Текст книги "Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах"
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Жанр: Прочая образовательная литература, Наука и Образование
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DIE RUSSISCHE FEBRUARREVOLUTION 1917 IM SPIEGEL DER DEUTSCHSPRACHIGEN ZEITUNG „PRAGER TAGBLATT“
VALERIJ SUSMANN
(Higher School of Economics, Nizhnij Novgorod)
Dieser Aufsatz untersucht die Berichterstattung der Prager deutschsprachigen Zeitung „Prager Tagblatt“ über die erste russische Revolution des Jahres 1917 (die s. g. „Februarrevolution“). In der sowjetischen Geschichtsschreibung wurden die Ereignisse in Petrograd im Februar und März 1917 als „bürgerlich-demokratische Februarrevolution“ in Russland bezeichnet. Man hat diese historische Erscheinung auch „Februar-Umsturz“ genannt. Das Wort „Umsturz“ hat in der gegenwärtigen russischen Politsprache negative Konnotationen. In der sowjetischen Geschichtsschreibung hat man die sozialistische Oktoberrevolution als „welthistorisches“ und durchaus positives Ereignis bewertet. Heute bezeichnet man umgekehrt die Oktoberrevolution als „Umsturz“. Die Februarrevolution wird heute positiv gedeutet und als welthistorisches Ereignis gesehen.
Für die Journalisten und Redakteure des „Prager Tagblatts“ waren die Ereignisse im Feber (so heißt dieser Monat im Prager Deutsch) 1917 eindeutig eine „Revolution“. Die Rezeption der russischen Februarrevolution in Prag war mannigfaltig. Im Folgenden interessiert vor allem, wie sie in der Prager deutschsprachigen Welt von 1917 aufgenommen wurde. Franz Kafka, Franz Werfel, Max Brod und andere Prager Autoren lasen und schätzten das „Prager Tagblatt“. Später wurde Max Brod zu einem wichtigen Autor dieser Zeitung und trug wesentlich zur Entwicklung ihres literarischen Feuilletons bei [Brod 2015].
Russland aus der Außenperspektive
Dieser Aufsatz unternimmt den Versuch, das damalige Russland mit den Augen der Prager Leser des Jahres 1917 zu sehen. Er konzentriert sich auf die Perspektive von außen und verzichtet strikt auf die russische Innenperspektive. Für die Rekonstruktion der Innenperspektive wären russische Publikationen, etwa die Zeitungen „Utro Rossiji“ oder „Novoje Wremja“ relevant. Diese Zeitungen werden im „Prager Tagblatt“ im Zusammenhang mit der Februarrevolution immer wieder zitiert.
Was macht diese Außenperspektive, diese fremde Auffassung der Februarrevolution, interessant? Es handelt sich um einen mitteleuropäischen Blick auf die Ereignisse in Russland. Diese Sicht ist wohl typisch für Prag, wie ein Vergleich mit der Einstellung des Erzählers des „Urteils“ nahelegt. Er berichtet von dem St. Petersburger Freund Georg Bendemann, der sich in der Fremde, in St. Petersburg, „nutzlos“ abarbeitet [Kafka 1989: 43]. St. Petersburg ruft in Kafkas Novelle Assoziationen mit politischer Unsicherheit, Ausbrüchen von menschlichen Leidenschaften und Krankheiten hervor. Der Freund aus St. Petersburg kann diese Stadt nicht verlassen, sonst geriete sein Geschäft ins Wanken. Aus dieser russischen Fremde kann man die alte Heimat nicht mehr verstehen. Die Entfernung ist gewaltig, die Fremde absolut. Entfernung und Entfremdung bestimmen auch die Russland-Auffassung im „Prager Tagblatt“ des Jahres 1917 und damit die Art, wie Russland von der deutschsprachigen, überwiegend jüdischen Mittelschicht in Prag wahrgenommen wurde.
Leser und Leserinnen des „Prager Tagblatts“ erhielten Informationen über Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und lokale Ereignisse. Das „Prager Tagblatt“ war außerdem eine Inseratenzeitung. Wichtig ist, dass ein gewisser Kreis, nämlich der Kreis der Bildungsschicht in Prag, das literarische Feuilleton als „Übersetzung“ des Politischen ins Literarische und Kulturelle schätzte.
Manchmal erschienen auch lyrische Texte im Feuilleton des „Prager Tagblatts“. Exemplarisch sei hier das Christus-Gedicht von Joseph Roth genannt (Prager Tagblatt Nr. 8 vom 25. Feber 1917). Der junge Roth verbindet darin die Gestalt von Jesus Christus mit dem Ersten Weltkrieg und der Revolution.
