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Автор книги: Л. Зайонц


Жанр: Культурология, Наука и Образование


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Литература

Геллер Л. Органопроекция в поисках человекомира // Pavel Florenskij: Tradition und Modern. Peter Lang. Frankfurt am Main, 2001: 283—301.

Д – Священник Павел Флоренский. Детям моим. (Воспоминания прошлых дней. Генеалогические исследования. Из Соловецких писем. Завещание). М., 1992.

Каухчишвили Н. Флоренский и Грузия: aimieifigli – memori di giorni passati // Флоренский П. Воспоминания. Milano, 2002: 335—342.

Л – Лекция и Lectio // Первые шаги философии. (Из лекция по истории философии). Вып. 1. Сергиев-Посад, 1917: 2–7.

Лихачев Д.С. Литература – реальность – литература. Л., 1981.

О – Органопроекция // Свящ. Павел Флоренский. Соч. в 4 т. Т. 3. М., 1999: 402—421.

Оро – Флоренский Павел. Оро. Лирическая поэма. М., 1998.

П – Письма с Дальнего Востока и Соловков // Свящ. Павел Флоренский. Соч. в 4 т. Т. 4. М., 1998.

Флоренский Павел. Смысл идеализма. Сергиев-Посад, 1914.

KappE. Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehung-sgechichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten. Braunschweig, 1877.

Iris Bäcker (Bochum – Moskau)
Walter Benjamins “Moskau” als Vorbote seiner “Berliner Kindheit”

Москве я обязана прежде всего тем, что начала ухватывать в своей родной культуре нечто такое, что ранее было скрыто от моих глаз. Этот новый взгляд пришел ко мне благодаря во многом Татьяне Владимировне Цивьян. Знакомство с Татьяной Владимировной, длящееся уже более двадцати лет, обернулось для меня тем, что русская культура стала мне более близкой во всей, однако, ее чужеродности, и, наоборот, родная мне немецкая культура, которая представлялась прежде совершенно естественной, потеряла отчасти свою естественную естественность. Это непроизвольное отстранение от собственной культуры, задававшее теперь новую познавательную позицию, явилось для меня, так же как и для самого Беньямина, «самым несомненным, – говоря его словами, – прибытком пребывания в России». Именно эта позиция определила всю стратегию повествования его Берлинского детства. И если кто-то захочет пережить вслед за мной приключения рефлектирующей мысли Беньямина без риска упустить ее исключительно самобытный характер, то лучше всего это проделать, конечно же, на языке оригинала, которым так блестяще владеет Татьяна Владимировна.


Der Titel meines Beitrags verweist auf einen Zusammenhang zwischen Walter Benjamins Moskau-Erfahrung (soweit sich diese aus dem Moskauer Tagebuch (1926/1927) und dem Essay “Moskau” (1927) rekonstruieren lässt) und dem Erinnerungsbuch an die Berliner Kindheit um neunzehnhundert (1932—1938). Die Konstellation Moskau – Berlin mag überraschen, da Benjamins Berliner Kindheit traditionell als Fortsetzung der um das Berlin seiner Kindheit zentrierten Texte gelesen wird – beginnend mit den sechs kleinen Texten, die sich unter dem Titel “Vergrößerungen” in der Einbahnstraße (1928) finden, über die Rundfunkgeschichten für Kinder (1929—1932) bis hin zur Berliner Chronik (1932). Eine solche textkritische Lektüre der Berlin-Texte ist durchaus legitim, ja produktiv, da sie die fortschreitende Verdichtung der Benjaminschen Erinnerungen bis hin zur “Auszehrung des Faktischen” verfolgt.[178]178
  Konzentriert man die textkritische Lektüre auf die “eigentliche” Berliner Kindheit, so ergibt sich für den Zeitraum 1931—1938 eine Variantenreihe verschiedener Fassungen, beginnend mit der Berliner Chronik aus dem Jahr 1932 über die Vorabdrucke in der Frankfurter Zeitung in den Jahren 1932/1933 und die so genannte Gießener Fassung von 1934 bis hin zu der in der Pariser Bibliothèque Nationale aufbewahrten Fassung von 1938 als textgenetischem Fluchtpunkt (vgl. etwa Schöttker 2000, Schütz 1993, 2004 oder Witte o.J., von dem das Wort von der “fortschreitende[n] Auszehrung des Faktischen” [Witte o.J.: 1] stammt). Die Beobachtung, dass Benjamin zuletzt von Faktischem weitgehend absieht, lässt jedoch keineswegs den Schluss zu, dass die Welt der Berliner Kindheit nicht durch Dinge und an diese geknüpfte Ereignisse konstituiert sei. Geradezu umgekehrt erscheint im Gegenzug zur Auszehrung von Daten, Namen und “Physiognomien” die kindliche Welt der Dinge zusehends verdichtet. – Benjamin hat die Berliner Kindheit im Herbst 1935 in einem Brief an Gershom Scholem zu seinen “zerschlagenen Büchern” gezählt [zitiert nach den Anmerkungen zur Berliner Kindheit, GS, IV.2, 968]. “Zerschlagen” schien ihm das Projekt, nachdem eine Publikation in Deutschland und in Österreich gescheitert war. Unterdessen unterwarf er die Berliner Kindheit immer neuen Kürzungen, Streichungen und Umgruppierungen, so dass am Ende die dichtesten Miniaturen der Fassung letzter Hand stehen. Die erste Buchpublikation kam erst postum, mit der von Theodor W. Adorno eingerichteten so genannten Adorno-Rexroth-Fassung (1950) zu Stande. – Die Gesammelten Schriften enthalten die Einbahnstraße [GS, VI.1, 83–148, darin die “Vergrößerungen”, GS, VI.1, 113—116], die Rundfunkgeschichten für Kinder [GS, VII.1, 68–249], die Berliner Chronik [GS, VI, 465—519] und zwei Fassungen der Berliner Kindheit. Bei der Adorno-Rexroth-Fassung [GS, IV.1, 235—304] handelt es sich um eine rekonstruierte Fassung, während die Pariser Fassung letzter Hand eine von Benjamin selber festgelegte Reihenfolge der einzelnen Kapitel bietet [Berliner Kindheit (Fassung letzter Hand), GS, VII.1, 385—433]. Mit der 2000 herausgegebenen frühen Gießener Fassung [Benjamin 2000] liegt nunmehr eine weitere Fassung vor, die von Benjamin autorisiert wurde. Im Folgenden zitiere ich die Berliner Kindheit nach der Pariser Fassung letzter Hand unter Angabe der Kapitelüberschriften. – Zur Editionsgeschichte der Berliner Kindheit vgl. die Anmerkungen zur Berliner Chronik, GS, VI, 797—807, die Anmerkungen zur Berliner Kindheit, GS, IV.2, 964—986 sowie die Anmerkungen zur Berliner Kindheit (Fassung letzter Hand), GS, VII.2, 691—723.


