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Автор книги: Стефан Цвейг


Жанр: Иностранные языки, Наука и Образование


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Aber dieses Kind war alles für mich, war es doch von Dir, nochmals Du, aber nun nicht mehr Du, der Glückliche, der Sorglose, den ich nicht zu halten vermochte, sondern Du für immer – so meinte ich – mir gegeben, verhaftet in meinem Leibe[62]62
  Leib, m – тело


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, verbunden in meinem Leben. Nun hatte ich Dich ja endlich gefangen, ich konnte Dich, Dein Leben wachsen spüren in meinen Adern[63]63
  Adern, f, -n – вена


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, Dich tränken, Dich liebkosen, Dich küssen, wenn mir die Seele danach brannte. Siehst du, Geliebter, darum war ich so selig[64]64
  selig – счастливый, блаженный


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, als ich wusste, dass ich ein Kind von Dir hatte, darum verschwieg ich Dir es: denn nun konntest du mir nicht mehr entfliehen. Geliebter, es waren nicht nur so selige Monate, wie ich sie voraus fühlte in meinen Gedanken, es waren auch Monate voll Grauen und Qual, voll Ekel vor der Niedrigkeit[65]65
  Niedrigkeit, f – низость, подлость


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der Menschen. Ich hatte es nicht leicht. In das Geschäft konnte ich während der letzten Monate nicht mehr gehen, damit es den Verwandten nicht auffällig werde und sie nicht nach Hause berichteten. Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten – so fristete[66]66
  fristen – перебиваться


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ich mir mit dem Verkauf von dem bisschen Schmuck, den ich hatte…


Eine Woche vorher wurden mir aus einem Schranke von einer Wäscherin die letzten paar Kronen gestohlen, so musste ich in die Gebärklinik[67]67
  Gebärklinik, f – родильный приют


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. Dort, wo nur die ganz Armen, die Ausgestoßenen und Vergessenen sich in ihrer Not hinschleppen, dort, mitten im Abhub[68]68
  Abhub, m – объедки


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des Elends, dort ist das Kind, Dein Kind geboren worden. Was die Armut an Erniedrigung, an seelischer und körperlicher Schande zu ertragen hat, ich habe es dort gelitten an dem Beisammensein[69]69
  Beisammensein, n – наравне


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mit Dirnen und mit Kranken, die aus der Gemeinsamkeit des Schicksals eine Gemeinheit machten, an der Zynik der jungen Ärzte, die mit einem ironischen Lächeln der Wehrlosen[70]70
  wehrlos – беззащитный, незащищённый


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das Betttuch aufstreiften und sie mit falscher Wissenschaftlichkeit antasteten, an der Habsucht[71]71
  Habsucht, f – алчность


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der Wärterinnen. Die Tafel mit deinem Namen, das allein bist dort noch du, denn was im Bette liegt, ist bloß ein zuckendes Stück Fleisch, betastet von Neugierigen, ein Objekt der Schau und des Studierens – ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihrem Mann, dem zärtlich wartenden, in seinem Hause Kinder schenken, was es heißt, allein ein Kind zu gebären! Und lese ich noch heute in einem Buche das Wort Hölle, so denke ich plötzlich wider meinen bewussten Willen an jenen vollgepfropften[72]72
  vollgepfropften – битком набитый


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Saal.

Verzeih, verzeih mir, dass ich davon spreche. Aber nur dieses eine Mal rede ich davon, nie mehr, nie mehr wieder. Elf Jahre habe ich geschwiegen davon, und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmal musste ich ausschreien wie teuer ich es erkaufte, dies Kind, das meine Seligkeit war und das nun dort ohne Atem liegt. Ich hatte sie schon vergessen, diese Stunden, längst vergessen im Lächeln, in der Stimme des Kindes, in meiner Seligkeit; aber jetzt, da es tot ist, wird die Qual wieder lebendig, und ich musste sie mir von der Seele schreien, dieses eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an, nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos machte, diese Qual.


Nicht Dich klage ich an, und nie habe ich mich im Zorn[73]73
  Zorn, m – гнев


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erhoben gegen Dich. Selbst in der Stunde, habe ich Dich nicht angeklagt vor Gott. Immer habe ich Dich geliebt, immer die Stunde gesegnet[74]74
  segnen – благословлять


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, da Du mir begegnet bist. Und müsste ich noch einmal durch die Hölle jener Stunden und wüsste vordem, was mich erwartet, ich täte es noch einmal, mein Geliebter, noch einmal und tausendmal!


