Текст книги "Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах"
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Жанр: Прочая образовательная литература, Наука и Образование
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ZUSAMMENFASSUNG
Revolution des Geistes: Genie als Schöpfer der modernen Kultur
Nach Hannah Arendt ist die Revolution ein wesentliches Symptom der neuzeitlichen Geschichte und der modernen Subjektivität. Der Mensch der Moderne ist Revolutionär, der die Welt „nach seinem Bilde“ umbilden will. Im Unterschied zu der politischen Revolution in Frankreich vollzog sich die Revolution in Deutschland hauptsächlich in der Sphäre des Geistes – in der Philosophie, Literatur und Musik. Zum Subjekt der geistigen Revolution und zum Schöpfer der modernen Kultur wurde das Genie. Im Artikel werden die wesentlichen Züge der Genieidee am Beispiel von Hölderlins „Rhein“-Hymne erläutert.
DÄMON UND DÄMONISCHES
Zu ontologischen Vorstellungen im späten goetheschen Weltbild
I. V. KUMICHEV
(Kaliningrad)
0. Vorbemerkungen
Die beiden66
Im Goethe-Handbuch findet sich nur der Begriff „Dämonisches“, der verschiedene Aspekte in sich einschließt [Dahnke, Otto 1998: 179–181]. Werner Danckert argumentiert, man dürfe den Individual-Daimon mit dem Dämonischen nicht gleichsetzen: „Unter ‚Daimon’ versteht Goethe ja das individuelle Gesetz der Monade. Das Dämonische hingegen wirkt durchaus elementarischkosmisch, als höchstes Gegenwesen dem Göttlichen gleich– (oder entgegen-) gestellt, als ein Reich übermenschlicher Elementar-Mächte, von denen das Individuum, die menschliche Monade, übergriffen wird“ [1951: 464]. Als unterschiedliche Kategorien begreift auch Gero von Wilpert den Dämon und das Dämonische [Wilpert 1998: 1057]. Aus der jüngeren Forschung soll hier das Buch von Jana Jäger [2013] genannt werden, in dem der Dämon als das individuelle Gesetz vom Dämonischen als Fatum und grenzenloser Zufälligkeit abgegrenzt wird. Hans Joachim Schrimpf unterscheidet sogar zwischen dem Dämon, dem Dämonischen und den Dämonen [1956: 303].
[Закрыть] Konzepte des späten goetheschen Weltbildes – das Dämonische und der Dämon (Daimon) – entsprechen auf den ersten Blick oppositionellen Denkfiguren: die erste – der Revolution, die zweite – der Evolution. Wenn der Dämon, „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ („Urworte. Orphisch“ [Goethe 1988, I: 359]), als individuelles Entwicklungsgesetz verstanden werden könne, zeige sich das Dämonische nicht als Gesetz, als die sich entwickelnde Form, sondern als Widerspruch und scheine „mit den notwendigen Elementen unseres Daseins willkürlich zu schalten“ („Dichtung und Wahrheit“ [Goethe 1988, X: 175]).
Goethe spricht vom dämonischen Charakter der Französischen Revolution und des Erdbebens von Lissabon. Er sagt Eckermann, das Dämonische manifestiere sich sowohl in den Begebenheiten, „die wir durch Vernunft und Verstand nicht aufzulösen vermögen“, als auch „in der ganzen Natur, in der unsichtbaren, wie in der sichtbaren“ (2. März 1831 [Eckermann 1987: 439]). Die Verwandtschaft der Revolution mit einem Naturprozess unterstreicht Goethe in „Maximen und Reflexionen“: „Jede Revolution geht auf Naturzustand hinaus, Gesetz– und Schamlosigkeit“ [Goethe 1988, XII: 380]. Wie kann aber die Natur mit der Gesetzlosigkeit der Revolution in Verbindung stehen? „Naturzustand“ bedeutet für Goethe hier das Hinausgehen des Menschen über die Grenzen des Verstandes und der Vernunft bzw. über die Grenzen der Ordnung, worin Goethe eine große Gefahr sah. Wo die Vernunft aufhört, die Situation zu kontrollieren, gewinnt das Dämonische sein Recht. In „Maximen und Reflexionen“ äußert sich Goethe [1988, XII: 379] so: „Es ist besser, es geschehe dir Unrecht, als die Welt sei ohne Gesetz. Deshalb füge sich jeder dem Gesetze“.
