gab es in verschiedenen Bretterbuden, wobei die Ausrufer einen Lärm vollführten, der wahrhaft ohrenzerreißend wirkte.
   Den meisten Beifall fand der Eisberg, das russische Nationalvergnügen, welches bei keinem Jahrmarkt oder sonstigen Volksfeste fehlen darf. Im Mittelpunkt der kleinen Stadt, nahe an der Kirche war ein ungeheurer Berg aus Schnee errichtet, vom Gipfel her mit Wasser übergossen und so zur Rutschbahn erhärtet. In rasender Eile fuhren die Schlitten von der Höhe zu Tal und mit mühsamer Arbeit wurden sie an der entgegengesetzten Seite über roh behauene Stufen wieder herauf gebracht, um auf der Plattform des Gipfels den Wettkampf neu zu beginnen. Hundert Bewerber harrten des Glockenzeichens; frohe, in jugendlichem Übermut blitzende Augen richteten sich auf den weißen glitzernden Weg, auf die Mitfahrenden und die Schlitten; es wurden Wetten abgeschlossen und ganze Gruppen gebildet.
   Bauernmädchen mit ihren bunten malerischen Kleidern hielten die Korbschlitten in breiter Reihe, faßten sich an den Händen fest zusammen und flogen die Bahn hinab, laut jubelnd wie ausgelassene Kinder. Zuweilen stürzten auch einzelne Schlitten, namentlich in Fällen, wo die Insassen bereits zu tief auf den Grund der Flasche gesehen hatten; dann kugelten Herr und Gefährt miteinander den Berg hinab, was jedesmal eine Strafe kostete, kleine Summen, die sonst für irgendeinen milden Zweck dienten, heute aber eingesammelt wurden, um mit anderen freiwilligen Gaben nach Moskau abzugehen. Dort hatten Tausende ihre gesamte irdische Habe verloren und nun rührte sich jung und alt, um ihnen werktätig beizustehen.
   Onnen sah den Eisberg und kletterte hinauf. Oben standen Schlittenvermieter in Menge, er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sondern wagte die Fahrt zu Tal, wo ihn Mikosch und Alexei lächelnd empfingen. »Belustige dich, Herr«, meinte der Alte. »Da ist Geld, es gehört dir, du hast ja die Hühnerjagd mit betrieben.«
   »Das heißt, ich aß und trank mit euch, fuhr im Schlitten und trug eine Fackel. An eurer mörderischen Art, die armen harmlosen Hühnchen in ihren Schneebetten mit dem Knüttel zu erschlagen, habe ich nicht teilgenommen.«
   Mikosch lachte. »Sind die Rebhühner besser als etwa Butt– oder Schellfische und die zappelnden Taschenkrebse, welche ihr Norderneyer in euren Netzen fangt und tagelang leiden laßt, bevor ihnen das Messer in die Kehle fährt? Andere Länder, andere Sitten! – Solche Eisberge findest du außerhalb Rußlands nicht wieder vor, Herr, also genieße den Tag. Klügeres kann der Mensch nie tun.«
   Er stand im Schlitten und verkaufte unter Alexeis Beistand die Rebhühner, welche sehr willige Abnehmer fanden. Heute wurde in allen Häusern gekocht und gebraten bis zum Überfluß, auf allen Tischen mußte das beste zu finden sein. Die Hühner verschwanden daher schnell, und Onnen und Alexei konnten den Eisberg besuchen, um in schwindelnder Eile hinabzufahren. Die Leistungen des Zigeuners errangen dabei eine allgemeine Bewunderung. Alexei stand während der Fahrt bald auf einem, bald auf dem anderen Fuße, ja nach Belieben sogar auch auf den Händen, er spielte Ball oder hüpfte, er konnte die schwierigsten Sprünge unternehmen und noch hier oder da einen vorbeikugelnden Betrunkenen auffangen, um ihn unten sanft in den Schnee zu legen.
   Das Gelächter ringsumher nahm kein Ende. Als Alexei späterhin bei den lustigen Zuschauern sammelte und den Ertrag für Moskau herausgab, da war er der Mann des Tages geworden. Aber auch Ruff bekam seinen Anteil. So viele Bären die russischen Kinder schon gesehen haben mochten – jedes neue Kunststück erregte wieder ihr Entzücken. Ruff spielte auf einer Gitarre, er konnte zählen und pantomimisch ja und nein antworten, er tanzte zu seiner eigenen Musik und verbeugte sich regelrecht, so oft ihm jemand eine Kopeke zuwarf; das alles belustigte große und kleine Kinder, bis endlich das Hauptkunststück an die Reihe kam. Mikosch holte zwei Pfeifen hervor, eine davon nahm er selbst, die andere steckte er dem Bären zwischen die Zähne. Nun kam ein Kartenspiel zum Vorschein. Mikosch gab aus und der Braune nahm mit ernsthaftester Miene, während er große Wolken dampfte, die Blätter in seine ungeheure Tatze. Eins stand neben dem andern, wie eine Menschenhand sie zu halten pflegt.
   »So, Ruff, mein Alter, nun zeige den Leuten, daß du deine Karten auch hübsch nach der Farbe zu ordnen verstehst!«
   Der Bär hob die Tatze und präsentierte seine Blätter. Sämtliche vier Farben waren richtig zusammengesteckt.
   Ein vielstimmiges Händeklatschen, ein allgemeines »Bravo!« lohnten ihm. Äpfel, Brot, Pfefferkuchen und Zucker fielen dem Braunen reichlich vor die Füße, und als er dann mit ruhiger Bewegung die Pfeife aus dem Maul nahm, um sich dankend zu verbeugen, da schwoll der Beifallssturm bis zum donnernden Jubel.
   »So schön, Ruff, mein gutes Tier; jetzt laß uns spielen! Du gibst die erste Karte.«
   Der Bär schüttelte den Kopf; er vollführte mit der rechten Tatze eine Bewegung, als wolle er sagen: »Zuerst du!«
   Der Zigeuner legte dann ein Blatt auf den Boden und Ruff besah es mit prüfenden Blicken; gleich darauf lag ein anderes von gleicher Farbe daneben.
   So ging es Stich um Stich. Der Bär irrte niemals, er brachte immer eine passende Karte zum Vorschein, und als ihm Mikosch später erklärte, er habe die Partie gewonnen, da verbeugte er sich wieder und rieb wie in großem Vergnügen die Tatzen gegeneinander. Der Vielfraß in ihm trat erst hervor, als Mikosch auf die Geschenke der Umstehenden deutete; wie in einen unergründlichen Schlund verschwanden Brote, Äpfel und Pfefferkuchen – mehr als für zwanzig Personen ausgereicht haben würde, schien seinen ungeheuren Appetit noch nicht stillen zu können.
   Das Kunststück mußte verschiedene Male wiederholt werden, der Ertrag war jedesmal für den Zigeuner ein sehr guter, während zugleich die übrigen Glieder seiner Familie in ihrer Weise ebenso reichlich verdienten. Zwei junge Leute führten den Hochzeitsreigen auf, einen Tanz, bei dem der Bräutigam die Braut immer umkreiste; mehrere andere zogen spielend von Tür zu Tür und die Kinder tanzten oder schlugen das Rad, wobei sie auf den ausgespreizten Fingern liefern.
   Das meiste Geld verdienten indessen die Mütter, die alten zahnlosen Hexen mit dem Pfeifenstummel zwischen den Lippen und den braunen, halbverschleierten Gesichtern, aus denen Schlauheit und Habsucht hervorleuchteten. Sie schlugen die Karten zu ganz anderen Zwecken, sie hielten in ihren schwärzlichen Fingern die weißen zarten Hände der jungen Mädchen und Frauen, sie empfingen unter ihrem Lederzelt sogar die Angehörigen der besseren Gesellschaft.
   Manche gebeugte Mutter ging schluchzend fort, manch junges Mädchen glückselig lächelnd, als sei das, was ihr die Sibylle gesagt, ein untrüglicher Ausspruch des Schicksals. Fast alle Familien des Landes wußten ja unter den Soldaten ihre liebsten Angehörigen und fast allen fehlten die genaueren Nachrichten über den Verbleib derselben. Nur unbestimmte Einzelheiten über die Greuel von Smolensk, Borodino und Moskau waren in die entfernteren Provinzen gedrungen, Briefe dagegen bei der allgemeinen Unordnung selten angekommen, weshalb so viele Tausende von Müttern und Schwestern sehnsüchtig auf eine Botschaft warteten und endlich die alten Zigeunerinnen aufsuchten, um aus dem Munde der Prophetin zu erfahren, was das Herz unablässig bewegte – die bange Frage: »Ist mein Sohn oder mein Gatte dem mörderischen Feuer der Franzosen entronnen, oder nicht? – Werde ich ihn jemals, jemals in diesem Leben wiedersehen?«
   Und auch Mütter mit kranken Kindern kamen herbei. Kein Arzt konnte vielleicht das Leiden heilen, kein Hausmittel half – da sollte es der Zaubersegen tun, die geheimnisvollen Sprüche der Alten.
   Eier von schwarzen Hennen wurden ihr massenhaft gebracht, Blumen, auf Gräbern gepflückt, Späne vom Galgen, ein gabelförmiger Ast vom Kreuzwege. Alle diese Gegenstände sollten dem Volksglauben nach Zauberkräfte besitzen. Die Zigeunerinnen lasen aus dem Inneren der Eier die Schicksale der betreffenden Personen, sie schnitten geheimnisvolle Zeichen in die Rinde der Äste und übergossen die Grabesblumen mit heißem Wasser, das von den Kranken zu bestimmter Stunde getrunken werden mußte.
   Für allen diesen Hokuspokus, den indessen beide Teile vollständig ernsthaft nahmen, regnete es Geld in die braunen Hände. Man tanzte nach den Melodien der jungen Burschen, man lachte bei Alexeis gewandten Kunststücken und weinte bei den düsteren Prophezeiungen der alten Hexen; aber man bezahlte überall und das war denn eben die Hauptsache.
   Spät abends bei Fackelschein zog die ganze Karawane zurück zum Lager. Mikosch öffnete in stiller verschwiegener Nacht den breiten Ledergurt, welcher wie eine Art Panzer seinen Körper umgab, und legte wieder neues blitzendes Gold hinein. Jede Münze nähte er ein, so daß das schwere Gewandstück aussah wie ein wohlgeglättetes Straßenpflaster, dessen Steine verschiedene Größen zeigten.
   Spanische, italienische, deutsche und russische Goldstücke lagen friedlich nebeneinander, alle hatte der braune listige Häuptling im Laufe des langen Wanderlebens zusammengescharrt und alle sollten sie einem einzigen Zwecke dienen – ihm eine Branntweinschenke zu verschaffen, das höchste, selten erreichte Ziel des russischen Zigeuners. Mikosch war keineswegs geizig, vielmehr ein Mann, der leben wollte und leben ließ; damit glich er wieder aus, daß ihm so manches bedenkliche Mittelchen für den schnellen Erwerb gerade recht schien. —
   An einem der nächsten Tage kam nun die große Hasenjagd, von welcher neulich der späten Stunde wegen Abstand genommen werden mußte; die Schlitten fuhren auf das verschneite Feld hinaus, schlanke Stäbe mit daran befestigten Schlingen wurden an verschiedenen Punkten in die Erde gesteckt und am anderen Ende bis zum Boden herabgebogen. Ein Stein, auf die Schlinge gelegt, hielt sie in dieser Stellung und bedeckte zugleich einige Kohlblätter, die der Falle als Lockspeise dienten.
   Nachdem so alle Vorbereitungen beendet waren, stellte Mikosch bei Eintritt der Dunkelheit seine ganze Schar so auf, daß jung und alt, mit jedem nur erdenklichen Lärminstrument versehen, Fackeln schwingend und schreiend, im Kreise vorwärtsging und so das Wild den aufgestellten Fallen entgegentrieb.
   Kuhhörner gaben ihre dumpfen, langgezogenen Töne als Baß zu den durchdringend gellenden Zinnpfeifen der Knaben; alte Frauen rasselten mit Kesseln und Töpfen, und wer gar nichts anderes konnte, der schrie wenigstens aus Leibeskräften. Das ganze Feld widerhallte von dem vielstimmigen Getöse, hier und da lief ein Hase, zum Tode erschreckt, durch die Reihen und entkam glücklich, andere stürzten vorwärts in sinnloser Furcht, bis hinter ihnen der Lärm verstummte. Man näherte sich dem Mittelpunkte, Meister Lampe sollte Atem schöpfen, den Kohl riechen und sich in der Schlinge fangen.
   Als nach zweistündiger Ruhe die Jäger mit Fackeln zu den aufgestellten Fallen kamen, da bot sich ihnen ein seltsames Bild. An jeder hochaufgerichteten Gerte hing ein erdrosselter Hase und streckte alle Viere von sich; große Raben hockten rings auf allen Bäumen, Krähen, Bussarde und selbst Ratten flohen aufgescheucht nach jeder Richtung.
   Von dem Krächzen der Raben angelockt, hatte sich aus dem Walde ein Rudel Wölfe eingefunden und schon waren mehrere Hasen in Stücke zerrissen, als Ruff auf dem Kampfplatz erschien. Die russischen Wölfe messen sich nie mit einem Bären; auch jetzt wich die Meute heulend zurück, blieb aber in einiger Entfernung lungernd beisammen, um den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten.
   Mikosch schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Es sind viele«, sagte er, »ich hätte nicht geglaubt, daß sie sich so weit aus dem Walde herauswagen würden! Was denkst du, Alexei, mein Junge?«
   »Wir müssen die Hasen hier an Ort und Stelle ausweiden, Vater! Ruff hält uns das Gezücht vom Halse.«
   »Ich dachte dasselbe! – Angefaßt also! Halte deine Waffen bereit, Herr!«
   Die Fackeln wurden herbeigebracht, die Hasen von den Gerten genommen und Ruff in Freiheit gesetzt; er brüllte sofort den Wölfen entgegen, als wolle er sie herausfordern.
   Die gelben Räuber wichen noch weiter zurück, aber sie flohen nicht; ihre gierigen Blicke beobachteten die Zigeuner, wie sie Meister Lampes Eingeweide zutage förderten, ihr Winseln zeigte, daß sie den Blutgeruch bemerkten.
   Mikosch seufzte; trotz der Kälte standen auf seiner Stirn die großen Tropfen. »Es kommen immer mehr heran«, sagte er mit unterdrückter Stimme. »Ihrer sechzig sind es ganz gewiß in diesem Augenblick schon.«
   »Laßt uns die Frauen und Kinder nach Hause schicken, Alter!«
   »Ganz gut! – Aber wie sollen sie entkommen, Herr? Vor einem schwerbeladenen Schlitten laufen unsere Pferde mit den Bestien nicht um die Wette!«
   »So müssen wir die Wölfe aufhalten, mit ihnen kämpfen. Mikosch, ich sage dir, der Angriff erfolgt bald – sie rücken schon näher.«
   Alexei hatte schon den Pferden die Decken abgenommen und alle ausgeschalteten Hasen in die Schlitten geworfen. Frauen und Kinder kletterten nach, Ruff wurde zu ihrem Schutze mit in den größten Schlitten gesetzt und ohne Geräusch glitten dieselben talab, während sämtliche Männer mit den geladenen Gewehren in den Händen zwischen der Meute und den bedrohten Ihrigen stehen blieben.
   Aller Herzen klopften zum Zerspringen. Wenn jetzt die Wölfe plötzlich vordrangen, so war das Spiel verloren.
   Einer hob den Kopf und schnupperte, er sprang mit einem mächtigen Satze vorwärts, den Schlitten nach – drei, vier andere folgten ihm.
   Die Kugeln der Zigeuner prasselten ihnen entgegen. Schuß auf Schuß traf die Räuber; heulend und winselnd blieben sie in ihrem Blute liegen.
   Die ganze Masse wich wieder zurück. Mikosch atmete auf. »Dem Himmel sei Dank, jetzt haben unsere Frauen und Kinder den nötigen Vorsprung!« rief er aus. »Ob wir selbst gerettet werden, das ist freilich eine andere Frage.«
   Alexei zählte die Männer. »Dreizehn!« sagte er, »und der Schlitten faßt nur vier. Wenn alle Hasen ausgeweidet sind, so müssen sich die übrigen einzeln davonstehlen.«
   »Ich nicht!« rief Onnen.
   »Du zunächst, Herr – der Gast ist geheiligt. Da, Enoch nimmt dich mit.«
   »Auf keinen Fall, Alter. Meine Kugelbüchse und ich, wir bleiben, wo dir eine Gefahr droht.«
   »So laß ihn, Mikosch«, rief Alexei. »Da, der letzte Hase ist ausgeschlachtet, nun in den Schlitten damit! – Die Eingeweide auf einen Punkt, ganz eng zusammen! So, jetzt mögen die Bestien einander zerfleischen.«
   Es wurde immer in den Haufen hineingefeuert und bei der vorhandenen Menge auch immer ein Wolf getroffen; während dieser Vorbereitung hatten Mikosch, Alexei und Onnen in dem Schlitten Platz genommen, die übrigen Zigeuner dagegen verloren sich mit der Gewandtheit von Wilden unbemerkt nach verschiedenen Richtungen, hinter Bäume und Schneewehen, in den Wald und das Tal – nach einer halben Minute war keiner von ihnen mehr zu entdecken.
   »Los!« rief Mikosch.
   Das kleine kräftige Pferd zog an und der Schlitten flog mit Windeseile über die glatte Schneefläche dahin. Wie schnaubende, heulende Dämonen stürzten sich die Wölfe auf das geronnene Blut und die Eingeweide der Hasen.
   Mikosch stand im Schlitten, während Alexei fuhr; er schüttelte den Kopf. »Binnen einer Minute werden wir sie hinter uns haben«, sagte er.
   »Und sie niederschießen, Alter!«
   »Ihrer fünfzig, sechzig, Herr? Bitten wir die Götter um einen Platz im Himmel, wo man ausruhen kann – es ist vorbei.«
   »Noch nicht, Mikosch! Solange wir leben, nicht!«
   »Aha – da nahen sie!«
   Eine Masse von gelben und grauen Geschöpfen flog hinter dem Schlitten her. Bei der rasenden Eile dieser Flucht war ein Teil der Fackeln verlorengegangen, ein anderer erloschen oder vom Schlitten gefallen – jetzt herrschte ein Halbdunkel, in dem man wohl die Gestalten unterschied, aber Genaueres nicht mehr zu sehen vermochte.
   »Mikosch«, rief Alexei, »weißt du, wo wir sind?« Der Alte zuckte die Achseln. »Ich glaube, daß es darauf nicht mehr ankommt«, sagte er in düsterem Tone. »Wie die Bestien laufen!«
   »Mikosch, Mikosch, besinne dich doch, ob du den Weg kennst!«
   »Nein – wir haben uns jedenfalls verirrt Aber gleichviel, wo uns die Wölfe fressen – der Leib vergeht und die Seele ruht aus am sonnigen Orte.«
   Er betastete den Ledergurt. »Schade, ich habe mir so vieles versagt, um zu sparen – es war für meine Kinder, und nun —« Der vorderste Wolf hatte den Schlitten erreicht, Onnen packte mit jeder Hand einen Hasen und warf beide dem hungrigen Räuber entgegen.
   Eine Minute Pause. Alexei versuchte nicht mehr, das Pferd zu lenken, er überließ es seinem eigenen Instinkt und wandte sich der Rückseite des Schlittens zu, um einige Schüsse abzugeben. Die beiden Hasen waren verzehrt, andere folgten nach – endlich flog der letzte in den Schnee und bleiche Gesichter sahen einander an. Was nun?
   Onnen und Alexei schossen, aber sie taten es maschinenmäßig, ohne mehr auf Sieg zu hoffen. Der Schlitten war erreicht – noch ein paar Schläge mit dem Kolben auf die nächsten Schnauzen und dann —
   Die Meute wich, wie plötzlich erschreckt, zurück. Ein sonderbares Geräusch drang zu den Ohren der drei Männer, ein Plätschern, Fluten —
   Wasser! Das Pferd lief bis an die Knie im Wasser; Tropfenschauer spritzten zu beiden Seiten in den Schlitten hinein – die Wölfe sprangen wie rasend, stürzten sich gegeneinander, kläfften und heulten mit erhobenen Schnauzen – sie hatten die Beute, welche ihnen so sicher schien, im letzten Augenblick noch verloren. In rasender Eile lief das Pferd. Seine Ohren standen aufrecht, die Augen traten aus dem Kopfe hervor, von Zeit zu Zeit wieherte es – ein kurzer unruhiger, in Schütteln und Schnaufen übergehender, hellklingender Ton.
   Einmal schwankte der Schlitten, er neigte sich nach rechts hinüber, immer tiefer, das Pferd schrie auf, es bäumte sich wie in furchtbarer Angst, dann hob sich das Gefährt und glitt geräuschvoll, auf unebenem Boden geschleift, mit dem glatten Eisen über den Fels des Grundes. Zuweilen kam eine tiefere Stelle, das Wasser schlug rauschend und schäumend herein, die drei Männer wurden vom Kopf bis zu den Füßen durchnäßt – immer weiter stürmte das Tier. Nun schien die Bahn ebener. Vor und hinter den Flüchtigen lag die blaue, nur wenig bewegte Flut, zu beiden Seiten, überall, wohin das Auge reichte. Jetzt waren jene heulenden, bellenden Stimmen am anderen Ufer verstummt – das Pferd ging etwas langsamer, es trat sicherer auf und wieherte auch nicht mehr.
   Mikosch und Alexei standen, Onnen dagegen hielt sich mit beiden Händen an den Seitenwänden des Schlittens; er war es, der zuerst das Schweigen brach.
   »Weißt du immer noch nicht, wo wir uns befinden, Mikosch?« Der Zigeuner nickte, ihm schien die Zunge am Gaumen zu kleben, sein braunes Gesicht war aschfahl, die Augen unnatürlich weit offen.
   »Es ist das Teufelsloch«, preßte er endlich hervor. »Alexei, denkst du es nicht?«
   »Ja – es ist das Teufelsloch!«
   »Gut – ihr kennt doch die Furt?«
   Nur eine Handbewegung antwortete ihm, aber sie sprach deutlich genug. Was in dem schwankenden Schlitten, umgeben von weiter Wasserwüste, lebte und atmete, das war dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb des Pferdes willenlos überlassen.
   Onnen schauderte. Fern im Grau verschwammen die Ufer; kein Licht trug einen tröstenden Schimmer zu den Einsamen hinaus, keines Tieres Stimme belebte die schaurige Öde. Immer weiter und weiter lief das Pferd.
   »Wir kommen hindurch«, raunte Alexei.
   »Sprich nicht! – Sprich nicht!«
   Sonderbar, in Augenblicken höchster Todesnot fürchtet der Mensch den Klang seiner eigenen Stimme. Er erträgt es nicht, Vermutungen zu hören.
   Das Pferd arbeitete stark; es hätte vielleicht einen Wagen mit Rädern nicht durch die Fluten gebracht; nur das spiegelglatte Schlitteneisen konnte es mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte über den harten Boden ziehen. Es ging ruhiger, langsamer, es fühlte sich sicherer.
   »Licht!« rief Alexei, »ich sehe Licht!«
   Mikosch nickte, aber er sprach nicht; auch Onnen war erfaßt von dem seltsamen Gefühl, das uns packt, wenn ein gewagtes Unternehmen, halb gelungen, noch der letzten Vollendung harrt, wenn wir so nahe vor der geöffneten Tür stehen, daß sich‘s nun binnen Augenblicken entscheiden muß, ob wir in das rettende Asyl hineingelangen oder sehen werden, daß sich vor unseren Blicken die Pforte schließt – für immer. Alexei nahm die Pelzkappe vom Kopf, er riß die Knöpfe seines Rockes auf. »Nein, nein, Mikosch, wehre mir nicht so ängstlich die Freude! Gott ist kein Wucherer, daß er uns die Rettung zeigt und dann höhnt: ›Ihr bekommt nichts!‹ Das Licht wird größer – wir sind nahe am Lande.«
   Die Umrisse einiger Gebäude traten aus dem Dunkel hervor, Baumstämme, eine Hecke, endlich der Hof eines Hauses, Pumpe, Gerät – es bellte ein Hund.
   Das Wasser trat zurück, es wurde flacher und flacher; mit einem Satz war Alexei zum Schlitten heraus, auch Onnen folgte ihm, nur der alte Zigeuner stand immer noch aufrecht und hielt die Zügel in den Händen. Seine Seele war offenbar so erschüttert, daß ihr der Übergang vom ärgsten Schrecken bis zur vollempfundenen Freude nicht gleich möglich schien.
   Dann stand das Pferd, es schnaufte heftig, es schüttelte sich, als wolle es sagen: »Jetzt erst kommt einem das Grauen ganz zum Bewußtsein.«
   Onnen und Alexei spannten es aus, damit es sich wälzen könne. Der Hund bellte immer stärker: endlich öffnete sich die Tür des Wohnhauses. »Ist jemand da?« fragte eine Männerstimme, wobei zugleich das Geräusch eines eben gespannten Hahnes den Flüchtigen entgegendrang. »Ruhig, Box, ruhig!«
   Aber der Hund ließ sich nicht beschwichtigen, sondern zerrte an seiner Kette, als wolle er sie zerreißen. Der Mann rief jetzt zum zweitenmal in die Dunkelheit hinaus. »Antwort, oder ich schieße!«
   »Hier!« rief Mikosch, »hier! Wir sind keine Diebe!«
   Schwere Schritte kamen näher. Der Bauer sah am Ufer des Sees, auf seinem rings umschlossenen Gehöft drei Männer, einen Schlitten und ein Pferd, alles triefend, durchnäßt bis auf die Haut. »Ein Spuk«, schrie er. »Heilige Barbara, steh uns bei!«
   Alexei lachte. »Wir sind lebende Menschen wie du selbst, Bauer. Komm, führe uns in deine warme Isba und gib auch dem Pferde ein wenig Hafer, es wird nicht umsonst verlangt.«
   Der Bauer trat näher herzu, aber er bekreuzte sich immerfort. »Ja, wie seid ihr denn auf meinen Hof gekommen, Leute? – Der Weg führt durch das Haus.«
   Und während er sprach, schien er fliehen zu wollen. Die da vor ihm standen, konnten ja nur durch die Luft herbeigeflogen sein, es waren also keine Menschen von Fleisch und Blut, sondern Spukgestalten, die seinem Dache Unglück brachten, Feuer, Krankheit oder gar den bitteren Tod – das Bäuerlein zitterte.
   »Mit Verlaub«, murmelte die vorhin so gebieterische Stimme. »Mit Verlaub, welches Weges seid ihr gekommen?«
   Mikosch deutete mit der Rechten auf das Wasser hinaus. »Über den See, Bauer – es war eine entsetzliche Fahrt.«
   Der Mann ließ vor Schreck das Gewehr fallen. »Durch das Teufelsloch?« rief er. »Alle guten Geister loben Gott den Herrn!«
   »Das tun wir auch wirklich aus vollem Herzen, Alter! Die Wölfe hetzten uns und das Pferd lief unaufhaltsam in den See hinein – hier, an dieser Stelle, sind wir aus dem Schlitten gestiegen.«
   Der Bauer griff an die Mütze. Vielleicht fühlte er, daß auf seinem grauen Haupte die Haare zu Berge standen. »Es ist einmal ein Boot auf das Teufelsloch hinausgefahren«, sagte er stammelnd, »aber so viel Garn die Leute auch mitnahmen, den Grund konnten sie nicht finden. Es mögen Hunderte von Fuß sein, Tausende! – Aber ich weiß, eine schmale Furt soll es geben, alte Leute hier herum behaupten es, eine einzige schmale Furt – die geht quer hindurch.«
   Mikosch blieb die Antwort schuldig, er ging schwankenden Schrittes zu seinem Pferde und umfaßte es mit beiden Armen. » Sollst das Gnadenbrot essen«, flüsterte er, »sollst Hafer und ein Obdach haben, ob du auch alt und blind werdest, mein Tier! Ich will dir die heutige Nacht nimmer vergessen!« Mikosch lehnte die Stirn an den Hals des Pferdes, er war so erschüttert, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, jetzt mit dem Bauern zu unterhandeln.
   Onnen und Alexei brachten endlich den Graukopf dahin, sie für ganz gewöhnliche Sterbliche zu halten und ihnen erst einmal Quartier zu geben. Die Bäuerin wurde geweckt, im Ofen das Feuer geschürt und ein tüchtiges Mahl aufgetragen; dann ging für den Rest der Nacht alles zur Ruhe, der kleine tapfere Gaul im Stalle und die Menschen in der Isba, wo Hühner und Enten, Kälber und Schafe friedlich mit der Familie die Wärme des riesigen Kachelofens teilten.
   Die Luft in diesem Räume war bös, schier ebenso unerträglich wie die in dem Höhlenbau, den das Zigeunervolk bewohnte; aber wer eben erst dem in doppelt schrecklicher Gestalt drohenden Tode nur wie durch ein Wunder entrann, wem die Eiszapfen im Haar und in den Kleidern hängen, der ist nicht mehr wählerisch, sondern dankt seinem Schöpfer für die sicheren Mauern des Hauses und den Platz am Feuer, das seine erstarrten Glieder wärmt und ihn dem Leben allmählich wieder zurückgibt.
   Am Morgen umstanden schon ganze Gruppen von Dorfbewohnern das Gebäude. Die Erzählung von der Fahrt über das Teufelsloch hatte sich inzwischen verbreitet und jeder wollte die sehen, denen so Unerhörtes gelungen war. Selbst der Pope kam herbei; er nahm für die heilige Barbara, die Schutzpatronin des Dorfes, das Wunder einer so unerwarteten Rettung ganz allein in Anspruch und meinte, daß es nur billig sei, jetzt auch der Kirche dankbar zu gedenken.
   »Das güldene Krönlein der Gebenedeiten fehlt uns immer noch«, sagte er, »ihr könntet‘s jetzt spenden, Zigeuner.«
   Und Mikosch nahm ihn beiseite, er handelte mit ihm. »Ein silbernes tut‘s auch«, flüsterte er später, »das will ich geben.«
   Sein Mut und seine Schlauheit waren mit dem hellen Tage zurückgekehrt; er bezahlte alles Genossene sehr anständig, kaufte für das Pferd eine neue Decke und trug dann mit Hilfe der beiden anderen den leeren Schlitten durch das Haus ins Freie. Noch ein letzter Blick auf den blauen stillen See mit seiner unergründlichen Tiefe – ein letzter Blick voll geheimen Grauens, und die Fahrt zum fernen Dorfe wurde angetreten.
   Jetzt ging es über den hohen, schmucklosen und holperigen Damm, welchen die Russen eine Landstraße nennen; hier waren keine Wölfe zu fürchten, nur höchstens einige Füchse und Luchse eilten quer über den Weg und Hasen in unzählbarer Menge, der Schnee fiel bei stiller Luft vom Himmel herab, es war ein Wintermorgen, so ruhig, so freundlich, wie er nur irgend gedacht werden kann.
   Mikosch zählte kleines Geld und suchte dann im Stroh des Schlittens eine Speckseite, die er gekauft hatte. »Dieses Weges bin ich sehr wenig gekommen«, sagte er, »die eigentliche Landstraße führt an der anderen Seite des Teufelsloches vorüber – aber dennoch weiß ich, daß hier ein Bruder Klausner lebt. Er verläßt nie seine Felsenhütte; die umwohnenden Bauern versorgen ihn mit allem Notwendigen, bringen dem alten Manne gekochte Speisen und Holz für seinen Ofen, Brot und Bier – er spendet dafür seinen Segen, den die Leute als wundertätig ausgeben. Bruder Nikolaus ist ein Altgläubiger, der schon vor einem halben Jahrhundert der Welt den Rücken kehrte.«
   »Und in einem Felsen sitzt der Alte?«
   »Ja. Die Vorderwand der Höhle ist ein Eisengitter, der Raubtiere wegen – das verstärkt er nachts und im Winter mit Holzläden.«
   »Aber er arbeitet nie, hat keinerlei Beschäftigung?«
   »Er betet.«
   Onnen schwieg. Wie unbegreiflich klang das, was der Zigeuner sagte.
   Gegen Mittag wurde die Höhle des Klausners erreicht. Nur der, welcher überhaupt die Umgebung kannte, war imstande, hier eine menschliche Wohnung zu entdecken; weiß und unübersehbar ragte der Höhenzug gen Himmel, weiß und eintönig lag die Erde – kaum erkennbar durchdrang ein einzelner schwarzer Punkt das Glitzern und Blenden ringsumher, eben jenes Eisengitter vor der Höhle des frommen Mannes.
   Mikosch ließ den Schlitten halten, er nahm die Speckseite, und alle drei näherten sich den engverflochtenen Stäben, hinter denen ein Mensch seit länger als fünfzig Jahren lebendig begraben lag. Er klopfte gegen das Schloß der kleinen Pforte: »Bruder Nikolaus!«
   »Wer ruft mich?« fragte eine leise, gütige Stimme.
   »Gläubige Christen, frommer Bruder, sie bitten um deinen Segen.«
   Ein ganz weißes Gesicht erschien am Gitter, ein weißer Bart, der bis zum Gürtel des Trägers herabreichte. »Meine Augen haben das Licht dieser Erde verloren«, sagte die milde, angenehme Stimme, »aber das Ohr hört noch jeden Laut. Es lauscht den Schritten des Engels, der kommen wird, um die Seele in Abrahams Schoß zu tragen.«
   Das Antlitz des Alten war das eines Propheten, sein lichtloses Auge sah voll froher Hoffnung gen Himmel. »Fast neunzig Jahre dauert meine Pilgerfahrt – bald muß sie vollendet sein. Zu jeder Stunde kann mir der Engel erscheinen.«
   »Willst du uns nicht deinen Segen geben, frommer Bruder? Wir haben dir auch einige Geschenke mitgebracht.« Er lächelte ruhig. »Meinen Segen sollt ihr haben, den eines armen sündigen Menschen wie ihr selbst, aber eure Gaben brauche ich nicht. Es liegt hier mehr Brot, mehr Fleisch, als ich verzehren kann; geht, schenkt es den Armen.«
   Dann tasteten seine Hände. »Wo seid ihr? Meine Seele betet für euch, das ist der Segen, den ich zu geben habe.« Die mageren, zitternden Finger berührten Onnens Scheitel und glitten dann herab an seinen Wangen. »Du bist noch ein Knabe, Fremder – möchten dir die Torheiten der Jugend und die Leiden des Alters erspart bleiben, möchtest du Frieden finden bei Gott und den Menschen. Amen!«
   Auch die beiden Zigeuner erhielten den Segenswunsch des Alten, aber das Geld und die Lebensmittel nahm er nicht an. »Schenkt es den Armen, meine Brüder, es gibt unter der Sonne so viel Elend.«
   Dann lehnte er den Kopf wieder gegen die Steinwand. »In jedem Augenblick kann der Engel kommen, mit weißen Schwingen – er bringt mir das Licht zurück, die Klarheit, welche nie schwindet. O, wie oft habe ich im Traume sein Bild gesehen, wie oft! – Er winkt mir, er lächelt so froh, so still!«
   Geräuschlos traten die Männer von dem Eisengitter zurück. Des Alten Seele war nur noch mit den leichtesten Banden an diese Erde gefesselt – ein Hauch, und Bruder Nikolaus, der Freund aller Armen, hatte aufgehört zu atmen.
   Der Schnee, nicht mehr von seiner Hand entfernt, setzte sich dann an die Stäbe des Eisengitters fest, Flocke verwob sich mit Flocke und eine dichte Wand sperrte die Höhle, in der ein erdenmüder Mensch die Augen für immer geschlossen. Bruder Nikolaus hatte den Engel seiner Träume von Angesicht zu Angesicht gesehen, er war zurückgekehrt in die Welt des Lichtes.
   »Noch in dieser Nacht geht der Alte heim«, sagte Mikosch. »Ganz still, ohne Kampf, wie eine Lampe erlischt, wenn das Öl verbrannt ist. Mich erkannte er nicht mehr, das sah ich wohl.«
   »Bist du denn vor seiner Erblindung mit ihm zusammengetroffen, Mikosch?«
   Der Zigeuner nickte. »Vor langen Jahren«, sagte er, »ich selbst war noch ein junger Mann, mein Weib trug den Jasko, der jetzt dreißig Jahre zählt, als Säugling auf dem Arm – ach, da ging mir‘s so traurig, so überaus traurig. Die Jagddiebe hatten meinen Bären erschossen, das Winterdorf war zu schneearmer Zeit abgebrannt und wir wanderten in Eis und Frost zu Fuß umher, ohne Wagen und Pferd, ohne Geld – als Bettler.
   »Da kamen wir in heller Mondnacht an der Hütte des Einsiedlers vorüber. Das Eisengitter haben ihm die Bauern erst viel später hinsetzen lassen, damals gab es zum Schutze des Alten nur einige, von ihm selbst angebrachte Holzstäbe. Ich trug die Kugelbüchse auf der Schulter, mein Weib den Jungen und was sie sonst an Lumpen und Lappen für das Kleine noch besaß – so wanderten wir durch den eisigen Ost und hofften in bitterer Verzweiflung nur eins, daß uns ein mitleidig Bauernweib in der Isba ein wenig am Ofen sitzen lassen möchte, sonst wären wir schier gestorben vor Kälte.
   »Da hörte ich einen Bären brummen und dacht‘ an das schöne wärmende Fell. Ich versuchte die erstarrten Finger, ob‘s noch gehen würde mit dem Schießen; leise schlich ich vorwärts dem Schalle nach. Mein Weib war auf die Knie gefallen; es hatte zum Weinen, zum Sprechen keine Kräfte mehr.«
   »Mikosch«, unterbrach Onnen, »so traurige Tage hast du gesehen?« Der alte Häuptling lächelte. »Viele, Herr, viele – aber davon wollte ich ja nicht sprechen! – Der Bär brummte immer stärker, es krachte, als zerbreche er irgendeinen hölzernen Gegenstand, und endlich sah ich ihn. Petz stand auf den Hinterfüßen vor der Felsenzelle des Klausners, die Vorderpranken zerrissen gerade das Balkenwerk, als sei es ein Spinnengewebe. Nun erst entsann ich mich des Eremiten, meine Kugel flog dem Bären gerade in das Ohr, er sprang auf wie zur Flucht, schrie furchtbar und fiel dann schwerfällig zu Boden, tot, ganz tot, die Bleiladung saß ihm im Gehirn. »Ich sprang eilends herzu und sah in die Höhle hinein. Drinnen stand mit gekreuzten Armen Bruder Nikolaus, ganz ruhig, ohne Schreck oder Furcht, ohne einen Gedanken an Verteidigung – keine zwei Schritte von ihm entfernt lag der erschossene Bär vor dem fast ganz zertrümmerten Holzgitter. Noch eine Minute länger und die Bestie hätte den frommen Mann in ihren gewaltigen Pranken erdrosselt.
   »Bruder Nikolaus!« rief ich. »Bruder Nikolaus, siehst du denn nicht, was hier geschah?«
   »Er glitt mit den Fingern über seine Stirn. »Meine Stunde ist also noch nicht gekommen« sagte er, »Gott wollte es anders!«
   »Hast du denn keine Schießwaffen, frommer Bruder?«
   »Er lächelte nur. »Der Himmel schickt zur rechten Zeit den Retter, mein Freund, du siehst es ja. Alle eure Sorgen werfet auf den Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich.« »Ich fühlte mich tief erschüttert. Gleichsam im Rachen der Bestie, nur noch um eines Schrittes Länge von den kalten Umarmungen des Todes getrennt, hatte dieser Mann seine vollkommene Ruhe bewahrt. Er glaubte an Gottes Nähe, das trug ihn und hielt ihn aufrecht in der Stunde der Gefahr.
   »Bruder Nikolaus«, bat ich, »gib mir ein Stück Brot; draußen auf dem eisigen Boden liegt mein Weib und stirbt vor Hunger.«
   »Er ergriff die Eisenstange und schürte das Feuer, dann zog er Fleisch, Brot und eine Flasche mit Wein aus einem Kasten hervor.»Hole dein Weib, Freund, der Tisch für euch beide ist gedeckt« »Ich sprang davon wie auf Flügeln – die arme Ilona war so ermattet, daß sie mich nicht mehr verstand, ich mußte sie und das Kind bis zur Höhle tragen; dann gab ihr der starke Wein Besinnung und Wärme zurück. Bruder Nikolaus schenkte meinem Kinde ein kleines Kreuz aus Elfenbein – der Jasko trägt‘s heute noch am Halse! – er ließ uns essen und trinken, an seinem Feuer ausruhen bis zum Morgen und gab uns zuletzt alle Lebensmittel, die er besaß, mit auf den Weg, auch seinen einzigen Rubel, das Geschenk eines Pilgers, der weither gekommen war, um ihn zu sehen. ›Möchte es dir besser ergehen als bisher, mein Freund‹, sagte er. ›Gott segne dich und die Deinigen, er erfülle, was du dir wünschest! —‹«
   Mikosch nickte, er atmete tief. »Diesen Rubel habe ich heute noch«, sagte er, auf die Stelle des verborgenen Ledergurtes deutend; »ich habe ihn nicht ausgegeben, und wenn auch der Hunger sein gelbes Gesicht zur Tür hineinsteckte. Das Geldstück brachte mir Glück, glaube ich, es sind seitdem manche andere hinzugekommen und mein sehnlicher Wunsch, selbst ein Geschäft, eine Schenke zu haben, geht jetzt der Erfüllung entgegen. Wenn ich dich nach Norderney gebracht habe, Herr, dann ist die Stunde gekommen.«
   Onnen lächelte. »Du brauchst mir nur ein Schiff zu besorgen, Mikosch, und ich werde dir‘s danken, solange ich lebe.«
   Aber der Alte schüttelte den Kopf. »Nein, nein, es bleibt bei meinem Worte. Das heißt, wenn es Gottes Wille ist«, setzte er hinzu.
   »Und du glaubst wirklich, daß der arme alte Klausner in nächster Zeit stirbt, Alter?«
   »Noch in dieser Nacht. Ich kenne den Tod, habe ihn zu oft, zu hundertfältig gesehen – mich kann er nicht mehr täuschen.«
   »Kommen wir denn bei Gelegenheit unserer Weiterreise nochmals an der Höhle vorüber?«
   Mikosch wiegte den Kopf. »Wir können es wenigstens«, antwortete er. »Wenn du es wünschest, so soll es geschehen, Herr!«
   Zur Rechten erschien jetzt wieder der langgestreckte See und an seinen Ufern glitt der Schlitten dahin, bis am Nachmittag das Dorf erreicht war. In allen Arbeitshütten schwieg das Geräusch der Hämmer, es war auf den Straßen kein Kind zu entdecken; die jungen Leute, die Pferde, Schlitten und Hunde fehlten, eine bleierne Stille lag auf der ganzen kleinen Niederlassung.
   Mikosch lächelte. »Sie halten uns für verunglückt«, sagte er, »sie sind hinausgefahren, um uns zu suchen.«
   Und dann pfiff er auf zwei Fingern. Wie durch einen Zauber veränderte sich plötzlich die Stille ringsumher, ebensolche Töne antworteten, Männer und Frauen stürzten aus den Hütten hervor, Ruffs mächtige Stimme brüllte den Willkommensgruß, daß die Wände dröhnten. »Er ist da!« rief eine alte Frau, indem sie beide Arme ausstreckte und laut schluchzend auf die Straße trat, »ach, er ist da, mein Sohn, mein letztes Kind!«
   Und auch eine andere erschien, das Weib des braunen Häuptlings – sie umarmten ihn beide zugleich, sie fragten, welch ein Wunder ihn und seine Begleiter gerettet habe. Mikosch nahm die Pelzkappe vom Kopfe, als er antwortete.
   »Durch das Teufelsloch sind wir gekommen! Ein Engel ging vor uns des Weges, ob ihn gleich kein Auge gesehen – das Wasser durfte uns nicht behalten.«
   Die Umstehenden erbleichten. »Durch das Teufelsloch!« flog es von Mund zu Mund. »Ihr wagtet es, um den Wölfen zu entgehen?« »Ja – oder besser, das Pferd riß ohne Gebot den Schlitten vorwärts. Sie waren uns hart auf den Fersen, die Unholde, einige sprangen sogar in das Wasser, um nachzuschwimmen, aber sie gaben doch die Sache nach den ersten zwanzig Schritten schon wieder auf. So blieben wir in der Furt, welche bisher kein Mensch kannte und die auch vielleicht nie im Leben einer wiederfindet.« Ein Klingeln von Schlittenglocken zeigte die Ankunft der Männer, welche ausgezogen waren, um ihre verschollenen Genossen zu suchen. Sie hatten die Spur bis an den Rand des Wassers verfolgt und damit alles verloren gegeben. Einer unter ihnen hielt sich sogar schon für den Erben der Häuptlingswürde und dachte an allerlei Listen, um den abwesenden Jasko aus der Gunst des Stammes zu verdrängen; dieser war der einzige, welcher den allgemeinen Jubel nicht teilte. Außer ihm freuten sich alle und gaben das in ihrer harmlosen Weise durch Singen und Tanzen zu erkennen. Während der ganzen Nacht tönte Musik aus den Hütten hervor; niemand schlief, es wurde gekocht und gebraten – am andern Morgen ward dann ein Plan gefaßt, der den Wölfen in ihrem eigenen Gebiete den Garaus machen sollte.
   Wo so viele vorhanden waren, da lohnte es wohl der Mühe, die von der Regierung bewilligten Prämien zu verdienen, und auch, sich die Pelze zu eigen zu machen.
   Die ganze Dorfschaft zog aus und grub am hellen Mittag, unbelästigt von den tagesscheuen Bestien, große Gruben, in deren jede ein Stück Fleisch geworfen wurde. Die Oberfläche verhüllte man durch dünne Pelze und quergelegte Reiser, auf denen ein anderes, kleineres Stück Fleisch lag.
   Alle Hunde waren im Dorfe zurückgeblieben, ebenso der Bär. Sechs bis zehn Männer, auf Bäumen versteckt, überwachten die Gruben. Das etwas angebrannte Fleisch duftete stark, und so konnte denn mit Recht eine gute Jagd erwartet werden. Der Mond schien auch während dieser Nacht hell vom Himmel herab. Fernher schimmerte die ruhige Flut des Teufelsloches, hie und da fielen weiße Flocken durch die Luft – noch zeigte sich kein Wolf. Der Schlitten war schon bei dem ersten Eintritt der Dämmerung in das Dorf zurückgebracht worden und sollte mit mehreren anderen erst am folgenden Morgen wiederkehren, um die Jäger und ihre Beute abzuholen. Mikosch sah ärgerlich auf die Uhr – schon war Mitternacht vorbei und noch immer kein Tier zu entdecken.
   »Wir müssen sie locken«, entschied Alexei. »Paßt auf!«
   Und er blökte mit solcher Kunstfertigkeit, daß Onnen hell auflachte. Es klang, als springe ein geängstigtes Schaf, durch den Pflock gefesselt, vor dem andrängenden Feinde von Stelle zu Stelle, ohne ihm entrinnen zu können. Gleich einem Notschrei tönte das langgedehnte: Mäh! Mäh! durch die helle Mondnacht dahin.
   Der Erfolg blieb nicht aus. Hie und da erschien ein Gelber, erst wenige, dann mehrere; sie zogen die Luft ein, schnupperten und entdeckten endlich das auf die Falle gelegte Stück Fleisch.
   Vom Hunger getrieben stürzten sie vorwärts, um im Angesichte so vieler Mitbewerber den Raub für sich allein zu gewinnen – ihrer fünf und sechs sprangen auf die schwache Decke, welche keinen einzigen getragen haben würde. Mit gellendem Geschrei fielen alle in die Tiefe hinab, so tief, daß kein Sprung sie wieder an die Oberfläche bringen konnte.
   Für den Augenblick erschraken die übrigen, dann aber verdrängte der Geruch des Fleisches den Gedanken an die Gefahr und wieder stürzten sechs oder acht der erbitterten Tiere in eine neue Grube hinab. Auch auf dem Grunde derselben bissen sie sich noch um den Raub; das Geheul und das Knurren klang wie ein Teufelsspuk durch die Nacht.
   Mittlerweile entdeckten andere die Jäger auf den Bäumen und fingen an, dieselben zu umkreisen. Ein grauenhafter, dem Eulengeschrei ähnlicher Ton wurde gehört; es war der Verzweiflungsschrei der hungrigen Wölfe, die ihre Beute nicht erlangen konnten.
   Von den Bäumen herab donnerten die Kugelbüchsen. Wie immer durch den Pulverblitz erschreckt, wich das Raubgesindel zurück; einige wälzten sich in ihrem Blute, andere schnappten nach den Stellen, wo die Ladung sie getroffen hatte und die allerdreistesten versuchten sogar, an den Stämmen hinaufzuspringen, aber das unausgesetzte Feuer tötete doch die meisten von denen, welche nicht schon vorher in die Gruben gestürzt waren, und endlich, als der Tag anbrach, entflohen die letzten.
   Eine schlimme Nacht voll Kälte und Aufregung, aber auch eine herrliche Beute!
   Im ganzen hatten fünfunddreißig Wölfe ihr Leben lassen müssen, so daß, als später die Schlitten kamen, allein Pelze und Klauen eine ganze Ladung ausmachten. Das Fleisch mochten andere Bestien fressen, die etwa in der nächsten Nacht kommen und nach Beute ausspähen würden.
   Auf diese letzten Anstrengungen folgten einige Ruhetage, und dann begann Mikosch für die Abreise nach Kiew zu rüsten. Von da sollte es weitergehen, über Odessa zur See nach Hamburg und Norderney; er mußte also auf mindestens ein Jahr Abschied nehmen und alle seine Angelegenheiten vorher ordnen.
   Ein Bote ging nach Moskau, um den ältesten Sohn des Häuptlings heimzurufen; der Schlitten wurde mit Kleidern und den notwendigsten Lebensmitteln bepackt, dann ging es zum Abschied, bei dem Onnens Herz doch schneller schlug. Es waren, wenn auch verachtete und weder sehr redliche noch saubere Zigeuner, so doch gastfreie, freundliche Menschen, die er verließ – und das schmerzt immer.
   Alexei zog mit. Einen jüngeren, ganz zuverlässigen Mann mußte der alte Hauptmann bei sich haben; und da seine Söhne fehlten, nahm er den entfernteren Verwandten, welcher übrigens seinem Herzen fast ebenso teuer war wie jene. Am Morgen des vierundzwanzigsten Dezembers begann die neue Reise; Mikosch wollte zum Neujahrsfeste in Kiew sein, um dort, weil viele Pilger das Kloster besuchten, womöglich Geld zu verdienen, er mußte daher die Fahrt schon jetzt antreten – Onnens wegen an der Klause des Einsiedlers vorüber.
   »Ob wir den armen Blinden wiedersehen werden? Was denkst du, Mikosch?«
   Er schüttelte den Kopf. »Sicherlich nicht, Herr!«
   »Und wo bleiben wir zur Nacht?«
   »Nun, in irgendeiner Hütte. Arm und niedrig sind sie hier herum alle.«
   Onnen seufzte; das Bild des vorigen Weihnachtsabends trat lebhaft vor die Augen seines Geistes. Damals lastete auf Deutschland allerdings auch schon die Franzosenherrschaft, aber auf Norderney hatten sich die Bedrücker noch nicht blicken lassen; zusammen mit den Hansens und mit Onkel Kluin war der heilige Abend unter dem grünen Tannenbaume bei vollen Gläsern gefeiert worden. Der Vater trank auf Deutschlands Befreiung – es war dem jungen Manne, als sähe er ihn, als hörte er die freundliche und doch so mannhafte Stimme. Das sanfte Antlitz seiner Mutter, die ganze saubere, geliebte Umgebung, alles trat lebhaft vor seine Seele – er seufzte tief. Welch schreckliche Veränderung zwischen jenem und dem gegenwärtigen Tage.
   Der Vater gemordet, die Mutter im fremden Hause, der Barmherzigkeit anderer überlassen, und er selbst ein Flüchtling, sein einziger Freund ein Zigeuner.
   »Mikosch«, fragte er halblaut, »brennt bei euch in den Bauernhäusern am Weihnachtabend ein Tannenbaum?«
   Der Alte nickte. »In wenigen, sehr wenigen, aber zuweilen geschieht es doch. Wo die Leute Kinder haben und reichlich Geld, da schmücken sie wohl den Baum mit bunten Bändern, Lichtern und allerlei Früchten. In diesem Jahre wird es damit nicht viel werden.«
   Sie fuhren weiter, immer auf ebener Bahn durch das weiße Flockengeriesel. Nun kam der Höhenzug, die Gegend, in welcher des Klausners Versteck lag; halb und halb hatte sich die Dämmerung bereits herabgesenkt, aber doch konnte man noch Gestalten und Umrisse erkennen. Onnen spähte angestrengt hinüber – wo war das Eisengitter?
   »Mikosch, siehst du es?«
   Der Alte schüttelte den Kopf; er deutete mit dem Stocke zu den Bergen hinüber. »Dort war es!«
   Onnen erschrak. »War, sagst du? – Und wo wäre er jetzt?«
   »Verschneit!«
   »Ach, der arme Blinde!«
   Alexeis Falkenaugen hatten einen dunklen Gegenstand entdeckt. »Vor der Höhle sitzt zusammengekauert ein Mensch«, sagte er.
   Mikosch bedeckte die Augen mit der Hand. »Ein Mann«, fügte er hinzu, »vielleicht ein Erfrorener. Der Schnee fällt ihm auf Kopf und Rücken, aber er bemerkt es nicht.«
   »Dann müssen wir jedenfalls nach ihm sehen.«
   Der Zigeuner lenkte schon den Schlitten hinüber, sobald indessen die Glocken heller erklangen, hob der Unbekannte den Kopf und schüttelte die Schneelast von den Schultern; es schien ihm sehr willkommen, die Öde ringsumher durch menschliche Gesichter unterbrochen zu sehen. »Ach«, rief er, »ach, ihr guten Leute, es ist vergeblich, durch Eis und Sturm an diesen Ort zu gehen – der arme Bruder Nikolaus lebt nicht mehr, sein Gitter ist verschneit, der fromme Mann muß erfroren sein, gestorben; er gibt keine Antwort, er hat kein Feuer im Ofen.«
   Der Zigeuner sah in das bleiche, gramvolle Gesicht des Fremden. »Peter Wassiljewitsch«, sagte er, »wie kommst du denn hierher? Erkennst du mich nicht?«
   Der Bauer sah auf; er seufzte tief. »Mikosch«, stammelte er, »du bist es! Sage mir, warst du in Smolensk? Ihr Zigeuner hört ja alles, wißt alles – erfuhrst du nichts von meinem Sohne? Er ist Soldat – ach du großer Gott, und wir haben in einem halben Jahre von ihm keine Nachricht mehr gehabt! Ob er noch leben mag – wer weiß es?«
   Der Zigeuner bat die beiden anderen, etwas näher zusammenzurücken, und forderte dann den Bauern auf, im Schlitten Platz zu nehmen. »Von Smolensk hörte ich seit der Schlacht nichts wieder, Peter Wassiljewitsch, du mußt dich nicht so sehr beunruhigen, ehe Nachrichten eingetroffen sind. Was wolltest du denn bei dem Klausner, he? Er ist ohne Zweifel gestorben, ich sah ihn schon vor länger als einer Woche in hoffnungslosem Zustande.«
   Der Bauer seufzte wieder. »Es ist heiliger Abend«, sagte er, »und meine Alte weint so herzbrechend. Ich konnte es im Hause nicht aushalten – dacht‘, daß mir der Klausner ein wenig Trost geben werde – ja, und nun ist auch der tot.«
   Mikosch suchte den armen Mann abzulenken. »Wohnst du noch da drüben bei der Mühle, Peter Wassiljewitsch? – Ich will dich im Schlitten nach Hause bringen.«
   Der Bauer nickte. »Wir haben nur den einen Jungen«, sagte er, ganz in seinen Schmerz versunken, »wir sind nicht gerade arm, konnten immer für seine Zukunft ein Übriges tun. Er sollte im Dorfe der Lehrer werden, ach, er ist so klug, kann lesen und schreiben – und nun wissen wir nicht einmal, ob er noch lebt.«
   »Daher darfst du als vernünftiger Mann auch nicht trauern und seufzen, mein guter Peter, es kann sich ja noch alles zum besten kehren. Sieh, wie in den Häusern die Lichter glänzen; alle diese Leute haben auch ihre Söhne bei der Armee und wissen nicht, wie es ihnen ergeht. Komm, du mußt den Kopf oben behalten, alter Freund!«
   Der Bauer sah zu den erhellten Fenstern seines Dorfes hinüber und schien sehr erstaunt. »Soviel Licht!« murmelte er, »wie kommt das?«
   »Denkst du denn nicht an den heiligen Abend, Peter?«
   »Ja, ja, aber – noch als ich vor drei Stunden fortging, weinten die Frauen und steckten ihre Köpfe in die Schürzen. Von einer Feier wollte niemand etwas wissen.«
   »Ich bitte euch«, unterbrach er sich, »ich bitte euch, ging da nicht eben ein Soldat an der Krücke über die Straße?«
   »Ja!« riefen Onnen und Alexei zu gleicher Zeit. »Er trug Uniform.«
   »O Gott im Himmel, wenn er mir von meinem Sohne eine Nachricht bringen könnte!«
   »Da geht er noch – sollen wir ihn rufen?«
   »Ja – nein – ach, gerade heute! Die Alte stirbt mir vor Gram, wenn es heißt, daß ihr einziger dahin ist!«
   »Dort gehen noch zwei Soldaten!« rief Onnen.
   »Und hier in der Hütte sitzt einer – der arme Schelm hat den rechten Arm verloren! Wie sie ihn liebkosen, wie glücklich sie aussehen! Ein Mann trägt einen mächtigen Tannenbaum in die Isba, er lacht, die Kinder jubeln – o; wem der gütige Gott ein solches Weihnachtsfest beschert!«
   Der Bauer hatte sich in dem langsam fahrenden Schlitten aufgerichtet, er hielt wie in unerträglicher Aufregung die Hände zusammengepreßt. »Da steht die Mühle«, murmelte er, »gleich kommt mein Haus – ach – ach – es ist Licht in der Isba – ewiger Himmel, wenn die Soldaten meiner armen Frau eine schlimme Nachricht mitgebracht hätten!«
   »Oder wenn dein Sohn nach Hause gekommen wäre, Alter!«
   Der Gedanke schien den, Bauern zu überwältigen. Mit einem Satz sprang er aus dem Schlitten und stürzte zum Fenster seiner Isba. »Nikita«, hörten ihn die anderen rufen, »mein Sohn! Mein Sohn!«
   Und dann riß er die Tür auf, glücklich, selig, alles vergessend in der Freude des Wiederfindens: »Nikita, mein Junge, mein Herzenskind!«
   Mikosch lächelte; er ließ vor dem Häuschen seinen Schlitten halten. »Wir wollen den Leuten nur guten Abend sagen«, meinte er, »und dann die Herberge aufsuchen. Seht doch diese Freude, die beiden Alten erdrücken beinahe den jungen Menschen! – Ach, er hat einen Fuß verloren, kann sich nur an der Krücke fortbewegen – wie schade!«
   »Nun«, rief Onnen; »für den Schullehrer macht das weniger aus! – Aber, wie ist mir denn«, fügte er gleich darauf hinzu, »den Soldaten muß ich schon früher gesehen haben!«
   In diesem Augenblick wurde die Haustür wieder geöffnet und Peter Wassiljewitsch stürmte auf die Straße hinaus. »Kommt herein, ihr Leute, es ist Platz genug in meiner Isba, kommt nur, wir wollen ja heiligen Abend feiern! Mein Sohn ist zurückgekehrt – ach, ich bin so froh, so froh – morgen soll die heilige Dorothea, unsere Schutzpatronin, einen neuen Silberschmuck haben, den schönsten, der sich auftreiben läßt.«
   Er schien vor Freude ganz außer sich; bald begann er, das Pferd auszuspannen, dann drückte er wieder den Männern die Hände oder klopfte den mächtigen Kopf des Bären, als sei auch dieser ein Mensch.
   »Ich will‘s euch nur gestehen«, sagte er, »ihr habt mir das Leben gerettet. Ich war ja nicht ausgegangen, um eine Sünde zu begehen, aber wie ich so dasaß und die Flocken fielen mir auf den Kopf, da tobten arge Gedanken in meiner Seele. Bruder Nikolaus ist verschneit, meinte ich, fühlt kein Leid und keine Sorge mehr – du willst ganz stillsitzen; wenn‘s dann Gottes Wille ist, so schläfst du langsam ein – das beste, was dir der heilige Christ bescheren könnte!«
   »Aber kommt jetzt! Kommt jetzt!« rief er dann. »Wir müssen einen Tannenbaum haben und bunte Bänder und Lichter! Kommt, ihr sollt meinen Sohn sehen!«
   Mikosch brachte die Tiere und den Schlitten in einen Stall, die beiden jungen Leute folgten dem Bauern in die Isba; wo das Mütterchen glückselig des wiedergeschenkten Sohnes Hand hielt und immerfort vor Freude weinte. Der Soldat sah bleich und angegriffen aus, aber er war ein sehr hübscher, wohlgebauter Mann, der die Fremden freundlich begrüßte und dann, als ihm Onnens Blicke begegneten, plötzlich stutzte.
   »»Wir müssen uns kennen!« rief er. »Ja, ja, ich bin meiner Sache ganz gewiß. – Ihr wart es, der mich in Smolensk, als ich den Fuß verloren hatte und blutend auf dem Walle lag —« »Sprecht doch nicht davon!« unterbrach Onnen. »O, ganz gewiß will ich das! Ihr habt mich aus dem Feuer getragen, Ihr seid mitten im stärksten Kugelregen zu mir hinausgekommen und habt meine Wunde mit kaltem Wasser gebadet. Ohne Euch wäre ich wahrscheinlich in kurzer Zeit ein Kind des Todes gewesen.«
   Die alte Frau erhob sich von ihrem Sitz; schwankenden Schrittes näherte sie sich unserem jungen Freunde. »Herr, du hast meinen Sohn gerettet? Du hast seine Wunde verbunden und ihn auf deinen Armen getragen? – Gib mir die Hand, ich will sie küssen, die liebe barmherzige Hand!«
   Onnen umfaßte mit beiden Armen das Mütterchen. »Mache nichts daraus«, sagte er lächelnd, obwohl seine Stimme bebte, »ich tat nur, was jeder andere auch getan haben würde: – Hörst du, da klingen die Weihnachtsglocken!«
   Vom kleinen hölzernen Kirchlein herüber durchdrangen die friedlichen Töne das Schneetreiben in den dunklen Straßen. Jetzt kam Mikosch herein, beladen mit einem mächtigen Tannenbaum, Flocken im Haar und im Pelz, der richtige Weihnachtsmann, dessen Erscheinen die Rührung da drinnen in heitere Festfreude verwandelte, der nun den Baum mit Lichtern und Bändern schmückte, daß draußen die Schneemassen im rosigen Widerschein strahlten und weithin die Flocken wie glitzernde Diamanten vom Himmel herabfielen.
   Der wiedergekehrte Sohn und die Mutter saßen immer eng beisammen; Onnen mußte jede Kleinigkeit aus den Schreckenstagen von Smolensk wieder und wieder erzählen, alles, was er von den guten Leuten wußte, zu denen er den Verwundeten gebracht, von dem Arzte, den er herbeigeholt, und allen denen, die in irgendeiner Weise hilfreiche Hand geleistet hatten. »Damit ich für sie beten kann«, sagte innig das Mütterchen, »am meisten aber für dich, Herr, für den lieben barmherzigen Freund, der mein Kind rettete.«
   Und dann erwischte sie doch Onnens Hand, ehe er es verhindern konnte. Sie mußte sie küssen – es ging nicht anders.
   Der Bauer befestigte indessen an die geöffnete Dachluke eine schwere, volle Garbe. Auch die Vögel unter dem Himmel sollten ein Fest feiern – er war ja so glücklich, so glücklich, am liebsten hätte er die ganze Welt umarmt.
   Jeden Augenblick pochte draußen jemand ah die Scheiben. »Auch mein Junge ist wieder ,da, auch meiner, gelobt sei Jesus Christ!« »Ihr alle aus unserem Dorfe?« fragte der Bauer. »Fehlt keiner?« »Doch!« entgegnete der Soldat, »ihrer drei liegen vor Smolensk unter dem Schnee. Als wir heute nach Hause kamen,, sagten wir‘s dem Geistlichen; so den armen Leuten am Weihnachtabend die böse Botschaft ins Haus zu bringen, das ist so schwer, wir wagten es nicht.«
   Die alte Mutter faßte wieder des Sohnes Hand. »Mein Einziger, ach mein Einziger – wenn ich dich verloren hätte!« —
   Draußen waren die Glocken verstummt, der Geistliche wanderte durch den tiefen Schnee von Hütte zu Hütte, um den beraubten Familien die Tröstungen der Religion zu bringen; während fast überall der Jubel des innigsten Dankes zu Gott emporstieg, predigte er den trauernden Herzen von jener stillen Ergebung, die den Schmerz überwindet und Stufe um Stufe die Dornenbahn zum Himmel, zum Wiedersehen er klimmt. In diesen Häusern brannten keine Weihnachtskerzen; wer hineinkam von Freunden und Nachbarn, der weinte mit den Trauernden, betete für die ewige Ruhe der Heimgegangenen.
   Die übermütigen Feinde hatten flüchtig und völlig geschlagen das Land verlassen müssen, das teure geliebte Vaterland, für dessen Befreiung jene Toten zum Opfer geworden – auch in diesem Gedanken lag eine hohe, schöne Tröstung.
   Allerorten erzählten die Soldaten von dem schimpflichen Rückzuge aus Moskau, von dem Übergang über die Beresina, der Tausenden das Leben gekostet hatte, und Napoleons eiliger Flucht nach Paris.
   »Im Schlitten ganz allein, von einem gewöhnlichen Bauern gefahren, so ist er von dem Fluche des vermessenen Unterfangens über unsere Grenzen hinausgescheucht worden, quer durch Deutschland, ungekannt, unbeachtet, ein Flüchtling, derselbe Mann, welcher sich fast für einen Gott hielt, welcher sich die Welt, die ganze weite Welt zu unterjochen trachtete. Das Schicksal hat ihn gerichtet.«
   »Wißt ihr«, flüsterte halblaut, wie in unwillkürlicher Scheu Nikita Petrowitsch, »wißt ihr, was der Übermütige gesagt haben soll, als er vom Berge herab Moskau vor sich liegen sah? – »Hier stehe ich als Sieger, du, den sie Gott nennen, hindere mich, wenn du es kannst!««
   Ein Ausruf des Entsetzens folgte diesen Worten. »Und das ist eine verbürgte Nachricht?« fragte Onnen.
   »Nein, aber es wird überall erzählt. Ist es wirklich geschehen, so mag die Erinnerung an diese unerhörte Vermessenheit wie ein Gespenst den Bauernschlitten begleitet haben, als er bei Nacht und Nebel in rasender Eile durch das Land jagte.« Nicht viel wurde mehr gesprochen, seit die Seelen aller unter dem Eindruck des Gehörten erbebten. Mikosch sah an der Wand eine alte Geige hängen und nahm sie herunter – Nikita griff mit einem Freudenschrei nach seinem liebsten Besitztum. »Komm her, Zigeuner, du spielst natürlich auch – komm, wir wollen den anderen und uns selbst ein Konzert geben.«
   Die beiden Zigeuner holten aus dem Schlitten ihre Geigen und süß und zaubervoll klang die Weise hinaus in den Tanz der Flocken. Still versunken in ihr Glück saßen die beiden Alten und tauschten zuweilen verstohlene Blicke. Von allen Weihnachtsabenden ihres langen Lebens war dies der schönste, seligste.
   Selbst Ruff erhielt von der Festfreude seinen Anteil – einen großen Topf voll Honig, den ihm Onnen in den Stall trug. Und auch sein Brummen, seine behaglichen Kehllaute drückten aus, wie schön dieser Weihnachtsabend war! Vor dem Pilgerhause des Petscherskischen Klosters in Kiew hielt ein Schlitten. Noch immer bedeckten Eis und Schnee die Erde, heulend fegte der Ostwind durch die Straßen, in denen nur halbfertige Häuser und kleine hölzerne Baracken zu sehen waren. Der große Brand des Jahres 1811 hatte die Stadt total in Asche gelegt und nur langsam erhoben sich jetzt, am ersten Januar 1813, die heute noch stehenden steinernen Häuser aus dem Schutt des Gewesenen. Es gab für die zahllosen Pilger, welche an jedem der vier großen Jahresfeste in diesem ältesten und berühmtesten aller russischen Klöster erscheinen, keine andere Herberge als die im Pilgerhause, wo Arme und Reiche ohne Unterschied des Standes Aufnahme finden und nie nach der Bezahlung gefragt werden.
   Wer nichts besitzt, der erhält auch ohne Vergütung Quartier, Brot und Mittagsessen – wer es kann, der gibt dafür dem Kloster nach seinem Belieben ein mehr oder minder reiches Geschenk, obwohl man auch von ihm nichts fordert.
   Der Zudrang war gerade jetzt ein außergewöhnlicher. Der Feind hatte das Land geräumt, aber indem er tausend blutende Wunden, tausend Stätten der Verwüstung hinter sich zurückließ – es gab so unendlich vieles von den Heiligen zu erflehen, so viele Tränen zu trocknen, daß die Eingänge des Klosters und der vordere Hof während des ganzen Tages buchstäblich zum Erdrücken angefüllt waren.
   Als der Schlitten hielt, nickte Mikosch sehr befriedigt. »Hier werden wir ausruhen,« sagte er. »Ich habe vor der Petscherskischen Lawra noch in jedem Jahre gut verdient – das soll auch heute geschehen.«
   Onnen sah neugierig umher. »Welch ein betäubender Lärm!« sagte, er. »Ich dachte mir immer ein Kloster so still.«
   »Dieses nicht! Geh nur hinein, Herr, dann kannst du die Schreier sehen, es sind lauter Bettler, die alle von den reichen Leuten eine Gabe erhaschen wollen!«
   »Und zu diesem Zwecke schreien sie?«
   »Um sich bemerkbar zu machen, ja.«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Allein wage ich mich nicht in das Getümmel«, erklärte er. »Alexei, gehst du mit?«
   »Später, Herr. Laß uns nur erst einmal ein Quartier bekommen.«
   Sie brachten mit Mühe den Schlitten durch das dichte Gewühl bis zu den Stallräumen, die in eine Handelsmenagerie verwandelt schienen. Unzählige Pferde, Esel, Ochsen, Maultiere, Hunde, Bären und Affen bevölkerten die Räume, Meerschweinchen und weiße Mäuse standen in Holzkasten, Ponies, Kamele und Ziegenböcke schrien durcheinander.
   Endlos dehnten sich die Zellen; für Ruff und das Pferd wurden Plätze gefunden, und nun konnten auch die ermüdeten Menschen ihren Weg zum Pilgerhause oder doch zu einem derselben nehmen. Sie bahnten sich mühsam einen Pfad durch die dichten Menschenmassen, erhielten von einem dienenden Bruder ein Zimmer angewiesen und hatten nun den sicheren Platz für mehrere Wochen glücklich erobert.
   Die letzte Schlittenfahrt war sehr beschwerlich gewesen – hier wollten alle drei Teilnehmer derselben ausruhen, wie Mikosch sagte.
   Das Fenster ihres Zimmers ging auf den Klosterhof hinaus. Onnen saß daran und konnte sich nicht sattsehen an dem bunten, mannigfach fremdartigen Bilde da unten.
   In jeder Viertelstunde, ja in jedem Augenblick kamen neue größere oder kleinere Züge von Pilgern aus allen Ecken und Enden des weiten russischen Reiches. Wer die Pforte überschritt, der sang irgendein besonders beliebtes Kirchenlied, nahm aber dabei auf den musikalischen Vortrag seines Nachbarn nicht die geringste Rücksicht, so daß sich die Masse der Töne, einander widerstrebend, verschlingend und ergänzend, zum Gebrüll verwandelte, zu einem wahren Hexensabbat verschiedener Stimmen, in dem das einzelne total unterging.
   Neben diesen frommen Sängern klingelten die zahllosen kleinen Glocken der Gaukler und Künstler, die in den äußeren Höfen ihr Wesen trieben, um von den Pilgern ein Geschenk zu erlangen. Da unten tanzte mehr als nur ein Bär, drehten Dutzende von Affen ihre kleinen Orgeln oder schössen aus niedlichen Gewehren – da unten musizierten die Künstler, welche für sich allein ein Konzert gaben, indem sie mit den Füßen, den Händen und dem Kopfe verschiedene Instrumente spielten; es zeigten sich die gelehrten Hunde, die rechnenden Ponies, es fand sich der Mann mit dem Bergwerk, das, vorn durchschnitten, alle Abstufungen und Schachte zeigt, dessen Figuren hämmern, fahren, graben und sammeln, je nachdem – es zog hin und her, hüben und drüben der endlose Schwarm der Verkäufer. Alle billigen Leckerbissen, alle Früchte und landesüblichen Gebäcke waren vertreten, jedes Getränk, jede Speise, und alles dieses wurde unaufhörlich ausgerufen, angepriesen, mit Stentorstimme empfohlen, um alles dieses wurde gehandelt und schließlich das Erbeutete an Ort und Stelle verzehrt, namentlich wenn die Käufer Bauern aus den entlegenen Provinzen waren, Leute, denen die guten Dinge dieser Welt hier zum erstenmal begegneten und die es nicht erwarten konnten, mit Zunge und Gaumen ihren Wert näher zu prüfen.
   Nur die eigentlichen Belustigungen, die Karussells und Eisberge, das Theater und die Schießbuden fehlten, ebenso bewegten sich auch sämtliche Verkäufer und Künstler ausschließlich im weiten vorderen Hofe, ohne die zu den sechzehn einzelnen Kirchen führenden Säulengänge zu berühren; diese letzteren gehörten einzig und allein den Pilgern und dem unübersehbaren, malerisch aus den Angehörigen aller Provinzen und aller Altersklassen zusammengewürfelten Heere der Bettler.
   Auch diese sangen, flehten, wimmerten, auch diese erzählten von ihren Leiden, suchten einander zu überschreien, zu verdrängen und womöglich ganz zu vertreiben – auch diese schwiegen keinen Augenblick.
   Dazu läuteten die Glocken sämtlicher Kirchen, Orgelklänge erschallten aus dem Inneren derselben – es war ein Lärm, der den Zuhörer fast betäuben mußte.
   »Wagst du dich da hinein, Alexei?« fragte Onnen.
   »Natürlich! Aber erst laß uns ein wenig heißen Tee trinken: komm mit mir, du sollst den berühmten riesenhaften Samovar des Pilgerhauses aus eigener Anschauung kennenlernen.«
   Onnen lachte. »Ein berühmter Samovar!« wiederholte er.