Unser Kind ist gestern gestorben – Du hast es nie gekannt. Ich hielt mich lange verborgen[75]75
  verbogen (verbiegen) – скрываться


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vor Dir, sobald ich dies Kind hatte; meine Sehnsucht nach Dir war weniger schmerzhaft geworden, ja ich glaube, ich liebte Dich weniger leidenschaftlich, zumindest litt ich nicht so an meiner Liebe, seit es mir geschenkt war. Ich wollte mich nicht zerteilen zwischen Dir und ihm; so gab ich mich nicht an Dich, den Glücklichen, sondern an dies Kind, das mich brauchte, das ich nähren[76]76
  nähren – кормить


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musste, das ich küssen konnte und umfangen. Ich schien gerettet vor meiner Unruhe nach Dir, gerettet durch dies Dein anderes Du.


Nur eines tat ich: zu Deinem Geburtstag sandte ich Dir immer ein Bündel weiße Rosen, genau dieselben, wie Du sie mir damals geschenkt nach unserer ersten Liebesnacht. Hast Du je in diesen zehn, in diesen elf Jahren Dich gefragt, wer sie sandte? Hast Du Dich vielleicht an die erinnert, der Du einst solche Rosen geschenkt? Ich weiß es nicht und werde Deine Antwort nicht wissen. Nur aus dem Dunkel sie Dir hinzureichen, einmal im Jahre die Erinnerung aufblühen zu lassen an jene Stunde – das war mir genug.

Du hast es nie gekannt, unser armes Kind – heute klage ich mich an, dass ich es Dir verbarg, denn du hättest es geliebt. Nie hast Du ihn gekannt, den armen Knaben, nie ihn lächeln gesehen, wenn er leise die Lider aufhob und dann mit seinen dunklen klugen Augen – Deinen Augen! – ein helles, frohes Licht warf über mich, über die ganze Welt. Er wurde immer mehr Du; schon begann sich auch in ihm jene Zweifältigkeit von Ernst und Spiel, die Dir eigen ist, sichtbar zu entfalten, und je ähnlicher er Dir ward, desto mehr liebte ich ihn. Er hat gut gelernt, er plauderte Französisch wie eine kleine Elster[77]77
  Elster, f, -n – сорока


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, seine Hefte waren die saubersten der Klasse, und wie hübsch war er dabei, wie elegant in seinem schwarzen Samtkleid oder dem weißen Matrosen Jäckchen. Immer war er der Eleganteste von allen, wohin er auch kam; in Grado am Strande, wenn ich mit ihm ging, blieben die Frauen stehen und streichelten sein langes blondes Haar. Er war so hübsch, so zart, so zutunlich: als er im letzten Jahre ins Internat des Theresianums kam, trug er seine Uniform und den kleinen Degen wie ein Page aus dem achtzehnten Jahrhundert – nun hat er nichts als sein Hemdchen an, der Arme, der dort liegt mit blassen Lippen und eingefalteten Händen.


Aber Du fragst mich vielleicht, wie ich das Kind so im Luxus erziehen konnte, wie ich es vermochte, ihm dies helle Leben der oberen Welt zu vergönnen. Liebster, ich spreche aus dem Dunkel zu Dir; ich habe keine Scham, ich will es Dir sagen, aber erschrick nicht, Geliebter – ich habe mich verkauft. Ich hatte reiche Freunde, reiche Geliebte: zuerst suchte ich sie, dann suchten sie mich, denn ich war – hast Du es je bemerkt? – sehr schön. Verachtest[78]78
  verachten – презирать


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Du mich nun, weil ich Dir es verriet, dass ich mich verkauft habe? Nein, ich weiß, Du verachtest mich nicht, ich weiß, Du verstehst alles und wirst auch verstehen, dass ich es nur für Dich getan, für Dein anderes Ich, für Dein Kind. Ich hatte einmal in jener Stube der Gebärklinik an das Entsetzliche der Armut gerührt, ich wusste, dass in dieser Welt der Arme immer der Getretene, das Opfer ist, und ich wollte nicht, um keinen Preis, dass Dein Kind, Dein helles, schönes Kind da tief unten aufwachsen sollte im Dumpfen, im Gemeinen der Gasse, in der verpesteten Luft eines Hinterhausraumes. Sein zarter Mund sollte nicht die Sprache des Rinnsteins[79]79
  Rinnstein, m – сточная канава