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Mindestens ebenso sehr lohnt sich indes ein (auf die spätere Berliner Kindheit bezogener) Rückblick auf Benjamins Moskau-Texte, klingt doch hier das Thema “Kindheit” bereits an. Dabei hat man es nicht nur mit einem thematischen Gleichklang zwischen den Moskau– und den Berlin-Texten zu tun,[179]179
  Es ist nicht nur das Thema Kindheit, welches die Moskau– und Berlin-Texte miteinander verbindet. Es sind auch die Städte selbst, die für Benjamin eine gewisse Einheit bilden, eine Einheit von Gegensätzen: das proletarische Moskau vs. das bürgerliche Berlin. Das Moskauer Gemeinschaftsleben, in dem Existieren keine Privatangelegenheit, sondern Kollektivsache zu sein scheint, kontrastiert mit jener Vereinzelung, die Benjamin aus Berlin vertraut ist und die ihm vor dem Hintergrund seiner Moskau-Erfahrung besonders ins Auge fällt. Berlin ist in der Wahrnehmung des heimkehrenden Benjamin, in der Wahrnehmung dessen, “der aus Moskau kommt, eine tote Stadt. Die Menschen auf der Straße erscheinen einem ganz trostlos vereinsamt, jeder hat es sehr weit zum anderen und ist inmitten eines großen Stücks Straße vereinsamt” [Moskauer Tagebuch, GS, VI, 399].


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sondern auch mit einem textgenetischen Zusammenhang. Gerade in den Moskau-Texten geben sich die Vorzeichen jener Erzählstrategie zu erkennen, die dann für die Berliner Kindheit konstitutiv werden wird. Eben davon handelt das Folgende.

* * *

Die Berliner Kindheit ist ein Erinnerungsbuch, es ist der Versuch, “der Bilder habhaft zu werden, in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt” [Vorwort, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 385]. Mit diesen Worten kündigt Benjamin im Vorwort zur Pariser Fassung der Berliner Kindheit seine persönliche Geschichte eines Hineinwachsens in eine Kultur an, deren historische Unwiederbringlichkeit ihm schmerzlich bewusst war.[180]180
  Will man den Lebenslauf des zeitlebens unbehausten Benjamin verfolgen, so empfiehlt sich für ein solch biographisches Interesse der bebilderte Ausstellungsband Walter Benjamin 1892—1940 1990.


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Bei Benjamins literarischer Rückkehr in seine kindliche Vergangenheit verlieren die Berliner Interieurs, Häuser, Straßen und Orte das vertraute Gesicht. Daher werden in diesem Erinnerungsbuch auch so wenig architektonische Sehenswürdigkeiten, so wenig faktische kulturelle und soziale Gegebenheiten des Berlins um die Jahrhundertwende sichtbar, wie sie wohl für den Erwachsenen bedeutsam wären. Schon die Titel der einzelnen Kapitel – “Der Strumpf” findet sich in gleichberechtigtem Beieinander mit der “Siegessäule”, “Der Nähkasten” mit dem “Kaiserpanorama”, “Das Telefon” mit dem “Tiergarten” – verweisen auf das, was für das Kind die wirklichen Sehenswürdigkeiten sind.

Der erinnernde Benjamin besieht die Welt, wie es bei Szondi in der schönen Formulierung heißt, “mit dem zweifach fremden Blick: mit dem Blick des Kindes, das wir nicht mehr sind, mit dem Blick des Kindes, dem die Stadt noch nicht vertraut war” [Szondi 1978b, 296]. Um diese Formulierung positiv zu wenden: Benjamin erinnert nicht einfach die Stadt seiner Kindheit, sondern die Stadt als eine ganze Welt, so wie sie sich in ihren Wörtern, einzelnen Dingen, Wohnungen und Straßen, mit ihren gelegentlichen Sommerreisen und alljährlichen Sommerwohnungen dem Kind entdeckt.

Gegenstand der Schilderung ist weniger das Was der Entdeckung als vielmehr der Vorgang des Entdeckens selbst. Zu dem zentralen Ereignis der Berliner Kindheit wird dementsprechend, dass das Kind alle erdenklichen Türen öffnet, jederlei Art von Schwellen überschreitet, die verschiedensten Räume betritt – oder doch zumindest in deren Inneres hineinspäht, hineinlauscht oder hineintastet. Stets steht hinter diesen einzelnen realen Gesten eine allgemeine psychologische Geste, nämlich die Erkenntnis als Entdeckung, Enthüllung, Entschleierung, Enträtselung, Entzauberung etc. Dabei ist es ganz gleich,

– ob das Kind den Riegel der Ofentüre beiseite schiebt [Wintermorgen, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 397—398];[181]181
  Dieses und die folgenden Beispiele sollen das Öffnen von Türen, Übertreten von Schwellen und Betreten von Räumen veranschaulichen. Ich beschränke mich dabei auf Belege aus der dichtesten Pariser Fassung letzter Hand, an die sich weitere Belege aus den früheren Fassungen der Berliner Kindheit anschließen ließen. Vgl. etwa die Textstücke “Die Speisekammer” und “Schränke” aus der Adorno-Rexroth-Fassung [GS, IV.1, 250, 283—287]. – Von der “Poetik der Räume” in der Berliner Kindheit handelt das gleichnamige Unterkapitel in Schneider [Schneider 1986, 134—142]. Brüggemann rekonstruiert “Räume und Augenblicke” der Berliner Kindheit in ihrem kultur– und insbesondere in ihrem architekturgeschichtlichen Kontext [Brüggemann 1989].