Christus
Oh Herr! – O damals litt ich nicht! —
Ich jauchzte über meine Wunden
Und durch den Flor der dunklen Stunden
Ging ich der Liebe Weg zum Licht – —
Doch jetzt durchwühlt mich diese Qual
der Brüder, die einander hassen:
Ich kann von meinem Kreuz nicht lassen
und sterbe täglich tausendmal…
Oh Herr! – Die Tage sind so rot,
weil sie in heißem Blute schwammen
und alle Nächte sind nur Flammen,
von deren Brand der Himmel loht – —
ich berge still mein Angesicht
und harre auf mein Auferstehen:
denn – Herr! – nun will ich wieder gehen
der Weltenliebe Weg zum Licht…
[Prager Tagblatt (PT). 25.02.1917. Unterhaltungs-Beilage Nr. 8]
Sensation verdrängt Interpretation
Politische Brisanz und Aktualität sind für jede Zeitung wichtig. Man bringt das Neueste und Sensationellste. Sensation verdrängt Interpretation. Die Neuigkeiten, the News, kommen meistens in rasendem Tempo. Jede Erklärung, jeder Kommentar braucht dagegen Ruhe und Abstand. Pro und Contra müssen abgewogen werden. Einfache Antworten weichen dann dem Uneindeutigen.
Die literarischen Qualitäten von Ironie und Wortwitz bestimmen in hohem Maße das Feuilleton der Zeitung „Prager Tagblatt“. Das Feuilleton war im „Prager Tagblatt“ als Interpretation der Sensationen zu lesen. Im Kontext des Ersten Weltkriegs war die erste russische Revolution 1917 für das offizielle Wien, Berlin und Prag nicht nur überraschend, sondern auch erfreulich. Später verstand man diese Ereignisse als Parallele zum eigenen nahen Zerfall.
Österreich-Ungarn war im Ersten Weltkrieg ein erklärter Gegner des russischen Zarenreiches. Dies prägte die Berichterstattung über die russische Februarrevolution auch im ansonsten als weitgehend objektiv geltenden „Prager Tagblatt“. Das literarische Feuilleton in dieser Zeitung stellte ein gewisses Gegengewicht dar und zeichnete sich durch komplexere Darstellungen aus, in die es politisch-historische Entwicklungen einbezog.
Gelegentlich wurden im „Prager Tagblatt“ auch Texte russischer Autoren veröffentlicht. Anton Tschechows „Unter Prischibejew“ etwa wirkt wie eine Art Interpretation der sensationellen Tagesereignisse. Die Novelle macht der Prager Leserschaft die Ereignisse der russischen Revolution begreifbar. Tschechows Novelle scheint sehr tief mit der russischen Revolution verbunden zu sein. Mit Tschechow erklärt man das, was sonst unverständlich bleibt.
Das „Prager Tagblatt“ als Quelle
Geographisch lag Prag 1917 an der Peripherie der deutschsprachigen Ökumene, des damaligen deutschsprachigen Kulturraums. Literarisch ist die Einordnung Prags in die Dichotomie von Peripherie und Metropole nicht so eindeutig möglich. Rilke, Brod, Kafka, Werfel, Grab, Natonek zeugen davon, dass das deutschsprachige Prag am Anfang des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt als kulturelles Zentrum erlebte, dessen baldiger Niedergang aber auch mit den Ereignissen von 1917 in Zusammenhang stand.
Das „Prager Tagblatt“ wurde von Heinrich Mercy (1826–1912) gegründet und erschien von 1876 bis 1939 [Nürnberger 2015: 434–435]. Thomas Steinfeld beschreibt diese Zeitung als „die bekannteste deutschsprachige Prager Zeitung“ und „eines der wichtigsten deutschsprachigen Blätter überhaupt […] und zwar vor allem wegen seines Feuilletons“ [Steinfeld 2015: 7]. Wie Max Brod in seinem „Roman einer Redaktion“ über das „Prager Tagblatt“ in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts schreibt, „war es ein ausgezeichnet informierendes, verlässlich gemachtes Blatt […] in einigen Beiträgen von gutem literarischen Niveau und fast ohne Kitsch“ [Brod 2015: 20]. Die Zeitung war liberal. Bekannt ist auch Friedrich Torbergs Charakterisierung der Redaktionskultur; er habe später „nie wieder eine so einzigartig aus Witz und Wachstum, aus Begabung und Können gemischte Atmosphäre“ erlebt [zitiert nach Steinfeld 2015, 10].