   »Ja, sieh ihn dir nur erst einmal an.«
   Die beiden jungen Leute gingen in den Saal, wo den Pilgern während des ganzen Tages heißes Wasser verabreicht wird. Zucker und Kaffee oder Tee sowie das metallene Gefäß zur Bereitung des Getränkes bringen sie selbst mit, das kochende Wasser dagegen wird ihnen unentgeltlich verabreicht.
   Auf Bänken und Stühlen, auf Matten, Decken und dem bloßen Fußboden saßen essend und trinkend die fremden Gäste: Männer in Blusen oder Pelzen, Frauen in den verschiedenen malerischen Anzügen der russischen Provinzen, mit gestickten Kleidern, Schleiern und Perlenschnüren, mit den hohen spitzen Hauben und den Turbanen aus kostbaren Stoffen, dabei vielfach barfuß und nur mit strohgefütterten Holzschuhen versehen, die sie draußen auf dem Schnee anlegten. Finnen und Kamtschadalen, Polen, Leute aus der Krim, aus Sibirien, Kosaken vom Don, alle waren hier versammelt und alle hatten Frauen und Kinder mitgebracht, Hunde und Körbe voll der verschiedensten Vorräte. Hundertfach sprach und schrie es durcheinander, eiferte und stritt, lachte und betete; hundertfach widerhallte der Lärm größerer und kleinerer, im Saale versammelter Kinder.
   Den Mittelpunkt des ganzen weiten Raumes beherrschte der Samovar, eine Kochmaschine von der Größe eines stattlichen Zimmers, versehen mit einigen zwanzig Zapfkränen und bedient von mehreren Mönchen, die den Pilgern das kochende Wasser verabreichten und außerdem für jede Person ein Glas, um daraus zu trinken.
   Neben den Wanderern lagen die langen Stäbe und die Ränzel, welche fast alle trugen. Dieser enthielt vielleicht getrocknetes Fleisch, jener Käse und Brot, der dritte geräucherte Fische; hie und da kam ein Hering zum Vorschein, dann der Überrest einer gekochten Speise, die mit dem heißen Tee hinuntergespült wurde. Bettler öffneten ihre Bündel und Körbe – Brotrinden und Pfannkuchen, buntscheckige Küchenerzeugnisse, zuweilen Kohl, zuweilen Zwiebeln, fielen heraus.
   Alles dieses, vereint mit der Wärme der Kochmaschine, mit den Dünsten des schmelzenden Schnees und tausend anderen Zugaben, bewirkten eine solche Schwere der Luft, daß Onnen schauderte. »Laß uns hinausgehen, Alexei – mir wird ganz schlimm!«
   Immer neue Pilger drängten mit ihren nassen Pelzen, ihren Bündeln und Ranzen herein, immer mehr und mehr verengte sich der Raum, so daß die beiden jungen Leute den früheren Vorsatz, selbst Tee zu trinken, lieber gar nicht ausführten, sondern fortgingen, um in einem Wirtshause zu frühstücken.
   Dann besuchten sie den äußeren Hof des Haupteinganges. Eine Reihe von Verkäufern bot hier auf flachen Brettern, die an Riemen von der Brust herabhingen, Gegenstände religiöser Verehrung dem Publikum zum Kaufe.
   »Steine aus Nazareth, ihr guten Leute! Wie hab‘ ich unter Mangel und Not aller Art die kostbaren Erinnerungszeichen zusammengesucht, wie hab‘ ich sie mühsam den endlosen Weg bis hierher auf dem Rücken getragen! Kauft, kauft, solch ein Steinchen vom heiligen Boden tut Wunder, vielleicht haben schon die Füße des Erlösers es berührt, vielleicht hat er es als unschuldiges Kind in seinen göttlichen Händen gehalten! Kauft, kauft, ich gebe aus reiner Nächstenliebe, nur um euch den Segen in das Haus zu bringen, jeden Stein für zehn Kopeken!«
   »Wasser aus dem Jordan! Heiliges Wasser, mit dem ihr eure Kleinen taufen lassen könnt. Blinden gibt es das Gesicht wieder, Besessene heilt es gründlich! Jedes Glas zwölf Kopeken! – Nur die ersten, welche da kommen, erhalten noch etwas!«
   Ein Armenier mit klugem Gesicht, hochgewachsen und stolz von Aussehen, ging langsam durch die Menge. Er konnte das arme Volk für seine Absicht nicht brauchen, sondern suchte spähend nach einer geeigneten Person, um einen dreisten Betrug ins Werk zu setzen; endlich schien er sie gefunden zu haben.
   Von einem mit zwei mutigen Pferden bespannten Schlitten wälzte sich ein bäuerliches Paar, bei dem es unentschieden bleiben mußte, wer sich am meisten der vollkommenen Kugelgestalt näherte, der Mann oder die Frau. Sie schienen sehr reich und sehr einfältig – das war so etwas für den schnuppernden Armenier.
   Er öffnete den Deckel eines Kastens, welchen er unter dem Arme trug. »Kaufst du, Bäuerin?«
   »Was ist‘s? Schmucksachen? Hab‘ ich genug und übergenug!«
   Der Armenier lächelte. »Man sieht wohl, daß ihr reiche Leute seid, Bäuerin! Aber was ich dir hier anbiete, ist etwas ganz anderes – etwas, das nicht jeder bezahlen kann. Doch du willst nicht kaufen; entschuldige mich also.«
   Er machte eine halbe Wendung, wie um sich zu entfernen – schnell hielt ihn die Bäuerin an dem flatternden Zipfel seines Gewandes. »Was ist‘s denn, Fremder? So laß doch hören!«
   Er näherte sich ihr etwas mehr, sein stolzes, edelgeschnittenes Antlitz erhielt einen so geheimnisvollen, bedeutsamen Ausdruck, daß die gute Alte anfing, sich zu fürchten. »Ein Span vom Kreuze Christi!« raunte er. »Ein Stückchen des Kleides, das die Jungfrau Maria bei der Hinrichtung ihres göttlichen Sohnes trug.«
   Die Bäuerin ächzte vor geheimer Ehrfurcht. »Ein Span von dem richtigen Kreuze, an das die Bösewichter den lieben Heiland schlugen? Wirklich von dem richtigen Mann, wirklich? Kannst du es beschwören?«
   »Natürlich kann ich es. Der Span ist eine kostbare Reliquie, Tausende von Rubeln wert – dir will ich ihn für fünfzig überlassen.«
   Sie sah ihm rasch ins Gesicht. »Warum das?« fragte sie mißtrauisch.
   »Weil ich notwendig noch heute vor Abend diese Summe haben muß, ehrsame Frau! Du verstehst mich! Ohne den Druck der bittersten Not würde ja überhaupt kein Mensch ein so kostbares Gut aus der Hand geben.«
   Ein Stück vermorschten, wurmstichigen Holzes kam zum Vorschein. Zögernd hielt es der Armenier empor, seufzend und kopfschüttelnd. »Es ist ein Splitter vom rechten Flügel«, sagte er, »die Hand des Erlösers hat es berührt! – O ihr lieben Heiligen, ob ich es wirklich verkaufe?«
   Die Frau stieß heimlich mit dem Fuße gegen den ihres Mannes. »Väterchen«, seufzte sie.
   Er zog schon den leinenen Beutel. »Geht es denn nicht auch für neunundvierzig Rubel, Kamerad? Ich denke wohl!«
   Der Armenier liebäugelte mit dem Splitter. »Ich kann es nicht, wahrhaftig nicht. Ein guter Christ sollte verhungern, ehe er solch einen Schatz dahingäbe! – Ach, ach, das ist eine schlimme Welt! – Aber nimm das Stückchen vom Kleide der heiligen Jungfrau dazu, Bauer, es heilt dir durch bloßes Auflegen das kranke Vieh – du zahlst dann siebzig Rubel. Allein, ohne das Holz vom Kreuze, müßte dieses Stückchen Zeug dreißig Rubel kosten.«
   Der Dicke seufzte ein wenig, aber ganz versteckt in den Winkeln seines Mundes lauerte ein zufriedenes Schmunzeln. Er sollte also billig kaufen, hm, hm – das ist überall so, wenn man größere Partien nimmt. Wer bei ihm zehn öder zwölf Schafe zugleich erstand, der bekam sie auch wohlfeiler wie im einzelnen. Indessen – Sparsamkeit erhält das Haus.
   »Zusammen für neunundsechzig Rubel!« sagte er in vertraulichem Tone.
   Die Frau sah ihn vorwurfsvoll an. »Väterchen!« raunte sie.
   Der Armenier reichte ihr mit einer höflichen Verbeugung das Läppchen und den Splitter. »Nimm meine Schätze hin, Bäuerin, sie sollen dir Segen in das Haus bringen. Ich bin zufrieden mit dem, was dein Mann bietet.«
   Das Schmunzeln wurde zum breiten Grinsen; Väterchen zahlte und der Armenier wandte sich ehrerbietig grüßend zu einem anderen Menschenstrome, um für den Inhalt seines Kastens weitere leichtgläubige Seelen zu suchen.
   Unsere Freunde sahen einander an. »Ob der Bursche selbst glaubt, daß das Holz echt sei?« flüsterte Onnen.
   Alexei lachte. »Gott behüte! Er zerschlägt eine alte Tür oder einen Balken, schneidet Splitter heraus und zieht mit dem Strome der Pilger, wohin sie gehen – so macht er es in jedem Jahre.«
   »Und der Steinhändler? Der Wasserverkäufer?«
   »Einer sammelt auf der Landstraße seinen Vorrat, der andere bezieht ihn aus der nächsten Pumpe!«
   »Sieh nur, sieh nur, der Armenier hat schon wieder ein paar Frauen erfaßt. Dieselben Schwüre, dieselben Augenverdrehungen!«
   »Natürlich – bis der Kasten leer ist; dann füllt er ihn in irgendeinem versteckten Winkel aufs neue.« »Und da die beiden anderen Betrüger! Alle Welt kauft Steine, läßt sich die Stirn mit dem heiligen Wasser besprengen!«
   »Und ist glücklich dabei – dafür kann man schon zehn Kopeken ausgeben. Sieh, hier kommt wieder ein Händler.«
   »Kreuze aus Silber und Elfenbein, meine Herrschaften, Rosenkränze, Gebetbücher, Heiligenbilder! Nepomuk! – Nikolaus! – Iwan! – Die gesamte heilige Familie für sechzehn Kopeken!«
   »Billig! Billig! Christus, Maria, Joseph, Johannes – Stück um Stück für fünf Kopeken!«
   »Das ist aber doch empörend, Alexei! Wie kann man solchen Schwindel dulden?«
   Der Zigeuner lachte. »Komm, wir wollen uns die Säulengänge ansehen, da findest du auch unter den Bettlern Betrüger von Profession, Blinde mit wahren Falkenaugen, Leute, die ihre gesunden Arme an den Leib geschnürt haben und die leeren Ärmel kläglich schütteln, um irgendeiner barmherzigen Seele ein Geschenk abzuschwindeln, Stumme, die —«
   »O Himmel, Alexei!«
   »Na, komm nur, wir können uns ja gleich die Geschichte ansehen.«
   Sie durchwanderten die breiten Gänge vor den Kirchtüren. Dicht gedrängt saßen überall Krüppel und Bettler jedes Alters, Kranke, Greise, kleine Kinder, die ihre Angehörigen verloren hatten, arme alte Frauen, solche Unglückliche, welche nur stumm die Hand ausstreckten und solche, welche mit lauter Stimme bettelten oder ihre schrecklichen Leiden schilderten.
   In langer Reihe lagerten hier die Blinden mit ausdruckslosen Gesichtern und scheuer Haltung, zuweilen junge kräftige Leute, zuweilen Greise von abschreckender Häßlichkeit; Menschen, die ihr ganzes Leben auf Pilgerfahrten zubrachten und sich eigene Führer hielten, um an allen Wallfahrtsorten der gläubigen Welt zu beten und zu betteln. Ließen sich in ihrer Nähe Schritte vernehmen, so streckten sie schweigend dem Kommenden den Hut entgegen und erhielten auch fast immer eine kleine Gabe, die kupferne Kopeke; denn bei der Anzahl von Bettelnden hätte hier nur ein Krösus reichere Geschenke spenden können.
   Außer den Armen und Elenden, welche alle Stufen belagerten, gingen ganze Scharen wohlhabender oder selbst reicher Pilger zu den Kirchen, wo beständig Gottesdienst gehalten und das heilige Abendmahl verteilt wurde. Zahllose Frauen in tiefer Trauerkleidung bestellten Seelenmessen für teure Angehörige, die in den Schlachten von Smolensk und Borodino gefallen oder in den eisigen Fluten der Beresina ertrunken waren. Überall in den Tempeln brannten trotz der mittägigen Helle Tausende und aber Tausende von geweihten Kerzen; es flimmerte und leuchtete, wohin auch das Auge sah, es widerhallte von Gesang und Orgelklängen, wohin auch der Wanderer den Schritt lenkte.
   »Und dort?« fragte Onnen, auf eine Art von überwölbter Kellertreppe deutend. »Was ist das, Alexei? Der Strom kehrt von dieser Stelle nicht wieder zurück.«
   »Das ist der Eingang zu den Katakomben. Das ursprüngliche Kloster liegt in der Mitte des Berges; es ist ein Höhlenbau aus dem elften Jahrhundert.«
   »Und man kann heute noch dahin gelangen?«
   »Natürlich. Da unten beginnt ja erst das eigentlich Merkwürdige.«
   Onnen trocknete die heiße Stirn. »Laß uns morgen hinabsteigen; ich bin von allem diesen Lärm und Getöse ganz betäubt.«
   Der Zigeuner kannte allerdings keine Ermüdung, aber er willigte sofort in den Vorschlag seines Begleiters und beide gingen in ihr Zimmer zurück, um erst ein paar Stunden zu schlafen, während Mikosch bereits unten im dichtesten Gewühl mit dem Bären das vielbewunderte Kartenspiel aufführte und mehr Kopeken erntete, als Ruffs Blechteller zu fassen vermochte.
   Am anderen Morgen wurde dann der Ausflug in die Katakomben unternommen. Eine geheimnisvolle, eigen schauerliche Wanderung! – Ein Besuch im unterirdischen Reiche des Gewesenen, des Todes.
   Treppen überall, nirgends ebener Fußboden; das ganze Kloster lag ja auf dem Plateau und an den Abhängen des Berges. In einem der inneren Höfe erhob sich ein hohes breites Eisengitter, das zwei Mönche bewachten und das den gewölbten Eingang zu den Katakomben umgab. Uralte weitästige Bäume standen innerhalb dieses Raumes, ein schlanker Kuppelbau krönte die obere Spitze des Berges.
   Eine breite Treppe führte hinab in den Schoß der Erde. Auf jeder Stufe saßen eng zusammengekauert die Bettler, solche, welche wirklich aus irgendeinem Grunde arbeitsunfähig waren, Unglückliche, denen das Weh des Lebens aus jedem Zuge sprach und die nur ganz stumm ihre Hände ausstreckten. Auf den Stufen dieser Treppe sitzen zu dürfen, galt als besondere, nicht jedem gewährte Vergünstigung – hierher wenigstens kamen die gewerbsmäßigen Betrüger nicht.
   Am Fuße der Treppe befand sich eine kleine, niedere Kapelle, in welcher mehrere Mönche geweihte Kerzen verkauften und angezündet verabreichten. Aus dem hellen Morgenlicht kommend, sahen sich unsere Freunde plötzlich in eine andere Welt versetzt; schwere drückende Luft umgab sie, ein sonderbares Gemisch von Licht und Schatten, von Glanz und Finsternis.
   Hunderte bewegten sich in den unterirdischen Gängen, alle mit Kerzen versehen. Von den Altären der Kirchen und Kapellen glänzte Lichtschein, von den Bildern der Heiligen, den Nischen und den Begräbnisstätten; wie wandernde Flammen zuckten die kleinen Lampen der Pilger aus dem Dunkel herauf, wie lange gewundene Feuerschlangen, die sich in den endlosen Gängen fortbewegten.
   Unter der niederen Decke wallte und wogte schwarzer Rauch, der nirgends einen Ausweg fand und aus dessen dichten Massen unaufhörlich kleine Staubteilchen niederrieselten, alles langsam mit schwarzer Decke überziehend, eine Qual für die atmenden, die reine kalte Winterluft gewohnten Lungen. Wachs und Öl spendeten ihre unangenehmen Düfte – es gehörte eine gewisse Überwindung dazu, sich weiter hineinzuwagen in das Innere des Berges, wo jeder Laut erstarb und nur zuweilen das unterdrückte Schluchzen einer Frauenstimme die tiefe Stille unterbrach.
   Nach der Kapelle kamen verschiedene Kirchen und Betaltäre, dann die Nischen mit den Särgen der Heiligen, alle offen und auch ihrerseits mit dem Sammelteller versehen. Jede Leiche war Mumie, aber vollständig bekleidet; oft deutete der Name auf eine ferne, in das Heidentum zurückreichende Vergangenheit, so Agapit, Spiridon, Pimin und Makarijt. Auch eine fürstliche Jungfrau Julijanija war dabei.
   Vor jedem Sarge lagen Andächtige auf ihren Knien, ja, einige küßten sogar die Kleider der Mumien.
   Ab und zu gingen Mönche, und an diese wandte sich Onnen, um über so manches, was ihm fremd erschien, eine Aufklärung zu erhalten. »Welche Bedeutung haben diese flachen Mauern, frommer Vater? Es stehen Namen daran!«
   Der Mönch bekreuzte sich. »Es lebten hinter denselben heilige Männer Gottes – sie gingen freiwillig in die Nischen des Höhlenklosters, sie zerbröckelten und gruben das Gestein mit eigenen Händen, bis der Raum hoch und breit genug war, um sie aufzunehmen, dann wurde die vordere Seite vermauert, bis nur noch der Kopf hervorsah.«
   »Und so lebten die Unglücklichen?« rief Onnen. »Aber weshalb?«
   »Um Buße zu tun, um der Welt zu entsagen. Gewöhnlich ließen sie sich in kurzer Zeit ganz vermauern – sie sind die bekannten Säulenheiligen.«
   Onnen schauderte. »Hinter jeder dieser Wände steht also aufrecht das Skelett eines Toten?« fragte er.
   »Ja.«
   »Und die Zwölf, welche dort in den verschlossenen Särgen liegen?«
   »Das sind gewöhnliche Menschen, die griechischen Erbauer dieses Klosters.«
   Alexei zupfte heimlich unseren Freund am Ärmel. »Du mußt nicht so viel fragen«, flüsterte er. »Die Mönche lieben es nicht, mit den Pilgern zu sprechen.«
   »Weißt du denn diese Erklärungen zu geben, Alexei?«
   »Ebensogut wie die Glatzköpfe. Hier sind übrigens die näheren Katakomben zu Ende – wollen wir auch die entfernteren besehen?«
   Onnen atmete tiefer. »Ich denke, ja, Alexei; dieser Besuch bleibt meinerseits doch jedenfalls der erste und letzte zugleich – es ist mir schauerlich hier unten. Welch eine fürchterliche Luft!«
   »Gleich kommt eine nach oben hin offene Schlucht, da kannst du Kälte genug einatmen, Herr!«
   »Und was ist in den entfernteren Katakomben Besonderes zu sehen?«
   »Wir werden gleich dahin kommen, bis dahin Geduld, Herr.«
   Sie durchschritten den letzten Gang, und ein eiskalter Windstoß fegte ihnen entgegen; die Kerzen erloschen, eine Schneewehe stäubte hinein, der mattgraue Winterhimmel erglänzte über ihren Köpfen.
   »Gott sei Dank!« rief Onnen. »Ach, ich möchte hier einen Augenblick ausruhen! – Müssen wir durch dieselben Gänge zurück, Alexei?«
   »Nein, auch die entfernteren Katakomben haben ihren Ausgang.«
   »Das freut mich sehr! Wahrhaftig, obwohl man sich unter freiem Himmel befindet, hat auch diese Schlucht ihr Unheimliches!«
   Hohe Felswände begrenzten zu beiden Seiten einen schmalen gewundenen Weg, der am entgegengesetzten Ende wieder in den inneren Schoß des Berges hineinführte. Flocke um Flocke fiel vom Himmel, der Wind fing sich in den Wänden der Schlucht, ganze Berge von Schnee versperrten zuweilen den Weg; es war eine lange öde Wanderung, durch nichts unterbrochen als nur durch das Skelett eines einzelnen Baumes, der aus einer Felsspalte aufwuchs.
   Blätter und Blüten konnte er im Winter natürlich nicht tragen, allein ihm fehlte auch die Rinde und außerdem zeigten zahlreiche Kerben, daß aus dem Holze größere oder kleinere Splitter herausgeschnitten waren. Wer das Höhlenkloster besuchte, der wollte irgendein Erinnerungszeichen mit nach Hause nehmen, außer diesem Baume fand sich kein erreichbarer Gegenstand und so mußten denn die Späne fallen, bis der Stamm fast zerstört war.
   Am Ende der Schlucht nahmen Zellen und Nischen wieder ihren Anfang, jedoch letztere sehr verschieden von denen in den näheren Katakomben – sie waren nicht vermauert, sondern nur mit einem Eisengitter versehen und bargen in ihrem Innern je einen lebenden, todblassen Menschen mit tiefliegenden Augen und weißem Bart, der zuweilen bis auf den Gürtel hinabreichte. Diese Leute trugen die braune Mönchskutte mit dem hanfenen Strick und an den nackten Füßen nur Sandalen, sonst keinerlei Bekleidung. Onnen erschrak, als er sie sah.
   »Alexei, was bedeutet das?«
   »Pst! Es sind Einsiedler, die nur zuweilen etwas trockenes Brot mit Wasser genießen, sonst aber fastend und betend ihr ganzes Leben hier verbringen.«
   »Immer hinter dem Eisengitter in der engen lichtlosen Zelle, immer im Schoße der Erde, ohne Arbeit und Kampf um das Dasein, ohne Freude und Hoffnung!«
   »Immer! Das Gitter liegt zwischen ihnen und der Welt; es hebt sich, was auch geschehe, niemals wieder. Ist der Einsiedler gestorben, so vermauert man die Nische und malt den Namen des nunmehrigen Heiligen an die Wand – wie da drüben zum Beispiel. Der fromme Bruder kann erst ganz kürzlich gestorben sein.«
   Onnen schauderte. Er hatte es versucht, einen der Einsiedler anzureden, aber vergeblich, der Betende nahm von ihm keinerlei Notiz, gab nicht die mindeste Antwort – ebensowenig war eine solche von einem seiner Genossen zu erlangen.
   Der Zigeuner zog den anderen mit sich fort. »Ich sagte dir doch, daß die Mönche nicht sprechen, Herr! – Aber nun sind wir bald am Ende unserer Wanderung.«
   Eine kleine Kapelle war vorn hell beleuchtet, während der Hintergrund einigermaßen im Dunkel lag. Dort stand, auf einem schwarzbemalten hölzernen Schragen ein länglicher Glaskasten, der auf allen vier Seiten fest verschlossen war und hinter dessen Wänden man die Umrisse von Totenschädeln wahrnahm. Auf einem Tische standen kleine Glasflaschen mit einem grünlichen Öl. Daneben hielten zwei Mönche eine unausgesetzte Wacht; sie ließen weder den Kasten noch den Tisch jemals aus den Augen und verkauften das heilige von den Gläubigen vielbegehrte Öl.
   Onnen und Alexei gingen natürlich vorüber, ohne zu kaufen. Zellen mit lebenden und mit vermauerten Mönchen fanden sich auch auf dem zweiten Teile des Weges reichlich vor; dann endlich, nachdem die Kerzen fast erloschen waren, zeigte Alexei auf einen helleren Punkt, der fern am Ende des langen Ganges schimmerte. »Da ist die Treppe zum Hof!«
   »Gott sei gepriesen!«
   Das Getöse der versammelten Massen empfing die beiden jungen Wanderer, aber sie fanden es diesmal weniger lästig als vorher; die Todesstille da unter der Erde bedurfte des wirksamen Gegensatzes, um einigermaßen aus dem Gedächtnis zu schwinden, obwohl Onnen während der nächsten Nächte nicht schlief, sondern im aufregenden Halbwachen immer die blassen, erdfarbenen Gesichter der Einsiedler in den Grabeszellen vor sich sah. So ein langes Leben zu verbringen – wie entsetzlich! Gegen diese Unglücklichen hatte der blinde Mönch in seiner offenen, dem Wind und den Sonnenstrahlen zugänglichen Felsspalte noch ein beneidenswertes Dasein geführt.
   Mikosch verdiente während mehrerer Tage sehr gut, dann nahm der Massenzudrang ab, die Gaukler und Künstler mit ihren Tieren zogen davon, anderen Märkten oder sonstigen Festen entgegen, und auch unsere Freunde begannen an die Abreise zu denken. Drei Wochen ungestörter Ruhe hatten ihre Kräfte gestärkt und die Lust zu neuer Wanderung wieder wachgerufen. Jetzt kam die letzte, aber weite Reise, bis nach Odessa an den Ufern des Schwarzen Meeres.
   Von Jasko war eines Tages eine Botschaft eingelaufen. Er und Luiz hämmerten unter dem Dache der heimatlichen Schmiede wieder fleißig um Lohn; sie hatten die beiden ihrer Wachsamkeit anvertrauten Deutschen glücklich auf ein Schiff gebracht und waren bei den Ihrigen ohne Unfall angelangt. Neben den beiden Zigeunern erhielt auch Onnen die herzlichsten Grüße von allen, welche unter den Zelten des wandernden Stammes lebten – sie hatten ihn liebgewonnen, die braunen Vagabunden, und er sie, obwohl es ihn manches Mal selbst wunderte.
   Die Fahrt ging jetzt durch Südrußland, über Hügelketten und durch Tiefland, zuletzt durch die Steppe, welche nur seltene und unsäglich arme Niederlassungen enthielt. Was an anderen Orten sein Auskommen nicht finden konnte, was vielleicht schon einmal mit den Landesgesetzen in Berührung geriet, das versammelte sich hier und trieb neben der Jagd den sogenannten Raubbau, indem es den Boden ausnutzte, ohne ihn zu pflegen und ohne für eine gute dauernde Wohnung zu sorgen.
   Hie und da lag ein leichtgebautes Häuschen, dann wieder mehrere zusammen, aber von regelrechten Gärten, von Baumpflanzungen und Kirchen war nirgends die Rede. Unübersehbar dehnte sich die Steppe, deren harter Boden schon im Februar anfing, Gras und Blumen zu treiben. Mikosch mußte den Schlitten wieder in einen Wagen verwandeln; der eisige russische Winter wich einer milderen Luft, in der die Vögel ihre Stimmen erschallen ließen und das Leben der Tierwelt überall seine mannigfachen Formen und Gestalten entwickelte.
   Hühner und Trappen, Elstern, Nußhäher und Wachteln kreisten über dem grünen Boden, Hasen sprangen auf, schlanke Hirsche und Rehe, Antilopen in ganzen Rudeln. Das südlichere Klima machte sich geltend; während in Großrußland noch Flüsse und Boden mit undurchdringlichem Eise bedeckt waren, keimte hier das junge Grün und die Sonne schien in den Mittagsstunden schon recht warm.
   Seit Kiew hatte Mikosch kein Geld mehr verdient; die Bewohner der Steppendörfer waren zu arm, um ihm etwas schenken zu können, aber dennoch pries er dankbar sein gutes Glück; ein Nachtlager, eine Mittagsmahlzeit gab es immer umsonst, für das Pferd fand sich reichliche Weide, für den Bären ein Brot – man lebte täglich, ohne viel Geld ausgeben zu müssen, und das war genug.
   Zuweilen wurde ein Hase erlegt und unter freiem Himmel am Spieß gebraten, zuweilen Hühner oder gar ein Reh. Mikosch verstand es vortrefflich, einen Braten zuzubereiten, und so saßen denn die drei mutterseelenallein in der weiten Steppe und unterhielten sich von vergangenen und künftigen Tagen. Es war jetzt schon März, Blumen bedeckten den Boden, blaue und rote Kelche erschlossen sich zu Tausenden, der gelbe Ginster wuchs so reichlich, daß ganze Flächen wie mit einem dotterfarbigen Tuche überzogen schienen.
   Millionen wilder Bienen summten über den Köpfen der Männer, Schmetterlinge und fliegende Insekten schwirrten durch die Luft; langsam verschwand der Sonnenball unter den Rand des Horizontes.
   Wie still es war, wie feierlich! Ein leiser Wind trug den Blütenduft über die Steppe, allmählich verstummten die Lieder der gefiederten Sänger. Hier bedurfte es keiner Wachsamkeit, hierher drang kein Feind; Franzosen, Wölfe und Bären, alles war weit, weit entfernt, der tiefste Friede beherrschte die Umgebung.
   So hatte Onnen auf das Meer hinausgesehen, wenn er unter dem schwarzen Kap auf den Dünen von Norderney herumkletterte. So still, so reglos hatte es an Sommerabenden dagelegen, langsam seine breiten Wellen auf den Sand treibend, blau und sonnenüberglänzt in hehrer Ruhe, das geliebte deutsche Meer. Die Augen seines Geistes sahen es auch jetzt, als der Blick gedankenlos die buntblühende russische Steppe überflog; er träumte von der fernen Heimat, und Mikosch und Alexei ließen ihn ungestört seinen Gedanken nachhängen.
   Allabendlich befestigten sie halbrunde Reifen an die beiden Seiten des Wagens, zogen ein Leinentuch darüber und das Nachtquartier war fertig. Wenn sich keine Niederlassung in der Nähe befand, so schlief man im Wagen, und Ruff und das Pferd hielten getreulich Wache.
   Die Sonne war vollkommen versunken und am Himmel an ihrer Stelle das lachende Antlitz des Mondes erschienen. Wie Silber erglänzte schimmernd und weitgedehnt der Ginster – kein Hauch, kein Ton störte mehr die Stille der späten Stunde.
   Und doch – klang es nicht wie ferner Donner?
   Onnen hob den Kopf. »Was war das, Alexei?«
   Der Zigeuner stieg auf den Vordersitz des Wagens. »Wilde Pferde, Herr«, antwortete er nach kurzer Umschau.
   Onnen stand auf. »Mikosch, wollen wir nicht den Grauen festhalten? Wenn er uns entliefe!«
   Ein Zungenschlag des alten Häuptlings lockte das weidende Tier; er streichelte es liebevoll wie ein teures menschliches Wesen. »Mein Peter sollte davonlaufen? Nein, Herr, nein, eher geschieht Gott weiß was! Laß du nur ruhig die wilde Herde herankommen, uns wird kein Leides geschehen.«
   Immer stärker und stärker erdröhnte der Boden, dann erschienen im hellen Mondlicht eilende, dunkle Gestalten und ein Schwarm von kleinen eingeborenen Pferden stürmte daher wie die wilde Jagd, aber doch nicht schnell genug, um einem nachsetzenden Feinde zu entgehen. Ein in Leder gekleideter Mann auf einem Schimmel wirbelte plötzlich den Lasso um den Kopf, ließ ihn ausgreifen und traf aus der Mitte der fliehenden Herde heraus ein Pferd, das sogleich stürzte. Die übrigen erschraken furchtbar, schlugen mit den Hufen hinten aus, drehten sich im Kreise und stürmten davon, während das vom Lasso getroffene Tier sich in wilder Angst am Boden wälzte und dadurch die Schlinge immer fester zusammenzog.
   Der Reiter kam, die lange lederne Schnur an sich nehmend, langsam näher. Sein Schimmel weidete, gehorsam wie ein Hund, das Gras, während der Mann, immer noch das gefallene Pferd mit eisernem Griffe haltend, die Mähnen desselben packte und im Augenblick, wo es aufsprang, sich auf seinen Rücken setzte.
   Sogleich begann das Tier wild und toll hinten auszuschlagen und sich im Kreise zu drehen; es begriff nicht, was ihm geschah, es versuchte den Mann abzuwerfen, indem es voll Angst bald hierhin, bald dorthin sprang.
   Er hielt sich, aber er schien seiner Sache nicht sicher, er klammerte sich unruhig an den Hals des schäumenden Pferdes.
   Mikosch und Alexei sahen einander an. »Der versteht‘s nicht«, sagten ihre Blicke.
   Der alte Häuptling stand auf, er schien sich zu strecken, langsam trat er dem tobenden Pferde näher, es immer beobachtend – unverwandt, mit dem sicheren Blick des Kenners.
   Und dann kam der Augenblick, welchen er erwartete. Das Tier erkannte die Unmöglichkeit, in der bisher verfolgten Weise seinen Reiter abzuschütteln, es bäumte sieh plötzlich so hoch auf, daß für Sekunden nur die Hinterhufe den Boden berührten – lange genug, um den selbst ängstlichen Mann zum Fall zu bringen. Er glitt über den Rücken des Tieres hinab in das Gras, ehe er sich dessen versah.
   Im selben Augenblick sprang Mikosch vor, packte die Mähne des erbitterten Pferdes und schwang sich wie ein Kunstreiter auf den Rücken desselben. Es stand noch immer, es schüttelte den Kopf und wieherte in kurzen Tönen, dann schoß es pfeilschnell davon, hinaus in die mondhelle Steppe, wie ein böser Geist, der durch die Luft fährt, um seine Beute, die verfallene, an sich zu reißen.
   Onnens Herz klopfte unruhig. »Alexei«, sagte er beklommen, »wie wird das enden? Ob wir den Alten wiedersehen?«
   Der Zigeuner lachte laut. »Du, Herr, der Mikosch ist schon einmal auf einem großen Wolfe in das Dorf geritten und hat den Gelben erst, nachdem er ihn nach Hause getragen, vor aller Augen mit dem Messer abgetan. Freilich hielten ihn zwei Männer mit Heugabeln am Boden fest, aber der Alte traf ihn doch ins Herz.«
   »Du schließest daraus, daß er wohl auch einen widerspenstigen Gaul besiegen werde! – Aber wie kam es mit dem Wolfe?«
   Alexei stopfte sich eine neue Pfeife. »Nun, der Mikosch hat ihn ja natürlich nicht als Reittier benutzen wollen, aber die Bestie ist ihm gerade zwischen die Beine gelaufen, so daß er ihr auf den Rücken plumpste, na, und da nahm er denn seinen Vorteil wahr. Ein Reiter ist der Alte, wie es nicht viele gibt; trotz seiner grauen Haare tut‘s ihm kein junger Mann darin zuvor.«
   »Und du bist um ihn durchaus nicht besorgt?«
   »Torheit – ich denke nicht daran.«
   Während dieses kurzen Gespräches hatte sich der fremde Mann vom Boden erhoben, seinen Gaul am Zügel gefaßt und war ein wenig hinkend herbeigekommen. »Zigeuner!« sagte er mürrisch, »na, da ist‘s ja kein Wunder, wenn der grauhaarige Kerl den Satan von einem Pferde so mürbe macht, daß es zittert, wie vor einem Wolfe. Ihr wißt ein kräftiges Sprüchlein, ihr Halunken, gesteht‘s nur!«
   Alexei rauchte behaglich weiter. »Sicher!« versetzte er. »All dergleichen kennen wir schon von den Großmüttern her – und die wieder von ihren Ahnfrauen bis hinauf zur Eva.«
   Die Augen des Leibeigenen glänzten. »Verrätst du‘s?« preßte er hervor.
   »O – um Gotteswillen nicht!«
   »Aber wenn ich dir ein wundertätiges Heiligenbild schenke? Mich hat‘s schon von Zahnschmerzen und einmal von bösen Augen befreit.«
   Alexei lächelte. »Da behalte es nur für alle künftigen Krankheitsfälle, guter Freund. Unsere Zaubersprüche verraten wir nicht.«
   »Mikosch kommt!« rief Onnen.
   Der Galopp eines Pferdes dröhnte über die Steppe. Im Mondlicht erschien und verschwand gespenstisch die Gestalt des Reiters, dann wurde wieder alles still wie zuvor. Der Rappe war noch nicht so weit bezähmt, daß er freiwillig seinen rasenden Dauerlauf unterbrochen hätte.
   »Du«, rief plötzlich der Leibeigene, »du, dein Kamerad wird doch das Tier zurückbringen? Es ist schon vorgekommen, daß Zigeuner unsere Pferde stahlen!«
   Alexei lächelte spöttisch. »Es ist vorgekommen«, nickte er, »aber nicht da, wo die Leute meines Volkes den Deinigen ein Pfand zurückließen, das zehnmal mehr Wert besitzt als ein wildes Steppenpferd – sieh nur hier den Wagen und unseren Bären!«
   Der Leibeigene sah scheuen Blickes hinüber. »Ich dachte, es sei ein Hund«, murmelte er. »Liegt denn die Bestie nicht an der Kette?«
   »Komm her, Ruff!«
   Der Bär legte sich wie ein zahmes Kätzchen zu Füßen des jungen Mannes in das Gras. Alexei kraulte ihn, und die große rote Zunge des plumpen Gesellen leckte dafür zärtlich die Hand, welche ihn liebkoste.
   Der Leibeigene nickte. »Auch das ist Zauberei!« sagte er vor sich hin.
   Die beiden anderen lachten. Dann klang wieder Hufschlag über den baumlosen Boden und zum zweitenmal kam Mikosch zurück, aber jetzt als Herr des tödlich ermatteten Tieres, langsam reitend, beinahe Schritt vor Schritt. Dicht vor der Gruppe neben dem Wagen hielt es still, mit Schaum vor dem Maule, triefend von Schweiß, zitternd an allen Gliedern.
   Mikosch sprang gewandt zur Seite herab. »Hollah, du, hast du einen Zaum oder wenigstens einen Strick mitgebracht?«
   Der Leibeigene wickelte eiligst eine Schnur von seinem Körper ab. »Gib her, Zigeuner«, sagte er. »Hör‘ mal – verlangst du einen Lohn für den Ritt auf die Steppe hinaus? Muß ich dem Herrn sagen, daß du es warst, der das Pferd einfing?«
   Mikosch lachte. »Sag, was dir beliebt, Mann, aber höre für die Zukunft auf meinen Rat – bleib den wilden Pferden fern, oder du findest bei der Sache einmal auf klägliche Weise deinen Tod.«
   Der Leibeigene pfiff leise vor sich hin. »Ich bin ein erfahrener Pferdejäger«, versetzte er, »kenne die Steppe und die Gewohnheiten der Tiere ganz genau, aber die Jagd muß am Tage vor sich gehen, nicht bei Mondschein – du verstehst mich.«
   »Ach – der Russalkij (Nymphen) wegen?«
   »Natürlich. In den Mondnächten gehen sie um und setzen sich den Menschen ungesehen auf die Schultern, um sie zu Tode zu kitzeln.«
   »Und das glaubst du wirklich?« rief Onnen. »Wie sehen denn die Russalkij aus?«
   Der Leibeigene zog ein Heiligenbild hervor und küßte es andächtig. »Wie die Luft, Herr, wie der blasse Mondschein. Die Russalkij sind allenthalben, so weit Wald und Steppe reicht; sie wohnen in den Bäumen, im Schilf, in den Ginsterblüten, sie tanzen hoch oben in der Luft, und wer ein Sonntagskind ist, der kann sie sehen.«
   Er hatte sein Pferd wieder bestiegen und das eingefangene, völlig ermattete Tier an den Zügel genommen. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes«, sagte er, »ich muß es wagen. Lebt wohl!«
   »Komm gut nach Hause!« rief Mikosch.
   »Und grüße von mir die Russalkij!« lachte Onnen.
   Ein Windstoß fuhr durch die Luft, es rauschte in den hohen Ginsterbüschen und schwebende, nickende Schatten legten sich auf die Steppe. Mit einem Schrei wie der eines verwundeten Vogels, gellend und laut, jagte der Russe davon, als sei die ganze Dämonensippschaft seines abergläubischen Landes ihm auf den Fersen.
   Onnen schüttelte den Kopf. »Die Angst hat ihn ganz von Sinnen gebracht«, sagte er. »Aus Furcht vor bloßen Hirngespinsten fiel er vom Pferde und hätte ums Haar unter dem stürzenden Tiere das Leben eingebüßt.«
   Mikosch legte zwei Finger auf den Arm seines jungen Freundes. »Ob es nur Hirngespinste sind?« fragte er halblaut.
   Das Mondlicht schien hell auf seine klugen, lebhaft blickenden Augen, auf das schlaue, aber ehrliche Gesicht. Mikosch hatte die Pfeife aus dem Munde genommen, er schien zu sinnen, er seufzte.
   »Ob es nur Hirngespinste sind, Herr?«
   »Aber Mikosch – das fragst du?«
   Der Alte wiegte den Kopf. »Glaubst du an den Upyr (Vampir), Herr? An das schwarze Wesen mit dem Zwergenkörper und dem Pferdekopfe?«
   »Entschieden nicht!«
   »Aber irgendwo zwischen Himmel und Erde lebt es doch. Sieh, ich hatte in meinen jungen Jahren einen Freund, der einmal Streit bekam mit einem weißen Manne und den mehrere andere Personen so reizten, daß er später das Messer brauchte und den Angreifer niederstach. Er hat es getan, aber nicht vor Zeugen – nachher schwor er es ab, um sein Leben zu retten, und kam auch gut davon. Wir begegneten uns einige Tage später, da war sein Haar weiß geworden, seine Augen lagen tief im Kopfe, ich erschrak förmlich, als ich den armen Schelm sah. ›Was fehlt dir, Gosim?‹ fragte ich ihn.
   »Erst wollte er nicht mit der Sprache heraus, dann aber gestand er mir‘s. ›Heute nacht hat der Upyr auf meiner Brust gesessen!‹
   »Ich wußte, daß er mir gegenüber nie lügen würde, und suchte ihn daher abzulenken. ›Dir hat schwer geträumt, Gosim‹, sagte ich.
   »Aber er schüttelte nur stumm den Kopf. Seit der Zeit schwand er zusehends hin, täglich mehr, und als ich ihn einmal im Vertrauen fragte, da gestand er mir die ganze Wahrheit. ›Jede Nacht kommt der Upyr – und immer rückt er ein wenig höher, immer näher an das Herz heran. Ist er erst einmal da, so —‹
   Und ein Achselzucken vollendete den Satz.
   »Ich suchte es ihm auszureden, ich bewog ihn, mich in eine andere Provinz zu begleiten, und habe dann mit meinen eigenen Augen gesehen, wie ihn das Gespenst quälte. Er ächzte im Schlaf, er krümmte sich und wimmerte – es war furchtbar. Wir sprachen über die Sache nicht wieder, helfen konnte ihm ja doch keiner.
   »Nur eines Tages gab er mir, als der Abend hereinbrechen wollte, zum Gruße die Hand. ›Diesmal kommt es ans Herz, Mikosch. Morgen bin ich ein toter Mann.‹
   »Ich blieb bei ihm, wir wachten zusammen bis über Mitternacht hinaus, dann fielen ihm die Augenlider herab – seine Kräfte waren eben zu Ende. Ich kann wohl gestehen, daß mir das Herz schneller schlug, daß ich an keinen Schlaf dachte. Gegen drei Uhr morgens begann das Ringen mit dem Upyr, Gosims ganzer Körper zuckte und bäumte, ich versuchte umsonst, ihn zu wecken – plötzlich schrie er laut auf. ›Das Herz, das Herz – nun ist es getroffen!‹ »Eiskalter Schweiß stand auf seiner Stirn, die Glieder streckten sich – mein Kamerad war tot, gestorben ohne Krankheit, ohne Fehl am Körper – der Upyr hatte ihn erdrückt.«
   Lange Stille folgte den Worten des alten Zigeuners, dann sagte Onnen mit halblauter Stimme: »Sein Gewissen war‘s, Mikosch. Seit er falsch geschworen, würgte es ihn und würgte, bis das innere Elend den Leib vernichtet hatte.«
   Der Zigeuner dampfte große Wolken. »Mag‘s denn heißen, wie du willst, Herr, mag man‘s erklären können oder nicht – ich glaube an den Upyr und an die Russalkij – nur daß sie den guten Menschen nichts anhaben dürfen.«
   »Und daß sie nicht in den Lüften oder der Steppe, sondern in unseren eigenen schuldbewußten Herzen geboren werden«, rief Onnen. »So glaube ich auch an sie.«
   Der alte Häuptling schwieg, aber unser Freund sah, daß er keineswegs überzeugt sei. Still und mondbeglänzt lag die Steppe, nächtlich still, nur durch den Ginster huschte leises Flüstern, wie die Stimmen unsichtbarer Wesen. Rings, so weit das Auge reichte, unterbrach kein erhöhter Punkt, kein Baum oder Haus die ebene Fläche; nur da oben im lichten Blau glänzte lächelnd der runde weiße Mond – war es wohl ein Wunder, wenn die unwissenden Kinder der Wildnis diese Einsamkeit mit lebenden Wesen bevölkerten, wenn sie das Kommen und Gehen des milden Himmelslichtes in Verbindung brachten mit dem Erscheinen körperloser Geister, die den Bösen heimsuchten und den Guten unbehelligt seines Weges ziehen ließen? Über den Aberglauben solcher Halbwilden sollte nie gelacht oder gespöttelt werden; sie suchen wie wir selbst die Verbindung mit dem Ewigen, Übersinnlichen, nur eben – in ihrer Weise.


   17

   Ein langer heißer Tag folgte der Begegnung mit dem Leibeigenen und den wilden Pferden. Die Steppe hat keine Quellen, ihr Boden ist steinig und zum Teil salzhaltig, er bringt kein genießbares Wasser hervor, unsere drei Wanderer mußten sich daher mit dem wenigen begnügen, das noch von dem letzten Dorfe mitgenommen worden war. Einmal erschienen in der Ferne die roten Ziegeldächer eines Gehöftes, wahrscheinlich dessen, wo der Leibeigene seine Heimat besaß, dann aber kam erst gegen Abend, allmählich am Rande des Horizontes auftauchend, die Stadt Odessa in Sicht.
   Auch hier keine Bäume, kein Schatten, nur seitwärts eine kahle Hügelkette und hinter der damals erst im Werden begriffenen Stadt das weite offene Meer mit seinen Schiffen und Flaggen, seinen Mastspitzen und umherfahrenden Booten. Onnen schwenkte die Mütze, er konnte einen lauten Jubelschrei nicht unterdrücken. »Das Meer! – Ach, das Meer!«
   »Ich liebe es nicht«, gestand Mikosch. »Meinen Wagen und das Pferd werde ich wohl hier in Odessa zurücklassen müssen; Ruff begleitet uns auf jeden Fall.«
   Onnen hörte und sah nicht, seine Blicke waren nur immer auf das Meer gerichtet. »Bist du hier bekannt, Mikosch? Denkst du, daß wir ein Schiff finden werden?«
   »Natürlich! Aber du giltst als einer von meinem Volke, sonst erregen wir hier Aufsehen und könnten auch in Deutschland nicht ruhig unseres Weges ziehen. Dort herrschen nach wie vor die Franzosen; alle Fremden bedürfen der Reisepässe.«
   Onnen erschrak. »Besitzt du denn welche, Mikosch?«
   »Gewiß! Du giltst darin als mein Sohn.«
   Unser Freund reichte ihm gerührt die Hand. »Und du hast wahrlich wie ein Vater an mir gehandelt, Mikosch – ich werde dir danken, solange ich atme.«
   Der Alte lächelte. »Schon gut, Freundchen, schon gut. Sieh, das ist nun die Grenze des russischen Grund und Bodens – nach ein paar Tagen haben wir ihn verlassen.«
   »Das gebe der Himmel. Ach, Mikosch, wenn ich mich erst wieder an den Tauen schaukeln darf! Wenn ich —«
   »Aber«, unterbrach er sich, »sind denn die Zigeuner jemals Seeleute?«
   »Nie. Doch können sie sämtlich klettern wie die Katzen und mehr verlangst du ja für den Augenblick nicht.«
   Die Vorstädte, damals aus Holzbaracken bestehend, waren erreicht und Mikosch nahm Quartier in einer Matrosenherberge, deren Wirt er kannte. Alles ringsumher erinnerte unseren Freund an die Heimat, der Blick auf das weite Wasser, die ungepflasterten Straßen, die niederen Häuser und das Schiffer– und Fischervolk, welches sie bewohnte. Schon am nächsten Tage machte er die Bekanntschaft mehrerer Seeleute, die hier auf eine Heuer warteten, und fuhr mit ihnen im Boot umher; seine oberflächliche Kenntnis der russischen Sprache schützte ihn vor einem Verrat, den er ohne Absicht hätte begehen können – seelenfroh, so glücklich wie seit langer Zeit nicht mehr, schaukelte er auf den Wellen herum.
   Mikosch suchte und fand indessen ein englisches Schiff, das unter dem Schutze der heimatlichen Kriegsfahrzeuge nach Helgoland unter Segel gehen sollte; er bezahlte für sich selbst und die beiden jungen Leute sowie Ruff den Passagepreis, dann gelang es ihm nach tagelangem Forschen auch noch, einen Zigeuner aufzufinden, der den Seinigen Gruß und Botschaft zu bringen versprach, ebenso den Befehl des Stammeshauptes, Wagen und Pferd von Odessa abzuholen, oder wenigstens doch das Pferd, wenn auch der Karren verkauft werden mußte.
   Am 30. März ging die »Anna Elisabeth« unter Segel, um ihren Weg durch das Schwarze Meer, das Ägäische und Mittelmeer bis in den Atlantischen Ozean fortzusetzen. In den südrussischen Häfen hatten Hunderte von englischen Schiffen während des Winters mit voller Ladung brach gelegen, ohne die Waren löschen oder auch nur aussegeln zu können; jetzt aber, wo der Frühling gekommen war, wagten sich die Fahrzeuge wieder hinaus auf See, um Waren nach Deutschland zu schmuggeln.
   Helgoland war immer noch Stapelplatz derselben, auch die »Anna Elisabeth« sollte Talg und Getreide hinbringen, um dann zur Ausbesserung nach Plymouth zu gehen. Die Ladung hatte während des Winters schon Schaden gelitten; man mußte sie jetzt so schnell wie nur möglich verwerten und dann das Schiff ausbessern – es herrschte unter den englischen Matrosen an Bord eine sehr erbitterte, kriegerische Stimmung. Wenn sich französische Kaper sehen ließen, so würden sie einen heißen Empfang finden.
   Im ganzen verließen zehn englische Kauffahrer den Hafen von Odessa, fast sämtlich nach Helgoland bestimmt; zwei Kriegsschiffe waren, um ihnen den Weg freizuhalten, schon tags vorher abgegangen.
   Mehr als zwölf Millionen Mark, lauter englisches Nationaleigentum, steckten in den Schiffen und ihrer Ladung, das mußte tatkräftig beschützt werden, denn in den Häfen begann es der Zerstörung anheimzufallen. Die Bretter faulten, die Waren verdarben – also vorwärts auf das gute Glück hin.


   18

   Die Straße von Konstantinopel war passiert; jetzt befand sich das Schiff im Ägäischen Meer. Eine wundervolle, vom Wasser gemilderte Wärme durchwehte die Luft, fremde Segler aller Nationen kreuzten den Weg, leicht wie ein Vogel schwebte die »Anna Elisabeth« über die Wogen.
   »Mir fehlt nur eins«, gestand Onnen, daß ich nicht mit in die Masten klettern darf, daß ich den Matrosen müßig zusehen muß.«
   Mikosch lächelte. »Hier verrät dich ja keiner, Herr! Frage den Kapitän und verdiene in des Himmels Namen deine Erbsen, ehe du sie issest.«
   »Ich darf also offen sagen, daß ich ein Seemann bin?«
   »Solange wir an Bord sind, ja.«
   Schon in der nächsten Stunde hatte Onnen seine Bitte vorgebracht und bei dem Kapitän die Einwilligung erhalten; jetzt saß er und nähte sich aus einem Stück Segeltuch einen Matrosenanzug. Die gutmütigen Matrosen schenkten ihm einen Strohhut und leichte Schuhe, sie wunderten sich auch nicht, daß er so flott Englisch sprach – Zigeuner sind ja Weltbürger, sie kommen an alle Orte und reden jede Mundart, sie haben ihr Vaterland überall und nirgends.
   Nur der Untersteuermann, Mr. Lawrence, schien die Sache etwas seltsam zu finden. »Junge«, sagte er, »du kletterst nicht zum erstenmal in den Mast. Willst du denn Seemann werden?«
   »Ich bin es schon seit zwei Jahren!«
   » Nun, und weshalb suchst du in diesem Falle keine Heuer? – Doch ich verstehe, dein Vater möchte lieber, daß du mit ihm durch das Land zögest, um —«
   Onnen wandte sich ab. »Steuermann, mein Vater liegt jetzt seit acht Monaten oder noch länger in der Erde – die Franzosen haben ihn gemordet.«
   Er erzählte dem erstaunten Manne alles bis auf jene Nacht, in der die Schmuggler verraten und auf dem Watt gefangen genommen wurden; von da an kannte der Steuermann alle ferneren Vorgänge selbst. Einer der erschossenen englischen Matrosen war sein Verwandter; das gab zwischen ihm und Onnen viele Berührungspunkte, die unserem Freunde eine Reihe von Vergünstigungen eintrugen. Er durfte, so oft er es wünschte, in die Masten klettern und dort aus schwindelnder Höhe Umschau halten; etwas, das er sehr liebte und täglich zur Ausführung brachte.
   Ohne Unfall gelangte das Schiff in den Atlantischen Ozean, hier aber begann erst die eigentliche Gefahr den Franzosen gegenüber. Ihre schnellen Kaper kreuzten fortwährend die Wasserbahn, Scharmützel aller Art mit den Engländern waren an der Tagesordnung – auch die »Anna Elisabeth« sollte dem Schicksal eines solchen nicht entgehen. Eines Tages saß Onnen wieder hoch oben im Mastkorb und beobachtete das geliebte Meer—da schützte er plötzlich die Augen mit den Händen und glitt dann nach kurzer Prüfung gewandt wie eine Katze auf das Verdeck hinab.
   »Steuermann, ein Glas! – ein Glas!«
   »Hast du etwas gesehen, Junge?«
   »Ich glaube, ja!«
   Das Wort war kaum gesprochen, als auch schon zehn oder zwanzig Augenpaare unruhig das Meer nach allen Seiten hin beobachteten. Blaue Wölkchen wallten auf, ein dumpfer Donner rollte über das Wasser dahin.
   Kanonenschüsse! Die beiden englischen Fregatten mußten mit französischen Schiffen zusammengetroffen und in einen Kampf geraten sein. Der Donner verstärkte sich, folgte schneller und schneller – die »Anna Elisabeth« nahm ihren Kurs dem Schauplatze des Gefechtes gerade entgegen.
   Der Kapitän erschien an Deck; er betrat sofort die Kommandobrücke und ergriff das Sprachrohr. »Klar zum Wenden!«
   Die Matrosen flogen in die Masten, allen voraus unser Freund. Es rauschte und wogte in den Wolken von Leinen da oben, es knisterte und rollte, dann war mit Windeseile das Manöver vollführt und die Leute konnten ihre heißen Stirnen trocknen.
   »Klar ist!«
   Das Steuer drehte sich, die »Anna Elisabeth« fiel ab und floh unter dem Drucke aller ihrer Segel, so schnell es Wind und Wellen gestatteten, aus dem Bereiche der Gefahr; schon nach einer Viertelstunde war von den kämpfenden Kriegsschiffen nichts mehr zu sehen und selbst der Donner der Kanonen nur noch schwach vernehmbar, aber Kapitän Rowland behielt trotzdem ein sehr ernstes Gesicht, er verließ das Deck keinen Augenblick und legte auch das Sprachrohr nicht aus der Hand.
   »Für uns steht die Entscheidung noch aus«, hörte ihn Onnen sagen. »Wenn wir vom Bord des Franzosen gesehen sind, so müssen wir auf eine Verfolgung gefaßt sein.«
   »Aber vielleicht sind die Franzosen besiegt!« rief eine Stimme. Der Kapitän antwortete nicht; er beeilte sich, aus der gewohnten Fahrstraße der Schiffe herauszukommen und ließ die Wachen in den Masten verstärken; das war alles, was er zum Schütze des ihm anvertrauten Gutes an Leben und Wert im Augenblick vornehmen konnte.
   Ein banger, unerquicklicher Tag folgte diesem Morgen, ein Abend voll Nebel und beinahe gänzlicher Windstille.
   Dumpfe Schwüle lastete auf dem Meer, man konnte an Deck kaum die Hand vor den Augen sehen. Das Licht der Laternen durchdrang nur den allernächsten Umkreis, es war also keinerlei Beobachtung möglich, man mußte sich dem Willen des Himmels waffenlos überlassen.
   Der Kapitän stand in diesem Augenblick an Deck, in jenem beugte er sich über seine Karten. »Ach, wenn es Tag wäre – wenn wenigstens der Nebel aufhören wollte!«
   So kam der Morgen heran. Gegen vier Uhr wehte eine etwas steifere Brise, die Luft klarte auf, goldig und hell erschien am östlichen Horizont die Sonne.
   Ihre Strahlen beleuchteten blasse, erschrockene Gesichter. Kaum hundert Schritte entfernt lag ein französisches Kriegsschiff – ihm entgegen, direkt unter seine Stückpforten, trieb mit Wind und Wellen die »Anna Elisabeth«, jetzt so sicher verloren, als habe sich das Meer aufgetan und sie in seine unergründliche Tiefe hinabgezogen.
   Ein Schreckensschrei durchdrang die Luft; der Kapitän sah aus, als sei ihm die Hand des Todes unvermerkt über das männlich braune Antlitz gefahren, als ob jeder Blutstropfen erstarren müßte unter der eisigen Berührung.
   Er gab keine Befehle, er sprach kein Wort – hier war alles schon im voraus zugunsten der Franzosen entschieden.
   Diese selbst begannen sich zu rühren. Ihr Schiff zeigte an allen seinen Außenteilen die schweren Stunden, welche ihm der Feind bereitet hatte; Segel und Tauwerk waren zerschossen, an den Masten hingen große Splitter, die Schanzkleidung fiel zerbrochen und durchlöchert herab, an manchen Stellen fehlte sie ganz. Zimmerleute in großer Anzahl waren beschäftigt, auszubessern, zu dichten und zu ergänzen – auf dem Vorderdeck legte man gerade die Opfer des letzten Tages auf lange, mit einer Kanonenkugel beschwerte Bretter, um sie in die Tiefe zu versenken, aber alle Arbeit stockte, aller Blicke wandten sich, als hinter den Nebelmassen der englische Kauffahrer in Sicht kam. »Beute! – Beute!« – Was die Kanonen der Kriegsschiffe zerstört hatten, das sollten jetzt die Waren im Raume der »Anna Elisabeth« ersetzen.
   Ein Boot fiel herab, ein Offizier und zwölf Soldaten kamen an Bord des unglücklichen Schiffes, erklärten es mit seinem ganzen Inhalt für das Eigentum der französischen Krone und die Besatzung für Gefangene, dann begann die Überführung derselben auf das Kriegsschiff, welches jetzt Bord an Bord mit dem Kauffahrer auf den Wellen lag.
   Die Luken wurden ohne Umstände mit Beilhieben erbrochen, dann wandten sich die Räuber naserümpfend ab. »Talg und Buchweizen – fi donc!« Die Franzosen hätten etliche Näschereien, Schokoladen und Konfitüren lieber genommen.
   Die Leute waren erbost, sie würden am liebsten mit der Faust über die Engländer hergefallen sein. Gestern ein blutiger Kampf, während der ganzen Nacht Arbeit und Unruhe – das hatte ihre Stimmung sehr verschlechtert.
   Umsonst spähten die Engländer über das weite Meer hinaus, umsonst beteuerten die Passagiere, daß sie friedliche Privatleute seien und mit den Streitigkeiten der beiden feindlichen Mächte nichts zu tun hätten – sie alle wurden durch Kolbenstöße vorwärtsgetrieben und an Bord des Kriegsschiffes gebracht, während eine Anzahl Matrosen zur Führung der »Anna Elisabeth« auf diese überging und mit einigen Offizieren den Dienst sofort antrat. Der Wechsel vollzog sich sehr schnell; es schien, als fühlten sich die Franzosen noch durchaus nicht sicher.
   Das Verdeck ihres Schiffes bot einen trostlosen Anblick. Blutlachen bedeckten den Boden, Splitter und Trümmer lagen überall, vierzehn Tote bildeten in den Umhüllungen alter Segel auf ihren Brettern den schauerlichen Hintergrund der Szene. Wimmern und Ächzen tönte aus dem Innern der Fregatte herauf. Über hundert Verwundete lagen auf Stroh, Segeltuch und Matten, zwei Ärzte mit einer starken Anzahl von Krankenwärtern bemühten sich um die Unglücklichen, deren jammervoll zerschossene Glieder vor Schmerzen zuckten.
   Laute Verwünschungen empfingen die englischen Matrosen, Kranke und Gesunde spien ihnen ungestraft ins Gesicht; der Offizier, welchem sie vorgeführt wurden, sah es, ohne davon Notiz zu nehmen.
   »Parlez-vous français?« schrie er in grober Weise dem Kapitän entgegen.
   »No Sir – do you speak english?«
   »Unteroffizier, bitten Sie Monsieur Lebonnier!«
   Der Gerufene erschien, und es fand sich, daß er ein paar Brocken englisch zu radebrechen verstand, genug, um den Gefangenen ihr schreckliches Schicksal auseinanderzusetzen. Im selben Raume mit den ächzenden Verwundeten, auf den bloßen Planken des Schiffes, ohne Stühle, Stroh oder Betten erhielten sie ihre Plätze angewiesen, während zugleich die täglichen Rationen für sie bestimmt wurden, nämlich drei Lot Fleisch und anderthalb Pfund Brot, dazu für Mann und Tag eine Flasche Wasser. Von Tee oder Kaffee, von Butter oder Gemüse war keine Rede. Mikosch legte die Fingerspitzen auf Onnens Schulter. »Für mich mache ich mir gar nichts daraus«, flüsterte er, »ein Zigeuner kennt keine Bequemlichkeit, keine Ansprüche – aber wie wird es meinem armen Bären ergehen? Wenn ihn die Franzosen töten, so finde ich ein Mittel, das Schiff in den Grund zu bohren!« »Mikosch!«
   »Ich halte Wort, Herr, verlasse dich darauf. Mein alter Ruff bleibt nicht ungerächt!«
   »Noch lebt er«, tröstete Onnen. »Ich will einmal versuchen, ob sich nichts erfahren läßt – einige französische Worte spreche ich ja auch.«
   Alexei sah mit seinen klugen Augen zu den beiden anderen hinüber. »Haltet euch nur vorläufig ganz ruhig«, flüsterte er. »Der Haß ist so groß, daß er jeden Augenblick zu Tätlichkeiten übergehen kann. Die Kerle beobachten uns und würden am liebsten mit ihren Fäusten über uns herfallen.« »Nur über die Engländer, denke ich!«
   »Das ist es ja eben – der Unterschied wird zu spät gemacht werden.«
   So saßen denn unsere drei Freunde im Winkel beisammen und hörten von der anderen Seite des großen Raumes das Klagen der Verwundeten, zuweilen ihre wilden Fieberphantasien, ihre Sterbeseufzer. Die Luft war von Miasmen erfüllt und drückend heiß, das wenige Wasser mehr als nur lauwarm. Um zwölf Uhr mittags kam das Essen, steinhartes Brot und dampfende Sehnen vom Salzfleisch – das Genießbare der verschiedenen Stücke hatten die Franzosen für sich behalten. Auch zur Mahlzeit gab es keinen Tisch; als einer der Matrosen mit erbitterter Miene auf den ihm als Mittagsmahl zuteil gewordenen Knochen hinwies und dabei Worte in den Bart brummte, die offenbar wenig schmeichelhaft klangen, da spie der französische Soldat als Antwort auf seinen Teller, eine Roheit, die von den übrigen Söhnen der großen Nation mit lautem Gelächter begrüßt wurde.
   »Monsieur John Bull hat Hunger, der arme Kerl!« rief einer. Ohne ein Wort zu sprechen, erhob sich der Engländer vom Fußboden. Seine Augen blitzten, die breite Brust arbeitete gewaltsam, die Arme wirbelten wie Mühlenflügel durch die Luft, hie und da blutige Nasen oder blaue Flecke zurücklassend – nur mit äußerster Anstrengung rissen ihn seine Gefährten von dem viel kleineren Franzosen, dessen Gesichtsfarbe vor Wut in das Bläuliche hinüberspielte.
   Der Engländer wurde gefesselt in das Schiffsgefängnis überführt, dann mußten sich die Gefangenen von Herrn Lebonnier eine lange Rede vorhalten lassen, eine Verwarnung, welche von den Kriegsartikeln handelte und entsetzliche Drohungen in sich schloß. Die Wachen am Eingange des Schlafraumes wurden verstärkt, niemand erhielt Zutritt zu den unglücklichen Engländern, denen nicht einmal möglich war, ihren Durst zu löschen oder einen Augenblick frische Luft zu schöpfen.
   Mikosch verlangte den Kapitän zu sprechen – es wurde ihm abgeschlagen.
   Von den Verwundeten starben an diesem Schreckenstage noch drei; wieder sank der Abend herab auf den schwimmenden Bau, das Fieber der Kranken wurde stärker, bis es in lautes Toben überging, die Verzweiflung der Gefangenen stieg von Stunde zu Stunde.
   Um sie herum ein Flüstern und Ächzen, ein Weinen und Schreien in allen Tonarten. Das Röcheln des Todes schlug an ihr Ohr, das Jammern äußerster Verzweiflung; sie fühlten das Klopfen des Blutes in den Schläfen wie einen stechenden Schmerz, sie glaubten ersticken zu müssen in der vergifteten, unerträglichen Luft. Eins – zwei – drei – wie endlos war die Nacht voller Qualen! Da – horch! An Deck ein Laufen und Rufen, Kommandoworte, Gerassel von Waffen, von verschobenen Planken und Stückpforten, endlich der Befehl: »Klar Schiff!«
   Mikosch hob den Kopf. »Klar Schiff? – Das bedeutet Kampf!« Wie elektrisiert horchten die übrigen. Allgemeine Unruhe beherrschte das Fahrzeug – dann plötzlich durchdrang der Donner einer ganzen Breitseite den vorherigen Lärm, wie etwa das Rollen der Brandung die leise Menschenstimme übertönt. Vom Bord des Franzosen wurde der eiserne Gruß erwidert; ein Toben, das nichts einzelnes mehr unterscheiden ließ, verbreitete sich über die ganze Umgebung. Onnen und Alexei sahen aus der schmalen Luke, gegen die die Wogen in jedem Augenblick hoch aufspritzten – sie erkannten zwei größere Schiffe, welche den Franzosen in ihre Mitte genommen hatten und von beiden Seiten bombardierten. Mitten in dem allgemeinen Lärm erhob sich plötzlich die Stimme des Bären; Ruff brüllte, höchstwahrscheinlich vor Furcht, er begriff nicht, was um ihn her vorging.
   Ein Freudenschrei brach über die Lippen des Zigeuners. »Mein Tier lebt! – Hurra, nun mag geschehen, was da wolle!« Onnen und Alexei beobachteten aus verschiedenen Luken die Lage der Dinge. Zwei englische Fregatten bedrängten den Franzosen immer näher und näher und doch hielt sich dieser noch tapfer gegen beide Feinde – der Kapitän wollte Zeit gewinnen, um einen höllischen Plan auszuführen.
   Das große kupferne Becken aus dem Mitteldeck wurde mit Kohlen gefüllt und die Kanonenkugeln darauf gelegt; eine Viertelstunde später sollten sie die englischen Schiffe in Brand setzen. Onnen sah zu den Gefangenen hinüber. »Wollen wir das dulden?« fragte er.
   »Aber wie läßt es sich verhindern?« »Wenigstens den Versuch können wir doch machen.« Die Franzosen fielen oben an Deck wie Ähren unter dem Messer des Schnitters. Schon die vorige Nacht hatte schwere Opfer gefordert – jetzt ließen sich die entstandenen Lücken kaum noch ausfüllen. Das Blut sickerte von den Treppen, Tote und Sterbende versperrten den Weg, der Rauch verdichtete die Luft so sehr, daß niemand den anderen deutlich sah.
   Die Engländer, dreiundzwanzig an der Zahl, drangen Schritt für Schritt gegen das Kohlenbecken vor; mit ihnen unsere Freunde. Sprechen oder einander hören konnte niemand; die Franzosen handhabten eifrig den Blasebalg, sie drehten die Kugeln und hielten alles bereit, um im gegebenen Augenblick das mörderische Geschoß abzusenden. Onnen sah jede Bewegung, er überwachte den ganzen Plan, und als die Kugeln glühten, da gab er den Leuten von der »Anna Elisabeth« ein Zeichen.
   Sie waren sämtlich im Herzen entschlossen gleich ihm, sie hatten längst den kecken Gedanken begriffen und handelten in wortloser Übereinstimmung so, wie es der Augenblick erforderte. Sechs bis zehn aus ihren Reihen warfen sich auf die Franzosen, während andere die zahlreichen umherliegenden Waffen ergriffen und ihrerseits dem Feinde im Innern seines eigenen Schiffes den Krieg erklärten.
   Onnen und Alexei packten mit den Zangen die erste glühende Kugel und schleuderten sie an Deck unter die Reihen der Franzosen, eine zweite folgte nach, die Kleider der umherliegenden Toten fingen Feuer, ein panisches Erschrecken faßte die Soldaten. Eins der beiden englischen Schiffe erhielt durch die augenblickliche Verwirrung an Bord des Franzosen die langerwartete Gelegenheit zum Entern. Wehrlos gemacht, unfähig, nach drei Seiten hin zu kämpfen, mußten es die Franzosen ruhig geschehen lassen, als Englands tapfere Söhne mit Beilen bewaffnet ihr Schiff betraten und sich für die Herren desselben erklärten. Ihre kräftigen Arme hieben die von den glühenden Kugeln getroffenen Stellen aus dem Holzwerk heraus, das Feuer wurde gelöscht und das Schießen eingestellt; auf der Stätte einer grenzenlosen Verwirrung, eines wilden entsetzlichen Durcheinanders lag bleierne Stille – die der Vernichtung, der Verzweiflung. Mikosch und mehrere andere waren dem Schalle nachgegangen, bis sie an das Gefängnis des Bären kamen, dann hatten sie die Tür erbrochen und den armen Kerl hervorgeholt. Ruff ließ die Zunge aus dem Maul hängen, er lechzte vor Durst und trank jetzt, als ihm Mikosch Wasser aus den Fässern brachte, gleich zwei Eimer voll. Die Engländer hatten sich ihren Landsleuten zugesellt, alle miteinander räumten unter den Franzosen, lebenden und toten, gründlich auf. Was noch atmete, das wurde in die Lazarette geschafft, alle entwaffnet und gefangengenommen, wobei die Söhne der großen Nation den Unterschied kennenlernen konnten, welcher zwischen ihren eigenen Gewohnheiten und denen der Engländer bestand. Sie hatten die friedliche Besatzung eines Kauffahrers mit unmenschlicher Härte behandelt, ihnen selbst entzogen dagegen die Briten kein solches Recht, das der Mensch dem Menschen in jeder Lage des Lebens schuldet; sie waren Gefangene, aber sie erhielten dasselbe, was auch die Engländer aßen, gute Hängematten und einen Schlafraum, der nicht mit verpesteter Luft erfüllt war und in dem es weder Verwundete noch Tote gab. Kapitän Rowland erstattete seinen Bericht, nach dessen Anhörung beide Schiffe die Jagd auf den geraubten Kauffahrer sogleich begannen, während die französische Fregatte als Kriegsbeute mit nach Helgoland genommen wurde.
   Erst am dritten Tage kam die »Anna Elisabeth« in Sicht und verschwand dann noch zweimal; ehe die, Kriegsschiffe sie überholten. Ein Kanonenschuß ohne Ladung gebot den Franzosen, beizudrehen, sie gehorchten aber erst, als eine Kugel durch das Takelwerk flog und nun waren Schiff und Ladung gerettet. Aus den mörderischen Kämpfen der jüngsten Vergangenheit hatten nur gegen fünfzig französische Soldaten ganz unverletzt entrinnen können; sie standen mehr als tausend Engländern gegenüber, so daß ihr Schicksal von vornherein entschieden war. Die beiden Fregatten brachten abermals französische Beute nach Helgoland. Es war an einem milden, windstillen Sommerabend, als der Anker vor der einsamen nordischen Felseninsel in die Tiefe rasselte. Schiff an Schiff füllte die offene Reede, Boote fuhren dazwischen hin und her – unendlich öde und verlassen lag der steinige, unwirtliche Strand.
   Ein Boot brachte die Passagiere der »Anna Elisabeth« an das Ufer. Alle diese Leute, zehn an der Zahl, wollten nach Hamburg; wie sie aber dahin gelangen sollten, das wußte vorläufig noch niemand. Die Franzosen bewachten die Mündungen der Elbe, Weser und Ems mit Argusaugen, kein noch so unbedeutendes Fahrzeug kam heraus oder hinein, ohne genau durchsucht zu werden, kein Mensch ohne Paß durfte die Grenze überschreiten. Mikosch hatte echte, vollwichtige Legitimationspapiere – er war überzeugt, auch ein Schiff zu finden.
   Onnen und Alexei umwanderten die kleine Insel und sahen die niederen armen Fischerwohnungen, in denen selbst das Brot als Leckerbissen galt. Die genügsamen Leute aßen während der guten Jahreszeit frische und im Winter getrocknete Fische, zu denen höchstens einige Klöße aus grobem Mehl kamen. Nur einzelne Badegäste und wohlhabendere Einwohner konnten sich den Luxus besserer Mahlzeiten gestatten.
   Als der Abend hereinbrach, hatte Mikosch seinen Streifzug durch verschiedene Schenken im Unterland beendet; er kam sehr zufrieden in die Herberge zurück und berichtete, daß die Fahrt nach Hamburg morgen vor sich gehen werde.