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– ob es den Fingerhut “gegens Licht [hielt]”, so dass dieser “am Ende seiner finstern Höhlung [glühte], in der unser Zeigefinger so gut Bescheid wußte” [Der Nähkasten, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 425];

– ob es in die aus Kissen und Bettdecken gebildete Höhle des Bettes hineinkriecht [Das Fieber, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 402—406];

– ob sich die durch zwei Schwellen “doppelt verwahrte Erkerwohnung” an der Steglitzer Straße, Ecke Genthiner Straße, die “Kostbares in sich zu bergen hatte”, vor dem Kind “auftut” [Steglitzer Ecke Genthiner, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 400];

– ob in der großmütterlichen Wohnung im Blumeshof 12 eine Reihe von Räumen “sich eröffneten”, nämlich ein Spindenzimmer, ein anderes Hinterzimmer, ein drittes Hinterzimmer und als “wichtigster von diesen abgelegenen Räumen” die Loggia, die ihrerseits “den Blick auf fremde Höfe mit Portiers, Kindern und Leierkastenmännern freigab” [Blumeshof 12, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 412];

– ob das Kind auf der Suche nach Ostereiern mit einem Anspruch von Wissenschaftlichkeit “die düstere Elternwohnung als ihr Ingenieur [entzauberte]” [Verstecke, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 418];

– ob es sich – bereits jenseits der Geschlossenheit der bürgerlichen Interieurs – im “Innern” des Gartenpavillons in die Farben vertieft, ähnlich wie beim Tuschen, “wo die Dinge mir ihren Schoß auftaten, sobald ich sie in einer feuchten Wolke überkam” [Die Farben, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 424];

– ob aus der weihnachtlich geschmückten Stadt, “aus ihrem Innern”, mit dem Weihnachtsmarkt zugleich “noch etwas anderes hervor[quoll]: die Armut” [Ein Weihnachtsengel, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 420];

– ob sich am Winterabend “ein dunkles, unbekanntes Berlin” vor dem Kind “ausbreitete” [Winterabend, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 414];

– ob das Kind sich im Sommer “die Gegend, die im Schatten der königlichen Bauten lag, zu eigen machte” und mit der Pfauenfeder etwas sucht, “was mir die Insel ganz zu eigen gegeben, sie ausschließlich mir eröffnet hätte” [Pfaueninsel und Glienecke, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 408, 409];

– oder ob es sich in Glienecke “neue Territorien erobert”, indem es die “Scheidung” zwischen unkundigen und kundigen Radfahrern überwindet und in den Rang derer “rückt”, “die die Halle verlassen und im Garten radeln durften” [Pfaueninsel und Glienecke, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 409];

– ob es “ins Innere” des Kaiserpanoramas tritt und hier durch “je ein Fensterpaar in [die] schwach getönte Ferne” der Reisebilder sieht [Kaiserpanorama, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 389, 388];

– ob es beim Lesen in den Knabenbüchern “im Gestöber der Lettern den Geschichten nachzugehen [beginnt], die sich am Fenster mir [im Blick auf das Schneegestöber] entzogen hatten” [Knabenbücher, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 396];

– ob es schließlich “im Hintergrund” des Ladens für Schreibbedarf in der “Krummen Straße” die “anstößigen Schriften” ausfindig macht [Krumme Straße, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 415].

Zu der Reihe der entdeckten und angeeigneten Objekte – der Objekte, denen die Geste der Erkenntnis gilt – gehört etwa der Apfel, der sich nach seiner

“Reise durch das dunkle Land der Ofenhitze” bei dem Kind einfindet, “vertraut und doch verändert wie ein guter Bekannter, der verreist war” [Wintermorgen, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 398];

– dazu gehören die in den “dunklen Schlund” der Betthöhle hineingesprochenen Wörter, die “als Geschichten aus [der Stille] wiederkehrten” [Das Fieber, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 405];

– dazu gehört auch der “große Glaswürfel” im Salon der Erkerwohnung an der Steglitzer Ecke Genthiner, “der ein ganzes lebendiges Bergwerk in sich schloß, worin sich kleine Knappen, Hauer, Steiger mit Karren, Hämmern und Laternen pünktlich im Takte eines Uhrwerks regten” und – dies ist schon nicht mehr der evozierte Blick des Kindes, sondern derjenige des Schreibenden – dem “Kind des reichen Bürgerhauses noch den Blick auf Arbeitsplätze und Maschinen gönnte” [Steglitzer Ecke Genthiner, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 399].

Man könnte die Auflistung fortsetzen. So bietet der Blumeshof 12 dem Kind nicht nur Geborgenheit.[182]182
  “Hinter der Schwelle dieser Wohnung war ich geborgner als selbst in der elterlichen.” [Blumeshof 12, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 412]


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Die Wohnung birgt, nachdem das Kind sie auf ausgedehnten Streifzügen “durchwandert” hat, allerlei Entdeckungen.