Darstellung der Februar-Revolution
Die Analyse der Ausgaben des „Prager Tagblatts“ vom Feber und März 1917 in Bezug auf die Darstellung Russlands zeigt, dass in der Zeitung ein mosaikartiges Bild des feindlichen, fernen Zarenreiches entworfen wurde. Anfang Feber 1917 war dieses Land für das Prager Publikum relativ unbedeutend. Wichtiger waren die Informationen über die damaligen Großmächte USA und Großbritannien.
In der Morgenausgabe des Blattes vom 02.02.1917 erschien aber auf der zweiten Seite ein Artikel über Russland und die Revolution. Diese Platzierung ist relevant, weil alles, was als neu und brisant angesehen wird, immer auf der ersten Seite untergebracht wird. Die Platzierung informierte über Rang und Rolle der Nachricht. Eine typische Seite-2-Nachricht war etwa der Artikel „Ein Brief über Regierung und Volk in Russland“ von Eleonora Reuss [PT 02.02.1917: 2]. Die damalige bulgarische Zarin Eleonora Reuss dankt dem amerikanischen Autor Sydney Whitman, der das Buch „Things to remember“ über Russland geschrieben hat. Reuss lobt den Autor für eine sehr persönliche Darstellung der Situation des russischen Volkes.
Die Berichterstattung über Russland schwankt zwischen dem persönlichen Erleben des Korrespondenten und einer angestrebten objektiven Darstellung der Begebenheiten. Es ist wichtig zu bemerken, dass die Korrespondenten des „Prager Tagblatts“ nicht nur Russland, sondern auch andere Regionen des Zarenreichs im Auge hielten. In der Ausgabe vom 10. Feber 1917 wird darüber berichtet, dass die Ukrainer gegen die Note der Entente protestierten [PT 10.02.1917: 3–4]. Die galizischen Ukrainer wehrten sich gegen die Angliederung an das russische Zarenreich; sie wollen ihren eigenen Staat. Hier klingt schon das Thema der Revolution an.
Die Ausgabe vom 13. Feber 1917 bringt eine Meldung über elf Arbeiter, die in St. Petersburg verhaftet worden waren. Sie gehörten einer revolutionären Partei an, „welche Russland in eine sozialdemokratische Republik umwandeln will“ [PT 13.02.1917: 2]. Diese Transformation Russlands vom Zarenreich in eine sozialdemokratische Republik wird am 13. Feber 1917 als vollkommen utopisch dargestellt.
In der Ausgabe vom 18. Feber 1917 wird das russische Thema abermals aufgegriffen. Es wird über die Aufdeckung einer Arbeiterver-schwörung berichtet. Der damals in Russland sehr bekannte Politiker Gutschkow verkündet „den weitgehenden Fortschritt der Revolutionierung Russlands“. „Die Kadettenabgeordneten treffen eingehendste Vorbereitungen zur Revolution“. Vielsagend ist hier das Wort „Revolutionierung“ [PT 18.02.1917: 10]. Etwas war in Russland in Bewegung geraten.
Ab Mitte Feber 1917 beginnt eine rasche „Russifizierung“ des „Prager Tagblatts“. Intensiv wird über das Thema der Verschwörung sowie über geheime Wege russischer Revolutionäre berichtet. „Geheime Verständigungswege und geheime Schriften werden eingehend verabredet“. Die Demokraten, heißt es, wollten mit dem Umsturz nicht mehr bis zum Kriegsende zu warten. „Das Signal sollten Massendemonstrationen gegen den Krieg bilden“, berichtet man im „Prager Tagblatt“ vom 18. Feber 1917. Die Schlüsselworte „Signal“ und „Massendemonstrationen“ sind gefallen. Es wird allmählich klar, dass die sich ankündigende Revolution das Potential entwickeln kann, enorme menschliche Massen in Bewegung zu setzen.
Die Ausgabe vom 21. Feber 1917 enthält einen kurzen Artikel über russische Lügen in Bulgarien. Der Korrespondent stützt sich dabei auf bulgarische Quellen und auf die russische liberale Zeitung „Utro Rossiji“. Der Propagandakrieg tobt. Nachrichten über Unruhen in Bulgarien werden in russischen Zeitungen gern gebracht. Der Berichterstatter betont sein Mitleid mit dem russischen Volk, „das man so gröblich über die Lage beim Feinde täuscht, um es leichter und bis zum letzten Tropfen, für die Fortsetzung eines hoffnungslosen Krieges bluten zu lassen“ [PT 21.02.1917: 8]. Der Artikel stellt das russische Volk als unwissend und betrogen dar; die Lage im Lande wird als sehr chaotisch beschrieben.