   »Es ist eine Vierländer Bark hier«, sagte er. »Die Hamburger Elbinseln versorgen das ganze umliegende Gebiet mit jungem Gemüse, auch nach Helgoland kommen sie – da können wir also die Fahrt mitmachen.«
   »Aber«, setzte er halb und halb seufzend hinzu, »in das Kriegsgetümmel kommen wir sofort wieder hinein – der russische General Tettenborn und der dänische Oberst von Hafner halten Hamburg noch besetzt, die Franzosen aber stehen in Harburg und können zu jeder Stunde in die unglückliche, außer dem Gesetz erklärte Stadt wieder einrücken.«
   »Weshalb gehen wir dann nicht direkt nach Bremen und von dort nach Ostfriesland, Alter?«
   Der Zigeuner schüttelte den Kopf. »Durch das feindliche Heer? – Und was könnte es dir nützen, Herr? Noch ist Norderney, sind Emden und Norden von den Franzosen besetzt; du dürftest dich in deiner Heimat nicht blicken lassen.« Onnen schwieg; er erkannte die Richtigkeit dieser Bemerkung, aber nicht ohne tiefes Bedauern. Da vor ihm die offene See und die vielen, vielen Schiffe – es schien so leicht, so einfach, hinauszusteuern und mit günstigem Winde in zwölf bis zwanzig Stunden vor Norderney anzulaufen! – Aber unübersteigliche Hindernisse lagen zwischen dem Plane und seiner Ausführung. Am andern Morgen ging die Bark unter Segel. Eine Anzahl Frauen mit kurzen, buntumsäumten vielfaltigen Röcken und korbartigen Strohhüten saß strickend neben Bergen von leeren Körben und Säcken auf dem Verdeck; Männer mit samtnen Kniehosen und langen, enganschließenden Strümpfen dampften ihre kurzen Fuhrmannspfeifen oder unterhielten sich mit leiser Stimme über die politischen Ereignisse der Gegenwart; jedes Gesicht trug den Ausdruck banger Sorge, die Züge waren blaß und vergrämt. »Hamburg wird bombardiert!« ging es von Mund zu Mund. »Mit glühenden Kugeln beschossen! Der Unmensch Davoust ist auf der Wilhelmsburg, er will die ganze Stadt in Brand stecken.« »Fremdes Volk in allen Gassen, zweifelhafte Freunde hier und offene Feinde dort – Hamburg ist heute schlimmer daran als jemals. Es hat nichts mehr zu geben, seine Bewohner verhungern, sein Handel ist untergraben, Millionen sind geraubt worden, um die unersättliche Gier der Franzosen zu befriedigen.« Ein halblautes Schluchzen ging durch das Schiff; die Frauen weinten still vor sich hin, die Männer standen mit geballten Fäusten. So trostlos wie hier waren im vorigen Jahre die Verhältnisse in Ostfriesland nicht gewesen; Onnens Herz schwoll hoch im Gefühl eines Hasses, der ihn ganz beherrschte. Wenn es ihm irgendwie möglich war, so wollte er als Freiwilliger eintreten, um die räuberischen Feinde von Deutschlands Boden vertreiben zu helfen. Einen Tag und eine Nacht schaukelte das Schiff auf den Wellen der Elbe; Cuxhaven kam in Sicht, Glückstadt, Stade, dann Blankenese und Altona; – endlich war der Jonashafen erreicht, und neue Hiobsposten stürmten auf die Ankommenden herein. »Die Veddel (eine Elbinsel, über welche heute die Pariser Bahn hinwegführt) ist verloren, das Bataillon Hanseaten, fünfhundert Mecklenburger und ebensoviele Freiwillige sind aufgerieben oder gefangen!«
   »Auf der Wilhelmsburg (eine andere Elbinsel) ist das zweite Bataillon in einen Hinterhalt gelockt worden – unsere armen Jungen mußten in den Gräben und Gaten ertrinken.« »Ach, daß Gott erbarm!«
   Die Frauen schluchzten laut, die Männer wurden in den Strom dieser bitteren, brennenden Tränen, dieser herzerschütternden Verzweiflung mit hineingezogen. »Unsere Jungen! Unsere Jungen! – Wir sollen sie niemals wiedersehen!«
   »Das ganze zweite Bataillon ist vernichtet, das erste auf der Veddel zusammengehauen oder in Gefangenschaft geraten – Tausende von Müttern und Vätern haben ihre Söhne verloren; ganz Hamburg schreit zum Himmel um Hilfe in der Not.« »Und was das Schlimmste ist«, fügte eine Stimme hinzu, »die Kosaken verlassen uns, sie stehen schon marschfertig hinter dem Letzten Heller (Wirtshaus bei Wandsbeck)!« »Und die Dänen, welche bisher aus nachbarlicher Freundschaft unsere Wachen bezogen, haben für morgen Marschordre.« Mikosch winkte seinen beiden Genossen. »Kommt«, sagte er, »es macht ganz mutlos, die Leute so weinen zu sehen. Diese armen Weiber, während sie auf Helgoland um Wurzeln und Blattgemüse feilschten, hat man ihre Söhne meuchlings ertränkt! – Laßt uns eilen, ein Quartier zu bekommen; wir müssen vor allen Dingen erfahren, ob wirklich die Stadt bombardiert werden soll oder nicht.«
   Onnen sah zum Michaelisturm hinauf. »Ist es nicht Sturm, was sie da läuten? – Ich glaube es.«
   »Natürlich!« rief ihm ein Vorübergehender zu. »Jetzt ist es nicht die Zeit, um Bären tanzen zu lassen. Eisern fallen die Würfel! Geht zum Bauhof und nehmt das Gewehr in die Hand, Zigeuner, dann tut ihr das Rechte.«
   »Wir sind schon unterwegs dahin, Freund!« Onnen legte die Fingerspitzen auf des Alten Schulter. »Mikosch, du hast mich wie ein Vater beschützt seit der Stunde, wo ich halb verhungert im russischen Walde lag und keine andere Hoffnung hatte, als die auf deine Barmherzigkeit – aber das, was ich heute von dir erbitte, ist mehr noch als Brot und Obdach. Laß mich frei, laß mich mit meinen Landsleuten kämpfen! Ich kann jetzt nicht tatlos zusehen.«
   Mikosch lächelte. »Das sollst du auch nicht, Herr. Geh zunächst mit uns in das Quartier im Eichholz, lerne das Haus kennen, damit du es wiederfindest, und dann richte dich ein, wie es dir beliebt. Brauchst du Geld, so sprich nur!«
   Onnen schlang ungestüm auf offener Straße seine beiden Arme um den Nacken des braunen Mannes. »Gar nichts!« antwortete er gerührt, von dem Sturmläuten aller Kirchen, von dem Treiben und Drängen auf den Straßen leidenschaftlich erregt, »gar nichts, Alter. Du darfst nur nicht verlangen, daß ich mir‘s bei dir wohl sein lasse, indes mein Volk weint und sich auf den Wällen schlägt—aber ich will immer zu dir zurückkehren; wo du bist, da soll meine Heimat sein. Ist‘s so recht?«
   »Na, komm nur erst und laß uns ein Quartier suchen! Ich werde dir wahrlich kein Hindernis in den Weg legen!«
   Auf allen Straßen drängte und wogte das Volk. Wie damals in Smolensk und Moskau zogen ganze Karawanen zu den Toren, um dem hereinbrechenden Verhängnis womöglich noch zu entrinnen, aber nur Frauen und Kinder verließen die Stadt, alle Männer, selbst alle größeren Knaben blieben zurück, um auf den Wällen gegen die Franzosen zu kämpfen. Es war eine wahnwitzige Hoffnung, welche die unglücklichen, zur Verzweiflung getriebenen Menschen erfüllte; aber sie kennzeichnete das erwachte patriotische Gefühl und war in ihrer echten Begeisterung so ansteckend, daß sie alles, was in Hamburg lebte, gewaltsam mit sich fortriß.
   Gerüchte der verschiedensten Art wurden laut. Bald hieß es, daß der Herzog von Braunschweig mit zwanzigtausend Mann eintreffen werde, bald wieder, daß von Schwerin und Wismar eine Abteilung Schweden nahe oder daß General Tettenborn nach Hamburg zurückkehren wollte; aber von alledem geschah nichts, der Tag verging ohne ein bemerkenswertes Ereignis, alle verfügbaren Truppen standen auf dem Bauhof und von Minute zu Minute wurde das Bombardement erwartet.
   Die Nacht war milde und ruhig, rings um Hamburg her standen die Bäume im schönsten Frühlingsgrün; leise bald und dann wieder schmetternd sang die Nachtigall in den Gebüschen. In den ruhigen Wellen der Elbe spiegelte sich der Sternenhimmel mit seiner ganzen königlichen Pracht – wer die Augen schloß, der hätte vom Garten Eden träumen können, von dem Schöpfungsfrieden der ersten Tage, ehe noch die Sünde in die Welt kam und mit ihr der Tod und das ganze Heer jener Feinde, die seitdem den Menschen umlagern und mit denen er kämpfen muß bis an sein Grab.
   Stille, tiefe Stille. Eine Kirchenuhr schlug eins, hie und da widerhallte gleich einem Echo der Ton, dann folgte hell und klar ein Choral, gespielt von den gestimmten Glocken der Petrikirche; wer die frommen Klänge hörte, der faltete unwillkürlich seine Hände. »Beschütze Hamburg, Vater im Himmel, wehre dem Tyrannen, der es bedroht!«
   Eine dichtgedrängte Menge von entschlossenen Männern füllte die Wälle. Wenn in dieser Nacht eine Landung versucht worden wäre – die Franzosen hätten mit gereizten Tigern statt mit Menschen kämpfen müssen.
   Einmal hatte die Stadt unter ihren räuberischen Fängen geblutet, einmal das Unerhörte erduldet; kein Herz konnte den Gedanken an eine Wiederkehr solchen Elendes ruhig ertragen, keines das schreckliche Schicksal für möglich halten.
   Sie warteten alle. Sie wollten über den verhaßten Feind herfallen wie jener Russe, der dem polnischen Offizier die Kehle durchbiß – sie waren zum äußersten, zu jeder Verzweiflungstat entschlossen.
   Es schlug halb zwei von allen Türmen; schon gab es Stimmen, die von leeren Gerüchten sprachen. Wenn die Franzosen angreifen wollten, weshalb sollten sie dann noch zögern, die Zeit unnütz verstreichen lassen?
   »Vielleicht kämpfen sie schon jetzt mit den Braunschweigern!«
   »Das ist möglich! Ja, ja, so wird es sein!«
   Und dann zerriß der Schleier. Von dem nahen Wilhelmsburg herüber klang ein Kanonenschuß – die erste glühende Kugel fiel in Hamburgs Straßen.
   Ein Schrei aus Tausenden von Kehlen begleitete den Flug des verderbenbringenden Geschosses, das am Bauhof auf das Pflaster fiel und dort, ohne zünden zu können, zerplatzte. Jetzt war das Bombardement eröffnet.
   Die zweite Kugel folgte schon nach einer Minute der ersten; auch sie schadete nicht eigentlich, aber Schreck und Angst stiegen immer mehr. Das Dach des Bauhofsgebäudes war gestreift worden – die Menge wich bestürzt zurück.
   »Es liegt Pulver darin!«
   »Sechsunddreißig Fässer mit Patronen!«
   »Allmächtiger Gott, wenn eine Explosion käme!«
   Der Platz um das alte Gebäude wurde im Augenblick leer, nur die Wachtposten blieben und mit ihnen ein kleines Häuflein entschlossener Männer. Unter den letzteren befand sich natürlich unser Freund.
   Der wachthabende Offizier schickte eine Ordonnanz zum Obersten von Heß, und schon nach zehn Minuten erschien dieser vor dem bedrohten Hause. Alles Bürgermilitär wurde zum Domplatz kommandiert; der Bauhof sollte preisgegeben werden.
   Oberst Heß musterte jene Gruppe von Männern, die schweigend in seiner Umgebung blieb. »Hamburger!« rief er, »es liegen sechsunddreißig Fässer mit Patronen hinter jener Tür! Habt ihr eure Vaterstadt lieb genug, um sie herauszuholen? Ich möchte nicht gern Soldaten dazu befehligen!«
   » Hurra für Hamburg!« war die einstimmige, begeisterte Antwort. »Den Schlüssel her – wir warten nur darauf, Hand anzulegen!« Die Türen wurden geöffnet, und während des ununterbrochenen Kugelregens arbeiteten etwa zwanzig Männer unter vollständiger Nichtachtung der Gefahr mit allen ihren Kräften an dem Transport der Patronen, deren eine, wenn von einem Funken getroffen, imstande gewesen wäre, ganze Straßen, Tausende von Menschen dem sichern Untergange zu weihen. Die Fässer wurden vorsichtig gerollt und hüben und drüben in Eimern ganze Ströme von Wasser bereitgehalten, um im Notfall eine etwa anlangende glühende Kugel sogleich übergießen und löschen zu können.
   Aber eine nach der anderen fiel und Gott beschützte Hamburg; von allen Brandgeschossen, welche Davoust in die Stadt werfen ließ, hat keine ein Menschenleben vernichtet, keine einen erheblichen Schaden bewirkt.
   An der nächsten Straßenecke hielten Wagen und brachten die gefährliche Ladung in ein entferntes Gewölbe der Neustadt; es wurde sowohl das Pulver als auch die Patronen von den mutigen Männern hinausbefördert, ohne daß sie in der Erfüllung dieser schweren Pflicht einen Augenblick gezögert hätten.
   Zu dem Obersten von Heß gesellten sich zwei Herren, der eine in Zivilkleidung, unter welcher man jedoch den ehemaligen Offizier sofort erkannte, der andere in königlich dänischer Stabsuniform, Hamburgs Retter, der Oberst von Hafner und dessen intimster persönlicher Freund, Baron Andreas von Liliencron, dänischer Oberst außer Dienst. Beide beobachteten die Räumung des Bauhofes und letzterer legte sogar gelegentlich selbst Hand ans Werk. »Du weißt es, Hafner«, sagte er lächelnd, »die gefährlichen Unternehmungen sind meine besondere Leidenschaft!«
   »Die deinige wohl auch, Zigeuner«, wandte er sich dann zu Onnen. »Weshalb wärest du sonst hier, Bursche?«
   Unser Freund hob den Kopf. Sein hübsches, in diesem Augenblick mit Schweiß bedecktes Gesicht war dunkelrot, seine Augen blitzten.
   »Ich bin kein Zigeuner, Herr Offizier, ich bin ein deutscher Mann wie Sie!«
   »Fehlgeschossen!« lächelte der andere. »Ich bin ein Däne!«
   Dabei rollte er die Fässer mit über das Pflaster und ließ dann für alle, die ihre Kräfte der Vaterstadt so opferfreudig widmeten, reichliche Erfrischungen bringen. »Du gefällst mir, Junge«, sagte er, Onnens lockigen Kopf streichelnd, »wie heißt du ? Und wenn du wirklich ein Deutscher bist, wie kommst du in diese Vermummung?«
   Onnen erzählte bescheiden und alle drei Herren horchten mit lebhaftem Interesse. »Also du warst in Moskau und Smolensk«, rief der Baron, »du hast ganz Rußland kennengelernt? Bei deiner Jugend ein großer Gewinn für die Zukunft. Wenn es dir Spaß macht, so besuche mich in den nächsten Tagen und bringe auch den Bären mit, hörst du? – Ich wohne am Schweinemarkt, in dem Hause unter den Bäumen.«
   Onnen dankte höflich, ohne jedoch das dargebotene Geldgeschenk des Barons anzunehmen. Es war jetzt vier Uhr morgens, das Bombardement hatte aufgehört und der Bauhof seinen Inhalt herausgegeben; auch das Schießen von den Wällen begann zu ermatten – hüben und drüben bedurfte man gleich sehr der Ruhe.
   Mehrere Hamburger begleiteten unsern Freund zur Herberge im Eichholz, wo Mikosch wachend saß, unfähig, die Augen zu schließen, bevor sein Schützling in den sicheren vier Wänden wieder angelangt war. Er streckte ihm beide Hände entgegen, seine Stimme klang unsicher vor tiefer Bewegung. »Nun, da bist du ja, Herr«, sagte er, »ich habe mich deinetwegen sehr geängstigt.«
   Onnen sah gerührt in das braune Gesicht des Alten. »Nenne mich nie wieder Herr, Mikosch, hörst du? Ich bin dir von Herzen dankbar für alle deine Treue, ich habe dich lieb, ›König Mikosch!‹«
   Und dann erzählte er ihm von den Ereignissen am Bauhof, von der Einladung des Barons und alledem, was er gesehen hatte. Der Zigeuner spitzte die Ohren. »Da gibt es eine gute Belohnung, du – ich will den Bären putzen und ihn gehörig füttern, damit er recht willig wird.«
   Onnen lächelte. »Ich glaube, daß für Geld und gute Worte gegenwärtig kaum noch etwas zu erlangen ist«, versetzte er. »Die Preise sind ganz unerhört.«
   Mikosch seufzte. »Weiß schon, Kind, weiß schon – eben darum müssen wir ja Trinkgelder erlangen. Ein Pfund Butter kostet zwei preußische Taler, ein Pfund Mehl neun Groschen und ein Spint Roggen sogar drittehalb Taler. Denke dir, eine kleine Steckrübe sechs Groschen! – Und Ruff verzehrt gegen vierzig auf einmal!« Onnen lachte. »Da mußt du die Aussicht auf eine Schenke noch ein wenig in die Ferne rücken, Alter.«
   Der Kopf des Zigeuners wiegte immer langsam von einer Seite zur anderen; er hob wie verstohlen die Hand mit dem Tuche und trocknete große Tropfen von seiner Stirn. »Du«, sagte er, »ich habe eine böse Nachricht erhalten – das Königreich Dänemark macht Bankrott!«
   »Und du besitzt dänische Kassenscheine, Alter?«
   Der Häuptling nickte nur, seine Hand zitterte. »Das ist ein schwerer Schlag«, murmelte er endlich.
   »Aber er betrifft doch nur das Geld«, tröstete Onnen. »Mir hat man den Vater gemordet, die alte Mutter hilflos hinausgestoßen und Hab und Gut geraubt! – Du kannst den verlorenen Schatz wiedergewinnen, Mikosch!«
   Der Zigeuner richtete sich straffer auf, seine Brust atmete tiefer. »Ja, ja«, rief er, »denke nur nicht, daß ich ein Geizhals sei, mein Junge. Laß fahren dahin! – Aber so ein bißchen weh tut‘s doch, das zu verlieren, was man Pfennig um Pfennig unter jahrelanger Mühe zusammengetragen hat. Ich muß es eben zu vergessen suchen – du hättest mir ja in dieser Nacht tot ins Haus gebracht werden können, und das wäre schlimmer gewesen.«
   »Noch schlimmer? Mikosch, hast du mich lieber als dein Geld?«
   »Ja, Herr, tausendmal ja! Ich habe dich von Herzen lieb!«
   Und Onnen antwortete nichts, er küßte den Alten, er fühlte tief, daß kein käuflicher Besitz der Erde ihr höchstes Gut, die Liebe eines treuen Herzens, ersetzen kann.
   Der Rest der Nacht verstrich ohne Störung, ebenso der folgende Tag. Ruff wurde herausgeputzt, Mikosch schenkte, was bei ihm nicht alle Tage vorkam, seiner Frisur und seinem Gesicht eine gründliche Säuberung, dann gingen alle drei zum Schweinemarkt, wo in dem Hause vor dem Ausgang der Spitalerstraße schon neugierige Kindergesichter hinter den Fenstern die Ankunft des Bären erwarteten. Ruff wurde mit Jubel begrüßt, er erhielt hier sogar noch Äpfel und Zucker, und selbst der lebenslustige Baron lachte herzlich, als das Kartenspiel zwischen dem Zigeuner und dem gelehrigen Vierfüßler begann. Onnen mußte erzählen, die Baronin bewirtete alle ihre Gäste auf das reichlichste und später lud ihr Gemahl sogar den jungen Norderneyer ein, häufiger ins Haus zu kommen.
   »In vierzehn Tagen ziehen wir nach Altona«, sagte er, »dort stehen uns ein großes Haus und ein Garten am Quäkerberg zur Verfügung; Ruff kann jederzeit junges Gemüse fressen und auch dir selbst denke ich einen Herzenswunsch zu erfüllen. Einer meiner Freunde in Emden, ein französischer Offizier, besorgt dir ein Briefchen an deine Mutter und ebenso die Antwort zurück.«
   Onnen sprang auf, dunkelrot vor Freude. »Herr Baron«, stammelte er, »ich bin der Sohn eines einfachen Fischers – wie komme ich zu der Ehre —«
   Der Baron lachte. »Daß dir ein Aristokrat gern einen rechten Gefallen erweisen möchte, mein hübscher Junge? Hat dich der ›Baron‹ so sehr erschreckt? Dann laß dir sagen, daß ich auch noch königlich dänischer Erb-Erz-Bannerherr bin, daß ich das Recht besitze, allemal wenn ein König gekrönt wird, die Reichsfahne zu tragen! – Komm her, Junge, gib mir die Hand; ein Herz, das warm für seine Mitgeschöpfe schlägt, ist mehr wert als alle Titel und Würden!«
   Onnen schlug zögernd ein und der Baron streichelte lächelnd sein erglühendes Gesicht. »Da siehst du meine liebe Frau«, sagte er, »sie war als Mädchen eine Leibeigene, wie du sie in Rußland kennengelernt hast. Ich schätze nur den Menschen, nie aber die äußeren Verhältnisse – dich habe ich ganz ins Herz geschlossen, weil du mutig bist, und das ist die hervorragendste Eigenschaft eines Mannes.«
   »Papa!« rief in diesem Augenblick der vierzehnjährige älteste Sohn des Hauses. »Papa, siehst du, ich bin auch mutig! Der Bär drückt mir die Hand!«
   Alles lachte, als Ruff umherging und jedem mit seiner gewaltigen Tatze zum Abschied die Hand schüttelte. Mikosch erhielt ein glänzendes Trinkgeld, er war von dieser neuen Bekanntschaft sehr eingenommen und meinte, daß Onnen ein wahres Glückskind sei. »Schreib nur gleich an deine Mutter«, riet er, »aber sei schlau, nenne keinen Namen und keine Adresse, denn der Brief könnte doch immerhin aufgefangen werden.«
   Das hatte unser Freund auch schon gedacht, er hütete sich, irgendeine Spur zu verraten, schrieb aber stundenlang der alten Frau über seine sämtlichen Erlebnisse und fragte nach allen denen, welche in der Heimat zu den näheren oder ferneren Erinnerungen seiner Jugend gehörten; dann brachte er den Brief in das Haus des Barons.
   Der sonst so lebensfrohe Herr war diesmal ernst. »Das Bombardement beginnt wieder«, sagte er, »die Stadt schwebt in höchster Gefahr. Geh nicht hinaus, mein Junge, du kannst, da alle Vorräte an Munition sicher geborgen sind, draußen nichts nützen.«
   »Aber wenn irgendwo ein Feuer entstände?« wagte Onnen einzuwenden.
   Der Baron zuckte die Achseln. »Brennt nur ein einzelnes Haus, so wird man es wohl löschen, aber ich fürchte, daß die ganze Stadt in Flammen aufgeht. Der Senat hofft immer noch auf den Beistand fremder Mächte – stattdessen sollte er die Stadt beizeiten übergeben.«
   Onnen empfahl sich, nachdem ihm der Baron die Besorgung seines Briefes fest versprochen hatte, und dann ging er durch die Stadt, um diese zu besehen. Oberst Hafner hatte den Befehl, Hamburg zu verlassen und sich nach Altona zurückzuziehen, natürlich befolgen müssen, die Dänen waren also fort und mit ihnen mehrere Kanonenboote, welche bisher den Hafen bewacht hatten. Der ganze Hamburger Berg, die heutige Vorstadt St. Pauli, befand sich im Zustande äußerster Aufregung; die Brücke vor dem nach Altona führenden Millerntor wurde unter ihren hölzernen Bogen mit Teertonnen belastet und von oben mit geteertem Stroh umwickelt, so daß der Zugang der Stadt in jedem Augenblick durch Flammen und durch die gänzliche Vernichtung der Brücke unmöglich gemacht werden konnte. Auf diese Weise war der Hamburger Berg schutzlos preisgegeben, denn auch die Zugbrücke am Dammtor hatte man der Zerstörung geweiht; eine Anzahl von Pionieren stand bereit, sie in jeder Minute zu durchhauen.
   Bange Unruhe herrschte in der ganzen Stadt, in jedem Herzen. Bald hieß es, daß Mecklenburger, bald, daß Schweden einrücken würden; niemand wagte zu hoffen, und doch konnte auch niemand den Gedanken an eine abermalige Franzosenherrschaft ohne Grauen, ohne die Absicht des äußersten, leidenschaftlichsten Widerstandes ertragen. Am Hafen standen Hunderte von Männern und beobachteten die Einschiffung einer Kompanie Hanseaten, die auf dem sogenannten Admiralitätsschiff, dem einzigen, das die Stadt besaß, nach Abzug der Dänen Wache halten sollten.
   Diese Leute waren keine Seesoldaten, kannten nichts von dem Dienst auf einem Schiffe und hatten ohnehin keine Führer; es sah traurig genug aus, als sie ungeschickt an Bord kletterten und daselbst bei jedem militärischen Manöver anstießen oder den Halt verloren.
   Der Abend sank herab, heller Mondschein beleuchtete den Hafen und die näherliegenden Inseln; das umbuschte Grasland vor St. Pauli dagegen, die zahllosen kleinen Kanäle zwischen den Weiden blieben im Halbdunkel. Steinwärder, die Wilhelmsburg und mehrere unbebaute Eilande sind sämtlich durch schmale Elbarme miteinander verbunden; von ihnen bis zum Festlande beträgt die Entfernung etwa eines Büchsenschusses Weite – an diesem Abend lagen sie im Zwielicht der ziehenden, bald den Mond verhüllenden, bald wieder zurücktretenden Wolken.
   Es war vielleicht elf Uhr, als von der Wilhelmsburg die erste Flamme aufblitzte – das Bombardement mit glühenden Kugeln hatte abermals begonnen.
   Ein Weheschrei tönte zum Himmel, aller Blicke kehrten sich gegen die bedrohte Stadt. Zwei, drei Geschosse auf einmal – wie lange würde Gott Gnade schenken und alle diese Kugeln harmlos gleich Regentropfen auf dem Pflaster zerschellen lassen?
   Wieder heulten die Sturmglocken, wieder rasselten die Spritzen aus ihren Schuppen hervor, erklangen Rufe und Trommelsignale; ein betäubender Lärm, gemischt aus Wutausbrüchen und Angstgeschrei, erfüllte rings die Luft.
   Immer mehr Kugeln, immer mehr. Niemand ahnte bis jetzt, zu welch einem verwegenen Handstreich diese Nacht benutzt werden sollte.
   Aller Aufmerksamkeit war den zerstörenden Geschossen zugewendet; kein Mensch bemerkte, daß sich‘s auf der Elbe, zwischen den Inseln zu regen begann, daß etwa sechzehn Boote und ein großes Schwimmfloß, bedeckt mit dunklen Gestalten, zum Vorschein kamen.
   Auch die Leute auf dem Admiralitätsschiff sahen sämtlich zur Stadt hinüber. Dort standen ihre Häuser, lebten ihre Lieben; sie beobachteten angstvoll die Richtung jeder Kugel, sie berechneten, ob dieselbe da eingeschlagen haben könne, wo eben die Stätte lag, für welche ihre Herzen bebten.
   Am Ausguck kein Posten, am Steuer kein Posten, die Kanonen verrostet, die Takelage in Unordnung, die Anker tief im Hafenschlamm begraben, so lag das Schiff, und seine Besatzung sah hinüber zum Lande, ohne den Inseln einen einzigen Blick, ja auch nur einen Gedanken zu schenken.
   Auf einem so bedeutenden Strome wie die Elbe kommen und gehen in den Häfen überhaupt zu jeder Stunde so viel Boote, daß niemand sie mehr beachtet. Hie und da zerstreut, scheinbar unabsichtlich näherten sich jene siebzehn Fahrzeuge dem Admiralitätsschiff.
   Der Widerschein der Kugeln beleuchtete den Himmel und die hohen Giebelhäuser der alten Kaufmannsstadt – noch hatte keine Brandrakete eingeschlagen.
   »Gott verläßt Hamburg nicht! Wir werden doch gerettet!«
   Und dann erscholl vom Bord des Schiffes ein Schreckensschrei: »Die Franzosen! Die Franzosen!«
   Eine allgemeine Unruhe bemächtigte sich der am Lande Stehenden. »Wo sind sie? Wo?«
   Wie die Katzen, an Strickleitern und Entertauen hängend, erkletterten die flinken Söhne des Südens, nachdem sie sich leise herangeschlichen hatten, das Verdeck. Binnen wenigen Minuten entbrannte ein Kampf, der ganz nach indianischem Muster geführt wurde. Die Franzosen hatten keine Schießwaffen mitgebracht, den Hanseaten waren die ihrigen gleich beim ersten Anprall entrissen worden – Mann an Mann, Brust an Brust wurde der Kampf ausgestritten, bei dem die glühenden Gefühle des gegenseitigen Hasses fast allein als Gesetz und Kommando galten.
   Auf je einen Hanseaten kamen zehn oder sechzehn Franzosen; die Übermacht behielt wie immer den Sieg, das Verdeck triefte von Blut, hie und da fielen zwei eng aneinandergeklammerte Soldaten in das Wasser, ein furchtbarer Tumult tönte zum Lande hinüber.
   Die Franzosen hatten endlich mit vereinten Kräften die Anker aus dem Schlamm hervorgezogen, das Schiff war flott und begann zu treiben; es schien, als erwecke dieser Umstand die entsetzten Zuschauer aus ihrer Erstarrung.
   »Sollen wir uns das Admiralsschiff stehlen lassen?« rief eine Stimme.
   »Auf sie! Auf sie! Wir haben ja Boote genug!«
   »Die Soldaten am Millerntor müssen uns ihre Waffen geben!«
   Ein Teil der Männer lief den ziemlich weiten Weg vom Strande bis zum Tor hinauf, ein anderer riß die vielen Jollen von ihren Pflöcken los. Das Wasser bedeckte sich mit Fahrzeugen, das Deck des Schiffes mit bunt zusammengewürfelten Gestalten; hie und da blitzte ein Messer, ein Schuß durchdrang die Stille der Nacht – immer mehr und mehr befreiten sich die Hamburger von der Gewalt der Räuber, immer häufiger stürzte Mann nach Mann in die Elbe.
   Onnen und noch ein anderer kämpften mit drei Franzosen um den Besitz des Steuerrades. Die Angreifer wollten das Schiff hinausbringen in den Strom und es dann an geeigneter Stelle auffangen, die Verteidiger dagegen ihre Feinde gefangennehmen und das Fahrzeug ans Ufer treiben.
   Niemand von den Umstehenden sah mehr nach Hamburg hinüber; wer kein Boot fand, der schwamm hinaus, um wenigstens im Wasser noch zwischen seinen bloßen Fäusten einen der verhaßten Gegner zu erdrosseln oder die in den Jollen Wache Haltenden totzuschlagen. Da galt keine Kriegsregel, kein Kommando, da gab es keinen Pardon; der Bestohlene hielt den Dieb gepackt und erwürgte ihn, das war alles.
   Onnen lag am Boden, über ihm schwang ein Franzose das Messer und war im Begriff, es dem wehrlosen Gegner in die Brust zu stoßen, als plötzlich derbe Fäuste ihn packten und rückwärts auf die Planken warfen. Alexei hatte den Freund überall gesucht, war dem Strome der erregten Menge gefolgt und kam gerade früh genug, um einen Todesstreich abzuwehren. Er lachte, seine weißen Zähne glänzten. »Das Schiff ist gerettet, Herr!« rief er lustig. »Steh auf!«
   Von allen Seiten kletterten die Hamburger an Bord, Schüsse knallten, in wilder Hast suchten die Franzosen zu entfliehen – langsam treibend, dem Zuge der Wellen folgend, glitt das Schiff auf den Strand.
   Blut sickerte von allen Planken, Blut glänzte im Widerschein des roten Lichtes, das die Brandraketen warfen. Soviel schwere, schreckliche Nächte Hamburg während der Franzosenherrschaft durchlitten – die auf den 22. Mai des Jahres 1813 war der grauenvollsten, schrecklichsten eine.
   Elf Franzosen gerieten in Gefangenschaft, einige wenige konnten schwimmend die Elbinseln erreichen – weitaus die meisten ertranken. Aber mit ihnen auch viele Hanseaten, viele junge, blühende Leute, deren Angehörige während dieser Schreckensstunden, ihre beste Habe in der Hand, Wache hielten, von Augenblick zu Augenblick erwartend, daß die nächste Kugel einschlagen und Tod und Vernichtung unter das friedliche Dach tragen werde.
   Auch diesmal geschah kein Unglück. Als Onnen und Alexei in die Herberge kamen, hatte das Schießen aufgehört und für den Augenblick löste sich die bange, furchtbare Spannung der Nerven.
   Wieder ein Tag, an dem die Waffen ruhten. Draußen auf dem Hamburger Berge fischte man die Leichen der Gefallenen und Ertrunkenen am Strande und mit Booten aus dem Wasser. Die Kompanie Hanseaten, welche höchstens eine Stunde lang das Admiralsschiff zu bewachen gehabt hatte, war bei dieser Gelegenheit bis auf zwölf Mann zusammengeschmolzen, alle übrigen lagen tot auf dem Grunde des Stromes oder wurden in langen Zügen durch die Stadt zu den verzweifelnden Ihrigen getragen. Wer sein Kind, seinen Bruder vermißte, der suchte händeringend, der fragte und horchte, der sah mit Todesangst unter die verhüllenden Tücher der Bahren, um sich dann seufzend, im Augenblick erleichtert, abzuwenden oder mit lautem Verzweiflungsschrei auf einen geliebten Toten zu stürzen.
   Vor dem Dammtor bewegten sich auf den Kirchhöfen fortwährend schwarze Gestalten, Stunde um Stunde erhielt das Grab seine Opfer; bitterer und immer bitterer wurde in der ganzen Stadt die Stimmung. Es gab Leute, welche bei den fortwährenden Beerdigungs– und Totenzügen in Krämpfe fielen, es gab solche, die den nahen Untergang der Welt prophezeiten, und wieder andere, von deren bleichen Lippen verworrene Worte fielen, arme Seelen, deren Kräfte den gehäuften Schrecknissen nicht gewachsen waren. Zwischen allen diesen standen ganze Scharen, die an allen Straßenecken ihre Hände ausstreckten und laut nach Brot schrien. Der Hunger, der nagende furchtbare Hunger hatte seinen Einzug gehalten.
   Von den Bäumen verschwanden die jungen Blätter, vom Boden das Gras – man hatte es gekocht und zu essen versucht.
   Tote Pferde, Katzen und Hunde gaben willkommenen Braten. Hie und da in den Straßen oder auf den Wällen lag eine gekrümmte stille Gestalt, das Gesicht abgezehrt bis zum Skelett, die Hände wie Krallen. Scheuen Blickes flohen die Vorübergehenden. – »Der ist verhungert, dahin! An wen kommt jetzt die Reihe?«
   »Brot! Brot!« Wie wahnsinnig riefen es die Armen; haufenweise durchzogen sie die Straßen und begannen sich zusammenzurotten vor den Häusern der Bäcker und Krämer. »Brot! – unsre Kinder verhungern!«
   In der Nacht flogen dann die Kugeln. Man schlief jetzt trotz dieses Umstandes vor Ermattung, vor gänzlicher Kraftlosigkeit; man lag unter dem Dache, das im nächsten Augenblick durchschlagen werden konnte, in einer Art von bleiernem Stumpfsinn.
   Allmählich immer mehr und beängstigender füllten sich die Krankenhäuser, trug man aus den engbevölkerten Gängen und Höfen die Leichen Gestorbener hervor. Der Typhus war ausgebrochen; zu allen schon vorhandenen Schrecken gesellten sich die einer verheerenden Epidemie.
   Die allgemeine Unzufriedenheit, die Unruhe und Aufregung wuchsen von Stunde zu Stunde. Die größere Hälfte der Senatsmitglieder hatte Hamburg verlassen, die Wachen wurden nicht mehr bezogen, die Bürgerwehr unter dem Obersten von Heß war aufgelöst. Langsam hob ein grinsendes Gespenst aus den Nebeln der Zukunft sein Medusenantlitz – die Anarchie, das Aufhören aller Ordnung.
   Die einen tobten und verlangten Brot, ohne zu begreifen, daß es keine Vorräte mehr gab; die anderen legten todesmatt ihre Hände in den Schoß – die wenigen besser Gestellten flohen nach Altona.
   Und nachts flogen die Brandraketen, hie und da treffend, entweder in ein Haus oder in die Elbe oder in ein Schiff. Es brannte zuweilen, aber ohne großen Schaden anzurichten – man kümmerte sich um nichts mehr.
   Nur die Unruhe unter den Hungernden wurde größer. Man plünderte die Bäckerläden, man drohte und murrte laut.
   Dann schienen die Franzosen die Geduld zu verlieren. In der Nacht zum 29. Mai verzehnfachten sie ihre Anstrengungen; anstatt mit einzelnen Kugeln die Bürger mehr zu erschrecken als zu schädigen, eröffneten sie ein vollständiges Bombardement.
   Es zischte und glühte, es zerschlug die Dächer und Gesimse, taghell war die Nacht erleuchtet, Hunderte von Kugeln überschütteten die Stadt und die Elbe.
   Oberst von Heß verließ Hamburg; der Senat, soweit er noch gegenwärtig war, beriet und beriet, ohne zu einem Entschlüsse gelangen zu können, und auf den Straßen gärte ein Tumult, der in jedem Augenblick zum offenen Losbrechen aller wilden, zügellosen Elemente führen konnte.
   Am Johannesbollwerk standen Oberst Hafner und Baron Liliencron nebeneinander. »Etwas muß geschehen«, erklärte letzterer, »oder Hamburg ist verloren.«
   Der Oberst nickte. »Ich glaube es auch. Der Senat ist zu keiner Übergabe zu bewegen und doch kann er die Stadt nicht halten.«
   »Hast du Näheres gehört?« fragte der Baron.
   »Ich war ja heute morgen bei der Sitzung zugegen. Man fürchtet, daß die Franzosen der Stadt eine Kontribution auferlegen werden, an der sie zugrunde gehen muß.«
   »Und will sie daher lieber gleich mit Stumpf und Stiel zu Asche verbrennen! – Ich möchte dir einen Vorschlag machen, Hafner!«
   Eine Handbewegung antwortete ihm. »Bitte!«
   »Wir beide müssen hinüber zum General Vandamme und ihm die Dinge vorstellen. Wenn er friedlich einzieht und keinerlei Strafen verhängt, so sollen ihm Hamburgs Tore offen stehen – du nimmst dem Senate gegenüber für diesen Vorschlag die Verantwortung auf dich, nicht wahr?«
   Der Oberst nickte. »Das wohl, aber —«
   »Laß mich ausreden. Du willst sagen, daß dir der General völlig fremd sei – gut; ich dagegen kenne ihn persönlich von Paris her.«
   Der Oberst sah auf die Elbe hinaus. »Eine böse Fahrt«, sagte er, »aber du hast recht, Andreas. So allein läßt sich‘s machen. Freilich, wenn wir irgendeinen Menschen finden, der uns in solcher Nacht hinüberrudert.«
   »Dafür laß mich sorgen. Die Sache soll ganz und gar Geheimnis bleiben – ich ziehe nur den jungen Norderneyer ins Vertrauen; er und ich rudern.« Die beiden Herren begaben sich in ein nahegelegenes Wirtshaus, und Onnen wurde durch einen Burschen herbeigeholt. Hinter ihm erschien Mikosch; der Alte wollte wissen, was man mit seinem Schützling beabsichtige.
   »Nehmt mich mit, ihr Herren«, bat er eindringlich, »zur Not kann ich auch rudern! Die Kugeln fliegen wie Schneeflocken – ich hab einen Abscheu vor dem Wasser.«
   Der Baron lachte ihn aus. »Leg dich aufs Ohr, Alter, träume von güldenen Dukaten und überlasse andern Leuten die Wasserpartien. Dein Junge schwimmt natürlich wie ein Fisch, er nimmt die Breite der Elbe zweimal, wenn es sein muß.«
   »Gewiß!« rief Onnen. »Gewiß! Ich rudere die Herren hinüber.« Der Baron drückte in die Hand des alten Häuptlings ein Geldstück. »Halt den Schnabel, Zigeuner. Der Junge soll ja doch ein Mann werden, kein altes Weib. So, nun vorwärts in die Jolle!«
   Das nächste beste Fahrzeug wurde vom Pflock gelöst und Onnen fand nur noch gerade Zeit genug, um dem ängstlich dastehenden Mikosch zum Abschied die Hand zu drücken. »In zwei Stunden bin ich ja, will‘s Gott, wieder hier, Mikosch. Geh du ruhig zu Bette!«
   Mikosch schüttelte stumm den Kopf; er sah das Boot hinausschießen auf das Wasser und wie in ein Meer von Glut und Glanz tauchen; seine Hand bewegte sich, als wolle er hinübergreifen – dann kauerte die dunkle Gestalt neben einem an der Kette liegenden Fahrzeuge und blieb regungslos wie ein Steinbild sitzen.
   Der Baron ruderte von einer, Onnen von der anderen Seite. Mitten hinein in den Strich der Kugeln glitt die Jolle, rechts und links fielen sie in das hoch aufspritzende Wasser, gleichsam widerwillig, zischend und dampfwirbelnd. Oft nur auf Schrittweite entging das kleine Fahrzeug dem Verderben.
   Onnens Herz schlug schneller. Drüben am Ufer der Wilhelmsburg standen französische Wachtposten – wenn ihn einer derselben zufällig erkannte, so war er verloren. Den Deserteur konnte keine Macht der Erde beschützen.
   Aber freilich, das ließ sich nur schwer denken. Sein einziger wirklicher Feind, Adam Witt, lag tot in Rußlands Erde, ebenso Oberst Jouffrin; es würde keinem Menschen einfallen, in dem Zigeuner, der sich selbst so keck dem Löwenrachen näherte, einen fahnenflüchtigen Soldaten zu suchen.
   Einmal streifte eine Kugel den Bootsrand. Es schaukelte und spritzte – während eines Augenblickes hatten doch die Herzen aufgehört zu schlagen.
   In Hamburg flammte ein Feuer; das Brausen eines tausendfältigen Geräusches und Tobens klang herüber, auf den Elbinseln Moorburg, Ochsenwärder und Ellernbrook knatterte Kleingewehrfeuer; Kanonendonner grollte dazwischen – man kämpfte und die Franzosen schienen Sieger. Ganze Scharen von größeren und kleineren Fahrzeugen glitten über die Fluten, schattenhaft, wie Gespenster; Uniformen schimmerten darin, Waffen, Knöpfe, leises Wimmern trug der Wind hinaus auf das Wasser.
   Die Hanseaten waren von Ochsenwärder vertrieben; jetzt galt es nur noch, das unmittelbar vor Hamburg im Hafen liegende Steinwärder zu nehmen, dann konnten die Franzosen in die besiegte Stadt einziehen.
   »Es ist höchste Zeit«, sagte leise der Baron.
   Jetzt war das Boot über den Strich der fallenden Kugeln hinaus und endlich lag es am Strande der Wilhelmsburg.
   Ein Wachtposten schlug an. »Qui vive?«
   »Ein dänischer Offizier und seine Begleiter! Wir wünschen Seine Exzellenz, den Herrn General Vandamme zu sprechen.«
   Onnen blieb im Boot zurück. Den Wachtposten kannte er nicht, aber es schien ihm doch besser, das Land zu vermeiden; er sah, wie die beiden Dänen, von dem ersten Posten an den anderen überliefert, im Dunkel verschwanden und dann wurde alles still.
   Gleichförmig schlugen die Wellen an das Ufer. Schuß um Schuß krachte von den anderen Inseln herüber, Wolken blauen Pulverdampfes zogen durch die Luft; hüben und drüben tobte der Kampf zwischen den beiden Nationen, deren Haß so in Fleisch und Blut übergegangen war, daß er nimmer wieder weichen zu können schien.
   Onnens Gedanken flüchteten aus dem Wirrsal ringsumher zu dem stillen Dache, unter welchem jetzt seine alte Mutter schlief. Wenn sie gewußt hätte, wie nahe ihn die Gefahr von allen Seiten her umdrohte!
   Sein Brief mußte bereits in ihren Händen liegen, der Baron hatte es ihm gesagt – nach fünf bis sechs Tagen konnte er eine Antwort haben. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken an eine Nachricht aus der Heimat; wie ein Glück ohnegleichen erwartete er diese Zeilen von der Hand seiner alten Mutter. Ganz Ostfriesland war noch von den Franzosen besetzt, ebenso Bremen, an die Rückreise wollte der vorsichtige Mikosch fürs erste nicht denken – gerade deswegen freute sich Onnen so sehr auf den Brief. Ob wohl die Mutter noch in Uve Mensingas Haus wohnte? Ob der brave Wattführer für sie sorgte wie ein Freund in der Not?
   Immer tiefer versenkte er sich in grübelnde Gedanken. Rings um ihn her erloschen die Lichter der bogenförmig über die Elbe geschleuderten Kugeln, verstummten die Geschütze und das Toben des Kampfes auf den Inseln; erst die Stimme des Barons weckte den jungen Menschen aus seinen Träumereien. »Halloh, Junge, schläfst du denn da im Boot?«
   »Gewiß nicht, gnädigster Herr!«
   Und Onnen fuhr auf. »Sie schießen nicht mehr!« rief er ganz verwirrt.
   Die beiden Offiziere lachten. »Nein, sie schießen nicht mehr. Dem Himmel sei Dank, das Unglück ist abgewendet!«
   »Hafner«, setzte der Baron rasch hinzu, »meinen Namen laß dem Senate gegenüber nur ganz aus dem Spiel. Ich bin mitgefahren, um dir bei dem General, da ich ihn persönlich kenne, eine Audienz zu verschaffen, weiter nichts.«
   »Mehr war auch nicht nötig«, versetzte lächelnd der Oberst.
   Das Boot glitt zurück nach Hamburg und legte am Johannesbollwerk wieder an. Aus dem Schatten der Häuser erhob sich eine dunkle Gestalt – Mikosch streckte beide Hände aus, stumm, aber mit einer Bewegung, als wolle er den jungen Menschen an seine Brust ziehen.
   Onnen sprang ihm entgegen. »So lange hast du gewartet, Alter?«
   Auch der Baron legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wie die Henne, als sie das Entenküken ausgebrütet hatte!« sagte er lachend, aber doch gerührt. »Na, da hast du den Jungen wieder, brauner Geselle! – Adieu übrigens, ihr alle; meine Frau wußte, was ich für diese Nacht beabsichtigte, sie steht am Fenster und ängstigt sich.«
   Er drückte die Hand des Obersten, dann eilte er davon, und nun trennte sich die ganze kleine Gesellschaft, aber nicht eher, als bis der Offizier unserm Freunde für den geleisteten Dienst eine Bezahlung angeboten hatte. Onnen dankte bescheiden. »Herr Oberst, ich möchte die Erinnerung an diese Nacht nicht für etwas Geld so gleichsam verkaufen! Bitte, erlauben Sie mir, es auszuschlagen!«
   Das wurde mit freundlichen Worten gewährt und nun konnten sich Mikosch und Onnen nach Hause begeben. Alle Straßen waren voll von Menschen, hundert Meinungen und Vermutungen wurden laut; man stritt hin und her, der Gedanke an eine Verständigung zwischen dem Senate und den Franzosen gewann immer mehr Boden, wurde aber in sehr verschiedener Weise aufgenommen. »Nun sind wir verloren!« schrien außer sich die einen.
   »Im Gegenteil, wir sind gerettet!«
   »Ein Landesverräter, wer das behauptet!«
   Und dann entspannen sich Straßenkämpfe, an denen ganze Gruppen von Personen jedes Alters und Standes teilnahmen. Die Nacht ging über in den Tag, das Treiben wurde immer ärger, die Haltung drohender und gereizter. Alles scharte sich um das Rathaus, alles erwartete mit steigender Spannung irgendeine Nachricht, eine Proklamation oder einen Tagesbefehl; etwas Entscheidendes mußte geschehen sein, das fühlte man.
   Gegen neun Uhr morgens erschien eine amtliche Bekanntmachung, des Inhaltes, daß die Stadt kapituliert habe und daß sogleich als Vorläufer der Franzosen vier Bataillone Dänen einrücken würden. »Es ist Hamburg Gnade versprochen worden«, hieß es, »ein Kriegsgericht soll nicht gehalten und eine Kontribution nicht eingefordert werden, aber binnen zwölf Stunden müssen wir die Tore öffnen und alle Gewehre am Bauhof abliefern.«
   Ein Schrei der Verzweiflung folgte diesen Worten; als stehe ein Einfall reißender Tiere zu erwarten, so lief die Bevölkerung ratlos durcheinander.
   »Wer die Achtung vor sich selbst, die Liebe für sein Vaterland noch nicht verloren hat, der liefert seine Waffen nicht ab! – Ich sterbe, aber ich gebe den Feinden keine Kugel, um sie deutschen Männern ins Herz zu schießen!«
   »Brav gesprochen. Wir weigern uns!«
   »Und werdet schmählich bezwungen!« rief eine andere Stimme.
   »Das wollen wir erst sehen. Ich schlage vor, alle Gewehre in die Kanäle zu werfen, hierhin und dorthin, dann sind sie für den Augenblick wenigstens unbrauchbar gemacht!«
   »Das ist ein gutes Mittel! Schnell!«
   »Laßt uns Generalmarsch schlagen!«
   »Aber die Bürgergarde ist ja aufgelöst!«
   »Wir bilden eine neue, wenn auch ohne den flüchtigen Obersten!«
   »Es sind noch viele andere Offiziere auf und davon!« sagte jemand.
   »Schadet nicht – laßt sie laufen. Wir werden ja auch ohne diese Herren unsere Gewehre in die Kanäle werfen können.«
   Und der Tambour setzte sich in Bewegung. Das bekannte »Kammerad kumm, Kammerad kumm!« schallte durch Hamburgs Straßen.
   Erstaunte Gesichter sahen durch Türen und Fenster; Frauen fielen in Ohnmacht. Stand der Feind vor den Toren? Was gab es? Die sonderbar unmilitärisch aussehenden Gestalten der Bürgerwehr in blauer Uniform mit Käppi und weißem Bandelier erschienen auf den Sammelplätzen. Wo war der Anführer, wo die Offiziere!
   Fort – spurlos verschwunden, alle auf dänisches Gebiet übergegangen, solange ihnen noch Zeit blieb. Niemand traute den Franzosen, niemand wollte den Kopf in die Schlinge stecken; unter wieviel nichtigen Vorwänden die Kreaturen Napoleons ihre Versprechungen zu umgehen verstanden, das wußten ja die Hamburger nur zu wohl.
   Ängstlich sahen die Bürgergardisten einander an. Was nun? Hier forderte man sie auf, die Waffen abzuliefern und sich durch ihre persönliche Haltung der Kapitulation anzuschließen; dort hieß es: »Weigert euch! Weigert euch! Vernichtet die Gewehre, zerbrecht die Bajonette!«
   Beide Ansichten fanden ihre Vertreter. Ganze Haufen ältlicher Bürger, ruhige Leute, die den Widerstand gegen eine Behörde für Sünde hielten, ehrsame Handwerksmeister begaben sich ohne Aufenthalt zum Bauhöfe und lieferten alles ein, was sie an Waffen besaßen, das Küchenbeil und den Säbel, der noch von Großvaters Zeiten herstammte, nicht ausgenommen; wieder andere, jüngere und gebildetere Leute, trugen unter Gesang und Fahnenschwenken ihre militärische Ausrüstung in die Kanäle oder zerschlugen alles an den Ecksteinen.
   Während dieser Vorgänge ließ eine dritte Partei die Sturmglocken läuten und Alarm schlagen. Auch hier fand sich ein Wortführer. »Auf! Auf! baut Barrikaden! deckt mit euren Körpern die Wälle und Tore! Schlagt zu Boden, was von Ergebung spricht!«
   Eine Schar von Schülern des Johanneums, von den jüngeren Söhnen der Reichen, sammelte sich um die Führer dieser aufrührerischen Richtung. »Nehmt den Tollhäuslern da doch die Waffen weg!« rief eine Stimme.
   »Welcher vernünftige Mensch wirft denn die kostbarsten Verteidigungsmittel ins Wasser? – Man muß die Leute zwingen, sie herauszugeben!«
   »Oder man fischt sie wieder auf!«
   Gesagt, getan. Einer schleuderte das Gewehr in den Kanal, der andere sprang nach und zog es schleunigst wieder hervor, ein dritter, einer von der ängstlichen Partei, nannte alle beide Landesverräter.
   Während der Nacht wurden die Häuser mehrerer flüchtig gewordener Offiziere in Brand gesteckt; diejenigen, welche ihrer Aufregung, ihrer Erbitterung nicht Herr zu werden vermochten, schossen ohne Ziel, ohne Grund auf den Straßen oder trafen auch mit vorbedachter Sicherheit heimlich ein Herz, für das ihre Kugeln schon längst bestimmt gewesen.
   Wieder lagen Tote, mit dem Gesicht nach unten, auf den Wällen; niemand bemerkte sie. An den Ecksteinen, neben den gehäuften Trümmern zerschlagener Waffen standen finster blickende Wächter; der einrückende Feind sollte erkennen, daß nicht alle Bewohner Hamburgs sich der Übergabe geneigt erwiesen hatten.
   So brach der Morgen an, der des 30. Mai 1813. Eine Stafette aus dem Hauptquartier des General Vandamme hatte den Einzug der Dänen auf neun, den der Franzosen auf elf Uhr vormittags angekündigt – schon kurz nach acht begann das leidenschaftliche Treiben in den Straßen allmählich nachzulassen und gegen neun war alles todesstill, die Fenster verhüllt, die Türen geschlossen, Weg und Stege leer.
   Im Innern der Häuser herrschte dumpfe Stille; selbst Männer weinten. Erschossen und ertrunken die einen, geflüchtet die anderen – so hatte jede Familie ihr besonderes Leid zu tragen, so sahen alle mit der Hoffnungslosigkeit des äußersten Schmerzes in die Zukunft. Wovon leben? Wovon Tausende habgieriger Feinde ernähren und ihre bekannten ungemessenen Forderungen befriedigen?
   Hamburg war »außer dem Gesetz« erklärt, es war dem Tyrannen Davoust und seinem Helfershelfer Vandamme – »Wut« und »Verdammt« im Volksmunde – mit gebundenen Händen überliefert. Was würde folgen?
   Man hatte allerdings versprochen, keine Kontribution auszuschreiben, aber wie lange erinnerten sich meistens Napoleons Generale eines gegebenen Wortes? Bis die Taschen leer waren. Dann wurde zur Exekution ein Grund gefunden und der Bürger war ausgeplündert.
   Einige Vertrauensselige schüttelten die Köpfe. »Hamburg kapitulierte unter der Bedingung, keinerlei Strafgelder zu bezahlen – das müssen die Franzosen halten.«
   »Das halten sie keine vierzehn Tage lang!«
   Ein Grauen schüttelte jedes Herz. Unbestimmte Bilder jener entsetzlichen Leiden, die nun hereinbrachen, jener Folterqualen der nächsten Zukunft, erfüllten das Bewußtsein aller. Außer dem Gesetz erklärt von einem Eroberer ohne Gewissen – wen sollte der verlassene kleine Staat um Beistand anflehen? Wem seine Verzweiflung klagen.
   Es schlug neun. In der Ferne erklangen Trommeln – das waren die Dänen, die Verbündeten der Franzosen, sonst aber befreundete Nachbarn, mit denen Hamburgs Bewohner im besten Frieden verkehrten. Sie besetzten ruhig die von den Bürgergardisten verlassenen Wachen und zogen dann in die Kasernen. Erst als die Scharen Napoleons einrückten, erschien der gefürchtete wirkliche Feind.
   Eine Stafette aus dem Hauptquartier zu Wandsbek sprengte voraus und überbrachte dem Senat einen Befehl, vorläufig folgendes bereit zu halten: »Je sechzigtausend Rationen: Brot à 56 Lot, Branntwein à 1/8 Liter, Fleisch à 20 Lot, Bier à 1 Liter, außerdem Salz, Essig, Brennmaterial und fünfzig lebende Ochsen.«
   Die Boten des Senats liefen durch die Stadt und fragten und baten. Eine schnell zusammengesetzte Kommission begab sich auf die Dörfer hinaus, um Vorräte zur Stelle zu schaffen.
   Es wurde elf Uhr – der Augenblick, wo die Franzosen erscheinen sollten, war da.
   Von einer Gruppe Unzufriedener zur anderen ging Oberst Mettlercamp, der Chef des dritten Bataillons der aufgelösten Bürgerwehr, und redete den Leuten zu, sich keine Widersetzlichkeiten zu gestatten. Er traf den richtigen Ton, um gerade die Erbittertsten, Entschlossensten zu gewinnen. »Leute«, sagte er, »spart eure Kräfte für künftig; wer weiß, was noch geschieht. Es kommt vielleicht der Tag, wo Hamburg seiner Söhne bedarf, wollt ihr alsdann fehlen?«
   Das half. In so manchem Auge blitzten Tränen, so manche Brust barg kaum die Fülle des Wehs, aber doch blieb selbst der Leidenschaftlichste unter diesen jungen Leuten ruhig. Die Franzosen zogen ein, ohne Widerstand zu finden.
   Onnen hatte schon vorher erfahren, daß es die zweiunddreißigste Militärdivision sei, welche Hamburg besetzen sollte – er atmete auf. Die, zu der seine Bekannten gehörten, war die einunddreißigste; es gab also nichts zu fürchten.
   In größter Ordnung, ohne irgend einen Übergriff, ja ohne persönliche Bemerkungen hielten die Truppen ihren Einzug – wieder, wie in Moskau, durch todesstille, verödete Straßen. Bataillonsweise verteilt, nahmen sie die zahlreichen Marktplätze in Beschlag und nun entwickelte sich ein seltsames Treiben.
   Von den Bagagewagen packten die Soldaten ihre Marschzelte und schlugen sie auf, während sogleich alle Brunnen der Stadt militärische Wachen erhielten; die Mannschaften durften nichts genießen, als was vor ihnen der Lieferant oder Verkäufer selbst probiert hatte – sie hielten unser deutsches Volk für fähig, die Soldaten des Feindes reihenweise und heimtückisch zu vergiften.
   Auf dem Großneumarkt, Zeughaus– und Gänsemarkt, an der Esplanade und auf dem Spielbudenplatz brannten die Biwakfeuer der Franzosen – die Türen der Petrikirche wurden gewaltsam geöffnet und dort alle Offizierspferde untergebracht; dann befahlen die Machthaber für den Abend eine Illumination.
   Die Stadt prangte im Kerzenlicht, aber sie schien ausgestorben. Nur das Militär bewegte sich auf den Straßen, sonst niemand. Aber ja doch! die Leichenträger. In den unteren Schichten der Bevölkerung wütete die pestartige Krankheit mit immer steigender Gewalt; wohin das Auge sah, da erblickte es Särge, meist platte, mit irgendeinem Tuche barmherzig verhüllte weiße Kisten, in denen man die unglücklichen Opfer ohne Sang und Klang hinaustrug zum letzten Bette. Niemand war da, um der Seuche energisch entgegenzutreten, niemand half den Armen oder tröstete sie, nur für die Soldaten wurde insoweit gesorgt, daß man schleunigst ein größeres Lokal, das des Lombards, ausräumte und zum Hospital einrichten ließ.
   Eine Bekanntmachung jagte die andere. Der hamburgische Korrespondent, die noch heute erscheinende älteste Zeitung Hamburgs, mußte ihren Titel ändern und zum zweitenmal als Journal du département des bouches de l‘Elbe in die Welt hinausgehen.
   Eines Morgens kam der Befehl für alle nicht in Hamburg ansässigen Fremden, sich bei dem französischen Polizeidirektor zu melden und ihre Legitimationspapiere mitzubringen. Sie sollten dann entweder eine Erlaubnis zum Bleiben oder einen sofortigen Ausweisungsbefehl erhalten.
   Mikosch beruhigte seinen Schützling. »Meine Pässe sind in Ordnung«, sagte er. »Schlimmstenfalls gehen wir nach Altona, obwohl ich lieber hier bleiben möchte – die Soldaten haben allerlei Wertstücke in den Taschen, geraubte Gegenstände natürlich, Silber und Gold aus den Kirchen von Moskau, aber unsre Hamburger Juden geben ihnen gutes Geld dafür, und das werfen sie mit vollen Händen weg, sobald Ruff erscheint und eine Pfeife Tabak raucht oder ein Lied spielt. Gestern hatte ich auf dem Zeughausmarkt in weniger als drei Stunden über zehn Rubel zusammengebracht.«
   Onnen hörte ihn kaum. »Muß ich mitgehen?« fragte er unruhig.
   »Jedenfalls, Herr! Auch Alexei.«
   So zogen denn alle drei befohlenermaßen zum Polizeiamt, wo sich die Menge auf den Treppen und in den Gängen drängte; lauter blasse verkümmerte Gesichter, Frauen in Trauer, Krüppel, Kinder und junge Mädchen.
   Alle diese Unglücklichen erwarteten von den Lippen der Machthaber den Schicksalsspruch, welcher sie vielleicht binnen weniger Minuten ins Verderben stürzen mußte. Wenn es hieß: Fort! – wohin sollten sie sich dann wenden? Das ganze benachbarte Gebiet war von den Franzosen besetzt, Altona mit Arbeitskräften jeder Art überfüllt; es gab keine Zuflucht, die den Bedauernswerten offengestanden hätte.
   Zitternd, oft todesblaß legten sie ihre Dokumente auf den Tisch. Die Fragen des Beamten waren in jedem Falle dieselben. »Zahlen Sie Steuern und wieviel?«
   Hieß es: Nichts, ich bin ein armer Schreiber oder Lohndiener, eine Krankenwärterin, eine Näherin, dann erfolgte rasch der Bescheid »Binnen vierundzwanzig Stunden hinaus!«, und wenn die Betroffenen dagegen protestieren oder flehentlich bitten wollten, so schoben ein paar bereitstehende Gendarmen sie kurzweg zur Tür und andere Personen kamen an die Reihe.
   Nur eine Ausnahme kehrte immer wieder. War der Vorzeiger eines Passes ein kräftiger Mann, so erhielt er ohne alle Weitläufigkeiten die Erlaubnis, in der Stadt zu bleiben. Frauen und Kinder, alte Familienväter wurden samt und sonders ausgewiesen.
   Jetzt kam die Reihe an den Zigeuner. »Russische Pässe? Hm, hm!«
   Zwei Beamte flüsterten halblaut, dann mußten Onnen und Alexei vortreten. Prüfende Blicke musterten ihre Gesichter, ihre jungen kräftigen Gestalten – der Protokollführer nickte zufrieden. »Ihr könnt bleiben, solange ihr wollt!«
   Ein Schmerzensschrei von den Lippen eines Weibes unterbrach den Franzosen. »Das sind Zigeuner«, rief die Unglückliche, »fahrendes Gesindel, Diebe – und solche Menschen dürfen nach Belieben in Hamburg bleiben, während eine Mutter mit sechs Kindern auf die Straße geworfen wird. Ist das gerecht, ist es christlich?« »Hinaus!« donnerte der Beamte.
   Die Frau drohte ihm, sie war außer sich. »Was habe ich den Franzosen getan?« schrie sie. »Was kümmert sich wohl ein armes Weib um die Händel der Großen? Ich will hier in Hamburg Kranke pflegen und mit meiner blutsauren Arbeit sechs Kinder redlich ernähren – das Recht soll man mir lassen.«
   »Ja! Ja!« riefen andere Stimmen. »Jagt dafür das landfremde Gesindel hinaus!« Man scharte sich um die Frau und verhinderte die Gendarmen, sie vor die Tür zu setzen. »Da ist der blinde Tiroler«, schrie einer aus dem Haufen, »man kennt ihn seit zwanzig Jahren als Straßensänger; er hat seine Gönner, seine Freunde – weshalb muß der Alte jetzt plötzlich fort?«
   Die Gendarmen zogen ihre Seitengewehre, Männer und Frauen fielen ihnen in die Arme, es entstand ein Tumult, der in eine Schlägerei überging und den beide Parteien noch draußen auf der Straße fortsetzten. Der Pöbel hielt es mit den Ausgewiesenen, die Beamten bekamen Beistand von den Soldaten, und so wurde schließlich die erste Anstifterin des Streites mit blutendem Gesicht und zerrissenen Kleidern ins Gefängnis geschleppt. Der Volkshaufen wälzte sich dem Zuge nach, man heulte und pfiff, die Soldaten erhielten Steinwürfe – noch stundenlang dauerte das Toben, dem neue bittere Bedrängnisse folgen sollten.
   Zwölf Stunden später erschien ein Tagesbefehl, in dem Versammlungen, Vereine und gesellige Zusammenkünfte aller Art, auch fremde Zeitungen, Bilder und Broschüren verboten wurden. »Sind mehr als acht Personen beieinander«, hieß es, »so gilt das als Verstoß gegen dieses Gesetz; die Schuldigen werden sofort erschossen; Frauenzimmer mit Ruten gepeitscht und eingekerkert.«
   Ein Weheschrei ging durch ganz Hamburg – trotz seiner Grausamkeit, seines bitteren Unrechtes war aber dieser Befehl doch nur ein Vorläufer des weit größeren Erschreckens, das am selben Tage nachfolgte.
   Ein Bescheid aus dem Hauptquartier des Kaisers gebot, aller Versprechungen ungeachtet, dem Senate die Herbeischaffung einer Strafsumme von achtundvierzig Millionen Mark; zugleich wurde Marschall Davoust beauftragt, Hamburg in eine Festung zu verwandeln und über die Veddel hinweg durch eine Brücke mit dem benachbarten Harburg zu verbinden.
   Die Stadt soll zehntausend Arbeiter stellen, hieß es, was an dieser Zahl fehlt, das ist aus den Häusern zu holen oder von den Straßen aufzugreifen, ohne Ansehen der Person oder des Standes. Ferner soll im ganzen Umkreise der Stadt und in einer Breite von sechshundert Schritten alles dem Boden gleich gemacht werden. Die betreffenden Häuser sind zu verbrennen.
   »Also darum!« rief Mikosch. »Nun begreife ich, weshalb sämtliche arbeitsfähige Männer in der Stadt bleiben durften.« »Du meinst, wir müßten Schanzen bauen?« »Natürlich! Hätte ich das gewußt, so wären wir vorher ausgerückt.« »Ja, du lieber Himmel, wenn wir arbeiten, so muß man uns doch auf jeden Fall auch gebührend bezahlen.«
   Der Alte schnitt ein Gesicht. »Wer es erlebt, der wird es sehen«, brummte er.
   Am Abend dieses Tages ging Onnen, seinen Paß in der Tasche, durch die Stadt, um sich nach Altona in das Haus des Barons zu begeben. Jetzt konnte der Brief seiner Mutter möglicherweise schon angelangt sein, und er sehnte sich so sehr, ihn zu erhalten.
   Der Abend war regnerisch und dunkel, die Elbe an den Vorsetzen schlug große Wellen; Onnen fühlte sich zum erstenmal seit langer Zeit unruhig und verstimmt. Die Aussicht, für den Feind Schanzen zu graben, ärgerte ihn über alle Maßen und doch ließ sich der Sache nur schwerlich entgehen. Zehntausend Arbeiter konnte der Senat nicht liefern.
   Da sah er vor sich im Zwielicht einer knarrenden, schwachbrennenden Öllampe die Gestalt eines älteren Mannes, der ihm bekannt erschien. Irgendwo mußte ihm dieser Fremde schon begegnet sein.
   Onnen blieb etwas zurück. Wer ihn kannte, der hielt sein Geschick in offener Hand, der hatte die Mittel, ihn den Franzosen und damit dem sichern Tode auszuliefern – es war besser, keine Begegnung herbeizuführen.
   Der Fremde ging zu einem jener schmalen Eingänge, die in der Hafengegend vielfach große Speicher bergen, dort blieb er stehen und hielt scharfe Umschau, während sich Onnen hinter eine vorspringende Haustreppe versteckte. Ein Lichtstrahl der Laterne traf in diesem Augenblick das Gesicht des Unbekannten und Onnens Herz schlug plötzlich vor Überraschung schneller. Der Mann da vor ihm war Geerd Kluin, der Bruder seiner Mutter.
   Von diesem hatte er nichts zu fürchten.
   Aufspringen und bis zu dem schmalen Gange laufen war eins, aber dennoch kam unser Freund zu spät. Nur der Regen schlug ihm entgegen und der Wind fing sich in dem engen Schlot, aber kein Mensch war zu entdecken.
   Onnen sah umher. Geerd Kluin konnte nur hier verborgen sein, sonst nirgends – auf der offenen Straße hätte er ihn ohne allen Zweifel bemerken müssen.
   Halb und halb zögernd ging er weiter. Rechts und links öffneten sich neue, noch schmalere Gänge, oft kaum breit genug, um zwei Personen zugleich hindurchzulassen, alle bewohnt, alle mit dem Rinnstein in der Mitte und erfüllt von einer schrecklichen, die Lungen erstickenden Luft. Kinderstimmen erklangen hinter den Fenstern, hie und da huschte durch den Regen ein Mensch oder miaute, im Winkel auf einem Schmutzhaufen hockend, eine Katze, sonst war alles leer und öde.
   Onnen ging geradeaus, so daß er hinter sich immer die offene Straße und darüber hinweg die knarrenden Masten der Schiffe erkennen konnte. Eine Art von Grauen hinderte ihn, sich seitwärts in das Gewirr dieser dunklen Gänge und Höfe hineinzuwagen; er, der die Freiheit so sehr liebte, fürchtete sich förmlich vor den sargartig engen Mauern, deren schwarze Farbe die Dunkelheit nur noch zu erhöhen schien, deren Dachtraufen das schmutzige Naß in Strömen auf das Pflaster ergossen. Sollte er wirklich weitergehen?
   Es war gewiß besser, umzukehren und die Herberge aufzusuchen. So in den durchnäßten Kleidern konnte er unmöglich nach Altona gehen und sich dem Herrn Baron melden lassen – die Nachfrage mußte auf morgen verschoben werden.
   Im Begriff, sich der offenen Straße wieder zuzuwenden, hörte er in einem gerade vor ihm liegenden, vier Stockwerke hohen dunklen Gebäude ein Geräusch und sah zugleich, daß sich die Haustür leise bewegte, etwa wie vom plötzlich entstehenden Zugwind geschaukelt – er öffnete sie vollends und blickte hinein.
   Alles dunkel; gerade vor ihm lag offen eine breite Treppe.
   Onnen kletterte hinauf; das Verlangen, den Bruder seiner Mutter zu sehen, war übermächtig, es beherrschte ihn ganz. Seit länger als einem Jahr von der Heimat getrennt, ohne Nachricht, ohne Verkehr mit irgendeinem Glied seiner Familie, fühlte er sich oft so drückend einsam, so verlassen – und gerade diese Stimmung war durch den unerwarteten Anblick seines Onkels mächtig erregt worden. Geerd Kluin würde ihn ja nicht verraten, das wußte er gewiß.
   Immer leise weitergehend, fragte er sich, was denn bei diesem Eindringen in ein fremdes Haus im Grunde zu fürchten sei? Von den Franzosen nichts, denn er trug seinen Paß in der Tasche – aber vielleicht von den Bewohnern des sonderbaren Hauses. Es schien leer; rechts und links waren alle Türen verschlossen.
   Unser Freund kletterte bis zum Dachboden hinauf – kein Mensch begegnete ihm. Er klopfte an alle Türen, niemand gab Antwort. Geerd Kluin wohnte also nicht hier, oder er wollte keinen Besuch empfangen.
   Onnen ging bis zum obersten Stock wieder hinab. Hinter einer angelehnten niederen Tür oder Luke schimmerte ein Stück des abendlich dunklen Himmels, Regentropfen schlugen bis auf den Gang hinein und zugleich klappte wieder unten die Haustür – der Zugwind entstand also durch diese Verbindung.
   Onnen öffnete die Luke und sah vor sich eine jener schmalen, eisernen Brücken, die in den alten Stadtteilen Hamburgs von einem Hause zum anderen führen und als Schutzmittel gegen die Gefahren einer Feuersbrunst immer in den höchsten Stockwerken angelegt sind. Er trat hinaus und faßte gedankenschnell die gegenüberliegende Luke – sie war offen.
   Ob Geerd Kluin diesen Weg genommen hatte? Aber weshalb war er dann nicht durch die Tür des anderen Hauses gegangen?
   Onnen spähte in das Dunkel des fremden Gebietes hinein. Die Brücke lag nach hinten, einem Gewirr enger Höfe zugekehrt – es schien dem jungen Manne, als tönten Stimmen aus dem unteren Stockwerk zu ihm herauf.
   Er tastete sich weiter und kam zur Treppe – nun hörte er es deutlich. Mehrere Personen sprachen durcheinander, also gab es in diesem Gebäude wenigstens Menschen, man würde ihn anhören und ihm vielleicht Geerd Kluins Wohnung sagen können. Er ging durch einen Korridor, aus den Fugen einer Tür schimmerte Licht – er hob die Hand, um zu klopfen.
   Da packte ihn plötzlich im Dunkel eine kräftige Faust. »Wer ist hier?« rief die Stimme eines Mannes.
   Onnen suchte ihn sogleich von sich abzuschütteln. »Wohnt in diesem Hause Herr Geerd Kluin?« fragte er.
   »Faule Fische!« klang es zurück. »Wer bist du, Bursche? Wie gelangtest du überhaupt hierher?«
   »Durch das Nebenhaus – ich suche den Herrn, dessen Namen ich Ihnen soeben nannte. Nun aber lassen Sie mich los, oder es gibt ein Unglück.«
   Der Unbekannte öffnete mit plötzlichem Ruck die Tür. Ein Strom von Licht flutete den beiden Männern entgegen; in einem weiten, sehr unwirtlichen Räume saßen an langen Tafeln etwa hundert oder noch mehr Herren jedes Alters, die sämtlich den höheren Ständen anzugehören schienen und eifrig miteinander sprachen. Auf den Tischen lagen Briefe und Zeitungen; ein gewaltiger Schreck schien bei Onnens Anblick die Teilnehmer dieser geheimen Gesellschaft jählings zu erfassen, sie schwiegen wie vom Blitz getroffen.
   Onnens Führer schob diesen in den Saal. »Ein Zigeuner!« sagte er voll Erstaunen. »Ich fand ihn hier auf dem Gange.« Noch immer herrschte Todesstille. Ein älterer Mann erhob sich und winkte unserem Freunde. »Erzähle, Bursche«, sagte er in gebieterischem Tone, »wie bist du hierhergekommen und was suchst du?«
   Onnen sprach freimütig, er schilderte offen und wahrheitsgemäß den Hergang der Dinge, dann fragte er bescheiden nach dem, den er zu finden wünschte. »Wohnt Herr Kluin in diesem Hause?« Der Herr zuckte die Achseln. »Kluin?« wiederholte er, »kennt ihn jemand unter Ihnen? Ich wenigstens nicht.« Ein allgemeines Nein beantwortete die Frage. »Der Name ist natürlich erfunden«, sagte jemand. »Ein Vorwand!«
   »So muß man sich des Burschen versichern – es steht ja zu viel auf dem Spiel.«
   »Das denke ich auch. Die Geschichte, welche uns der junge Mensch erzählt, klingt mindestens unwahrscheinlich.«
   »Sie erlauben, Herr!« wandte sich, offenbar mit Absicht den Namen weglassend, ein jüngerer Mann zu dem ersten Sprecher, »aber ich möchte mich mit unserem ungeladenen Gaste einen Augenblick unterhalten. Höre einmal, Bursche«, wandte er sich dann zu dem vermeintlichen Zigeuner, »bist du nicht derselbe, welcher in Begleitung eines älteren und noch eines dritten Mannes von deinem Stamme gegenwärtig hier in Hamburg einen zahmen Bären zeigt? Ich glaube dich gestern an der Alster gesehen zu haben!«
   »Da war ich auch, Herr!«
   »Du bist also der, welchen ich meine?«
   »Ja!«
   »Sieh! Sieh! Dann fällt mir‘s auf, daß du heute ein so reines Deutsch sprichst; gestern schienst du nur Russisch zu verstehen.«
   Onnen errötete stark, aber er schwieg.