In der „Belagerung von Maynz“ (25. Juli) schrieb Goethe ebenfalls in diesem Sinn: „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen“ [1988, X: 391]. Hans-Jürgen Schings [2009: 62] bemerkt mit Recht, dass man, bevor man diese Aussage – sich über den Kontext hinwegsetzend – als Teil des typischen Diskurses des „Fürstendieners“ kennzeichne, zuerst präziser bestimmen müsse, was der Dichterfürst unter „Ungerechtigkeit“ und „Unordnung“ verstanden hat. Die Aussage Goethes bildet das Schlusswort der Erzählung von der Rettung eines in dem von deutschen Truppen wiedereroberten Mainz eingeschlossenen Revolutionärs, den die Menge zum Opfer ihrer Rache gewählt hat. Die nicht gelungene Selbstjustiz vor dem Quartier des Herzogs beschreibt Goethe als „Unordnung“, die er nicht ertragen kann – deswegen rettet Goethe den ehemaligen Feind. Doch der Volkszorn scheint ihm gerechtfertigt, Goethe nennt die Wut der Menge „höchst verzeihlich[]“ [Goethe 1988, X: 391]. Auch „das schrecklichste aller Ereignisse“, die Französische Revolution selbst, konnte Goethe als gerechtfertigt anerkennen;77
Im Gespräch mit Eckermann vom 4. Januar 1824 spricht Goethe auch von den „wohltätigen Folgen“ der Revolution, die erst später zu ersehen waren [Eckermann 1987: 510].
[Закрыть] sie hatte ihren Grund in der Zerstörung der Dämme, die die Flut des Volkszornes zurückhielten. Doch die Gesetzlosigkeit und die Unordnung, die sie zur Folge hatte, waren viel schrecklicher als die Ungerechtigkeit, gegen die das Volk aufgestanden war. Die Folgen der Unordnung – Tyrannei und Zerstörung – schienen Goethe das Schrecklichste. In einem der „Venetianischen Epigramme“ schreibt er:
Frankreichs traurig Geschick, die Großen mögen‘s bedenken;
Aber bedenken fürwahr sollen es Kleine noch mehr.
Große gingen zugrunde doch wer beschützte die Menge
Gegen die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann
[Goethe 1988, I: 180].
Die Unordnung, von der Goethe schreibt, die Entmachtung der Vernunft, zeigt sich auch in Begebenheiten anderer Art, die allerdings meist als Parallelen zu den revolutionären Vorgängen verstanden werden können. Es sind Begebenheiten, die im aufgeklärten Menschen leidenschaftliches Interesse an allem Mysteriösen und Geheimnisvollen wecken. Symptomatisch scheint hier die Figur Cagliostros, die Goethe im „Groß-Cophta“ mit der Erweckung des Dämons der Revolution verknüpft. Auch die geheimnisvollen Geschichten aus den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ heben den irrationalen und unvorhersehbaren Charakter der Revolution hervor [vgl. Conrady 1988: 109].
Das Dämonische erscheint den Menschen als Einbruch der unkontrollierbaren Zufälligkeit und zerstörerischer Kräfte, es ist aber paradoxerweise auch mit einem anderen Konzept des späten Goethe eng verknüpft, nämlich mit dem des Dämons. „Dämon“ bedeutet für Goethe die präformierte und unergründliche Ganzheit der menschlichen Individualität. Er stellt zugleich das Gesetz (also die Ordnung) dar, nach dem die Entwicklung des Individuums abläuft. Der Dämon wie auch das Dämonische wirken unabhängig vom menschlichen Willen und oft sogar gegen ihn. Der Dämon erscheint jedoch nicht als Zufälligkeit, sondern als Prinzip der Gestaltung (Bildung). Er verkörpert das Metamorphosenprinzip im Menschen, das Goethe als die Möglichkeit der Versöhnung von Prä– und Postformationsvorstellungen angesehen hat [Canisius 1998: 114]. Gerade die Metamorphosentheorie nimmt, wenn nicht genetisch, so doch typologisch die darwinsche Evolutionstheorie vorweg. Es gilt, das Verhältnis der Konzepte von Dämon und Dämonischem zu präzisieren, um den Widerspruch aufzulösen; denn wie kann man von der Verknüpfung zweier Konzepte sprechen, die gegensätzlichen Prinzipien zuzuordnen sind?