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kennen – Dein Kind sollte alles haben, allen Reichtum, alle Leichtigkeit der Erde, es sollte wieder aufsteigen zu Dir, in Deine Sphäre des Lebens. Darum, nur darum, mein Geliebter, habe ich mich verkauft. Es war kein Opfer für mich, denn was man gemeinhin Ehre und Schande nennt, das war mir wesenlos: Du liebtest mich nicht, Du, der Einzige, dem mein Leib gehörte, so fühlte ich es als gleichgültig, was sonst mit meinem Körper geschah. Alle Männer die ich kannte, waren gut zu mir, alle haben mich verwöhnt, alle achteten sie mich. Da war vor allem einer, ein älterer, verwitweter Reichsgraf, derselbe, der sich die Füße wundstand[80]80
  wund – стёртый до крови


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an den Türen, um die Aufnahme des vaterlosen Kindes, Deines Kindes, im Theresianum durchzudrücken – der liebte mich wie eine Tochter. Dreimal, viermal machte er mir den Antrag, mich zu heiraten – ich könnte heute Gräfin sein, Herrin auf einem zauberischen Schloss in Tirol, könnte sorglos sein, denn das Kind hätte einen zärtlichen Vater gehabt, der es vergötterte, und ich einen stillen, vornehmen, gütigen Mann an meiner Seite – ich habe es nicht getan, so sehr, so oft er auch drängte, so sehr ich ihm wehe tat mit meiner Weigerung[81]81
  Weigerung, f – отказ, уклонение


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.


Vielleicht war es eine Torheit[82]82
  Torheit, f – сумасбродство


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, denn sonst lebte ich jetzt irgendwo still und geborgen, und dies Kind, das geliebte, mit mir, aber – warum soll ich Dir es nicht gestehen – ich wollte mich nicht binden, ich wollte Dir frei sein in jeder Stunde. Innen im Tiefsten, im Unbewussten meines Wesens lebte noch immer der alte Kindertraum, Du würdest vielleicht noch einmal mich zu Dir rufen, sei es nur für eine Stunde lang. Und für diese eine mögliche Stunde habe ich alles weggestoßen, nur um Dir frei zu sein für Deinen ersten Ruf. Was war mein ganzes Leben seit dem Erwachen aus der Kindheit denn anders als ein Warten, ein Warten auf Deinen Willen!


Und diese Stunde, sie ist wirklich gekommen. Aber Du weißt sie nicht, Du ahnst sie nicht, mein Geliebter! Auch in ihr hast Du mich nicht erkannt – nie, nie, nie hast du mich erkannt! Ich war Dir ja schon früher oft begegnet, in den Theatern, in den Konzerten, im Prater, auf der Straße – jedes Mal zuckte mir das Herz, aber Du sahst an mir vorbei: ich war ja äußerlich eine ganz andere, aus dem scheuen Kinde war eine Frau geworden, schön, wie sie sagten, in kostbare Kleider gehüllt, umringt von Verehrern: wie konntest Du in mir jenes schüchterne Mädchen im dämmerigen[83]83
  dämmerig – сумеречный


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Licht Deines Schlafraumes vermuten! Manchmal grüßte Dich einer der Herren, mit denen ich ging. Du danktest und sahst auf zu mir: aber Dein Blick war höfliche Fremdheit, aber nie erkennend, entsetzlich fremd. Einmal, ich erinnere mich noch, ward mir dieses Nichterkennen, an das ich fast schon gewohnt war, zu brennender Qual: ich saß in einer Loge der Oper mit einem Freunde und Du in der Nachbarloge. Die Lichter erloschen bei der Ouvertüre, ich konnte Dein Antlitz nicht mehr sehen, nur Deinen Atem fühlte ich so nah neben mir, wie damals in jener Nacht, und auf der samtenen[84]84
  Samt, m – бархат


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Brüstung der Abteilung unserer Logen lag Deine Hand aufgestützt. Und unendlich überkam mich das Verlangen[85]85
  Verlangen, n – желание