Der Großmutter auf ihrem Erker guten Tag zu sagen, wo neben ihrem Nähkorb bald Obst und Schokolade vor mir stand, mußte ich durch das riesige Speisezimmer, um dann das Erkerzimmer zu durchwandern. [Blumeshof 12, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 413]


Aber “der erste Weihnachtsfeiertag erst zeigte, wozu denn eigentlich diese Räume geschaffen waren”: für die Bescherung. Und so wie sich das Kind nur schrittweise den Geschenken “im Hintergrunde des großen Zimmers” nähert, so nimmt es diese erst im schrittweisen Rückzug aus der Wohnung in Besitz.


Erst draußen auf der Diele, wo das Mädchen sie uns mit Packpapier umwickelte und ihre Form in Bündeln und Kartons verschwunden war, um uns an ihrer Statt als Bürgschaft ein Gewicht zu hinterlassen, waren wir ganz der neuen Habe sicher. [Blumeshof 12, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 413]


Außer den alltäglichen Süßigkeiten und der weihnachtlichen Bescherung enthält der Blumeshof 12 auch noch “Weltbürgerlichkeit”, und dies macht seine Einzigartigkeit aus. Über die Ansichtskarten, welche die Großmutter aus aller Welt sendet, vermittelt sich die Nähe der Ferne. Denn in all den bereisten Orten “stand die Luft von Blumeshof”, und


die große bequeme Handschrift, die den Fuß der Bilder umspielte, oder sich in ihrem Himmel wölkte, zeigte sie so ganz und gar von meiner Großmutter bewohnt, daß sie zu Kolonien des Blumeshof wurden. Wenn dann ihr Mutterland sich wieder auftat, betrat ich dessen Dielen so voll Scheu, als hätten sie mit ihrer Herrin auf den Wellen des Bosporus getanzt und als verberge sich in den Persern noch der Staub von Samarkand. [Blumeshof 12, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 411]


Die virtuellen Realitäten, die das Kind betrachtend, zuhörend, lesend konstruiert, sie sind vielleicht die faszinierendsten all seiner Entdeckungen – und für das Kind nicht weniger real als die alltäglichen Realitäten. In der Weise, wie die Ansichtskarten der Großmutter die Welt in sich einschließen, wie das Kaiserpanorama Sehnsucht erweckende Reisebilder enthält [Kaiserpanorama, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 388], wie aus dem Gedächtnis der Tante Lehmann nicht nur die vielen “Nester und Gehöfte der Mark, wo [die] Sippe einst verstreut gesessen hatte”, sondern auch die “Verschwägerungen, Wohnsitze, Glücks– und Unglücksfälle all der Schönfließ, Rawitschers, Landsbergs, Lindenheims und Stargards” aufleben [Steglitzer Ecke Genthiner, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 399], so bergen auch die “Knabenbücher” die Möglichkeit für den Entwurf einer inneren Welt, einer Welt, die sich im Übrigen nicht nach gängigen geographischen Parametern, sondern nach Parametern eines durcheinander geratenen Alphabets und der Alliteration ordnet:


Die fernen Länder, welche mir in ihnen [den Geschichten] begegneten, spielten vertraulich wie die Flocken [des Schneegestöbers draußen] umeinander. Und weil die Ferne, wenn es schneit, nicht mehr ins Weite, sondern ins Innere führt, so lagen Babylon und Bagdad, Akko und Alaska, Tromsö und Transvaal in meinem Innern. [Knabenbücher, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 396—397]


Dass die Entdeckung der mit allerlei Dingen gefüllten näheren Räume in aller Regel derjenigen der entlegeneren Räume der Stadt, ihrer Umgebung und der gesamten Welt vorausgeht, diese natürliche Ordnung tritt in der Anordnung der einzelnen Miniaturen der Berliner Kindheit außer Kraft.

Dies ist nicht verwunderlich, hat sich doch Benjamin in seinem Vorwort zur letzten Fassung der Berliner Kindheit gegen jegliche Erwartungen des Lesers an eine chronologische Narration verwahrt.[183]183
  “Das hat es mit sich gebracht, daß die biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen, in diesen Versuchen ganz zurücktreten.” [Vorwort, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 385] – Bereits in der Berliner Chronik möchte Benjamin seine frühesten Erinnerungen nicht als eine literarische Autobiographie im engeren Sinne verstanden wissen, denn diese “hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede.” [Berliner Chronik, GS, VI, 488]


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Bedeutsamkeit gewinnt für Benjamins Erinnerung statt einer “Kontinuität der Erfahrung” die “Tiefe der Erfahrung” des Kindes, welches die Dinge erkennt und sie buchstäblich entdeckt. Und diese Dinge, die sich vor Benjamin auftaten, als er noch Kind war, erweisen sich für ihn nun, da er das Kind nicht mehr ist, als ein Schlüssel zur Tiefendimension der vergangenen Erfahrung, in der die Zukunft bereits potentiell enthalten ist. Benjamin ergründet seine Kindheitserfahrung, um in den Dingen, die sich dem Kind entdeckten, Vorzeichen der Zukunft zu entdecken. Er unternimmt daher nicht einfach eine Reise in die Vergangenheit – so wie es das traditionelle Genre der Memoiren vorsieht —, sondern zugleich eine Reise in die Gegenwart, als diese noch Zukunft war.[184]184
  Bei Benjamin selbst findet sich eine Formulierung, die von einer gleichzeitigen Präsenz von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft spricht: “[…] und lange ehe diese Orte so verödet lagen, daß sie antiker als Thermen sind, trug dieser Winkel des Zoologischen Gartens die Züge des Kommenden. Es war ein prophetischer Winkel. Denn wie es Pflanzen gibt, von denen man erzählt, daß sie die Kraft besitzen, in die Zukunft sehen zu lassen, so gibt es Orte, die die gleiche Gabe haben. Verlassene sind es meist, auch Wipfel, die gegen Mauern stehn, Sackgassen oder Vorgärten, wo kein Mensch sich jemals aufhält. An solchen Orten scheint es, als sei alles, was eigentlich uns bevorsteht, ein Vergangenes.” [Der Fischotter, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 407] – Aber am prägnantesten formuliert vielleicht ein Satz aus der Einbahnstraße (1928), was den Impetus der Benja-minschen Erinnerung bestimmt. “Wie ultraviolette Strahlen zeigt Erinnerung im Buch des Lebens jedem eine Schrift, die unsichtbar, als Prophetie, den Text glossierte.” [Einbahnstraße, GS, VI.1, 142] – Auf die scheinbare Paradoxie des Benjaminschen Konzepts von Vergangenheit hat schon Szondi hingewiesen: “Benjamins Zeitform ist nicht das Perfekt, sondern das Futurum der Vergangenheit in seiner ganzen Paradoxie: Zukunft und doch Vergangenheit zu sein.” [Szondi, 1978a, 286]