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das Verhältnis zwischen den widersprüchlichen Konzepten von Dämon und Dämonischem [vgl. Schulz 1993: 179] näher zu erläutern und die Frage zu beantworten, in welchem Sinn die Französische Revolution für Goethe etwas „Dämonisches“ war.
Im ersten Teil werde ich kurz auf das Problem der dämonischen Natur (d.h. der Persönlichkeit) eingehen. Im zweiten Teil wird die Gemeinsamkeit beider Konzepte in ihrem Anteil an der Entelechie näher erläutert. Abschließend wende ich mich nach einigen Bemerkungen zum Problem der Willensfreiheit in Goethes Weltbild der Frage zu, welchen Schluss die Vorstellungen von Dämon und Dämonischem zulassen und damit der Frage, inwiefern die Französische Revolution für Goethe dämonisch und unabwendbar war.
1. Das Problem der dämonischen Persönlichkeit
Man ist sich allgemein darüber einig, dass der Hauptunterschied zwischen dem Dämonischen und dem Dämon darin liegt, dass hinter dem ersten Konzept eine über– oder unpersönliche Macht steht, die von außen kommt und dem Individuum grundsätzlich fremd ist [Danckert 1951: 464; Kemper 2004: 448; Jäger 2013: 111]. Der Dämon dagegen ist allen Individuen als das individuelle Gesetz der Entwicklung eigen. Eine präzisere Beschreibung beider Konzepte sollte meines Erachtens von ihren Gemeinsamkeiten ausgehen. Einer der Punkte, in dem sich Dämon und Dämonisches überschneiden, ist Goethes Konzeption der dämonischen Persönlichkeit.
Das Dämonische manifestiert sich für Goethe in der Natur, in historischen Begebenheiten, aber auch in der Kunst und im einzelnen Menschen, genauer gesagt in bedeutenden und außerordentlichen Persönlichkeiten, deren Taten „durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen sind“ (siehe z. B. die Gespräche mit Eckermann vom 11. März 1828 und vom 30. März 1831 [Eckermann 1987: 461, 623–627]). Am besten lassen sich Goethes Gedanken über das Dämonische anhand von „Dichtung und Wahrheit“, seinen Gesprächen mit Eckermann und „Egmont“ nachvollziehen. Vom Dämon spricht Goethe in erster Linie im Gedicht „Urworte. Orphisch“. Das Gedicht wurde im Herbst 1820 in der Zeitschrift „Zur Metamorphose“ veröffentlicht und soll im Folgenden im Kontext von Goethes Morphologie betrachtet werden.
Forscher, die vor allem die Unterschiede zwischen den Konzepten von Dämon und Dämonischem stark machen, verwechseln die Konzepte manchmal miteinander. So betrachtet z. B. Jana Jäger [2013: 39, 42] die Figuren von Egmont und Werther als Beispiele für die Wirkung des Dämons. Ihr Hauptargument dafür ist das Unvermögen beider Figuren, ihrem Schicksal zu entrinnen und „anders zu handeln“. Egmont ist aber eine außerordentliche Persönlichkeit, die ihrem Schicksal weder entrinnen kann noch will. Jeder hat seinen eigenen Dämon, doch das Erhabene und das Tragische gerade dieser Figur liegt im absoluten Unvermögen, eine andere Handlungsweise zu denken, sowie in einer „Produktivität“ [Eckermann 1987: 630], einem Schaffensdrang, der sich, unabhängig von allen Hindernissen, allen Eingriffen des Schicksals realisiert.