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, mich niederzubeugen und diese fremde, diese so geliebte Hand zu küssen, deren zärtliche Umfassung ich einst gefühlt. Um mich wogte aufwühlend die Musik, immer leidenschaftlicher wurde das Verlangen, ich musste mich ankrampfen, mich gewaltsam aufreißen, so gewaltsam zog es meine Lippen hin zu Deiner geliebten Hand. Nach dem ersten Akt bat ich meinen Freund, mit mir fortzugehen. Ich ertrug es nicht mehr, Dich so fremd und so nah neben mir zu haben im Dunkel. Aber die Stunde kam, sie kam noch einmal, ein letztes Mal in mein verschüttetes Leben. Fast genau vor einem Jahr ist es gewesen, am Tage nach Deinem Geburtstage. Seltsam: ich hatte alle die Stunden an Dich gedacht, denn Deinen Geburtstag, ihn feierte ich immer wie ein Fest. Ganz frühmorgens schon war ich ausgegangen und hatte die weißen Rosen gekauft, die ich Dir wie alljährlich senden ließ zur Erinnerung an eine Stunde, die Du vergessen hattest. Nachmittags fuhr ich mit dem Buben aus, führte ihn zu Demel in die Konditorei und abends ins Theater, ich wollte, auch er sollte diesen Tag, ohne seine Bedeutung zu wissen, irgendwie als einen mystischen Feiertag von Jugend her empfinden. Am nächsten Tage war ich dann mit meinem damaligen Freunde, einem jungen, reichen Brünner Fabrikanten, mit dem ich schon seit zwei Jahren zusammenlebte, der mich vergötterte, verwöhnte und mich ebenso heiraten wollte wie die andern und dem ich mich ebenso scheinbar grundlos verweigerte wie den andern, obwohl er mich und das Kind mit Geschenken überschüttete und selbst liebenswert war in seiner ein wenig dumpfen Güte. Wir gingen zusammen in ein Konzert, trafen dort heitere Gesellschaft, soupierten in einem Ringstraßenrestaurant, und dort, mitten im Lachen und Schwätzen[86]86
  Schwatz, m – болтовня


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, machte ich den Vorschlag, noch in ein Tanzlokal, in den Tabarin, zu gehen. Mir waren diese Art Lokale mit ihrer systematischen und alkoholischen Heiterkeit wie jede „Drahrerei“ sonst immer widerlich, und ich wehrte mich sonst immer gegen derlei Vorschläge, diesmal aber – es war wie eine unergründliche magische Macht in mir, die mich plötzlich unbewusst den Vorschlag mitten in die freudig zustimmende Erregung der andern werfen ließ – hatte ich plötzlich ein unerklärliches Verlangen, als ob dort irgendetwas Besonderes mich erwarte. Gewohnt, mir gefällig[87]87
  gefällig, adj – услужливый


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zu sein, standen alle rasch auf, wir gingen hinüber, tranken Champagner, und in mich kam mit einem Mal eine fast schmerzhafte Lustigkeit, wie ich sie nie gekannt. Ich trank und trank, sang die kitschigen Lieder mit und hatte fast den Zwang, zu tanzen oder zujubeln. Aber plötzlich – mir war, als hätte etwas Kaltes oder etwas Glühendheißes sich mir jäh aufs Herz gelegt – riss es mich auf: am Nachbartisch saßest Du mit einigen Freunden und sahst mich an mit einem bewundernden und begehrenden[88]88
  begehrend, (nach D) – желать


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Blick. Zum ersten Mal seit zehn Jahren sahst Du mich wieder an mit der ganzen unbewusst-leidenschaftlichen Macht Deines Wesens.


Ich zitterte. Fast wäre mir das erhobene Glas aus den Händen gefallen. Glücklicherweise merkten die Tischgenossen nicht meine Verwirrung: sie verlor sich in dem Dröhnen von Gelächter und Musik. Immer brennender wurde Dein Blick und tauchte mich ganz in Feuer. Ich wusste nicht: hattest Du mich endlich, endlich erkannt, oder begehrtest Du mich neu, als eine andere, als eine Fremde? Das Blut flog mir in die Wangen[89]89
  das Blut flog in die Wangen – кровь прихлынула к щекам