   »Gestehe es nur, Bursche, du bist nicht das, was die Welt in dir sehen soll. Dein Haar und dein Gesicht sind gefärbt – du umgibst dich mit Heimlichkeiten!«
   Jetzt hob Onnen den Blick, in seinen ehrlichen blauen Augen flammte es plötzlich auf. »Gestehen Sie nur, Herr«, sagte er mit lauter Stimme, »diese nächtliche Versammlung in einem Speicher hat politische Zwecke – Sie umgeben sich mit Heimlichkeiten!«
   »Du unverschämter Patron!«
   Und der junge Herr sprang auf, um unsern Freund zu packen. Onnen erwartete ihn festen Fußes und ein Kampf zwischen den beiden Streitenden wäre unvermeidlich gewesen, wenn nicht der Vorsitzende in gebieterischer Weise die Hand erhoben hätte. »Ruhig da! – Komm hierher zu mir, du!« Onnen blieb, wo er war. »Mit welchem Rechte duzen Sie einen erwachsenen Menschen, Herr? Ich bin fast achtzehn Jahre alt.«
   »Einen Zigeunerburschen pflegt man immer mit du anzureden, mein Lieber! Komm indessen hierher zu mir, ich möchte dir gerade ins Auge sehen.«
   Onnen gehorchte, furchtlos traf sein Blick den des ändern. »Ich wußte vom ersten Augenblick an, wer Sie sind, Herr Oberst Mettlercamp!«
   »Ach – und du kamst in dies Haus als Spion?«
   »So wahr mir Gott helfen möge, nein!«
   Der Oberst lächelte. »Wer bist du, junger Mensch, sprich ganz aufrichtig zu denen, in deren Gewalt du dich befindest. Ich halte dich für einen Deutschen!«
   Onnen nickte, »Das bin ich auch – ich mag‘s nicht verleugnen. Wir sind quitt, meine Herren, Ihre Versammlung ist den Franzosen gegenüber ebenso strafbar wie meine Namensveränderung oder die Farbe in meinem Gesicht.«
   »Du liebst sie also nicht, die Franzosen?«
   »Ich?« rief Onnen. »O Gott – Hörten Sie nie, daß auf Norderney brave, ehrliche Leute, unbescholtene Familienväter von den Franzosen erschossen wurden, nur weil sie eine Schiffsladung voll Kaffee geschmuggelt hatten? Hörten Sie nie, daß ohne Gesetz und Recht bald danach die ganze Jugend der Ostfriesischen Inseln nächtlicherweile zum Dienst in der Armee gepreßt wurde? Nun, einer der Gemordeten war mein Vater, einer der gewaltsam Entführten bin ich, jetzt seit den Tagen von Witebsk französischer Deserteur und Bärenführer, weil eben der alte Zigeuner der einzige Freund ist, den ich überhaupt im Augenblick besitze.«
   »Und nun«, fuhr er tiefatmend fort, »nun wissen Sie alles. Wenn Sie mir morgen auf der Straße wieder begegnen, dann können Sie mich dem nächstbesten Franzosen als Deserteur bezeichnen – ich lasse Ihnen gleichsam meinen Kopf als Pfand vollständiger Verschwiegenheit.«
   Oberst Mettlercamp streckte plötzlich die Hand aus. »Schlag ein, Junge, du gefällst mir! Sieh, ich nenne dich immer noch du, obgleich du ein erwachsener Deutscher bist! – Wir, die du uns hier siehst, beraten eben die Bildung einer Hanseatischen Legion, die sich im richtigen Augenblick mit Preußen vereinigen und dem korsischen Räuber die Zähne zeigen wird. So, nun hast du hundert Köpfe als Pfand für die Sicherheit deines eignen.«
   Onnen dankte bescheiden. »Ich kann jetzt gehen, nicht wahr? – Aber freilich, ist mir vorher noch eine Bitte gestattet?« »Sprich sie wenigstens erst einmal aus, mein Junge.«
   »Soll mein Name den ihrigen beigefügt werden dürfen? – Ich heiße Onnen Visser! Schreiben Sie mich ein in die Liste der Getreuen, und rufen Sie mich, wenn es gilt, loszuschlagen. Ich möchte der erste, der allererste sein, dessen Arm sich gegen die verhaßten Franzosen erhebt.«
   »Bravo!« riefen mehr als nur eine Stimme. Der Angreifer von vorhin schüttelte sogar Onnens Hand, während ihn der Oberst eintrug in die Liste derer, welche später auf Frankreichs Boden so blutige Lorbeeren ernten sollten. Er wurde von mehreren Mitgliedern der geheimen Versammlung in ihre Wohnungen eingeladen, dann brachte ihn der Wächter wieder bis an die Brücke, und nun mußte er seinen weiteren Weg im Dunkel der Treppen allein suchen.
   Tastend gelangte er hinab in den zweiten Stock und wollte eben von dort noch tiefer steigen, als seine Hand statt des Geländers einen lebenden Körper ergriff. Der Mensch war vollständig in die Ecke gedrückt, er regte kein Glied und sprach keine Silbe; selbst als ihn Onnen leise schüttelte, blieb er doch stumm.
   Ein unangenehmer Gedanke packte plötzlich die Seele des jungen Mannes. Von denen da drinnen kannte niemand den Namen Geerd Kluins, das hatte er gehört – zur Zahl der Versammelten konnte also seiner Mutter Bruder nicht gerechnet werden. Was wollte er hier?
   Onnen beugte sich nahe zum Gesichte dessen, den seine kräftigen Hände gefangen hielten. »Geerd Kluin«, flüsterte er, »bist du es?«
   Ein Zucken schien den Körper des Unbekannten zu durchfliegen, aber er antwortete auch jetzt noch nicht, nur seine Hände begannen leise zu zittern.
   »Kennst du mich nicht, Onkel?« flüsterte Onnen.
   »Was? – Was? – Es gibt gar keinen Geerd Kluin! – Unsinn das, Unsinn! Ich heiße Martin Kracht – ja gewiß, Martin Kracht. Meinen Paß habe ich in der Tasche.«
   Onnen hatte bei dem ersten Laute die Stimme erkannt. »Und ich heiße Onnen Visser«, sagte er leise. »Ich bin deiner einzigen Schwester Sohn! Kennst du mich jetzt, Onkel Geerd?«
   »Gott! Ach Gott!«
   Ein Schluchzen klang durch das Dunkel. »Ich bin krank – ich bin so unsäglich elend!«
   »Und du hast keine Nachricht von zu Hause, Onkel?«
   »Keine, keine – hier heiße ich ja Martin Kracht!«
   Onnen empfand ein unbeschreibliches Mitleid. »Komm«, sagte er, »komm, Onkel Geerd, was tust du denn eigentlich hier? Hast du mich vorhin nicht gehört, als ich heraufstieg?«
   »Ja doch, ja, aber was kümmerte mich jemand, den ich gar nicht zu kennen glaubte? – Wo bist du gewesen, Onnen?«
   »Ich sah dich an den Vorsetzen gehen und folgte dir in dies Labyrinth. Was suchst du hier, Onkel Geerd?«
   »Nichts, nichts. Aber wo warst du so lange, Kind?«
   »Drüben im ändern Speicher, Onkel!«
   »So, so, begegnete dir niemand? Hörtest und sahst du nichts Auffälliges, Verdächtiges, mein Junge?«
   »Durchaus nichts!«
   »So – hm, hm, das ist schade! Ich muß hier noch bleiben, Onnen. Ein Geschäftsfreund erwartet mich.«
   »Obgleich es fast Nacht geworden ist, Onkel? Geh nur mit mir, du sollst meine Geschichte hören – die meines armen Vaters kennst du ja doch!«
   Geerd Kluin seufzte. » Schwager Visser – ach ja, ich weiß. Es waren Schiffer aus Emden hier, die erzählten von dem schrecklichen Unglück Weißt du, wie mich das Heimweh quält – ich kann dir‘s nicht sagen! Aber zwischen mir und Norderney steht ja der falsche Paß – die Franzosen sind so schnell mit dem Todesurteil bei der Hand! Die Kugel zischt und du bist gewesen, ehe der Hahn kräht.«
   Es rann kalt über Onnens Rücken herab; er zog den Alten mit sich auf die Straße, und beide gingen dann im strömenden Regen zur Herberge am Eichholz. Geerd Kluin liebte das Geld noch ebenso innig wie früher, das erkannte Onnen sehr bald, aber in allem übrigen war er trostlos verändert.
   »Hier sitzt mir‘s«, sagte er, auf die Brust deutend. »Ich kann das Stechen nicht mehr loswerden. Onnen, bemerktest du wirklich in dem Speicher nichts Verdächtiges?«
   »Das fragst du nun schon zum zweitenmal, Onkel. Was sollte denn nach deiner Meinung in dem alten Gerümpel vor sich gehen?«
   Geerd Kluin wiegte den Kopf. »Hier in Hamburg gibt es gar nichts mehr zu verdienen, du, gar nichts mehr – ich kam mit so großen Erwartungen hierher, ach Gott, und ich habe hungern müssen. Alle Wege versperrt, alle Hoffnung betrogen, das ist der Zustand, in dem ich lebe – natürlich als Martin Kracht, hörst du, nenne mich niemals anders.«
   »Gewiß nicht, Onkel. Aber du wolltest mir erzählen, was dich in den unbewohnten Speicher führte.« »Ja, ja – du bist meiner Schwester Kind, Onnen, bist mein Blutsverwandter. Willst du mir beistehen?«
   »Erst laß hören, um was sich‘s handelt!«
   Der immer noch vor Frost zitternde alte Mann rückte ihm näher. »Ich wandre so in den Straßen umher«, raunte er, »zwecklos, arbeitslos, ich mache mich bei den Soldaten beliebt, wo es möglich ist, und erwische hie oder da einmal ein Stück Brot und einen Schluck Branntwein – zu verdienen gibt es ja nichts. Da sah ich denn eines Abends nacheinander mehrere sehr bekannte Herren bei der Neumannsstraße und später auch einige beim Johannesbollwerk in die Gänge einbiegen,, das fiel mir auf. Oberst Mettlercamp war dabei, ein Mönckeberg, ein Goßler, ein Amsink, ein Godeffroy. Was suchen diese Leute in den Höfen der untersten, bittersten Armut? – Ich beobachte sie seitdem, ich stehe in Wind und Wetter auf der Lauer. Onnen, wenn es möglich wäre, eine Zusammenkunft zu entdecken – mein Junge, dann könnte für mich noch alles gut werden!«
   »Wie meinst du das, Onkel?«
   »Nun, das ist doch leicht genug zu verstehen, Kind. Acht Personen gelten als unerlaubte Versammlung – wenn ich daher das Lokal finde, wenn ich Beweise erhalte, dann ist mein Glück gemacht. Der Maire Rüder zahlt für derartige Mitteilungen große Summen, ich weiß es – man könnte ja die Sache ein wenig aufbauschen, könnte von einem bevorstehenden Aufruhr sprechen. Ich erhielte dann vielleicht einen Paß auf meinen wirklichen Namen. Man muß es nur anzufangen wissen!«
   Onnen fühlte, wie ihm das Blut heiß ins Gesicht stieg. »Du wolltest doch unmöglich die Leute den Franzosen verraten?« fragte er hastig.
   Geerd Kluin schien sehr ärgerlich. »Verraten!« brummte er, »verraten! Wie du gleich auffährst! Ich will meinen eignen, ehrlichen Namen wieder erlangen, damit ich nach Norderney zurückkehren kann, das ist alles. Falsche Pässe macht jetzt niemand mehr; die Franzosen fackeln nicht, das wissen die Leute.«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Ein Verrat wäre es aber doch auf alle Fälle, Onkel. Du mußt den Gedanken fallen lassen.«
   »Niemals!« rief der Alte. »Hast du persönlich den Hunger und den Frost kennengelernt, Junge? Bist du obdachlos gewesen, krank, verlassen? Das alles habe ich ertragen – dabei verschwinden die zarten Rücksichten. Fange ich eine geheime Versammlung ab, so denunziere ich die Teilnehmer. Basta.«
   Onnen versuchte nicht, seinen Onkel zu einer bessern Ansicht zu bekehren. »Ich an deiner Stelle würde es anders machen«, sagte er nach einer Pause.
   »So! Und wie denn?«
   »Ich ließe mir Geld aus der Heimat schicken. Du hast ja in unsern Dünen dein Vermögen aufbewahrt.«
   Geerd Kluin beobachtete unruhig das offene Gesicht des jungen Mannes. »Mein Vermögen!« sagte er ärgerlich, »Vermögen! Ich bin ein armer Mann, der höchstens einen Sparpfennig besitzt. Kein Mensch kennt die Stelle, wo das Geld liegt.« »So mußt du sie irgendeiner vertrauten Person nennen. Meiner Mutter zum Beispiel – da gehst du ja doch sicher.«
   Der Alte murmelte in sich hinein. »Sicher gehen«, sagte er, »sicher gehen – ja, wenn die Menschen ehrlich wären! Irgend jemand stiehlt mir mein Geld; der, den die alte Frau hinausschickt, um es zu holen, oder der, dem es anvertraut wird. Nein, nein, ein Geheimnis, das mehr als eine Person kennt, ist nicht länger ein solches.«
   Onnen schwieg. Es war Nacht geworden, die Zigeuner schliefen längst, auch ihm selbst fielen die Augen zu. Geerd Kluin teilte für diese Nacht das Strohlager des jungen Mannes, aber auch im Schlafe kam ihm der Gedanke an die Versammlung, welche er belauschen wollte, nicht aus dem Sinn.
   »Sie sitzen doch im Speicher«, murmelte er, »doch! – Ein andres Mal! – Der dumme Junge hat Gewissensbedenken! – lächerlich. Ich will wieder Geerd Kluin werden – Geerd Kluin!«
   Onnen wachte noch; er dachte nur eins: »Ich will den Obersten warnen.«


   19

   »Feuer! Feuer!«
   Ein blutroter Flammenkranz umgab die Stadt. Vor dem Dammtor, auf allen Wällen, auf dem Hamburger Berge loderten die Feuersäulen gen Himmel, in den Straßen liefen die Bewohner wie außer sich umher; jeder einzelne fragte, weinte, rang die Hände, niemand konnte Auskunft geben.
   Zuerst glaubten die Leute an ein Unglück, dann wurden sie verwirrt und schließlich von Verzweiflung ergriffen. Am Abend vorher war Marschall Davoust durch Hamburg geritten und hatte seinem Adjutanten die zum Verbrennen ausersehenen Häuser oberflächlich bezeichnet – heute morgen erschienen Soldaten, trieben mit blanker Waffe die Bewohner hinaus und legten Feuer in die Zimmer, die Betten und Schränke.
   Vor der Kirche auf dem Hamburger Berge stand eine Rotte verwilderter Pariser, umgeben von einer doppelten Anzahl Zivilisten; es waren keine Offiziere zugegen, die Soldaten scheuten sich daher auch nicht, mit den Kolben die Türen einzuschlagen und um den Inhalt der Armenbüchse jetzt schon zu streiten.
   Das eisenbeschlagene Tor gab nach, es stürzte und die ganze Schar wälzte sich in den innern Raum der Kirche. Eine brennende Teerbütte wurde mitgeschleppt, Altar und Kanzel angezündet und dann die Bänke, die Bilder an den Wänden zerstört. Der Armenblock lag in tausend Trümmern; den Inhalt hatten die Soldaten unter Schimpfen und Prügeln an sich gerissen.
   Von hier ging es weiter bis zu den nächstliegenden Häusern. Die Bewohner, belehrt durch das Geschehene, trugen in fliegender Hast auf die Straße hinaus, was sie zu retten wünschten; ganze Berge von Betten und Möbeln stapelten sich in den zum Teil engen Gassen, Tiere brüllten, quiekten und gackerten durcheinander, der Budenbesitzer brachte seine Marionetten, Polichinell seine Schellenkappe in Sicherheit.
   Aber auch Wiegen mit ganz kleinen Kindern standen auf den überfüllten Straßen, Todkranke, Fiebernde lagen in ihren Betten, dem Regen und der Sonnenglut schutzlos ausgesetzt – Leichen in Särgen, die von den Franzosen scheu gemieden und von dem gereizten Pöbel als Gegenstand roher Scherze mißbraucht wurden.
   Jetzt ging es an ein Krankenhaus. Der Hausverwalter wollte an der Schwelle desselben den eindringenden Soldaten Widerstand leisten und wurde sogleich zu Boden geschlagen. Über seinen verstümmelten Körper ging es hinein in die Stätten des Elends.
   Eine Anzahl bespannter Lastwagen hielt vor den Türen; durcheinander schwatzend in roher Eilfertigkeit packten die Soldaten alle Arten von Kranken, halbverhüllt wie sie waren, auf das Stroh und trieben zu gleicher Zeit die, welche noch gehen konnten, mit flacher Klinge hinaus.
   Sterbende, Bewußtlose wurden den Betten entrissen – nun erhob sich der Sturm, welcher in den Seelen der Zuschauer so lange schon gefesselt lag; sie drangen auf die Franzosen ein. Jammernde Frauen warfen sich auf die Kranken, Mütter hielten ihre Kinder, der Freund den Freund umfaßt, laute Weherufe drangen zum Himmel empor.
   Kräftige Fäuste fielen den Pferden in die Zügel, rissen die Soldaten vom Kutschersitz. »Wohin wolltet ihr die Kranken bringen?« hieß es.
   »Fort! Fort! Je ne sais pas!«
   »Also nur hinaus, gleichviel wohin?«
   »Oui! Oui! Fort!«
   Ein herkulischer Hamburger, ein sogenannter Heuerbaas trat den Soldaten entgegen, beide Fäuste geballt, das Gesicht weiß vor maßloser Wut. Er deutete mit der Rechten auf ein nahestehendes, vom Keller bis zum Dachstuhl brennendes Haus, dann auf die leblose Gestalt eines jungen Menschen, der im Stroh eines der Wagen lag und mit seinem von der Krankheit verzerrten Antlitz völlig einer Leiche glich.
   »Gestern abend noch sagte mir der Arzt, daß mein Kind gerettet werden könne!« schrie er, »nur vollständige Ruhe brauche der arme Schelm, Schlaf und Stille – jetzt mordet ihr ihn, nachdem ihr mein Haus in Brand gesteckt habt, ihr Schurken! Ich bin ein Bettler, mir ist alles geraubt – seid verflucht dafür, verflucht bis in den letzten Abgrund der Hölle!«
   Er schlug mit den bloßen Fäusten auf die Franzosen ein, andre folgten seinem Beispiel, es entspann sich ein allgemeiner Kampf, bei dem natürlich die Soldaten Sieger blieben. Ströme von Blut bedeckten das Straßenpflaster; zwischen den brennenden Häusern lagen Tote und Verwundete am Boden, immer weiter griffen die Flammen, hierhin und dorthin ohne Widerstand, immer mehr einzelne Trauerzüge bewegten sich nach allen Richtungen. Wer sein Kind, seinen Freund oder Bruder unter den vertriebenen Kranken wußte, der eilte herbei, um das teure Leben zu retten. Weiterhin gegen Altona öffneten sich die vom Brande verschonten Häuser und nahmen die unglücklichen Opfer auf, während solche Verlassene, denen hier am Orte kein Freund, kein Angehöriger lebte, unter Gottes freiem Himmel, halb nackt auf faulendem Stroh ihr Dasein aushauchten. Mit zerschlagenen Gliedern lagen die Verteidiger am Boden – im Geschwindschritt rückte eine Kompanie Franzosen heran. Der Pöbel flüchtete – sechs Gefangene wurden, an Händen und Füßen gefesselt, den Truppen überliefert.
   Darunter der Heuerbaas. »Rettet meinen Sohn!« schrie er wie außer sich. »Da liegt er immer noch auf dem offenen Wagen – o Gott im Himmel, rettet ihn doch!«
   Niemand hörte den armen Vater; er wurde fortgeschleppt, während sein Sohn den letzten Kampf des Lebens kämpfte. »Ich besitze ja noch einen Anteil an einem Schiff!« schrie er, »Geld! Geld! Ihr sollt alles haben, aber rettet meinen armen Jungen!«
   Vergebens! Kanonen wurden aufgepflanzt, um unter ihrem Schutze das Werk der Zerstörung fortzusetzen; die sechs Gefangenen warf man in irgendeine lichtlose Höhle, die Wagen mit den Sterbenden wurden auf das Heiligengeistfeld hinausgeschoben und dort ihrem Schicksal überlassen.
   Am andern Morgen begann dann an derselben Stätte, dem großen freien Platze vor dem Millerntor, ein schauerlicher Akt. Wo jetzt die eleganten Paläste der Eimsbütteler Straße stehen, da drängte sich Kopf an Kopf eine bange, zitternde Menge. Was war es, das die Soldaten zimmerten?
   Ein großer Galgen – eine Richtstätte.
   Da gab es keinen Prozeß, kein Recht und kein menschliches Verfahren. Marschall Davoust unterzeichnete für sechs unbescholtene Hamburger Bürger, für Männer, welche ihre kranken Angehörigen verteidigt hatten, das Todesurteil, dem die Vollstreckung auf dem Fuße folgte. Ohne Begleitung eines Geistlichen, ohne daß man ihnen gestattet hätte, das Blut von Gesicht und Händen zu waschen, wurden die sechs braven Patrioten hinausgeführt.
   »Sie kommen!« murmelte die Menge. »Sie kommen!«
   Frauen fielen in Ohnmacht, Männer wurden blaß wie Sterbende; aller Augen sahen hinüber zum Millerntor, von dem der Zug ausging.
   Der Vorderste war der Heuerbaas. Ohne Mütze, mit zerrissenen Kleidern und verworrenem Haar, das Gesicht von Blut bedeckt, so ging er schwankenden Schrittes in der Mitte der Soldaten; sein linker Arm hing schwer wie Blei, regungslos am Körper herab.
   Als der Zug unter dem Galgen hielt, sah der unglückliche Mann, mühsam den Kopf bewegend, hinüber zu seinen schluchzenden Mitbürgern. »Leute«, sagte er, »liegt mein armer Knabe noch dort auf dem Wagen?«
   Ein Schifferknecht in der Menge schüttelte traurig den Kopf, »Nein, Wilm von Spreckelsen, ich hab‘ ihn in mein Haus getragen.«
   »Und er lebt noch, Hein?«
   Der Schiffer sah zu Boden, er winkte mit der Rechten. »Gott wollte es anders, Baas – meine Frau und ich taten was wir konnten!«
   Der Gefangene nickte. »Es ist gut so, Hein. Was sollte der arme Johannes auch leben? Er wäre zugrunde gegangen ohne mich. Aber ich danke dir, Mann, auch deinem Weibe – Gott segne euch beide!«
   Die Frau des Schiffers fiel auf ihre Knie, sie hob die gefalteten Hände empor. »Geht ein zum Frieden, Baas«, rief sie, »Gott schenke Euch eine selige Urständ! Ihr habt uns in manchem harten Winter geholfen, habt uns beigestanden in aller Not, das soll Euch die Erde leicht machen!«
   »Ja, ja«, rief eine alte, halblahme Frau, »der liebe Heiland vergelte Euch, was Ihr Gutes getan habt – an mir und an andern!«
   »Es ist keiner, der Euch nicht hochachtet, nicht bedauert, Wilm von Spreckelsen!«
   »Geht heim in Frieden und Gott wird Euch gnädig sein!«
   Der Heuerbaas nickte. »Ich danke euch, Landsleute! Hab meine Grabrede noch bei Lebzeiten mit angehört, das freut mich! Gott sieht auf das Herz – na und darin wird er ja keine argen Gedanken finden.«
   Auch den übrigen fünf Verurteilten hatten einzelne aus der Menge Abschiedsworte zugerufen, während die Franzosen ihren Opfern die Röcke auszogen und ihnen die Schlingen überwarfen.
   Ein kurzes Durcheinander, ein schnelles Hantieren und die Versammelten bargen schaudernd ihre Gesichter. Am Galgen hingen sechs Gerichtete – Bürger, die es gewagt hatten, die Hände gegen französische Soldaten zu erheben.
   Sogleich nach vollzogener Exekution marschierte das Militär mit gefälltem Bajonett den dichtgedrängten Massen entgegen und trieb die Tausende vor sich her. Die Leichen blieben am Galgen hängen, wohl zur Warnung für die Lebenden – erst nach längerer Zeit wurden die mit Lumpen bedeckten Skelette herabgenommen.
   In der Gegend des Grindels, vor dem Dammtor und auf den Kirchhöfen ging unterdessen die Zerstörung ebenso emsig fort wie auf dem Hamburgerberge, wo in zwei Tagen und Nächten 881 Wohnhäuser, 103 Fabriken und 454 Buden nebst der doppelten Anzahl von Ställen, Schuppen und Hintergebäuden den Flammen zum Opfer gefallen waren.
   Vor dem Dammtore standen die Häuser der Reichen; auch hier wüteten Feuer und Zerstörung mit gleicher entsetzlicher Macht, wenn auch ohne jenen Lärm, jene laute Klage, in die das niedere Volk bei seinen Leiden ausbricht. Die Bewohner dieser Paläste waren längst geflüchtet, ihr Eigentum geraubt oder konfisziert – nur die Baulichkeiten standen noch und fielen jetzt knisternd und knatternd dem gefräßigen Elemente zum Opfer.
   Ebenso die Grabdenkmäler rings um das Dammtor her. Davousts Mordbrenner hatten die Steine und Kreuze zerschlagen, die Gebüsche herausgerissen, die Blumen zertreten und die Einfriedigungen niedergeworfen.
   In diesen Tagen erschien auch wieder eine neue französische Proklamation. »Alles vorhandene Holz, alle Korbweiden, Eisenbeschläge, aller Hanf und Teer sind für den Dienst der Stadt konfisziert. Niemand darf von den genannten Gegenständen etwas für sich zurückbehalten, niemand etwas verkaufen oder verstecken, bei Strafe augenblicklichen Todes oder doch mindestens der Landesverweisung.«
   Ganz Hamburg rauchte wie ein einziger ungeheurer Schlot. In der Hafengegend wurden mächtige Bollwerke errichtet, aller Handel zur See oder zu Lande war abgeschnitten, halb St. Pauli in einen Schutthaufen verwandelt und die Kirchhöfe verwüstet. Jetzt zog das Unwetter gegen die gefüllten Speicher und Holzlager heran; Scharen von Soldaten schleppten die Früchte langjährigen Fleißes davon, unbekümmert um die Verzweiflung derer, welche sich des letzten beraubt sahen.
   Eines Tages wurde ein großes Holzlager in der Gegend des Mastberges ausgeplündert, als Mikosch und Onnen des Weges kamen. Der kommandierende Offizier trat sofort an sie heran. »Hierher, Vagabunden, zugegriffen, marsch! Bringt das Holz auf die Wagen!«
   Eine Weigerung hätte den Kopf kosten können. Onnen begab sich daher sogleich an die Arbeit, während Mikosch, klug genug, den gestrengen Herrn bat, ihm die Kunststücke seines Bären zeigen zu dürfen. Die Soldaten lachten, es gab Trinkgelder und der schlaue Zigeuner fand Gelegenheit zu entschlüpfen.
   Im Bretterschuppen stand mit verschränkten Armen ein junger Mann – Onnen erkannte ihn auf den ersten Blick; es war der, welcher ihn damals in der geheimen Versammlung angeredet hatte; jetzt sah er starr vor sich hin, wie jemand, dessen Blicke auf ein offenes Grab gerichtet sind.
   Onnen berührte leise seinen Arm. »Herr Pehmöller!«
   Der Kaufmann schrak auf. »Ach – Sie sind es! Jetzt kann ich mein Firmenschild herunternehmen und betteln gehn. Vielleicht auch mit einem Bären!«
   Die Tränen des Zornes blitzten in seinen Augen. »Sie schleppen auf Kommando auch mit, nicht wahr? Nur immer zu; wer mein Eigentum davonträgt, ist schließlich gleichviel.«
   Onnen fühlte sich äußerst peinlich berührt »Wird man Ihnen denn nicht wenigstens einen mäßigen Ansatz vergüten, Herr Pehmöller?« fragte er leise.
   Der Geplünderte lachte laut auf. »Vergüten? – Aber wartet, ihr Schufte, wartet, jetzt bindet mich nichts mehr an Hamburg, auch die meisten andern nicht – sie sind alle ruiniert wie ich. Es bleibt nur noch übrig, seinen unstillbaren Haß, sein Leben gegen die Unterdrücker in die Schale zu werfen.«
   Er zwang sich gewaltsam zur Ruhe. »Heute abend ist außerordentliche Versammlung an der bekannten Stelle«, sagte er. »Es sind Briefe von den bei Tettenborns Korps stehenden Kameraden gekommen – wir müssen eine neue Kompanie bilden. Oho, es geht alles trotz der Franzosen! Major von Pfuel verlangt Ersatz und der soll ihm werden.«
   »Sie gehen also fort zum Kriegsschauplatz, Herr Pehmöller?«
   »Hunderte gehen, Hunderte aus Hamburgs besten Familien. Einzeln gelangen wir nach Altona und von dort über die Elbe. Haben sie nicht erst kürzlich gelesen, was alles zur Strafe für die Abwesenden angedroht wird? Ihre Güter sind dem Sieger verfallen, sie zahlen ungeheure Strafsummen, sie sind des Landes verwiesen, ehrlos, Hochverräter und Gott weiß was alles! – Adieu übrigens – ich mag‘s nicht länger mit ansehen!« Er ging fort, Verzweiflung im Herzen. Rechts und links schleppten die Soldaten davon, was die Arbeit seiner Vorfahren, seine eigne unermüdliche Tätigkeit in einer langen Reihe mühevoller Jahre zusammengetragen hatte. Stapel nach Stapel verschwand, Haufen nach Haufen, ein Balken, ein Baum nach dem andern. Leer und verödet gähnten die Schuppen.
   Draußen auf der Straße vor dem hochgiebeligen alten Kaufmannshause hatte unterdessen eine Szene noch trostloserer Art ihren Anfang genommen. Während vom Hofe das Besitztum des Holzhändlers einfach weggeschleppt wurde, brachen Soldaten in das geschlossene Wohnhaus und trugen Typhuskranke hinein, indem sie befahlen, denselben sogleich Betten zu verschaffen und sie auf das sorgfältigste zu verpflegen.
   Die junge Frau des Kaufmanns schrie laut auf, so heftig und plötzlich war ihr Erschrecken. »Meine Kinder!« rief sie voll Todesangst, »meine Kinder! – Nein, nein, ich kann keine Kranken aufnehmen – hinaus, hinaus, ehe die Luft mit Ansteckungsstoffen erfüllt wird!«
   Der Offizier, welcher das Kommando führte, verbeugte sich artig, aber er bedauerte, an dem einmal gegebenen Erlaß durchaus nichts ändern zu können. »Der Herr Marschall, Prinz von Eckmühl befiehlt!« weiter antwortete er keine Silbe.
   »Aber weshalb denn gerade dies Haus?« rief händeringend die junge Frau. »Kann man nicht ein öffentliches Gebäude nehmen?«
   »Es stehen schon vierhundert Häuser, öffentliche und private, im Dienste der Regierung, Madame. Unsre kranken Soldaten bedürfen der hohen, gutgelüfteten Säle – wir nehmen dieselben natürlich, wo sie zu finden sind. Ein Zimmer für Ihren besonderen Gebrauch wird Ihnen indessen unter jeder Bedingung gelassen werden.«
   Frau Pehmöller zog ihre beiden Kinder zu sich, sie war vor Furcht fast von Sinnen. »Wo ist mein Mann?« rief sie. »Karl! Karl! – Hat niemand ihn gesehen?«
   Die beiden Dienstmädchen weinten. Zu zwei und zwei trugen französische Soldaten ihre todkranken Kameraden in das Haus, in jedes Zimmer, jeden Raum, wo irgendein Mensch Quartier finden konnte; sie plünderten die Betten, die Leinenschränke, sie holten aus dem Stall Heu und Stroh herbei und schütteten es rücksichtslos auf Möbel und Teppiche, deren Wert nach Tausenden zählte.
   Frau Pehmöller mußte endlich erfahren, was sich auf dem Holzplatz zugetragen, sie begann neben allem übrigen jetzt auch für ihren Mann zu fürchten, nahm kurzentschlossen das jüngste Kind auf den Arm, das ältere an die Hand und verließ ihr Haus, in welchem sie bis vor einer halben Stunde glücklich und zufrieden gelebt, im Besitz eines gesicherten Wohlstandes und einer schönen geräumigen Heimat – jetzt eine Bettlerin, der nichts mehr geblieben, als nur die beiden weinenden Kinder und der Glaube an Gottes ewige Gerechtigkeit.
   Weinend und händeringend folgten ihr die Mägde. »Wohin mit uns, Frau? Um Gott, wir können jetzt in dem Hause nicht mehr bleiben.«
   Die Unglückliche schüttelte leise den Kopf. »Ich weiß es nicht, Hanne und Dore – ich hab‘ ja selbst keine Heimstätte mehr! Ach, wäre mein Mann hier!«
   Sie eilte auf die Straße hinaus, ihre Kinder an sich drückend, verwirrt, vor Furcht und Schreck beinahe bewußtlos. Französische Soldaten füllten den Platz, Wagen mit Kranken und Sterbenden hielten überall, aus den benachbarten Häusern flüchteten die Einwohner, ohne zu wissen, wohin. Alte Leute, Kinder, Krüppel und Säuglinge, alles wurde hinausgeschoben und niemand fragte, wer die Vertriebenen aufnehmen solle.
   Onnen näherte sich voll tiefen Mitleids der jungen Frau; er dachte an den Tag, wo auf Norderney die englischen Handelsartikel so freventlich verbrannt wurden, und an die arme alte Folke Eils, die sein verstorbener Vater mit sich nahm, um ihr barmherzig und freundlich in seinem Hause eine Zuflucht zu gewähren – heute stand Frau Pehmöller mit ihren Kindern so verzweifelt auf der Straße, hilflos und ohne Heimat; er wollte sich der Unglücklichen annehmen, so gut es ging.
   »Madame«, sagte er, höflich den Hut ziehend, »lassen Sie mich das Kind tragen. Ihr Herr Gemahl sprach noch vorhin mit mir!«
   Ein Freudenschimmer überflog das blasse Gesicht der Dame. »Schickt Herr Pehmöller Sie zu mir, mein Lieber?« fragte sie hastig.
   »Das allerdings nicht, Madame, aber ich finde Gelegenheit, ihn heute abend zu sehen. Einstweilen darf ich Ihnen gewiß meine Dienste anbieten – Sie haben Freunde, zu denen Sie gehen werden?«
   Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Erst möchte ich doch mit meinem Manne sprechen! – O Gott, was ist aus Hamburg geworden!«
   Sie weinte bitterlich. »Wohin mit den kleinen Kindern? Alle, die wir kannten, mit denen wir befreundet waren, sind längst auf und davon.«
   »Sie wissen also nicht, wohin Sie sich jetzt wenden sollen, Madame?«
   Frau Pehmöller seufzte. »Ich muß in ein Wirtshaus gehen – in irgendein Hotel. Ob wohl die Franzosen unsere Schränke respektieren werden? Es liegt noch eine größere Summe im Kasten, alles Geld, was wir besaßen.«
   Onnen antwortete ausweichend; er wußte ja nur allzu wohl, daß sich die Soldaten nichts entgehen lassen würden, aber das erfuhr die arme Frau immer noch früh genug, und so geleitete er sie in ein Hotel, fest entschlossen, das Mitleid der Baronin Liliencron für die Unglückliche zu gewinnen. Ihr war alles verloren, da ja ihr Mann zur Hanseatischen Legion ging und vielleicht im Augenblick gar nichts für sie zu tun vermochte.
   Zunächst trug er das kleinste Kind in ein Hotel und eilte dann nach Hause, um seinen Anzug zu säubern und sich nach Altona zu begeben.
   Am Millerntor mußte er seinen Erlaubnisschein vorzeigen und stand dann draußen auf dem Aschenfelde, das vorhin eine kleine Stadt für sich gewesen und wo jetzt Handel und Verkehr für lange Zeit schwer geschädigt daniederlagen. Vom Heiligengeistfelde herüber nickten im Wind die Körper der Gehängten, Schutt und Trümmer lagen auf den Straßen, obdachlose Menschen wohnten in Zelten und in Holzbaracken, alle Geschütze der Bastionen rings um Hamburg kehrten ihre toddrohenden Mündungen gegen die Stadt selbst.
   Als unser Freund das Nobistor passiert und Altona erreicht hatte, glaubte er sich für den Augenblick in eine andre Welt versetzt. Hier war alles ruhig und friedlich, jeder Bürger arbeitete, Kinder spielten auf den Straßen, Händler riefen ihre Waren aus. Kaum eine Viertelstunde von der eigentlichen Stadt Hamburg entfernt und unmittelbar an das dazwischenliegende Sankt Pauli grenzend, schien Altona von den Wirren und Kämpfen, welche das Nachbargebiet durchtobten, vorläufig in keiner Weise berührt.
   Am Quäkertor lag das stattliche Haus, in welchem jetzt der Baron wohnte. Ein großer Garten und mehrere Hintergebäude umgaben den Besitz; hier grünte und blühte der Hochsommer in vollentfalteter Pracht, alte Kastanien ragten über die Mauern und Fruchtbäume bogen sich unter dem Segen an ihren Zweigen.
   Onnen wurde sogleich vorgelassen; er fand die Familie im Garten versammelt und sah sich von den Kindern auf das lebhafteste bewillkommnet, obgleich alle vier sehr enttäuscht fragten, ob er denn den Bären diesmal zu Hause gelassen habe. Es gab einen großen Korb voll Fallobst, das Ruff verzehren sollte; die Knaben zogen ihn hervor und Onnen mußte feierlich versprechen, den vierbeinigen Freund bei seinem nächsten Besuche jedenfalls mitzubringen.
   Ihm klopfte das Herz, als er dem Obersten entgegenging. »Noch kein Brief aus Norderney!« er las es schon in dem Gesichte des gütigen Mannes, aber dieser tröstete ihn sogleich, daß der betreffende Freund aus Emden erst in den nächsten Tagen zurückerwartet werde und daß er sich daher nur noch kurze Zeit gedulden müsse – dann fand Onnen Gelegenheit, bei der Baronin für die arme Frau Pehmöller eine Bitte auszusprechen.
   »Den Leuten ist alles genommen«, sagte er, »geradezu alles.«
   »Wie so vielen andern auch«, nickte der Baron. »Ich habe von dieser grausamen Maßregel schon gehört. Der Wohlstand unzähliger Familien ist mit einem einzigen Feldzuge des Gewaltherrschers vernichtet.«
   Die Baronin sah zu ihrem Manne hinüber. »Was denkst du, Papa?« fragte sie.
   »Ja – als ob du es nicht wüßtest, Mama!«
   »Freilich!« sagte sie mit glücklichem Lächeln. »Ich weiß es! Wer wird die arme junge Frau hierherbringen, du oder ich?«
   Der Baron stellte schleunigst die Pfeife in eine Ecke. »Ich selbst, Mama – du sollst mir denn doch lieber nicht nach Hamburg kommen.«
   Er fuhr mit der Rechten durch Onnens Haar und lachte, als ein wenig Schwärze an seinen Fingern zurückblieb. »Laß dich einstweilen gehörig sättigen, du unechter Zigeuner, ich denke, daß in Hamburg Schmalhans den Küchenmeister spielt, nicht wahr? – Es muß hier noch rote Grütze stecken und eine tüchtige Fleischportion, das nimm nur alles zu dir, Bursche!«
   Dann ging er davon und Onnen blieb vorläufig mit den Kindern im Garten allein. Die Baronin, selbst beschäftigt, für ihren neuen Gast ein Zimmer herzurichten, ließ ihm einen reichlichen Imbiß auftragen und die Kinder brachten ihm mehr Früchte als sogar sein äußerst leistungsfähiger Magen zu fassen vermochte.
   »Das ist so recht etwas für Papa«, sagte der älteste Knabe. »Wo er armen Leuten oder sonst Bedrängten helfen kann, da läßt er sich nicht lange bitten. Einmal wurden ihm auf unserm Gute bei Wandsbeck immer Rüben vom Acker gestohlen und eines Nachts legte er sich persönlich auf die Lauer, um den Dieb zu erwischen. Als alles still und dunkel geworden war, erschien eine Frau, die schnell ihre Schürze mit Rüben füllte und davonlief – Papa eilte ihr nach. Da sah er durch das Fenster der Kate, wie sie ihren kleinen Kindern die rohen Früchte zu essen gab und bitterlich dabei weinte. Der Diebstahl war aus Armut geschehen – und was tat Papa? Er brachte die ganze Familie zu uns aufs Gut, er hat sie wieder zu ehrlichen, zufriedenen Menschen gemacht!«
   »Und einmal fuhr er uns mitten in der Nacht eine abgebrannte Kätnerfamilie ins Haus«, rief der zweite Knabe. »Jedes von uns mußte einen kleinen Bauernjungen zu sich ins Bett nehmen – das gab viel Spaß.«
   »Mir kannst du übrigens gerade gut bei meinen Schularbeiten helfen«, fuhr er fort. »Ich soll heute alle Flüsse in Ostfriesland herzählen und die Wattflächen aufsuchen.«
   Er brachte eine Landkarte herbei und nun vertiefte sich Onnen mit ganzer Seele in die Erinnerung an seine geliebte Heimat. »Hier liegt das Watt zwischen Hilgenriedersiel und Norderney, hier das zwischen Neßmersiel und Baltrum – da, wo mein armer Vater in die Hände der Franzosen geriet!«
   Beide Knaben trösteten ihren jungen Freund, die kleinen Mädchen brachten ihre Bilderbücher herbei und so vergingen ein paar angenehme Stunden, bis plötzlich ein dänischer Soldat erschien und von seinem Herrn einen Brief an den Obersten abgab. Die Baronin nahm ihn mit einem schnellen Blick auf Onnen aus den Händen des Dienstmädchens. »Von Leutnant Knutsen«, sagte sie rasch, »es ist der Herr, welcher in Emden war – dieser Brief kann nur für Sie sein, mein lieber Onnen!«
   Unser Freund wurde bald rot, bald blaß, er erhob sich unwillkürlich wie jemand, der ein schwerwiegendes Urteil empfangen soll; über seine Lippen kam vor lauter Aufregung kein Wort.
   Die Baronin zerriß das Kuvert. »Herrn Onnen Visser«, las sie, »ich dachte es wohl. Möchte Gutes darin stehen, mein Freund! Hier, ich will es vor dem Obersten vertreten, daß sein Brief erbrochen wurde.«
   Sie reichte gütig dem jungen Manne den lang ersehnten Schatz und nickte dann ihren Kindern. »Nun laßt unsern Besuch in Ruhe, ihr Kleinen; er will lesen, was ihm seine Mama schreibt, da dürft ihr ihn nicht stören.«
   Die Kinder schlichen auf den Zehenspitzen davon. Onnen blieb allein in der Laube aus großblättrigem dunklen Efeu, allein mit den tausend flüsternden, nickenden Ranken und den Empfindungen, die mächtig flutend sein Herz bewegten.
   Das war die steife ungeübte Handschrift der teuren alten Frau – sie lebte wenigstens, sie war wohl genug, um ihm schreiben zu können.
   Er riß den Brief auf, bis oben in die Kehle hinein fühlte er den Schlag seines Herzens. »Mein Junge«, stand da, »mein lieber, einziger Onnen!« – Er schluchzte, er preßte beide Hände vor das Gesicht; erst nach Minuten war es ihm möglich, zu lesen.
   Ja, gottlob, es ging der alten Frau gut, sie lebte immer noch im Hause des befreundeten Wattführers, und Uve Mensinga und seine Frau schickten ihm ihre herzlichsten Grüße. »Wie lang ist mir das Unglücksjahr geworden«, schrieb Frau Douwe, »wie sorgenvoll und schwer! Kam jemals eine Botschaft von den mörderischen Schlachten in Rußland zu uns nach Norderney, so zitterte mir immer das Herz in der Brust. Ich dachte aber doch, daß Du dem Leben erhalten sein müssest, ich hätte ihn hier gefühlt, den Streich, der Dein geliebtes Haupt traf, ich wäre mit Dir gestorben, Onnen, mein Liebling, mein letztes, teures Gut.
   »Sage es allen denen, die Dich beschützt und Dir geholfen haben, daß Deine alte Mutter für sie betet, mein Junge, sage dem Zigeuner (es wird doch kein ungetaufter Heide sein?), daß ich ihn empfangen will wie einen Boten Gottes, wenn es mir vergönnt ist, Euch beide hier auf Norderney gesund und wohl vor mir zu sehen. Vertraue ihm nur ganz, mein geliebter Sohn, ehre und schätze ihn, als stände Dein armer lieber Vater selbst vor Dir; das hat er redlich um Dich verdient!«
   Es folgten dann eine Menge Nachrichten von Freunden und Bekannten. »Die Hansens in Hilgenriedersiel leben auch so traurig und gedrückt dahin«, hieß es, »sie wissen von dem Schicksal ihres Sohnes nichts, natürlich, weil alle Postverbindungen abgebrochen sind; ebenso hat auch Amke Wessel von ihrem Bruder keine Nachricht. Jetzt will ich mich aber gleich aufmachen und den armen Seelen die gute Nachricht bringen – ach, wie wird sich Deine Tante freuen, wie wird sie weinen! Und höre, mein Herzensjunge, danke auch von mir dem Herrn Baron, daß er Deinen Brief in meine Hände brachte – Gott wird es ihm lohnen in seinen Kindern. Ich weiß ja gar nicht, wieviel Segen ich den guten Menschen wünschen soll, allen denen, die Dir geholfen haben, vornehmlich dem Zigeuner! Jemine, o Jemine, welch reichliche Zinsen hat es mir getragen, daß ich damals, als Du noch ein kleiner Knabe warst, den armen wandernden Leuten von unserem Überfluß ein wenig abgab – und es war doch nur Christenpflicht! Wenn das Dein Vater wüßte! Aber was sage ich! Er weiß alles, sieht alles, Gott kann mich und ihn nicht für immer getrennt haben, das sagt mir eine innere Stimme.
   »Alle Leute hier auf Norderney fragen nach Dir, mein Junge, alle lassen Dich grüßen, besonders die alte Aheltje, Du weißt, die Hexe vom Wattstrand. Dann kommt sie an ihren Krücken in das Dorf gehumpelt und sieht mit dem verkümmerten Gesicht durchs Fenster. ›Heda, Frau, habt Ihr eine Nachricht von Eurem Sohne?‹ – Und so oft ich ihr mit Tränen antworten mußte, ›Ach nein, Nachbarin!‹ dann schüttelt sie den Kopf und geht fort. Einmal fragte ich sie: ›Was wollt Ihr denn von dem Onnen, Frau?‹ – aber sie verriet nichts. ›Das muß ich ihm selbst sagen, nur ihm selbst. Adjes, Adjes; wenn er kommt, laßt mich‘s wissen.‹
   »Kannst Du Dir denken, was es nur ist, mein Junge? Aber einerlei, Wichtigkeit wird‘s ja in keinem Falle haben. Höre, Onnen, Du bist nun in Hamburg und siehst die Leute, welche dort leben; auch mein einziger Bruder ist darunter, wie Du Dich wohl noch erinnerst, vielleicht begegnet er Dir einmal, so daß Du ihn grüßen kannst und ihn bitten, mir doch gelegentlich zu schreiben. Es ist Sonntagmorgen, mein Junge, ich will zur Kirche und Gott für seine Gnade danken. Bitte recht freundlich den Herrn Baron, daß er Dir später, wenn es ihm möglich ist, noch einen Brief besorgt. Du läßt Dir ja nicht träumen, wie sehr mich Deine lieben kindlichen Worte erfreut haben. Lebe wohl, mein Onnen, und Gott segne und behüte Dich tausendfältig!
   Mit den innigsten Grüßen Deine treue Mutter Douwe Visser.«
   Unser Freund faltete langsam den Brief zusammen. Auf seine Freude fiel ein unangenehmer Schatten, sobald er an den Bruder seiner Mutter erinnert wurde, an den Mann, der vielleicht binnen wenigen Stunden den Teilnehmern der geheimen Versammlung nachspüren und an ihnen zum Verräter werden würde. Er erhob sich rasch – das durfte nicht geschehen.
   Um ihn her lag auf der sauberen kleinen Besitzung ein so tiefer Friede, daß er unwillkürlich zögerte, wieder auf die Straße und in den Kampf und Hader der Verhältnisse hinauszutreten. Aber es mußte sein, und er entschloß sich daher kurz.
   Die Baronin verwahrte ihm auf seine Bitte hin den Brief, welchen er nicht in der Tasche zu tragen wagte, dann nahm er Abschied und ging schleunigst nach Eichholz, wo Geerd Kluin offenbar schon wartete.
   Der kränkliche alte Mann schien sehr aufgeregt, er rieb die Hände und blinzelte. »Heute ist wieder einmal in Hamburg der Teufel los«, sagte er. »Du solltest nur den Lärm auf den Holzplätzen und in den Eisenlagern sehen – stellenweise sind die ausgeplünderten Leute den Franzosen mit Beilen und Knitteln zu Leibe gegangen.«
   »Und rechts und links werden Schanzarbeiter gepreßt«, setzte Mikosch hinzu. »Man kann nicht mehr mit Sicherheit auf der Straße erscheinen.«
   Geerd Kluin winkte seinem Neffen. »Komm her, Onnen, ich will dir etwas sagen. Der Zigeuner braucht es nicht zu wissen!«
   Unser Freund setzte sich zu ihm. Auf dem mageren Gesicht des Alten wechselte die Farbe; seine Hände zitterten nervös. »Du, Onnen«, flüsterte er, »ich habe einen Plan!«
   »So!«
   »Weshalb bist du so einsilbig? Es gibt einen Fang, sage ich dir!«
   »Welcher Art, Onkel?«
   »Höre mich an! – Heute abend wird, wie ich bestimmt glaube, wieder in dem Speicher an den Vorsetzen eine Versammlung stattfinden; die Leute sind erbittert, außer sich, sie beraten irgendeine politische, gegen die Franzosenherrschaft gekehrte Maßregel, sie sprechen Dinge, deren Kenntnis Marschall Davoust teuer bezahlen würde.«
   Onnen nickte. »Und was kümmert das uns, Onkel?«
   »Nun«, rief eifrig der Alte, »wir könnten ja dem Herrn Marschall diese Kenntnis für guten Preis verkaufen!«
   »Indem wir die Leute belauern und einen französischen Wachtposten herbeiholen?«
   »Ja – aber das müssen wir beide miteinander ausführen. Einer allein kann es nicht unternehmen.«
   Onnen fühlte, daß er errötete. »Onkel«, flüsterte er, »so gib doch derartige Pläne auf. Es wäre Blutgeld, das du erhieltest.«
   »Ich will gar kein Geld haben«, rief der Alte. »Nichts als meinen ehrlichen Namen, meine Heimat soll mir der Marschall wiedergeben und höchstens ein paar Taler, um mit irgendeiner Fischerbark nach Emden zu kommen. Ich will Geerd Kluin heißen, nicht Martin Kracht, ich will nach Hause nach Norderney und dort den Franzosen meinetwegen alle möglichen Steuern bezahlen – nur von hier fort um jeden Preis.«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Um diesen nicht, Onkel. Vergißt du denn so ganz und gar deine deutsche Abstammung? Magst du den Feinden des Landes als Spion dienen?«
   Der Alte zuckte die Achseln. »Ich würde mich am liebsten um gar nichts bekümmern«, gestand er, »ach Gott, am allerliebsten. Aber das elende Leben, das ich führe! – Soll ich denn am Ende gar als Martin Kracht hier sterben und begraben werden? Es sticht in meiner Brust, es hämmert im Kopf – nein, nein, die Geschichte muß aufhören. Ich will dem Marschall die Versammlung anzeigen, aber mir vorher Gnade erbitten. Weshalb sollte ich denn nicht wieder Geerd Kluin heißen dürfen? Ich habe den Franzosen nichts zuleide getan!«
   Onnen suchte ihn abzulenken. »Das von den Versammlungen will mir gar nicht einleuchten«, sagte er. »Du träumst, Onkel!«
   »O Gott bewahre, ich weiß, was ich sage. Die Verschwörer sitzen in dem Gange hinter den Vorsetzen – ich muß nur noch herausbringen, in welchem Hause.«
   »Also das weiß er nicht«, dachte Onnen. »Gottlob!«
   Und laut fügte er hinzu: »Warum sollten die Leute denn gerade heute abend eine Versammlung abhalten?«
   Der Alte kicherte. »Ich beobachte sie schon seit Wochen«, sagte er. »Ein Makler ist ihr Bote, er kann ja, ohne Verdacht zu erregen, in jedes Haus gehen, er bringt die Nachrichten von einem zum andern. Heute vormittag war er unterwegs.«
   Onnen lächelte scheinbar ungläubig. »Torheit, Onkel!« flüsterte er.
   »Durchaus nicht, mein Junge. Jener Speicher gehört dem Kornhändler Rosenberg, er hat Türen nach verschiedenen Höfen und Gängen hinaus, er stößt an die Gebäude mehrerer andrer Kaufleute, die gleichfalls Verschworene sind. Da ist es beinahe unmöglich, die Leute abzufangen – sie haben Auswege nach allen Seiten hin. Du mußt mit mir gehen, Onnen; willst du?« »Nein, Onkel. Da du mich so rund heraus fragst, bin ich dir eine offene Antwort schuldig. Bei einer Verräterei will ich nicht beteiligt sein.«
   Der Alte schwieg verdrießlich, dann stand er auf und ergriff seine Mütze. »Adieu, Onnen; da du mich im Stiche läßt, so muß ich mir einen ändern Verbündeten suchen.« »Adieu, Onkel!«
   Noch in der Tür kehrte sich Geerd Kluin wieder um. »Besinne dich, Onnen!«
   Ein Kopfschütteln antwortete ihm, dann ging er fort. Unser Freund sah ihm unruhig nach. Was würde vielleicht die nächste Zukunft bringen?
   Es war jetzt fast Abend; in zwei Stunden hatten sich die Verschworenen zusammengefunden und konnten möglicherweise an den blutgierigen Marschall verraten werden; dann brach über eine große Anzahl geachteter Familien ein neues schreckliches Unglück herein. Die Mitglieder der Hanseatischen Legion gehörten zu denen, welche von der Amnestie für immer ausgeschlossen waren, ihre Güter hatte man eingezogen, ihre Namen als die von Hochverrätern gebrandmarkt – was würde also denen geschehen, die in Hamburg selbst, unter den Augen der Franzosen neue Anhänger warben und mit den im Felde Stehenden einen heimlichen Briefwechsel unterhielten?
   Onnen fühlte, daß das Blut heiß durch alle seine Adern rann. Um neun Uhr abends hatte er damals die Verschworenen gesehen, es blieb ihm also zu einer Warnung nur wenig Zeit mehr übrig—aber wo sollte er sie anbringen?
   »Mikosch«, sagte er hastig, »wenn ich in dieser Nacht ein wenig spät nach Hause komme, so nimm davon keine Notiz. Ich will ein Verbrechen verhindern.«
   »Soll dich denn nicht lieber einer von uns begleiten, mein Junge? Alexei oder ich selbst gehen mit dir.« »Gewiß!« rief der jüngere Zigeuner. »Ich bleibe bei dir!« Onnen drückte seine Hand. »Heute nicht, Alexei. Wäre es meine eigene Angelegenheit, um die sich‘s handelt, so würde ich dich bitten, mit mir zu gehen, aber es betrifft die Verhältnisse dritter Personen. Mir selbst droht übrigens keine Gefahr!« » Sollen wir uns irgendwo in den Hinterhalt legen?« fragte unruhig der Alte. »Alexei und ich, wir könnten dir doch Beistand leisten.« Onnen dachte nach. »Mikosch«, sagte er, »ich habe ein bestimmtes Versprechen der Geheimhaltung keinem Menschen gegeben, daher darf ich euch beide wohl, soweit es dringend erforderlich ist, ins Vertrauen ziehen. Kennt ihr die Stelle, wo an den zweiten Vorsetzen die Holzkräne stehen?« »Gewiß!«
   »Gut Dem fünften Krane gegenüber liegt ein schmaler Gang; vor dem Hause Nummer 6 desselben öffnet sich ein Hof mit einem dunklen, engen Zugang – wollt ihr dort heute abend um halb zehn Posto fassen?«
   »Ja«, antwortete einfach der alte Häuptling. »Ja, Herr!« »Gut—dann lebt einstweilen wohl. Und noch eins! Kommt irgendjemand, den ihr kennt, es sei, wer es wolle, so haltet euch versteckt.«
   »Das soll geschehen, Herr. Gib uns übrigens ein Losungswort; das dürfte doch für alle Fälle notwendig sein.« Onnen lachte. »Freiheit!« sagte er dann. »Wißt ihr etwas Besseres?«
   »Laßt uns nur bei ›Freiheit‹ bleiben. Ich denke, es paßt zur Sache.«
   »Gut also. Um halb zehn – und wenn —« »Martin Kracht des Weges kommt, so wird er erfahrene Spione wie uns nicht sehen, Herr, verlasse dich darauf.« Onnen fühlte, daß er errötete. »Lebt wohl!« rief er rasch. »Gott befohlen, Herr!«
   Die beiden Zigeuner blieben rauchend auf dem Strohlager sitzen und unser Freund eilte fort, um auf dem Meßberg nach dem Holzhändler Pehmöller zu fragen. Vor der Tür stand ein Wachtposten; man gewährte ihm keinen Einlaß und konnte nur versichern, daß außer den Franzosen niemand im Hause sei; an drei anderen Stellen gab auf sein Klopfen keine Seele Bescheid – es war nicht mehr möglich, die Verschworenen zu warnen.
   Er begab sich schnellen Schrittes in das Michaeliskirchspiel zurück, überall spähend und suchend, aber ohne eins der ihm bekannten Mitglieder jener Versammlung entdecken zu können. Nun war es vollständig dunkel, ein warmer, windstiller Abend, an dem der Himmel, mit schwarzen Gewitterwolken bedeckt, tief auf die Erde herabzuhängen schien. Kein Lüftchen regte sich, vom Dammtor herüber leuchtete die Glut mehrerer neuerdings verbrannter Häuser, alle Straßen waren leer, alle Fenster verhüllt. Wo im Freien vier Menschen beisammen standen, da wurde ja diese vielleicht zufällige Begegnung als politisches Komplott betrachtet und die Teilnehmer aus der Stadt verwiesen, ihr Hab und Gut konfisziert; man hütete sich also, auch nur einen Augenblick unnötig auf der Straße zu bleiben oder gar einen Bekannten zu grüßen – das eigene und das fremde Schicksal wurden dadurch gleich sehr bedroht.
   Onnen hatte den Bleichergang erreicht; vorsichtig glitt er durch die engen Hinterhöfe desselben und dann durch einen anderen größeren Gang – vor ihm glänzte in einiger Entfernung die Laterne an der Ecke der Vorsetzen.
   Etwas weiter hin lagen zur Rechten die beiden aneinanderstoßenden Speicher, dunkel und öde wie damals; der Gang war vollständig menschenleer.
   Ob Mikosch und Alexei Wache hielten?
   Aber er war ja davon ganz überzeugt. Schnell entschlossen bog er rechts ab in einen Nebengang, der hinter der Häuserreihe des Hauptweges dahinzuführen schien. Wenn die Speicher Ausgänge oder Parterrefenster nach den Höfen zu wirklich besaßen, so stand an denselben auch eine Wache und er konnte Einlaß gewinnen.
   Alles dunkel ringsumher. Die Arbeiter, welche hier wohnten, gingen früh zu Bette – nur hinter den wenigsten Fenstern glänzte noch ein Lichtschimmer.
   Onnen schlich weiter. Jetzt mußte er sich hinter dem Speicher Nummer 6 befinden; er sah empor – auch hier war kein Licht zu entdecken.
   Da glänzte plötzlich vor ihm durch das Dunkel eine französische Uniform, eine Blendlaterne wurde rasch geöffnet und eine Männerfaust packte ihn am Kragen.
   Stumm sah ihm ein Unteroffizier entgegen, wortlos, hastig spähend, dann sank die Hand von seiner Schulter. »Was wollen maken ici?« fragte der Soldat.
   Onnen zog, schnell gefaßt, seinen Paß aus der Tasche. »Ich wohne hier!« versetzte er, dem Franzosen das Papier hinhaltend.
   Dieser wehrte mit der Hand. »Gehen fort – au moment!« befahl er.
   Onnen ließ sich‘s nicht zweimal sagen. Mit einem schnellen: merci, Monsieur! ging er auf das Geratewohl vorwärts und um die Ecke des Weges. Vor ihm öffnete sich ein Hof ohne Ausgang, eine Sackgasse, wie es deren in den Gängen von Hamburg so viele gibt – nun war guter Rat teuer.
   Der Schweiß stand in großen Tropfen auf Onnens Stirn; nicht aus Furcht für die eigene Sicherheit, sondern weil er sich sagen konnte, daß der französische Unteroffizier ohne allen Zweifel Wache hielt, um den Verbündeten aufzulauern, und daß in den vielen dunklen Ecken und Winkeln der alten Mauern vielleicht zehn oder zwanzig Bewaffnete standen, die im gegebenen Augenblick vordringen und ihre Opfer überfallen würden.
   Was nun? Er selbst war gefangen.
   Starr und dunkel, ohne Zugang lag die Häuserreihe des vorderen Ganges. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als eines der niederen Gebäude zu betreten und – ja, was sollte er den Leuten sagen?
   Nichts regte sich, die Luft war schwer und dumpf, ein leises Grollen und Murmeln am westlichen Horizont verkündete das Herannahen des Gewitters.
   In einer Ecke der schiefen Häuserreihe glänzte Licht; auf gut Glück ging Onnen diesem Punkte entgegen und klopfte an die Tür. Mehrere gedämpfte Stimmen sprachen hinter derselben, eine Frau schien zu weinen; dann öffnete eine Hand die Tür.
   Onnen hatte ein Gefühl, als werde ihm die Kehle zusammengeschnürt Was sollte er den Leuten sagen?
   »Wer ist da?« fragte eine Stimme.
   »Darf ich einen Augenblick eintreten? Bitte, nur einen Augenblick, ich möchte Sie etwas fragen, guter Freund.«
   Eine breitschultrige Männergestalt erschien im Rahmen der Tür. »Kommen Sie nur näher, wer Sie auch sein mögen – ein Deutscher jedenfalls. Aber halt, wir haben die schlimme Krankheit im Hause – fürchten Sie sich auch nicht?«
   »Keineswegs. Ich – ja, aber sagen Sie mir, wer weint denn da drinnen so bitterlich?«
   Der Arbeiter seufzte. »Meine arme Frau«, sagte er. »Unser Junge liegt todkrank, meine Arbeit hat aufgehört, wir sind mit aller Freude, allen Hoffnungen zu Ende, nur um dieser verfluchten Franzosen willen. Der Teufel soll sie lotweise holen.«
   Das war mit einem solchen Ingrimm hervorgestoßen, daß Onnen auf diesen Seelenzustand des erbitterten Mannes seinen Plan baute. In dem engen halbdunklen Flur stehend legte er die Hand auf des Arbeiters Schulter. »Sie hassen wirklich die Franzosen, guter Freund?«
   »Wie den Erzfeind selber. Ich wollte, sie hätten alle miteinander nur eine Kehle und ich hätte diese zwischen meinen Fäusten.«
   Onnen begann aufzuatmen. »Würden Sie dann wohl einem Manne, den die Franzosen wie ein gehetztes Wild vor sich herjagen, Ihre helfende Hand leihen? Etwas weiter hin steht ein Unteroffizier – ich kann dort nicht wieder vorüber.«
   Der Mann richtete sich straffer auf. »Ein Franzose?« flüsterte er. »Nur einer? – Kommen Sie mit, Fremder, ich bin an diesem Unglückstage gerade in der Stimmung, einem von den Schuften den Schädel einzuschlagen.«
   »Vater, Vater«, bat leise die weinende Frau, »hüte dich doch! Wenn sie dich fassen, was soll ich armes Wurm anfangen?«
   Der Mann warf einen Rock über. »Sei doch still, Kind, ich brauche ja nur einmal zu rufen, und zehn, zwanzig – nein, hundert Mann sind auf einmal bei mir! Die Hunde, die Schufte haben ja keinen Freund!«
   Onnen ergriff die Hand des ehrlichen Mannes und drückte sie hastig. »Bester Freund, ich will ja an dem Franzosen gar nicht wieder vorübergehen. Ich muß nach den Vorsetzen – wie komme ich dahin?«
   »Von hier aus? – Das ist unmöglich!«
   »Über August Behrens seine Planke«, sagte leise die Frau. »Da hinten liegt die Bleiche und dann kommt noch ein kleiner Gang, du weißt doch, Vater?«
   »Ja, ja«, rief der Mann, »hast recht, mein Kind. August Behrens lacht sich halb tot, wenn er die Franzosen an der Nase herumführen kann.«
   »Laß mich erst nochmal den Jungen sehen«, setzte er hinzu und trat mit dem Licht an ein Bett, das in dem niederen Zimmer stand. »Du lieber Gott, wie blaß er ist, wie sieht er aus, der kleine Bursch!«
   Und der arme Vater beugte sich über die fiebernde Stirn seines Lieblings, er streichelte leise die verworrenen braunen Locken. »Mein süßer, lieber, kleiner Heinz!« sagte er zärtlich, »wenn der liebe Gott dich doch besser werden lassen wollte!«
   Die Frau schluchzte bitterlich; eine blinde alte Großmutter in der Ecke faltete ihre zitternden Hände und begann mit halblauter Stimme das Vaterunser zu beten. »Erlöse uns vom Übel, denn dein ist das Reich und die Macht und die Kraft und die Herrlichkeit. Amen.«
   Der Mann setzte das Licht so, daß die Strahlen den kranken Knaben nicht belästigen konnten. »Nun ist uns auch der Arzt genommen«, sagte er. »O, die Franzosen sind Teufel, sie brauchen für ihre Soldaten alle Ärzte von ganz Hamburg – und so mögen denn die Einwohner sterben wie Hunde!«
   »Das ist doch wohl nicht möglich!« rief voll Empörung unser Freund.
   »Das ist eine ausgemachte Sache. Unser Arzt kann nicht mehr herkommen, aber der menschenfreundliche Mann schickt zu den verlassenen Kranken seine Frau, die dann alles notiert und ihm sagt. Nachts schreibt er nach diesen Berichten die Rezepte und sonstigen Verordnungen; Gott lohne es den beiden guten Menschen!«
   »Aber nun kommen Sie!« setzte er hinzu. »Wir sind so unglücklich, der Haß gegen die Franzosen ist so gewaltig, daß man sich zuweilen nicht beherrschen kann. Sehen Sie, alle, die in diesem Hofe wohnen, sind Arbeiter aus den Rosenbergschen Speichern —«
   »Rosenberg?« unterbrach Onnen.
   »Ja. Kennen Sie den Herrn? Er gehört als Kornhändler mit zu den Ausgeplünderten, die Franzosen haben ihm alles genommen. Vorgestern und gestern sind die Speicher leer gemacht – wir mußten sämtlich die Arbeit niederlegen.«
   Onnens Herz schlug schneller. »Lieben Sie Ihren Arbeitgeber, lieber Freund?« fragte er in bedeutsamem Tone.
   Der riesige Kornträger schlug sich auf die Brust. »Tedje Bruhns geht für ihn durch Wasser und Feuer!« sagte er mit tiefer Empfindung. »Ja, Herr, ich liebe ihn und alle meine Kollegen auch.«
   »Gehört August Behrens mit dazu?«
   »Das versteht sich.«
   »Nun, dann lassen Sie uns eilen, ich sage Ihnen draußen mehr.«
   Er sprach der gebeugten Frau, so gut es ihm möglich war, Trost ins Herz und folgte darauf dem Manne, der durch die Küche gegangen war und nun in einen anderen Hof einbog.
   Wie ein Labyrinth, scheinbar pfadlos, schief und krumm zog sich die endlose Masse der Gebäude dahin; vor einer niederen Tür machte der Arbeiter Halt.
   »Hören Sie, Freund Bruhns«, flüsterte Onnen, »wissen Sie, wo sich Herr Rosenberg in diesem Augenblick befindet?«
   Der Arbeiter zuckte die Achseln. »Gerade jetzt? – Vielleicht!«
   Onnen streckte plötzlich die Hand aus. »Dort im Speicher?« fragte er, vor Aufregung kaum atmend.
   Der Kornträger pfiff leise vor sich hin, er blinzelte schlau. »Sie sind kein Zigeuner, was?« flüsterte er in vertraulichem Tone.
   »Nein, Bruhns, ein Deutscher wie Sie!«
   »Das hab‘ ich mir gleich gedacht! Ja, ja, Herr Rosenberg ist da im Speicher, die andern auch; alle, alle. Sie wollen noch in dieser Nacht auf und davon nach Mölln. Über den Stadtgraben – hui! Weg wie ein Vogel!«
   Onnen sah fest in des ehrlichen Mannes Gesicht. »Wenn‘s nämlich gelingt, Bruhns! Mich will der Unteroffizier da vorn nicht verhaften, sondern die Verschworenen. Es stehen hier herum vielleicht hundert Franzosen auf Wache.« Der Kornträger schien förmlich erstarrt »Franzosen?« wiederholte er.
   »Ja. Die Sache ist verraten; wenn also die Herren auseinandergehen, so werden sie geräuschlos abgefangen – der Speicher ist umstellt.«
   Tedje Bruhns ächzte, er bearbeitete mit den Knöcheln der rechten Hand seine Stirn, wie um gewaltsam einen Gedanken herauszupressen. »An einem Punkte kann ich ja nur stehen«, murmelte er, »dann mach‘ ich das Teufelszeug tot, als wenn‘s junge Katzen wären! – O Gott, was fangen wir aber mit den anderen Stellen an?«
   Onnen lächelte trotz der Aufregung, welche ihn beherrschte. »Ihre Frau hat es Ihnen ja bereits gesagt, mein guter Bruhns! Die Verschworenen müssen durch den nebenstehenden Speicher hierhergelangen und dann über die Planke dieses Hofes klettern. August Behrens wird ja den Weg durch sein Haus ohne Zweifel gestatten.«
   »Natürlich! Natürlich! – Na, nun geht mir endlich auch ein Licht auf! Sie wollen hin und die Leute warnen?«
   »Gewiß – also lassen Sie mich schleunigst aus diesem Gefängnis heraus.«
   Es wurde an die Tür geklopft, der Bewohner des Hauses in aller Eile verständigt und dann über einen mit Gerümpel angefüllten Hof der Weg zur Planke gesucht. Onnen und der Arbeiter stiegen hinüber, Behrens folgte nach, und alle drei gingen durch das kümmerliche gelbe Gras der Bleiche, um dann jenseits dieser Strecke wieder einen Lattenzaun zu überklettern. Sie standen nun in einem offenen Gange, der zu den Vorsetzen führte.
   Onnen atmete auf. »Gott sei Dank«, sagte er aus Herzensgrund. »Bruhns, es ist doch kein Irrtum, wenn ich annehme, daß die Fenster des zweiten Speichers auf Ihren Hof hinausgehen?«
   »Das ist richtig; Sie irren nicht und Sie können sich auch darauf verlassen, daß Herr Rosenberg und mehrere andere die Wege durch diese Höfe und Gänge genau kennen.«
   »Dann ist alles gut. Lassen Sie mich jetzt allein, damit wir kein Aufsehen erregen – es ist besser so.«
   »Wir kommen auf einem Umweg in den Gang«, flüsterte Bruhns. »Bei Heinz Schulz, weißt du?« fügte er gegen seinen Kameraden hinzu.
   »Natürlich weiß ich das!«
   Die beiden gingen strammen Schrittes weiter und Onnen eilte zu dem bewußten Eingang vor dem holländischen Kran. An der scharfen Ecke desselben saß eine alte Frau und hielt auf dem Schoß einen Korb mit Grünzeug. Ihren Kopf umhüllte ein schwarzes Tuch, die Hände lagen in den Falten der Kleider.
   »Rettich!« sagte sie mit klagender Stimme. »Schwarzer Rettich! Birnen! Kauft der Herr nichts?«
   »Nein, ich danke, Frau! – ich danke!«
   Er ging hastig weiter. Überall Kellereingänge, Saaltreppen und Höfe, überall dichte, undurchdringliche Finsternis. Ob sich die Zigeuner in der Nähe befanden?
   Er wagte keine Nachforschung; hinter jedem Winkel konnte ja möglicherweise auch Geerd Kluin ein Versteck gesucht haben.
   Alles blieb still, Onnen fand den Eingang des leerstehenden Speichers, kam bis zur Brücke und schlich hinüber, dann klopfte er an die ihm bekannte Tür und diesmal war es Karl Pehmöller, der Holzhändler, welcher ihm öffnete.