Egmont ist gestaltet als eine jener außerordentlichen Persönlichkeiten wie Peter der Große, Napoleon, Carl August oder manche Künstler (Raffael, Mozart, Paganini), welche Goethe als dämonische Naturen oder dämonische Wesen ansah. Solche Persönlichkeiten verfügen in Goethes Denken über jene unbegrenzte und positive Schaffenskraft, durch die sie in der Lage sind, große Wirkungen hervorzurufen. Woher saber kommt diese Kraft, die Unruhe mit sich bringt und die menschliche Produktivität ins Unendliche drängt, sodass z. B. Carl August – laut Goethe – „sein eigenes Reich […] zu klein war und das größte ihm zu klein gewesen wäre“? (Gespräch mit Eckermann, 2. März 1831 [Ekkermann 1987: 438–439]) Diese Kraft ist ein Zeichen der Besessenheit,88
Wie z. B. bei Carl August, über den Goethe erzählt: „…Wenn ihn der dämonische Geist verließ und nur das Menschliche zurückblieb, so wusste er mit sich nichts anzufangen, und er war übel daran“ (Gespräch mit Eckermann vom 8. März 1831 [Eckermann 1987: 442]).
[Закрыть] sie kann nicht vom Innern des Menschen ausgehen oder vom inneren Gesetz der Entwicklung vorbestimmt sein. Sie kommt von außen und ist die Kraft des Dämonischen. Ich denke, hier wirkt das Dämonische mit dem Dämon zusammen: jenes aktualisiert und beschleunigt die Realisierung des zweiten. Goethe formulierte gegenüber Eckermann: „Des Menschen Verdüsterungen und Erleuchterungen machen sein Schicksal! Es täte uns not, daß der Dämon uns täglich am Gängelband führte und uns sagte und triebe, was immer zu tun sei. Aber der gute Geist verläßt uns, und wir sind schlaff und tappen im Dunkeln“ (Gespräch mit Eckermann vom 11. März 1828 [Eckermann 1987: 624]). Der Dämon bedeutet hier nicht Daimon, sondern das personifizierte Dämonische.
Am engsten verflochten sind Dämon und Dämonisches in der Musik. Im Gespräch mit Eckermann vom 8. März 1831 sagt Goethe, das Dämonische sei „in der Musik im höchsten Grade, denn sie steht so hoch, daß kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die alles beherrscht und von der niemand imstande ist, sich Rechenschaft zu geben“ [Eckermann 1987: 441]. Die Musik ist nach Goethe also dämonisch und kann deswegen uneingeschränkt wirken. Auch seien die Musiker unter den Künstlern am stärksten von der dämonischen Kraft bewegt. Darauf verweist Goethe im Gespräch mit Eckermann vom 2. März 1831: „Unter den Künstlern findet es [das Dämonische. – I. K.] sich mehr bei Musikern, weniger bei Malern. Bei Paganini zeigt es sich im hohen Grade, wodurch er denn auch so große Wirkungen hervorbringt“ [Eckermann 1987: 439]. Die Musik ist nach Goethe also dämonisch, sie wirkt durch einen Musiker, aber nicht aus ihm. Um ein Medium der Musik zu sein, müsse man aber auch musikalisches Talent haben. In einem früheren Gespräch (vom 14. Februar 1831) spricht Goethe vom musikalischen Talent: es zeige sich am frühesten, da „die Musik etwas Angeborenes, Inneres ist, das von Außen keiner großen Nahrung und keiner aus dem Leben gezogenen Erfahrung bedarf. Aber freilich, eine Erscheinung wie Mozart bleibt immer ein Wunder, das nicht weiter zu erklären ist.“ [Eckermann 1987: 421]. Im musikalischen Talent scheinen Dämon – da es sich um eine angeborene und innere Fähigkeit handelt – und Dämonisches vereinigt zu sein. Die Frage aber bleibt: was bedeutet es, eine dämonische Persönlichkeit zu sein? Ich meine, jeder ist mehr oder weniger dem Dämonischen unterworfen, doch nicht jeder ist eine dämonische Persönlichkeit in Goethes Verständnis. Auch zählte Goethe sich selbst nicht zu den entsprechenden Personen: „In meiner Natur liegt es nicht“ – sagt Goethe – „aber ich bin ihm unterworfen“ [Eckermann 1987: 438]. Wie kann man aber etwas Dämonisches in seiner Natur haben, wenn das Dämonische selbst eine von außen wirkende und dem Individuum fremde Kraft ist? Hier stoßen wir vielleicht an das Fundament von Goethes Vorstellungen über den Dämon und das Dämonische, welches von mythologischem Denken geprägt ist und dadurch eine diskursive Auffassung jener Vorstellungen verhindert. Man kann vermuten, dass die Möglichkeit der produktiven Perzeption der dämonischen Persönlichkeit durch das Dämonische für Goethe im Wesen des Dämons liegt. Das Dämonische zeigt sich im Individuum als „Erleuchtung“ und Steigerung der Entelechie [vgl. Kemper 2004: 444]. Gerade dieser Begriff der Entelechie (zu Goethes Verständnis dieses Begriffs vgl. [Hilgers 2002: 82–139]), der sowohl für das Dä-monische wie auch für den Dämon von Bedeutung ist, könnte das Zusammenwirken beider näher erklären.