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, zerstreut antwortete ich den Tischgenossen: Du musstest es merken, wie verwirrt ich war von Deinem Blick. Unmerklich für die übrigen machtest Du mit einer Bewegung des Kopfes ein Zeichen, ich möchte für einen Augenblick hinauskommen in den Vorraum. Dann zahltest Du ostentativ, nahmst Abschied von Deinen Kameraden und gingst hinaus, nicht ohne zuvor noch einmal angedeutet zu haben, dass Du draußen auf mich warten würdest. Ich zitterte wie im Frost, wie im Fieber, ich konnte nicht mehr Antwort geben, nicht mehr mein aufgejagtes Blut beherrschen. Zufälligerweise begann gerade in diesem Augenblick ein Negerpaar mit knatternden Absätzen und schrillen Schreien einen absonderlichen[90]90
  absonderlich – замысловатый, своеобразный


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neuen Tanz: alles starrte ihnen zu, und diese Sekunde nützte ich. Ich stand auf, sagte meinem Freunde, dass ich gleich zurückkäme, und ging Dir nach.


Draußen im Vorraum vor der Garderobe standest Du, mich erwartend: Dein Blick ward hell, als ich kam. Lächelnd eiltest Du mir entgegen; ich sah sofort, Du erkanntest mich nicht, erkanntest nicht das Kind von einst und nicht das Mädchen, noch einmal grifffest Du nach mir als einem Neuen, einem Unbekannten. „Haben Sie auch für mich einmal eine Stunde?“ fragtest Du vertraulich – ich fühlte an der Sicherheit Deiner Art, Du nahmst mich für eine dieser Frauen, für die Käufliche eines Abends. „Ja“, sagte ich, dasselbe zitternde und doch selbstverständliche einwilligende Ja, das Dir das Mädchen vor mehr als einem Jahrzehnt auf der dämmernden Straße gesagt. „Und wann könnten wir uns sehen?“ fragtest Du. „Wann immer Sie wollen“, antwortete ich – vor Dir hatte ich keine Scham. Du sahst mich ein wenig verwundert an, mitderselben misstrauisch-neugierigen Verwunderung wie damals, als Dich gleichfalls die Raschheit meines Einverständnisses erstaunt hatte. „Könnten Sie jetzt?“ fragtest Du, ein wenig zögernd[91]91
  zögernd – нерешительный


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. „Ja“, sagte ich, „gehen wir.“


Ich wollte zur Garderobe, meinen Mantel holen. Da fiel mir ein, dass mein Freund den Garderobenzettel hatte für unsere gemeinsam abgegebenen Mäntel. Zurückzugehen und ihn verlangen, wäre ohne umständliche Begründung nicht möglich gewesen, anderseits die Stunde mit Dir preisgeben, die seit Jahren ersehnte, dies wollte ich nicht. So habe ich keine Sekunde gezögert: ich nahm nur den Schal über das Abendkleid und ging hinaus in die nebelfeuchte Nacht, ohne mich um den guten, zärtlichen Menschen zu kümmern, von dem ich seit Jahren lebte zu einem, dem seine Geliebte nach Jahren wegläuft auf den ersten Pfiff eines fremden Mannes.


Oh, ich war mir ganz der Niedrigkeit, der Undankbarkeit, der Schändlichkeit, die ich gegen einen ehrlichen Freund beging, im Tiefsten bewusst. Ich fühlte, dass ich lächerlich handelte und mit meinem Wahn einen gütigen Menschen für immer tödlich kränkte. Ich fühlte, dass ich mein Leben mitten entzweiriss[92]92
  entzweireißen – разрывать (пополам)


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 – aber was war mir Freundschaft, was meine Existenz gegen die Ungeduld, wieder einmal Deine Lippen zu fühlen, Dein Wort weich gegen mich gesprochen zu hören. So habe ich Dich geliebt, nun kann ich es Dir sagen, da alles vorbei ist und vergangen. Und ich glaube, riefest Du mich von meinem Sterbebette, so käme mir plötzlich die Kraft, aufzustehen und mit Dir zu gehen.


Ein Wagen stand vor dem Eingang, wir fuhren zu Dir. Ich hörte wieder Deine Stimme, ich fühlte Deine zärtliche Nähe und war genau so betäubt, so kindisch-selig verwirrt wie damals. Wie stieg ich, nach mehr als zehn Jahren, zum ersten Mal wieder die Treppe empor – nein, nein, ich kann Dir es nicht schildern, wie ich alles immer doppelt fühlte in jenen Sekunden, vergangene Zeit und Gegenwart, und in allem und allem immer nur Dich.