Am 24. Feber berichtet das „Prager Tagblatt“, dass der „bekannte russische Schriftsteller Alexander Amfiteatrow wegen eines Angriffs gegen den Innenminister Protopopow“, den er in einer russischen Zeitung veröffentlicht habe, aus Petersburg ausgewiesen worden sei [PT 24.02.1917: 2]. Hier verbinden sich zum ersten Mal auf den Seiten des „Prager Tagblatts“ Revolution, Literatur und Kultur. Später wird das literarische Feuilleton die politische Berichterstattung umrahmen und erklären. Die Tagesnachrichten berichten über das Geschehen, interpretieren es aber zu wenig.
Ab dem 27. Feber 1917 ändert sich die Darstellung Russlands im „Prager Tagblatt“. Ab jetzt stehen Artikel über Russland auf der Titelseite. Beispielsweise erscheint in der Ausgabe vom 27. Feber 1917 ein Artikel mit dem Titel „Die innere Gärung in Russland“. Die Situation im Lande wird als eine sehr dynamische dargestellt: die innere Lage Russlands sei in eine „zugespitzte Phase eingetreten“, heißt es in der Zeitung [PT 27.02.1917: 1].
Am 8. März 1917 meldet die Zeitung, sämtliche Petersburger Fabriken seien geschlossen [2]. Das Blatt vom 12. März berichtet außerdem über die Opposition in der Duma [PT 12.03.1917: 1]. Das „Prager Tag-blatt“ vom 12. März 1917 berichtet über Revolten in St. Petersburg, in der Stadt erschienen keine Zeitungen mehr. Am nächsten Tag berichtet das „Prager Tagblatt“ über die Petersburger Hungerrevolten: es habe 300-400 Opfer gegeben [PT 13.03.1917: 1]. Der Korrespondent vermutet, die Vorgänge seien „Nur ein Vorspiel größerer Unruhen“. In der Zeitung vom 13. März 1917 [5] heißt es: „In Moskau muss es ärger gewesen sein“. Am 14. März 1917 [1] wird über die Schließung der Petersburger Hochschulen berichtet. Es heißt weiter in der Abend-Ausgabe vom 14. März: „Petersburg ein Kriegsschauplatz. Die Arbeit ruht überall. Maschinengewehre in den Strassen. Nieder mit dem Zaren! Gebt uns den Frieden!“ [PT 14.03.1917, 13]. Am nächsten Tag titelt die Zeitung: „Schreckensregiment in Petersburg“ [PT 15.03.1917: 1].
Am Freitag, den 16. März 1917 erscheinen die Nachrichten über Russland auf der ersten Seite in Großbuchstaben. Die Informationen kommen direkt aus St. Petersburg und nicht aus zweiter Hand, wie es bis dahin üblich gewesen war. Berichterstattung über Russland aus Schweden, Dänemark oder anderen Drittländern genügt nicht mehr. Es wird nun als notwendig angesehen, eigene Journalisten als Augenzeugen in St. Petersburg zu haben. Der Korrespondent heißt K.-B. Er schreibt: „Die Revolution breitet sich aus“; „Panik in St. Petersburg“ [PT 16.03.1917: 1]. In derselben Ausgabe gibt es einen Artikel über die Französische Revolution.
Am 16. März berichtet die Zeitung außerdem: „Der Zar im Haupt-quartier“ [2]. In der Abend-Ausgabe folgen die nächsten Meldungen: „Der Zar hat abgedankt, Sein Bruder Regent“; „Miljukov, die Seele des Aufstandes“ [PT 16.03.1917: 11]. Am Samstag heißt es: „Die Revolution wird sozialistisch“ [PT 17.03.1917: 1]. Auf Seite 2 wird im Zusammenhang mit Italien auf die Ereignisse in Russland Bezug genommen: „Italien auch vor der Revolution?“ Russland wird als mögliches Modell für Europa ins Spiel gebracht. Weitere Artikel in der Zeitung tragen folgende Titel: „Wie der Zar in die Enge getrieben wurde“; „Der Kampf gegen den inneren Feind ist wichtiger als gegen den äusseren“; „Der Krieg kann nicht gewonnen werden“; „Ein Manifest des Zaren“; „England wollte zwischen dem Zaren und der Duma vermitteln“.