2. Dämon – Entelechie (Monade) – Dämonisches
Aristoteles bringt in der „Metaphysik“ die Begriffe der energeia (ἐνέργεια) und entelecheia (ἐντελέχεια) miteinander in Verbindung, da er beide zum Bereich der Wirklichkeit rechnet und erklärt, die energeia sei eher der Vorgang, die Aktualisierung im Seienden und somit das Streben nach der vollendeten Wirklichkeit (entelecheia) (vgl. Aristoteles, Metaphysik IX, 3, 1047a 30–35 [Аристотель 1976: 238] bzw. Metaphysik, IX, 8, 1050a 20 [Аристотель 1976: 246]). „Die Entelecheia steuert die Verwirklichung eines im Seienden angelegten Vermögens. Als Ausgang und Ziel der Bewegung bewirkt sie die Realisation der angestrebten Form. In diesem Sinne kann das Zusammentreffen von Vorgang und Zustand der Verwirklichung als Entelechie bezeichnet werden“ [Hilgers 2002: 18]; somit lässt sich die Entelechie auch als wichtige Parallele zu Goethes Begriff der Metamorphose sehen, denn gerade die Metamorphosentheorie (Morphologie, Gestaltenlehre) war ein Versuch, Prä– und Postformationstheorie zu versöhnen [Canisius 1998: 109] und auf die Frage zu antworten: „Wie kann etwas geformt sein eh es ist“? „Die Morphologie ruht auf der Überzeugung, daß alles was sei sich auch andeuten und zeigen müsse“ führt Goethe in der kleinen fragmentarischen Schrift „Morphologie“ [1887–1919, II: 6/54] aus. Das Wesen, das Innere hat also einen Drang, sich als eine Gestalt auszudrücken. Der Begriff „Gestalt“ steht bei Goethe in erster Linie für etwas, das „nur für den Augenblick festgehalten werden kann“: „Gestalt ist ein bewegliches, ein werdendes, ein vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre“, so Goethe [1887–1919, II: 6/54]. Die Gestaltung meint jedoch die Entwicklung, die Metamorphose einer inneren Gestalt, die von der äußeren zu unterscheiden ist. Die „innere Gestalt“, schreibt Claus Canisius, „zeigt sich somit als ein Prozess der Verwandlung“ [2002: 101]. Deswegen könne sie auch als Entelechie verstanden werden, indem die äußere Gestalt, die man nur für den Augenblick festhalten kann, den energeia-Aspekt ausdrücke. Meist setzt Goethe Entelechie mit dem Begriff der Monade gleich und verwendet den Ausdruck fast immer99
Die wichtige Ausnahme ist die Tonmonade.
[Закрыть] auf das Individuum bezogen1010
So im Gespräch mit Eckermann vom 3. März 1830: „Wir reden fort über viele Dinge, und so kommen wir auch wieder auf die Entelechie. „Die Hartnäckigkeit des Individuums, und daß der Mensch abschüttelt, was ihm nicht gemäß ist“, sagte Goethe, „ist mir ein Beweis, daß so etwas existiere“. […] „Leibniz“, fuhr er fort, „hat ähnliche Gedanken über solche selbstständige Wesen gehabt, und zwar, was wir mit dem Ausdruck Entelechie bezeichnen, nannte er Monaden“ [Eckermann 1987: 374].