In Deinem Zimmer war weniges anders, ein paar Bilder mehr, und mehr Bücher, da und dort fremde Möbel, aber alles doch grüßte mich vertraut. Und am Schreibtisch stand die Vase mit den Rosen darin – mit meinen Rosen, die ich Dir tags vorher zu Deinem Geburtstag geschickt als Erinnerung an eine, an die Du Dich doch nicht erinnertest, die Du doch nicht erkanntest, selbst jetzt, da sie Dir nahe war, Hand in Hand und Lippe an Lippe. Aber doch: es tat mir wohl, dass Du die Blumen hegtest[93]93
  hegen – хранить


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: so war doch ein Hauch[94]94
  Hauch, m – дыхание


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meines Wesens, ein Atem meiner Liebe um Dich.


Du nahmst mich in Deine Arme. Wieder blieb ich bei Dir eine ganze herrliche Nacht. Aber auch im nackten Leibe erkanntest Du mich nicht. Selig erlitt ich Deine wissenden Zärtlichkeiten und sah, dass Deine Leidenschaft keinen Unterschied macht zwischen einer Geliebten und einer Käuflichen. Du warst so zärtlich und lind[95]95
  lind – чуткий, мягкий


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zu mir, der vom Nachtlokal Geholten, so vornehm und so herzlich-achtungsvoll und doch gleichzeitig so leidenschaftlich im Genießen der Frau. Wieder fühlte ich diese einzige Zweiheit Deines Wesens, die wissende, die geistige Leidenschaft in der sinnlichen, die schon das Kind Dir hörig gemacht. Nie habe ich bei einem Manne in der Zärtlichkeit solche Hingabe an den Augenblick gekannt – freilich um dann hinzulöschen in eine fast unmenschliche Vergesslichkeit.


Aber auch ich vergaß mich selbst. Wer war ich nun im Dunkel neben Dir? War ich, das brennende Kind von einst, war ich, die Mutter Deines Kindes, war ich, die Fremde? Ach, es war so vertraut, so erlebt alles, und alles wieder so rauschend neu in dieser leidenschaftlichen Nacht. Und ich betete, sie möchte kein Ende nehmen[96]96
  kein Ende nehmen – не было конца


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.


Aber der Morgen kam, wir standen spät auf, Du ladest mich ein, noch mit Dir zu frühstücken. Wir tranken zusammen den Tee und plauderten. Wieder sprachst Du mit der ganzen offenen, herzlichen Vertraulichkeit Deines Wesens zu mir und wieder ohne alle indiskreten Fragen, ohne alle Neugier nach dem Wesen, das ich war. Du fragtest nicht nach meinem Namen, nicht nach meiner Wohnung: ich war Dir wiederum nur das Abenteuer, das Namenlose, die heiße Stunde, die im Rauch des Vergessens spurlos sich löst.


Du erzähltest, dass Du jetzt weit weg reisen wolltest, nach Nordafrika für zwei oder drei Monate: ich zitterte mitten in meinem Glück, denn schon hämmerte es mir in den Ohren: vorbei, vorbei und vergessen! Am liebsten wäre ich hin zu Deinen Knien gestürzt und hätte geschrien: „Nimm mich mit, damit Du mich endlich erkennst, endlich, endlich nach so vielen Jahren!“ Aber ich war ja so scheu, so schwach vor Dir. Ich konnte nur sagen: „Wie schade.“ Du sahst mich lächelnd an: „Ist es Dir wirklich leid?“ Da fasste es mich wie eine plötzliche Wildheit[97]97
  Wildheit, f – буйство


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. Ich stand auf, sah Dich an, lange und fest. Dann sagte ich: „Der Mann, den ich liebte, ist auch immer weggereist.“ Ich sah Dich an, mitten in den Stern Deines Auges. „Jetzt, jetzt wird er mich erkennen!“ zitterte alles in mir. Aber Du lächeltest mir entgegen und sagtest tröstend: „Man kommt ja wieder zurück.“

„Ja“, antwortete ich, „man kommt zurück, aber dann hat man vergessen.“


Es muss etwas Absonderliches[98]98
  absonderlich – странный


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, etwas Leidenschaftliches in der Art gewesen sein, wie ich Dir das sagte. Denn auch Du ständest auf und sahst mich an, verwundert und sehr liebevoll. Du nahmst mich bei den Schultern. „Was gut ist, vergisst sich nicht, Dich werde ich nicht vergessen“, sagtest Du, und dabei senkte sich Dein Blick ganz in mich hinein, als wollte er dies Bild sich festprägen. Und wie ich diesen Blick in mich eindringen fühlte, da glaubte ich endlich, endlich den Bann der Blindheit gebrochen. Er wird mich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganze Seele zitterte in dem Gedanken.