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Von der Verwandlung früher Vorzeichen in spätere Zeichen gibt das Kapitel “Der Strumpf” eine besonders schöne Anschauung.[185]185
  Der Strumpf, BerlinerKindheit, GS, VII.1, 416—417. Nicht von ungefähr findet Benjamin für das aufschlussreiche Strumpf-Exempel in verschiedenen Texten Verwendung, so in seinem Essay “Zum Bilde Prousts” [GS, II.1, 310—324] und in den verschiedenen Fassungen der Berliner Kindheit. In der Adorno-Rexroth-Fassung verknüpft das Textstück “Schränke” [GS, IV.1, 283—287] eine ausführlichere Strumpf-Sequenz mit der Bücherschrank-Sequenz, die in der Pariser Fassung letzter Hand nicht mehr enthalten ist. Stattdessen nimmt hier die Strumpf-Sequenz das gesamte Kapitel “Der Strumpf” ein. – Zu einem textkritischen Vergleich der Varianten des Textes vgl. die Anmerkungen zur Berliner Kindheit (Fassung letzter Hand), GS, VII.2, 697—699.


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Der Text erzählt von der Kommode, gegen deren Widerstände das Kind so lange ankämpft, bis die Kommodentür ihm “entgegen schnappt”. Das Kind “schafft sich bis in ihren hintersten Winkel Bahn”, um von dort ein eingerolltes Strumpfpaar hervorzuholen und sodann in dessen Inneres “die Hand so tief wie möglich zu versenken”:


Es war “Das Mitgebrachte”, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt, was mich in ihre [der Kommode] Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust umspannt und mich nach Kräften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestätigt hatte, begann der zweite Teil des Spieles, der die Enthüllung brachte. Denn nun machte ich mich daran, “Das Mitgebrachte” aus seiner wollenen Tasche auszuwickeln. Ich zog es immer näher an mich heran, bis das Bestürzende sich ereignete: ich hatte “Das Mitgebrachte” herausgeholt, aber “Die Tasche”, in der es gelegen hatte, war nicht mehr da. [Der Strumpf, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 416—417]


Der Text führt vor, dass sich das Geheimnis des Strumpfes nicht mit einem Mal, sondern im Zuge einer serialen Bewegung entdeckt, in einem sich immer weiter verschachtelnden Raum, dessen Inneres sich in das Außen eines weiteren Inneren verwandelt. Das Eindringen in das Innere der Dinge und dessen Bloßlegung, d. h. dessen Entdeckung, verfügen als äußerlich verschiedene Handlungen über eine gemeinsame Sinnpotenz: die Erkenntnis. Das Kind findet im Strumpf, den es auswickelt, diesen selbst und die Lehre der Auswechselbarkeit von Außen und Innen. “Die Tasche”, die “Das Mitgebrachte” enthalten hatte, entpuppt sich als ihr eigener Inhalt.

Und diese kindliche Lehre wendet sich in die spätere poetologische Erkenntnis, dass die Form des Kunstwerkes sein Inhalt ist, und dass daher dessen Analyse in statischen Oppositionspaaren problematisch erscheint:


Nicht oft genug konnte ich die Probe auf diesen Vorgang machen. Er lehrte mich, daß Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes dasselbe sind. Er leitete mich an, die Wahrheit so behutsam aus der Dichtung hervorzuziehen wie die Kinderhand den Strumpf aus “Der Tasche” holte. [Der Strumpf, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 417]


Um nun die Probe aufs Exempel zu machen und Benjamins Lehre der Auswechselbarkeit von Form und Inhalt auf seinen eigenen Text der Berliner Kindheit anzuwenden: Benjamin, der sich seine Berliner Kindheit vergegenwärtigt, trägt (so wie “Die Tasche”, wie die Form) seine Vergangenheit (als “Das Mitgebrachte”, als Inhalt) in sich. Er entdeckt dieses “Mitgebrachte”, diesen Inhalt (seine Vergangenheit) in dem Sinne, dass er, als er noch Kind war, bereits die Gegenwart des Erwachsenen (als “Das Mitgebrachte”, als Inhalt) in sich trug (so wie “Die Tasche”, wie die Form). Anders gesagt: Der Benjaminsche gegenwärtige “Inhalt” erweist sich als die “Form”, die seine vergangene Kindheitserfahrung angenommen hat. Die persönliche Vergangenheit wird so zu einer Fortsetzung der Gegenwart.

Das, was Benjamin auf seiner Zeitreise (von der Gegenwart) in die Vergangenheit entdeckt, sind jene Bilder, die potentiell seine späteren Gedanken in sich bargen. Auf seiner Reise (aus der Vergangenheit) in die Gegenwart entdeckt er jene Gedanken, die von Anfang an (wenn auch unsichtbar) in den frühen Bildern geborgen waren. Benjamin sucht durch die Erinnerung nicht seine Berliner Kindheit selbst dingfest zu machen, sondern die Urbilder seiner Gedanken, so wie er diese in den Bildern der Kinderzeit entdeckt. Der erinnernde Benjamin ist jenen “Bildern und Allegorien” auf der Spur, die schon in der Luft seiner Kindheit lagen und “die über meinem Denken herrschen wie die Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens” [Loggien, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 386].