[Закрыть]. So sei auch der Dämon eine „geprägte Form“ bzw. Gestalt, aber eben eine, „die lebend sich entwickelt“, wie Goethe in „Urworte. Orphisch“ [Goethe 1988, I: 359] formuliert. Goethe fasst die Monade nicht als eine in sich geschlossene, sondern als eine lebendige, „bipolare Einheit auf, die aktives und passives Vermögen, Individuum und Welt, Subjekt und Objekt in sich vereint“ [Hilgers 2002: 149]. Die lebendige Entwicklung besteht im Ausdehnen ins Objekt und dem Zusammenziehen ins Subjekt, die beide eine Einheit bilden und trotzdem nicht identisch sind.1111
Als repräsentativ erscheinen hier die Überlegungen Goethes innerhalb seiner „Tonlehre“ sowie die, die er im Briefwechsel mit Schlosser darlegte. Vgl.: „…der Gesang das Subjekt der Musik, die Musik das Objekt des Gesangs, und so wiederum beide eine Monas“ [Dreyer 1985: 25].
[Закрыть] Ein Schlaglicht auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt in der Monade wirft die Stelle eines Briefes von Goethe an Schlosser vom 19. Februar 1815, wo Goethe Schlossers Annahme widerspricht, das Subjekt sei wie der Mollton in der Musik, „der Natur fernste“, da es wie jener „das Gemüth am entschiedensten gegen die Natur kehrt“ (Schlosser an Goethe, 11. Februar 1815 ([Dreyer 1985: 154]):
a ) In der Natur ist alles was im Subjekt ist.
y ) und etwas drüber.
b ) Im Subjekt ist alles was in der Natur ist.
z ) und etwas drüber.
b kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht der Welt und unser Lebenskreis, in den wir gewiesen sind.1212
Goethes Brief an Schlosser vom 19. Februar 1815 [Dreyer 1985: 155]. Außerdem: „Alles, was im Subjekt ist, ist im Objekt, und noch etwas mehr. Alles, was im Objekt ist, ist im Subjekt, und noch etwas mehr. Wir sind auf doppelte Weise verloren oder geborgen: Gestehn wir dem Objekt sein Mehr zu, pochen wir auf unser Subjekt.“ („Maximen und Reflexionen“ [Goethe 1988, XII: 436])
[Закрыть]
Y und z sind diskursiv nicht erfassbar, doch gerade ihr Verhältnis bestimmt den Zusammenhang zwischen dem individuellen Gesetz und der Weltordnung innerhalb einer Monade. Das Inkommensurable in der Natur sowie im Menschen lässt sich, so Goethe in seiner Schrift „Versuch einer Witterungslehre“, nur „im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen“ [Goethe 1988, XII: 305] betrachten – also als etwas Werdendes, Vergehendes, sich Verwandelndes. Die Konzepte von Dämon und Dämonischem scheinen y und z insoweit zu ähneln, als Goethe mit ihnen ebenfalls versucht, das Unbegreifliche zu erfassen.
3. „…Gegen das Dämonische recht zu behalten suchen“: die letzte Freiheit des Menschen
Das Bild der prästabilierten Harmonie, wonach das Innere sich durch die Wirkung der „Weltregierung“ erhöht und anregt, zerbricht an den konkreten Erfahrungen Goethes: den Erfahrungen der Gräuel der Revolution, der Besatzung, des Todes enger Vertrauter, von Ungerechtigkeit, die sich durch Gesetz und Ordnung nicht mehr ohne weiteres rechtfertigen lassen. Goethe war weder Utopist noch Optimist. Das Bild hat darum auch eine andere Seite: Der kleine Mensch ist eingeklemmt zwischen dem Gesetz seiner unbekannten Individualität und dem inkommensurablen Gesetz der Welt, das sich auch als ungeheure Katastrophe offenbaren kann, sodass das zweite Gesetz sich nur durch das erste, unbekannte ahnen lässt. Bleibt in dieser Welt damit überhaupt noch Platz für freies Handeln?
Wenn Goethe sich auch vom Dämonischen leiten lässt, so bedeutet das keineswegs Selbstvergessenheit oder die Selbsthingabe an den Willen höherer Kräfte. Vielmehr behauptet er, der Mensch könne und müsse auch angesichts des Dämonischen frei handeln – natürlich in einem bestimmten Rahmen: er sei also verantwortlich für die Verwirklichung seiner inneren Regungen.1313
„Um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muß man auch eine sein“ (Gespräch mit Eckermann vom 1. September 1829 [Eckermann 1987: 347]).