   »Sie sind es«, rief er, Onnens Hand mit Wärme drückend, »ich bin Ihnen nie zu tilgenden Dank schuldig, mein junger Freund. Hoffentlich kommt der Tag, an dem ich vergelten kann, an dem —«
   »Herr Pehmöller, lassen Sie uns —«
   »Nein, nein, ich will mich erst in Ihren Augen rechtfertigen. Wenn ich gewußt hätte, was inzwischen über meine arme Frau hereinbrechen sollte, so würde ich natürlich das Haus niemals verlassen haben! Aber wer denkt an solche Schandtaten? Als ich später wieder hinkam, wollten mir die Franzosen sogar den Einlaß verwehren. Dies ist ein Lazarett! hieß es. Hinaus! Dann, nachdem ich mich gehörig legitimiert hatte, suchte ich unser Wohnzimmer auf und sah im Schrank nach dem dort verwahrten Geld. Alles fort, auch kein Schilling war zurückgeblieben – natürlich im Interesse des Staates und der Pflege erkrankter Krieger! O, man könnte wahnsinnig werden! – Ich habe, dem Himmel sei Dank, in Altona an sicherer Stelle noch eine größere Summe liegen, so daß meine Frau und die Kinder nicht mittellos zurückbleiben, aber dennoch danke ich Ihnen tausendmal. Der Baron hat die Meinigen zu sich genommen und mir versprochen, sie in jeder Weise zu beschützen.«
   Er war so aufgeregt, so ruhelos, daß ihm Onnens Ungeduld vollständig entging. »Dies ist vorläufig in Hamburg der letzte Abend«, sagte er, »wir begeben uns noch in dieser Nacht —«
   »Herr Pehmöller, wollen Sie mich nicht einen Augenblick anhören?«
   »Nun – und? Sie machen ein so feierliches Gesicht, mein junger Freund!«
   »Die Sache ist auch sehr ernst, Herr Pehmöller. Es sind Franzosen in der Nähe!« »Hier? – Spione?«
   »Ja. Mich selbst hat ein Unteroffizier angehalten.«
   »Alle Teufel, dann kann‘s ja bald genug zum Handgemenge kommen. Sehen Sie diese Pistole! Der Augenblick, wo ich sie dem ersten besten Franzosen auf die Stirn setze, dieser kostbare Augenblick soll mich für vieles entschädigen!«
   Onnen berührte leicht seine Hand. »Daran kann gar nicht gedacht werden«, sagte er in eindringlichem Tone. »Zweifeln Sie, daß auch ein Tambour in der Nähe versteckt ist, daß man für die Möglichkeit, ein Signal zu geben, hinlänglich gesorgt hat? – Wir müssen uns in aller Stille davonschleichen, Herr Pehmöller; glauben Sie mir, ich kenne solche Stunden einer schmerzvollen Selbstüberwindung zur Genüge. Als mein armer Vater von den Franzosen heimtückisch im Winkel erschossen worden war, da dachte ich auch nur an eins, wollte nur eins, die augenblickliche, ausgiebige Rache – aber dennoch, mit blutendem Herzen haben fünfhundert entschlossene Männer es über sich vermocht, den Zorn zu ersticken und die Stunde der Wiedervergeltung ruhig zu erwarten. Das ist heute auch unser Los; wir müssen die Parterrefenster dieses Hauses von den davorliegenden Brettern befreien und unseren Rückzug durch die Gänge nehmen. Ist übrigens Herr Rosenberg hier?«
   Statt weiterer Antwort öffnete der Holzhändler die Tür. Jedes Gespräch verstummte, aller Augen hingen an dem verstörten Gesicht des Eintretenden. »Böse Botschaft«, sagte dieser in seiner aufgeregten Weise, indem erden Hahn der Pistole knacken ließ. »Der Feind ist da!«
   Oberst Mettlercamp beugte sich vor. »Sprechen Sie vernünftig, Pehmöller! Was gibt es?«
   »Franzosen, ich sagte es ja schon. Wir brauchen nicht erst nach Mölln zu gehen, um einige von den Schuften niederzumachen.«
   Mehrere Herren waren aufgestanden, unter ihnen der Kornhändler Rosenberg. Onnen erzählte diesen Leuten alles, was er wußte, und sogleich wurden die Vorbereitungen zu schleunigster Flucht getroffen. Jemand glitt leisen Fußes die Treppen des benachbarten Speichers hinab und schloß ebenso geräuschlos unten den Eingang, dann machte man sich daran, die Verkleidungen der Fenster abzubrechen.
   Alle Versammelten waren entschlossen, noch in dieser Nacht Hamburg zu verlassen, indem sie in der Gegend des heutigen Holstentores den Stadtgraben durchschwammen und dann über das Heiligengeistfeld hinweg die naheliegende altonaische Grenze erreichten. Hier warteten sichere Leute, welche die Flüchtlinge zu Pferde und zu Wagen nach Mölln schaffen würden. Die Hanseatische Legion stand unter dem Oberbefehl des russischen Generals Tettenborn – dahin mußte also der Nachschub gesandt werden.
   Man hatte die nötigen Verabredungen getroffen, einigen zurückbleibenden Freunden dies und das aufgetragen, nun ging es an den Abschied. »Auf Wiedersehen draußen!«
   Onnen und einige andere räumten die Bretter weg; dann sah der Kornhändler vorsichtig zum Fenster hinaus. Ihm gehörte das Haus, es konnte also keinen Verdacht erregen, wenn er auch wirklich bemerkt wurde.
   Draußen lag noch auf den engen Mauern dieselbe undurchdringliche Finsternis; einzelne Regentropfen fielen mit klingendem Geräusch auf das Pflaster, hie und da flohen Ratten – sonst war alles still und öde.
   Rosenberg schwang sich hinaus. »Mir nach!« sagte er leise. »Behalten Sie mich im Auge, meine Herren, oder es ist Ihnen unmöglich, den Weg durch die Gänge allein zu finden.«
   Einer folgte dem anderen. Wie Schatten schlüpften die Männer über den engen Hof, nur noch zwei waren im Hause, da tönte plötzlich ein unterdrückter Schrei aus nächster Nähe herüber: »Verrat! Verrat!«
   »Nach vorn!« rief Onnen. »Nach vorn!«
   Im Hofe erhob sich ein Tumult, französische Umformen wurden sichtbar, französische Worte schallten durch die Nacht. Ein Trommler setzte die Schlägel in Bewegung, aber nur sekundenlang, dann geschah ein schwerer Fall, ein Mensch röchelte angstvoll und (blieb regungslos liegen. Weiterhin wurde gekämpft, Mann gegen Mann, wie es schien, Türen öffneten sich, immer mehr Leute kamen hinzu – hie und da klang verstohlen, halb unterdrückt ein Schmerzensschrei.
   Den Horchenden drinnen lief es kalt über den Rücken herab. Welch ein grauenvoller Kampf da in den düsteren Gängen, ohne Licht und Zeugen, ohne ehrliches Spiel, nur mit dem furchtbaren Hasse des einen Volkes gegen das andere Brust an Brust geführt! Welch ein Ringen, bei dem das Blut in Strömen floß und ausschließlich Messer und Faust zur Anwendung kam! Leben um Leben, das war die Losung.
   Allmählich wurde es still. Blutgeruch drang in die offenen Fenster, nur noch vereinzelte Laute bezeichneten die Stätte eines mörderischen Kampfes.
   »Jetzt ist es Zeit!« flüsterte Onnen. »Vorn hinaus!« Die Fenster blieben offen, es hätte zuviel Zeit gekostet, sie wieder zu verrammeln; leise gingen die beiden letzten Männer aus der Versammlung mit unserem Freunde zur vorderen Eingangstür, die möglichst geräuschlos wieder geöffnet wurde.
   Der Gang schien völlig leer.
   Alle drei traten heraus – gottlob, der Handstreich war gelungen.
   Aber die Freude dauerte kurz. Wie aus dem Boden auftauchend, näherten sich von beiden Seiten zugleich wenigstens zehn Franzosen, die augenscheinlich von ihren Waffen keinen Gebrauch machen wollten, sondern die plötzlich Umzingelten zu packen und fortzuschleppen gedachten – wenn ihnen nicht ebenso wirksam als unerwartet der Weg verlegt worden wäre.
   Es öffnete sich eine Tür; drei von den riesigen Gestalten, welche man in Hamburg auf den Kornspeichern sieht, stürzten heraus und warfen sich auf die Franzosen, gewandt wie eine Gazelle sprang von einer Saaltreppe ein schlanker junger Mann herab und fiel den Feinden in den Rücken. Binnen Sekunden lagen fünf Franzosen geknebelt auf dem Pflaster.
   Aber trotz dieses tapferen Beistandes war dennoch Gefahr im Verzuge. Eine Metallpfeife stieß einen gellenden Ton hervor – zwei Soldaten hatten Onnen zu Boden geworfen und suchten ihn mit ihren Fäusten zu erdrosseln.
   Da erschien im Laufschritt auf dem Kampfplatze eine völlig unerwartete Person – die alte Händlerin von der Ecke der Vorsetzen. Sie hatte ihren Korb beiseitegeschleudert und riß jetzt mit einem einzigen energischen Ruck den ersten Franzosen von Onnens Brust, dann folgte der zweite, den Tedje Bruhns sofort in Empfang nahm. »Hest fullen, Muschä? Da, legg die daal un swiig still!«
   Er nahm den zappelnden Soldaten und trug ihn in den leeren Keller des Speichers, während seine beiden Genossen, Heinz Schulz und August Behrens, gleicherweise unter den übrigen aufräumten. Einem war der Schädel zerschmettert, zwei lagen bewußtlos, mit dem vierten kämpfte Onnen, der die Flucht der beiden Verschworenen durch seinen Körper gedeckt hatte. Hageldicht fielen von einer und der anderen Seite die Hiebe – wieder kam die Händlerin unserem Freunde plötzlich zu Hilfe.
   »Freiheit!« flüsterte sie ihm lächelnd ins Ohr.
   »Mein Himmel!« rief Onnen.
   »Ganz still! Namen tun nichts zur Sache.«
   Jetzt war die Schlacht geschlagen, sieben Franzosen gefangen, einer tot und zwei verwundet. Die beiden Flüchtlinge hatten Zeit zum Enteilen gefunden und alle übrigen verschwanden hinter Heinz Schulzes schützender Haustür.
   »Mikosch«, rief Onnen, »welch ein Schelm bist du!«
   »Kauft der Herr Rettich?« sagte die bettelnde Stimme von vorhin. »Schöner schwarzer Rettich! Süße Birnen!«
   Tedje Bruhns schob bedächtig das Tuch von der Stirn der Alten. »Mit Verlaub, Mutter«, sagte er nach eingehender Prüfung, »du bist ein richtiger Zigeuner!«
   Sie lachten sämtlich, aber doch nur einen Augenblick. »Onnen«, sagte Alexei, »dein Onkel war während der ganzen Zeit hier, ich habe ihn in einem Versteck neben dem meinigen unausgesetzt beobachtet.«
   Onnen errötete. »Ich bemerkte ihn nicht«, stammelte er.
   Draußen wurde an die Tür geklopft; es waren französische Soldaten, welche so ungestüm Einlaß begehrten. »Maken auf la porte!« riefen sie. »Vite! Vite!«
   Geräuschlos flüchteten die beiden Kornträger, die Zigeuner und Onnen über den Hof des Wirtes und in einen Schlupfweg zum Eichholz hinein; August Schulz dagegen warf Rock und Stiefel ab, wartete bis er die Freunde in Sicherheit wußte und erschien dann mit schlaftrunkenem Wesen vor der Haustür.
   Die Franzosen fluchten lästerlich, sie holten die Gefangenen aus dem Keller hervor und trugen auch die Verwundeten fort – nur der Tote blieb, nachdem ihm seine Kameraden Uhr und Kette abgenommen, unbeachtet liegen.
   Vielleicht hatte er die Kleinodien in Rußland geraubt, vielleicht ihrer Erlangung wegen einen Menschen getötet – jetzt lag er in der Gasse und die Ratten berührten mit ihren spitzen kalten Schnauzen seine Stirn.
   An der stillen Gestalt vorüber schlich gebückt und scheu ein blasser ältlicher Mann. »Wieder umsonst«, murmelte er, »wieder umsonst!«
   Und als die Wellen der Elbe vor seinen Blicken an das Ufer fluteten, da schluchzte er plötzlich laut auf, da breitete er beide Arme aus. »Ich will nach Hause, nach Hause – o großer Gott, laß mir‘s doch endlich gelingen!«
   Onnen eilte zum Wall, wo sich heute die großartigen Parkanlagen des Holstenplatzes ausdehnen. Damals war Hamburg von seinem, gegenwärtig nur noch in einigen letzten Überresten bestehenden Stadtgraben rings umgeben; hohe Bäume und dichtes Gesträuch schmückten die Wälle, während an der anderen Seite das öde, dem Schlachteramt gehörige Heiligengeistfeld sich dahinzog, unbebaut wie jetzt noch, in seiner nördlichsten Ecke an den neuen Pferdemarkt und über diesen hinweg an die altonaische Große Gärtnerstraße stoßend. Hier war der Punkt, an welchem die Verschworenen, ohne sich vorher zu sammeln, über den Stadtgraben schwimmen und die Grenze erreichen wollten.
   Ein Wachtposten ging auf und ab, hie und da huschten dunkle Gestalten an ihm vorüber. Onnen spähte umher, er suchte den Kornhändler, dem er bei einem gefährlichen Unternehmen seine Hilfe zugesagt hatte.
   Da berührte eine Hand seine Schulter. »Hier, mein Junge; ich kenne die Stelle ganz genau – als lediger Mann hab‘ ich mein bares Kapital rechtzeitig in Sicherheit gebracht.«
   Eine hohe alte Buche breitete ihre Äste über die Umgebung, rote und gelbe Georginen blühten auf einem Beet am Stamm des dichtbelaubten Baumes, während ein Gebüsch aus jetzt längst entblätterten Schneebällen und Syringen die Fernsicht zum höher gelegenen Wall begrenzte. An diesem Punkte setzte der Kornhändler ein mitgebrachtes starkes Messer in die Erde und grub emsig, während Onnen den Wachtposten beobachtete. So oft dieser letztere vorüberkam, duckten sich die Schatzgräber und hielten den Atem an, um nicht bemerkt zu werden; war er vorbeigegangen, dann nahmen sie ihre mühsame Arbeit wieder auf.
   Onnens Messer stieß zuerst auf einen harten Körper, es bog sich und konnte nicht tiefer eindringen. »Ich glaube, wir sind am Ziel!« flüsterte er.
   Rosenberg bohrte sein Messer in der entgegengesetzten Ecke tief auf den Grund. »Wir haben den Kasten, mein Lieber! – Wo ist der Soldat?«
   »Nicht so laut, er kommt gleich hierher!«
   Der Franzose ging vorüber, oder schien zu gehen, tatsächlich hemmte er um irgendeines Zufalles willen seine Schritte, als gerade der Kornhändler den Kasten mit Onnens Hilfe aus dem feuchten Erdboden hervorhob. Es rasselte ein wenig – nur ein ganz klein wenig.
   Wie auf Katzenpfoten näherte sich der Franzose, er sah über die nächsten Gebüsche hinweg, spähend auf den Kasten und die beiden Männer, welche eben das Schloß geöffnet hatten, um die hinter demselben verborgenen Schätze heraufzuholen.
   »De l‘argent!« bebte es unwillkürlich von den Lippen des Soldaten; sein Auge glühte wie das der Wildkatze, wenn sie Beute wittert, seine Hand streckte sich aus, wie um den heißbegehrten Schatz zu packen. Im nächsten Augenblick sprang Rosenberg empor, außer sich vor Wut, unfähig, den rasenden Groll gegen Hamburgs Peiniger länger zu bemeistern. Das Messer, noch mit feuchter Erde bedeckt, drang dem Soldaten in die Brust, so daß nur das Heft hervorsah, ein Blutstrahl sprang im Bogen empor, der tödlich Getroffene stürzte rückwärts taumelnd auf den Weg und blieb liegen wie ein gefällter Baum.
   Rosenberg packte kalt das Geld in einen ledernen Gürtel, welchen er unter seinen Kleidern trug; Dann reichte er unserem Freunde die Hand. »Leben Sie wohl, Visser, ich hoffe Sie später in den Reihen der Unsrigen zu sehen.«
   »Gewiß, gewiß. Bitte, sagen Sie, Herr Rosenberg, sind Ihre Freunde sämtlich gut davongekommen? Ich hörte, daß gekämpft wurde.«
   Der Kornhändler schüttelte den Kopf. »Es bellte in einem nebenstehenden Hause plötzlich ein Hund«, sagte er seufzend, »das muß den Franzosen aufgefallen sein, denn sie drangen aus dem benachbarten Hofe hervor und auf uns zu, einer wollte sogar ein Trommelsignal abgeben.«
   »Aber ich denke, er wurde verhindert?«
   »Ja. Pehmöller hat ihm mit einem Handbeil den Schädel eingeschlagen. Es sind von uns drei Leute gefallen – ich weiß nicht, ob tot oder nur verwundet; meine Speicherarbeiter haben sie aufgehoben und in ihre Häuser getragen. Ohne diese treuen Seelen wären wir überhaupt schlecht fortgekommen; es schien, als sei der ganze Hof plötzlich lebendig geworden – wohl hundert derbe Fäuste schützten unseren Rückzug. Wenn ich jemals nach Hamburg zurückkomme und wenn jemals meine Firma im alten Glanze wieder ersteht, dann will ich es diesen braven Leuten vergelten. Nun aber nochmals, leben Sie wohl, Visser! Gott sei mit Ihnen!«
   »Auf Wiedersehen, Herr Rosenberg, leben Sie wohl. Und bitte, wenn Sie drüben glücklich angelangt sind, so geben Sie mir ein Zeichen.«
   »Gewiß, gewiß!«
   Er kletterte vorsichtig die Uferwand hinab und tauchte in die kalte Flut; mit wenigen langen Stößen hatte er, den Rock zwischen den Zähnen haltend, den nicht besonders breiten Wasserarm überschwommen. Er schüttelte die Tropfen möglichst von sich ab, zog den Rock wieder an und warf dann einen Stein in den Graben. Onnen erkannte das Signal und antwortete in gleicher Weise. So war also der letzte noch Anwesende glücklich entkommen. Er beugte sich schaudernd zu dem regungslosen Soldaten. Tot! Rosenbergs Messer hatte das Herz durchbohrt.
   Onnen zog die Leiche weiter hervor, damit sie möglichst schnell bemerkt werden möge, dann eilte er so rasch wie möglich nach Hause. Diese Nacht hatte der Aufregungen so viele gebracht, daß er fast taumelte.
   Mikosch wachte noch. »Du Verschwörer!« sagte er lächelnd.
   »Du alte Rettichfrau! Wie kamst du eigentlich auf den Gedanken, dich zu verkleiden?«
   »Nun, weil doch jemand achtgeben mußte, was sich zutrug. So konnte ich bequem den Gang der Dinge überblicken und auch für Alexeis Sicherheit wachen. Hörtest du nicht eine kläglich miauende Katze? Das hieß: ›Komm hervor, wir können die Franzosen überwältigen.‹«
   »Du bist ein richtiger Zigeuner!« wiederholte Onnen das Wort des biederen Speicherarbeiters; dann schliefen sie beide, der alte Häuptling und er.
   Draußen graute indessen der junge Morgen. In dem Labyrinth verzweigter Gänge und Höfe hinter den Speichern begann sich‘s zu regen; flinke Hände trugen die Toten hinaus an einen weit entfernten Punkt, die Eiskuhle, wo leere Karren und Straßenwagen ihren Platz haben; die Verwundeten auf eine offene Straße und die zurückgebliebenen, auch verwundeten Hanseaten auf die Böden der Häuser, wo kein Auge sie suchen würde. Das Blut wuschen erschrockene Frauen von den Wänden und Pflastersteinen, umherliegende Knöpfe und Fetzen wurden eingesammelt und mit bebenden Herzen der Anbruch des eigentlichen Tages erwartet.
   Durch alle Gänge und Schlupfwege liefen Blutspuren; mehr als nur ein Franzose mußte entkommen sein, es war also anzunehmen, daß eine strenge Untersuchung und vielleicht grausame Strafen auf dem Fuße folgen würden.
   Eine bange Furcht hielt die Herzen umklammert. Wer jemals über einem Abgrund auf schwankendem Brette zwischen Tod und Leben schwebte, der kann ermessen, was die gequälten Leute an diesem Morgen empfanden.
   Drei Hanseaten hatten zurückbleiben müssen; der eine konnte schon vor Tagesanbruch, nachdem er verbunden und zum Bewußtsein gebracht worden war, allein nach Hause gehen, der zweite starb unter den Händen seiner freundlichen Pfleger – alle Sorge, alle bangen Befürchtungen galten daher nur dem dritten, einem jungen Hutmacher, der stark am Fuße verletzt war und aus diesem Grunde das Bett nicht verlassen durfte. Fanden ihn die Franzosen, so mußte man das Ärgste erwarten. Tedje Bruhns, der Riese, hatte ihn auf seine Arme genommen und nach dem Boden getragen. Dort bereitete Frau Johanna im verstecktesten Winkel ein weiches Lager und dann schichtete ihr Mann den kleinen Holzvorrat des Hauses so auf, daß bei oberflächlicher Untersuchung von dem Bett und dem Kranken nichts zu entdecken war.
   »So, Herr Nelles«, sagte er, »nun mag der liebe Gott weiter helfen; einen Doktor kann ich Ihnen nicht verschaffen, aber zu rechter Zeit komme ich herauf und lege Ihnen kaltes Wasser auf den Fuß, verlassen Sie sich darauf.«
   Der Verwundete nickte mit geschlossenen Augen; er war so schwach, daß er kein Wort hervorbringen konnte.
   Stunden der Angst vergingen, dann rasselte um sieben Uhr früh die Trommel und eine Abteilung Franzosen umstellte in weitem Kreise das ganze Viertel; einzelne Züge drangen in die engen Gänge und nun begann eine furchtbare Szene.
   Keiner der an dem Kampfe des letzten Abends beteiligt Gewesenen hatte die Örtlichkeit jemals bei hellem Tageslicht gesehen, es konnte daher auch keiner mit Bestimmtheit angeben, wo er sich befunden habe – Grund genug, um die schärfsten Maßregeln zur Geltung zu bringen.
   Alle Türen wurden geöffnet, alle Zimmer rücksichtslos durchsucht, die Kranken aus den Betten gezerrt und die, welche etwa den erhaltenen Befehlen nicht schnell genug Folge leisteten, mit Kolbenstößen vorwärtsgetrieben. Der ärmliche Hausrat ging dabei in Trümmer, Tiere und Menschen erlitten Mißhandlungen, der Unmut der Franzosen steigerte sich von Minute zu Minute, weil eben ihre eigenen Berichterstatter je länger, desto weniger in den engen Gängen bestimmte Merkmale anzugeben wußten.
   Da entdeckte zufällig ein Offizier die frischen Fußspuren auf der Bleiche, über welche die Hanseaten geflüchtet waren. »Es ist doch hier gewesen!« rief er. »Es muß hier gewesen sein! Sucht, Leute, sucht, ich verspreche euch doppelte Rationen Branntwein.«
   Mittlerweile war auch der Speicher im vorderen Gange erbrochen worden. Das Zimmer der Verschworenen zeigte deutlich die Anwesenheit einer größeren Zahl von Männern; es standen Stühle an den Tischen, Tabaksasche bedeckte den Fußboden und hier und da war in der Eile des Aufbruches ein Taschentuch oder ein Handschuh verloren gegangen; jetzt zerschlugen die Franzosen mehrere auf die Höfe hinausführende Fenster und fügten zu den schon vorhandenen Beweisen noch diese neu entdeckten. Unter den Soldaten erhob sich ein förmlicher Tumult, sie stießen jeden nieder, der ihnen irgendwo im Wege stand, gleichviel ob der Sturz auf das harte Pflaster Beulen und Wunden brachte oder nicht.
   Vor seiner Haustür stand Bruhns. »Ich möchte die Herren bitten«, sagte er mit gepreßtem Tone, »mein einzig Kind liegt schwer krank.«
   Niemand beachtete ihn. Eine Abteilung Soldaten drang in das Zimmer und vollführte einen so rücksichtslosen Lärm, daß sich die arme Frau des Kornträgers mit gerungenen Händen vom Sitz erhob und den Unmenschen entgegenging. »Mein kleiner Sohn hat das Fieber«, bat sie, »ach, übt doch Erbarmen, ihr Herren, er schreckt so auf, er phantasiert!«
   »Peste!« rief der Offizier. »Wohin man kommen mag, da liegt die Brut in diesen Höhlen fieberkrank herum. Aus dem Wege, ich will hinter den Schrank sehen!«
   Eine schnelle Bewegung entfernte das Bett; der Knabe schrie laut auf. »Mutter, Mutter – sie tun mir was! – Sie gießen mir heißes Wasser über den Kopf!«
   Ein Wimmern des Schmerzes folgte diesen ruckweise und undeutlich hervorgestoßenen Worten. Die großen blauen Augen des Kindes sahen ohne Ausdruck ins Leere, es tastete wild, wie um sich vor einem eingebildeten Sturze zu bewahren, ins Leere, unbeachtet von den Soldaten, die jeden Gegenstand schüttelten, von der Stelle warfen und in dem ärmlichen, aber sauberen kleinen Räume wie die Unsinnigen herumtobten.
   Frau Bruhns hielt ihr krankes Kind mit beiden Armen umfaßt, während der Mann geflissentlich draußen in der Tür stehen blieb. Er wußte, daß es ihm unmöglich gewesen sein würde, so gelassen den Übermut der Machthaber mit anzusehen, ohne ihnen in die Arme zu fallen und vielleicht zwei oder drei zwischen den nervigen Fäusten zu zerknicken – nur um sich selbst und die Seinigen ins Unglück zu stürzen.
   Das Zimmer und die Küche verbargen nichts; der Offizier zerbiß vor Wut seinen Schnurrbart. »Sucht weiter, meine Jungen, steigt auf den Boden! Irgendwo müssen sich die Spuren der Meuterei doch finden!«
   Bruhns fühlte, wie er erbleichte. Nun war alles verloren!
   Die Franzosen erkletterten die Leiter, welche zum Dachboden führte – das kranke Kind krümmte sich in den Armen seiner Mutter vor Schreck. »Sie fassen mich an, Mutter! Ach, Mutter, jage sie doch weg!«
   Die Frau faltete krampfhaft ihre Hände auf dem Rücken des Knaben. »Aus tiefer Not schrei ich zu dir!« schluchzte sie, »o Herr, erhör mein Flehen!«
   Der Mann horchte, er fühlte, wie seine Zähne unaufhaltsam gegeneinanderschlugen. Jetzt! – Sie hatten den Versteckten gefunden! —
   »Aha – endlich! Ein Verwundeter!«
   »Ruhig!« gebot der Offizier. »Ruhig! Holt den Mann hierher!«
   Zwei Soldaten nahmen den Arbeiter in ihre Mitte; er wurde vor das versteckte Bett des Hutmachers geführt und dann begann ein Verhör.
   »Wie heißt dieser Mann? Wer ist er? Wie kommt er hierher?«
   »Ich habe ihn heute morgen vor meiner Haustür gefunden und aufgenommen! Das ist Christenpflicht und nichts Unrechtes.«
   »Keine Bemerkungen!« herrschte der Offizier. »Fanden in dieser Nacht besondere Unruhen statt? Haben Sie einen Kampf zwischen den Soldaten des Kaisers und anderen Personen mit angesehen?«
   Der Kornträger schüttelte den Kopf. »Angesehen?« wiederholte er. »Nein! Aber ich habe das Durcheinander gehört!«
   Der Offizier verstand nicht, was ihm da in plattdeutscher Sprache gesagt wurde, auch der Verwundete konnte nicht sprechen, und so machte denn der Scherge des Gewaltherrschers kurzen Prozeß. Mehrere Soldaten brachten eine Bahre herbei und legten den unglücklichen Nelles, in Kissen gehüllt, darauf, dann trugen sie ihn mit Mühe zum Hofe hinunter. »Vorsichtig!« mahnte der Offizier, indem ein böses Lächeln sein Gesicht überflog, »vorsichtig! – Der Rebell darf jetzt nicht sterben.«
   Bruhns schauderte, er antwortete keine Silbe, als man ihn aufforderte, dem Zuge zu folgen – nur seinem Weibe reichte er die Hand und küßte das blasse Gesicht des Knaben. »Adjes auch, mein kleiner Heinz, adjes Hanne, ich muß ja mit, das weißt du!«
   Sie klammerte sich an ihn, die Unglückliche, sie schrie laut, aber ohne bei den Franzosen das geringste Mitleid zu erwecken. Noch einmal sah ihr Mann zu ihr zurück – überzeugt, von den Soldaten nicht verstanden zu werden, sprach er ihr Trost in das zerrissene Herz.
   »Mutter, ich konnte meinen Herrn nicht im Stich lassen, das weißt du doch! Weine nicht so herzbrechend, Alte, nach Regen kommt Sonnenschein! – Adjes! Adjes!«
   Er wurde hinausgeführt und sogleich in das Gefängnis geworfen. Auch die Leiche des am Wall erschlagenen Soldaten war gefunden worden und so ziemlich ganz Hamburg in Bewegung geraten; man brachte auch die Toten aus der Eiskuhle herbei, Haussuchungen folgten auf Haussuchungen, es wurde eine Liste der Abwesenden aufgestellt, es erschienen nacheinander mehrere Proklamationen, deren eine die Bewohner noch mehr erbitterte als die vorhergehende.
   Das Betreten der heimatlichen Stadtwälle war jetzt für die unglücklichen Hamburger zum Verbrechen geworden; eine Regierung, die sich zu den zivilisierten zählte, bedrohte jeden, der etwa unter den grünen Bäumen Luft zu schöpfen wünschte, im ersten Übertretungsfalle mit fünfzig Stockschlägen, im zweiten mit Ausweisung. Die Folgen der Abwesenheit waren noch empfindlicher, sie bestanden in der Konfiskation aller Güter und in dem Verbot der Rückkehr bei Strafe des Todes oder der lebenslänglichen Zwangsarbeit.
   Die Führer der Bewegung, von Heß, Gries, Mettlercamp, Perthes und viele andere wurden in die Acht erklärt; das schon vor Jahr und Tag in Norderney proklamierte Verbot, am Abend auf der Straße stehenzubleiben, wiederholte sich jetzt auch für Hamburg – den Männern wurden Stockstreiche angedroht, den Frauen Rutenhiebe.
   Auf den Straßen ergriffen die französischen Soldaten ohne weiteres jeden größeren Knaben oder erwachsenen Mann und stellten alle an die Schanzarbeit, wobei wieder ein infames, die Menschheit schändendes Erpressungssystem eingeführt wurde. Man gab den Gezwungenen einen bestimmten Tagelohn, ließ ihnen denselben aber sogleich durch besonders Angestellte wieder abfordern und zwar bald unter diesem, bald unter jenem Vorwand. Es war z.B. die Lieferung von Wolldecken für Kasernen und Lazarette ausgeschrieben und dabei bemerkt, daß solche Personen, welche die ihnen diktierte Anzahl nicht liefern könnten, dafür jede Decke bar mit zwanzig Mark bezahlen müßten. Ein anderes Mal brauchten die Kranken Wein, Zucker, Sago, Reis – wer nichts besaß, um es zu geben, der sollte auch hier wieder in die Tasche greifen.
   Den armen Schanzarbeitern wurde also das ihrige genommen und ihnen nebenbei eine Schuldenlast aufgebürdet, die sich je länger, desto weniger übersehen ließ.
   »Könnten wir nur fort!« seufzte Mikosch. »Hier ist kein Pfennig mehr zu verdienen, selbst die Soldaten besitzen nichts.«
   Onnen horchte auf. »Laß uns die Sache versuchen, Alter!«
   »Um Gotteswillen nicht! Die Tore sind gesperrt, jeder, der hinauszugelangen sucht, wird erschossen. Und wohin sollten wir auch flüchten? Ringsumher tobt der Krieg, die Kanonen donnern ja oft bis hier herüber.« Die drei gingen nicht mehr aus, Mikosch verzehrte heimlich seufzend das früher Erworbene und auch Geerd Kluin hockte ohne irgendeine Beschäftigung, meistens halblaut vor sich hinmurmelnd, in der Herberge. Er hatte die Beteiligung seines Neffen an jenem nächtlichen Kampfe niemals erfahren; wie ein Schatten schwand der alte Mann zusehends dahin.
   Dann kam ein Tag, an dem französische Soldaten in jedes Haus drangen und mit Gewalt die fehlenden Schanzarbeiter zusammenbrachten; auch unsere drei Freunde mußten dem Ruf folgen, und so sah denn der nächste Morgen die braunen Fremdlinge mit dem Spaten in der Hand.
   Die Befestigungsarbeiten an den Wällen wurden eifrig gefördert, die Brücke nach Harburg vollendet und überall Schanzen aufgeworfen; arme und reiche Bürger, Fremde und Einheimische mußten Erde fahren, Holz tragen und graben, immer bewacht von französischen Soldaten, bei kargem Lohne und denkbar grober Behandlung.
   »Vier Schilling für Mann und Tag«, seufzte Mikosch, »das ist für den Bescheidensten zu wenig. Aber ich denke, daß wir doch endlich den Sieg behalten werden; die Franzosen plündern in einer nie dagewesenen, vollkommen wahnwitzigen Art – sie fühlen sich also nicht mehr sicher. Man muß eben Augen haben und sehen können.«
   »Heute ist Auktion über die Güter der Abwesenden«, erzählte jemand von den Schanzarbeitern. »Oberst Mettlercamp verliert neun Häuser.«
   »Pah, die stehen ja fest wie der Grund und Boden selbst! Wenn das Räubervolk zum Lande hinausgeprügelt ist, dann gehören sie wieder unserem braven Alten.«
   »Pst! Du redest dich verzweifelt leicht um deinen Kopf.«
   »Der sitzt noch ganz sicher zwischen den Schultern. Wißt ihr übrigens das Neueste?«
   Sie horchten sämtlich. »Nun?«
   »Morgen wird Nelles erschossen!«
   »Der arme junge Mann, er war ein so liebenswürdiger Mensch, ein so tüchtiger Kaufmann! – Also mit der ungeheilten Wunde wollen ihn die Barbaren auf das Heiligengeistfeld hinausschleppen?«
   »Ja, morgen vormittag sieben Uhr!«
   »Bitte«, fragte Onnen, »wissen Sie nichts von dem Schicksal des Mannes, in dessen Haus man den verwundeten Nelles fand?«
   »Bruhns, der Kornträger? Ja, er hat fünf Jahre Zwangsarbeit erhalten. Man steckt ihn in die Sträflingskleidung, legt ihm zwischen Hand und Fuß eine Kette und läßt ihn hier mit schanzen. Er ist besser dran als wir, denn die Franzosen müssen ihn wohl oder übel füttern.«
   »Ein trauriger Trost, wahrhaftig!«
   Irgendein andrer Schanzarbeiter wußte noch empörendere Neuigkeiten. »Das fällige Sechstel der Strafsumme ist nicht bezahlt worden«, sagte er, »der Napoleon hat daher an den liebenswürdigen ›Marschall Wut‹ einen großen Brief geschrieben.«
   »Und was steht darin?«
   »Schlimme Dinge. Die Schiffe im Hafen sind konfisziert, die Warenniederlagen aller Art, ferner die gesamte Augustmiete aller Hamburgischen Hauswirte!«
   Ein Gemurmel der Entrüstung durchlief den Kreis. »Aber Kinder«, sagte eine Stimme, »das ist ja die einfache Plünderung, das Verfahren, dessen sich Straßenräuber schuldig machen!«
   »Ja, natürlich. Hamburg ist außer dem Gesetz erklärt, wie ihr wißt.«
   »Hm, hm, ich kann euch noch ganz andere Sachen erzählen!«
   Aller Blicke suchten den neuen Sprecher. »Nun, und was wäre das?«
   »Die Einwohner müssen für den Dienst der Lazarette sämtliche getragene Leinwand herausgeben. Nicht nur bis aufs Hemde ist also Hamburg ausgeplündert, sondern auch dieses hat es verloren.«
   Mikosch trocknete den Schweiß von der Stirn. »Onnen«, flüsterte er, »wenn es früher oder später meinem Bären an den Kragen ginge!«
   »Dann empören wir uns, Mikosch, dann – o, sprich nicht weiter, man erstickt an dieser ohnmächtigen Wut, die das Herz zerfrißt.«
   Er warf die Erde mit solcher Gewalt auseinander, daß ihm Funken vor den Augen erschienen. »Dieser unglückliche Nelles«, sagte er nach einer Pause, »er muß nun als Opfer fallen! Er und der arme Bruhns. Ich will doch noch heute abend seine Frau besuchen – aber freilich, einen Trost kann ich ihr nicht bringen.«
   »Den der Teilnahme«, versetzte Mikosch. »Du legst ihr ein paar Taler auf den Tisch und erinnerst an die Kugeln, welche den Hutmacher treffen werden – das hilft schon.«
   »Und du wolltest mir diese Taler geben, Alter?«
   Der Zigeuner nickte. »Die Schenkwirtschaft fängt doch bereits an, in Rauch und Nebel aufzugehen, mein Junge. Warum sollte man da nicht einem armen Weibe ein wenig Trost verschaffen? Mir haben ja auch andere Leute geholfen.« »Mikosch, du bist wahrhaftig ein guter Mensch! Ich schulde dir mehr Dank, als sich je im Leben abtragen läßt.«
   »Pst – da kommt ein Aufseher.«
   Sie schanzten emsig weiter und am Abend wanderte Onnen, mit Geld und verschiedenen Erfrischungen beladen, in den Hof hinter dem Speicher, wo das Kind des Kornträgers mit dem ermattenden Fieber immer noch rang. Frau Johanna weinte bitterlich, als sie ihn sah. »Ach, mein Mann, mein Mann« – das war alles, was sie hervorbrachte.
   Onnen lenkte unmerklich ihre Gedanken auf den Knaben und erfuhr nun, daß die menschenfreundliche Frau des Arztes während der letzten Tage mehrfach erschienen war und daß der kleine Kranke nach Ansicht des Doktors von seinem bösen Fieber wieder genesen werde. Er schlief jetzt ruhiger, phantasierte nicht mehr so stark und hatte auch hin und wieder schon lichte Augenblicke gehabt. Onnen tröstete die weinende Frau im Hinblick auf das allgemeine Unglück der Bewohner Hamburgs und auch auf das Schicksal des armen Nelles.
   Noch schaukelten die Körper der Gehängten im Winde auf dem Heiligengeistfeld, noch saßen fünfunddreißig der angesehensten Bürger Hamburgs als Geiseln für die Zahlung der Strafsumme ohne Verpflegung in einem schlechten Harburger Wirtshause gefangen, und schon wieder sollte ein braver Patriot ohne Recht und Urteil geopfert werden.
   Schweren Herzens verließ Onnen die arme Frau, welche ihm mit Tränen in den Augen dankte. Morgen früh zum Heiligengeistfeld hinausgehen und dem Verurteilten noch ein freundliches Wort, einen Abschiedsgruß zurufen, das durfte er ja nicht – er mußte jetzt zur bestimmten Stunde auf dem Arbeitsplatz erscheinen und die Schaufel handhaben, oder sofort eine empfindliche Strafe erleiden. Eine Flut von bitteren und traurigen Gedanken erfüllte seine Seele; lebhaft wie nie vorher beherrschte ihn die Erinnerung an den Todestag des geliebten Vaters! So waren auch auf Norderney die Opfer hinausgeschleppt und ermordet worden, so in allen Teilen des niedergetretenen, gedemütigten deutschen Landes. Seit dem Monat Mai hatten die Franzosen in Hamburg mehrere Hunderte von mißliebigen Personen, völlig erfundener Verbrechen wegen, zu Pranger, Brandmarkung, Zwangsarbeit und Zuchthausstrafen verurteilt.
   Morgen sollte die Erde wieder unschuldiges Blut trinken, das eines liebenswürdigen, unbescholtenen Mannes, dem nichts vorgeworfen werden konnte als nur seine Vaterlandsliebe, sein glühender Wunsch, Hamburg vom Drucke der Fremdherrschaft befreien zu helfen.
   In dieser Nacht schlief Onnen nur wenig. Als er um sechs Uhr morgens zu arbeiten begann, da schwangen seine Arme nur ganz mechanisch die Schaufel – er horchte immerwährend.
   Jetzt führten sie den armen Sünder aus dem Gefängnis und schleppten ihn zwischen zwei Soldaten hinaus auf die Straße, nach alter Gewohnheit mit ungekämmtem Haar, unrasiert und in den Kleidern, welche er bei seiner Gefangennehmung trug.
   Onnen sah im Geiste alles, hörte alles – nur eins nicht. Auf dem Richtplatz hatten sich Hunderte versammelt, die kaum fähig waren, ihren Groll, ihren bitter nagenden Grimm in sich zu verschließen. Die Hutmachergilde verlor in dem Gefangenen einen beliebten Kameraden, persönliche Freunde den Freund, die ganze Stadt einen geachteten Bürger.
   Noch beherrschte ein Summen und Raunen die ganze Versammlung, dann erschien eine Abteilung Franzosen und für den Augenblick entstand Todesstille. Hinter den Soldaten kam ein Blockwagen ohne Sitz oder Verdeck, ein schmutziger Lastwagen wie er für den niedersten Dienst benutzt wird; zwei trübselige Pferde zogen dies Fuhrwerk direkt zur Richtstätte.
   »Er kann nicht gehen!« hieß es. »Ach, der Arme!«
   »Laßt uns einmal näherrücken. Johann Nelles verdient doch wohl, daß ihm seine Freunde wenigstens ein Abschiedswort sagen.«
   Ein älterer Hutmachermeister schüttelte seufzend den Kopf. »Ich glaube kaum, daß das im wahren Interesse des Verurteilten läge«, sagte er mit traurigem Tone. »Johann Nelles ist ohne Bewußtsein, also weckt ihn nicht etwa zu der Erkenntnis seines Schicksals.«
   Die Menge drängte sich näher um den Sprechenden. »Ist es denn mit der Wunde so sehr schlimm, Meister Funke?«
   »Der kalte Brand ist hinzugetreten – die Franzosen haben ja keinen Arzt geholt, nicht einmal einen Verband angelegt.«
   »O die Barbaren, die Schändlichen!«
   »Von wem wißt Ihr denn das alles, Meister Funke?«
   Der Alte lächelte traurig. »Von den Gefängnisbeamten, Kinder. Für Geld und gute Worte kann man diese Leute kaufen – sie haben mich sogar hineingelassen, aber der arme Nelles lag schon gestern abend ohne Besinnung.«
   »Dann ist ihm also der Richtspruch gar nicht verkündet worden?«
   »O behüte, das geschieht niemals. Im Konventsaal des Marien– Magdalenenklosters halten die Machthaber ein scheinbares Kriegsgericht, bei welchem an einen Verteidiger für den Angeklagten, an Beweis oder Geständnis gar nicht gedacht wird; man spricht das Urteil und bringt den Gefangenen vom Leben zum Tode – das ist alles.«
   »Jetzt hält der Wagen, sie heben ihn herab!«
   »Ach Gott, wie sein Kopf hängt! – Die Unmenschen!«
   »Seht nur, seht, er kann nicht stehen!«
   »Danken wir doch dafür dem Himmel, ihr Leute! Er bemerkt von dem ganzen Vorgange nichts!«
   »Sie binden ihn an den Wagen – die Soldaten stellen sich auf.«
   »Ja, was können denn die dafür? Sie werden einfach kommandiert!«
   »Sieh! Sieh! Bist du etwa ein Freund der Franzosen, daß du sie gar noch freiwillig in Schutz nimmst?«
   »Oder vielleicht ihr Spion?«
   »Narren seid ihr! Kommt hervor, wenn ihr mit einem Hamburger Bürger Streit zu haben wünscht!«
   Es entspann sich eine Schlägerei, Steinwürfe flogen herüber und hinüber, die Soldaten wurden getroffen und erst, als die Salven krachten, kam wieder einige Besinnung in die erbitterten Massen zurück. Der Gefangene hatte von alledem nichts bemerkt als vielleicht sekundenlang das Eindringen der Kugeln in die schweratmende Brust – gerade so geknickt und haltlos, wie er als Lebender an dem Wagen gehangen, so hing er, von allem Erdenweh erlöst, noch jetzt.
   Aber sein Anblick reizte eben dadurch die Wut der Massen; den Soldaten, welche die Hinrichtung vollzogen hatten, flogen wieder Steine an die Köpfe, es erfolgte ein plötzliches Kommando und mit gefälltem Bajonett rückten die Truppen gegen die versammelten Volksmassen vor.
   Jetzt wandten sich diese zur schleunigen Flucht; nur vier Männer wurden, weil sie auf dem unebenen Boden stolperten und fielen, von den Franzosen aufgegriffen, um dann sofort abgeführt zu werden.
   Lautlos folgten einige dem Zuge bis zum nahen Millerntor, dann verstärkte sich in der eigentlichen Stadt wieder die Menge, doch blieb man ruhig. Was würde jetzt geschehen?
   Die Soldaten gingen, ihre Gefangenen zwischen sich, bis zu jener alten Wache auf dem Großneumarkt, die seitdem abgebrochen und nicht wieder aufgebaut worden ist; hier machten sie Halt.
   Ein Kreis von Zuschauern umgab schweigend den Platz. Was hatten die Leute verbrochen? Waren es gerade die, welche mit Steinen warfen, oder vielleicht die, welche ruhig zusahen, aber unglücklicherweise im vollen Laufe stolperten?
   Darum bekümmerten sich die Franzosen verzweifelt wenig.
   Ein Profoß wurde herbeigerufen und die Bestrafung sofort vollzogen; vier Hamburger Bürger erhielten auf offener Straße vor der Neumarktswache je fünfundzwanzig Stockschläge – ganz in der Weise, wie man sie kleinen Kindern zu verabreichen pflegt.
   Nach dieser Exekution wurden sie mit einer Verwarnung entlassen. Niemand wagte es, offen dem Übermut der grausamen Quäler entgegenzutreten, die schrecklichen Ereignisse des Jahres 1812 lebten noch zu frisch in der Erinnerung aller. Damals waren aus einem in voller Empörung begriffenen Volkshaufen sechs Personen aufgegriffen, umzingelt und ohne weitere Formalitäten erschossen worden – dergleichen konnte sich ja auch jetzt noch in jedem Augenblick wiederholen. So sehr aber auch in den Herzen aller die Erbitterung gärte und kochte – das Schauspiel des nächstfolgenden Tages sollte doch sämtliche vorausgegangenen Ereignisse in den Hintergrund drängen, um seiner ungeheuren Ruchlosigkeit willen alles Frühere fast vergessen lassen.
   Es war ein Sonntag. Von den wenigen Kirchen Hamburgs, die nicht als Pferdeställe oder Futtermagazine benutzt wurden, erklangen die Glocken und riefen zum Gottesdienst, dem auch Onnen sich, wo es eben möglich war, niemals entzog. Durch die Luft sickerte ein feiner Staubregen, es war ein unangenehmes, kühles Wetter, dem man wohl im Innern des Zimmers ein gemütliches Behagen abgewinnen konnte, draußen aber auf keinen Fall. Onnen hielt bereits die Tür der Michaeliskirche halb geöffnet, als ihn jemand hastig beim Namen rief; er wandte den Kopf und sah, wie Alexei mit beiden Händen winkte.
   »Komm schnell zu mir, Herr!«
   Onnen erschrak. »Was gibt es denn?«
   »Nichts, das uns selbst anginge. Aber komm nur, Herr, du sollst etwas sehen, das Steine erbarmen könnte; die Franzosen haben in Lübeck zweihundert Knaben geraubt, um die Eltern derselben zur Bezahlung einer viele Millionen betragenden Summe zu zwingen. Jetzt sind die armen Kinder hier in Hamburg.«
   »Und sollen hier bleiben?«
   »Nur für diese Nacht. Im Hafen liegt ein Kriegsschiff, das bestimmt ist, sie nach Frankreich zu bringen.«
   Onnen erbleichte. »Das Maß ist übervoll, Alexei, es kann nun mit dieser alle göttlichen und menschlichen Gesetze verhöhnenden Wirtschaft unmöglich noch lange mehr andauern!«
   »Sei still, die Leute sehen uns an. Komm mit mir zur Gegend der Steinstraße, da lagern die unglücklichen Kinder.«
   Sie gingen durch die Stadt bis zum heutigen Georgsplatz, und dort bot sich ihnen ein schrecklicher Anblick. Durchnäßt und beschmutzt, teilweise ohne Kopfbedeckung oder in Morgenschuhen, krank und verzweifelt, so lagen auf dem versumpften Boden zweihundert Knaben im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren, alles Söhne der angesehensten Familien Lübecks. Die Kinder waren von einem Bataillon Soldaten zu Fuß nach Hamburg eskortiert und daher schon zwei Tage und Nächte unterwegs; eine beängstigende Stille lag auf der ganzen Schar, sie mochten sich wohl zu sehr fürchten, mochten zu sehr vom Entsetzen geschüttelt werden, um noch nach Kinderart zu toben, oder auch nur irgendeinen Laut von sich zu geben.
   Hinter den Reihen standen mehrere Frauen und Männer, Leute aus den besseren Kreisen der Stadt, Menschen mit todesblassen Gesichtern und gerungenen Händen, Verzweifelnde, die, solange es ihnen möglich war, in der Nähe ihrer Kinder bleiben wollten, die immer und immer wieder bei den französischen Soldaten um Gnade flehten, ohne eine andere Antwort als nur ein Achselzucken zu erlangen.
   Mit den Knaben zu sprechen wurde ihnen gestattet, sie durften dieselben aber aus den Reihen ihrer Genossen nicht entfernen und das war es einzig und allein, was sie zu erreichen hofften.
   Eine Mutter hielt ihren zehnjährigen kleinen Liebling mit beiden Armen umfaßt. Das Kind trug ein blaues Samtkostüm und Schnürstiefel, aber ihm fehlte der Hut, es hatte schmutzige Händchen und schien vor Furcht fast erstarrt. Große braune Augen sahen voll Scheu aus dem blassen Gesichtchen hervor, die Haare hingen naß und zerzaust um den Kopf herum.
   »Herr Soldat«, flüsterte die Mutter, »ach, Herr Soldat, sehen Sie denn nicht, daß mein kleiner Knabe fiebert? Er muß zu Bett gebracht werden, muß den Arzt haben – o Gott, wenn er mir stürbe!«
   Das Kind begann zu zittern. »Mama«, rang es sich über seine bleichen Lippen, »liebe Mama, laß mich nicht sterben – ich fürchte mich vor der schwarzen Erde so sehr!«
   »Herr Soldat, um Jesu Christi willen, hören Sie denn nicht?«
   Der Franzose zuckte die Achseln. »Fragen Madame selbige Sacke alle Stunden!« brummte er. »Können gar nix tun Soldat.«
   Die arme Frau warf sich auf ihre Knie, sie hob die Hände zum Himmel empor und weinte laut, während einige größere Knaben sie und den Kleinen zu trösten suchten. Mittlerweile hatte sich aber auch eine ganze Anzahl von Frauen aus dem Volke an der Stätte so großen Jammers zusammengefunden; lauter Mütter, deren eigene Kinder allen möglichen Gefahren ausgesetzt waren, die vielleicht für sich selbst nichts mehr zu essen, nichts mehr anzuziehen hatten, denen aber das Elend der schuldlosen Knaben tief zu Herzen ging.
   Für den kleinen Kranken war bald ein trockener Anzug herbeigeschafft, ein Regenschirm und ein Paar Stiefel, ein Kopfkissen, Stroh und ein kühlendes Getränk. Das arme Wesen! So jung und schon so unglücklich – die barmherzigen Samariterinnen weinten alle mit der Mutter um die Wette, sie hatten völlig vergessen, daß der barbarische Feind jedes Zusammenstehen auf der Straße mit Rutenhieben bedrohte, ihre Liebesgaben erquickten die halbverschmachteten Kinder, ihre Hände wuschen die blutenden Füße; es fand sich auf dem Boden der Fischfrau oder Kornhändlerin noch ein alter Strohhut, eine Mütze, mit denen die Söhne der Lübecker Millionäre ihre Augen gegen die Strahlen der Sommersonne beschützen konnten.
   Speise und Trank kam von allen Seiten herbei, auch Onnen und Alexei brachten ihr Scherflein – nur der kleine Kranke genoß nichts mehr. Er hielt die großen Augen weit geöffnet, aber es war kein Blick darin, kein Ausdruck; der zarte Körper krümmte sich im heftigsten Fieber, die Haut war trocken und brennend heiß.
   Einer der aus Lübeck mitgegangenen Herren näherte sich der unglücklichen Mutter und sprach mit ihr, er forderte sie auf, sich den Machthabern zu Füßen zu werfen. Was lag denn an einem einzigen kleinen Kind? Wer menschlich empfand, der mußte doch dem Kranken ein Obdach gewähren, wenigstens ein anderes Sterbelager als auf offener Straße.
   Die arme Frau erhob sich schwankend, halb bewußtlos; treue Arme umschlangen ihren Knaben, mitleidige Seelen führten sie selbst durch die Straßen Hamburgs zu den Tyrannen, welche jetzt auch gegen wehrlose Kinder den Krieg erklären zu wollen schienen. Der frömmelnde, heuchlerische, aber im innersten Herzen grausame General Hogendorp befand sich in der Kirche; die arme Mutter mußte länger als eine Stunde warten und erhielt dann bei der ersehnten Audienz nur ein Achselzucken, eine ausweichende Antwort. »Ich kann keine Ausnahme gestatten, Madame; weshalb hat Lübeck die der Stadt auferlegte Kriegskontribution nicht pünktlich bezahlt? Der Kaiser liebt den schnellen Gehorsam.«
   Die Hände der unglücklichen Frau falteten sich zu angstvollem Flehen. »Exzellenz, man kann nicht zahlen, wenn die Kassen leer sind! Es ist unmöglich, da zu geben, wo man selbst für den Augenblick nichts besitzt.«
   Der General bedauerte halb spöttisch. »Haben denn die Lübecker Geldfürsten auch wie hier in Hamburg ihre baren Mittel auf den Wällen begraben, Madame? Oder wohin sind dieselben sonst gelangt?«
   Sie wagte nicht, ihm zu antworten, darauf hatte er gerechnet. »Versuchen Sie Ihr Glück bei dem Herrn Maire, Madame. Die militärische Seite der Frage gestattet keine Abweichung von dem einmal erlassenen Befehl; vielleicht kann Ihnen Herr Rüder nützen, indem er irgendeine Kaution für den auf den Kopf Ihres Kindes entfallenden Anteil der Strafsumme herbeischafft.«
   Damit war die Audienz beendet und mit einem immer schwerer werdenden Herzen wandte sich die arme Mutter jetzt zu dem bezeichneten Herrn; dieser ließ sich indessen bei seinem Frühstück nicht stören. Der Diener berichtete nur, daß Monsieur Rüder mit der ganzen Angelegenheit nichts zu schaffen habe – das sei Sache des Polizeichefs, Herrn d‘Aubignose.
   Wieder ein neuer weiter Weg, neue Todesangst, daß alle Hilfe zu spät kommen möge. Die gequälte Frau konnte kaum noch sprechen, sie warf sich dem Beamten zu Füßen und flehte schluchzend um Gnade.
   Der Polizeidirektor schien ein weniger versteinertes Herz zu besitzen; er nahm die Sache außerordentlich leicht. Ein krankes Kind von der Straße auflesen und in irgendein Haus tragen – aber warum denn nicht? Seine Majestät, der Kaiser, würde dagegen durchaus nichts einzuwenden haben!
   Ein Unterbeamter wurde der Dame als Begleiter zugesellt, und nun eilte die Unglückliche fliegenden Fußes nach dem Lagerplatz der Knaben zurück. Jetzt konnte noch alles gut werden; ihr Gemahl, an jenem verhängnisvollen Tage von Hause abwesend, war nun zurückgekehrt und würde sogleich nach Hamburg kommen, würde helfen, raten, alle Hebel in Bewegung setzen, um sein einziges Kind zu retten. Vielleicht war es sogar des Kleinen Glück, daß er in Hamburg erkrankte; das französische Schiff durfte seinetwegen nicht warten, und so schien wenigstens diese ärgste, äußerste Gefahr für den Augenblick abgewendet.
   Sie selbst hatte bei der eiligen Flucht aus Lübeck Geistesgegenwart genug gehabt, eine größere Summe Geldes zu sich zu stecken, das würde für die Pflege des Kleinen unter allen Umständen genügen.
   »Sind wir noch nicht bald da?« fragte sie jeden Augenblick.
   Und dann endlich war die Stelle erreicht. Ein Gewühl, wie auf dem Jahrmarkt!
   Man sah sie an, Frauen gaben ihr plötzlich die Hand oder begannen zu weinen; ein unbestimmtes Grauen erfaßte das Herz der armen Mutter.
   »Wo ist mein Kleiner?« rief sie halb schwindelnd. »Paul! Paul!«
   Der Freund aus Lübeck trat ihr entgegen, hielt sie an beiden Händen zurück. »Nicht so schnell, liebe Frau Rodenberg – kommen Sie, ich habe Ihnen etwas zu sagen.«
   Aber sie wollte sich gewaltsam von ihm freimachen. »Paul, Paul, wo bist du? – Ach, allmächtiger Gott, er wird doch nicht gestorben sein!«
   Neben ihr fiel eine Frau in Krämpfe, und nun wußte die Unglückliche alles, sie fand auch den Weg zu ihrem Kleinen, sie sah ihn fast so, wie ihn vor fünf Stunden ihre Arme den fremden barmherzigen Menschen überließen. Fast so, aber doch nicht ganz.
   Die Augen waren noch starr und weit geöffnet, das kleine Gesicht so blaß und der Ausdruck desselben so ängstlich, aber auf der Stirn lag die Kälte des Todes und das Herz hatte aufgehört zu schlagen.
   Lautlos, wie vom Schreck gebrochen, fiel die junge Frau neben der Leiche ihres Kindes zu Boden; sie war ohnmächtig, vielleicht selbst sterbend – der Polizeibeamte fand es für gut, den Platz sogleich räumen zu lassen und auch die Lübecker Kinder, anstatt auf offener Straße, lieber in den leeren Speichern am Meßberg unterzubringen.
   Die arme Frau Rodenberg und das tote Kind trug man ins nächste beste Haus, ohne sich um die Unglücklichen weiter zu bekümmern.
   Onnen hatte alles mit angesehen. Ein furchtbarer Sonntag. – Und doch sollten ihm noch viel, viel schlimmere folgen.
   Früh am Montag morgen brachte man die Lübecker Knaben an Bord des Kriegsschiffes, das darauf gegen Mittag unter Segel ging. Von diesen Kindern sind fünfzehn in ihre Heimat zurückgekehrt, die übrigen dagegen gestorben und verdorben, ohne daß ihre Eltern von ihnen jemals eine Nachricht erhielten.
   Onnen konnte die Einschiffung nicht mitansehen, er mußte seinen Platz beim Schanzenbau wie gewöhnlich einnehmen und arbeitete mechanisch weiter, indes Flüsterworte von Mund zu Mund gingen, immer neue Schreckensbotschaften bringend, neue unglaubliche Schandtaten enthüllend.
   Eine Bekanntmachung des verrufenen Maire Rüder gebot allen Witwen und unverheirateten Frauen, sich sogleich zum Dienst in den Lazaretten zu melden; der Oberst Chaban hatte von dem General Davoust aus dem Hauptquartier zu Ratzeburg einen Befehl erhalten, kraft dessen jedem Hamburger Einwohner das bare Geld ohne Umstände weggenommen werden sollte, und zwar, um die Bedürfnisse der Armee zu decken.
   »Demnächst geht es dann an die Silberbarren der Bank«, flüsterte einer.
   »Da fühlt man sich im Schutze seiner Armut förmlich behaglich!«
   »Drüben hinter Sankt Georg lodert‘s wieder hell. Man verbrennt das Dorf Hamm!«
   »Und auf dem Heiligengeistfelde knallen die Salven. Es werden wieder einmal Menschen erschossen, nur weil Spione bei ihnen Waffen gesehen haben wollen.«
   Sie knirschten beide, der, welcher erzählt, und der, welcher zugehört hatte. Ja, die Spione! Sie hatten schon Fluten von Elend und Verzweiflung über die unglückliche Stadt gebracht, sie regierten faktisch die französischen Behörden und dadurch Hamburg.
   Onnen sprach nicht mit; er dachte immer an das tote Kind der Frau Rodenberg, und dann verloren sich seine Erinnerungen unmerklich nach Norderney, zu jenem Morgen, als Kornelius Raß mit durchschossener Brust von den Fischern herbeigetragen wurde.
   »Herr!« flüsterte neben ihm die Stimme des Zigeuners.
   Er sah auf. »Nun, Mikosch?«
   »Arbeite weiter, mein Sohn, und scheine nichts zu bemerken, nichts zu hören – willst du das?«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Mikosch! Hast du mir denn irgend etwas Besonderes zu erzählen?«
   »Ja, aber etwas Gefährliches. Du darfst jetzt nicht aufblicken.«
   »Es sind also Bekannte in der Nähe – aber wo?«
   »Bei den hinter uns arbeitenden Strafgefangenen, Herr.«
   Onnen erschrak. »Sage es mir, Mikosch! – Leute von meinem früheren Regiment?«
   »Ja, Herr. Still, ganz still – es sind Feiko Hansen und Georg Wessel!«
   »Großer Gott – und sie tragen die Sträflingskleidung?«
   »Ja, Herr, aber vergiß nicht, daß du sie nur mit den Augen grüßen darfst. Wird eure Bekanntschaft von den Franzosen entdeckt, so stehst du als verdächtig da – das behalte im Auge.«
   »Ich will es ja. Ach mein Gott, wer hätte das gedacht!«
   Er warf die Erde während kurzer Zeit hastig hin und her und stützte sich dann schwer, wie ausruhend, auf den Spaten. So ging es an, sich gleichsam zufällig umzusehen.
   In langer Reihe arbeiteten, erst seit dem heutigen Morgen neu eingestellt, die Strafgefangenen mit der Kette zwischen Arm und Fuß an den im Bau begriffenen Schanzen. Wenige Schritte von ihm entfernt standen Georg und Feiko in leinenen Matrosenkleidern, also von einem aufgebrachten Schiff direkt hierhergeführt, um allem Kriegsbrauch zuwider an den Befestigungswerken des Feindes mitzuarbeiten.
   Wie verändert die beiden waren! So blaß und hohläugig, so abgemagert, als hätten sie Wochen und Monate ohne genügende Nahrung verbracht.
   Die Blicke der drei jungen Leute begegneten sich flüchtig; keiner unter ihnen vergaß, daß er beobachtet wurde, aber dennoch erzählten die Augen von überstandenen Leiden, von Drangsalen, die Leib und Seele gleich sehr erschüttert hatten.
   Onnen konnte kaum das Ende dieses zur Ewigkeit gedehnten Tages erwarten. Er würde mit seinen beiden Freunden auch am Abend nicht sprechen dürfen, das wußte er freilich, aber es blieb ihm doch unverwehrt, zum Hafen hinabzugehen und dort Erkundigungen einzuziehen; ebenso erfuhr er, wo Georg und Feiko wohnten. Jedenfalls hatten sie eine fürchterliche Gefangenschaft im verschlossenen Innern eines ausgeplünderten Kauffahrteischiffes zu ertragen gehabt.
   Zwischen den sogenannt freien und den mit Ketten belasteten Arbeitern gingen Wachtposten fortwährend hin und her; es ließ sich kein einziges Wort sprechen, keinerlei gleichsam zufällige Bekanntschaft anknüpfen.
   Endlich schlug es sieben. Die Strafgefangenen marschierten mit ihren Aufsehern zum Bauhof, die übrigen Schanzgräber zerstreuten sich nach allen Richtungen hin, auch unsere Freunde, und zwar auf dreifach verschiedene Weise. Alexei hielt sich in einiger Entfernung hinter Georgs und Feikos Abteilung, um ihr Quartier zu ermitteln, Mikosch führte seinen Bären auf ein Stündchen aus dem engen Stall hinaus ins Freie und Onnen eilte flüchtigen Fußes zum Hafen.
   Drei französische Kanonenboote ankerten mitten im Strome und neben ihnen lag ein russischer Dreimaster mit entsetzlich zugerichteter Takelage. Masten und Spieren waren zersplittert, das stehende Gut zerschunden und zum Teil ganz entfernt, das laufende in Fetzen zerrissen. An den Seitenwänden zeigten sich Kugelspuren, das Steuer fehlte ganz und die Kombüse lag in Trümmern.
   »Da drinnen im Raume leben noch Menschen«, flüsterte ein Jollenführer in Onnens Ohr. »Der Kapitän und die Steuerleute des unglücklichen Schiffes; sie fuhren unter falscher Flagge, aus diesem nichtigen Grunde will man ihnen den Prozeß machen.«
   »Das heißt doch, sie erschießen?«
   Der Jollenführer zuckte die Achseln. »Wir werden es schon knallen hören«, meinte er nach längerer Pause. »Und auch der liebe Gott wird‘s hören – der Schandtaten sind nun nachgerade so viele, daß die Erlösung bald kommen muß.«
   Onnen wußte genug. Schweren Herzens ging er an diesem Abend nach Hause, grübelnd und immer angestrengter grübelnd, wie es ihm möglich werden solle, sich mit den beiden Freunden in Verbindung zu setzen. Erfuhren die Franzosen seinen Namen, seine Geschichte, so war ihm die Kugel für den nächsten Tag gewiß; es galt daher, äußerst vorsichtig zu Werke zu gehen.
   Und doch hätte er Gott weiß was darum gegeben, mit den beiden Freunden einen Augenblick sprechen zu dürfen.
   »Geerd Kluin ist hier, hütet euch um Himmelswillen vor ihm!« das wollte er ihnen zurufen – aber wo fand sich die Gelegenheit?
   Zu Hause im Eichholz ging der Wirt jammernd und händeringend umher. Es war eine Botschaft des Generals angelangt, man hatte im Rate der Machthaber beschlossen, die ganze eine Häuserreihe der Straße zu Lazarettzwecken zu verwenden und aus diesem Grunde den Bewohnern einfach auferlegt, bis zum anderen Abend den Platz zu räumen. Alle Häuser mit großen eleganten Zimmern waren bereits zu irgendwelchen Zwecken mit Beschlag belegt; jetzt folgten also die der ärmeren Leute.
   Ein ersticktes Schluchzen, ein Weinen und Fluchen ging durch die hartbetroffene Straße. Eine Grünwarenhändlerin hatte den Verstand verloren; sie saß auf einer Haustreppe und führte eingebildete Unterredungen mit Gott und dem Heiland, sie versprach unter Tränen ihren früheren Nachbarn, für sie im Himmel Gnade und Erlösung zu erwirken.
   Das todesblasse Gesicht der armen Frau zeigte ein scheues, wahnwitziges Lächeln; von Zeit zu Zeit segnete sie die umstehenden Personen.
   »Mutter Thiemann«, rief weinend eine Frau, welche mit ihr im selben Hause wohnte, »Mutter Thiemann, kommen Sie doch, die Leute lachen ja über alles, was Sie ihnen da erzählen. Wir wollen hineingehen.«
   Die arme Wahnsinnige schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht mehr die Mutter Thiemann«, sagte sie, »das war vorzeiten, ehe die Franzosen kamen.«
   »Still doch, Frau, um Himmelswillen still!«
   »Weshalb? Alle Leute können hören, daß ich nun eine gekrönte Heilige im Himmel bin. Ich habe eine ebensolche Dornenkrone wie der Herr Christus! – Da sitzt er ja auf goldnem Throne mitten unter euch; seht ihr ihn denn nicht?«
   Niemand lachte, hie und da klammerten sich größere Kinder mit scheuen Blicken an die Kleider ihrer Mütter, Frauen weinten und Männer schüttelten die Köpfe – in der ganzen Versammlung wurde kein Laut gehört.
   Mutter Thiemann nickte immer leise vor sich hin. »Zuerst holten mir die Franzosen meinen Jungen, meinen lieben einzigen Jungen aus dem Hause«, sagte sie in klagendem Tone, »er fiel in der Schlacht, er ist tot, mein armer Bernhard! Dann kam sein Vater an die Reihe – sie haben ihn als Hochverräter auf dem Heiligengeistfelde erschossen!«
   Ein Wimmern folgte diesen Worten. »Meinen guten Hannes, einen so braven Mann, einen so tüchtigen Hamburger Bürger und achtbaren Familienvater! Sie haben ihn totgeschossen wie einen tollen Hund!«
   »Um Gotteswillen, Frau, so schweigen Sie doch beizeiten!«
   Die arme Mutter Thiemann hörte nicht. »Nun hatte ich noch zwei Kinder«, schluchzte sie, »hübsche fleißige Mädchen, die holte das böse Fieber, beide an einem Tage. Meine Sachen mußte ich hergeben, Betten, Leinen, Lebensmittel, Möbel – nichts war übrig als das bißchen Kram auf dem Hopfenmarkt, aber auch das war noch zuviel, die Franzosen kamen und rissen alle die Körbe auf und nahmen, was sie fanden. Oh Kinder, Kinder, wie sind wir unglücklich!«
   Die Alte stand auf und schob und zerrte an ihrer Witwenhaube. »Eine Nacht schlafe ich noch in diesem Hause«, sagte sie, »dann nehmen es die Teufel mit schwarzen Gesichtern und blutroten Krallen – ich fahre auf zum Himmel. Seht ihr wohl die Dornenkrone?«
   Sie segnete nach ihrer Meinung die Umstehenden und versprach ihnen alles mögliche Glück und Wohlergehen; erst nach längerer Zeit ließ sie sich bewegen, wieder in das Haus zurückzukehren, völlig wahnsinnig, seit man ihr das letzte geraubt, die Stätte, an der all ihr irdisches Glück zu Grabe getragen worden war.
   Außer dieser Armen befanden sich in gleicher Aufregung noch Hunderte. Diesen Morgen waren sämtliche auf dem Hopfenmarkt und in den Straßen zum Verkauf ausgestellte Lebensmittel, Gemüse, Früchte, Fische, Milch, von den Franzosen ohne lange Vorrede weggenommen worden, dazu kam der Verlust der Wohnung, die Furcht, auch noch das letzte bißchen Habe einbüßen zu müssen; kopflos vor Angst liefen die Leute während dieser ganzen Nacht durcheinander.
   Einiges hatten die Franzosen bereits mitgeteilt. Frauen, Kinder, Greise und Kranke sollten, wie gewöhnlich, rücksichtslos auf die Straße geworfen werden; allen arbeitenden, Schanzen und Brücken bauenden Männern dagegen hatte man in den verschiedenen Arrestlokalen und Baracken der Stadt ein Quartier bereitet. Ihre Kräfte verlangten Schonung, um des vorhandenen Zweckes willen.
   Der Wirt saß wie stumpfsinnig. »Wohin sollte ich wohl meine Sachen bringen, ihr guten Leute? In ganz Hamburg ist keine Wohnung zu bekommen, und wenn auch? Was die Franzosen sehen, das nehmen sie weg!«
   Mikosch stützte den Kopf in die Hand. »Mein Bär! Mein Bär! Du großer Gott, wie soll ich ihn retten?«
   Dann kam ihm gegen Morgen ein Gedanke. »Ich will zum Herrn Polizeidirektor gehen und Ruff mit mir nehmen, vielleicht läßt sich der Mann erweichen.«
   Er kämmte und bürstete den plumpen Kerl, dann wanderte er mit ihm zur Wohnung des Herrn d‘Aubignose und erwartete den Augenblick, wo dieser gebietende Herrscher seine Equipage besteigen würde. Ruff mußte den Schlag öffnen, er verbeugte sich auch mit Bärenzärtlichkeit und der Franzose lachte. Ehe noch fünf Minuten vergingen, hatte der schlaue Zigeuner einen Zettel in der Tasche und auf demselben die Unterschrift des Polizeichefs. Herr d‘Aubignose sicherte ihm nicht allein den Besitz des Bären, sondern auch für die Zeit seines Aufenthaltes in Hamburg einen Stall oder sonstigen Raum, in welchem der Braune wohnen konnte.
   Später am Tage kam dann die Besitzergreifung der Häuser im Eichholz. Wie einst das heimatlose Volk der Israeliten, so zogen mit Sack und Pack die Vertriebenen davon, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollten. Verschlossen die Stadttore, besetzt und beschlagnahmt jede Wohnung, angefüllt mit Kranken und Sterbenden jeder verfügbare Raum – wohin sollten sie künftig das Haupt betten?
   Die Wälle zu betreten, war bei Prügelstrafe verboten, außerdem wehte draußen der Herbstwind schon recht kühl, man konnte im Freien keine Nacht mehr verbringen. Manch eine arme, geängstigte Seele hat sich in diesen Stunden des Schreckens und der höchsten Not dem göttlichen Erbarmen anbefohlen und mit der Erde die Rechnung freiwillig abgeschlossen, manch ein ehrlicher Mensch ist zum Schurken geworden, um sich von dem Fall ins Bodenlose nie, nie wieder zu erheben.
   Eine Abteilung Soldaten säuberte den Platz, Kolbenstöße und Säbelhiebe beschleunigten die Schritte der Zögernden, bis endlich auf dem Eichholz niemand mehr übrig geblieben war. Mochten die Wachtposten in den anderen Straßen sehen, was sie mit den Heimatlosen anfingen.
   Die arme irrsinnige Mutter Thiemann war bei mitleidigen Nachbarn an der entgegengesetzten Seite der Straße untergebracht worden, ebenso viele kranke Frauen und Kinder, aber dennoch blieben Hunderte obdachlos.
   Gegen Abend zogen die Typhuskranken ein. Auf dem Fahrwege brannten hie und da Teertonnen, ein blauer dichter Dampf erschwerte das Atmen, ein Ächzen des höchsten Leidens rang sich von den Lippen der unglücklichen Kranken. Die Soldaten standen Wache, sie trugen und fuhren ihre Kameraden, sie hielten den Platz frei von denen, welche etwa noch Möbel aus den Häusern holen wollten, und nahmen endlich die von der Schanzarbeit zurückkehrenden Männer in Empfang.
   Mikosch zeigte seinen Schein, er durfte den Bären mitnehmen, ebenso alle drei Zigeuner und die übrigen Männer ihre Kleidungsstücke, dann ging es fort.
   »Wohin nun?«
   »Zum Bauhof!« antwortete einer der Franzosen.
   Onnen unterdrückte mit Mühe einen Freudenschrei. Vielleicht war es jetzt möglich, sich unbemerkt den beiden anderen zu nähern.
   Als die ganze Schar antrat, um das Eichholz zu verlassen, da schlich mit gefalteten Händen eine kleine gekrümmte Gestalt herbei, ein Mann ohne Hut mit erdfahlem Gesicht, zitternd und immerfort hustend – Geerd Kluin, der Norderneyer.
   »Nehmt mich mit euch, ihr Herren«, bat er, »nehmt mich um Gotteswillen mit euch. Ich kann noch ganz gut Schanzen graben, kann so mancherlei, bin gefügig und —«
   »Marsch mit dir, Papa! Geh fort, du bist ein alter Herr, krank, halb närrisch. Geh, geh – wir brauchen dich nicht.«
   »Ach, bitte, bitte!«
   Der Franzose lachte ihn aus, Geerd Kluin wollte trotzdem den Weg nicht freigeben, er klammerte sich an die Soldaten und wurde mit den Kolben zu Boden gestoßen. »Onnen!« rief er in voller Verzweiflung, »Onnen!«
   Unser Freund erschrak heftig; für den Augenblick stockte sein Herzschlag; er horchte.
   Aber der Ruf verhallte ungehört, die ganze Masse zog davon, und wo Geerd Kluin blieb, das konnte Onnen nicht entdecken. Mikosch hatte ihm einen Taler zugeworfen, soviel sah er, und das beruhigte ihn einigermaßen.