* * *

Es dürfte deutlich geworden sein, dass Benjamin mit der Berliner Kindheit ein Buch schreibt, wie man es sich verschiedener von traditionellen Memoiren kaum denken könnte – dort die Chronologie der Ereignisse, hier die Entfaltung des nichtlinearen Denkens. Benjamins Interesse gilt in der Berliner Kindheit vor allem der Welt im Moment ihrer Entdeckung, es gilt jenen Bildern, die auftauchten, als die Welt dem Kind noch unbekannt war und es die ersten Schritte unternahm, um sie zu entdecken. Ein Rückblick auf Benjamins Moskau-Texte legt nahe, dass diese ungewöhnliche und alles andere als triviale Erzählstrategie der Berliner Kindheit auf Benjamins Moskau-Erfahrung zurückgeht, als er, dem die unbekannte Moskauer Welt gegenüberstand, sich in die Lage eines Kindes versetzt fand.[186]186
  Der Moskau-Aufenthalt Benjamins dauert vom 6. Dezember 1926 bis zum 1. Februar 1927. Zu den Umständen der Reise vgl. das “Vorwort” von Gershom Scholem sowie die “Anmerkungen” von Gary Smith zum Moskauer Tagebuch [Benjamin 1980, 9–15, 177—206], vgl. außerdem die Anmerkungen zu den Denkbildern, GS, IV.2, 987—990 sowie Braese [Braese 1995]. Schlögel [Schlögel 1998] hat “Die Spur Walter Benjamins” in Moskau aufgenommen und in dem gleichnamigen Kapitel seines Buches Moskau lesen. Die Stadt als Buch die Topographie des Moskauer Tagebuches lesbar gemacht. – Während des Moskau-Aufenthaltes verfasst Benjamin ein Tagebuch, dessen Eintragungen vom 9. Dezember 1926 bis zum 1. Februar 1927 datieren. – Aus den Tagebucheintragungen entstehen mehrere Publikationen; die wichtigste ist der Essay “Moskau”, der in der Kreatur, Band 1 (1927), Heft 1, 71–102 erscheint. – Ich zitiere den Essay unter Angabe der Kapitelnummer nach den Gesammelten Schriften, wo er als eines der Denkbilder publiziert ist [“Moskau”, Denkbilder, GS, IV.1, 316—348].


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Bei seiner Ankunft im “asiatischen”[187]187
  Benjamin, der neben dem gemeinsam mit Franz Hessel verfassten Text über die Pariser “Passagen” auch das Pariser Städtebild “Paris, die Stadt im Spiegel. Liebeserklärungen der Dichter und Künstler an die ‚Hauptstadt‘ der Welt” (1929) [Denkbilder, GS, IV.1, 356—359] gezeichnet hat, der darüber hinaus die Städtebilder “Neapel” (1925) (gemeinsam mit Asja Lacis) [Denkbilder, GS, IV.1, 307—316], “San Gimignano” (1929) [Denkbilder, GS, IV.1, 364—366], “Marseille” (1929) [Denkbilder, GS, IV.1, 359—364] und Bergen (1930) [“Nordische See”, Denkbilder, GS, IV.1, 383—387] von seinen Reisen mitgebracht hat, dem viel gereisten Benjamin muss Moskau wie eine alles andere als europäische Stadt erschienen sein. In diesem Sinne versteht sich seine metaphorische Bezeichnung des Moskauer Umgangs mit der Zeit: “Im Zeitgebrauche wird daher der Russe am allerlängsten ‚asiatisch‘ bleiben.” [“Moskau”, 8, GS, IV.1, 329]


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Moskau 1926 trifft Benjamin auf eine Stadt, die ihm gänzlich unvertraut ist, und in die er sich allererst einleben muss. Im Bewusstsein seiner unvermeidlichen “europäischen” Befangenheit steuert Benjamin einer vorschnellen Konzeptionalisierung seiner Moskau-Erfahrung entgegen. Ihm geht es nicht um ein (“überlegenes”) konzeptionelles Verständnis, sondern um ein konkret-gegenständliches Verständnis (“dicht unter die Menschen und Dinge gemischt”) der fremden Stadt. Er braucht die Erfahrung der Nähe, die Erfahrung des körperlich-sinnlichen Kontaktes, um zu einem synästhetischen Bild von Moskau zu kommen.

Ein zentrales Verfahren Benjamins ist es dabei, sich “ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung [zu] schicken”. Diese synchrone Bewegung in und mit der Menge erfährt Benjamin nicht nur zu Fuß, wenn er sich ganz dem “Drängen und Sichwinden” der Passanten, deren “Serpentinengang” [“Moskau”, 1., GS, IV.1, 317, vgl. Moskauer Tagebuch, GS, VI, 313] überlässt, sondern auch in der Trambahn:


Beförderung in der Trambahn ist in Moskau vor allem eine taktische Erfahrung. Hier lernt der Neuling sich vielleicht am ersten ins sonderbare Tempo dieser Stadt und in den Rhythmus ihrer bäurischen Bevölkerung schicken. Auch wie einander technischer Betrieb und primitive Existenzform ganz und gar durchdringen, dies weltgeschichtliche Experiment stellt eine Trambahnfahrt im kleinen an. Die Schaffnerinnen stehen angepelzt auf ihrem Platz in der Elektrischen wie Samojedenfrauen auf dem Schlitten. Ein zähes Stoßen, Drängen, Gegenstoßen bei dem Besteigen eines meistenteils schon bis zum Bersten überfüllten Wagens geht lautlos und in aller Herzlichkeit vonstatten. (Nie habe ich bei solcher Gelegenheit ein böses Wort vernommen.) Ist man im Innern, so beginnt die Wanderung erst. Durch die vereisten Scheiben kann man nie erkennen, an welcher Stelle sich der Wagen gerade befindet. Erfährt man es, so hilft es noch nicht viel. Der Weg zum Ausgang ist durch einen Menschenkeil verrammelt. Da man nun hinten einzusteigen hat, aber vorn den Wagen verläßt, so hat man sich durch diese Masse durchzufinden. Meist spielt sich die Beförderung freilich schubweise ab; an wichtigen Stationen wird der Wagen beinahe ganz geräumt. Also ist selbst der Moskauer Verkehr zum guten Teil ein Massenphänomen. [“Moskau”, 9, GS, IV.1, 330—331, vgl. Moskauer Tagebuch, GS, VI, 389, 313]