Am 18. März 1917 kommen folgende Neuigkeiten aus St. Petersburg: „Die Strassenkämpfe dauern fort. Plünderungen – Friedensdemonstrationen – Thronverzicht“ [PT 19.03.1917, 1]. „Revolutionsherrschaft gefestigt“. „Kein Kriegspathos der Revolution“. „Ein Arbeiterbefehl zur Meuterei. Die Soldaten sollen die Autorität der Offiziere und der Duma nicht anerkennen“. „Die anarchische Agitation wächst. – Öffentliche Reden gegen die Regierung. – Die Soldaten disziplinlos“. „Das Anschwellen der Revolution. Das Revolutionskabinett wackelt. – Finnland erklärt sich unabhängig. – Die Bauernerhebung“ [PT 21.03.1917: 1]. „Das Zarenpaar gefangen“. „Der Terror der Soldateska im Hinterland“ [PT 22.03.1917: 6]. „Der heilige Sinod entfernte die Gebete für die kaiserliche Familie aus der Liturgie“. „Brot, Frieden und Arbeit!“
Am 23. März 1917 [1] heißt es schließlich: „Die sozialistische Revolution will Friedensschluss“. Die Abend-Ausgabe vermeldet: „Die Zarin gefangen genommen“. Die Revolution in Russland hat gesiegt. Als Folgeerscheinungen dieses Sieges können neue Denkweisen festgestellt werden. Als Symptome dieser neuen Denkweisen werden hier eine Armee ohne Disziplin, revoltierende Arbeiter und Bauern verstanden.
Bald danach begannen Literatur und Kultur mit der Interpretation der Ereignisse. Im „Prager Tagblatt“ vom 24. März 1917 geht es wieder um Schriftsteller und ihre Positionen: „Auch Gorki fordert Frieden“ [PT 24.03.1917: 1].
Die Redakteure des „Prager Tagblatts“ schreiben über Chaos und den Verlust der Ehrfurcht vor der Autorität in Russland. Soldaten verweigern Offizieren die Gefolgschaft. In der Armee diskutieren Soldatenräte über Disziplin. Das Zarenpaar wurde verhaftet. Die Synode, Adeligen und Beamten treten gegen den Zaren auf. Diese Verschiebungen brauchen eine tiefere Erklärung, die nun im literarischen Kontext gesucht wird. Dieser Kontext wurde in der Ausgabe vom 25. März im Feuilleton skizziert, indem man Anton Tschechows Novelle „Unter Prischibejew“ in deutscher Übersetzung veröffentlichte. Der Text wirkte im Kontext der Februarrevolution als symbolische Kodierung der Begebenheiten und Ereignisse. Bei Tschechow fragt der Unter Prischibejew den Wachtmeister: „Du bist Polizeiwachtmeister und trittst gegen die Obrigkeit auf?“ Angesichts der jüngsten Ereignisse las sich dies wie eine Beschreibung der Februarrevolution: Guchkow, Miljukow, Tscheidze und andere „traten gegen die Obrigkeit auf“. Die Bauern und Soldaten folgten ihnen. Bei Tschechow sagt Unter Prischibejew: „Ich war empört, dass das Volk heutzutage in seinem Eigenwillen und Ungehorsam alle Grenzen überschreitet“ [PT 25.03.1917: 2–3; Krolop 2005: 19–52].
Das „Prager Tagblatt“ stellt die Februarrevolution 1917 als Überschreitung aller Grenzen dar. Die Zeitung unterließ aber eine einseitige Deutung. Ihre Berichterstattung stellt weder die Diagnose einer fatalen sozialen Krankheit, noch schließt sie auf einen positiven mentalen Umbruch nach einer Krise. Im kurzen Zeitraum, der für diesen Artikel berücksichtigt werden konnte, konzentriert die Zeitung sich darauf, möglichst tagesaktuell über die Ereignisse in Russland zu berichten. Für erste Versuche, die Bedeutung der Revolution einzuordnen, werden literarische Texte im Feuilleton vor dem Hintergrund der jüngsten Geschehnisse zur (Re-)Lektüre vorgelegt.
Literatur
Brod 2015 – Brod M. Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion. Göttingen, 2015.
Kafka 1989 – Kafka F. Gesammelte Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden / Hrsg. von Max Brod. Frankfurt a. M., 1989. S. 43.
Nürnberger 2015 – Nürnberger H. Nachwort // Brod M. Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion. Göttingen, 2015. S. 434–435.
Prager Tagblatt (PT). 25.02.1917. Unterhaltungs-Beilage. Nr. 8. S. 17.
Prager Tagblatt (PT). 02.02.1917. Morgen-Ausgabe. Nr. 31. S. 2.
PT 10.02.1917. Morgen-Ausgabe. Nr. 39. S. 3–4.
PT 13.02.1917. Morgen-Ausgabe. Nr. 42. S. 2.
PT 18.02.1917. Morgen-Ausgabe. Nr. 47. S. 10.
PT 21.02.1917. Nr. 50. S. 8.
PT 24.02.1917. Morgen-Ausgabe. Nr. 53. S. 2.