   Ein Unteroffizier maß den Zigeuner mit lauernden Blicken. »Du aben große Geld?« raunte er. »Viel Geld!«
   Der schlaue Häuptling lachte so harmlos, als sei er arm wie Hiob. »Beim Schanzenbau ist kein Reichtum zu erlangen, Franzose.«
   »Aber du aben Geld gegeben diese alte Mann.«
   »Aus Mitleid, ja; der unglückliche Bettler kann nichts mehr verdienen. Weißt du, Franzose, mein Bär hier, der bringt mir immer so ein paar Silberlinge ins Haus, er ist ein sehr nützliches Tier – einen Taler habe ich oft binnen wenigen Minuten zusammen.«
   Die Augen des Franzosen glänzten. »Mir auch geben Taler!« raunte er. »Nix bekommen große Geld – ick sein arm!«
   »Das ist im Kriege nicht gut anders möglich, mein Lieber! Ich will dir auch recht gern einen Taler schenken, hier einen, dort einen, aber du mußt mir einige kleine Gefälligkeiten erzeigen, sonst geht‘s nicht.«
   Der Unteroffizier zuckte die Achseln. »Was können tun ich? Is alle Soldat arm, hat keine Brot, kein Geld!«
   Der Zigeuner lächelte. »Du sollst erstens dafür sorgen, daß mein Bär ein gutes Quartier erhält, Unteroffizier, kannst du das?«
   »Oui! Oui! Aben ich Stall bei Bauhof gesehen, das nehmen. Monsieur d‘Aubignose befehlen – werfen hinaus Pferd, nehmen Futter weg!«
   »Sachte, sachte, andere Leute wollen auch leben, mein Freund. Ich ernähre den Bären selbst, und wenn er in irgendeiner sicheren Ecke ein Unterkommen findet, so bin ich vollständig zufriedengestellt. Aber höre«, fuhr er fort, »du kannst mir noch einen anderen, ebenso bedeutenden Dienst leisten.«
   »Was das sein? Soldat wollen so.«
   »Danke sehr. Sieh einmal, meine beiden Söhne und ich, wir sind Russen – du sollst unsere Pässe sehen, wenn du es wünschst! Da möchten wir also mit unseren Landsleuten aus der Strafkompanie gern ein wenig plaudern, das begreifst du gewiß. Ihr habt ein russisches Schiff aufgebracht und die Matrosen sind als Schanzarbeiter eingestellt – diese wollten wir gern kennenlernen, um in unsrer Muttersprache mit ihnen zu verkehren und vielleicht aus der Heimat dies oder das zu hören.«
   Der Franzose lächelte. »Weiter nix verlangen, mon ami? Sind diese Gefangenen in Bauhof und sind Zigeuner auch in Bauhof. Können nicht sein zufrieden?«
   »Doch wohl kaum! Der Bauhof ist groß; wer weiß, ob wir einander zu sehen bekommen! Hält übrigens deine Kompanie dort Wache, mein guter Franzose?«
   »Oui, ich da sein alle Tage.«
   »Dann läßt sich‘s ja vielleicht machen. Ob ich mit meinen Landsleuten ein wenig russisch spreche, das schadet deinem Kaiser nichts! – Ich denke, wir sind Freunde, Unteroffizier?«
   »Das sein, oui, das sein. Aber du geben Taler, das wissen?«
   »Heute abend den ersten, wenn meine Söhne und ich mit den Russen im selben Saale schlafen dürfen.«
   Der Unteroffizier nickte. »Ruhig jetzt«, flüsterte er. »Werden fertik alles!«
   Der Marsch war beendet und die weitläufigen Räume des in späterer Zeit abgebrochenen Bauhofes erreicht. Ein unregelmäßiges Viereck hoher alter Häuser umgab einen inneren großen Hof, der mit Gerümpel, Schuppen und Ställen angefüllt war; aus allen Fenstern sahen die Gesichter von Strafgefangenen und Schanzarbeitern; es schien unmöglich, hier noch einige Hundert Menschen unterzubringen.
   Aber der Unteroffizier wußte Rat. Ruff bekam einen verschließbaren festen Schuppen für sich allein; die neuen Mannschaften wurden auf alle Säle verteilt und die Sache so eingerichtet, daß sämtliche Zigeuner mit den russischen Matrosen eine und dieselbe Ecke erhielten. Jene konnten nach Belieben kommen und gehen, diese trugen eine Kette, welche ihnen zur Nacht ein wenig gelockert wurde; das war der ganze Unterschied.
   Mikosch schmunzelte; er winkte seinem jungen Schutzbefohlenen und schärfte ihm ein, keinen Verdacht zu erregen! »Du kannst dich ja im Laufe der Zeit besonders mit den beiden Deutschen befreunden, Herr – für heute abend sprichst du mit allen und scheinst nur froh, auch einmal Landsleute gefunden zu haben.«
   »Mikosch, du bist doch ein arger Schlauberger!«
   Der alte Häuptling nickte. »Nimm du nur dein bißchen Russisch gut zusammen, mein Sohn! Es ist hoffentlich noch nicht alles vergessen?«
   »Keine Silbe! – Ach, da öffnet der erste Mann die Tür.«
   Der Schlafsaal war erreicht; ein Raum, wie ihn sich keines Menschen Phantasie abscheulicher und schrecklicher denken könnte. Nach alter Bauart hingen die mächtigen Balken der Decke tief herab auf die Köpfe der Versammelten, was um so mehr und unangenehmer hervortrat, als die Weite des Raumes zu seiner Höhe in gar keinem Verhältnis stand und ohnehin alle und jede Einrichtungsstücke fehlten.
   Rings um die Wände lief hochgeschichtet ein breites Strohlager ohne Kissen oder Decken; in der Mitte standen etwa zehn oder zwölf kleine sogenannte Kanonenöfen, deren lange Eisenrohre zu irgendeinem Fenster hinausgeleitet worden waren und an denen die Schanzarbeiter ihre ärmlichen Mahlzeiten kochten. Eine beinahe undurchsichtige Luft erfüllte diesen Saal, eine Atmosphäre, an welche sich die Lungen erst nach und nach gewöhnen mußten. Obgleich der Wind beständig hindurchfuhr, gab es doch so viele Gerüche, daß sich im ersten Augenblick eine Benommenheit des Kopfes, ein Klopfen in den Schläfen und Neigung zum Schwindel einstellten.
   Mehrere Öfen rauchten, nasse Kleider trockneten überall und aus Tüten, Töpfen und Bündeln entströmten die Düfte der Abendmahlzeit. Zwiebeln, Pellkartoffeln, Heringe, Schmalz, Bier und Branntwein – so war das Gemisch beschaffen.
   Einige von den Schanzarbeitern hatten dazu noch Hunde mitgebracht, andere flickten hämmernd ihre Stiefel, wieder andere brannten kleine offene Tranlampen, sogenannte »Kräusel« – Onnen glaubte wirklich im ersten Augenblick, daß es ihm unmöglich sein werde, in diesem entsetzlichen Quartier auszuharren.
   Vom ersten Stock her tönten die Schritte der dort Untergebrachten so deutlich und beängstigend, daß man glauben konnte, in jedem Augenblick die niedere, schwankende Decke stürzen zu sehen. Aus den Fugen der Bretter fiel unaufhörlich ein feiner Sandregen den Untensitzenden ins Gesicht.
   Ganz allmählich gewöhnten sich Auge und Lungen. Der Mensch erträgt unglaublich viel, wenn er es nur versteht, nie ärgerliche Vergleiche zu ziehen.
   Magere, verkümmerte Gesichter tauchten auf, die von halberwachsenen Knaben und von alten, am Rande des Greisenalters stehenden Leuten; dumpfe wortlose Verzweiflung lag auf allen diesen Zügen, ein beginnender Stumpfsinn, der den Menschenfreund erschrecken mußte. Hier kauerte ein Angehöriger der niedersten Volksklassen, des niedersten großstädtischen Pöbels sogar, versumpft und vertiert, rohe Späße auf den Lippen, neben einem jungen Lehrer, der zu den Schanzarbeiten gepreßt worden war und nun in dieser Hölle ein Dasein voll unaussprechlicher Qualen verbrachte – dort lagen zweie, die sich in irgendeiner Weise den Genuß des Fusels zu verschaffen gewußt hatten, noch nicht ganz zum Tier versunken, aber doch hart daran, bereit, mit jedem, der sich etwa nahen würde, einen Streit vom Zaun zu brechen, rohe und gemeine Gassenhauer vortragend, in deren jedesmalige Schlußstrophen ein ganzer Chor jubelnd einfiel.
   Am ruhigsten verhielten sich die Strafgefangenen, vielleicht weil ihnen das Todesurteil sozusagen in jedem Augenblick über dem Kopfe hing. Auch hier fanden sich viele Angehörige der besseren Stände, Leute mit den Manieren gebildeter Menschen, die jetzt Kartoffeln schälten oder die größten Löcher in ihren Kleidern eigenhändig nähten. In einem Winkel saßen die Russen, und hier war es, wo der Unteroffizier mit barscher Stimme befahl, noch weiter zusammenzurücken.
   »An diesem Herd müssen drei Leute ihr Essen mit euch kochen. Schnell!«
   Die eingeschüchterten Menschen leisteten sofort Gehorsam, Mikosch und unsere beiden Freunde konnten auf dem mit allerlei Abfällen, kleinen Pfützen und Sandhaufen bedeckten Fußboden ihre Plätze einnehmen; die Russen verzehrten beinahe stumpfsinnig das, was ihnen als Abendessen geliefert worden war, Heringe und etwas Roggenbrot mit Schmalz, dazu ein Trunk dünnes Kochbier. Was Georg und Feiko betrifft, so nahmen sie, einem Blick des Zigeunerhauptmanns gehorchend, von den Ankommenden keinerlei Notiz; auch Onnen blieb äußerlich ruhig, so daß es aussah, als seien Fremde zu Fremden gesetzt – Leute, die einander vollständig gleichgültig waren.
   Der Unteroffizier suchte wie zufällig das Auge des alten Zigeuners. Mikosch verstand ihn sofort; es schien ebenso von ungefähr, als er in die Tasche griff und dann mit dem Kopfe nickte – befriedigt verließ der Soldat den Saal, um sein eigenes, wahrscheinlich nicht minder unangenehmes Quartier aufzusuchen und vorerst wenigstens in der Hoffnung auf einen blanken preußischen Taler bei sehr frugalen Rationen zu schwelgen.
   Mikosch hatte noch kein Wort gesprochen, jetzt aber wandte er sich zu seinem jüngeren Stammesgenossen. »Welch eine schreckliche Luft!« sagte er in russischer Sprache.
   Ringsumher horchten die Matrosen plötzlich auf. »Siehe da, ein Landsmann!« rief in freudigem Tone der eine.
   »Ach! Ihr seid Russen?«
   »Gewiß, Kamerad. Großrussen aus der Moskauer Gegend.«
   »Ich natürlich auch!« log mit seinem liebenswürdigsten Lächeln der Zigeuner. »Aber wie kommt ihr denn hierher, Leute – und gar in die Sträflingskleider? Der Teufel hole die Franzosen lotweise!«
   »Womöglich noch in dieser Nacht!«
   Es bildete sich um den Herd herum eine lebhaft schwatzende, durch die fremde Sprache von den übrigen völlig abgetrennte Gruppe; auch Alexei begann eifrig zu fragen und zu sprechen, so daß schließlich die drei Deutschen in der Mitte aller Russen vollkommen unbemerkt blieben und Zeit fanden, miteinander nach Wunsch zu plaudern; die List des alten Zigeuners hatte ihnen den Weg bestens geebnet.
   »So sehen wir uns wieder!« flüsterte Onnen, mühsam den Ausdruck seiner Züge beherrschend. »Habt ihr viel gelitten, Georg und Feiko?«
   »Furchtbar!« antwortete schaudernd der Steuermann. »Jasko und Luiz brachten uns getreulich bis nach Reval, soweit ging auch alles gut, wir hatten die Genugtuung, die Reste der großen französischen Armee auf Krücken davonhinken zu sehen, und fanden später ein nach England bestimmtes Schiff, aber dann kamen die Tage des Leidens. Der ›Kaiser Paul‹ wurde aufgebracht und wir gerieten in die Hände der Franzosen. Ich sage dir —«
   Onnen schüttelte den Kopf. »Du brauchst mir nichts zu erzählen, Feiko, ich selbst habe Ähnliches erlebt. Hunger und Kolbenstöße, eine wahrhaft unmenschliche Behandlung, das ist das Schicksal der Kriegsgefangenen auf den französischen Schiffen.«
   »Mir haben die Unholde ins Gesicht gespuckt!« warf Georg ein.
   »Mir auch. Aber laßt uns von angenehmeren Dingen sprechen – ich erhielt einen Brief aus Norderney!«
   Er erzählte nun den Genossen alles, was ihm die Mutter geschrieben, Freude und Trost nach langer, bitterer Entbehrung in ihre Herzen zurückbringend, dann gestand er ihnen die traurigen Pläne seines Onkels und warnte sie vor der drohenden Gefahr. »Mich verrät der Unglückliche nicht, weil ich eben seiner Schwester Sohn bin«, setzte er hinzu, »aber bei euch wird die Sache anders. Geerd Kluin stirbt vor Hunger und Heimweh zugleich – wer weiß, was geschehen könnte, wenn ihn einmal die Verzweiflung übermannt.«
   »Er erkennt uns nicht«, meinte Feiko. »Die langen Bärte, die verwilderten Haare, das alles schützt uns. Aber was macht er denn überhaupt in Hamburg, dein Onkel? Auf Norderney galt er für einen sehr reichen Mann!«
   »Das ist er auch wirklich – sein Geld liegt in den Dünen vergraben.«
   »Und mittlerweile hungert er hier zu Tode! Nun, ein jeder nach seinem Geschmack. Komm, Onnen, wir wollen uns nebeneinander auf das Stroh legen und noch die halbe Nacht hindurch zusammen plaudern.«
   Das geschah nun zwar nicht wörtlich. Wer am Tage Schanzen gebaut hat, der widersteht des Nachts den Einflüssen der Ermüdung nur bis zu einem gewissen Grade, und auch unsere Freunde schliefen schon, ehe noch die erste Morgenstunde geschlagen hatte. Mikosch fand beim Ausmarsch zur Arbeit Gelegenheit, dem Unteroffizier einen Taler in die Hand zu drücken, freilich nicht, ohne für diesen Preis gleich eine kleine, ihm aber sehr wertvolle Vergünstigung zu erkaufen. »Herr Soldat«, sagte er, »wenn Sie mich nicht zuweilen ein wenig mit dem Bären spazierengehen lassen, ja, dann hört das Geldverdienen auf. Bei den vier Schillingen, welche wir vom Kaiser erhalten, sind eben Ersparnisse unmöglich.«
   Der Unteroffizier nickte. »Natürlich«, sagte er. »Werden sich finden Gelegenheit.«
   »Ich bezahle, was Sie für mich tun können, Herr Soldat.«
   »Oui, oui, mir nur lassen Zeit. Ich daran denken.«
   Er ordnete die ihm unterstellten Züge von Arbeitern so, daß die Zigeuner bei ihren Freunden blieben und ließ regelmäßig den alten Häuptling, sobald der betreffende Offizier seine Runde vollendet hatte, entschlüpfen, um mit dem Bären auszugehen. Mikosch erhielt zwar in der ausgeplünderten, dem Hunger preisgegebenen Stadt nur höchst selten ein paar Schillinge, aber er bezahlte aus dem geheimen Schatz im Ledergürtel seinen Gönner und stand sich gut dabei.
   So kam der achtzehnte Oktober heran; der ewig denkwürdige Tag, an welchem Napoleons Heere auf deutschem Boden so vollständig geschlagen wurden. Die Nachricht dieser Niederlage gelangte sehr bald zur Kenntnis des verhaßten Marschall Davoust, aber er verdrehte dieselbe, aus Furcht, das Ansehen der Franzosen möge leiden, in ihr gerades Gegenteil, er ließ die ganze Stadt illuminieren und ein gewaltiges Feuerwerk veranstalten, dann gab er einen Ball, zu dem alle Damen Hamburgs eingeladen wurden und für welchen er sämtliche Erfordernisse aus den Läden und Niederlagen einfach requirierte.
   Ganz ebenso ging es ihm allerdings auch mit den geladenen Tänzerinnen; es kam keine einzige. Der Franzose wußte sich indessen zu helfen, er ließ durch Polizisten und Nachtwächter die Schauspielerinnen in den Ballsaal bringen und feierte so ein Fest, das in allen seinen Teilen aus frecher Lüge, Erpressungen und Gewalttätigkeit zusammengesetzt war.
   Durch die Verbindungen, welche die braven Patrioten der Hanseatischen Legion mit Hamburg heimlicherweise immer noch unterhielten, kamen indessen die Berichte über den wahren Hergang der Schlacht bei Leipzig doch allmählich in die rings umschlossene Stadt hinein; jetzt galt es für die Franzosen, noch alles an sich zu raffen, was irgend im Bereiche ihrer Hände lag, um womöglich, wenn sie vertrieben wurden, nichts zurückzulassen, als eine leere, zu Grunde gerichtete und doch vorher so blühende, so schaffensfrohe Stadt. Die sogenannten Kontributionen, Requisitionen und was es sonst für Namen gab, alle diese Räubereien im kleinen nützten nichts mehr, denn das Volk war ausgeplündert und die Wohlhabenden vertrieben – es mußte energischer vorgegangen werden.
   Weshalb auch nicht? Wem es erlaubt scheint, den armen Gemüsehändlerinnen ihre Bohnen und Kartoffeln zu stehlen, der braucht sich keinen Zwang mehr aufzuerlegen.
   In der Nacht vom vierten auf den fünften November ließ Marschall Davoust den Inhalt der Hamburger Bank mit Beschlag belegen und wieder einige zwanzig der angesehensten Bürger, welche einen Protest gewagt hatten, auf offenem Boote in stürmischer Nacht über die Elbe nach Harburg bringen und dort in das Gefängnis werfen.
   Vierspännige Blockwagen holten darauf in den nächstfolgenden Nächten die baren Summen und die Silberbarren aus dem Bankgebäude; ja, der General Chaban ließ sogar in der Altonaer Münze aus diesem Metall Geldstücke mit seinem Namen prägen.
   Verurteilungen zum Tode, zur Brandmarkung und Zwangsarbeit, Auspeitschungen und sonstige Bestrafungen folgten einander wie die Flocken im Winter; der Hunger und das pestartige Fieber rafften Tausende dahin.
   Es gab keinen Markt mehr, keine offenen Läden, keine Arbeit; Leichengeruch wehte durch die Straßen, die Stufe des äußersten, unerträglichsten Elendes war erreicht.
   In diese Zeit des schrecklichen Leidens fiel für unsere Freunde ein heller, glänzender Lichtstrahl. Aus einem Hotel am Jungfernstieg gelangte eines Tages eine Botschaft in den Bauhof, ein Brief an Onnen, in welchem ihn Baron Liliencron aufforderte, einen Augenblick herüberzukommen.
   An den Befestigungen wurde jetzt der kurzen Tage wegen nicht mehr so stark gearbeitet, Onnen fand daher Zeit, sich sogleich zum Jungfernstieg zu begeben, und sprang fort, so schnell es ihm möglich war.
   Der Baron hatte ein Extrazimmer genommen, er saß hinter der Flasche und schien in sehr guter Stimmung. »Politische Nachrichten, Zigeuner«, sagte er. »Allerlei Gutes!«
   Onnen war etwas enttäuscht. »Herr Baron«, stammelte er, »ich hoffte, es sei ein Brief von meiner Mutter.«
   »Es ist mehr als das, mein Junge! Dein Vaterland ist frei, die Franzosen haben Ostfriesland ohne Schwertstreich geräumt.«
   Onnen sah ihn an, das Blut drang in heißen Strömen zu seinem Herzen. »Frei? Frei von dem Drucke der Fremdherrschaft? – Ach, aber mein Vater sieht es nicht mehr!«
   Der Baron reichte ihm die Hand. »Daran darfst du jetzt nicht denken, Onnen. Laß mich dir den Hergang erzählen, mein Junge. Die tapfere Königsberger Landwehr hat unter Major Friccius den Feind vor sich hergetrieben, daß er lief wie ein Hase – ich sage dir, Fischerburschen und Straßenjungen haben die abziehenden Franzosen mit Steinen geworfen! – dann sind Donsche Kosaken in Emden und Aurich eingerückt; das ganze Ostfriesland jubiliert, als sei jeder einzelne Mensch neugeboren.«
   »Ach«, rief Onnen, »und ich bin nicht dabei!«
   »Aber du wirst es bald sein, mein ungeduldiger Freund. Noch kämpft man im engsten Umkreise von Hamburg, doch die Franzosen sind auf der ganzen Linie geschlagen – selbst in Frankreich ist Napoleons Ansehen im Schwinden begriffen. Das war es, was ich dir erzählen wollte.«
   Er reichte dem tief erregten jungen Manne ein Glas Wein und stieß dann mit ihm an. »Auf glückliche Nachhausekunft, Junge!«
   Onnen tat Bescheid, vor Aufregung kaum fähig zu sprechen. »Meine Frau läßt dich bestens grüßen«, fuhr der Baron fort, »ebenso auch die Kinder und dein Schützling, Frau Pehmöller. Ihr Mann kämpft mit Begeisterung gegen die Franzosen; in jedem Briefe schickt er dir seine herzlichsten Grüße.«
   Onnen dankte mit Tränen in den Augen. Es schien jetzt alles besser, glücklicher zu gehen; auch der kleine Heinz Bruhns war von seiner schweren Krankheit längst wieder genesen, und den Vater desselben hatte unser Freund bei den Schanzarbeiten, mit ungebrochenem Mute der frohen Zukunft harrend, gesehen – ob wirklich die Sonne der Freiheit, des wiedererlangten Bürgerglücks für das deutsche Land im vollen Glanze am Himmel aufgehen würde?
   Er hoffte es jetzt und verabschiedete sich bei seinem freundlichen Gönner mit dem Ausdrucke der innigsten Dankbarkeit. Wieviel gab es nicht in dieser Nacht zu erzählen – sie sprachen heute wirklich bis zum Morgen miteinander, die drei jungen Leute, sie feierten, ob auch räumlich getrennt, doch mit ihren Landsleuten das Fest der endlichen Erlösung aus tiefem, ja, aus dem tiefsten, schrecklichsten Elend, dem der Fremdherrschaft.
   Jetzt war der Monat Dezember angebrochen. Eine furchtbare Kälte, als die des Belagerungswinters noch vielen Hamburg-Altonaern aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern wohl erinnerlich, eine selten eintretende entsetzliche Kälte herrschte in der Stadt. Elbe und Alster waren gefroren, das Feuerungsmaterial teurer als in gewöhnlichen Zeitläufen, das Brot und die Lebensmittel geradezu unerschwinglich. Eine einzige Schnitte Roggenbrot kostete sechzehn Schilling, also etwa nach unserem deutschen Reichsgelde eine Mark zwanzig Pfennig.
   Daß unter solchen Umständen zwei Drittel aller Einwohner krank darniederlagen, kann eben nicht wundernehmen.
   Die französischen Machthaber sannen jetzt auf Mittel, sich der durch ihre Verhöhnung alles Rechtes und aller Menschlichkeit zu Bettlern gemachten Hamburger zu entledigen; ihre Schanzen waren fertig, die Stadt eine Festung ersten Ranges, die baren Mittel sowie sämtliche beweglichen Güter in ihren Händen – also fort mit den unnützen Brotessern.
   Es erschien eine neue Proklamation, wahnwitzig und grausam zugleich:
   »Alle Einwohner sind gehalten, sich sofort für die Dauer von sechs Monaten zu verproviantieren und das Register ihrer Vorräte an Brennmaterial, Speck, Mehl, Kartoffeln, Fleisch und Früchten auf die Mairie einzuliefern. Wer das versäumt, wird mit fünfzig Stockprügeln bestraft; wer unangemeldete Vorräte bei sich verbirgt, dem sollen sie zum Besten der Garnisonverwaltungen und Lazarette konfisziert werden, wer endlich erklärt, sich nicht verproviantieren zu können, der muß die Stadt innerhalb vierundzwanzig Stunden verlassen. Sollte er später noch in Hamburg angetroffen werden, so wird ihn der Büttel vor das Tor schaffen; seine Sachen aber sind dem Fiskus verfallen.«
   Dieser empörende, aller Menschlichkeit hohnsprechende Befehl machte in Hamburg nur wenig Eindruck. Diejenigen, welche noch Lebensmittel besaßen, hüteten sich, das zu verraten, weil sie sehr wohl wußten, daß ihnen unter irgendeinem nichtigen Vorwande sogleich alles genommen werden würde, die Armen dagegen schwiegen aus Furcht.
   Marschall Davoust ließ seine Bekanntmachung wiederholen – der Erfolg war auch diesmal der gleiche.
   Nun begann ein widerwärtiges, scheußliches Treiben. Es eilte ja, mitten im härtesten, kältesten Winter die Hungernden, Beraubten einfach abzuschütteln, weil sie lebende Wesen waren und als solche essen und trinken wollten.
   Französische Soldaten drangen in jedes Haus und durchsuchten alle Räume. Waren ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt, fand sich irgendwo ein gefüllter Mehlsack oder eine Speckseite, so wurden vorläufig diese Dinge mit Beschlag belegt und hinterher der bedauernswerte Eigentümer zur Bestrafung angemeldet.
   Vor den Wachen auf dem Zeughaus– und Großneumarkt gab es in dieser Unglückszeit bestimmte Stellen, an denen man, häufig in Davousts und Vandammes Gegenwart, diese entwürdigenden Exekutionen vollzog. Die Franzosen fanden dabei auf jede Weise ihre Rechnung, denn das Volk wurde eingeschüchtert; es brachte jeden über den Bedarf des gegenwärtigen Tages hinausgehenden Gegenstand auf die Mairie, nur um sich vor dem Stocke des Profosen zu bewahren.
   Mikosch ging, gedrängt von sämtlichen jungen Leuten, eines Tages zum Maire, gestand, daß er sich und seine Söhne unmöglich verproviantieren könne, und bat um die Erlaubnis, Hamburg verlassen zu dürfen; dieselbe wurde ihm indessen rundheraus verweigert. »Sie können bleiben«, hieß es, »Schanzarbeiter sind von dieser Verfügung ausgenommen.«
   »Aber die Schanzen sind beinahe vollendet, gestrenger Herr«, wagte der Zigeuner dem berüchtigten Maire Rüder entgegenzuhalten.
   Ein finstrer Blick traf seine Stirn. »Man bezahlt euch, nicht wahr? – Hinaus!«
   Mikosch ging, er wußte, daß Stockprügel verabfolgt wurden, wo immer eine Gelegenheit zur Bestrafung vom Zaun gebrochen werden konnte.
   Unterwegs, auf dem Marsche nach Eppendorf begriffen, sah er die Kinder des Hamburgischen Waisenhauses im langen Zuge, still und vielfach weinend nebeneinander dahingehen. Scharen von Bürgern gaben den Kleinen das Geleite, Frauen und Kinder weinten mit ihnen, hie und da umhüllte eine mitleidige Seele irgendein besonders schwächliches oder anscheinend krankes kleines Geschöpf mit einem wärmenden Kleidungsstück; Brotschnitten wurden verteilt, Äpfel und Speisereste; man tröstete die unglücklichen, jetzt doppelt heimatlosen Kinder in jeder Weise.
   Auch diese Armen hatte ein kurzer Befehl des Marschalls aus ihrer bisherigen Wohnung vertrieben. Das Waisenhaus sollte Kranke aufnehmen, also mußten die Gesunden weichen.
   Vor der Tür des Gebäudes hielten mehrere Wagen, welche der Hausvater bestellt hatte, um die Betten und Kleidungsstücke der Kinder nach Eppendorf zu schaffen, aber ein Adjutant des Marschalls trat dazwischen und verbot jede Entfernung von Gebrauchsgegenständen. »Alle vorhandenen Betten sind für die Kranken«, erklärte er.
   Der brave Hausvater sah über die Brille hinweg kopfschüttelnd zu dem herrisch auftretenden Franzosen hinüber. »Wenn der Herr Offizier mich begleiten möchte«, sagte er lächelnd, »ich hätte noch eine Bemerkung hinzuzufügen.«
   Klirrenden Schrittes folgte ihm der Franzose. Der redliche, aber etwas derbe alte Hamburger blieb vor dem ersten Bett im Schlafsaal stehen und deutete mit der Rechten auf dasselbe. »Herr Offizier, ist es möglich, daß Soldaten, also erwachsene Männer darin schlafen können?« sagte er im Tone ruhigen Spottes.
   Der Franzose zog seine Lorgnette hervor; er betrachtete die Kinderbetten, als seien dieselben nie vorher bemerkte Naturwunder. »Wirklich!« schnarrte er, »das ist so! Arme Kinder! – Herr Direktor, ich verspreche Ihnen, zu laß die Bett ici!«
   »Danke!« versetzte trocken der Hausvater. »Ich denke es auch. So haben denn die Kinder in ihrer Verbannung wenigstens ein Weihnachtsgeschenk – man setzt sie nicht, wie so viele ehrliche Hamburger Bürger, des Notwendigsten beraubt, einfach vor die Tür.«
   Das hatte der Franzose nicht verstanden oder er war zu klug, um nachzufragen. Die Kinderbetten konnten aufgeladen und nach Eppendorf gebracht werden; am Nachmittag zogen dann kranke Soldaten in das Waisenhaus, mit dessen Besitzergreifung das letzte öffentliche Gebäude, alle Kirchen, Schulen und Bibliotheken eingerechnet, den militärischen Zwecken anheimfiel. In der Jakobi-, Petri– und Heiligengeistkirche standen Pferde, in den übrigen lagerten Stroh– oder Futtervorräte.
   So kam der vierundzwanzigste Dezember, der Weihnachtsabend heran. Die französischen Machthaber gaben Feste und Bälle, sie schwelgten, während Tausende im unerträglichsten Jammer und Elend vergingen; ihre Equipagen rollten durch die dunklen, menschenleeren Straßen, ihre galonierten Diener trugen alle erdenklichen Delikatessen aus den Niederlagen zusammen und aus ihren Häusern hervor schallte rauschende Ballmusik – auf der ganzen übrigen Stadt dagegen lag Totenstille.
   Wer hätte nicht schon von dem berühmten Hamburger Weihnachtsmarkt, dem Dom gehört? Wer kennt nicht die auf allen Marktplätzen gehäuften Schau– und Verkaufsbuden, die Seiltänzer, Affentheater, Polichinells und Riesendamen, mit deren Leistungen Hamburg und namentlich die Vorstadt Sankt Pauli von alters her aus der ganzen holsteinischen und hannoverschen Umgebung die Besucher zu Tausenden heranzuziehen pflegt? – In dem Trauerjahr 1813 war alles verödet; kein Tannenbaum stand auf dem Hopfenmarkt zum Verkauf, kein Rauschgold und Flitterkram, keine bunte Kerze hing in den Schaufenstern. Es gab niemand, der noch Luxusgegenstände bezahlen konnte.
   Onnen hatte an seine Mutter einen langen Brief geschrieben, den ihm eine befreundete Hand in Altona auf die Post brachte; dann war der ganze Saal von seinen Insassen nach Möglichkeit gefegt und gesäubert worden, um doch, so gut es eben ging, den heiligen Abend zu feiern. Mikosch gab das Geld für zwei Flaschen Rum und ein paar Pfund Zucker, ein Kessel mit Wasser wurde auf den Herd gesetzt und die zerschlagenen Fenster durch Lumpen notdürftig verhüllt. Eine flackernde Tranlampe erhellte den Umkreis des Tisches, dem heute abend die Karten fernblieben.
   »Mikosch«, flüsterte Onnen, »sei gut, lade den Unteroffizier zu einem Glase Punsch an unseren Tisch.«
   Der Zigeuner nickte. »Daran dachte ich selbst schon, Herr!«
   Er ging hinüber in denjenigen Teil des Bauhofes, welcher als Kaserne diente, und spähte nach dem Unteroffizier Eblé, dem die Obhut eines Teiles der Strafgefangenen anvertraut worden war; nach einigem Suchen fand er ihn auch und konnte seine Einladung anbringen, aber der Franzose, obwohl er sich sonst einem guten Tropfen keineswegs abgeneigt zeigte, der sonst so habsüchtige Franzose schien heute unruhig und zerstreut. »Merci, monsieur«, sagte er. »Können nix trinken, aben nix Zeit.«
   Mikosch war sehr erstaunt. »Am Weihnachtsabend, Herr? Sie scherzen.«
   Der Unteroffizier schüttelte den Kopf. »Große Ernst, große Ernst, Monsieur – können ich nicht lernen Ihren Namen!«
   Er sah nach allen Seiten und näherte sich dann, als er in dem Unwetter dieses Tages keinen Menschen erblickte, hastig dem Zigeuner. »Wir beide heute maken einen Handel?« raunte er, während seine Augen habgierig glänzten. »Ihr und ich!«
   Mikosch erschrak ein wenig; auch er hatte eine kleine Schwäche für gemünztes Metall und fürchtete nicht mit Unrecht einen Angriff auf die Schätze des Ledergürtels, aber dennoch bewahrte er äußerlich seine Fassung. »Ein Geschäft, mein lieber Herr Eblé? Lassen Sie hören! Wenn es sein kann, bin ich gewiß dabei.«
   Der Unteroffizier spielte mit einem kleinen Schlüssel, den er in der Hand hielt; seine bohrenden Blicke hafteten fortwährend an dem Gesicht des Zigeuners. »Aben ich Augen«, sagte er, »und aben ich Ohren. Eh bien! Ich sehen, daß Monsieur nicht lieben sehr die russisch Gefangen – lieben viel mehr zwei junge Leute, das sind Deutsche – heißt Georg die eine und heißt, glauben ich, Fego die andre.«
   Mikosch lächelte äußerst liebenswürdig. »Es traf sich, daß gerade diese beiden jungen Leute persönliche Bekannte sind, mein werter Herr Eblé! Aber gewiß werden Sie mir aus dieser Angelegenheit keinen Vorwurf machen wollen.«
   »Durchaus nicht! Aber aben ich doch hören und sehen ricktig?«
   »Das allerdings. Sie sind Menschenkenner, Monsieur Eblé!«
   Der Franzose lächelte geschmeichelt. »Ihr sehen diese Schlüssel?« fragte er.
   »Gewiß! Was soll‘s mit ihm?«
   »Das die Schlüssel sein für Kette von Gefangene! Maken auf! Maken zu! – Nun sprechen von Handel wir beide. Heute nacht kommen große Exekution.«
   Der Zigeuner erschrak »Gott behüte uns, Monsieur Eblé, was wird denn geschehen?« fragte er voll Bestürzung.
   »Pst! Davon kann ich sprecken nix. Noch nix. Aber kommen ich heute nacht mit zwanzig Soldaten in Schlafsaal – wollen Ihr dann haben dieser Schlüssel und maken auf in dunkel Ecke ganz heimlich die Kette von Monsieur Fego und Monsieur George?«
   »Um sie freizulassen? Mit tausend Freuden, Herr, aber —«
   »Pst! Sagen gar nix aber! Was bezahlen für Schlüssel?«
   Mikosch seufzte. »Sie halten mich doch nicht für reich, Monsieur Eblé? Ich bin ein armer Teufel, der sich, genau genommen, durch die Welt bettelt!«
   Der Franzose lächelte. »Das glauben ich nix«, erklärte er rundheraus. »Ihr verstehen Zauber, Ihr haben Buch, große Geheimnis – Ihr können maken Geld.«
   »Ach, du lieber Himmel, ich wollte, es wäre so!«
   »Es so sein. Wollen Ihr geben zehn Taler für Schlüssel?«
   »Das ist zu teuer, bester Herr, viel zu teuer! Ja, wenn ich wüßte, daß Georg und Feiko entfliehen könnten, daß sie —«
   »Pst! Die junge Leute können fliehen, weit fliehen, kommen nix wieder zurück ici – ich es sagen.«
   Der Zigeuner begriff je länger, desto weniger das, was ihm der Franzose mitteilte. »So sprechen Sie doch deutlicher, Herr«, rief er ungeduldig.
   »Das nix können. Zehn Taler für diese Schlüssel!«
   Mikosch schien plötzlich von einem Gedanken ergriffen. »Hören Sie, Herr Unteroffizier«, rief er, »kommen Sie heute nacht auch in den Schlafsaal am anderen Flügel?«
   »Gewiß, mein Freund! Warum fragen das?«
   »Kennen Sie da den Strafgefangenen Nummer 210? Er ist ein großer, starkgebauter Mann mit blondem Vollbart und heißt Theodor Bruhns!«
   »Kenne ihn! Was sollen er?«
   Der Zigeuner sah fest in das Gesicht des Franzosen. »Wenn Sie auch seine Ketten öffnen wollen, so sollen Ihnen die zehn Taler gewiß sein, Herr!«
   Der Unteroffizier überlegte. »Ich können ihm vertrauen?« sagte er unschlüssig. »Diese Mann kein Verräter?«
   »Ganz gewiß nicht. Ich bürge für ihn!«
   »Bon. Dann er sollen aben die Freiheit heute.«
   »Und Sie das Geld, Herr Unteroffizier!«
   Der Franzose beugte sich weiter vor. »Nix aben von Geld in Tasche jetzt?« raunte er atemlos vor Gier.
   »Wahrhaftig nicht, aber ich bleibe Ihnen das Versprochene auf keinen Fall schuldig, mein werter Herr.«
   Der Unteroffizier nickte. »Das wünschen ich«, sagte er mit bedeutsamem Tone. »Ihr nicht zahlen die Geld, dann schießen ich mit Pistole und treffen diesen jungen Mensch, das Ihr lieben sehr – Oinon heißen er, Euer Sohn!«
   Mikosch erbebte. Welch ein feiner Beobachter war dieser Mann!
   »Geben Sie mir nur den Schlüssel«, sagte er. »Ich zahle!«
   Das leichte und doch so bleischwer wiegende Stück Metall glitt aus der Hand des Unteroffiziers in die des Zigeuners. Die beiden Männer trennten sich und Mikosch kam zurück in den Schlafsaal, wo seine Mitteilungen das größte Erstaunen erregten. Niemand begriff ihn, aber dennoch beherrschte das Vorgefühl einer Katastrophe die Herzen aller. Was mochte Neues, Schlimmes im Werke sein?
   Der Teekessel kochte; Gläser, Tassen und Blechbecher standen auf dem Tische, ein großes Weißbrot lag als Festessen in der Mitte. Onnen hatte die Kartoffelschüssel sowie einen Holzlöffel herbeigeholt und begann jetzt den Punsch zu brauen, aber er war nicht bei der Sache, ebensowenig Feiko und Georg; besonders diese beiden letzteren flüsterten fortwährend. Wenn nicht der Schlüssel in den Händen des Zigeuners ein bündiger Beweis gewesen wäre, so würden alle an ein Mißverständnis geglaubt haben.
   »Was ist mit euch?« fragte einer aus der kleinen Schar gefangener russischer Matrosen, »was habt ihr nur?«
   Onnen reichte ihm ein gefülltes Glas. »Nichts, Kamerad«, versetzte er. »Laßt uns anstoßen – es ist doch immer ein eigen Ding, den heiligen Abend fern von der Heimat und noch dazu als Gefangener zu verbringen. Weißt du‘s noch, Mikosch, heute vor einem Jahre waren wir die Gäste eines russischen Bauernhauses!«
   »Und Georg und ich befanden uns auf dem Meere«, warf Feiko ein. »Möchten für uns alle bald bessere Zeiten kommen!«
   Die Gläser klangen aneinander, auch von den übrigen Tischen her scholl Gesang und Becherklingen hinaus in das wilde Schneetreiben des Dezemberabends. Sie feierten alle: den heiligen Abend, diese Opfer einer traurigen, entsetzlichen Zeit, alle, nur jeder einzelne auf seine besondere Weise.
   Ein kleines Häuflein sang ein Kirchenlied; wieder andere, jüngere und weniger gebildete Leute irgendeinen Gassenhauer, ein poetisches Erzeugnis, wie sie Kriegszeiten immer sehr reichlich hervorzubringen pflegen; noch andere pfiffen oder sprachen lebhaft, aber das alles blieb doch frei von jener Roheit, jenem lauten Leben des gewöhnlichen Tages. Der Weihnachtsabend übt seinen besonderen Zauber; auch die Zügellosesten können sich ihm nicht entziehen.
   »Und ihr habt doch etwas vor, irgendein Geheimnis!« rief wieder der Russe. »Was kann es nur sein?«
   »Heimweh!« seufzte Onnen, indem er die Arme ausbreitete. »O mein liebes Norderney, du feierst deinen heiligen Abend frei vom Druck der Fremdherrschaft!«
   »Und auch du, Mütterchen Moskwa!« rief der Russe. »Gott erhalte dich für und für, Gott heile alle deine blutenden Wunden.«
   »Amen! Amen!«
   »Laßt uns nochmals trinken und dann schlafen gehen«, riet Mikosch. »Man wird durch solche Erinnerungen traurig gestimmt!«
   »Ja, ja, laßt uns schlafen!«
   Alexei legte die Arme auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hand. »Kommen wir bald zurück nach Rußland, Alter? Ich habe Hamburg satt.«
   »Still, still – da singen über uns Gefangene. Es sind Preußen aus Blüchers kampflustigen Scharen.«
   »Die wahrhaftig ihre Haut dreist genug zu Markte tragen. Hört doch nur!«
   Aus dem ersten Stockwerk klangen frohe Stimmen herüber; das was die Leute sangen, war ein frisches, keckes Soldatenlied.
   »Im Himmel sitzt der alte Fritz,
   Und schaut auf uns hernieder.
   Potz Himmeltausend Hagelblitz,
   Schlagt die Franzosen nieder!«
   Sie rechneten darauf, daß die fremden Gewaltherrscher den deutschen Inhalt der Verse nicht verstehen würden, oder sie rechneten überhaupt schon gar nicht mehr, stießen nur noch von Zeit zu Zeit mit den längst geleerten Gläsern aneinander und wiederholten ihren grimmigen, aus tiefstem Herzen herauf quellenden Refrain: »Schlagt die Franzosen nieder!«
   Dann rieselte jedesmal eine wahre Sintflut von Sandkörnern durch die Fugen und unseren Freunden auf die Köpfe. »Hurra!« schrien von unten herauf die Hamburger, »Preußen soll leben, Hurra!«
   Der ganze Raum widerhallte von Klängen aller Art, aber doch in abnehmender Folge. Draußen tobte ein Schneesturm, der zuweilen ganze Massen von weißem Puder durch die Risse und Spalten der halbzerschlagenen Fenster trieb, dessen Pfeifen und Singen durch alle Teile des alten Baues tönte, ein furchtbarer Schneesturm, von anderen schauerlichen Stimmen hier und da unterbrochen.
   »Was war das?« flüsterte Mikosch. »Es schrie ein Weib!«
   »Kinderstimmen«, meinte Onnen. »Ha – das war eben ein Hornsignal!«
   Alexei hob den Kopf, er zog aus einer Scheibe die hineingestopften Lappen und horchte. »Irgendein Auflauf«, raunte er, »ein besonderes Ereignis. Die ganze Stadt ist in Bewegung.«
   Mikosch hielt in fest geschlossener Faust den kleinen Schlüssel. Das Stück Metall war wie aus heißem Wasser gezogen, das Herz des braunen Häuptlings pochte in nervöser Unruhe. Irgend etwas schwer ins Gewicht Fallendes bereitete sich vor – aber was?
   Im Saale schliefen jetzt fast alle; die einen, weil sie des Guten zuviel getan hatten, die anderen aus Gram, aus Verzweiflung. Es war still in dem überfüllten Raum, die meisten Lampen erloschen, die lautesten Schreier waren verstummt.
   »Horch!« flüsterte Alexei, »Bitten um Gnade, herzzerreißendes Wimmern! – Geht durch Hamburg der Upyr und würgt alles, was da lebt?«
   »Still! Willst du ihn rufen?«
   »Sprich den Zaubersegen, Mikosch!«
   Der Alte begann zu murmeln. Es war eine Mundart, die keiner der Deutschen verstand, dem äußeren Anscheine nach eine Beschwörung, vielleicht eingelernte Silben, vielfach verzerrt, dem ursprünglichen Laute kaum noch ähnlich, aber trotzdem mit Inbrunst gesprochen, mit dem offenbaren unerschütterlichen Glauben an ihre Macht.
   Alexei horchte andächtig; er hielt die Lippen halb geöffnet. Der Zaubersegen schützte ihn vollständig gegen die Angriffe des gefürchteten Upyr.
   Draußen tönte, ganz aus der Nähe, plötzlich ein wilder, gellender Schrei. »Meine Kinder, meine Kinder! Ihr Unmenschen, ich will bei meinen Kindern bleiben!«
   Dann ein Schlag, ein Wimmern, ein dumpfer Fall!
   Feikos Kette klirrte leise, wie wenn die Hand des Trägers gebebt hätte. »Gib her den Schlüssel, Mikosch. Was auch kommen möge, es soll uns wenigstens nicht gefesselt finden.«
   Der Zigeuner schien unschlüssig. »Warte noch, bis unser Freund das Rätsel löst«, sagte er. »Es ist nahe an Mitternacht!«
   »Nein, nein, gib den Schlüssel. Wenn du wolltest, daß wir ruhig blieben, dann hättest du uns von dem Mittel der Befreiung nichts erzählen müssen.«
   Stumm reichte ihm der Alte das kleine Instrument. Von seiner Hand fielen langsam die großen Tropfen hinab auf den Fußboden.
   Feiko unterdrückte mit Mühe einen Freudenschrei; er schloß auf und die Kette sank – ein Strom neuen Lebens rann durch alle seine Adern.
   »Da, Georg – schnell, schnell!«
   Draußen fuhren Wagen vorüber, es erhob sich hier und da lautes, wildes Getümmel; Kommandorufe erschallten, Flüche, Wehklagen, alles durcheinander.
   Da erklangen feste Schritte, die Tür wurde geöffnet und der Unteroffizier Eblé erschien mit einer starken Abteilung Soldaten, die an beiden Seiten Posto faßten.
   »Alle freien Schanzarbeiter sollen vortreten!«
   Der Unteroffizier ging, nachdem er das Kommando abgegeben, langsam durch den Saal und schien die Schlafenden zu wecken. Er berührte jede Schulter, streifte jede Gruppe und sprach hier und dort ein ermunterndes Wort; auch vor dem Tische unserer Freunde machte er Halt. »Allons, allons – die freien Arbeiter hinaus!«
   Seine Finger preßten sich in Feikos und Georgs Schultern, er streckte den Arm aus, um zugleich das versprochene Geld und seinen Schlüssel in Empfang zu nehmen. Nur eine Sekunde, dann hatte ihm Mikosch, gewandt wie ein Taschenspieler, beides zugesteckt. »Und Nummer 210?« raunte er.
   »Fort! Längst fort!«
   »Wohin sollen wir denn? Was habt Ihr vor?«
   »Hinaus! Weg von Hamburg, fort! Nix aben Essen, Brot!«
   »Du lieber Gott, alle Armen werden aus der Stadt verjagt?«
   »Freilich! Ist nicht zu ändern im Krieg!«
   Er ging weiter und ungestüm drängte sich mit den übrigen die ganze Gruppe unserer Freunde zur Tür. Feiko und Georg hielten sich möglichst in der Mitte – es hätte ja zufällig irgendeiner unter den Franzosen sie erkennen und zurückschleudern können in das Elend der Gefangenschaft.
   Aber die Soldaten sahen nur nach der Kette. Wer keine trug, den ließen sie unbedenklich passieren.
   »Wohin geht ihr?« riefen aus dem Schlafe auffahrend die Russen. »Mikosch, Alexei, wo seid ihr?«
   »Wir werden hinauskommandiert, ihr hört es ja. Adieu! Adieu!«
   »Feiko!« rief eine andere Stimme, »Feiko!«
   »Schnell hinaus – sie könnten Alarm schlagen!«
   Noch ein rascher Sprung und die Schneefluten umtobten von allen Seiten zugleich unsere Freunde, sie standen auf der Straße, um hier durch eine andere Abteilung Soldaten in Empfang genommen und weitertransportiert zu werden.
   »Vorwärts! Vorwärts! Nicht stillstehen!«
   Die Unteroffiziere schoben und stießen, andere Gruppen kamen hinzu, allmählich füllte sich die ganze Straße mit Menschen in allen Lebensaltern und aus den verschiedensten Ständen. Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett begleiteten die Unglücklichen, unter denen sich viele Kranke befanden, kleine Kinder, die Insassen eines Siechenhauses, Krüppel jeder Art.
   Mikosch und Alexei sahen einander an. »Es ist nicht der Upyr!« flüsterte ersterer. »Dem Himmel sei Dank!«
   Auch Feiko und Georg beteten heimlich. Sie waren wenigstens in allem Elend freie Menschen, und – einmal über Hamburgs Grenzen hinaus – von der Gefangenschaft der Franzosen für immer erlöst.
   Der Weg ging durch den oberen Teil der Steinstraße zur Petrikirche. Dort brannte Licht, die Türen standen weit offen, ein Strom dunkler Gestalten wogte fortwährend aus und ein, Wachtposten umgaben in kurzen Zwischenräumen den ganzen Bau.
   »Was sollen wir hier?« flüsterte Mikosch. »Welch eine trostlose Nacht!«
   »Einerlei, die Ketten sind doch im Bauhof geblieben! – Ich erschlage jeden, der mich in die Gefangenschaft zurückführen will!«
   »Geradeaus!« befahl der begleitende Unteroffizier. »Hinein!«
   Und als dann der letzte seiner Schar hinter dem geöffneten Portal verschwand, eilte er mit den Soldaten zurück, um neue Abteilungen hierher zu führen.
   Unsere Freunde sahen einander an. »Ich glaube, wir sind im Augenblick uns selbst überlassen«, flüsterte Mikosch, »wir sind frei.«
   »Probiere es einmal, Onnen!«
   Der junge Mann ging zur Tür zurück und tat einen Schritt hinaus ins Freie, aber ein gefälltes Bajonett kehrte sich ihm sofort entgegen. »Kein Ausgang!«
   »Es geht nicht!« flüsterte er. Wenigstens ist hier aber doch eine bessere Luft als im Bauhofe – lieber Gott, welch ein Weihnachtsabend!«
   Sie drängten sich nun durch, um weiter in das Innere der geräumigen Kirche hineinzugelangen und womöglich noch einen Sitz zu finden, aber dies Bemühen war umsonst, nicht einmal alle Frauen hatten einen Platz erhalten; die Siechen und die kleinen Kinder mußten ja vorangehen.
   Hart unter der Kanzel auf den kalten Fliesen kauerte die kleine Gruppe eng beieinander und an ihren Ohren rauschte vorüber, was während der letzten Stunden geschehen war – die Geschichte dieser entsetzlichen, grauenvollen Nacht.
   Marschall Davoust befahl, daß bis zum Morgen alle diejenigen eingefangen und gruppenweise in die Kirchen gesperrt werden sollten, denen der Verproviantierungsschein fehlte, die daher nicht für den Winter mit Brennmaterial und Lebensmitteln versorgt waren und aus diesem Grunde den Machthabern lästig werden konnten. Er wollte sie einfach vor das Tor setzen lassen, aber in einer Weise, welche die Familienglieder voneinander trennte und durch die so entstandene Ratlosigkeit und Verzweiflung in jeder Weise schwächte.
   Während die armen Leute, zum größten Teil hungernd und frierend, hinter den vereisten Scheiben ihrer Wohnungen saßen oder vielleicht gar schon schliefen, zerschlugen französische Soldaten mit den Kolben der Gewehre die Türen und befahlen den Erschrockenen, ihnen sogleich zu folgen. Es wurde ihnen kaum Zeit genug gelassen, um sich notdürftig bekleiden zu können; mitnehmen durften sie nicht das allergeringste, man antwortete auch auf keine Frage und setzte den verzweiflungsvollsten Klagen entweder ein beharrliches Stillschweigen oder die schwersten Drohungen entgegen.
   In das Siechenhaus zu den gelähmten, blinden und tauben alten Frauen drangen die menschlichen Hyänen. Plötzlich erhellte sich der Schlafsaal, Bajonette blitzten im Licht, das Kommando der Unteroffiziere trieb die armen zitternden Geschöpfe aus den Betten; krank und hilflos, zum Teil unfähig, sich allein fortzubewegen, so wurden sie hinausgejagt in das Schneetreiben der Dezembernacht – die Tauben, während sie nicht wußten, was mit ihnen geschah, die Blinden, während sie sich halbtot vor Angst an die Sehenden klammerten und bei jedem Schritt fielen, um von den Kolbenstößen der Soldaten, von ihren rohen Griffen wieder emporgezerrt zu werden.
   Eisnadeln wirbelten durch die Luft und trafen ihre unbeschützten Stirnen, der Schnee überflutete das graue Haar – am glücklichsten waren noch die, welche gleich nach den ersten Schritten fielen und nicht mehr aufstanden; sie gingen dem entsetzlichsten, untragbarsten Elend aus dem Wege.
   In die Armenhäuser, in die Gotteswohnungen, in Buden und Keller trugen die Schergen des Marschalls das Verderben. Hinaus in die Winternacht schleppten sie jedes lebende Wesen, taub gegen Bitten und Vorstellungen, taub gegen die Stimme der Menschlichkeit, der Religion, bloße Handlanger derer, die selbst Sklaven eines Gewaltherrschers waren und die durch ihr Beispiel das Heer demoralisiert hatten. Als anständige, lebensfrohe Leute kamen die Soldaten aus Frankreich; als Tiger in Menschengestalt kehrten sie dahin zurück, Schäden und Verluste hinterlassend, an deren Tilgung drei Menschenalter zu arbeiten hatten.
   Eiserne Fäuste trieben die Heimatlosen in entweihte Kirchen, aus denen das Vieh für die Stunden dieser Schreckensnacht entfernt worden war. Ganze Straßen standen jetzt leer, ganze Budenreihen und Höfe – fünfundzwanzigtausend Menschen hatten seit dem vorhergehenden Tage ihr letztes Hab und Gut verloren.
   Stumpfsinnig sahen die einen vor sich hin, händeringend jammerten die anderen. Ein Durcheinander von Stimmen, von Weinen, Beten und lautem verzweifeltem Schreien erfüllte die Kirche; kleine Kinder mischten ihre Angstrufe mit dem Schluchzen der Mütter, mit den beharrlich wiederholten Fragen derer, welche sich in ihrem guten Rechte gekränkt wußten und das nun nicht so ruhig hingehen lassen wollten.
   Besonders eine alte Frau setzte die Geduld ihrer Unglücksgenossen auf eine harte Probe. Es war ein rundliches, behäbiges Mütterchen, etwas harthörig zwar, aber sonst gesund; die Zunge befand sich in steter rastloser Tätigkeit.
   »Meine neue Haube mit der gelben Rose«, sagte sie kläglich, »und die sechs Mark im Bettstroh und —«
   »Aber laßt das nun doch endlich einmal ruhen, Frau! Ihr leidet ja nichts anderes, als was auch alle übrigen ertragen müssen. Die gelbe Rose wird doch nicht so schwer zu ersetzen sein!«
   »Und der neue Kohltopf«, fuhr die Alte fort, »lieber Himmel, er hat zwölf Schillinge gekostet! – Ja, und wann ziehen wir denn überhaupt in die Gotteswohnungen wieder hinein? – Wenn nur nicht jetzt alle Sachen ruiniert werden! Sollten die Franzosen wohl stehlen?«
   »Gelbe Rosen nicht!« antwortete die schnippische Stimme von vorhin.
   »Gute Frau«, bat eine weinende junge Mutter, »hattet Ihr Kinder, versteht Ihr Euch auf ihre Krankheiten? Mein armer kleiner Bube verdreht die Augen so schrecklich!«
   Ein Kreis von Frauen umgab die Unglückliche, das Schreckenswort Krämpfe ging von Mund zu Mund, ein Schluchzen erfüllte rings die Umgebung. Wieder versuchte jemand, hinauszukommen und Hilfe herbeizuholen, aber die Wachtposten ließen ihn nicht durch, selbst dann nicht, als ihnen Geld geboten wurde.
   »Es ist vier Uhr morgens«, hieß es, »sobald der Tag anbricht, werdet ihr alle hinausgeführt, also wartet noch kurze Zeit.«
   »Aber unterdessen stirbt mein kleiner Knabe!«
   Der Soldat zuckte die Achseln. »Können nix helfen«, sagte er. »Monsieur le Marechal a ordonné.«
   »Wohin werden wir gebracht?« fragte ein Mann den Soldaten.
   »Aus den Toren – comme ci, comme ça!«
   Es wurde in der offenen Tür ein wenig Schnee gesammelt und derselbe dem sterbenden Kinde auf den Kopf gelegt, aber ohne eine Besserung herbeiführen zu können; das kleine Wesen rang mit dem Tode und die, welche es umstanden, falteten ihre Hände, zitternd vor Grauen und Furcht, zugleich um des eigenen und des fremden Schicksals willen.
   Hier umstanden fünf Kinder ein blasses Elternpaar, dort stützte und trug ein erwachsener Sohn den alten Vater. Wohin das Auge blickte, sah es Tränen und stumme oder laute Verzweiflung; was das Ohr hörte, waren Ausbrüche des bittersten Schmerzes.
   »In einer Stunde beginnt der Tag«, flüsterte Mikosch. »Ich habe dem Unteroffizier Eblé den Schein des Herrn Polizeidirektors gegeben; daraufhin will er mir meinen Bären hierherschicken. Wenn er nun unehrlich wäre, nicht Wort hielte?«
   »O Himmel, jetzt fängst auch du an zu klagen!«
   »Ja, ja, Herr, was sollte ich machen, um mein Tier zu bekommen?«
   »Du versteckst dich hinter die Orgel – gezählt sind wir nicht – und gehst zum Bauhof zurück. Ein Schlaukopf wie du wird sein Ziel wohl erreichen.«
   »Da kommt Ruff!« sagte Onnen dann. »Ein Soldat führt ihn.«
   Mikosch stürzte vorwärts, der Franzose bekam ein reichliches Trinkgeld und der Bär eine jener Näschereien, welche sein Herr für ihn immer in der Tasche trug. Er schlug den linken Arm um den Kopf des Tieres und blieb trotz aller Kälte mit ihm in der offenen Tür stehen, bis am Himmel das erste Grau erschien und nun eine sonderbare Prozession ihren Anfang nahm. Man hatte sämtliche Gassenkehrerwagen herbeigeholt und begann nun, die in der Kirche Befindlichen hineinzutreiben.
   Dabei verfuhren die Soldaten nach erhaltener bestimmter Vorschrift in einer vollkommen barbarischen Weise. Hier wurde ein Wagen mit lauter Kindern angefüllt, dort einer mit Frauen; hier beförderte man hilflose Greise, dort ihre Angehörigen; die Männer mußten warten bis zuletzt.
   Ein Toben und Schreien, ein Tumult ohnegleichen beherrschten den Platz vor der Kirche. Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett hinderten die unglücklichen Menschen, welche den verlorenen Ihrigen nacheilen wollten; sie warfen sich zwischen die abfahrenden Wagen und die Zurückbleibenden, hier und da entstand ein Handgemenge, tönte ein Aufschrei – dann färbte sich der Schnee mit blutroten Streifen, und sekundenlang herrschte die Stille des Entsetzens. Bei einem Frost, der die Augenlider erstarren ließ und den Atem wie eine weiße Perldecke gegen die Kleidungsstücke zurücktrieb, bei einem außergewöhnlich harten Frost sahen im Dämmergrau des Morgens Eltern ihre kleinen, halbbekleideten und vom Hunger ermatteten Kinder davonfahren, ohne zu wissen wohin, und ob dieselben jemals zu ihnen zurückkehren würden. Die Franzosen legten Schwerkranke zu sechs und zehn auf einen jener ungesäuberten, zum niedersten Dienst bestimmten Wagen, rissen die Unglücklichen von den Ihrigen und brachten sie nach der Höhenluft, Uhlenhorst, nach Winterhude und Hohenfelde, wo dann die Pferde ausgespannt und die Vertriebenen ihrem Schicksal überlassen wurden.
   Recht alten und halb gelähmten, weder als Nahrungsmittel noch für den Militärdienst brauchbaren Gäulen geschah es dann wohl, daß man sie gleich an Ort und Stelle erschoß; Kranke, Kadaver und Wagen mitten auf der Landstraße verlassend, gleichviel, was aus ihnen werden mochte.
   Einzelne Frauen holten aus den Falten ihrer Kleider, aus verborgenen Taschen noch Geld oder irgendwelche goldene und silberne Schmuckgegenstände hervor; sie baten flehentlich die Soldaten, alles hinzunehmen und ihnen dafür ihre Kinder zurückzugeben, ja, sie nur neben den Wagen hergehen zu lassen, aber ganz umsonst – die Leute hatten strenge Befehle, sie durften dieselben zugunsten der unglücklichen Frauen nicht verletzen.
   So oft ein Wagen davonfuhr, klang bitteres Schluchzen dem letzten Rollen und Knirschen der Räder nach; herzzerreißend tönten die Weherufe der Kranken, die unschuldigen Stimmen kleiner Kinder – eine Welt voll Elend und Jammer öffnete sich den entsetzten Blicken.
   Allmählich wurde die Kirche leer. Frauen, Kinder und Kranke waren weggebracht; jetzt nahmen einzelne Abteilungen von Soldaten die Männer in ihre Mitte und zwangen auch diese, fortzugehen, hinaus in das ungewisse Schicksal, in Eis und Frost, vielleicht in den Tod.
   Feiko atmete tief, wie aus erlöstem Herzen. »Nun noch eine halbe Stunde, dann haben wir das Tor hinter uns – dann sind wir frei! frei!«
   »Sei still – man muß nicht vorausrechnen!«
   Sie blieben dicht nebeneinander, Mikosch führte den Bären an der Kette, Onnen und Alexei gingen ihm zur Seite, während Feiko und Georg zwischen den übrigen Männern ihre Aufstellung nahmen. Auf ein: »Vorwärts, Marsch!« des kommandierenden Unteroffiziers setzte sich der Zug gegen das Millerntor hin in Bewegung.
   Alle Straßen waren Kopf an Kopf voll Menschen. Eine Völkerwanderung von fünfundzwanzigtausend Personen braucht viel Platz, namentlich wenn außerdem noch etwa viertausend transportierende Soldaten hinzukommen.
   Überall stäubte und wirbelte der Schnee, überall rangen verzweifelnde Menschen umsonst gegen das entsetzliche Verhängnis. Man hatte nicht Wagen genug auf treiben können, um alle aus den Toren zu bringen; ganze Züge mußten gehen, wobei es dann natürlich nicht ausbleiben konnte, daß Greise und Kranke, unfähig gegen den Sturm zu kämpfen, am Wege liegenblieben und dort unbeachtet starben.
   Je weiter gegen das Millerntor der Zug vorwärts schritt, desto häufiger wurden diese stillen Gestalten. Zuweilen hatte der fallende Schnee ihre Körper schon ganz bedeckt, zuweilen sahen aus dem stäubenden weißen Puder nur noch die Augen hervor, gramvoll und verzweifelnd blickend, eine stumme Anklage gegen die, welche sengend und brennend, mit allen Mitteln herzloser Barbarei ganz Hamburg ins Elend gestürzt hatten.
   Auf dem Großneumarkt stockte der Zug. Von rechts und links her nahten aus den Gängen Hunderte und aber Hunderte, die alle durch das Millerntor hinausgebracht werden sollten; ein Gedränge vor der Wache hinderte den Durchgang, dort hatten sich etwa fünfzig oder sechzig Männer zusammengerottet und schienen einen Auflauf verursachen zu wollen. Sie entrissen den Soldaten die Gewehre und schlugen mit den Kolben um sich.
   »Wir wollen in Hamburg bleiben; niemand hat das Recht, uns aus unserer Heimat zu verjagen!«
   »Schufte, die ihr seid, gebt uns unsre Frauen und Kinder heraus!«
   Andere erbitterte Leute kamen hinzu, der Knäuel wurde immer dichter und dichter, die Soldaten schlugen mit der flachen Klinge dazwischen, mehrere höhere Offiziere erschienen, und Geschrei und Toben erfüllte den Platz. Das Blut floß in Strömen, Tote gerieten unter die Füße der Menge – wie ein Sturm brausten die wilden Kampfrufe aus so vielen Hunderten von Kehlen.
   Dann erschien, vom Dragonerstall herbeigerufen, eine Abteilung Kavallerie und rückte schonungslos vor. Die Massen drängten in eiliger Flucht zurück gegen den alten Steinweg; wer nicht rasch genug laufen konnte, der wurde überritten oder in dem schmalen Eingang der Straße gegen die Mauern gepreßt, daß er erstickte, ehe noch die Menge Raum gab.
   Marschall Davoust erschien persönlich; er gab den Befehl, keinen Rebellen zu schonen, sondern mit der äußersten Strenge zu verfahren.
   Allmählich konnte sich der Zug wieder in Bewegung setzen, namentlich da jetzt zwei Wege zur Verfügung standen, der durch die Schlachterstraße und der über den alten Steinweg. Kavalleristen ritten vorn und hinten; es blieb für die Unglücklichen, von Haus und Hof Vertriebenen kein Gedanke an Flucht mehr möglich.
   Jetzt war der Zeughausmarkt erreicht, das breite Millerntor kam in Sicht.
   Feiko wischte die großen Tropfen von der Stirn. »Mikosch, es ist mir, als wären wir seit einer Ewigkeit unterwegs! – Da, da, hinter dem Eisengitter liegt die Freiheit!«
   »Wie langsam es geht! Lieber Himmel, wie langsam!«
   »Und doch hatten wir in Hamburg ein erträgliches Auskommen«, sagte Onnen. »Wovon aber sollen wir jetzt leben?«
   Mikosch lächelte. »Es ist noch auf viele Wochen hinaus gesorgt, Herr!«
   »Durch dein Geld, Alter, du wolltest —«
   »Sei doch ruhig. Ich fange eben von vorn wieder an, das ist alles!«
   Immer näher kam das Millerntor; Georg Wessel drückte verstohlen die Hand des Zigeuners. »Ich finde früher oder später eine Heuer auf einem Schiffe, irgendeine Arbeit, Mikosch, und dann zahle ich dir auf Heller und Pfennig zurück, was du jetzt für mich auslegst.«
   Feiko nickte. »Bei Gott, Mikosch, ich auch!«
   Der Zigeuner lächelte. »Wartet, bis ich euch die Rechnung schicke, Kinder. Ach, da ist die Wache – jetzt noch hundert Schritte und wir sind frei!«
   »Marschall Davoust reitet immer noch mit den übrigen Offizieren nebenher!«
   »Er kann uns jetzt nichts mehr tun, er —«
   Mikosch erschrak. Neben ihm tauchte aus dem Gewühl ein kleiner, alter Mann empor, ein erdfahles Gesicht sah ihn an und heiße, fieberglühende Finger umklammerten begierig seine Hand.
   »Du Zigeuner, höre – der da hinter dir geht, der junge Bursche, kennst du ihn? Heißt er nicht Georg Wessel?«
   Mikosch hatte fast augenblicklich seine Fassung wiedergefunden. »Was meinst du, Martin Kracht?« sagte er gelassen. »Ich kenne keinen Georg Wessel.«
   Der kleine, alte Mann ächzte. »Aber ich weiß es gewiß«, preßte er hervor. »Der andre dort heißt Feiko Hansen – sie sind beide Deserteure, sie —«
   »Wirst du schweigen, Onkel!« raunte Onnen. »Soll ich etwa deinen Namen laut heraus rufen!«
   »Das kannst du nicht – zum Schutze deines eigenen!«
   »Auge um Auge, Onkel Geerd, du sollst schweigen!«
   »Es sind also wirklich Feiko und Georg! Sie haben Gelegenheit gefunden, aus dem Bauhofe zu desertieren! – Hallo, Herr Offizier! Hallo —«
   Er kam nicht weiter, Onnens Hand lag fest auf seinem Munde. Die nächsten, jetzt vergehenden Minuten durchlebten unsere Freunde fast ohne Bewußtsein.
   Das große eiserne Tor öffnete sich, der Zug stockte auf Augenblicke, dann flogen die Riegel zurück und die Kavalleristen nahmen Aufstellung zu beiden Seiten.
   Onnens Arm wurde herabgedrückt, für einen Augenblick blieb Geerd Kluin sich selbst überlassen. »Herr General«, rief er, »hier sind Deserteure, hier —«
   Aber jetzt war das Tor überschritten, die Menge wälzte sich hinaus und der Ruf verhallte ungehört. Wie ein Stein fiel es von Onnens Herzen.
   Noch einige Schritte weiter, und er sah nach dem alten Manne – Geerd Kluin lag wie leblos am Boden.
   Die jungen Leute hoben ihn auf und trugen ihn weiter. »Mikosch«, flüsterte Onnen, »er ist der Bruder meiner Mutter.«
   »Wir wollen ihn auch mitnehmen, Herr! – Du lieber Himmel, ich fange auch an, mich nach Ruhe zu sehnen.«
   »Hier herrschen immer noch die Franzosen«, sagte Feiko. »Was denkst du, Mikosch – gehen wir nicht lieber nach Altona?«
   »Ja, gewiß, gewiß!«
   Rings um das Tor her gähnte das öde, schneebedeckte Heiligengeistfeld. Von der heutigen Eimsbüttelerstraße existierte damals noch kein Haus, die Gegend des Elbparkes war Wiese, der Spielbudenplatz ohne Alleen und der große, dem Seileramt gehörige Raum hinter der jetzigen Reeperbahn ganz freie Fläche – soweit das Auge reichte, sah es nichts als nur das öde, weiße Leinentuch und die wirbelnden Flocken.
   Fast alle Vertriebenen zogen nach Altona. Tausende näherten sich dem Nobistore, nur einer einzigen Hoffnung, einem Wunsche Raum gebend – die Franzosenherrschaft zu fliehen.
   »Der Weg ist lang«, seufzte Onnen. »Werden wir den alten Mann ganz bis nach Altona tragen können?«
   »Wir wechseln ab«, meinte Alexei. »Es wäre unmöglich, ihn liegen zu lassen!«
   Von der Seite her näherte sich ein hochgewachsener Mann dem Zuge. »Herr«, sagte er, seine beiden gewaltigen Hände unserem Freunde entgegenstreckend, »Herr, kennen Sie mich noch? Sind Sie es, der mich losgekauft hat?«
   »Bruhns!« rief Onnen, »Gottlob, Sie sind hier! Wie ist es Ihnen denn gelungen, sich aus der Stadt zu flüchten?«
   Der Riese schüttelte den Kopf. »Das hat einer bezahlt«, wiederholte er. »Der Windbeutel, der Franzose, der kommt zu mir gestern abend ganz im Dunkeln und sagt: ›Monsieur 210, schließ Sie auf seine Kette mit dieses Schlüssel und marschier Sie aus, wenn ich kommandiert! Aber sagen Sie nix, das sein bezahlte Sie wissen schon, das war der Muschö Eblé!«
   Mikosch erklärte nun die ganze Sache und wehrte den Danksagungen des braven Speicherarbeiters, indem er hinzufügte, daß der Unteroffizier für die erhaltenen zehn Taler noch ein übriges getan habe. »Laßt uns nun nur so schnell wie möglich nach Altona zu kommen suchen«, bat er.
   »Mikosch«, rief Onnen, »du bist doch nicht krank?«
   »Ich denke nicht, Herr, nur etwas müde.«
   Alexei nahm den Bären und Schritt um Schritt, immer im dichten Gewühl, wurde der Weg nach Altona weiter verfolgt. Wo heute dichtbelaubte Alleen ihren Schatten spenden, wo Schaufenster sich an Schaufenster reiht und Pferdebahnen und Equipagen unaufhörlich kreuzen, da zogen am Morgen dieses ersten Weihnachtsfeiertages Tausende von Vertriebenen hungernd und frierend der Nachbarstadt entgegen. Links blieben die Aschenfelder der zerstörten Häuserreihen von St. Pauli unter Schnee begraben liegen, allmählich näherte man sich dem Nobistore.
   Ob es geöffnet werden würde? – Neue bange Frage, neue Angst!
   Jesus, Jesus, wenn das Dänenland den Flüchtigen versperrt blieb, wenn es keine andere Möglichkeit gab als die der Umkehr auf Hamburgisches Gebiet, in das Reich der Franzosen!
   Lieber gleich in den Tod! Lieber sterben!
   Bruhns, der Kornträger, näherte sich unserem Freund! »Herr, sind Sie jemals wieder bei meiner armen Frau gewesen?« fragte er mit gepreßtem, unruhigem Tone. »Ob mein kleiner Heinz wohl noch lebt?«
   Das konnte Onnen bejahen, aber über die ferneren Schicksale der verlassenen Frau wußte er seit seiner eigenen Halbgefangenschaft im Bauhofe nichts mehr, ebensowenig, ob sie heute mit den übrigen Unverproviantierten ausgewiesen sei oder nicht. Der Kornträger seufzte. »Sie ist natürlich mit rausgeworfen«, sagte er in seiner derben Art, »ich muß sie nun suchen. Hier auf St. Pauli und in Altona fang ich an, und dann an der anderen Seite, bis sie gefunden sind. Bei allem Elend will ich mich doch einen reichen Mann nennen, wenn ich die beiden erst wieder habe!«
   Onnen tröstete ihn, so gut es ging; in seinem eigenen Herzen war seit kurzem eine schlimme Ahnung erwacht – Mikosch sah sehr leidend aus. Er war blaß trotz der braunen Haut und schloß häufig die Augen, als sei er todmüde.
   »Alter«, flüsterte Onnen, »fehlt dir etwas?«
   »O nein, Herr, nur Ruhe, denke ich. Ich bin kein so junger Springinsfeld mehr wie du!«
   Aber das sagte er nicht mit seinem gewohnten, schlauen Lächeln, selbst die Pfeife hatte er ausgehen lassen – Onnen seufzte heimlich.
   Auch dieser lange, mühselige Weg neigte zum Ende; das Nobistor erschien weit geöffnet, dänische Soldaten standen unter voller Bepackung zu beiden Seiten und hinter ihnen zeigten sich Reihenstraße und Grund bis zum Rathausmarkt Kopf an Kopf gefüllt. Die Altonaer waren hinausgeeilt, um ihre von einem so entsetzlichen Schicksal betroffenen Hamburgischen Nachbarn willkommen zu heißen und vor allen Dingen mit irgendwelchen Erfrischungen zu versehen.
   Heiße Getränke wurden den Halberfrorenen eingeflößt, man nahm die ermüdeten Kinder freundlich auf die Arme, man brachte den Männern Tabak und den Frauen wärmende Kleidungsstücke. Überall öffneten sich die Türen der anliegenden Häuser, um den Heimatlosen einen Platz am Ofen, eine vorläufige Unterkunft zu bieten.