Aber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntest mich nicht, nie war ich Dir fremder jemals als in dieser Sekunde, denn sonst – sonst hättest Du nie tun können, was Du wenige Minuten später tätest. Du hast mich geküsst, noch einmal leidenschaftlich geküsst. Ich musste mein Haar, das sich verwirrt hatte, wieder zurechtrichten, und während ich vor dem Spiegel stand, da sah ich durch den Spiegel – und ich glaubte hinsinken zu müssen vor Scham und Entsetzen – da sah ich, wie Du in diskreter Art ein paargrößere Banknoten in meinen Muff schobst. Wie habe ich vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht ins Gesicht zu schlagen in dieser Sekunde – mich, die ich Dich liebte von Kindheit an, die Mutter Deines Kindes, mich zahltest Du für diese Nacht! Eine Dirne aus dem Tabarin war ich Dir, nicht mehr – bezahlt, bezahlt hast Du mich! Es war nicht genug, von Dir vergessen zu werden, ich musste noch erniedrigt sein.


Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort, rasch fort. Es tat mir zu weh. Ich griff nach meinem Hut, er lag auf dem Schreibtisch neben der Vase mit den weißen Rosen, meinen Rosen. Da erfasste es mich mächtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich es versuchen, Dich zu erinnern. „Möchtest Du mir nicht von Deinen weißen Rosen eine geben?“ „Gern“, sagtest Du und nahmst sie sofort. „Aber sie sind Dir vielleicht von einer Frau gegeben, von einer Frau, die Dich liebt?“ sagte ich. „Vielleicht“, sagtest Du, „ich weiß es nicht. Sie sind mir gegeben, und ich weiß nicht von wem; darum liebe ich sie so.“ Ich sah Dich an. „Vielleicht sind sie auch von einer, die Du vergessen hast!“ Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. „Erkenne mich, erkenne mich endlich!“ schrie mein Blick. Aber Dein Auge lächelte freundlich und unwissend. Du küsstest mich noch einmal. Aber Du erkanntest mich nicht.


Ich ging rasch zur Tür, denn ich spürte, dass mir Tränen in die Augen schossen, und das solltest Du nicht sehen. Im Vorzimmer – so hastig war ich hinausgeeilt – stieß ich mit Johann, Deinem Diener, fast zusammen. Scheu und eilfertig[99]99
  eilfertig – поспешно


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sprang er zur Seite, riss die Haustür auf, um mich hinauszulassen, und da – in dieser einen, hörst Du? in dieser einen Sekunde, da ich ihn ansah, mit tränenden Augen ansah, den gealterten Mann, da zuckte ihm plötzlich ein Licht in den Blick.

In dieser einen Sekunde, hörst Du? in dieser einen Sekunde, hat der alte Mann mich erkannt, der mich seit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich hätte hinknien können vor ihm für dieses Erkennen und ihm die Hände küssen. So riss ich nur die Banknoten, mit denen Du mich gegeißelt, rasch aus dem Muff und steckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mir auf – in dieser Sekunde hat er vielleicht mehr geahnt von mir als Du in Deinem ganzen Leben. Alle, alle Menschen haben mich verwöhnt, alle waren zu mir gütig – nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nur Du, nur Du hast mich nie erkannt!

Mein Kind ist gestorben, unser Kind – jetzt habe ich niemanden mehr in der Welt, ihn zu lieben, als Dich. Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich niemals, niemals erkennst, der an mir vorübergeht wie an einem Wasser, der auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht und mich lässt in ewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu halten, Dich, den Flüchtigen[100]100
  flüchtig – неуловимый, мимолётный