[Закрыть] Am 18. März 1831 äußerte Goethe gegenüber Eckermann: „Nur muß der Mensch […] auch wiederum gegen das Dämonische recht zu behalten suchen, und ich muß in gegenwärtigem Fall dahin trachten, durch allen Fleiß und Mühe meine Arbeit so gut zu machen, als in meinen Kräften steht und die Umstände es mir anbieten“ [Eckermann 1987, 450–451]. Etwas früher (am 11. März 1828) spricht Goethe von zwei Arten der Produktivität: in der ersten vereinigten sich Dämon und Dämonisches, die zweite aber bleibe dem Menschen überlassen:
Jede Produktivität höchster Art […] steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. […] Es ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es beliebt, und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe. In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten […].
Sodann aber gibt es jene Produktivität anderer Art, die schon eher irdischen Einflüssen unterworfen ist und die der Mensch schon mehr in seiner Gewalt hat, obgleich er auch hier immer noch sich vor etwas Göttlichem zu beugen Ursache findet. In diese Region zähle ich alles zur Ausführung eines Planes Gehörige, alle Mittelglieder einer Gedankenkette, deren Endpunkte bereits leuchtend dastehen; ich zähle dahin alles dasjenige, was den sichtbaren Leib und Körper eines Kunstwerkes ausmacht [Eckermann 1987: 630–631].
Die letzte Verwirklichung also, die Verkörperung, bleibt jedoch in der Gewalt des Menschen und hier kann dieser auch „gegen das Dämonische recht zu behalten suchen“. Wenn er auf seine einzig mögli-che Freiheit verzichtete, geriete er unter den Bann der Dämonen, die ebenfalls vom Dämon und vom Dämonischen zu unterscheiden sind. Die Dämonen, die man, im Gegensatz zur Entelechie des Dämons, als Wille interpretieren kann, drücken sich in den (auch kollektiven) Affekten aus, die den Menschen seiner letzten Freiheit berauben. So spricht Goethe von Egoismus und Neid, die „als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben“1414
Gespräch mit Eckermann vom 25. Februar 1824, gesagt anlässlich der Revolution [Eckermann 1987: 83].
[Закрыть], vom Dämon der Hypochondrie (Gespräch mit Eckermann vom 12. März 1828) [Eckermann 1987: 642], vom Gefühl der Schmach, das die deutsche Nation „als etwas Dämonisches ergriffen“ habe (Gespräch mit Eckermann vom 14. März 1830) [Eckermann 1987: 679], und vom Dämon der Revolution (Gespräch mit Kanzler von Müller vom 5. Januar 1831) [Goethe 1887–1919, V: 8/1]). „Aber das ist auch eben das Schwere“, sagt Goethe zu Eckermann am 2. April 1829, „daß unsere bessere Natur sich kräftig durchhalte und den Dämonen nicht mehr Gewalt einräume als billig“ [Eckermann 1987: 311]. Das Hinge-ben an die Dämonen ist das, wodurch eine Unordnung gestiftet wird, die laut Goethe große Gefahr in sich birgt. Das Dämonische wirkt also als positive Tatkraft nur in der Person, nur wenn es der Verwirklichung der Individualität dient. In der Menge, z. B. bei revolutionären Ereignissen, wirkt es individuumsfeindlich und daher zerstörerisch. Es stellt also keinen Widerspruch dar, dass die Französische Revolution für Goethe dämonisch und zugleich Zeugnis unerlaubter Selbstvergessenheit und Verantwortungslosigkeit des Menschen und Anfang eines Zeitalters der Herrschaft des anonymen Willens war.
Literatur
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Kemper 2004 – Kemper D. „ineffabile“: Goethe und die Individualitäts-problematik der Moderne. München, 2004.
Schings 2009 – Schings H.-J. Kein Revolutionsfreund. Die französische Revolution im Blickfeld Goethes // Goethe-Jahrbuch. Bd. 126. 2009. S. 52–64.
Schrimpf 1956 – Schrimpf H. J. Das Weltbild des späten Goethe. Stuttgart, 1956.
Schulz 1993 – Schulz G. Chaos und Ordnung in Goethes Verständnis von Kunst und Geschichte // Goethe-Jahrbuch. Bd. 110. 1993. S. 173–184.
Wilpert 1998 – Wilpert G. v. Goethe-Lexikon. Stuttgart, 1998.
Аристотель 1976 – Аристотель. Сочинения: в 4 т. Т. 1. М., 1976.
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