   Dicht vor der Gruppe unserer Freunde, mitten im breiten Strome des drängenden und treibenden Volkes sah man plötzlich zwei Frauen einander weinend umarmen, während ein etwas seitwärts stehender Mann einen vielleicht zehnjährigen Knaben aufhob und an sich drückte. »Mein kleiner Heinz«, sagte er freundlich, »nun ist es gut, nun hab‘ ich dich gefunden! Wo ist deine Mutter? – So, so, Mine, ich sah dich nicht gleich! Ach, guten Tag, Johanna, nun macht nur, daß ihr in die Wärme kommt, Kinder!«
   Eine Frauenstimme wollte antworten, aber nur ein unbestimmtes Schluchzen brach sich Bahn. »August und Mine – habt ihr nichts gehört – von meinem Mann?«
   Der Speicherarbeiter legte plötzlich die Hand auf Onnens Schulter. »Da, da – das ist mein alter, lieber Heinz! Hurra! Hurra! – Hanne, ich bin ja hier!«
   Er drängte sich vor, er schob alles beiseite, um zu den Frauen, dem Knaben zu gelangen. »Hanne, meine liebe Hanne, weine doch nicht, es ist nun alles gut!«
   Der Knabe streckte beide Arme aus. »Vater, Vater – ach, wie freue ich mich, daß die Franzosen dich nicht totgemacht haben.«
   Die kleine Familie lag auf offener Straße eins in den Armen des anderen und ringsumher tönte lautes Schluchzen. Der Speicherarbeiter, vom Bette seines Kindes gerissen, als es fiebernd und bewußtlos mit dem Tode rang, der überglückliche Tedje Bruhns weinte vor Freude. »Mein Heinz, mein lieber, süßer Heinz!« – er wiederholte es immer und immerfort.
   Andere, die ihr Liebstes verloren hatten, schluchzten in bitterem Gram, ganz Verlassene standen abseits, auch jetzt allein, Freunde umarmten die langentbehrten Freunde, barmherzige Menschen gingen mit großen Kannen voll heißer Getränke umher und boten sie jedem an.
   Der Weg über den Marktplatz war völlig gesperrt und erst, als die engen Seitenstraßen einen Teil des Gedränges abgeleitet hatten, konnte wieder neue Bewegung entstehen. Jedes Herz schlug freier, jede Brust hob sich höher! Hier in Altona war die Schreckensherrschaft der Franzosen zu Ende, hier hatten Recht und Ordnung noch ihre geweihte Stätte; man fühlte sich nach langer marternder Unsicherheit wieder wohl und ruhig unter dem Schutz der Gesetze.
   »Mikosch«, fragte Onnen, »kennst du auch in Altona eine Herberge?«
   Der Zigeuner nickte. »Ja, wir müssen nach der Königsstraße. Laßt nur erst den ärgsten Strom sich ein wenig verlaufen.«
   Er sprach noch, als aus dem Gewühl ein bekanntes Gesicht zu ihnen herübersah. Es war der Baron Liliencron, welcher im Drängen und Treiben des Rathausmarktes nach Hamburgischen Bekannten ausspähte und jetzt die Zigeuner erkannte. »Hallo, Onnen«, rief er, »auch mit auf den Schub gebracht? – Wen habt ihr denn da, Junge?«
   Unser Freund wechselte die Farbe. »Dieser Mann ist der Bruder meiner Mutter, Herr Baron!«
   »Ach, und du nimmst dich seiner an, das ist brav von dir. Wollt ihr einstweilen mitkommen in mein Haus? Ich habe den großen Gesellschaftssaal ausräumen und mit Stroh und wollenen Decken versehen lassen, da können so viele Heimatlose Quartier finden, wie der Raum nur immer fassen will.«
   Mikosch zog den Hut. »Aber wir bringen vielleicht dem Herrn Baron das Fieber ins Haus«, sagte er. »Dieser Mann ist ohne Besinnung.«
   Der Oberst schüttelte halb seufzend den Kopf. »Altona ist vollständig angesteckt«, antwortete er, »in meinem eigenen Haus liegen schon zwei Dienstboten krank – geht deshalb nur in Gottes Namen mit mir und seid herzlich willkommen.«
   Feiko und Onnen nahmen den kranken, alten Mann in ihre Mitte und nun ging es durch die Prinzenstraße zum Quäkerberg, an dessen Fuß die Elbe unter starrem Eise begraben lag. Zum erstenmal sandte die Sonne ihre goldigen Strahlen über den Schnee dahin, das Flockentreiben hatte aufgehört, die Kälte schien minder unerträglich.
   Ein sauberer, behaglicher Raum umgab die Flüchtigen, sie erhielten ein warmes Frühstück, konnten ruhig aufatmen und ruhig die Augen schließen, um stundenlang zu schlafen und sich nach den Anstrengungen dieser entsetzlichen Nacht zu erholen. Geerd Kluin wurde in einem Giebelzimmer des Anbaues sorgfältig gebettet und sogleich der Hausarzt geholt, um ihm alle nur mögliche Hilfe angedeihen zu lassen. Der freundliche alte Herr war wie außer sich, er hatte an diesem Morgen schon so viele Schrecknisse gesehen, so viele Kranke und Sterbende behandelt, daß ihm graute.
   »Mindestens fünfhundert Schwächliche, Greise und Kinder sterben vor dem nächsten Morgen allein an den Folgen des Schrecks und der Kälte«, sagte er. »Auch dieser arme, alte Mann ist völlig verloren – er geht zu Grunde am Hungertyphus.«
   »Und man kann für ihn nichts mehr tun, mein guter Doktor?«
   Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß er vor dem Ende noch die Besinnung wiedererlangt.«
   Am Nachmittag, als die jungen Leute gestärkt erwachten, war Mikosch noch schläfriger als vorher, sein Kopf schmerzte, er konnte nichts genießen und schon am folgenden Tage mußte Doktor Fischer auch an sein Lager geführt werden. Es war der Typhus, welcher sich vorbereitete.
   Nun lagen zwei Kranke im selben Zimmer; böse traurige Tage folgten dem Einzug in Altona. Während Geerd Kluin mehr und mehr in sich zusammensank, phantasierte der alte Zigeunerhauptmann oft so stark, daß ihn zwei seiner treuen Pfleger kaum im Bette festzuhalten vermochten. Bald befand er sich auf dem schmalen unsichtbaren Fahrdamm des Teufelsloches im fernen Rußland; er fühlte das hereinspülende Wasser, er durchlebte nochmals die Todesangst jener Stunde – dann wieder lachte er leise vor sich hin. »Ich bin doch schlauer als sie alle, ich kenne die Wege, die niemand weiß, ich passe in jede Verkleidung hinein! Ha, ha, ha, kaufen Sie Rettich, schöne schwarze Rettich!«
   Doktor Fischer kam zweimal am Tage, sein Gesicht war sehr ernst. »Die Hoffnung habe ich noch nicht aufgegeben«, sagte er. »Solch ein Zigeuner ist eine zähe Natur!«
   Das klang wenig tröstlich, aber es war doch etwas und weit mehr, als vielen Tausend anderen zuteil wurde. Bald nach dem Weihnachtsfeste kam jener Tag, an welchem auf dem Kirchhofe zu Ottensen die ersten Opfer der Franzosenwillkür in das große gemeinsame Grab gelegt wurden. Hunderte von Leichen, alle in weiße Tücher gehüllt, empfing die eisige Erde; wie wenn eine Schlacht geschlagen und die gefallenen Helden reihenweise in das letzte Bett gelegt werden, so trug man hier von allen Seiten, aus allen Straßen die gemordeten Hamburger im Totenkleide herbei – wahrlich, wie der Dichter sagt: »Ein ganzes Völkergeschlecht.«
   Tausende gaben den Armen das letzte Geleit, auch unsere jungen Freunde gingen mit hinaus und warfen die Schaufeln voll Erde in das Massengrab, dessen Tiefe so grenzenloses, so unerhörtes Elend mit ihrem stillen Frieden deckte.
   Tausende lagen noch krank, Tausende waren bestimmt, diesen Vorausgegangenen zu folgen, aber dennoch war die Wut der Franzosen nicht gestillt, ihre Menschlichkeit nicht erwacht. Der Hamburger Krankenhof wurde geräumt und seine Insassen nach Eppendorf gebracht; von achthundertundsechzig Menschen starben dabei auf dem mit der furchtbarsten Unmenschlichkeit geführten Transport ihrer fünfhundertundachtzig. Die Börse wurde während dieser Schreckenszeit zum Pferdestall verwandelt, die Börsenhalle zum Heumagazin.
   Es erschien auch wieder eine neue Proklamation, durch welche man den Einwohnern verbot, von ihrem Eigentum irgend etwas zu verkaufen, natürlich bei Todesstrafe. Es befanden sich am Neujahrstage im ganzen nur noch fünftausend Zivilpersonen in der Stadt; die Franzosen hatten ihren Zweck erreicht, sie konnten sämtliche Vorräte allein verzehren, dennoch aber veranstalteten sie in der Nacht auf den ersten Januar abermals eine Treibjagd in den Gängen und Höfen des nördlichen Viertels, und zwar, um die Juden aus den Toren zu bringen und nachher ihre Wohnungen zu plündern.
   Unterdessen rückten die Russen von Norden heran und stürmten den Vorort Eimsbüttel. Ein Flammenmeer bezeichnete die Stelle, wo Napoleons Soldaten geschlagen worden waren, zugleich aber brachte dieser Tag den Altonaern eine sehr angenehme Beruhigung; es kamen jetzt keine Franzosen über das verlorene Dorf mehr in die Stadt hinein, um mit Güte oder Gewalt Lebensmittel zu erlangen.
   Mehr und mehr verbreitete sich in Altona die entsetzliche Krankheit. Doktor Fischer, der treue Freund aller Armen und Bedrängten, wanderte von Bett zu Bett, ohne seine eigene Gesundheit zu schonen, auch in das Haus des Barons kam er wenigstens einmal täglich. Geerd Kluin lag in den letzten Zügen, er flüsterte immer vor sich hin, und was er sagte, klang unendlich traurig. »Du warntest mich, Schwager Visser, ich weiß wohl, was du damals sagtest, aber ich wollte nicht nachgeben. Mein Geld liegt in den Dünen, niemand kann es finden – Sparpfennige, ein paar Taler!«
   Bei diesem Gedanken wurde er jedesmal unruhig. »Was ich mir für das kleine Vermögen kaufen möchte, ist nun dahin, die französischen Gesetze sind zu streng, gar zu streng. Paff! da fliegt die Kugel, und der Tote wird verscharrt wie ein Hund. Ich kann nie wieder Geerd Kluin werden, nie – als Martin Kracht muß ich auch sterben. Es gibt überhaupt keinen Geerd Kluin, niemand kennt ihn!«
   Dann begann er leise vor sich hin zu weinen. »Begrabt mich nicht, um Gotteswillen, begrabt mich nicht – ich wollte vorher so gern meine Heimat wiedersehen – nur von fern, nur einmal – o mein liebes, liebes Norderney!«
   So kam langsam der Tod heran, ganz allmählich. Während Mikosch die Krisis überstand und im Schlummer der Genesung lag, kämpfte Geerd Kluin den letzten Kampf. »Das Geld liegt gut versteckt«, sagte er, »weißer Sand rieselt darüber hin, es sinkt und sinkt, niemand findet es.«
   Die letzten Worte wiederholte er mit großer Befriedigung: »Niemand! Niemand!«
   »Besaß er wirklich ein Vermögen?« flüsterte der Baron. »Die Leute behaupten es«, antwortete Onnen. »Mein Onkel war immer sehr mißtrauisch und verschlossen.«
   Der Baron schüttelte den Kopf. »Aber du bist sein Erbe, denke ich. Da sollte man doch Genaueres zu erfahren suchen.«
   Onnen bat seinen Gönner, in dieser Beziehung alle Fragen zu unterlassen. »Wenn mein Onkel das Geheimnis mit sich ins Grab zu nehmen wünscht, so möge es geschehen«, sagte er. »Es widersteht mir, ihn durch eine List zum Sprechen zu bringen, und überdies sind auch die Dünen so ausgedehnt, so meilenlang, daß es unmöglich wäre, dort etwas Verborgenes zu suchen.«
   Der Baron wandte sich ab, er fühlte ganz wie sein junger Schutzbefohlener und wollte daher an diesem Sterbebette die nüchterne Lebensklugheit nicht gewaltsam zur Geltung bringen. Geerd Kluin hätte auch wohl kaum noch irgendeines Menschen Stimme vernommen, seine Atemzüge wurden immer schwächer und schwächer.
   »Zu spät«, murmelte er, »zu spät. Martin Kracht verfolgt mich, er steht hinter mir – ach, er hat Geerd Kluin erschlagen!«
   Und dann war alles zu Ende. Onnen zog ein Tuch über das Antlitz des Toten, leise schlich er aus dem Zimmer und zu den übrigen, die mit ebenso blassen Gesichtern umhergingen wie er selbst. Der Winter wollte nicht weichen; die Kämpfe am jenseitigen Ufer der Elbe dauerten immerfort, es wagte sich kein Schiff in die Nordsee hinaus, es gab keinerlei Arbeit oder Verdienst, obwohl Alexei Tag um Tag durch die Stadt wanderte, um irgendeine Beschäftigung zu erlangen. Der Baron hatte den Ledergürtel des Zigeuners versiegelt und in Gewahrsam genommen; unsere jungen Freunde lebten immer noch als seine Gäste im Hause, aber die Zeit wurde ihnen täglich länger, sie sehnten sich hinaus auf das Wasser, um endlich einem geregelten Betrieb nachzugehen und nicht länger das Brot der fremden Barmherzigkeit zu essen.
   Während dieser Zeit wurde rings um Hamburg fortdauernd gekämpft; die Russen nahmen und verbrannten Harvestehude, Eppendorf und Hamm – General Davoust war jetzt auf die eigentliche Stadt Hamburg beschränkt, alles umliegende Gebiet hatte er verloren.
   Von den Getreuen der Hanseatischen Legion kamen die besten Nachrichten. Der Holzhändler Pehmöller schrieb seiner jungen Frau häufig Briefe und erschien sogar eines Tages persönlich im Hause des Barons. Seine Abteilung lag in Ritzebüttel, er war daher mit mehreren Genossen über die Elbe nach Glückstadt gegangen und durch Holstein nach Altona.
   Wie ihn das Kriegsleben verändert hatte! Selbst Frau und Kinder erkannten kaum in dem braunen derben Soldaten den Mann, der vor Ärger blaß und krank an jenem Tage der Plünderung aus Hamburg fortzog, aber die Freude des Wiedersehens war unbeschreiblich, grenzenlos. Wie viele Tausende hatten nicht seitdem außer aller irdischen Habe die verloren, welche ihnen auf Erden das Liebste waren.
   Onnen erhielt die besten Grüße aller derer, welche damals durch seine rechtzeitige Warnung gerettet wurden; Rosenberg, der Getreidehändler, war zum Hauptmann befördert, Karl Pehmöller selbst zum Leutnant.
   Die Tage, während welcher er sich zum Besuche in Altona befand, blieben allen in angenehmster Erinnerung, obwohl immer neue Schreckensbotschaften aus Hamburg jeden frohen Eindruck trübten und selbst in die sonnigste Stunde ihre Schatten warfen. Auf dem Heiligengeistfelde waren wieder drei brave Patrioten erschossen worden, etwas später abermals drei – näher und näher an die beiden Schwesterstädte Hamburg-Altona heran zog sich die Reihenfolge kleiner Gefechte.
   An der Sternschanze trafen Kosaken und Franzosen im Scharmützel zusammen; im Verlauf des Kampfes entzündeten letztere den dänischen Teil von Eimsbüttel und die zu Altona gehörende Straßenseite des Schulterblattes, ja sie wollten auch die große Gärtnerstraße und die Rosenstraße verbrennen, so daß ganz Altona in Aufruhr geriet.
   Noch lag die Elbe unter der festen Eisdecke des Winters, die wenigen vorhandenen Brunnen hätten das Verderben von der Stadt nicht abwenden können, es galt daher, die schurkische Absicht der Franzosen zu vereiteln. Altonas Neutralität war von ihnen anerkannt, sie durften dieselbe also auch nicht brechen.
   Der Oberpräsident, Graf Blücher, begab sich persönlich nach Hamburg und erwirkte dort eine Anerkennung des Vertrages, während dieser angstvollen Stunden aber sammelten sich alle jungen Männer, mit den bekannten, ledernen Noteimern versehen, am Hummeltor und an den Eimsbütteler Grenzen, um den Flammen, sobald sie das Altonaer Gebiet berühren würden, nach Möglichkeit zu wehren.
   Die Franzosen umschlichen fortwährend die letzten Häuser. Plötzlich einzufallen und die noch in ihrem vollen Besitzstande verbliebene Stadt bei guter Gelegenheit zu plündern – das war es, was sie wünschten.
   Auch unsere Freunde standen auf Wache. Das Feuer verzehrte wieder Hunderte von Häusern, aller Schnee schmolz trotz des härtesten Frostes, eine sengende Glut erfüllte die Luft. Zuweilen züngelten Flammen hinüber auf das altonaische Gebiet, irgendeins der heute noch stehenden uralten Häuser der Gärtnerstraße fing Feuer, aber ebenso schnell waren die Löschvorrichtungen bereit – Hunderte von Händen brachten in langer Kette das Wasser aus den nächsten Brunnen herbei und das Unglück wurde rechtzeitig abgewendet.
   Gegen Morgen mußten die Franzosen unverrichteterdinge abziehen. Graf Blücher hatte es verstanden, den Marschall, so sehr er sich auch sträubte, an das einmal gegebene Versprechen zu binden.
   Alle diese Ereignisse verträumte Mikosch in dem wohltätigen Schlummern der Genesung. Bei Bahrenfeld, Eppendorf, Nienstedten, Eimsbüttel und dem Grevenhof, in allen Dörfern bei Harburg oder, mit anderen Worten, im Kranze um Altona herum donnerten die Kanonen, auf dem Heiligengeistfelde wurden beinahe täglich mehrere Hinrichtungen vollzogen, aber er bemerkte von allem dem nichts. Doktor Fischer erklärte diesen ruhigen traumlosen Schlaf für das Zeichen wiederkehrender Gesundheit, er war mit seinem Patienten sehr zufrieden, und so konnten es die übrigen auch sein.
   Dann kam die Nachricht von dem Siege der Alliierten vor Paris. Die Stadt hatte kapituliert und Ludwig der Achtzehnte war als König anerkannt; Marschall Davoust nahm von diesen Vorgängen aber geflissentlich keine Notiz, sondern brandschatzte womöglich nur um so ärger, ja, in einer geradezu wahnwitzigen Weise, er ließ auf den Straßen die alten Frauen prügeln, er ließ Leute erschießen, die mit seinen Soldaten von den jetzt massenhaft vorkommenden Desertionen gesprochen hatten, er verbot alles Glockenläuten und schickte ohne Wahl oder irgendeinen Schein von Recht den Bürgern die Rekonvaleszenten der Armee zur Verpflegung in die Häuser – endlich aber hatte auch seine Stunde geschlagen; es war sein eigener Onkel, der Staatsrat Davoust, welcher ihm das Abberufungsschreiben nach Hamburg brachte.
   Zugleich wurden die Städte Hamburg und Harburg als Teile des Königreichs Frankreich proklamiert und dann die feierliche Besitzergreifung durch das Aufziehen der weißen Fahne dem fanatischen und unbeugsamen Marschall vorher angekündigt.
   Die Tore Hamburgs waren an diesem Tage schon seit dem frühen Morgen geöffnet und der Verkehr nach allen Richtungen hin freigegeben. Das geschah im April, als Mikosch unter den blühenden Kirschbäumen des Gartens saß und, in wärmende Decken gehüllt, seine verräucherte alte Stummelpfeife wieder mit dem früheren Behagen rauchte. Neben ihm lag Ruff im Sonnenschein und dann und wann kam eins der Kinder, um mit dem braunen zutraulichen Gesellen zu spielen.
   Noch acht oder vierzehn Tage, dann wollte der Alte den Stab weitersetzen; er fühlte sich kräftig genug, um die jungen Leute nach Ostfriesland zu begleiten und namentlich Onnen in Person der verlassenen Mutter wieder zuzuführen. Es war außer dem unglücklichen Geerd Kluin im Hause des Barons niemand gestorben, andererseits aber stand der Verlust eines treuen und sehr geschätzten Freundes nahe bevor – Doktor Fischer, der Arzt, welcher Tage und Nächte den Vertriebenen geopfert hatte, der unermüdliche Menschenfreund war vom Typhus ergriffen und lag sterbend; jede Stunde konnte die Nachricht seines Todes bringen.
   Der Baron saß häufig am Bette des langjährigen Freundes; er war es auch, der ihm die Augen zudrückte und an dessen Seite die drei jungen Ostfriesen den von der ganzen Stadt betrauerten Mann zur letzten Ruhestätte im Schatten der Heiligengeistkirche begleiteten. Er war gefallen auf dem Felde der höchsten Ehren, im Dienste seiner armen, von Haus und Herd vertriebenen Mitmenschen.
   Als die Tore Hamburgs geöffnet wurden, machten sich Onnen und Alexei auf, um die Feierlichkeiten der neuen Besitzergreifung von Seiten Frankreichs mitanzusehen. Sie konnten es ohne Furcht vor Schaden; der Paß des alten Häuptlings sicherte sie vollständig.
   Welch eine Veränderung war mit der Straße von Hamburg nach Altona seit jenem Tage der Austreibung vor sich gegangen! Jetzt lag das Heiligengeistfeld im grünen Schmuck und auf den Trümmern der verbrannten Vorstadt St. Pauli begann neues Leben sich zu regen. Der Friede, der langentbehrte goldene Friede war ja nun gesichert und auch die Befürchtung, daß Hamburg wirklich eine französische Stadt bleiben werde, wurde im Grunde nirgends gehegt. Man freute sich der günstigen Stunde, obwohl freilich Marschall Davoust mit allen seinen größeren oder kleineren Henkersknechten immer noch die ruinierte Stadt behauptete.
   Von den Wällen flatterten die weißen Fahnen, am Mittag sollte eine solche auch auf der höchsten Spitze des Michaelisturmes erscheinen und damit das Ende der napoleonischen Schreckensherrschaft verkünden. Tausende erwarteten in den umliegenden Straßen den Augenblick dieses glückverheißenden Ereignisses.
   Als Onnen und Alexei das weitgeöffnete Millerntor passierten, sahen sie die französischen Soldaten, Gewehr bei Fuß, auf den Wällen stehen. Der Marschall wollte den Sturz seines vergötterten Kaisers nicht anerkennen, er fügte sich nur der Gewalt und wartete ungeduldig auf die Rückkehr eines Boten, den er selbst dem entthronten Napoleon geschickt hatte – inzwischen versuchte er es, die Soldaten zur Widersetzlichkeit, zur Rebellion gegen den neueingesetzten König von Frankreich aufzuhetzen.
   In den Straßen der Stadt wogte es von Gendarmen und Zivilpersonen. Viele Hamburger hatten an ihren Hüten und Mützen die hanseatische Kokarde befestigt; die Franzosen versuchten, dieselben wieder herabzureißen, und so entstanden unaufhörliche Reibereien, welche bis in die Nacht hinein dauerten.
   Onnen und Alexei gingen allen diesen Streitigkeiten aus dem Wege; sie standen gegen Mittag in Gesellschaft Tausender von Menschen auf dem Platze vor der großen Michaeliskirche und sahen zum Turme empor. Wann endlich würde die Fahne erscheinen!
   Dann schlug es zwölf – der bestimmte Zeitpunkt kam heran.
   Aller Herzen schlugen schneller; die Leute hielten ihre Hände gefaltet, zahllose Frauen und Kinder schluchzten laut.
   Und nun öffnete sich eine Luke. Goldiger Sonnenglanz umflutete die Turmspitze, langsam bauschten im Winde die weißen golddurchwirkten Lilien von Frankreich – des Korsen Herrschaft, Deutschlands unermeßliches Elend war gebrochen, das zeigte, allen sichtbar, dieses Symbol.
   »Gib acht«, flüsterte Alexei, »nun kommt ein Hurra, das Tote erwecken könnte.«
   Aber er irrte vollständig. Die Stille einer religiösen Feier lag auf der ganzen Versammlung, ein Knie nach dem anderen beugte sich im Gefühl überwältigenden Glückes, eine Stirn nach der anderen sank in die gefalteten Hände. Sie riefen nicht Hurra, die gefolterten, über alles Maß hinaus gequälten Hamburger – sie beteten.
   Und hinter ihren Reihen ritt Marschall Davoust, todesbleich, mit zusammengebissenen Zähnen. Ein Gottesurteil vollzog sich an dem Mann ohne Gewissen, und er empfand schwer und furchtbar drückend die eiserne Wucht desselben.
   Die weiße Fahne war es, die er selbst und sein Gebieter bekämpft hatten, mit der sie rangen, bis der Kaiseradler den scharfen Schnabel erheben könnte, um die Lilien zu zerfetzen. Der wahnwitzige Traum von einem Weltreich, einer Weltherrschaft, schien kurze Zeit hindurch zur Wirklichkeit werden zu sollen, dann zerrann auf Rußlands Eisfeldern das Trugbild; des Adlers Schwingen wurden matt.
   Ganze Völkerschaften gerieten ins Elend, Hunderttausende fluchten dem korsischen Tyrannen, man jagte ihn wie ein flüchtiges Wild, man entriß ihm Stück nach Stück den Herrschermantel – er mußte erkennen, wie sehr ihn die Menschheit verabscheute.
   Und dann, aus Blut und Trümmern, aus einem Meer von Tränen erhob sich die Fahne mit den Lilien, sie flatterte im Sonnengold und Morgenwind, sie war das sichtbare Zeichen göttlicher Gnade für alle die Tausende, welche da auf ihren Knien lagen und dem Vater im Himmel für die Botschaft des Friedens aus Herzensgrund dankten.
   Leise präludierte drinnen im Heiligtum die Orgel, und dann erschallten die Klänge des Dankliedes tief und feierlich dahin über die große Gemeinschaft derer, welche nach Jahren der Fremdherrschaft und des Leidens endlich, endlich erlöst waren – erlöst durch die Tapferen, welche dem französischen Volke die Fahne seines legitimen Königshauses zurückerobert hatten.
   »Nun danket alle Gott!«
   Brausend und gewaltig fielen alle die Tausende von Stimmen ein in das fromme Lied. Was jeder dachte und empfand, was die Herzen durchflutete und schwellte, das sagte ja dieser Gesang, das widerhallte in jeder einzelnen Strophe desselben. Auch Onnen und Alexei sangen mit; für beide junge Leute bedeutete ja der Sturz Napoleons die unbehinderte Rückkehr in das Vaterland zu denen, welche sie liebten.
   Der Marschall spornte sein Pferd, Gift und Galle im Herzen. Am Nachmittag sollten die Truppen dem neuen König von Frankreich den Fahneneid leisten, das war dem mit seinem Gebieter entthronten Gewaltherrscher schwerer, als es der Tod auf dem Schlachtfelde gewesen wäre.
   Fast unter den Augen der Vorgesetzten desertierten die Soldaten an diesem Tage zu Hunderten, namentlich solche, welche in fremden Ländern gewaltsam zum Militärdienst gepreßt worden waren, Holländer, Spanier und Italiener; es wanderten allein über vierhundert Niederländer in der Richtung auf Bremen über die Veddel und Harburg davon, ohne durch die französischen Anführer daran verhindert zu werden.
   Auf der Elbe lagen vom Grevenhof oberhalb der Stadt bis nach Neumühlen dänische und englische Kanonenboote in großer Anzahl. Wo der starrsinnige Marschall versuchte, noch an den Befestigungswerken arbeiten zu lassen, da wurden die unglücklichen Leute von den Schiffen aus erschossen – wo in der Stadt selbst irgendeine Stimme sich des errungenen Sieges der Alliierten freute oder sonst ein gegen den entthronten Kaiser gerichtetes Wort sprach, da ließ der Marschall sogleich auf dem Heiligengeistfelde den Schuldigen hinrichten.
   Ein Geist der Rebellion, des Auflehnens gegen diesen Gewaltherrscher machte sich freilich damals je länger, desto stärker geltend. Wenige Tage nach der Anerkennung Ludwigs des Achtzehnten sollte der Marschall erfahren, welche Gesinnung das Volk gegen ihn hegte.
   Es war an einem Sonntag. Mikosch und die übrigen hatten einen Spaziergang nach Ottensen unternommen und wollten durch die Palmaille zurückkehren, als ihnen schon von weitem ein bedeutender Volkshaufen bemerkbar wurde. Der Zutritt zur Palmaille war in der Gegend des heutigen Bahnhofes fast vollständig gesperrt.
   »Was gibt es?« fragte Onnen.
   »Drinnen im Hause des Generals Grafen Bennigsen befindet sich Marschall Davoust, der Henker«, antwortete eine Stimme. »Und den wollt ihr sehen, Leute?«
   »Jawohl – sehen und vielleicht sonst noch etwas.«
   Ein allgemeines Gelächter folgte diesen Worten. »Möge er nur kommen, der gute Marschall – hohe Herren brauchen ja immer einen besonderen Empfang, wißt ihr!«
   »Natürlich! Natürlich!«
   Unsere Freunde drängten sich durch die Massen, bis vor das Haus des Generals; hier war an kein Durchkommen mehr zu denken. Wie eine feste Mauer standen die Menschen, jedes Auge beobachtete die Tür, hinter welcher der verhaßte Franzose sich befinden sollte.
   Ein Wachtposten ging gemessenen Schrittes auf und ab; er schien klüglich die erregte Menge zu übersehen, selbst Fragen und beleidigende Zurufe ließ er unbeachtet.
   »Du, Russe, sag einmal, ist es der Marschall, welcher bei deinem Gebieter speist?«
   »Dummer Polacke, man müßte ihn prügeln, damit er das Antworten lernt!«
   »Seid doch ruhig, Leute, wir können ja warten.«
   »Unterdessen entkommt der Franzose durch den Garten nach der Elbstraße!«
   »Hoch zu Roß? Das wäre unmöglich!«
   »Und unmöglich wäre es auch, daß sich Marschall Davoust verkröche. Er ist tapfer wie ein Löwe, das muß ihm selbst sein Feind nachsagen.«
   »Sieh! Sieh! Wer bist du denn, daß der Mordbrenner an dir einen so warmen Lobredner findet? Komm doch einmal hervor, Bürschchen!«
   Es entstand ein Drängen und Stoßen, jemand wurde geohrfeigt, Frauen kreischten, die Menge teilte sich und der Gemaßregelte entschlüpfte, so schnell ihn seine Füße trugen. »Der Marschall ist doch ein tapferer Mann!« rief er aus einiger Entfernung, »tapferer als irgendein Deutscher!«
   »Wart, verfluchter Däne!«
   Es begann eine eifrige Jagd und vielleicht würde bei den damals hochgehenden Wogen politischer Erregung auch noch Blut geflossen sein, wenn nicht gerade zur rechten Zeit eine Stimme gerufen hätte: »Da kommt der Marschall!«
   Niemand dachte mehr an den flüchtenden Dänen, aller Augen sahen hinüber zu der Tür, die jetzt den verhaßten Franzosen herausgeben sollte.
   Nur der seitwärts gelegene Torweg war geöffnet worden; zwei Reitknechte brachten am Zügel ein schönes arabisches Pferd, dessen Satteldecke das Wappen des Marschalls zeigte. Durch die Menge ging ein Murmeln der Befriedigung; sie hatten also doch richtig gesehen, diejenigen, welche den Franzosen erkannten – nun mußte er auf jeden Fall herauskommen, mußte sich der versammelten, nach Tausenden zählenden Menge ungeschützt preisgeben.
   Die nun folgende Pause der Erwartung schien allen eine Ewigkeit. Wieder erinnerten einige an die große Elbstraße. »Der Garten führt ja ganz bequem den Berg hinab – kein Auge kann die Sache beobachten.«
   »Vielleicht steht das Pferd hier, um die Flucht des Marschalls zu decken.«
   »Ah! – Ah! Jetzt kommt er!«
   Die Doppeltüren öffneten sich; der Wachtposten präsentierte und alle Welt sah, wie sich der Franzose von dem ihn begleitenden General Bennigsen verabschiedete. Die beiden hohen Herren wechselten einen zeremoniellen Gruß, dann trat der Marschall hinaus auf die Straße. Unbekümmert, den letzten Knopf seiner Handschuhe schließend, sah er über das Meer von Köpfen ruhigen Blickes dahin.
   Ein lautes Pfeifen und Zischen, ein tausendstimmiger Wutschrei empfing ihn. Davoust lächelte kalt, als höre er da Töne, die ihn nicht betrafen, etwas ganz, ganz Gleichgültiges. Langsam bestieg er das scharrende Pferd, die Knechte traten zur Seite – ein Zungenschlag und das Tier setzte sich in Galopp, die breite Palmaille hinab.
   Ein Hagel von Steinwürfen erhob sich im selben Augenblick; die Menschenmenge schien den Weg versperren zu wollen, hier und da traf ein Wurfgeschoß das Pferd oder den Reiter, aber ohne die Kaltblütigkeit des letzteren erschüttern zu können. Er riß ein Pistol aus der Brusttasche und feuerte mitten in den Menschenhaufen hinein.
   Nach rechts und links stoben die Leute auseinander; ein Mann fiel, von der Kugel getroffen, zu Boden und eine breite Blutspur färbte das Pflaster. Der Marschall ließ plötzlich sein Tier hoch aufbäumen und über die Nächststehenden hinwegsetzen; dann hatte er Raum gewonnen zur wilden Jagd durch die Mühlenstraße und weiter durch ganz Altona nach St. Pauli.
   Tausende folgten ihm; das Pflaster wurde aufgerissen, um Steine zu erhalten, bis zum Nobistor dauerte die Jagd, dann streckten sich französische Bajonette den Nachstürmenden entgegen und der Marschall konnte den rasenden Galopp seines Renners mäßigen.
   Der Getroffene war nur leicht an der Schulter verwundet, die Niedergeworfenen nur geschrammt, aber dennoch währte die Erbitterung fort; es vergingen Stunden, ehe der Platz wieder ganz still und verlassen dalag wie vorher.
   Onnen und Mikosch sahen einander an. »Tapfer ist er doch!« flüsterte unser Freund. »Er schätzt das eigene Leben um nichts höher als das fremde.«
   Sie gingen langsam nach Hause, wo schon alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen wurden – nur wenige Tage noch, dann mußte sich‘s entscheiden, ob eins der dänischen Kanonenboote nach der Nordsee auslief und die kleine Gesellschaft unserer Freunde mitnehmen konnte; wenn nicht, dann wollten alle zu Fuß nach Bremen gehen, wo sich ohne Zweifel eine Schiffsgelegenheit finden würde.
   Mikosch und Alexei hielten es in den geschlossenen Räumen des Hauses nicht länger aus, und auch die drei jungen Leute sehnten sich auf das lebhafteste nach geregelter Tätigkeit, nach dem Wiedersehen der langentbehrten Heimat.
   Von Onnens Mutter war auf den letzten Brief keine Antwort gekommen. Die überall stattgehabten, ganz Hannover durchziehenden kleinen Gefechte und Scharmützel hatten alle Postverbindungen entweder vollständig aufgehoben oder doch sehr geschädigt, so daß durch diesen Umstand die Sehnsucht nach Norderney, in Onnens Herzen anfing, nachgerade jeden anderen Gedanken zu verdrängen.
   In acht Tagen sollte nun die Wanderschaft wieder beginnen.
   In Hamburg herrschte die Unordnung des Übergangszustandes. Mit Trommeln und Pfeifen bezogen eines Tages die Nachtwächter sämtliche Wachen, englische Matrosen besetzten das Arsenal und zuletzt zogen wieder die immer gern gesehenen Russen unter Bennigsen in die Stadt. Das war für die Franzosen das Signal zum Aufbruch, für den von allen Seiten nach Hamburg zurückgekehrten Pöbel aber außerdem auch die willkommene Gelegenheit, nun noch zu guter Letzt an den besiegten Feinden jede mögliche Rache zu nehmen.
   Ganze Rotten sammelten sich in den Straßen, versperrten den Soldaten den Weg und griffen sie tätlich an, Steinwürfe flogen herüber und hinüber; die Franzosen luden ihre Gewehre und es entspannen sich Straßenkämpfe, welche die Russen mit blanker Waffe schlichten mußten. Die französischen Soldaten wurden dann von ihren Vorgesetzten gezwungen, auf den Wällen sämtliche Gewehre abzuschießen und in aller Stille dem vorangegangenen Marschall zu folgen.
   Nun war Hamburg tatsächlich frei; der Feind hatte, gänzlich geschlagen, besiegt und verarmt, das Feld räumen müssen, nachdem ihm während der letzten Besetzung Hamburgs durch den Typhus nahe an zehntausend Mann verlorengegangen waren.
   Unsere Freunde sahen noch das Jubelfest, bei dem Russen und Dänen vom Nobis– zum Millerntor Spalier bildeten, wo alle Schiffe und Häuser beflaggt waren, wo rotweiße Bänder alles und alle umschlangen – dann kam der Abschied.
   Baron Liliencron hatte sich eifrigst bemüht, für seine Schützlinge Plätze an Bord eines dänischen Kanonenbootes zu erlangen, aber es war ihm unmöglich gewesen, und so mußten sie bis Bremen wandern.
   Die ganze Familie, auch Frau Pehmöller mit ihren Kindern, brachten die Gäste der letzten Monate zur Fähre, die sie beim Bauhof über die Elbe setzen sollte. Nochmals sahen unsere Freunde empor zu dem ruinenhaften alten Gebäude – wie viele Tage des bittersten Elendes, wieviel Hunger und Frost hatten sie dort ertragen!
   Eine furchtbare Zeit, dies letzte Jahr der französischen Besetzung!
   »Nun ist‘s für uns alle überstanden«, sagte der Baron. »Gott gebe, daß Deutschland solche Zustände niemals wiedersehe!«
   Onnen küßte die Kinder und diese liebkosten den Bären; nur mit Tränen in den Augen trennten sich die, welche während so schwerer Prüfungen treulich zueinander gestanden hatten.
   »Ich danke Ihnen tausendmal, Onnen«, sagte Frau Pehmöller, »Sie haben mir im Augenblick der Not freundlichen Beistand geleistet, haben den Hanseaten die Flucht vor den französischen Kugeln ermöglicht – Gott lohne es Ihnen reichlich!«
   Er wehrte ihr stumm, selbst tief ergriffen. Seine rechte Hand hielt der Baron, seine linke die weinenden Kinder. »Leb wohl, Onnen, leb wohl! Wir haben dich so lieb!«
   »Gott beschütze euch – es ist mir, als müsse ich nochmals aus dem Elternhause scheiden.«
   Auch Mikosch war tief erregt. »Wo immer der Zigeuner sein Zelt aufschlägt, wo er wandert öder seine Feuer brennen, da wird er des gnädigen Herrn gedenken und für ihn beten, für den, welcher sich zur Stunde der Not des Verlassenen annahm.«
   Der Baron schlug kräftig in die Hand, welche ihm der alte Häuptling in treuherziger Dankbarkeit entgegenstreckte. »Lebe wohl, Mikosch, und möchte dein Ledergurt recht bald wieder straff werden! Was ich für dich tat, das geschah von Herzen gern!«
   Auch die übrigen verabschiedeten sich und die Fähre stieß vom Ufer. Der letzte Teil der langen und gefahrvollen Reise hatte begonnen.


   Nachwort

   Auf der Veddel lagen die teilweise halbfertigen und wieder zerschossenen Schanzen einsam und verlassen neben zertretenen Äckern und niedergebrannten Bauernhäusern. Keine lebende Seele begegnete den Wanderern, das ganze Dorf schien ausgestorben, die Felder waren nicht bearbeitet, das Vieh getötet – kaum gelang es unseren Freunden, am Ufer des zweiten, breiteren Elbarmes einen Fährmann zu finden, der sie hinüberruderte.
   Hier lag die stattliche Reihe der englischen und dänischen Kanonenboote; fast unter ihrem Schatten glitt die flache Fähre über das Wasser, umglänzt vom hellen Sonnenschein – auf der Reise nach dem Glücke, wie Onnen sagte. Er freute sich so sehr, er war so voller seliger Hoffnung, daß er einmal über das andere Hurra rief.
   Und »Hurra!« wiederholten die Matrosen. »Hip, Hip, Hurra!«
   Die blauen Wellen fluteten so hell, die Sonne lachte vom Himmel herab. »Friede! Friede!« widerhallte es in den Herzen aller.
   Nach etwa zehn oder fünfzehn Minuten war die Fahrt beendet und in einigen Stunden Harburg erreicht. Überall Trümmer und zerschossene Bastionen, überall beschädigte Dächer und zerstampfte Gärten. Aber trotz dieser vielen größeren und kleineren Schäden war doch auch hier die Freude eingekehrt; Mikosch spielte seit langer Zeit zum erstenmal mit dem Bären wieder Karten, er bekam Belohnungen und konnte einiges für den Ledergurt beiseitestecken.
   Kurz nach Mittag wurde die Wanderung wieder aufgenommen. Am Abend des nächstfolgenden Tages war voraussichtlich die Stadt Bremen erreicht, dann kam nur noch eine einzige Nacht, ein paar Stunden, zehn oder zwölf, auf einer Fischerbark – und Emdens Türme traten aus dem fernen Blau des Himmels deutlicher und immer deutlicher hervor. Welch ein Jubel, welch inniges Glück! —
   Vorerst freilich mußte eine der ödesten, ärmsten Gegenden Deutschlands, die Strecke zwischen Harburg und Bremen durchmessen werden. Eine Fahrgelegenheit hatte sich nirgends gefunden, weil eben die Pferde damals fast zur Seltenheit geworden waren; die besseren ließ Marschall Davoust, wohin er kam, für den Bedarf der Armee requirieren, die schlechteren einfach töten, so daß in diesem Unglücksjahre die Bauern wegen Mangels an Zugtieren ihre Felder unbestellt lassen mußten. Weithin nach allen Seiten dehnte sich die unwirtliche, nur hier und da mit Zwerggebüschen bedeckte Heide. Nach der Mittagshitze der letzten Stunden hatte sich die Sonne mit einem Wolkenschleier umhüllt, der Himmel schien mehr grau als blau, und kein Hauch bewegte die Luft. Es war schwer, so über den öden Weg dahinzugehen und vor und hinter sich nichts zu entdecken als etwas verkrüppeltes Dorngebüsch. Die Heide blühte im sanften Rot, weiße sternenartige Kamillen und blaue Glockenblumen zogen sich wie ein Muster auf einfarbigem Grunde hindurch, aber kein Baum gab Schatten; kein Haus und kein Fluß waren in der Nähe – nur zuweilen gab es sumpfige Vertiefungen, in denen sich Wasser angesammelt hatte, ein schlechtes lauwarmes Getränk, das Menschen und Tiere mit Widerwillen genossen.
   »Wir werden wieder einmal die Nacht im Freien verbringen müssen«, sagte mit behaglichem Lächeln der Zigeuner. »Mir gerade recht!«
   »Uns auch!« riefen einstimmig die übrigen. »Laßt uns nur gleich Rast machen, Alter. Mundvorrat ist genug in unseren Tornistern, Kleider und Stiefel sind heil, eine Pistole steckt im Gürtel – was wollen wir noch mehr? Hurra, die Freiheit soll leben!«
   Mikosch schüttelte lächelnd den Kopf. »Nicht so laut«, warnte er. »Hinterm Berge wohnen auch Leute, Herr, das darfst du nicht vergessen.«
   »Aber es ist ja kein Franzose mehr im Lande! Wer soll uns also angreifen? – Sieh, hier gibt es eine gute Stelle, um zu lagern.«
   Aber Mikosch ging weiter. »Laß es nur erst völlig finster geworden sein, du Ungeduldiger. Vielleicht treffen wir ja auch ein Bauernhaus.«
   Er spähte nach allen Seiten, aber ohne Erfolg. Tiefer und tiefer sank der Abend herab, man konnte zuletzt die Entfernung von zehn Schritten nicht mehr überblicken. »Mikosch«, warnte Feiko, »wenn wir in einen Tümpel hineingerieten!«
   »Das ist nicht anzunehmen, Herr, aber dennoch – dies Gebüsch oder ein anderes. Laßt uns speisen und schlafen.«
   Er warf den Tornister ab und sich selbst daneben. »Wie wundervoll sich‘s nach so langer Entbehrung im Freien ruhen läßt!« rief er voll Vergnügen. »Ach, alle Federbetten der Welt verschwinden gegen das grüne Gras oder die Heide. Sieh, da kommt ein großer schwarzer Käfer! Guten Abend, Geselle, ich tue dir nichts zuleide.«
   Er wollte nur ein wenig Wein trinken und allenfalls ein Stück Fleisch essen, die jungen Leute dagegen fielen begierig über den aus Altona mitgebrachten Vorrat her und probierten an dem Braten und den Butterbroten der Baronin ihre bewährte Leistungsfähigkeit. Auch einige kleine Flaschen mit Wein und kaltem Punsch fanden sich vor, etwas Rauchtabak und als Nachtisch ganz versteckt in der fernsten Ecke ein paar Pfund Kirschen; es war also für das leibliche Wohlergehen bestens gesorgt und demgemäß Mut und Hoffnung im Schwellen begriffen.
   Onnen entzündete eine kleine Blechlampe, die den nächsten Umkreis erhellte. »Einige von den verachteten Federbetten würde ich mir doch gefallen lassen, Mikosch. Allerlei Gesindel kriecht einem in die Ohren oder läuft über die Stirn.«
   Der alte Zigeuner lachte. »Ach, mir ist das Herz so weit, so weit!« sagte er mit dem Tone des Glückes. »Von hier geht‘s nach Ostfriesland und dann durch Preußen nach Posen, nach Warschau – nach Hause, nach Hause!«
   »Alles zu Fuß?« fragte Georg.
   »Nein, sobald ich euch abgeliefert habe und wieder in Emden bin, kaufe ich Wagen und Pferd. Freust du dich, Alexei?«
   Ein paar Takte auf der Geige antworteten ihm. »Sehr, Alter, sehr – ich möcht‘, ich könnte so mit einem einzigen Satze hinüberspringen in die Zelte unseres Stammes.«
   »Probiere es!« lachte Onnen, während er lang und behaglich in der blühenden Heide lag. »Gerade wie auf der Steppe hinter Odessa kommt mir‘s hier vor«, setzte er dann hinzu, »deshalb packt euch beide wohl so ein wenig Heimweh. Spielt ein Lied, etwas Lustiges – wir sind ja nun aus aller Drangsal glücklich heraus.«
   »Still, Herr, still, solche Worte muß man niemals sprechen!«
   Dann holte er die Geige hervor und begann zu spielen, begleitet von seinem jüngeren Genossen; erst übersprudelnd neckische und heitere Weisen, bald aber anders, ganz anders, daß sich die Augen der Zuhörer senkten und die Pfeifen unmerklich erloschen. Von Leid und heimlicher Sehnsucht sangen die Saiten, von aufblitzender Hoffnung und endlichem Wiedersehn – mit einem lauten jubelvollen Akkord schloß der Vortrag.
   »Schön!« sagte hinter der Gruppe eine Männerstimme. »Aber wenn du noch einen Ton geigst, Zigeuner, dann nehme ich das Instrument und zerschlage es auf deinem Schädel in Splitter. Du rührst allerlei Gedanken auf – Sapristi! Gedanken, die zur Nacht nicht kommen dürfen, oder das Herz wird so heiß, so heiß, daß das Feuer darin bis zum Gehirn hinaufbrennt!«
   Noch während der Unbekannte sprach, waren unsere Freunde sämtlich aufgesprungen und hatten nach ihren Pistolen gegriffen. Hinter ihnen stand eine sonderbare Erscheinung, ein junger, wohlgebauter Mann mit dunklem Haar und blitzenden schwarzen Augen, ein Soldat, der die französische Dienstmütze und darunter einen Bauernkittel trug. Sein Gesicht zeigte die Spuren eines gedrückten Herzens, es war blaß und vor der Zeit gealtert; die Lippen zuckten unruhig.
   »Laßt eure Spielzeuge da nur beiseite«, sagte er. »Der Krieg ist ja vorläufig beendet – ich bin zu friedlichem Besuche hier.«
   Mikosch sah ihn an, prüfend und furchtlos zugleich. »Dann sei willkommen«, sagte er. »Wer bist du übrigens? Wir sind arme Zigeuner, die ruhig ihres Weges ziehen.«
   »Und ich bin ein Deserteur!« rief der Franzose. »Für mich gibt es keinen Ludwig den Achtzehnten; mein Kaiser heißt Napoleon und zu ihm gehe ich, wo er auch sein möge, ihm stelle ich mein Leben zur Verfügung. Wir alle – es sind noch mehr als fünfzig entschlossene Männer in der Nähe – haben uns aus Hamburg entfernt, weil wir keinem anderen Feldherrn den Eid der Treue leisten mochten.«
   Mikosch schien zu erschrecken. »Fünfzig Männer sind hier?« fragte er, das letzte Wort besonders betonend.
   »Ja. Eine lustige Gesellschaft, ich verspreche es euch. Kommt mit mir, Kameraden; wir sahen euer Licht und wollten uns überzeugen, wer ihr seid!«
   Mikosch winkte den übrigen. »Viel Ehre«, sagte er gelassen. »Die Zigeuner nehmen es dankbar an, obwohl ihr ja, wie du behauptest, unser Spiel nicht zu hören wünscht.«
   Der Franzose nickte. »Schlachtenlieder«, sagte er, »Tänze, Märsche, das lasse ich mir gefallen, aber nicht diese leisen Klänge. Es ist dabei, als ob – na, laßt‘s gut sein. Maurice Planchard ist ein flotter Gesellschafter, das werdet ihr schon sehen.« Onnen hob plötzlich den Kopf. »Planchard!« sagte er leise, »ich dachte es.«
   »Kennst du ihn?« flüsterte Feiko.
   »Ja. Erinnere dich jenes Tages, an welchem in Rußland ein Mann von unsrer Kompanie einen alten Herrn mit der bloßen Faust erschlug, weil ihm dieser den Zutritt zu einem Magazin von Lebensmitteln verweigerte. Es war Planchard.«
   Georg nickte. »Ich erkenne ihn jetzt auch«, sagte er. »Die Gesellschaft scheint mir sehr wenig wünschenswert.«
   »Aber doch dürfen wir hier diese Strauchdiebe nicht erzürnen, glaube ich. Morgen führt uns der Weg nach einer und sie nach der anderen Seite.«
   Während des kurzen, leise geflüsterten Meinungsaustausches waren die jungen Leute dem vorangegangenen Mikosch gefolgt und sahen nun am Rande eines Gebüsches vor sich eine größere Gruppe fragwürdiger Gestalten, die zahlreiche kleine Laternen auf der Heide stehen hatten und sämtlich aus kurzen Pfeifen rauchten. Einige abgenagte Knochen und Brotrinden gaben Zeugnis von der stattgehabten Abendmahlzeit, außerdem lagen aber auch im Grase eine Menge leerer Flaschen, deren Inhalt ohne Zweifel in den Köpfen der Versammelten spukte und ihre Heiterkeit bis zu den Grenzen des ausgelassenen Tobens steigerte.
   Über dieser Gruppe hing schwarz und undurchdringlich der Himmel. Die Luft war schwül, es schien, als müsse ein starkes Gewitter im Anzüge sein, als verkünde die unnatürliche Ruhe der Schöpfung den nahen Ausbruch des Sturmes.
   Ein dröhnendes: »Willkommen!« klang den Kommenden entgegen. »Russische Zigeuner seid ihr? Wir waren auch in Rußland – nehmt Platz und seid willkommen, wenn es leider auch bei uns keinen Tropfen Branntwein mehr gibt!«
   »Schweig von allem, was Rußland heißt«, rief Planchard; »Es hat uns Unglück gebracht, hat unserem Kaiser Land und Thron gekostet!«
   Und dann hielt er plötzlich eine Laterne hoch empor. »So wahr ich lebe, ihr seid es«, rief er, »wir sind miteinander von Riga bis beinahe nach Witebsk marschiert, Seite an Seite – kennst du mich nicht, Georg? Du warst mein Vordermann!«
   »Ich weiß es, Planchard, du hast ein gutes Gedächtnis. Onnen erkannte dich übrigens gleich!«
   Der Franzose reichte allen dreien die Hand, sein ursprünglich sehr geringer Rausch mochte wohl infolge der inneren Aufregung immer mehr Ausdehnung gewinnen. »Ihr seid desertiert«, sagte er, »und ich bin es auch. Gut; jeder nach seinen politischen Meinungen. Ihr wollt den Napoleon womöglich in den Staub treten, ich dagegen bin bereit, mich für Seine Majestät den Allergnädigsten Kaiser jeden Augenblick in Stücke zerhacken zu lassen. Aber darum können wir doch gute Freunde bleiben. Wie lebtet ihr denn bisher?«
   »Als Bärenführer, Wolfsjäger, Schanzarbeiter; wir schlugen uns durch, so gut es eben ging. Nun erzähle du, was nach unserer Entfernung beim Regiment geschah. Hat es im Feuer gestanden?«
   Planchard lachte. »Du, Leonard, ob es im Feuer gestanden hat? – Hoho, wir gehören zu denen, welche über die Beresina entkommen sind, wir Einunddreißiger!«
   »Laßt uns doch von angenehmeren Dingen sprechen, Kameraden. Den Tag an der Beresina vergißt keiner, der ihn mitmachte.«
   Planchard stützte den Kopf in die Hand. »Zigeuner«, sagte er, »könnt ihr Träume deuten?«
   »Vielleicht«, antwortete Mikosch. »Was hast du gesehen, mein Freund?«
   Der Franzose schauderte. »Das Eisfeld«, sagte er halblaut; »den breiten Strom. Die Brücke gebrochen, die Menschen eingeklemmt zwischen Holz und Eis, zerrissen, blutüberströmt, die Schollen treibend, hier eine, dort eine – alle voll von Soldaten, flüchtenden Frauen und Kindern, alles ringsumher bedeckt mit Trümmern. Sapristi, ich war dabei, ich schwamm mit im eiskalten Wasser und wollte mich auf einen Eisblock schwingen, aber —«
   »Planchard, laß doch die alten Geschichten!«
   »Störe mich nicht, Leonard! – Ich wollte die Eisscholle erklettern, aber ein Knabe neben mir versperrte jedesmal den Weg, ein blutjunges Bürschchen, vielleicht siebzehn Jahre alt, er drängte sich vor, er störte mich und als ich ihn beiseite schob, da biß er kräftig in meine Hand! —
   »Um die Brücke her krachte und donnerte es. General Beauharnais hatte schon einen ganzen Artilleriepark in die Luft gesprengt, es summte nur so vor den Ohren und blitzte vor den Augen – da fiel meine Hand in das Wasser zurück, der Knabe schwang sich auf die Scholle, ich verlor im Moment alle Überlegung. ›Komm her, Knirps‹, sagte ich und packte ihn und schlug seinen Kopf gegen das Eis, ›was willst du, Mücke?‹
   »Das Blut aus seinen Schläfen überströmte mich, er war tot und ich gerettet. Jeder andere hätte ebenso gehandelt – aus dem Wege, was nicht weichen will – auch mein Oberst dachte darin wie ich. Kanntet ihr den Herrn? Oberst Honore Jouffrin! Er ist verschollen, ermordet, wenn ich wüßte von wem, so würde ich den Elenden erdrosseln.«
   Mikosch und Onnen sahen einander an; der Zigeuner blieb vollkommen gelassen, er hörte immer an, was der Franzose hervorsprudelte, ohne ihm zu antworten, ohne irgendein Zeichen von Teilnahme zu verraten. Planchard hatte seine Träume völlig vergessen, er schüttelte den Kopf und seufzte.
   »Der Kaiser kann nicht besiegt sein! Ich war mit ihm in Spanien und Italien – ach, das schöne, wonnige Leben! Oberst Jouffrin liebte die Freiheit, ich auch – und das sollte nun alles zu Ende gehen? Pah, es ist unmöglich!«
   »Musik!« rief er dann in befehlendem Tone. »Ein Schlachtenlied, Zigeuner! Kann dein Bär nicht tanzen?«
   Er stand auf und ergriff die Vordertatzen des gewaltigen Tieres. Mikosch sprach einige seinem Liebling bekannte Kommandoworte, worauf sich Ruff schwerfällig in Bewegung setzte und mit dem Franzosen zu tanzen begann. Die Heiterkeit erreichte ihren Höhepunkt, als später der Braune in Ermangelung des Blechtellers die Tatze ausstreckte und bei der Gesellschaft sammeln ging.
   »Ein Haus weiter probiere dein Glück!« hieß es. »Arme Soldaten ohne Kaiser und Regiment haben nichts zu geben.«
   Ruff brummte ärgerlich; das hatte er noch nie erlebt. Ganz erzürnt lief er zu seinem Herrn und zeigte ihm die leere Tatze, als wolle er sich beklagen.
   Mikosch gab ihm die letzten Kirschen vom Abendbrot; alle diese buntscheckigen verkommenen Abenteurer, diese zusammengewürfelten Söhne jeder europäischen Nation lachten belustigt durcheinander, sie ließen den Bären seine sämtlichen Kunststücke vortragen und fragten die jungen Leute nach dem Woher und Wohin der Reise, bis endlich die Vernünftigeren meinten, daß es an der Zeit sei, sich schlafen zu legen.
   Planchard wollte davon nichts hören. »Ich hasse den Schlaf«, sagte er. »Immer muß ich das Eisfeld sehen und den —«
   »Spiele, Zigeuner, spiele!«
   Die Geigen erklangen laut und lustig, Planchard schüttelte das Haar in den Nacken, warf die Pfeife fort und suchte sich eine Stelle, wo das Heidekraut ziemlich niedrig stand. »Aufgepaßt, meine Herrschaften, jetzt werden Sie ein Ballett sehen! – Hoho, ich habe meiner Zeit in den Theatern von Paris getanzt, als Engel – damals war ich ein kleiner unschuldiger Bube – es ist lange her, tausend Jahre, eine Ewigkeit!«
   »En avant!« rief er dann plötzlich. »Zigeuner, einen Walzer!«
   Die Hände erhoben, gestikulierend und mit großer Gewandtheit dem Takte folgend, flog er über den Boden dahin.
   »Weshalb tanzest du nicht, Leonard? – Wir finden Frankreich und finden unseren Kaiser, wir schlagen ihn heraus und hielten die Feinde noch so gut Wache!«
   Leonard schüttelte den Kopf. »Es ist zu Ende, Maurice. Ich hab‘ einmal eine Geschichte gelesen von einem, der zur Sonne fliegen wollte und hart auf den Boden fiel – so ist‘s mit dem Kaiser Napoleon. Das lustige Soldatenleben unter seinen Fahnen kommt nie wieder!«
   Planchard tanzte schneller und immer schneller. »Es muß kommen, ich sage dir, es muß! Zum Bürgersmann bin ich verdorben, aber für meinen Kaiser schlage ich noch Hunderte, Tausende so zu Boden, wie damals den Alten in Rußland und den Knaben, der —«
   »Da war es wieder!« rief plötzlich Alexei. »Ich glaubte schon vorhin, den Laut richtig zu beurteilen, aber jetzt weiß ich es gewiß. Da drüben bellt ein Hund.«
   Die Musik schwieg plötzlich still, Planchard beendete seinen rasenden Wirbel – alles horchte. Der Wind ging etwas stärker über die Heide und am Himmel erschien ein mattes Wetterleuchten; die Schwüle war geradezu erdrückend.
   Planchard trocknete den Schweiß von der Stirn. »Ich höre nichts«, flüsterte er.
   Im nächsten Augenblick aber erkannten alle den Schall. Irgendwo in einiger Entfernung bellte lebhaft und anhaltend ein Hund.
   »Es ist also irgendein Bauernhaus in der Nähe«, sagte Mikosch.
   »Oder Kosaken!« rief Planchard.
   »Pah, die führen keine Hunde mit sich!«
   »Und überdies, mögen sie kommen! Der Krieg ist augenblicklich beendet!«
   »Für mich nicht!« rief ungestüm der Franzose. »Wo ich den Feinden meines Kaisers begegne, da ist das Schlachtfeld – ich will keinen Frieden schließen, bis Napoleon selbst ihn diktiert.«
   Der Hund bellte immer wütender, aber er blieb offenbar, ohne vorzurücken, an derselben Stelle. »Wahrscheinlich ein Schäferhund«, meinte Mikosch.
   Diese Vermutung erregte eine allgemeine Freude; sämtliche Wegelagerer erhoben sich schleunigst, wie um die Beute zu erfassen, ehe sie etwa verloren gehen könnte. »Um so besser«, riefen sie, »dann werden wir die Herde schlachten.«
   Es entstand ein Durcheinander, wie es jedem Aufbruch vorangeht. Die leeren Flaschen wurden eingesammelt, die Laternen an der Brust befestigt, dies oder jenes Besitzstück übergeworfen oder umgeschnallt, dann war die ganze Schar bereit, sich auf den Weg zu machen. »Ihr geht doch mit uns, Zigeuner?« fragten einige Stimmen.
   Mikosch sah zum Himmel empor. Das Gewitter mußte sehr bald losbrechen, aber dennoch wäre er viel lieber zurückgeblieben, ja er war sogar dazu heimlich entschlossen, bis Planchard in seiner gebieterischen Manier die Frage entschied. »Gewiß begleiten uns die Zigeuner«, rief er. »Wenn der Kampf beginnt, soll Ruff ins Vordertreffen geschickt werden und Schafe und Menschen würgen.«
   Die übrigen gaben ihren Beifall mit lauter Stimme zu erkennen. »Planchard ist doch ein geriebener Kerl, da hat er gleich den Vorteil entdeckt und festgehalten! Ein Bär als Avantgarde, besser kann man es nicht verlangen.«
   Mikosch und seine Genossen sahen einander an. »Wir müssen einstweilen mitgehen«, flüsterte Feiko. »Dieser Franzose beherrscht die ganze Schar, wie es scheint.«
   »Er spielte ja schon in Rußland den Anführer. Erinnert ihr euch an ihn nicht mehr mit der Frauenhaube und dem Teppich? In der Hand trug er einen großen Kochlöffel.«
   »Und halbbetrunken war er zu jeder Zeit!«
   Mikosch erhob keine Einwendungen mehr, er schüttelte nur heimlich den Kopf und lockerte in der Brusttasche die Pistole. »Wenn dieser Mensch glaubt, daß ich mein Tier für seine räuberischen Gelüste hergebe, dann —«
   Und ein entschlossenes Nicken vervollständigte den Gedanken.
   Der Wind fegte über die Heide, von fern begann der Donner ein immer mehr anschwellendes Rollen und Grollen; vorsichtig, aber so schnell wie möglich gingen alle diese Männer dem Orte des wütenden Hundegebells entgegen. Schon nach kaum zehn Minuten traten bei dem Schimmer eines Blitzes die Umrisse mehrerer niederer und langgestreckter Bauernhäuser deutlich aus dem Dunkel hervor. Das Vordergebäude diente als Wohnhaus, die übrigen mochten Stallungen sein, während hinter diesen die Schafhürden lagen, niedere hölzerne Einfriedigungen, zwischen denen eine nach vielen Hunderten von Köpfen zählende Herde ihr Nachtquartier gefunden hatte.
   Mehrere Hunde bellten miteinander um die Wette; von Menschen war dagegen nichts zu entdecken.
   »Aha«, murmelte Planchard, »da in dem Hause wollen wir schlafen und diese Tiere sollen uns ihr Fleisch als Braten liefern. Mille tonnerres, wie die Bestien toben – man muß ihnen, sobald man sie nur erst einmal sieht, eine Kugel vor den Kopf schießen.«
   Er legte die letzten Schritte laufend zurück und trommelte mit beiden Fäusten gegen die vordere Tür. »Heda! Aufgemacht!«
   Drinnen blieb alles still. Vielleicht übertönten der Donner und das Hundegebell die Stimmen der Menschen, vielleicht wollten es die Bauern darauf ankommen lassen und schwiegen einstweilen, jedenfalls drang bis zu den Wartenden kein Laut. Sie scharten sich alle um die Haustür, Planchard schlug nochmals mit geballten Fäusten gegen dieselbe. »Aufgemacht, oder wir brauchen Gewalt. Heda – aufgemacht!«
   Mikosch und seine Genossen hielten sich im Hintergrunde; sie wären am liebsten ganz entfernt geblieben, aber die Plünderer besaßen Feuerwaffen, es ließ sich daher, sobald ihr Zorn gereizt wurde, wohl das Ärgste befürchten, und aus diesem Grunde mußte jeder Streit vermieden werden. Jetzt öffnete sich auch ein Fenster, im Rahmen desselben erschien der Kopf eines Bauern und dann fragte eine Stimme, was es gebe. »Wer seid ihr, Leute, was wollt ihr von uns?«
   »Eine Nachtherberge«, klang es zurück. »Macht auf und bringt die Hunde zur Ruhe.«
   »Dies ist hier kein Wirtshaus«, rief der Bauer. »Sucht ein anderes Unterkommen.«
   Und das Fenster flog klirrend wieder zu.
   Planchard lachte. »Vorwärts also! Nehmt Steine, Kameraden!«
   Er begann die Tür zu zerschlagen, andere halfen ihm und binnen wenigen Minuten lag das widerstandslose Gefüge in Trümmern; der Eingang war frei.
   Vor dem Backsteinherd standen fünf Männer, alle mit geladenen Kugelbüchsen; im Augenblick, wo die Plünderer das Haus betreten wollten, krachten fünf Schüsse, deren Donner indes das einzig Fürchterliche blieb – sämtliche Kugeln gingen hoch über die Köpfe der Eindringlinge hinweg.
   »Hurra«, rief Planchard, »vortreffliche Schützen seid ihr! Her mit den Knallinstrumenten, das ist nichts für euch!«
   Aber die Bauern setzten sich zur Wehr, sie schlugen mit den Kolben und einer sammelte aus der Asche auf dem Herd die eingescharrten Kohlen, welche er den Plünderern entgegenschleuderte. Es entspann sich ein kurzer Kampf, der mit einer vollständigen Niederlage der Bauern endete; sie wurden gebunden in den Winkel geworfen und dann durchstöberten die dreisten Gesellen das Haus vom Boden bis zum Keller. Planchard zog ein paar zitternde Frauen aus dem Versteck hervor, verbeugte sich einmal über das andere Mal und führte dann die Erschrockenen an den Herd. »Entzünden Sie das Feuer, meine Damen, und öffnen Sie Ihre Vorratskammern. Ist Branntwein im Hause?«
   Die eine der Frauen brachte einen gefüllten Steinkrug herbei; Planchard hob mit beiden Armen das schwere Gefäß an die Lippen und tat einen tüchtigen Zug, dann gab er es weiter. »So, Frau, nun koche Sie Milch und Gemüse, den Braten werden wir uns selbst besorgen. Komm her, Simon, du bist ja von Hause aus ein Schlachter, nicht wahr?«
   Einer der Deserteure antwortete mit lustigem Zuruf. »Verschaffe mir nur ein Messer, Maurice – und bringe die Hunde zum Stillschweigen.«
   »Alle Wetter, die Hunde – das ist wahr!«
   Und er ging hinaus in den Wirbelwind, der jetzt über die Heide fegte. Jede Hand hielt eine Pistole – er suchte die Hürde und die Stelle, wo im nächsten Augenblick die unbestechlichen Wächter ihre Treue mit dem Leben bezahlen sollten. Simon und Leonard begleiteten ihn, ebenso Moitty, der Spanier, welcher damals die Statue der heiligen Jungfrau beraubte. Diese Sippe war schon in manchem räuberischen Unternehmen zum Ziel gelangt; sie handelte eine Reihe von Jahren immer gemeinschaftlich.
   Die drei großen Schäferhunde stürmten gegen das Holzgitter, um den Feind sogleich anzugreifen, aber mehrere Pistolenschüsse streckten sie zu Boden, das Gebell ging über in Winseln und verstummte dann gänzlich. Die Pforte flog auf, sämtliche Schafe liefen erschreckt und blökend durcheinander; Simon fing gleich das nächste auf und trug es davon. »Jetzt komm her, Wollträger, wir brauchen einen guten Braten!«
   Auch die ändern suchten sich ihre Opfer und unter Simons Anleitung begann die abscheuliche Szene, bei welcher sechs oder acht arme Tiere mit den Taschenmessern der Plünderer umgebracht wurden. Das Geschrei der Schlachtopfer setzte die ganze Herde in Aufruhr; aus der offenen Pforte jagten mehr als fünfhundert der sogenannten Heidschnucken davon und liefen in die Finsternis hinaus, die einen hierhin, die anderen dorthin.
   Mehrere der Plünderer hatten unterdessen Umschau gehalten und auf dem Hof ein Volk Hühner und eine Kuh entdeckt. Dem unglücklichen gefiederten Trupp wurden sofort die Hälse umgedreht und die Kuh von ungeschickten Händen gemolken; sie stieß darauf mit den Hörnern ihre Quäler von sich und trat mit den Füßen, bis endlich die übermütigen Gesellen Schaufeln und Heugabeln ergriffen und nach langer Hetzjagd das Tier im Stalle erschlugen.
   So hatte man im feindlichen Lande immer gewirtschaftet, so war es die Gewohnheit langer Jahre – weshalb also hier eine Ausnahme machen?
   Die Frauen standen händeringend am Herd und kochten und brieten unter bitteren Tränen, was ihnen in die Küche gebracht wurde. Überall im Hause wühlten in Kisten und Kasten, in jeder Ecke die fremden Eindringlinge – wenn sie auch noch das bare Geld fanden, dann war alles dahin, dann hatte dieser Tag die beiden unter dem niederen Dache lebenden Familien für immer zu Bettlern gemacht.
   Eine Anzahl der Marodeurs schlief bereits. Draußen im Stall lag ja duftiges Heu, der Wind fegte um das alte Strohdach und sang an den Ecken leise heimliche Lieder – da schlummerte sich‘s süß, da träumte das Herz von neuer Beute, von einem Krieg, der allen Ländern und allem Besitz erklärt war, bei dem man umherzog und nahm, was gerade den Appetit reizte, bei dem man schonungslos niederstieß, was im Wege stand.
   Mikosch und die Seinen lagerten verborgen in einem Winkel des Holzschuppens. Draußen schlugen in Zwischenräumen die heftigsten Gewitterregen gegen das alte Gemäuer, der Donner krachte und Blitz auf Blitz zuckte herab, aber dennoch war das Unwetter nicht vollständig zum Ausbruch gekommen; schwarze Wolken bedeckten den Himmel, nur spärlich und halbverhüllt dämmerte der junge Morgen durch all das Bleigrau und Schwarz des Horizontes.
   »Es ist doch gut, daß wir ein Dach über uns haben!« meinte Onnen.
   »Vielleicht gelingt es ja morgen, sich unter der Hand aus dem Staube zu machen! – Ach, aber man kann keinen Augenblick schlafen.«
   »Horch, da singt Planchard!«
   Es war ein Soldatenlied, das der kecke Franzose vortrug, dann schlug er mit dem Messer gegen seinen Teller. »Ist das Geld der Bauern gefunden, Simon?«
   »Nein!« rief ein Chor von Stimmen, »diese geizigen Kerle müssen es vergraben haben!«
   »Bringt einmal den Rädelsführer her, den Dicken mit dem Gesicht wie ein Vollmond – ich habe ihm ein Wörtlein zu sagen.«
   Die Halbberauschten eilten fort und holten einen der fünf geknebelten Bauern herbei. Das Haar des alten Mannes stand buchstäblich zu Berge, sein Gesicht war fahl, die Augen starrten wie die eines Fisches, den man aus dem Wasser gezogen hat. »Herr«, stammelte er, »Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist.«
   Planchard nickte. »Daran tust du wohl, Schafzüchter. Du stehst jetzt, wie dir bekannt sein dürfte, vor Gericht! Ich bin der, welcher über dein Schicksal entscheiden wird, Leonard und Simon sind die Ankläger – sie behaupten, kein Geld gefunden zu haben, wo steckt es also?«
   »Ich besitze nichts«, stammelte der Bauer.
   »Diese Behauptung ist ein erschwerender Umstand«, sagte mit gerunzelter Stirn Planchard. »Gestehe offen, Dicker, und dir soll kein Leides geschehen.«
   Der Bauer öffnete den Mund, aber er sprach nicht, seine Augen traten fast aus den Höhlen hervor. Nur ein Ächzen kam über seine Lippen.
   »Gestehe! Gestehe!« donnerte Planchard.
   »Ich habe nichts.«
   Der Franzose stand auf, seine Augen hatten einen teuflischen Glanz. »Ich weiß, was du denkst, Kerl«, rief er voll Wut. »Du willst das Geld deinen Kindern retten und lieber selbst sterben, als es herausgeben! – Holt doch einmal den jungen Burschen her, ich brauche ihn als Daumenschraube für den Alten!«
   Ein halberwachsener Jüngling von vielleicht fünfzehn Jahren wurde aus dem Versteck hervorgezogen und zum Tische geschleift. Planchard legte die nervige braune Faust an den Hals seines Opfers. »Gestehst du, Bauer?«
   »Jesus! Jesus! – Das Geld ist nicht im Haus!«
   »Wo dann aber?«
   »Im Kuhstall – ich will es holen. Lassen Sie mein Kind los!«
   »Nicht eher, bis die Summe hier auf dem Tisch liegt Simon und Leonard, ihr geht mit dem alten Sünder!«
   Der Bauer, seiner Fesseln entledigt, wollte eben, gefolgt von den beiden Franzosen, das Zimmer verlassen, als draußen ein gellender Pfiff erklang. Eine Hand zerschlug die einzige Fensterscheibe und eine Stimme rief: »Flieht! Flieht! Der Feind ist da!«
   Planchard schlug auf den Tisch, daß Teller und Gläser klirrten. »Eine List!« schrie er. »Eine plumpe List! Marsch, hinaus!«
   In diesem Augenblick wieherte draußen ein Pferd und der Franzose taumelte vor Schreck, seine Hand ließ die Kehle des jungen Menschen fahren. »Sapristi!« rief er. »Wenn es die Kosaken wären!«
   Mehrere der Plünderer stürzten von der großen Diele her durch die Seitentür in das Haus. »Russen!« riefen sie, »Russen! Flieht um Gotteswillen!«
   Aber es war schon zu spät. Die Kosaken hatten, auf dem Marsche nach Bremen des Weges ziehend, die verschiedenen Schüsse gehört und waren nähergekommen, um dem Grunde dieser Vorgänge nachzuforschen. Man wußte, daß französische Deserteure überall, wo es ihnen gelang, marodierten, und wollte diesem Treiben möglichst schnell ein Ende bereiten; die kleinen flinken Pferde flogen wie der Wind über die Heide, das Toben des Wetters verschlang den Schall ihrer Hufe und so hatten die Kosaken, bis an die Zähne bewaffnet, das Haus von allen Seiten umzingelt, ehe sich‘s die Franzosen träumen ließen, daß jetzt ihre Stunde schlagen würde. Eine Tür war nicht mehr vorhanden, das Herdfeuer leuchtete in den dämmernden Morgen hinaus und ganz nahe vor dem zerschlagenen Eingang blitzten die Lanzenspitzen der Kosaken. Mit einem lauten Jubelschrei stürzten ihnen die Frauen entgegen – wie jemand, der seines Verstandes beraubt ist, starrte Planchard.