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, in dem Kinde. Aber es war Dein Kind: über Nacht ist es grausam von mir gegangen, eine Reise zu tun, es hat mich vergessen und kehrt nie zurück. Ich bin wieder allein, mehr allein als jemals, nichts habe ich, nichts von Dir – kein Kind mehr, kein Wort, keine Zeile, kein Erinnern, und wenn jemand meinen Namen nennen würde vor Dir, Du hörtest an ihm fremd vorbei. Warum soll ich nicht gerne sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weitergehen, da Du von mir gegangen bist? Nein, Geliebter, ich klage nicht wider Dich, ich will Dir nicht meinen Jammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. Fürchte nicht, dass ich Dich weiter bedränge – verzeih mir, ich musste mir einmal die Seele ausschreien in dieser Stunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt. Nur dies eine Mal musste ich sprechen zu Dir – dann gehe ich wieder stumm in mein Dunkel zurück, wie ich immer stumm neben Dir gewesen. Aber du wirst diesen Schrei nicht hören, solange ich lebe – nur wenn ich tot bin, empfängst Du dies Vermächtnis von mir, von einer, die Dich mehr geliebt als alle und die Du nie erkannt, von einer, die immer auf Dich gewartet und die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Du mich dann rufen, und ich werde Dir ungetreu sein zum ersten Mal, ich werde Dich nicht mehr hören aus meinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein Zeichen, wie Du mir nichts gelassen; nie wirst Du mich erkennen, niemals. Es war mein Schicksal im Leben, es sei es auch in meinem Tod. Ich will Dich nicht rufen in meiner letzten Stunde, ich gehe fort, ohne dass Du meinen Namen weißt und mein Antlitz. Ich sterbe leicht, denn Du fühlst es nicht von ferne. Täte es Dir weh, dass ich sterbe, so könnte ich nicht sterben.


Ich kann nicht mehr weiter schreiben … mir ist so dumpf im Kopfe … die Glieder tun mir weh, ich habe Fieber … ich glaube, ich werde mich gleich hinlegen müssen. Vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht ist mir einmal das Schicksal gütig, und ich muss es nicht mehr sehen, wenn sie das Kind wegtragen… Ich kann nicht mehr schreiben. Leb wohl, Geliebter, leb wohl, ich danke Dir … Es war gut, wie es war, trotz alledem …ich will Dirs danken bis zum letzten Atemzug. Mir ist wohl: ich habe Dir alles gesagt, Du weißt nun, nein, Du ahnst nur, wie sehr ich Dich geliebt, und hast doch von dieser Liebe keine Last[101]101
  Last, f – груз, бремя


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. Ich werde Dir nicht fehlen – das tröstet mich. Nichts wird anders sein in Deinem schönen, hellen Leben … ich tue Dir nichts mit meinem Tod … das tröstet mich, Du Geliebter.

Aber wer … wer wird Dir jetzt immer die weißen Rosen senden zu Deinem Geburtstag? Geliebter, höre, ich bitte Dich … es ist meine erste und letzte Bitte an Dich … tu mir es zuliebe[102]102
  etw. zuliebe tun – делать что-л. из любви


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, nimm an jedem Geburtstag – es ist ja Tag, wo man an sich denkt – nimm da Rosen und tu sie in die Vase. Tu’s, Geliebter, tu es so, wie andere einmal im Jahre eine Messe lesen lassen für eine liebe Verstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott mehr und will keine Messe, ich glaube nur an Dich, ich liebe nur Dich und will nur in Dir noch weiterleben … ach, nur einen Tag im Jahr, ganz, ganz still nur, wie ich neben Dir gelebt … Ich bitte Dich, tu es, Geliebter … es ist meine erste Bitte an Dich und die letzte … ich danke Dir … ich liebe Dich, ich liebe Dich … lebe wohl…


Er legte den Brief aus den zitternden Händen. Dann sann er lange nach. Verworren[103]103
  verworren – беспорядочный, запутанный


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tauchte irgendein Erinnern auf an ein nachbarliches Kind, an ein Mädchen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern, undeutlich und verworren. Schatten strömten zu und fort, aber es wurde kein Bild. Er fühlte Erinnerungen des Gefühls und erinnerte sich doch nicht. Ihm war, als ob er von all diesen Gestalten geträumt hätte, oft und tief geträumt, aber doch nur geträumt.


Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf dem Schreibtisch. Sie war leer, zum ersten Mal leer seit Jahren an seinem Geburtstag. Er schrak zusammen[104]104
  zusammen schrecken – вздрагивать


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: ihm war, als sei plötzlich eine Tür unsichtbar aufgesprungen, und kalte Zugluft ströme aus anderer Welt in seinen ruhenden Raum. Er spürte einen Tod und spürte unsterbliche Liebe: innen brach etwas auf in seiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare körperlos und leidenschaftlich wie an eine ferne Musik.

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