PT 27.02.1917. Morgen-Ausgabe. Nr. 56. S. 1.
PT 12.03.1917. Morgen-Ausgabe. Nr. 69. S. 1.
PT 13.03.1917. Morgen-Ausgabe. Nr. 70. S. 1.
PT 14.03.1917. Abend-Ausgabe. Nr. 71. S. 13.
PT 16.03.1917. Morgen-Ausgabe. Nr. 73. S. 1.
PT 16.03.1917. Abend-Ausgabe. Nr. 73. S. 11.
PT 17.03.1917. Morgen-Ausgabe. Nr. 74. S. 1.
PT 21.03.1917.Morgen-Ausgabe. Nr. 78. S.1.
PT 22.03.1917. Nr. 79. Morgen-Ausgabe. S. 6.
PT 24.03.1917. Nr. 81. Morgen-Ausgabe. S. 1.
PT 25.03.1917. Nr. 82. Morgen-Ausgabe. S. 2–3.
Krolop 2005 – Krolop K. Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur des expressionistischen Jahrzehnts // Krolop K. Studien zu Prager deutschen Literatur. Wien, 2005. S. 19–52.
Steinfeld 2015 – Steinfeld T. Vorwort // Brod M. Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion. Göttingen, 2015. S. 7.
LITERARISCHE MODERNE IM KRAFTFELD DER RUSSISCHEN REVOLUTION
ALEXEJ ŽEREBIN
(Russische Pädagogische A. Herzen-Universität, ST. Petersburg)
1890 verfasste Hermann Bahr ein Manifest, der in der Literaturgeschichte als Geburtsurkunde der Moderne gilt. Die Moderne, damals ein neues Modewort, steht auch im Titel des Aufsatzes. Der erste Abschnitt lautet:
Es geht eine wilde Pein durch diese Zeit und der Schmerz ist nicht mehr erträglich. Der Schrei nach dem Heiland ist gemein und Gekreuzigte sind überall. Wir steigen ins Göttliche oder wir stürzen, stürzen in Nacht und Vernichtung – aber Bleiben ist keines. Dass aus dem Leide das Heil kommen wird und die Gnade aus der Verzweiflung, dass es tagen wird nach dieser entsetzlichen Finsternis und dass die Kunst einkehren wird bei den Menschen – an diese Auferstehung, glorreich und selig, ist der Glaube der Moderne [Bahr 1981: 189].
Man könnte fragen, ob man diesen Text dem Revolutionsdiskurs zuordnen darf. Man erinnere sich etwa an „Die Räuber“ von Schiller, geschrieben 1781 – „in tyrannos“. Ist man berechtigt, „Die Räuber“ auf die Französische Revolution zu beziehen? Die französische Nationalversammlung hatte es, wie bekannt, nicht bezweifelt, als sie Schiller die Ehrenbürgerschaft verliehen hatte. Dürfen aber auch wir davon ausgehen, dass die Spuren den Schritt vorprägen?
Die Theorie der Revolution – von Alexis De Tocqueville bis Berdjaev, Rosanov und weiterhin bis Albert Camus – hat unter den Ursachen der Revolution immer wieder auch den antizipierenden utopischen Diskurs genannt, für den die l’hommes de lettres die Verantwortung tragen, Philosophen und Künstler. „Ja, das sind wir, die dieses Feuer angezündet haben“, schreibt 1919 Vjačeslav Ivanov an Georgij Čulkov, den Erfinder des „Mystischen Anarchismus“.3030
«Да, сей огонь мы поджигали / И сердце правду говорит, / Хотя предчувствия не лгали, / Что сердце наше в нем сгорит» [Иванов 1987, IV: 81]
[Закрыть] Ein anderer großer Dichter der russischen Moderne – Alexander Blok – lässt zwei Jahre später, 1921 das Gedicht „Die Zwölf“(1918) mit einer Vision ausklingen: Zwölf Rotgardisten, zwölf bewaffnete Apostel der Revolution marschieren durch das nächtliche Petrograd; um sie Kälte, Elend, ferne Schüsse, lauernde Feinde; sie ahnen aber, dass ihnen voran, im Schneesturm fast unsichtbar, Jesus geht – mit roter Fahne und im Kranz aus weißen Rosen. In der Übersetzung von Paul Celan ist das Bild besonders beeindruckend [Blok 1977].