   »Hölle und Teufel«, rief er, »was ist das?«
   Ein Kommando in russischer Sprache antwortete ihm. Er kannte es, er hatte es gehört auf jener wilden Flucht seines Volkes aus Rußlands verwüsteten Gauen – Grimm und rasende Wut trieben den Menschen ohne Gewissen zum Äußersten; er packte urplötzlich mit dreistem Griff die Kehle des jungen Burschen und hielt sie fest umklammert. Ein Sprung aus dem zerschlagenen, von befreundeter Hand ganz geöffneten Fenster, und er stand, sein Opfer nach sich ziehend, draußen.
   »Jetzt schießt, wenn ihr wollt!« rief er. »Im selben Augenblick stirbt dieser Junge!«
   »Erbarmen!« schrien die Frauen, »Erbarmen! Laßt die Leute unbehelligt abziehen! – Ach großer Gott, der Johannes stirbt, er ist schon ganz blau im Gesicht!«
   Einige Augenblicke stutzten die Kosaken – Planchard lachte laut »Krümme dich, Wurm!« rief er, den Knaben schüttelnd. »Deine Leiche bezahlt mir niemand.«
   Aber diese Lästerung sollte die letzte sein. Schon seit einer Viertelstunde hatte das Gewitter an Stärke bedeutend zugenommen; jetzt trafen Blitz und Donner zusammen, der ganze Himmel schien in gelbe und blaue Flammen gehüllt – gespalten bis auf den Erdboden schwankte ächzend eine alte Pappel, an deren Stamm der Franzose sich gelehnt hatte. Er selbst, der Verächter aller göttlichen und menschlichen Gesetze, er selbst fiel schwer wie ein Stein auf das durchnäßte Gras, seine Hand ließ die Kehle des Knaben fahren, seine Lippen hatten keinen Laut hervorgebracht – er war tot, das Gesicht schwarz und entstellt.
   Auch der Sohn des Bauern lag betäubt. Fluten von Regen stürzten herab, Blitz folgte auf Blitz – erst nach minutenlanger Betäubung kam in die Anwesenden soviel Ruhe zurück, daß sie hinauseilten, um den jungen Menschen in das Haus zu tragen.
   Der alte Schäfer, einer der vorhin geknebelten Männer, wurde herbeigeholt, um seine ärztlichen Erfahrungen zur Geltung zu bringen; die Kosaken durchforschten das ganze Haus, und als sie innerhalb desselben keinen der Plünderer fanden, stellten sie an allen vier Ecken Doppelposten aus – dann kamen die Nebengebäude an die Reihe.
   Auch diese waren leer. Die Räuber hatten es nach dem Tode ihres Anführers vorgezogen, schleunigst das Weite zu suchen. Im strömenden Regen, unter Blitz und Donner waren sie entflohen, hinaus auf die öde Heide, dem Verderben entgegen.
   Auch in den Stall kamen die Kosaken und unsere Freunde wurden hervorgeholt. Es gelang ihnen natürlich leicht, ihre völlige Schuldlosigkeit zu beweisen; der Bauer erlaubte ihnen in der Freude seines Herzens sogar, den Bären in das warme Nest der erschlagenen Kuh zu bringen und für sich selbst im Hause Quartier zu nehmen. Noch hatten des Schäfers Bemühungen keinen Erfolg gehabt; erst als Mikosch hinzukam, erholte sich der Knabe und konnte flüsternd seiner überglücklichen Mutter einige Silben antworten.
   Wie ein Wirbelwind waren die Deserteure über das kleine Heimwesen hergefallen und ebenso schnell wieder verschwunden; welch einen Schaden aber ihr kurzer Aufenthalt verursacht hatte, das zeigte sich erst ganz, als die Sonne hoch am Himmel stand. Draußen auf dem Hofe lag die erschlagene Kuh, in den Hürden die getöteten Hunde und ringsumher die abgerissenen Köpfe der Hühner und Gänse. Das Heu war zertreten, die Gartenfrüchte vernichtet und – als das ärgste – alle Schafe verjagt. Aus der geöffneten Pforte hervorstürzend, hatten sie das Weite gesucht und waren vielleicht während des heftigen Gewitters in den Wassertümpeln der Heide ertrunken oder fremden Händen zur Beute gefallen. Der Schäfer machte sich sogleich auf, um seine verlorenen Lieblinge wieder einzufangen. Im blauen Leinenkittel, den Knotenstock in der Rechten und den Zwerchsack mit Brot und Speck auf der Schulter, so wanderte er aus, Tränen in den ehrlichen alten Augen.
   »Meine armen Hunde!« sagte er traurig. »Ich habe sie alle drei großgezogen! – Bauer, du mußt sie vergraben; sie dürfen so nicht liegenbleiben!«
   »Ja, ja, Schäfer«, antwortete der Alte. »Soll geschehen! Hat mir doch mein Hannes keinen Schaden gelitten, deshalb will ich zu allem anderen schweigen.«
   Der Schäfer nickte immer traurig vor sich hin. »Der liebe Gott mag mir‘s nicht als Sünde anrechnen«, sagte er, »aber ich habe meine Tiere ebenso lieb wie du deine Kinder, Bauer. Sieh, da liegen die Köpfe von den Schafen, die sie totgemacht haben! Mutterschafe, ist das nicht himmelschreiend? Das da hat zwei kleine Lämmer!«
   Er hob den Kopf eines der getöteten Tiere empor und betrachtete ihn voll Trauer. »Ich kenne jedes wieder«, sagte er, »das da war die graue Mike!«
   Und dann machte er sich auf, ganz allein, um die Verlorenen zu suchen. Der Bauer und sein zweiter Sohn gruben unterdessen hinterm Stall ein Loch für die toten Tiere, während Mikosch und die übrigen Fenster und Türen wiederherstellten und den Frauen halfen, das verwüstete Haus einigermaßen in Ordnung zu bringen.
   Gegen Mittag, nachdem jede Gefahr einer Wiederkehr der Räuber ausgeschlossen schien, nahmen die Kosaken ihren Weg wieder auf, wogegen unsere Freunde noch bis zum folgenden Morgen blieben, um dann, nachdem sie ausgeschlafen hatten, die Reise nach Bremen weiter fortzusetzen.
   Ein öder mühevoller Weg ohne Schatten oder irgendeine Erquickung für Leib und Seele. Es ging immer durch die baumlose Wüste, immer vorbei an unsäglich armen, vereinzelten Bauernhäusern, bis endlich die Umgebung der Stadt erreicht war. Hier zeigten sich die Spuren der Franzosenherrschaft in vielen verbrannten Gehöften und in dem Mangel aller Arbeitspferde, aber dennoch ungleich geringer als in dem zu Grunde gerichteten Hamburg. Einzelne große Kontributionen waren ausgeschrieben worden und einzelne Regimenter hatten auf eigene Faust geplündert, aber im allgemeinen war Bremen doch von dem Schicksal des Besiegten nur leicht getroffen worden.
   Die Sonne schien hell, als unsere Freunde einzogen. Nun nur noch ganz kurze Zeit und das Ziel war erreicht.
   Mikosch und Onnen machten sich, nachdem in einem Wirtshause nahe an der Weser Quartier genommen worden war, sogleich auf, um unter den Schiffern draußen im Hafen nach einer Fahrgelegenheit zu spähen. Größere Schiffe konnten schon damals nur bis zur Mündung des seichten Stromes, dem heutigen Bremerhaven, gelangen; aber vielleicht fand sich eine Fischerschaluppe, die nach einer der Inseln in See ging, vielleicht gar ein Freund aus früheren Tagen – Onnens Herz schlug schneller, so oft er unter einen Südwester sah.
   Am Ufer lagen Kähne und Schaluppen, weiße Segel flatterten im Abendschein. Onnen hätte die Arme ausbreiten und alles, was er sah, an seine Brust ziehen mögen.
   Vor den Türen saßen rauchend in gemütlicher Ruhe Matrosen und Schifferknechte. Ostfriesisches Plattdeutsch mischte sich mit holländischen und englischen Wendungen, es wurde geschwatzt und gelacht; derbe, wetterbraune Seeleute gaben ihre Erzählungen zum besten, andere, echte Philisterseelen, hörten andächtig mit geheimem Gruseln die Berichte dieser unerhörten, schrecklichen Gefahren, während kleine Kinder im Ufersand spielten, hie und da eine Katze die Glieder behäbig streckte, blinzelnd und nach den vorübersummenden Fliegen schnappend in träger Ruhe.
   Onnen las die Namen der schaukelnden Schaluppen und sein Herz zog sich zusammen in bitterem Weh. Keine einzige aus Norderney!
   Die Franzosen mußten alles geraubt und entführt haben, was in ihre Hände geriet. Wie Hamburg unter den deutschen Festlandsorten, so war Norderney unter den Inseln während der letzten bösen Zeit das auserwählte Schmerzenskind des Schicksals.
   »Mikosch«, bat Onnen, »laß mich allein gehen. Du bist ermüdet – ich möchte mich nur so gern überzeugen, ob kein Norderneyer Fahrzeug hier liegt.«
   »Das sollst du auch«, nickte der Alte. »Wir müssen uns bei diesen Leuten erkundigen, glaube ich. Einer kennt den anderen.«
   »Ja, ja, laß uns in diese Schenke gehen! Ach Mikosch, was wird aus uns, wenn sich keine Schiffsgelegenheit findet?«
   »Dann gehen wir zu Fuß bis Hilgenriedersiel oder Norddeich, Herr! Willst du jetzt, nun wir gleichsam im Hafen sind, ungeduldig werden?«
   »Ja!« gestand Onnen. »Ja! – Ach, wenn ich ein bekanntes Gesicht sähe, nur eins!«
   »Komm jetzt, da ist eine Bank frei; wir wollen Erkundigungen einziehen.«
   Sie setzten sich und der Wirt wurde herbeigerufen. Nachdem ein Abendessen bestellt worden war, knüpfte Onnen ein Gespräch an; wie zufällig erkundigte er sich, ob keine Norderneyer Schaluppe gegenwärtig sei.
   Der Wirt schüttelte den Kopf. »Die Norderneyer zimmern mit Eifer neue Schaluppen«, sagte er, »alle vorhandenen haben ihnen die Franzosen genommen.«
   Onnen sprang auf. »Alle?« rief er, »auch die ›Taube‹?«
   »Wem gehörte sie? Ach, ich weiß schon, dem erschossenen Kapitän Visser! – Ja, die und Heye Wessels ›Sturmvogel‹ sind nach Frankreich gebracht worden, denn es meldete sich bei der Versteigerung kein Käufer, niemand mochte an sich bringen, was den ermordeten Leuten geraubt worden war. So ging es auch mit den Häusern; da die Franzosen diese nicht davonschleppen konnten wie die Schiffe, so blieben sie leer stehen – jetzt haben die Erben natürlich längst alles zurückerhalten.«
   »Auch meine – auch die Witwe Visser, Herr Wirt?«
   »Jawohl, auch diese. Kennen Sie die Leute genauer?«
   »Ja! – Ja!«
   »Nun, dann will ich einmal einen Mann herbeirufen, der Ihnen vielleicht noch mehr erzählen kann als ich.«
   Er wandte sich zum Hause und pfiff laut »Du, Holtmann, komm doch einmal heraus!«
   Ein Gähnen antwortete ihm, dann erhob sich jemand recht schwerfällig von der Bank und kam auf die Straße gestolpert. »Na – was gibt‘s denn, he?«
   Ein Freudenschrei von Onnens Lippen antwortete ihm. »Tietze Holtmann!«
   Es war wirklich der riesige Baltrumer mit dem guten Gesicht und den Händen wie mäßige Teller. Jetzt stand er neben unserem Freunde und nahm vor Erstaunen die Pfeife aus dem Munde. »Mit Verlaub, Herr – ich kenne Sie nicht!«
   »Aber Holtmann! Sehe ich denn meinem armen Vater gar nicht ein wenig ähnlich? Erinnert dich mein Gesicht —«
   »Allstunds!« rief plötzlich der Baltrumer. »Allstunds! – Du bist Onnen Visser, der als Knabe vor zwei Jahren von hier fortging, und jetzt als Mann zurückkommt!«
   »Endlich, Holtmann, endlich, nun die Franzosen zum Tempel hinausgefegt sind!«
   Sie schüttelten sich die Hände und auch der Wirt kam hinzu, um den Sohn eines alten Freundes zu begrüßen. »Ich hätte es eigentlich gleich sehen müssen«, sagte er. »Der junge Herr ist ja dem Vater selig wie aus den Augen geschnitten. Armer Visser, nun wir das Elend überwunden haben, wird der Gedanke an ihn doppelt traurig. Es scheint umsonst, daß er fallen mußte!«
   Der Baltrumer schüttelte den Kopf. »Nein!« rief er mit kräftiger Stimme, »nein, es war nicht umsonst. Die ungeheuren, furchtbaren Opfer, welche wir bringen mußten, das Andenken unserer Toten hat uns endlich vermocht, die Sklavenketten abzuschütteln. Gerade sie, die Ermordeten sind es, aus deren Gräbern hervor der stärkste Mahnruf erklang!«
   Onnen wandte sich ab. Im Augenblick überwältigte ihn das alte Leid vollständig.
   Tietze Holtmann ließ eine Flasche Wein bringen, auch Mikosch wurde hinzugezogen und nun ging es an ein Erzählen, bei dem die Stunden vorüberflogen wie Minuten. Denen in Bremen war jedenfalls die Zeit lang geworden, denn aus der Dunkelheit hervor tönte plötzlich Feikos Stimme mit einem lustigen »Ahoi! Also hier liegt die Gesellschaft vor Anker?«
   Mehr Stühle wurden herbeigeschafft, auch Georg und der Steuermann begrüßten den alten Bekannten und zechten tapfer mit, so daß an eine Rückkehr zur Stadt, der späten Stunde wegen, gar nicht mehr gedacht werden konnte. Endlich erkundigte sich Onnen, ob der Baltrumer mit seiner Schaluppe hier sei und wann er segeln wolle.
   Die Antwort klang etwas herabstimmend. »Unter drei Tagen ist‘s nicht möglich. Bis dahin muß ich Fracht einnehmen.«
   »Nach Baltrum?« rief Feiko.
   »Nein, nach Emden.«
   »Und es ist niemand hier, der schon morgen die Anker lichtet?«
   »Keiner; das weiß ich gewiß.«
   »So laßt uns zu Fuß gehen«, riet Mikosch. »Von Bremen nach Emden ist eine nur sehr wenig weitere Reise, als die von Hamburg nach Bremen.«
   »Schrecklichen Andenkens!« setzte Feiko hinzu. »Es ist doch besser, wir warten, denke ich. Von Emden nach Hilgenriedersiel ist‘s dann immer noch ein recht hübscher Spaziergang.«
   »Und morgen«, meinte der Wirt, »morgen können ja die jungen Herren den berühmten Bleikeller ansehen; auch das ist etwas sehr Interessantes.«
   Bei diesem Beschlusse blieb es; der Wirt gab den anspruchslosen Gästen für die Nacht ein Quartier, und am nächsten Morgen wurde das Wirtshaus in der Stadt wieder aufgesucht. Alexei hatte treulich als Ruffs Hüter ausgehalten, jetzt aber übernahmen Feiko und Georg, da sie den Bleikeller schon kannten, statt seiner die Wache, während die drei anderen fortgingen, um das Wunder von Bremen, den Keller der alten Domkirche, anzusehen.
   Draußen glühte das Straßenpflaster unter den sengenden Strahlen der Junisonne; hier drinnen im Heiligtum empfing eine beinahe bis zur Kälte gesteigerte wundervolle Kühle die Wanderer wie ein wahrer Segen. Durch einen sehr bescheidenen Seiteneingang, vorüber an der unter dem Dache des Domes mitenthaltenen Küsterwohnung, gelangten die drei zuerst in das ziemlich einfache Schiff der Kirche und dann links ab, über zwei Stufen in den berühmten Raum, der eigentlich kein Keller ist, sondern mit der Straße auf gleicher oder doch nur sehr wenig verschiedener Höhe liegt. Eine sonderbar trockene, die Lungen beklemmende Luft wehte ihnen entgegen.
   Mikosch sah die Reihe der offenen, uralten Särge mit ihrem Schnitzwerk und den überaus hohen Deckeln, dann in denselben die Leichen, deren Formen, vollständig erhalten, eine Art von Holzfarbe zeigten; etwas unruhig wandte er sich zu seinem Begleiter.
   »Herr, das sind Puppen, nicht wahr?«
   Onnen winkte ihm verstohlen. »Nein, Alter, es sind Menschen wie du und ich, nur durch die besondere Zusammensetzung der Luft in diesem Räume vor der Zerstörung bewahrt. Sieh, das hier ist eine schwedische Gräfin, das ein Student, der im Duell fiel und dort —«
   Mikosch hob die Hand. »Laß nur, Herr! Bitte, laß nur – ich sehe schon.«
   Seine und Alexeis Blicke trafen sich. Die beiden Söhne des wandernden Stammes brachten ganz heimlich jeder die rechte Hand in die Falten ihrer Gewänder und zwar genau dahin, wo unter der braunen Haut das Herz schlug. Ohne Zweifel hing dort irgendein heidnisches Amulett, das sie berührten, um dem Einflüsse zauberhafter Gewalten gegenüber vollständig gerüstet zu bleiben. Daß Tote, die vor Jahrhunderten gestorben waren, heute noch wohlerhalten, wenn auch beinahe schwarz daliegen sollten – nun, das konnte ja nur durch Hexerei bewerkstelligt werden.
   »Rühre nichts an«, raunte Mikosch. »Der Zauberer könnte hier wohnen.«
   Alexei deutete verstohlen auf eine Katze, welche mit gekrümmtem Buckel auf einem Brett stand. »Dort!« flüsterte er.
   Mikosch begann zu murmeln. Was er sprach, war ohne Zweifel ein Zaubersegen.
   Der Führer nahm die Katze herab und zeigte sie seinen Gästen. »Das Tier steht etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre hier im Bleikeller«, sagte er, »diese Vögel ebenso lange, der Hund da erst seit drei Jahren.«
   Ein großer, schöner Pudel von schwarzer Farbe lag auf dem Steinfußboden, genau als habe er eben den Kopf zwischen die Vorderpfoten gesteckt, in so natürlicher Stellung, daß selbst Onnen von Erstaunen ergriffen wurde. »Sieh doch nur, Mikosch«, rief er. Der Zigeuner wäre um keinen Preis der Welt an dem gespenstigen Wesen vorübergegangen. »Ich sehe, Herr«, sagte er. »Gewiß, ich sehe.«
   Und dann betete er wieder emsig weiter.
   Onnen nahm alles in Augenschein, den englischen Offizier und den Zimmermann, welcher schon beim Bau der Kirche vom Gerüst fiel und seitdem dort im offenen Sarge liegt. Die Leichen waren hart wie Stein und selbst die Fingernägel wohl erhalten. Bekleidet hatte man sie nur mit einem leinenen Gürtel, dem bei der schwedischen Gräfin außerdem noch eine Haube hinzukam.
   »In den übrigen Räumen des Gebäudes ist die gleiche Erscheinung niemals beobachtet worden?« fragte Onnen den Führer.
   »Niemals. In diesem mäßig großen Zimmer erhält sich jeder Körper so, wie er im Leben war – zwei Schritte darüber hinaus ist die Luft ebenso zusammengesetzt wie draußen auf der Straße.«
   »Aber die Leichen werden hart und mit der Zeit dunkel?«
   »Ja – der Zimmermann ist vollständig versteinert; er liegt seit mehreren Jahrhunderten hier.«
   Onnen schüttelte sich. Gerade diese Leiche hatte ihm, des weit offenen Mundes wegen, den unangenehmsten Eindruck verursacht. »Es ist sehr interessant, den Bleikeller zu sehen«, dachte er, »aber es erfordert starke Nerven.«
   Dann erhielt der Führer ein Trinkgeld und die drei Männer standen wieder draußen auf der Straße – Mikosch und Alexei wie von einem Bann erlöst. »Herr«, sagte tiefatmend der Alte, »Herr, ich will dir zu Wasser und zu Lande durch die ganze Welt folgen, durch jede Gefahr von Menschen oder Tieren, aber da hinein gehe ich nicht wieder.«
   Alexei nickte. »Ich auch nicht«, gestand er.
   Onnen lachte sie aus. »Und warum denn nicht?« fragte er belustigt.
   Die Zigeuner schwiegen. Der Pudel oder die Katze, eins von beiden besaß den Zauber, sie wußten es sehr wohl, hüteten sich aber, ihre Ansicht auszusprechen; Onnen würde ja doch nicht geglaubt haben, was sie als ganz sicher annahmen, daß nämlich die Toten alles sahen und hörten, ohne sich regen zu können, bezaubert von dem Unhold, welcher selbst neben ihren Särgen Wache hielt.
   »Du willst doch nicht wieder hineingehen, Herr?« fragte nach einer Pause der Alte. »Jetzt nicht, du törichter Mikosch. Dachtest du vielleicht an den Upyr?«
   »Es ist immer besser, die bösen Geister in Ruhe zu lassen, Herr! Sieh, da liegt das Rathaus – du wolltest es ja besehen, nicht wahr?«
   »Wenn ihr mitgeht, sonst nicht.«
   Sie traten in die geöffnete Halle und stiegen die Wendeltreppe hinauf bis zum großen Ratssaale, in dem eine Kompanie bequem exerzieren könnte. Kleine bunte Scheiben führten an einer Seite hinaus zum Marktplatz mit dem steinernen Brunnen und dem gewaltigen, aus alter Zeit stammenden Roland; die andere, innere Seite war geschmückt mit vielen Sprüchen und den Bildern von Schiffen. Onnen wurde lebhaft an das Emdener Rathaus erinnert, seine Augen glänzten vor Vergnügen. »Das ist noch schöner«, dachte er, »hier fehlt der hohe gewölbte Bogen, welcher die Straße hindurchgehen läßt – o ja, das Emdener Rathaus ist schöner.«
   »Wollen wir einmal hinausgehen«, sagte er, »und nachsehen, was Tietze Holtmann treibt?«
   Der Vorschlag wurde angenommen. Feiko und Georg schlossen sich an, Ruff war diesmal mit von der Partie und bald hatte die kleine Gesellschaft, wie gewöhnlich, Scharen von Zuschauern hinter sich.
   Wo heute Alt– und Neustadt auseinandergehen, am Ufer des Weserstromes, schaukelte der »Seestern«, des Baltrumers Schaluppe, deren innerer Raum mit Stückgütern angefüllt wurde. Die Stauer arbeiteten emsig und der Patron hantierte am Segelwerk herum, er schob den Hut in den Nacken und grüßte lustig. »Übermorgen früh kann‘s losgehen, Kinder! Hurra für Ostfriesland, für Norderney und Baltrum!«
   Die drei jungen Leute kletterten zu ihm an Bord und halfen, wo es irgend möglich war, indes die Zigeuner ihren Bären tanzen ließen und beständig der Mittelpunkt einer dichtgedrängten jubelnden Menge blieben. Ähnlich verging auch der zweite Tag, dann kam jener goldene Morgen, an dem es heimging, hinaus auf den Strom und das offene Meer. Onnen hätte vor Freude am liebsten getanzt.
   »Armer Mikosch«, sagte er, den Alten mit beiden Armen umfassend, »armer Mikosch, nun bist du auf dem Wasser, trotz deiner grimmigen Abneigung gegen dasselbe – und alles nur für mich!«
   Der Zigeuner lächelte. »Man schießt ja hier nicht mit glühenden Kugeln«, sagte er. »Es war etwas anderes, als du damals von Hamburg nach der Wilhelmsburg hinüberrudertest, Herr! – Ich möchte jene Stunden nicht nochmals durchleben.«
   Onnen drückte ihm gerührt die Hand. »Wie wird es uns beiden sein, wenn wir auseinandergehen müssen, Alter? Ich mag nicht daran denken.«
   Der Zigeuner nickte. »Mir will‘s vorkommen, als sei das ganz unmöglich, Herr! Eure jungen Gesichter nicht mehr sehen, deine Stimme nicht mehr hören – das wird sehr traurig sein. Ich muß mich nur gleich aufmachen und mit dem Stamm nach Spanien oder Italien gehen; so eine fremde Umgebung bringt andere Gedanken, hilft die Sehnsucht überwinden.«
   Onnen fühlte, daß er errötete. »Mikosch«, sagte er mit gepreßtem Tone, »hast du deinen Vorsatz in betreff einer Branntweinschenke jetzt aufgegeben?«
   »Vorläufig, ja. Aber ich komme doch zum Ziel, Herr, da sei du nur ohne Sorgen.«
   Onnen ergriff seine beiden Hände. »Mikosch, fehlt dir eine so große Summe?« fragte er traurig. »Ehe wir scheiden, muß das alles zu Papier gebracht und ganz genau berechnet werden; wir alle drei, Georg, Feiko und ich, wollen dir jeden Pfennig abtragen! Sage mir, wieviel hast du verloren?«
   »Ach was, du solltest doch von anderen Dingen sprechen, Herr!«
   »Nein, nein, ich will es jetzt wissen.«
   Der Zigeuner lächelte freundlich. »Nun denn, so vergiß die Sache, Herr. Das Geld ist fast alles dahin – die Unglückszeit in Hamburg kostete zu viel.«
   »Mikosch!«
   »Was denn weiter? Wir mußten doch leben. Es sind nun bald zwei Jahre, seit wir miteinander durch die Welt ziehen; damals warst du ein bleicher, langaufgeschossener Knabe, jetzt bist du ein junger Mann, dessen Bart zu keimen beginnt. Vergiß das Geld, sage ich dir!«
   »Nie!« versicherte Onnen, »nie, so wahr ich lebe. Und wenn mir das Blut unter den Nägeln hervorspritzen sollte, so will ich diese heilige Schuld abtragen.«
   Ganz ähnlich sprachen auch die beiden anderen. Georg wollte das Haus des verstorbenen Vaters zu verkaufen suchen und mit seiner Hälfte des Erlöses die Steuermannskunst erlernen, Feiko hatte schon in Bremen mehreren Personen den Auftrag gegeben, ihm eine Stellung an Bord eines Kauffahrers zu besorgen, und so blieb nur Onnen, der einstweilen als Leichtmatrose fahren mußte, aber auch dieser war guten Mutes. »Du hast doch den Rubel des Einsiedlers noch?« fragte er den Alten.
   »Der sitzt an seiner gewohnten Stelle.«
   »Nun, dann sammelt er auch wieder allerlei Genossen um sich. Sieh nur das Wasser, Alter, jetzt kommen wir bald in die Nordsee hinaus! Ist‘s nicht prächtig?«
   Über diesen Punkt war Mikosch durchaus anderer Meinung, er freute sich allemal, wenn das nächste Gewässer einige Meilen entfernt lag, und sprang auch jetzt nach glücklicher Fahrt in Emden mit innerlicher Genugtuung ans Land. So bald wollte er den festen Boden nicht wieder verlassen.
   Tietze Holtmann mußte an Bord bleiben, um die Arbeiten auf seinem Schiff zu überwachen, alle übrigen nahmen für die Nacht in Düke Mommsens Gasthof Quartier. Onnen war so erregt, daß er kaum zu sprechen vermochte.
   Wie oft hatte er in verschiedenen Verkleidungen die Lederpuppen voll Tee oder Kaffee hierher gebracht, wie oft mit dem schlauen Wirt die französischen Zollwächter hinter das Licht geführt. Poppinga und Sohn! – in welcher Ecke mochten sie neben anderem Gerümpel wohl jetzt ihr Dasein beschließen?
   Duke Mommsen kannte ihn gleich. »Herrjemine, das ist Onnen! Willkommen zu Hause, alter Junge! Jetzt brauchst du dich nicht mehr zu verstecken.«
   »Gott sei gepriesen, nein! Monsieur Renard hat das Feld räumen müssen, nicht wahr?«
   Der Wirt verzog die Lippen. »Wie du es nehmen willst, mein Junge! Eines Tages verfolgte er mehrere Schmuggler auf das Watt hinaus und geriet dabei in eine Rille, wo er ertrank. Diese Leute fischten sämtlich im Trüben, sie wollten zuviel verdienen und stürzten sich daher blindlings in Abenteuer, die sie später nicht ausführen konnten. Monsieur Renard liegt hier in Emden begraben – den anderen, den Polizeidirektor Lemosy, hat das Volk mit Steinwürfen hinausgejagt. Welch ein Jubel hier herrschte, wie die Königsberger Landwehr empfangen wurde, das zu beschreiben wäre unmöglich. Den ganzen Tag läuteten die Glocken, auf den Straßen umarmten sich Leute, die einander nie vorher gesehen hatten; neben dem Pferde des Obersten drängte sich fortwährend die Menge, um seine Hände, seinen Degen zu küssen, um ihm eine Blume zu überreichen oder auch nur schluchzend Gott und dem tapferen Manne für die Erlösung vom Übel zu danken.«
   Onnen nickte. »Ich habe es in Hamburg gesehen«, sagte er. »Die Leute lagen zu Tausenden auf ihren Knien und doch standen die Franzosen noch hinter ihnen. Gottlob, daß wir befreit sind.«
   Auch Georg mischte sich in das Gespräch. »Lebt die Schwester meines verstorbenen Vaters, Jungfrau Hedde Wessel, noch hier in Emden?« fragte er.
   Der Wirt nickte. »Ja, sie lebt, aber lange macht sie es nicht mehr, die Alte. Jungfer Amke ist übrigens bei ihr.«
   »Meine Schwester? – Dann will ich zuerst die beiden Frauen besuchen. Adieu, ihr anderen, morgen oder übermorgen folge ich euch.«
   Er ging trotz der späten Stunde fort, um die letzte Verwandte, welche er wirklich liebte, nach langer Trennung wieder zu sehen – auch die anderen zerstreuten sich in der wohlbekannten Stadt, fast berauscht von dem seligen Gefühl, endlich wieder zu Hause angelangt zu sein. Weder Onnen noch Feiko vermochten zu schlafen, sie hörten während der ganzen Nacht jeden Stundenschlag und waren schon um sechs Uhr morgens am Hafen, um sich zu erkundigen, ob keine Fahrgelegenheit nach Norderney vorhanden sei. »Heute nicht!« hieß es. »Morgen vormittag segelt eine Schaluppe zur Insel hinüber.«
   Das war zu spät. Nein, nein, da ging es zu Fuß doch schneller. Von Emden bis Wirdum konnten sie ohnehin mit einem Bauernwagen fahren. Leere Säcke und Kisten wurden als Sitze benutzt, man rückte ein wenig zusammen, Ruff diente als Fußschemel, und fort ging es, nachdem Düke Mommsen noch mehrere Flaschen und Pakete mit unter das Stroh geschoben hatte. Der Bauer nahm die Trinkgelder, welche ihm dadurch als Nebenverdienst zufielen, aber vor dem harmlosen Ruff empfand er einen gewaltigen Respekt. »Beißt er?« fragte er, von weitem mit dem Peitschenstiel auf den braunen Riesen deutend.
   Onnen suchte ihn zu beruhigen. »Der Bär ist das gutmütigste Tier von der Welt, lieber Mann, Sie können ihn ohne weiteres streicheln.«
   »Ich werd‘ mich schön hüten! Er schnuppert immer hier herüber, was will er denn eigentlich? – Sieh, sieh, jetzt schon wieder!«
   »Ruff, leg dich! Still, mein Tier.«
   Aber anstatt diesem Befehl zu gehorchen, erhob sich der Bär auf die Hinterfüße und steckte gegen den Kutschersitz die rechte Pranke aus. Wie der Blitz sprang das Bäuerlein vom Wagen und lief in wahrer Todesangst querfeldein, fest entschlossen, lieber seinen Karren samt Pferd und Ladung preiszugeben, als von dem grimmen Untier gewürgt zu werden.
   Ein lautes, lustiges Lachen schallte ihm nach. Ruff hatte bedächtig einen Korb mit Kirschen unter der Bank hervorgezogen und ließ sich den Raub wohlschmecken – mehrere Pfunde waren verschwunden, ehe sich die jungen Leute von ihrer plötzlich erweckten Lachlust einigermaßen erholten. Der flüchtende Bauer sah gar zu komisch aus; seine langen Rockschöße hatte er unter die Arme genommen, den Hut in die Hand, und so stürmte er davon über Stock und Stein.
   Mikosch hielt den Wagen an. Alle vier Insassen desselben riefen mit vereinten Kräften dem Bauern zu, daß er sich wieder einfinden möge, aber ganz umsonst, er hörte nichts, sondern rannte mit doppelter Schnelligkeit weiter.
   Feiko und Onnen lachten um die Wette. »Ebenso gut könnte man einen Hasen mit der Hand fangen«, rief letzterer.
   »Warte, ich weiß ein Mittel, ihn zum Stehen zu bringen.«
   Und Feiko lud die Pistole, welche er abschoß. Das half augenblicklich – der Bauer stutzte, hielt an und sah über seine Schulter hinweg, scheu und zaghaft, als wolle er sagen: »Das Ungeheuer sitzt mir doch nicht schon im Nacken?«
   Aller Hände winkten ihm. Jetzt stand er wenigstens, aber zur Rückkehr war er vorläufig nicht zu bewegen. »Nein, nein«, seine Hände telegraphierten fortwährend den abschlägigen Bescheid.
   Onnen machte sich auf, um ihn wieder herbeizuschaffen. »Kommen Sie doch«, rief er ihm halben Weges entgegen. »Der Bär tut Ihnen kein Leides!«
   Aber das Bäuerlein legte seine beiden Hände wie ein Sprachrohr an die Lippen und trompetete mit erhobener Stimme: »Er hat nach mir geschnuppert!«
   Onnen mußte also den Weg über das unebene Land, vor Lachen stolpernd, fortsetzen und erst durch langes Parlamentieren den biederen Blaurock zu seiner Pflicht zurückbringen. Er nahte sich nicht eher, bis er aus dem nächsten Zaun einen armesdicken Prügel geschnitten und denselben in die rechte Hand genommen hatte. Nun mochte nach seiner Meinung der Bär kommen.
   Als er indessen sah, wie ruhig Meister Ruff die leckere Mahlzeit verdaute, da wuchs ihm der Mut. »Die Kirschen müßt ihr aber bezahlen!« sagte er.
   Das wurde ihm feierlichst versprochen, und nun konnte die Weiterfahrt vor sich gehen. Um Mittag war Wirdum erreicht, die kleine Karawane zog nach gehaltener Mahlzeit des Weges weiter und ließ Dorf nach Dorf hinter sich, das Land immer nach der Küstenseite durchmessend, bis endlich der späte Abend herabsank und Mikosch anfing, von einem Nachtquartier zu sprechen. »Ich denke, wir bleiben hier«, sagte er, auf ein Bauernhaus zeigend, das in geringer Entfernung seine roten Mauern erhob. »Es ist spät geworden, Kinder.«
   Aber davon wollten die beiden jungen Leute nichts wissen. »Nur noch wenige Stunden, Alter, dann sind wir in Hilgenriedersiel – bitte, gib nach. Wir haben doch wahrhaftig so viel bedeutendere Märsche hinter uns!«
   »Oder auch, ihr beide sucht euch ein Nachtquartier und geht morgen früh in aller Ruhe weiter, während Feiko und ich vorauseilen. Wir kennen ja hier herum jeden Schritt des Weges so genau wie unsere eigenen Taschen.«
   Aber Mikosch weigerte sich. »Nein, ich selbst will dich nach Norderney bringen, Herr – hab‘ nun einmal meinen Kopf darauf gesetzt. Also vorwärts, die paar Stunden werden uns ja nicht schaden.«
   Über den Bäumen der Landstraße erschien das Antlitz des Mondes, ein frischer Wind rauschte in den Zweigen und Sommervögel huschten hier und da durch das Grün. Ruff trabte, jetzt aller seiner Fesseln entledigt, wie ein Hund nebenher; mit jedem einzelnen Schritt wuchs die Erwartung, die Hoffnung der jungen Leute. »Siehst du da den Baum, Onnen?« rief Feiko. »Er steht allein mitten auf der Wiese und ist am ganzen Stamm belaubt; man hat ihn im Hause meiner Eltern gerade vor sich! – Hurra! Hurra! Jetzt nur noch ein kleines halbes Stündchen!«
   »Aber wir brechen wie die Räuber tief in der Nacht bei euch ein, Feiko!«
   »Das schadet nicht! Heißa – wie glücklich bin ich!«
   Und dann vollführte er plötzlich einen Freudensprung. »Da ist das Haus!«
   »Nero bellt!« rief Onnen. »Sollte er deine Stimme erkannt haben?«
   Beide Vettern standen still. »Nero!« rief der Steuermann, »Nero!«
   Das Gebell wurde immer stärker; das Tier riß an seiner Kette, es winselte bald und bellte dann wieder mit verdoppelter Stärke. Ein Fensterladen wurde geöffnet, eine Männerstimme rief dem Hund zu und suchte ihn zu beschwichtigen. »Ruhig, Nero, ruhig, mein Tier!«
   Feiko hemmte plötzlich den Schritt. »Das ist mein Vater!« sagte er halblaut
   Und dann, wie von schnellem Entschluß erfaßt, stürmte er vorwärts. »Vater! Vater! – Hier bin ich ja – grüß dich Gott, Vater!« Die anderen hörten einen halberstickten Ausruf, der Hund bellte wie toll, Frauenstimmen mischten sich hinein – durch das Haus ging ein Jubeln, das weit hinausklang in die nächtlich stille Umgebung. Er war ja zurückgekehrt, der langvermißte älteste Sohn, sie hatten ihn wieder und hielten ihn in ihren Armen, sie lachten und weinten vor Glück.
   Dann kam Onkel Hansen heraus, um mit offenen Armen auch den Neffen zu begrüßen, auch die treuen Freunde der beiden, welche ihnen Brot und Obdach gewährt hatten, als sie im fremden Lande von aller menschlichen Hilfe verlassen schienen. »Willkommen! Willkommen!« rief er. »Seht, Kinder, da ist ein Tanzbär!«
   Der junge Nachwuchs war aus den Betten geklettert und umringte nun in mehr oder weniger paradiesischem Kostüme den Braunen, der sich die Zärtlichkeit des ausgelassenen Völkchens schnell genug erwarb. Mikosch und Alexei hielten sich bescheiden zurück, während Onnen durch die bekannten grünen Heckenwege ging und wieder zum Fenster hineinsah, wie in jener Nacht, als es galt, in Mädchenkleidern die Lederpuppen voll Tee nach Emden zu schmuggeln. Heute zeigte das Gesicht seiner Tante ein anderes Aussehen; sie hielt ihren Erstgeborenen mit beiden Armen umfaßt, ein Himmel voll Glück und frommer Dankbarkeit leuchtete aus den Augen, die so viele, viele brennende Tränen vergossen hatten.
   Dann sah sie in der Tür den Neffen, den einzigen Sohn des gemordeten Bruders und schluchzend eilte sie ihm entgegen. »Onnen! Mein Junge, mein lieber Junge!«
   »Laßt‘s gut sein!« sagte der Onkel, »laßt‘s gut sein, Kinder – die beiden Krieger sind ja nun glücklich wieder angelangt!«
   Aber auch seine Stimme bebte; er wandte sich ab und sah auf den Deich hinaus. Eine tiefempfundene Freude braucht Tränen, ebenso wie das Leid – aber diese brennen wie Feuer, während jene das Glück verdoppeln.
   Erst der zehnjährige kleine Bruder löste den Bann, welcher die Herzen aller gefangenhielt. Ohne Strümpfe oder Schuhe, nur mit seinen Höschen bekleidet, stemmte er die Arme in die Seiten und schüttelte bedenklich den Kopf: »Mutter«, sagte er, »wie unser Feiko weg war, da hast du so toll geweint; und nun er wiedergekommen ist, weinst du auch! Was willst du denn eigentlich?«
   Sie lachten alle; Feiko ließ das Brüderchen auf seinen Schultern reiten, die Mutter und Jurtke brachten schnell eine Mahlzeit auf den Tisch, Nero wurde von der Kette gelöst und durfte seinen geliebten Herrn umschmeicheln, Mikosch erhielt den Ehrenplatz auf dem ledernen Sofa und der Bär ein Heulager im Stall, aus dem die Ziege schleunigst entfloh.
   Onnen war auf den Deich geklettert. Da unten in blauer Ferne lag seine Heimat, das Haus, in dem er geboren worden war. Wie zärtliches Grüßen rauschte es zu ihm herauf aus den murmelnden Wellen der Nordsee; kaum überwand er das Verlangen, hineinzuspringen und schwimmend den geliebten Strand zu erreichen. Einen Augenblick glaubte er, es zu können – erst als ihm Onkel Martin nachkam, gab er der Stimme der Überlegung Gehör.
   »Du mußt noch lange warten, mein Junge«, sagte freundlich tröstend der Alte. »Erst in zwanzig Minuten ist die Ebbe vollständig eingetreten und dann weißt du ja, wie viele Stunden vergehen, bevor mein Segelboot flott werden kann.«
   Onnen sah auf das Meer hinaus. »In einer Stunde ist es Tag!« rief er, »dann gehen wir zu Fuß über das Watt, Mikosch und ich.«
   Onkel Martin schüttelte den Kopf. »Das brauchst du ja doch nicht, Junge. Ich fahre dich im Boote hinüber und —«
   »Nein, Onkel, nein, so lange zu warten halte ich nicht aus. Uve Mensinga, der brave Mann, hat mich ja völlig zum Wattführer hier für diese Strecke vorgebildet; ich kenne jede Rille und jede Untiefe – hurra, in zwei Stunden bin ich drüben!«
   » Erst komm nur und iß, Junge, gönne dir und dem Alten ein wenig Ruhe. Ihr seid doch schon genügend lange unterwegs, sollte ich meinen.«
   Onnen sah auf das Meer hinab – noch war alles vom Wasser bedeckt; er mußte wenigstens ausharren, bis die Flut vollständig zurücktrat.
   Als er in das Zimmer kam, schlief Mikosch auf der Ofenbank mit dem Kopfe an der Wand. Genaugenommen war der alte Mann noch in der Genesung begriffen, mindestens von dem achtwöchentlichen schweren Krankenlager noch nicht zum Vollbesitz seiner Kräfte zurückgekehrt; man ließ ihn daher sogleich allein, verhüllte die Fenster und trieb die kleine Schar hinaus, um seinen Schlummer nicht zu stören.
   Es war ein Uhr morgens, Onnen konnte gut ein paar Stunden warten.
   Als die Sonne am Himmel erschien, stand er auf dem Kamme des Deiches. Jetzt trat die Insel wie ein schmaler dunkler Streif aus dem Meere hervor, spitz auslaufend, kahl und grau, aber doch seine geliebte Heimat, sein eigenes Norderney. Er sah es, da lag es vor ihm und alle anderen Gedanken erstickten in dem einen: »Ich will hinüber!« Mikosch war schon erwacht, neugestärkt und munter, er sah im Stall nach dem schlafenden Alexei und dem Bären, dann versprach Onkel Martin, nach Eintritt der Flut mit diesen beiden und seinem Sohne im Segelboot hinüberzukommen, und nun konnte die Wanderung durch das Watt vor sich gehen.
   Höher und höher stieg die Sonne, mehr und mehr belebte sich die unübersehbare graue Schlickfläche. Scharen von Vögeln flogen aus den Dünen, aus dem Röhricht und vom offenen Meer herbei, Fische sprangen verzweiflungsvoll aus den flachen Rillen empor, um wieder in das tückisch entflohene nasse Element zu gelangen; auf dem kaum ganz getrockneten Boden krabbelte es und lief und glitt – tausend und abertausend Geschöpfe bevölkerten Luft und Wasser.
   Mikosch hatte dies eigentümliche Schauspiel nie gesehen. »Ich bin früher zu Schiff nach Norderney gekommen«, sagte er etwas unruhig. »Wo ist das Meer geblieben?«
   »Verzaubert!«lachte Onnen. » Sieh, da liegt vor uns die Landspitze – wir können sie aber umgehen, der Strand bis zum Dorfe ist noch lang.«
   Der Zigeuner knöpfte die Jacke auf. »Welch eine Luft!« sagte er. »Man glaubt zum erstenmal zu atmen!«
   »Nicht wahr? – Sieh nur die Dünen! Alles grün, alles mit Blumen bedeckt. Wenn wir da oben ständen, könnten wir das Dach meines Vaterhauses schon erkennen!«
   Weiter und weiter wandten sie sich nach links. Da war der Punkt, wo die »Taube« auf ihrer Fahrt von Baltrum nach Norderney zu ankern pflegte, dort das verborgene Nest in den Dünen, die Kaffee– und Teeniederlage, endlich da unten, die Stelle, wo jene beiden französischen Zollwächter so jählings überrumpelt wurden.
   »Mikosch«, sagte Onnen, »es ist mir, als sei alles Dazwischenliegende nur ein Traum, als müsse mir mein armer Vater entgegentreten, Heye Wessel – all die Getreuen früherer Tage! – Hier, gerade hier war es, wo wir gegen die Franzosen kämpften! Und da draußen, Mikosch, da draußen, wo du das Meer siehst, an jener Stelle haben wir die drei Kanonenboote erobert!«
   Er lief fast; die Aufregung wuchs von Minute zu Minute. »Da kommen ein paar Schlickläufer«, sagte er, »da noch einer! – Und weiterhin sammelt eine Frau auf dem Watt! Ob es die alte Aheltje ist?«
   »Aber nein, nein, sie war immer lahm und diese geht kräftig einher. Es ist mir, als müsse ich sie kennen – gewiß, gewiß, ich täusche mich nicht!« »Spring voraus!« sagte gutmütig der Zigeuner. »Ich komme schon nach.«
   Onnen hörte ihn kaum. Die Frau da drüben hatte das Gesicht unter einem großen Strohhut versteckt, sie sah von ihrer Arbeit keinen Augenblick auf, aber dennoch wußte Onnen, daß er sie kennen müsse. Eine Art von unerklärlicher Unruhe hatte sich seiner bemächtigt, er ging der emsig sammelnden Frau mit schnellen Schritten gerade entgegen.
   Und dann erhob die Alte zufällig den Kopf, sie schien zu erschrecken, ihr Korb mit den kaum gesammelten Schätzen fiel auf den Schlick, sie streckte beide Arme aus. »Onnen! – Onnen!«
   Es durchzuckte den jungen Menschen wie ein elektrischer Schlag. Er sah, aber er mißtraute seinen Sinnen – er wollte nicht glauben, was Auge und Ohr bezeugten.
   »Mutter! – Mutter!«
   Das war halb gejubelt, halb geschluchzt. Unter Gottes freiem Himmel, allein auf dem weiten, grauen, sonnenüberglänzten Watt lagen die beiden einander in den Armen. Sie sprachen nicht, sie sahen sich nur an, und der Sohn legte voll kindlicher Verehrung leise das Gesicht in die Hand seiner alten Mutter.
   Vergessen war das Leid der Trennung, vergessen jeder andere Gedanke. Kosend über ihre Stirnen glitt der Morgenwind, hoch im Blau sang die Lerche ein Dankgebet. —
   Und doch zog es nach den ersten seligen Minuten wie ein Schmerz durch Onnens Seele. »Hier finde ich dich, Mutter?« fragte er gepreßten Tones. »Hier? – Was enthielt dein Korb?«
   Die Antwort gaben ihm seine eigenen Augen. Langbeinige Taschenkrebse arbeiteten wie verzweifelt, um dem verhängnisvollen Korbe zu entrinnen, Seeigel zogen sich zusammen und fielen wieder auseinander, die unglücklichen Seesterne zappelten auf dem Trocknen wie Verschmachtende.
   »Mutter, Mutter«, fragte Onnen, »du gehst auf das Watt, um zu sammeln?«
   Sie lächelte zärtlich. »Gewiß, mein Junge. Es sind in diesem Jahre viele Badegäste hier, ich verkaufe ihnen die Ware, welche mir der liebe Gott schenkt, und kann leben, ohne einem Menschen Geld zu schulden.«
   Es schmerzte ihn grenzenlos. »Du?« sagte er. »Mutter, du? Und Uve Mensinga?«
   »Der hat mir treulich geholfen, solange ich‘s brauchte, mein Sohn; er hat der Witwe seines Freundes mit Rat und Tat beigestanden, eben deshalb will ich auch die Sorge, welche er bisher freiwillig trug, je eher desto lieber selbst übernehmen.«
   »Aber sprechen wir nicht von mir«, setzte sie dann schnell hinzu. »Komm nach Hause, mein Liebling – die Nachbarn haben alles in guten Stand gesetzt, ich wohne wieder in unserem lieben alten Heim – komm, Onnen, komm!«
   Jetzt erst fiel ihm der Zigeuner ein. »Mikosch«, rief er, »wo bist du?«
   Der Alte saß auf einer Düne und sah mit vergnügtem Lächeln zu den beiden glücklichen Menschen hinüber; jetzt näherte er sich der alten Frau, die ihm voll froher Dankbarkeit beide Hände entgegenstreckte. »Sie sind gewiß der gute Mann, welcher meinen Sohn mit Wohltaten überhäufte, nicht wahr? Gott vergelte es Ihnen in Ihren Kindern!«
   Das ostfriesische Plattdeutsch verstand er nicht, aber Onnen übersetzte ihm alles; später erfuhr sie auch, daß er selbst es gewesen, der vor vielen Jahren hier auf Norderney den Tanzbären zeigte. Alle drei gingen an der Schanze vorüber in das Dorf, und dieser Weg gestaltete sich zu einem wahren Triumphzuge. Aus allen Türen sahen die Leute hervor, überall brachten Herzen und Hände ein fröhliches Willkommen.
   Uve Mensinga kam mit ausgebreiteten Armen dem jungen Manne entgegen. »Da bist du, liebster Junge – und wie groß geworden! Wahrhaftig, Mutter Visser, ein ganzer Mann!«
   Er drückte unseren Freund fest an die Brust und küßte ihn wie ein kleines Kind. Daß es die Leute sahen, schadete ja nicht; sie liefen ohnehin alle zusammen, manche mit fröhlichen, manche mit traurigen Gesichtern; unter den letzteren der alte Amtsvogt. »Hast du von meinen beiden Söhnen nichts gehört, Onnen, gar nichts?«
   »Sind denn von ihnen keinerlei Nachrichten angelangt, Alter?«
   Der Vogt schüttelte den Kopf. »Keine! Aber es ist dieser oder jener aus unserer Gegend nach Beendigung des russischen Feldzuges hierhergekommen und hat mir erzählt, daß meine beiden armen Jungen bis zur zweiten Schlacht von Smolensk gesund und wohlerhalten waren – später sind sie nicht mehr gesehen worden.«
   Der alte Mann trocknete sich die Augen. »An der Beresina sind sie gefallen«, sagte er traurig. »Es kann nicht anders sein!«
   Onnen suchte ihn zu trösten, so gut es ging. Andere Bekannte näherten sich ihm, andere Traurige baten um eine Nachricht, aber auch viele von denen, welche in jener Nacht des plötzlichen Überfalles zugleich mit ihm gepreßt wurden, viele Kameraden aus Rußland traten ihm hier in der Fischerjacke wieder entgegen.
   Es dauerte Stunden, ehe die kleine Gesellschaft nach Hause kam. Von den Möbeln früherer Tage, den alten geliebten Einrichtungsstücken aus seiner Kindheit fand Onnen nichts wieder vor; die Franzosen hatten geraubt, was sie brauchen konnten und das Überflüssige vernichtet. Aber dennoch waren die Zimmer nicht leer; treue Hände brachten, als Klaus Vissers Witwe ihr Eigentum wieder bezog, nach und nach alles herbei, dessen die verlassene Frau bedurfte. Der Prediger schickte ihr die Ausstattung für das bescheidene Wohnzimmer, andre Freunde brachten Küchengerät und Frau Trientje Mensinga lieferte die Betten. Zwei zugleich – das eine für Onnen, wie sie sagte. Wiederkommen mußte er ja doch.
   Und nun war er wirklich da. Frau Douwe konnte ihn nicht lassen, sie sah immer in sein hübsches, sonnenbraunes Gesicht, sie hielt seine Hand, als müsse er ihr im nächsten Augenblick wieder verlorengehen.
   Uve Mensinga klopfte ihr leise auf die Schulter. »Ganz wie unser lieber alter Klaus, nicht wahr, Nachbarin?«
   Und die Frau im schwarzen Kleide, mit der Witwenhaube auf dem weißgewordenen Haare nickte leise. Sie wandte sich ab – ihr Knabe sollte heute keine Tränen sehen.
   Draußen auf der Straße ging schon wieder eine alte Bekannte vorüber; sie bemerkte am Fenster den heimgekehrten jungen Mann und kam eiligst ins Haus gelaufen. »Onnen, Onnen, gelobt sei Gott, daß du wieder angelangt bist! Aber darf ich auch noch ›du‹ sagen? Der junge Herr ist so grausam gewachsen!«
   Ein lustiges Lachen folgte dieser wohlgemeinten Anrede. Folke Eils trug einen gefüllten Korb mit Putzartikeln am Arm, sie trieb seit dem Abzug der Franzosen wieder ihren früheren Handel und fuhr jetzt, bei Onnens unverhofftem Anblick, mit dem Zipfel der sauberen weißen Schürze über die Augen. »Weißt du‘s noch, Onnen, wie dein Vater selig mir die zwanzig Taler schenkte? Er war es, der mich vom Verderben errettete.« Tiefe Stille war unter den Anwesenden; Onnen brach sie zuerst. »Und Wiebke Raß?« sagte er, absichtlich die Antwort umgehend, »wie steht es mit ihr?«
   Seine Mutter sah ihn an. »Gut, mein Junge! Sie schläft seit langem an der Seite ihres Kindes, sie ist heimgegangen, ohne eigentlich krank gewesen zu sein. Nur immer bleicher und zarter wurde das sanfte Gesicht, immer weniger konnte die Arme anderen Leuten helfen, bis sie endlich einschlief, um nicht wieder zu erwachen.«
   »Wohl ihr!« setzte Uve Mensinga hinzu. »Sie hatte vom Leben nichts mehr zu hoffen. Nun aber, mein Junge, erzähle uns auch deine Abenteuer, laß uns hören, wie es dir zu Wasser und zu Lande erging – außer dem einen Brief, welchen du schriebst, bekamen wir ja während der ganzen Zeit von dir keinerlei Nachricht!«
   »Und ich keine von euch; es war eben unmöglich. Komm, Mikosch, laß uns anstoßen, wenn auch nur Bier im Glase schäumt! Auf dein Wohl, mein Freund und Helfer!«
   Er zog den treuen Freund mit hinein in das Gespräch und Stunden vergingen, ehe auch nur die Hälfte des Erlebten berichtet war. Später am Tage kam Onkel Martin mit den beiden jungen Leuten und dem Bären – das Vissersche Haus wurde der Sammelplatz aller Inselbewohner, Ruff mußte rauchen, singen, Karten spielen und tanzen bis in die Nacht hinein.
   Am anderen Morgen ging Onnen allein zum Grabe seines Vaters. Ein Rosenbaum streute die Fülle der weißen duftigen Blütenblätter darüber her, hochaufgeschossen grünten Busch und Strauch. Ein hübsches Eisengitter umgab den Platz, der am saubersten gehalten schien von allen auf dem friedlichen kleinen Gottesacker im Schatten der Kirche.
   Auch dem Prediger erstattete Onnen pflichtschuldigst seinen Besuch, und als er dann nach Hause kam, empfing ihn eine Einladung, die er von allen am wenigsten erwartet hatte – Aheltje, die »Hexe«, ließ durch einen Boten sagen, er möge sobald wie möglich zu ihr kommen.
   »Was kann sie nur wollen ?« rief Frau Douwe. »Zehnmal ist sie früher schon bei mir gewesen und hat nach dir gefragt.«
   Onnen wußte es nicht. »Ob sie krank ist?« fragte er seine Mutter.
   »Ja, schon seit längerer Zeit, mein Junge. Ich denke, du mußt hingehen.«
   »Natürlich – aber wo wohnt sie denn jetzt?«
   »An der alten Stelle. Die Gemeinde hat ihr damals eine neue Hütte erbauen lassen; du weißt wohl, dein armer Vater und Heye Wessel bewilligten das noch auf ihrem Todesgange.«
   Onnen küßte die zuckenden Lippen der alten Frau. »Wohl ihm, daß sein Andenken so hoch in Ehren steht, Mutter! Wer sich seiner erinnert, der hat ihn von Herzen lieb gehabt.«
   Frau Douwe nickte. »Geh du nur«, sagte sie, »Aheltje ist eine dankbare Seele, sie kann nichts Böses beabsichtigen.«
   »Und doch auch wohl auf keinen Fall etwas gegen mich ausrichten, Mutter. Du bist hoffentlich nicht abergläubisch?«
   »Nein, nein – nur weil die Leute sie immer eine Hexe nennen!«
   »Unsinn!« lachte er und ging dann fort, um die Hütte der einsamen, verrufenen alten Frau zwischen den Dünen aufzusuchen. Wie leicht und sicher glitt sein Fuß über das schlüpfrige Gras! Die Stille der entlegenen Öde umgab ihn, die Erinnerung glücklicher Kindertage stimmte ihn weich und freundlich. So oft, so oft hatte er als Knabe mit gleichaltrigen Genossen diese grünen Hügel durchstreift und Jäger und Hund, Krieg und Gott weiß was sonst noch gespielt.
   Viele, viele von ihnen lagen in Rußlands eisiger Erde, viele waren verschollen, man hatte von ihnen nie eine Kunde erlangt, nie ein Lebenszeichen.
   Aber heute wie damals sangen die Lerchen und wehten im Sommerwind die langen Halme; heute wie damals rauschte das Meer, das geliebte, und kein Feind durfte es wagen, am deutschen Strande seine verhaßte Flagge zu entfalten.
   Die Hütte der Alten war bald gefunden. Onnen klopfte an die Tür, und als er das Herein der Bewohnerin hörte, überschritt er gebückt die Schwelle. Welch ein Bild der schrecklichsten, trostlosesten Armut bot sich seinen Blicken! Der niedere Bau barg nur einen in den Erdboden gefügten Tisch, einen hölzernen Stuhl und eine Lagerstätte, aus der Stroh und Lumpen hervorquollen. Auf diesem elenden Bette lag die abgezehrte, einem Skelett ähnliche Gestalt der alten Frau; müde, traurige Augen sahen dem jungen Manne entgegen, die magere Hand erhob sich, um ihm den einzigen Stuhl der öden Behausung zu bieten.
   »Guten Tag, Aheltje«, sagte er freundlich. »Es tut mir leid, Euch krank zu finden, Frau! – Steht es denn mit Eurem Leiden jetzt so schlimm?«
   Sie lächelte eigentümlich. »Ihr seid doch der Onnen Visser, Herr? Tretet ins Licht, ich möchte mich überzeugen.«
   Onnen willfahrte ihrem Wunsche. »Ist es denn so wichtig, was Ihr mir zu sagen habt, Aheltje?«
   Sie sah ihn an und nickte vor sich hin. »Ja, er ist es; er ist es wirklich. Klaus Vissers Sohn! – Setzt Euch, Herr; was ich zu sagen habe, ist sehr wichtig, ist beinahe mehr wert als das Leben selbst. Aber vorher muß ich Euch eine Frage stellen. Wißt Ihr, wo sich Geerd Kluin, der Bruder Eurer Mutter, befindet?«
   Onnen war einigermaßen überrascht. »Ja«, antwortete er, »ich weiß es, Aheltje, Geerd Kluin ist tot, er starb in Altona und ich selbst habe ihn zu Grabe geleitet.«
   »Das ist ganz, ganz sicher?«
   »So gewiß und wahrhaftig, wie ich in diesem Augenblick vor Euch stehe.«
   Die Alte erhob sich mühsam vom Bette, ihre Glieder zitterten, ihr Kopf sank vor Schwäche auf die Brust herab. »Mit mir ist‘s aus, junger Herr, der Tod droht schon seit Wochen mit erhobenem Arm, aber ich sagte ihm immer, daß er warten müsse, bis Ihr hier gewesen seid. Kommt nun, kommt rasch, Ihr sollt mich begleiten und unterwegs will ich Euch eine Geschichte erzählen.«
   »Ja«, setzte sie dann plötzlich hinzu, »wollt Ihr aber auch in meiner Gesellschaft gesehen werden, Herr?«
   Onnen lächelte freundlich. »Gewiß, Frau. Aber ich denke, Ihr könntet mir ebensowohl hier in Eurer Hütte erzählen, was ich wissen soll; Ihr braucht dann meinetwegen nicht aufzustehen.«
   Die Alte schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, nein, das geht nicht. Kommt nur, junger Herr – der Erfolg wird Euch die Mühe belohnen.«
   Sie humpelte schwerfällig voraus und bat ihn, ihr zu folgen. Onnen gehorchte freundlich, obwohl er im stillen glaubte, daß der Verstand der Alten erschüttert sei. So kamen die beiden sonderbaren Genossen in das Gebiet der mittleren Dünenkette, immer über die schlüpfrigen Höhen und durch die tiefen Täler langsam vorwärts, bis an jene schmale Schlucht, in der das Buschwerk grünte und wo Scharen von wilden Kaninchen ihre Höhlengänge bauten; hier sank die Alte, wie vollständig erschöpft, atemlos in sich zusammen.
   Ihre mageren Finger deuteten auf das Gebüsch. »Schlagt die Zweige auseinander, Herr, habt Ihr kein Messer bei Euch? – Grabt, grabt, da drinnen wohnt das Glück, das goldene – ich will Euch unterdessen eine Geschichte erzählen.«
   Er zauderte, obwohl die Worte der Alten einen sonderbaren Eindruck auf ihn übten. »Aheltje«, sagte er, »was sollte denn im Dünensand verborgen liegen?«
   »Grabt nur! Grabt nur! – Seht, es war vor länger als zwei Jahren, noch ehe die Franzosen nach Norderney kamen, da saß ich einmal hier und legte Schlingen für die wilden Kaninchen; es dämmerte bereits, tiefe Stille herrschte ringsumher, ich dachte gerade darüber nach, wie ganz einsam und von aller Welt verlassen einmal mein Totenbett sein werde – da raschelte es drüben in den Halmen und ein Mann sprang mit großen Sätzen in die Schlucht herab. Es war Geerd Kluin, der Bruder Eurer Mutter.«
   Alles Blut drang plötzlich in Onnens hübsches Gesicht. »Ah!« rief er, »und —«
   »Grabt nur weiter, Herr! – Aha, da ist der Deckel des eisernen Topfes! Nehmt ihn ab, wühlt im Golde mit beiden Händen, es ist Euer, alles Euer; Geerd Kluin brachte die letzten Taschen voll an jenem Abend hierher, er mußte schon früher hier gewesen sein, denn das Gefäß war voll bis zum Rande. Und nun ist er tot, Ihr seid sein einziger Erbe!«
   Onnen hatte in diesem Augenblick Ohren, aber er hörte nicht, es war ihm, als träumte er. Selbst seine jungen Kräfte konnten das Eisengefäß nicht von der Stelle bringen, er tauchte den Arm in die goldene Flut und suchte umsonst den Boden – es mußten Tausende, viele Tausende hier aufgespeichert liegen.
   Und Geerd Kluin, der Eigentümer dieser ganzen Summe, der reiche Mann war in Hamburg des langsamen Hungertodes gestorben!
   »Fülle deine Taschen«, mahnte die Alte. »Du mußt zehnmal gehen, bevor der goldene Segen ganz gehoben ist!«
   Die Stimme der Frau brachte ihn zur Besinnung; er streckte ihr beide Hände entgegen. »Aheltje, alte Aheltje, du hast während dieser zwei Jahre Hunger und Frost gelitten, du warst krank und hilflos, aber dieses Geld berührtest du nicht; nahmst davon keinen Pfennig, obwohl außer dir niemand das Geheimnis kannte?«
   Die Alte lächelte. »Ist das etwas so Großes, Herr? Und überdies, ich war dem armen Kapitän Visser so vielen Dank schuldig, daß mich‘s freute, einiges davon seinem Sohne abtragen zu können. Der Gedanke an das Geld hat mich nie verlockt.«
   »Desto mehr und reichlicher wird Euch davon jetzt zuteil werden«, rief der junge Mann. »Kommt, Aheltje, ich bringe Euch vorläufig in Eure Hütte, aber noch an diesem Tage sollt Ihr ein Quartier bei zuverlässigen Leuten erhalten – alle Eure Not hat jetzt ein Ende, Frau, Ihr könnt noch wieder genesen und Eure Tage in Ruhe beschließen.«
   Sie lächelte matt. »Ich danke Euch, Herr – für solch eine Unglückliche, wie ich bin, sind Eure freundlichen Worte Balsam, aber zur Ausführung wird‘s nicht kommen; ich sagte Euch ja, der mit der Sense wartet ungeduldig.«
   »Und soll auch noch länger warten, Aheltje!«
   Sie schüttelte ruhig den Kopf. »In Euren Jahren will man von ihm nichts wissen, junger Herr«, sagte sie, »in den meinigen ist er Freund und Erlöser. Wenn Ihr aber«, setzte sie hinzu, »einer armen alten Frau so recht etwas Liebes, Gutes erweisen wollt, dann helft mir über ein paar hohe Wände zu kommen, da drüben hinter den Gebüschen. Ich möcht‘ gern einmal hinunter sehen in den tieferen Grund!«
   Onnen hatte schon seine Taschen gefüllt und den Sand wieder über den Deckel gescharrt, jetzt trug er die Alte sorgfältig und dankbar bis an den Kamm, von welchem sie gesprochen hatte. »Nun, Aheltje, was gibt es denn da unten?« sagte er.
   Sie stützte sich fest auf ihn, um lange und unverwandt hinabsehen zu können. »Da im Sande liegt meine Katze begraben«, sagte sie mit leiser Stimme, »gerade unter dem einzelnen Busch – ich hab‘ mit meinen eigenen Händen das arme Tier eingescharrt und ihm die Erle auf seine Ruhestätte gepflanzt. Es war wohl nur eine Katze, Herr, aber für mich doch das letzte, was ich lieb hatte. Ich danke Euch, daß Ihr mich herbrachtet!«
   Onnen schwieg gerührt; er brachte die Alte bis auf den ebenen Strand hinaus und führte sie dann noch in ihre Hütte. Aheltje lächelte mit glücklichem Gesicht. »Nun ist der letzte Wunsch erfüllt«, murmelte sie, »die letzte irdische Pflicht getan – der Sensenmann kann kommen.«
   Unser Freund stand unschlüssig, er wußte nicht, ob er es wagen dürfte, die Unglückliche zu verlassen – ihr Gesicht erschien ihm so seltsam verändert, er glaubte, daß sie in jedem Augenblick sterben könne.
   Aber Aheltje selbst schickte ihn fort. »Denkt nicht an mich, Herr, bringt nichts hierher, weder Menschen noch Sachen – sorgt nur, daß das Geld in Sicherheit komme.«
   Er dankte ihr nochmals mit beredten Worten, versprach, am nächsten Tage wieder vorzusehen und eilte nach Hause, trunken vor Freude.
   Daß ihr Bruder gestorben sei, wußte Frau Douwe bereits seit gestern, heute erfuhr sie die letzte unerwartete Nachricht und willfahrte sogleich dem Wunsche ihres Sohnes, sich selbst in die Hütte der Alten zu begeben. Onnen seinerseits ging mit dem Zigeuner sogleich wieder hinaus in die Dünen und beide holten nun heim, was der eiserne Topf barg.
   Zwanzigtausend Taler in lauter Goldstücken. »Freue dich, Mikosch, freue dich, nun ist deine Schenke bezahlt! Fange an zu nähen, vergiß den dänischen Staatsbankrott und die Tage der Not in Hamburg – Hurra! Hurra! jetzt ist alles gut!«
   Mikosch wollte nicht annehmen, was ihm Onnen in der Fülle seiner Herzensfreude darbot »Das wäre zuviel, Herr, viel zuviel – es müßten ja an tausend Taler sein!«
   Onnen lachte ihn aus. »Das Doppelte, Alter, das Doppelte. Nähe, nähe, daß der Ledergürtel rund wird wie ein Vollmond!«
   Er war vor Freude fast außer sich; auch Alexei erhielt ein stattliches Geschenk und nicht minder Onkel Martin, dem die Franzosenwirtschaft schwere Schäden zugefügt hatte. Jetzt brauchte Frau Douwe nicht mehr hinauszugehen auf das Watt, alle Sorgen waren verscheucht, alle Wünsche erfüllt.
   Gegen Abend, als seine Mutter aus der Hütte der Alten zurückkehrte, sah Onnen auf den ersten Blick, was sie ihm sagen wollte. Aheltje war tot!
   »Hast du sie denn noch lebend gefunden, Mutter?«
   Frau Douwe nickte. »Sie erkannte mich gleich, ich konnte ihr in deinem Namen danken, mein Junge, auch ein paar Tropfen Wein hat sie getrunken und mir dann zugeflüstert: ›Es ist doch gut, daß ich nicht so ganz verlassen sterben muß!‹ Einige Minuten später war sie hinüber.«
   Onnen erzählte seiner Mutter von dem Grab der Katz und wie die arme Aheltje das Tier geliebt. Frau Douwe hatte Tränen in den Augen. »Gottlob, daß endlich der Tod kam«, sagte sie und fügte dann, auf die Straße hinausdeutend, bei: »Auch da geht einer, dem es besser wäre, wenn ihn die Erde in ihren Schoß aufnähme – kennst du ihn, Onnen ?«
   Ihr Sohn sah auf. »Peter Witt«, rief er. »Wie verändert ist der Mann!«
   Draußen ging der Verräter über die Straße, oder stolperte vielmehr, mit starren Blicken vor sich hinsehend, weiter. Er sprach immer halblaut, das Haar hing verworren um seinen Kopf herum, der Anzug war unordentlich und das ganze Wesen gestört. Sobald ihm irgendein Mensch begegnete, wich er aus, als drohe ihm eine plötzliche Gefahr.
   »Witt ist vollständig blödsinnig«, berichtete Frau Douwe. »Wieviel unsägliches Elend aller Art haben doch die Franzosen über unser Land gebracht!«
   »Dafür hat sie nun auch die gerechte Strafe ereilt, Mutter – denke nicht mehr an die Vergangenheit. Komm, komm, du mußt nicht weinen, wir sind ja nun reiche Leute, dein Sohn kann die Steuermannskunst erlernen und wird es mit der Zeit und Gottes Hilfe sicher wieder zu einem eigenen Schiff bringen!«
   Und so geschah es auch wirklich, obwohl erst in späteren Jahren. Der Abschied von Mikosch und Alexei schlug dem Herzen unseres Freundes tiefe Wunden, er stand mit den beiden am Strand und konnte sich von ihnen nicht trennen, so oft auch das Lebewohl schon gesprochen worden war. »Grüße deine Söhne, Alter, deine Frau, den ganzen Stamm! Wir haben doch so viele frohe Stunden miteinander verlebt! Ich bin dir so unendlich vielen Dank schuldig!«
   Der Zigeuner schüttelte den Kopf. »Leb wohl, Herr, leb wohl! Du schreibst mir hin und wieder einmal, denke ich! – meinen Aufenthalt erfährst du, sobald ich einen festen Wohnsitz gefunden habe!«
   »Gewiß, Mikosch, Gott sei mit dir, du lieber alter Freund!«
   Noch ein Händedruck und das Boot stieß ab. Onnen sah ihm nach, bis die Ferne den Blick trübte. Mikosch und Alexei winkten ihm mit Hüten und Händen, Ruff sandte noch einmal über das Wasser einen langgezogenen Ton seiner gewaltigen Stimme, dann war alles vorbei.
   Aber nicht für immer. Jeder der drei jungen Leute suchte und fand schon sehr bald Dienste in der Handelsmarine, Feiko und Onnen sogar auf einem und demselben Schiff. Die Nachricht, daß Napoleon von Elba entflohen sei und daß die Feindseligkeiten aufs neue beginnen würden, rief alle drei als Freiwillige zu den Waffen. Die Hanseatische Legion war allerdings aufgelöst, aber doch kämpften auch Hamburgs Söhne gegen den Erbfeind, und mit ihnen, an der Seite so manches alten Bekannten, unsere drei Freunde.
   Hier, auf Frankreichs Boden, war es, wo Onnen ganz unerwartet den alten Zigeunerhauptmann wiedersah – abermals als Kundschafter.
   Mikosch rauchte noch die kurze Stummelpfeife und blinzelte so schlau wie damals, als er im Dienste des Grafen Rostoptschin allerlei Verkleidungen trug und allerlei verborgene Geheimnisse aufspürte. Seinen jüngsten Sohn hatte er bei sich, Jasko verwaltete unterdessen die Schenke und verdiente hübsches Geld.
   »Ich weiß«, sagte mit schlauem Blick der Zigeuner, »er hat jetzt selbst schon einen Ledergurt, er fängt an zurückzulegen, den Glücksrubel habe ich ihm geschenkt.«
   Onnen schüttelte den Kopf, »Wenn doch deine Verhältnisse gesichert sind, Alter, weshalb bist du denn wieder in das fremde Land gezogen und erträgst jetzt alle Beschwerden des Krieges?«
   Mikosch sah ihn an, er blinzelte listig. »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, Herr. Es ist der Ehre wegen – meinen Namen kennen Fürsten und Generäle!«
   Onnen lachte unbändig, aber ohne den Zigeuner in seinen fragwürdigen Anschauungen zu stören. Das Wiedersehen zwischen den beiden war nur kurz; die Deutschen beendeten rasch den Krieg und Onnen erlebte es, die Erfüllung seines Traumes im Norderneyer Amtsgefängnis zu sehen.
   Der unheilvolle Friedensstörer wurde auf das ferne Felseneiland gebracht, dessen enges Rund er nicht mehr verlassen sollte; für Deutschland war der Friede gesichert
   Feiko und Onnen kehrten beide unversehrt aus dem Krieg zurück, während Georg auf Frankreichs Boden den Tod des Helden gestorben war. Unser Freund studierte die Steuermannskunst und führte auch mit der Zeit ein eigenes Schiff, lange vorher aber schrieb er nach Moskau und schickte der Frau Witwe Müller Geld, um mit ihren Kindern in die Heimat zurückzukommen. Was sie an jenem verhängnisvollen Abend für ihn getan hatten, das vergalt er mit Zinsen; Otto blieb in alle Zukunft sein treuester Freund und später auch der Genosse so mancher langen und abenteuerlichen Fahrt. Es ist beiden vergönnt gewesen, ein hohes und zufriedenes Alter zu erreichen; ihre Enkel haben in den Kriegsjahren von 1870-71 tapfer mitgefochten und sich der Väter würdig gezeigt. Onnens Name aber wird noch heute auf seiner Heimatinsel mit Ehren genannt.
   »Wie eine Oase in der Wüste erschien ihm das Andenken der stillen deutschen Heimatinsel. Langgezogen fluteten dort die Wellen der Nordsee an den weißen Strand, ein ruhiger, ungestörter Friede lag auf der Umgebung. Da wurde nichts gestohlen, da betrog kein Nachbar den anderen; zwischen den niederen Fischerhütten hatte das Verbrechen keine Stätte.
   Liebes altes Norderney! Ob er es jemals wiedersehen würde?«