Dank der Synchronisierung seiner Bewegung mit derjenigen der Stadt gewinnt Benjamin nicht nur eine optische, sondern vor allem eine rhythmische, “taktische”, ja taktile Erfahrung.[188]188
  Seine in der synchronen Bewegung mit der Stadt liegende Erkenntnisweise hat Benjamin in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 5. Juni 1927 kommentiert: “[Mein] Versuch einer Beschreibung dieses Aufenthaltes […] ist […] noch nicht erschienen. Dort habe ich es unternommen, diejenigen konkreten Lebenserscheinungen, die mich am tiefsten betroffen haben, so wie sie sind und ohne theoretische Exkurse, wenn auch nicht ohne innere Stellungnahme, aufzuzeigen. Natürlich ließ die Unkenntnis der Sprache mich über eine gewisse schmale Schicht nicht hinausdringen. Ich habe aber, mehr noch als an das Optische mich an die rhythmische Erfahrung fixiert, an die Zeit, in der die Menschen dort leben und in der ein ursprünglicher russischer Duktus mit dem neuen der Revolution sich zu einem Ganzen durchdringt, das ich westeuropäischen Maßen noch weit inkommensurabler fand als ich erwartet hatte.” [zitiert nach den Anmerkungen zu den Denkbildern, GS, IV.2, 989]


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Interessanter aber (im Blick auf die Erzählstrategie der Berliner Kindheit) ist, dass sich Benjamin auf dem einmal eingeschlagenen Weg in der Lage eines Kindes wiederfindet, sucht er sich doch in das unbekannte Moskauer Alltagsleben einzureihen und sich dessen Praxis anzueignen. Und tatsächlich macht die fremde Stadt den Reisenden in gewisser Weise zu einem Kind und “traut” ihn den Dingen erst allmählich “an”.[189]189
  So lautet ein Ausdruck Benjamins aus der BerlinerKindheit: “So war es um diese Stunde immer: nur die Stimme des Kindermädchens störte den Vollzug, mit dem der Wintermorgen mich den Dingen in meinem Zimmer anzutrauen pflegte.” [Wintermorgen, Berliner Kindheit, GS, VII.1, 398] – Benjamin erscheint in den Moskau– ebenso wie in den Berlin-Texten mit einer Andacht für die Dinge, wie sie vorbildlicher für jene Berliner Kinder nicht hätte sein können, für die er seine Rundfunkgeschichten schrieb. In dem Beitrag “Berliner Spielzeugwanderung I” [Rundfunkgeschichten für Kinder, GS, VII, 98–105] empfiehlt er eine Kennerschaft um die vermeintlich nebensächlichen Dinge statt eines bloß zweckrationalen oder gar konsumorientierten Umgangs mit diesen, damit sie sich entdecken mögen. “Je mehr ein Mensch von einer Sache versteht und je mehr er weiß, wieviel Schönes von einer bestimmten Art es gibt – ob das nun Blumen, Bücher, Kleider oder Spielsachen sind —, desto mehr kann er an allem, was er davon weiß und sieht, seine Freude haben, desto weniger ist er darauf versessen, es gleich zu besitzen, sich zu kaufen oder schenken zu lassen.” [Rundfunkgeschichten für Kinder, GS, VII, 104]


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Liest man Benjamins Moskau-Texte unter diesem Blickwinkel, dann eröffnet sich eine ganze Serie von Kindheits-Assoziationen. Dass es in der ersten Woche die “Technik, sich auf Glatteis zu bewegen”, neu anzueignen gilt [“Moskau”, 1, GS, IV.1, 317, vgl. Moskauer Tagebuch, GS, VI, 298], davon ist im Essay noch ein zweites Mal die Rede: Benjamin findet sich auf dem Moskauer Glatteis buchstäblich in das “Kinderstadium” versetzt [“Moskau”, 2, GS, IV.1, 318]. Und wenn Benjamin die Moskauer Schlittenfahrten schildert, werden auch hier Kindheits-Erinnerungen explizit:


Dicht am Bürgersteig lenkt der Iswoschtschik entlang. Der Fahrgast thront nicht, sieht nicht höher hinaus als alle anderen und streift mit seinem Ärmel die Passanten. Auch dies ist für den Tastsinn eine unvergleichliche Erfahrung. Wo Europäer in geschwinder Fahrt Überlegenheit, Herrschaft über die Menge genießen, ist der Moskowiter im kleinen Schlitten dicht unter Menschen und Dinge gemischt. […] Kein Blick von oben herab: ein zärtliches, geschwindes Streifen an Steinen, Menschen und Pferden entlang. Man fühlt sich wie ein Kind, das auf dem Stühlchen durch die Wohnung rutscht. [“Moskau”, 9, GS, IV.1, 331]


Nicht von ungefähr erinnern ihn die auf der Straße Handel treibenden Frauen an Großmütter, die sich für ihre Enkel ein Mitbringsel ausgedacht haben:


Alle fünfzig Schritt stehen Weiber mit Zigaretten, Weiber mit Obst, Weiber mit Zuckerwerk. Sie haben ihren Waschkorb mit der Ware neben sich, manchmal auch einen kleinen Schlitten. Ein buntes Tuch aus Wolle schützt Äpfel oder Apfelsinen vor der Kälte, zwei Musterexemplare liegen obenauf. Daneben Zuckerfiguren, Nüsse, Bonbons. Man denkt, eine Großmutter hat vor dem Weggehen im Hause Umschau gehalten nach allem, womit sie ihre Enkel überraschen könnte. Nun bleibt sie unterwegs, um sich ein bißchen auszuruhen, an der Straße stehen. [“Moskau”, 2, GS, IV.1, 317—318, vgl. Moskauer Tagebuch, GS, VI, 299, 301]


Während das Thema Kindheit in der letzten Passage nur anklingt, präsentiert es sich in den ersten beiden Passagen explizit. Benjamin empfindet sich buchstäblich in das “Kinderstadium” versetzt. Und vielleicht ist es auch das vorweihnachtliche Moskau, mit den auf der Straße feilgebotenen Tannen, den Kerzen, dem Baumschmuck, welches Benjamin in seine kindliche Vergangenheit entrückt haben mag.[190]190
  Es ist kein Zufall, dass dieser Weihnachtsschmuck mit aller Beharrlichkeit in Benjamins Blickfeld fällt, hatte er doch überhaupt ein Faible für allerlei Art von Spielzeug. Gerade das Moskauer Tagebuch verrät Benjamin als einen leidenschaftlichen Sammler von Spielzeug: “Tagaus, tagein ist man auf Kinderfeste eingerichtet. Es gibt Männer, die Körbe voll Holzspielzeug haben, Wagen und Spaten; gelb und rot sind die Wagen, gelb oder rot die Schaufeln der Kinder. All dies geschnitzte und gezimmerte Gerät ist schlichter und solider als in Deutschland, sein bäuerlicher Ursprung ist deutlich sichtbar. Eines Morgens stehen am Straßenrand niegesehene winzige Häuschen mit blitzenden Fenstern und einem Zaun um den Vorplatz: Holzspielzeug aus dem Gouvernement Wladimir. Das heißt: ein neuer Warenschub ist eingetroffen.” [“Moskau”, 3, GS, IV.1, 320, vgl. Moskauer Tagebuch, GS, VI, 301—302]


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Man darf mit gutem Grunde annehmen, dass diese durch die MoskauErfahrung unwillkürlich aufgerufenen Kindheitsassoziationen potentiell jene Erzählstrategie bergen, welche Benjamin dann in seinem Erinnerungsbuch realisieren wird. Von der Verknüpfung der Themen Moskau und Berlin sprechen bereits die letzten Passagen des Moskauer Tagebuches, die Benjamin unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Moskau nachtrug. Laut Benjamin erlaubt die Moskau-Erfahrung einen neuen und überraschenden Blick auf Berlin:


Es ist mit dem Bilde der Stadt [Berlin] und der Menschen dasselbe wie mit dem Bilde der geistigen Zustände: die neue Optik, die man auf sie gewinnt, ist der unzweifelhafteste Ertrag eines russischen Aufenthalts. Mag man auch Rußland noch so wenig kennen lernen – was man lernt, ist Europa mit dem bewußten Wissen von dem, was sich in Rußland abspielt, zu beobachten und zu beurteilen. Das fällt dem einsichtsvollen Europäer als erstes in Rußland zu. [Moskauer Tagebuch, GS, VI, 399][191]191
  Diese drittletzte Eintragung des Tagebuches für den 30. Januar 1927 übernimmt Benjamin nahezu unverändert in den Essay “Moskau”, und zwar an exponierter Stelle, nämlich im ersten Absatz des ersten Kapitels. Eröffnet wird der Essay von einem Satz, der sich im Moskauer Tagebuch nicht findet, und der die “neue Optik” auf den Punkt bringt: “Schneller als Moskau selber lernt man Berlin von Moskau aus sehen.” [“Moskau”, 1, GS, IV.1, 316] Schütz [Schütz 2004, 35] identifiziert diesen Satz Benjamins als eine Replik auf die Sentenz Theodor Fontanes (“‘Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.’ Das habe ich an mir selber erfahren.”), den Eingangssatz der Wanderungen durch die Mark Brandenburg, den Benjamin in einem seiner Rundfunkbeiträge zitieren wird [, Rundfunkgeschichten für Kinder, GS, VII, 137—145, hier 138].


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Vor dem Hintergrund der Moskauer Eindrücke und erst im Kontrast zu der fremden Stadt gewinnt die eigene Stadt, gewinnt Berlin neue Züge. Dieser Blick auf die eigene Stadt mit gleichsam fremden Augen ist für Benjamin selbst “der unzweifelhafteste Ertrag” seines Moskau-Aufenthaltes.

Zu einem weiteren Ertrag des Moskau-Aufenthaltes muss man ohne Zweifel auch die Berliner Kindheit zählen, mit der Benjamin die Erfahrung seiner Pseudo-Kindheit in Moskau aktualisiert. Die Reise in die Fremde, in der er, der Erwachsene, sich in die Lage eines Kindes versetzt fand, war Benjamin unwillkürlich zu einer Reise in die Zeit geraten. Im Laufe der Reflexion dieser positiv verbuchten Erfahrung wird Benjamin das künstlerische Verfahren jenes zweifach verfremdenden Blicks, von dem oben die Rede war, für sich neu entdecken. Und er wird dieses Verfahren für seine Erzählstrategie der Berliner Kindheit regelrecht verpflichten.

Hier, in seinem Erinnerungsbuch, verlegt Benjamin den Ort der Handlung in das Berlin seiner Kindheit. Aber um in ein solches Berlin zu geraten, bedarf es jener neuen Optik, die es erlaubt, das Gewohnte neu zu sehen oder, wie Benjamin selbst formulieren würde, “das Neue wiederzuerkennen”. Am Bestimmungsort seiner Reise in die Zeit findet er sich in weiter Ferne von der gegenwärtigen Stadt und zugleich in der Nähe jener Bilder, die sich im Laufe der kindlichen Entdeckung der Welt herausbildeten.


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