Bloks Bild lässt sich reibungslos in den Moderne-Diskurs einfügen, bringt genau das zum Ausdruck, was Hermann Bahrs Definition der Moderne meint: Den Glauben an die Auferstehung der gekreuzigten Menschheit. Jede messianische Revolution – so Hanna Arendt in ihrem Buch „On Revolution“ (1966) – sei „prepolitical“, bedeute eine Säkularisierung des postapokalyptischen Neuanfangs der Geschichte, dessen Symbol und Inkarnation Christus sei. Die Gewalt, die sie ausübe, sei das Mittel der Befreiung der Gesellschaft von der Involviertheit in die Kontinuität des historischen Daseins [Arendt 1966: 86]. Seit Ende des 19. Jahrhunderts begründete sich die russische Revolution mit einem religiös-utopischen Programm, das sie mit der gesamteuropäischen Moderne teilte – mit dem Programm der Verdiesseitigung des Göttlichen und der Heiligung des Diesseitigen. Seine deutsche Formel lautete: „Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der Anfang der modernen Geschichte. Was in gar keiner Beziehung auf’s Reich Gottes steht, ist in ihr Nebensache“ – so Friedrich Schlegel, Athenäumsfragment 222 [Schlegel 1978: 95].
Auf der politischen Ebene lassen sich die Französische Revolution von 1789 und die russische von 1917 nicht identifizieren. Was sie aber verbindet, ist ihr messianischer Charakter. Große messianische Revolutionen sind weitgehend mimetisch [Deinet 2001]. Wie der Schock der Französischen Revolution das ganze 19. Jahrhundert, so hat der Schock der Russischen Revolution das ganze 20. Jahrhundert geprägt.
Alles, was wir heute als ästhetische Moderne bezeichnen, bildete sich im Vorfeld, im Kraftfeld der russischen Oktoberrevolution, in jenem Gedankenraum zwischen Erwartung und Enttäuschung, die sie auslöste. Zentrale Texte der ästhetischen Moderne lassen sich entweder als hoffnungsvolle Vorahnung der russischen Revolution oder als eine verzweifelte Antwort auf ihre vergeblichen Verheißungen lesen. Das Ideal der europäischen, namentlich der deutschen Moderne wurde von unserer Revolution verleibt und bekrönt, aber auch entstellt und verraten.
Wie weit gehen die Spuren? Sind etwa Freuds ödipale Theorie oder expressionistischer Vater-Sohn-Konflikt Phänomene, die im Einflussbereich der Russischen Revolution zu verorten sind? Ein gutes Beispiel für den Konnex von Revolution, Religiosität und Kunst ist Franz Kafka. Laut Walter Benjamins Tagebuch-Aufzeichnung „will Brecht ihn [Franz Kafka] als den einzig echten bolschewistischen Schriftsteller gelten lassen, denn alles, was er beschreibt, macht Aussagen über etwas anderes, als sich selber“ [Benjamin 1978: 146]. Das ist eine dialektische Formel für die innere Wandlung, für die revolutionäre Sehnsucht nach Erlösung und Anderswerden.
Man kennt Kafkas Äußerung gegenüber Janouch aus dem Jahr 1920: „Die Menschen in Russland versuchen eine vollkommen gerechte Welt aufzubauen. Das ist eine religiöse Angelegenheit“ [Janouch 1968: 164]. Als Janouch erwiderte, dass der Kommunismus sich gegen die Religion wendet, soll Kafka geantwortet haben: „Er tut es, weil er selbst eine Religion ist“. Ein Pendant dazu bildet seine Kapitalismus-Kritik: „Alles ist abhängig, alles ist gefesselt. Kapitalismus ist der Zustand der Welt und der Seele“[Janouch 1968: 164].
Kafkas Gesamtwerk ließe sich als ein Dialog mit der Russischen Revolution begreifen, als eine antizipierende Vermittlung ihrer Inhalte und Problematik. Wie bekannt, muss man in der Kunst nicht unbedingt unmittelbar über Revolution sprechen, im ihr Ausdruck zu verleihen. Die Kunst als solche – der ästhetische Diskurs der Moderne – ist ein revolutionärer Akt des Widerstandes der Freiheit. Kafka wusste, dass seine Schriftstellerei eine strafbare Subversion ist, was ihn stolz, aber gleichzeitig unsicher machte. Er wusste auch, wie kurzfristig und atemberaubend das Leben im Medium der Literatur ist, genauso gefährlich wie im Medium der Revolution. Beides läuft auf die Vergeistigung und Vertextung des Lebens hinaus, beides setzt die Flucht aus dem sozialen Dasein ins metaphysische Sein voraus.
Ralf P. Criman hatte gute Gründe, sein Buch „Kafka und Katorga“ mit der These zu eröffnen: „Franz Kafka sah ein Gefängnis um sich, beabsichtigte dies zu sprengen, es ist ihm aber nicht gelungen“ [Crimann 1996: 9]. Dürfen wir sagen, dass Kafkas unsicheres Leben, oder dass sein unvollendetes und zur Vernichtung von ihm bestimmtes Werk gescheitert ist, oder dass die von dem Bolschewismus verratene Revolution gescheitert und missglückt ist? Zu gut weiß man aus der Kulturgeschichte, wie aus der eigenen Erfahrung: Es gibt Niederlagen, auf die man stolz sein kann, die eine Bereicherung sind, und es gibt Siege, die es sich zu schämen gilt.
„Die Ereignisse des letzten Jahrzehnts haben in allen Völkern die Vorstellung des Möglichen – im Guten wie im Schlimmen – unendlich erweitert“ [Paquet 1919: 23]. Mit diesen Worten kennzeichnet die russische Revolution Alfons Paquet in seinem Buch „Der Geist der russischen Revolution“ (1919), das nicht nur Kafka, sondern auch Robert Musil gelesen haben sollen. Ich kann nur sehr flüchtig Musils berühmte Konzepte erwähnen – „Möglichkeitssinn“ und „der andere Zustand“. Sie stellen in Frage genau das, was auch die Revolution in Frage gestellt hat: unsere Präferenz der empirischen Wirklichkeit vor dem Möglichen, vor dem Traumzustand. Die Parole der Studentenrevolte von 1968 „Alle Macht der Einbildungskraft“ geht auf die der Oktoberrevolution zurück – „Alle Macht an die Sovjets“. Musil ist eines der Bindeglieder.
Der Mann ohne Eigenschaften entgrenzt sich, befindet sich auf der Flucht aus den Grenzen seiner sozial bedingten Individualität. Er löst sich los und löst sich auf – ins Allmenschliche, das an keine Nation, Stand und Zeit gebunden ist. Damit vollzieht er den Akt der Revolution, die den Willen des Einzelnen und der Gesellschaft zum Anderswerden aktualisiert. Die Revolution lässt sich als den Einbruch des Noumenalen definieren, seine Erscheinung. Das individuelle wie das kollektive Subjekt der revolutionären Selbstzerstörung weist Ähnlichkeit mit dem transzendentalen Subjekt des deutschen Idealismus auf [Смирнов 2004б: 48].
Das transzendentale Subjekt kann aber nicht im Büro sitzen, auch nicht Fünfjahrpläne realisieren. Ohne Eigenschaften kann man nicht leben. Der absolute Allmensch ist lebensunfähig und nicht darstellbar, während die Kunst, wie die Revolution den Stoff der empirischen Wirklichkeit braucht, auch wenn diese nur hypothetisch ist. Daher mündet die Revolution in die Enttäuschung.
L’homme revolté versteht es zu sterben, nicht zu leben. „Diese Atheisten, schreibt Merežkovskij über die Revolutionäre der „Narodnaja Volja“, sind eigentlich Heilige. „Seit der Zeit der ersten christlichen Märtyrer ist niemand so gestorben, wie diese Leute sterben; sie fliegen in den Tod, wie Bienen auf Honig, hat von ihnen Tertullian gesagt. In Europa ist Politik eine Wissenschaft, bei uns – eine Religion“[Mereschkowski 1908: 4].
Ein Revolutionär, der nicht rechtzeitig stirbt, wird zum Verräter. Er muss den unausweichlichen zweiten Schritt machen, nach dem ersten der Befreiung und Entgrenzung. Das asoziale Reich der absoluten, bedingungslosen Freiheit muss wieder sozialisiert werden. Die Bewusstseinsform „Utopie“ wird mit eiserner Notwendigkeit durch die Bewusstseinsform der „Topie“ abgelöst. Das Wort „Topie“ meint eine relativ feste, stabile soziale Ordnung, die durch gewalttätige Sozialisierung des revolutionären Chaos‘ entsteht. Der Erfinder des Wortes „Topie“ war Gustav Landauer, den man in Russland gut kannte; Fedor Stepun verweist auf ihn in seinem Buch „Der religiöse Sinn der russischen Revolution“ (1931) [Степун 1999: 105].
In der Geschichte der Oktoberrevolution gab es eine Episode, die eine beinahe symbolische Bedeutung hat – der Kronstädter Matrosenaufstand von 1921. Die Matrosen von Kronstadt, die Elite der Revolution, revoltierten gegen die Diktatur der bolschewistischen Partei, unter dem Motto „Alle Macht den Sovjets“. Viele Kronstädter waren Anarchisten und jede Macht war ihnen verhasst. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, sehr grausam, auf Befehl und mit persönlicher Beteiligung von Lev Trotzki.
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